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@@ -0,0 +1,11666 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75888 ***
+
+
+ ####################################################################
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+ Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1926 so weit
+ wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche Fehler
+ wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
+ verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
+
+ Einige Ausdrücke wurden in verschiedenen Schreibweisen wiedergegeben,
+ verschiedene englischsprachige Benennungen sind nicht ganz korrekt.
+ Sofern die Verständlichkeit des Texts davon nicht berührt ist, wurden
+ diese Ausdrücke aber belassen wie im Original angegeben.
+
+ Die Fußnoten wurden am Ende des betreffenden Kapitels zusammengefasst.
+
+ Besondere Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der
+ folgenden Symbole gekennzeichnet:
+
+ gesperrt: +Pluszeichen+
+ Antiqua: ~Tilden~
+
+ ####################################################################
+
+
+
+
+ ~Copyright 1926 by~ Dresdner Verlagsbuchhandlung
+ M. O. Groh, Dresden-N. 6.
+
+ Alle Rechte,
+ einschließlich das der Übersetzung, vorbehalten.
+
+
+
+
+[Illustration: ~DER SAN FRANCISCO-CHICAGO-EXPRESS IM FELSENGEBIRGE~]
+
+
+
+
+ Quer durch Amerika
+
+ Ein Reisetagebuch
+
+ von
+
+ ~Dr.~ Karl August Busch
+
+
+ 1926
+
+ Dresdner Verlagsbuchhandlung
+ M. O. Groh, Dresden-N. 6
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+
+Z. R. III hat seine Siegesfahrt über den Atlantischen Ozean längst
+vollendet. Er kreiste um die Freiheitsstatue in Neuyork und das Kapitol
+in Washington und wurde als Zeichen deutschen technischen Geistes und
+deutscher Tatkraft überall stürmisch bejubelt. Die tiefen Wunden, die
+uns im Weltkrieg das Dazutreten Amerikas zu unseren Feinden schlug,
+beginnen langsam zu vernarben. Völker noch eher als Einzelmenschen
+müssen immer wieder miteinander leben.
+
+So ist das Interesse bei uns für Amerika wieder erwacht. Man fragt
+wieder interessiert: Wie sieht es drüben wirklich aus? Handbücher
+der Erdkunde, der Politik, des wirtschaftlichen Lebens usw. Amerikas
+gibt es dafür genug. Was ich im folgenden biete, will nichts als
+eine anschauliche Schilderung persönlicher Eindrücke und Erlebnisse
+in der Union von Neuyork bis San Francisco sein, die mir ein volles
+Studienjahr bot: Es will dem Leser, vor allem auch der weltbegierigen
+und wanderlustigen reiferen Jugend, schildern, wie es „drüben“ aussieht
+und wie es „drüben“ zugeht.
+
+Natürlich kann ich es nur so sagen, wie ich es erlebt und gesehen
+habe, und werde auch nur das beschreiben, was ich erlebt habe. Aber
+das Persönliche wird hier gerade das Reizvolle sein. Darum hat dabei
+hier und da wohl auch der Humor sein Recht. Nebenbei aber wird der
+aufmerksame Leser bald merken, daß er auch aus dieser Schrift allerlei
+Wissenswertes über das Leben des amerikanischen Volkes und das Land im
+ganzen lernen kann, so daß er bei der Lektüre das Angenehme mit dem
+Nützlichen verbindet.
+
+Dresden, den 10. November 1925.
+
+ Karl August Busch
+ ~Dr. phil.
+ B. D. (Harvard University).~
+
+
+
+
+Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ +Vorwort+ 4
+
+ 1. +Wie ich dazu kam.+ Was ich drüben wollte. Der
+ wanderlustige Großvater. Lehrjahre, Wanderjahre. Wohin in
+ die Welt? Auf nach Amerika! Aber woher das Geld? So etwas
+ wie Austauschstudent. Englischlernen und Kofferpacken.
+ Die Fahrt nach Hamburg 7
+
+ 2. +Die Abreise.+ In Hamburg. Die Hapag. Im Hafen. St.
+ Pauli. Beim Rathaus. Auf der Alster. Im „Rauhen Haus“ und
+ im Volksheim. Letzter Tag in Deutschland. Blankenese. Mit
+ dem Sonderzug nach Kuxhaven. Zum erstenmal auf Deck des
+ Ozeandampfers. Die Abfahrt 17
+
+ 3. +Auf dem Atlantischen Ozean.+ Bordleben. In der
+ Kabine. Morgen und Abend auf See. Allerlei wohlgemeinte
+ Ratschläge! Vor Boulogne-sur-mer. Eddystone und die
+ Scilly-Inseln. Bordspiele. Kulturgeschichte des Meeres.
+ Sozialismus auf dem Meer. In Erwartung der Landung. In
+ der „~upper bay~“. In Hoboken. In den Zollhallen 28
+
+ 4. +Neuyork.+ Auf dem Broadway. Im „~subway~“. Die
+ Yankees. An der Battery. Gründungsgeschichtliches.
+ „Wallstreet.“ In Ostneuyork. Auf dem Metropolitan-Tower.
+ In den Museen und dem Zentralpark. Coney Island, der
+ größte Vergnügungspark der Welt. Auf Staten Island, in
+ Hoboken, in Bronx. Die Jahrhundertfeiern auf dem Hudson 45
+
+ 5. +Boston.+ Die Eisenbahnen. Durch Connecticut. Bostons
+ Geschichte im Freiheitskampf. Bostons Bildung. Die
+ religiösen Denominationen. Ein amerikanischer Sonntag.
+ Im Tempel der „Christian Science“. „Testmeetings.“
+ Amerikanisches und deutsches Kirchentum. Der große Neger
+ Booker T. Washington. Ein wunderbar wiederentdeckter Onkel 67
+
+ 6. +An der Harvard-Universität in Cambridge
+ (Mass.).+ Unter den Ulmen Harvards. Mein „~furnished
+ room~“. In der Studentenspeisehalle am Klubtisch.
+ Der neue Universitätspräsident. Amerikanischer
+ Universitätsbetrieb. Fackelzug im Stadium. Im
+ amerikanischen Kolleg. ~Vivant professores!~ Im
+ kosmopolitischen Klub. Deutsches Kneipen und
+ amerikanische Studenten. Die Geschichte meines Fracks.
+ Allerlei Herbst- und Winterspaziergänge: Salem, Bunker
+ Hill usw. Concord, das amerikanische Weimar 102
+
+ 7. +Ein Fußballspiel und Weihnachten drüben.+ Das große
+ Harvard-Yale-Spiel im Harvardstadium. Harvard unterliegt!
+ Im Vereinshaus des Y. M. C. A. Thanksgivingday.
+ Heiligabend allein. Weihnachten im Bürgerhaus, bei den
+ Reichen, im Settlement. Silvesterabend 128
+
+ 8. +Über den Niagara nach Chikago.+ Geld zur Weltreise?
+ Im Pullmann. Die erste nächtliche Fahrt. Am Lake Erie.
+ In Buffalo. Im deutschen Pfarrhaus zu North-Tonawanda.
+ Ausflug zum Niagara. Vereist! Eindrücke des Falls. Auf
+ der amerikanischen und kanadischen Seite. Über Detroit
+ nach Chikago. Im Auswandererzug. „Der Zug westwärts.“
+ In Chikagos Wolkenkratzerschluchten. Nationalitäten.
+ Verkehr. Im Zirkus und im „~Hull-house~“. Bei den
+ Spiritualisten. Geistererscheinungen? Wahrsagerei 146
+
+ 9. +Über den Mississippi ins Felsengebirge.+ Das grüne
+ Land in Illinois. Über den Mississippi und Missouri. Die
+ Prärie. Kansas City. Ein Reiseschreck! „Mountain-Time.“
+ In altspanischem Siedlungsgebiet. In den „Rockies“. Santa
+ Fé. Auf Indianerpfaden. In der Indianerschule. Unter den
+ San Franzisko-Bergen. Am Grand Cañon des Colorado River.
+ Abstieg in den Cañon. „Schwarz Amsels“ Tod 182
+
+ 10. +Nach Kalifornien.+ Durch die Wüsten Arizonas,
+ das Land der schönen Sonnenuntergänge. Im Italien
+ Amerikas. Los Angeles, ein Paradies. Nach San Pedro.
+ Auf dem Stillen Ozean. Auf Santa Catalina, dem
+ kalifornischen Capri. Im Theater. „Die City.“ Mit
+ der „Linie der 1000 Wunder“. An der kalifornischen
+ Riviera. St. Barbara. Die spanische Gründung. An der
+ Montereybucht. Auf dem 17-Meilenweg. Im Sand des Stillen
+ Ozeans. Die Riesenbäume. Das Lick-Observatorium. Die
+ Stanford-Junior-Universität. In San Francisco, der Stadt
+ des Erdbebens. Am „Golden Gate“. Über die Bai nach
+ Oakland. Auf dem Telegraphenhügel. Das Chinesenviertel 227
+
+ 11. +Am Großen Salzsee und in Kolorado.+ Über die
+ Schneepässe der Sierra Nevada. Durch die Wüsten Nevadas.
+ Reno und seine Ehescheidungen. Die Frau in Amerika. In
+ Utah. Über den Salzsee. Ogden. Das mormonische Zion. Im
+ Tempelblock. Der „Prophet“ J. Smith. Aus der Geschichte
+ des Mormonismus. Die Mormonenbibel. Nach Kolorado. Durch
+ alpine Kañons und Pässe. Entlang dem Arkansas. Die „Royal
+ Gorge“. Colorado Springs. Aufstieg zum Pikes Peak. Der
+ Göttergarten. Manitou. Wieder 36 Stunden durch die
+ Mississippiebenen. Wieder in Chikago im Schneetreiben! 257
+
+ 12. +Über Pittsburgh nach Washington.+ In Ohio. Im
+ Kohlen- und Eisendistrikt. Das rauchende Pittsburgh.
+ Beim alten Prediger. Durch die Alleghenies ins Tal des
+ Monongahela. Harpers Ferry. Ankunft in Washington. Eine
+ adlige Stadt. Das Kapitol und „Weiße Haus“, die Institute
+ des Staats. Ausflug nach Mount Vernon. An Washingtons Grab 295
+
+ 13. +Baltimore, Philadelphia.+ Baltimores Gründung und
+ heutige Bedeutung. Die Geschichte der Quäkerstadt.
+ William Penn und Benjamin Franklin. Germantown.
+ Pennsylvanien. Auf dem Turm der City Hall. John Hopkins.
+ Über den Delaware nach Newark und Hoboken. In der
+ deutschen Kirche in Neuyork. Zurück nach Harvard 312
+
+ 14. +Kanada.+ Ein französisches Kolonialland.
+ Unermeßlichkeit. Die Landschaft der Nordstaaten. In
+ Montreal. Ankunft und Abfahrt. Auf dem St. Lorenz. An
+ Quebek vorbei. Die nördliche Route an Labrador. Eisberge.
+ In fünf Tagen nach Schottland. In Glasgow gelandet 321
+
+
+
+
+Wie ich dazu kam.
+
+
+Ich bin nicht nach Amerika gegangen, weil ich etwa in Deutschland
+etwas „ausgefressen“ hatte oder hier nicht mehr guttat oder weil es
+mir bei uns nicht mehr gefiel. Ich wollte auch weder Goldsucher noch
+Farmer werden noch mich gar drüben reich verheiraten. Sondern daß ich
+hinüberging, das kam so:
+
+Einst kramte ich als dreizehnjähriger Junge auf unsrer Bodenkammer.
+Da fand ich zwischen dem Kaufmannsladen, dem Prachtstück aller
+Weihnachtserwartungen in unsrer Kindheit, der ehrwürdigen Puppenstube
+meiner Mutter, auf die mein Bruder ein schönes zweites Stockwerk
+aufgesetzt hatte, so daß nun unten im Erdgeschoß Empfangszimmer,
+Wohnstube und Damensalon, im ersten aber die Küche mit gelbschwarzen
+Fliesen und die Schlafzimmer angeordnet waren, einer mit sechs Türmen
+bewehrten trutzigen Festungsburg, in deren Innerem ganze Regimenter
+Soldaten verstaut werden konnten und deren dicke Mauern den stärksten
+Kanonen trotzten, zwischen einem alten wohlabgebrauchten Kinderwagen,
+dessen Radgestell allein noch intakt war, mehreren Reihen verstaubter
+Einmachgläser, überzähligen Bettdecken und Federbetten, einem Knäuel
+Wäscheleinen und dgl. auch einen Kasten voller alter Papiere und
+vergilbter Karten. Ich war allzeit wißbegierig. Die Papiere waren
+in vergilbten Umschlägen wohlsortiert, wohlgefaltet und ein wenig
+wurmstichig, aber in haarfeiner sauberster Schrift geschrieben und
+alle mit einem seltsamen „Ich“ gezeichnet. Die gelblichen Karten waren
+sauber auf Leinwand gezogen und wohlnummeriert.
+
+„Ich“ war, wie ich erfuhr, das Signum meines Großvaters
+mütterlicherseits, Johann Carl H., mit dem er alle seine Schriftstücke,
+selbstverfaßte Gedichte und Briefschaften an Familienangehörige
+und nächste liebe Verwandte zu unterzeichnen pflegte. Diesen meinen
+Großvater habe ich nun zwar selbst nie gekannt. Elf Jahre vor meiner
+Geburt ist er gestorben. In dem nationalen Unglücksjahr Deutschlands
+1806 war er geboren. Als bedächtiger Mann von 42 Jahren hat er meine
+Großmutter geehelicht, also gerade im Revolutionsjahr 1848, und zwar
+dazu in der Stadt der Paulskirche und des Parlaments, der er als eines
+ehrsamen Bürgers Sohn entstammte; aber gespürt habe ich ihn in meinem
+Fühlen, Reisen und Wandern immer.
+
+Lange Jahre war er auf Wanderschaft in der Welt draußen gewesen. Daher
+stammten die vielen Karten. Er muß ein sehr genauer und auch recht
+ästhetisch empfindender Mann gewesen sein, denn haargenau war seine
+Handschrift, wohlabgezirkelt und klar. Und wohlaufbewahrt sind alle
+seine Gedichte nach Geburtstagen wohldatiert, nach Weihnachtsfesten
+und Jubiläen in der Verwandtschaft. Und so wanderte er auch, genau
+und akkurat in allem, nie ohne Karte -- schon vor hundert Jahren!
+Heute läuft jeder Fünfzehnjährige draußen mit einer Generalstabskarte
+im Kartenhalter auf der Brust herum, aber damals in der Zeit, wo man
+noch mit der Postkutsche fuhr und die allerersten Eisenbahnen sich
+schüchtern hervorwagten, war es ein Zeichen selbständiger Akribie und
+Bildung.
+
+So hat mein Großvater Bayern, Oberitalien, Nordfrankreich und Belgien
+durchwandert. Wie anders lagen damals noch die Grenzen Europas. Da
+gab es noch kein Deutsches Reich! Preußen und Bayern lagen noch wie
+auf zwei verschiedenen Halbkugeln der Erde. Und die freie Reichsstadt
+Frankfurt a. M. lag stolz und selbständig mitten innen, und ihr
+weißer Adler auf rotem Grunde regte noch seine eigenen Schwingen!
+Das habsburgische Österreich aber reichte weit und mächtig gebietend
+bis tief nach Oberitalien hinein. Mailand und Venedig waren Habsburg
+untertan. Als ein letzter Rest von jenem Reich Karls V., in dem
+die Sonne nicht unterging! Belgien war noch kein blutiger Feind
+für das deutsche Volk, sondern Brüssel ein klein Paris, zu dem
+der lernbegierige und nach Bildung und feiner Form strebende junge
+Frankfurter der Biedermeierzeit bewundernd aufsah.
+
+Blut soll ja dicker als Wasser sein. Blut der Vorfahren rollt in
+unseren Adern, mehr als wir ahnen, und bestimmt uns vielleicht öfter,
+als wir es uns vorzustellen wagen. Denn wir kommen uns doch immer
+so frei und selbständig vor! Je mehr wir aber die Eigenart unsrer
+Ahnen studieren, um so mehr verstehen wir uns selbst und um so mehr
+erkennen wir, wieviel wir von ihnen ererbt haben. Es war derselbe
+Großvater, der nach seinem Dienst auf dem freien Frankfurter „Römer“
+mit seinen Kindern fast täglich nachmittags in den Stadtwald ging und
+sie des Abends auf die Waldwiese leitete, wenn das Wild heraustrat zu
+äsen, der mit ihnen des Sonnabends und Sonntags zu Fuß in das nahe
+Taunusgebirge zog, als noch keine überfüllten Bahnzüge leicht und
+schnell Zehntausende dahinführten. Es war derselbe Großvater, der
+eine echte Schwäbin heimführte, und deren Tochter wieder aus ganz
+andrer Ecke Deutschlands von der Wasserkante aus altem friesischen
+Bauerngeschlecht. So wurde in mir Süd, Nord und Mitte Deutschlands
+wohlverbunden, noch ehe ich auf die Welt kam.
+
+Was Wunder, daß es mich nun in meiner Jugend in alle Gaue Deutschlands
+zog, daß ich in der Schwabenheimat mich zu Hause fühlte wie kaum wo
+sonst und daselbst anfing zu studieren! Und daß ich durchaus an der
+Wasserkante mein erstes Amt versah! Was wunder, daß Schwarzwald und
+Nordsee mich gleicherweise beglückten und ich aber auch gleich dem
+Großvater nicht ruhte, bis ich alle Gebirge Deutschlands schon in der
+Jugend durchwandert hatte. Wir Jungen standen als Obersekundaner auf
+dem Donon und dem Sulzer Belchen, als die Welt noch an keinen Weltkrieg
+dachte, auf dem Brocken und dem Kickelhahn, auf der schwäbischen Alb
+und dem fränkischen Jura als Studenten. Waren das nicht immer noch die
+Karten des Großvaters, die in mir rumorten?
+
+Merkwürdig, als ich noch in Quarta war, da war, wie meine Zensurbücher
+ausweisen, mein allerbestes Fach natürlich die Geographie, wo ich sehr
+oft eine blanke Eins bekam. Die Städte an der +Elbe+ konnte ich damals
+besonders gut und rasch bei unserm Geographielehrer -- von dem ich noch
+nicht ahnen konnte, daß er nach beinahe zwanzig Jahren ganz woanders
+zum Oheim meiner künftigen Frau werden würde! -- herunterschnurren, als
+noch niemand mir zu prophezeien wagte, daß ich ausgerechnet in einer
+unter ihnen, dem unvergleichlichen Dresden, mein Domizil aufschlagen
+und von einer andern aus in die neue Welt fahren würde. Es liegen
+anscheinend mehr Weissagungen schon in unsrer Jugend verborgen, als wir
+oft auch nur zu ahnen wagen würden.
+
+So kam für mich die Zeit, da es in Deutschland anscheinend nichts mehr
+zu durchwandern gab. Nun mußte man eben als guter Deutscher ins Ausland
+gehen. Denn das Ausland gilt dem rechten Deutschen immer mehr als die
+Heimat! War es uns nicht auch, auch wenn nicht schon die Abstammung
+dahingewiesen hätte, immer in der Schule an den Großen eingeprägt
+worden, was sie nicht erlernt, das hätten sie +erwandert+?! Und beim
+Wandern lerne man mehr als in der besten Lehre! Sollen nicht in guter
+Reihenfolge in jedes rechtschaffenen Menschen Lauf auf Lehrjahre
+Wanderjahre folgen? Auch schon darum durfte ich von dieser Regel nicht
+abgehen.
+
+Aber wohin ins Ausland? Meine Examina waren gemacht, der Eintritt
+in den Beruf stand bevor. Dazwischen hinein ließ sich noch das
+Ausland einschieben, selbst auf die Gefahr hin, daß man ein oder zwei
+Dienstjahre später einrückte. Die Jugend hat Idealismus! Nur nicht zu
+pedantisch! Was kümmern zwei Jahre? Der Trott in den wohlausgefahrenen
+Dienstgeleisen konnte noch bald und lange genug kommen! Also hielt mich
+nichts! „Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir erblüht!“ Dem jungen
+Menschen steht die ganze Welt offen. Der Alpdruck der Prüfungen war
+überwunden; die Tore der neuen Lebenszwingburgen hatten sich noch nicht
+aufgetan. Zum letztenmal war man noch ungebunden und jung. Also hinaus
+in die Welt!
+
+So war es mir fast zur Selbstverständlichkeit geworden: Ich gehe ins
+Ausland. Gleich, wohin! Nur einmal hinaus! Einer meiner Ahnen ist als
+württembergischer Gefolgsmann Napoleons I. in Rußland geblieben. Aber
+an Rußland -- war es zu bolschewistisch? -- dachte ich gar nicht.
+Südwärts oder westwärts konnte es gehen, in die alte oder in die neue
+Welt!
+
+Den humanistisch einst wohlgebildeten Gymnasiasten lockte Italien
+und Griechenland, das heilige Land oder Ägypten! Nun waren wir als
+Oberprimaner schon einmal bis zum Gardasee vorgedrungen und hatten
+-- ich weiß es noch gut -- als gute Deutsche vom Gardasee die erste,
+natürlich italienisch geschriebene Postkarte nach Hause gesandt.
+Als Studenten waren wir bis ans römische Forum und bis zu St. Peter
+gekommen, tasteten uns durch die Kallistkatakomben und besichtigten
+eingehend alle heiligen sieben Mutterkirchen Roms. Jetzt hätte es
+heißen müssen: Athen oder Jerusalem! Das wäre ein folgerichtiger
+Bildungsgang gewesen. Aber so folgerichtig geht’s nicht immer im
+Leben. Das Leben enthält vielmehr Zufälle und Sprünge -- und hinterher
+scheinen sie auch ganz folgerichtig zu sein! Wer weiß, ob mir nicht
++die neue Welt+ beschieden war!
+
+Ich arbeitete damals gerade an den Schriften eines bedeutenden
+amerikanischen Psychologen, um auf echte deutsche Art ihn zu einer
+Doktordissertation zu „verarbeiten“. Aber nicht bloß der Geist,
+auch das Blut drängte nach Amerika. Zwei Schwestern meines Vaters
+waren schon früh in ihrem Leben nach Neuyork übergesiedelt und waren
+„Bindestrich-Amerikaner“ geworden, wie Wilson die Deutschamerikaner im
+Weltkriege so geschmackvoll zu definieren beliebt hat. Beide hatten
+sich mit ihren Männern und Familien der Musik verschrieben, die eine
+schrieb allerlei in Zeitungen und Romanen.
+
++Aber wie nach Amerika kommen?+ Ebenso wie zum Kriege gehört zum
+Reisen Geld und nochmals Geld und zum dritten Male Geld. Erst recht
+ins Land des Dollars. Aber daran fehlt’s gewöhnlich gerade denen, die
+es ganz ideal zu verwenden am ehrlichsten geloben könnten. Sollte ich
+als blinder Passagier hinüberfahren? Aber das war zu unsicher und mir
+auch nicht „ehrlich“ genug. Und wie hätte das drüben weitergehen
+sollen? Oder vielleicht als Kohlenschipper? Dazu fehlten mir Muskeln
+und Übung. Eine studierte Schreiberseele führt schlecht die Schaufel.
+Auch sieht man bei dieser nützlichen, wenn auch rußigen Tätigkeit zu
+wenig vom Meer und seinen Schönheiten. Aber vielleicht als Steward?
+Nicht, daß mich ein falscher Standeshochmut abgeschreckt hätte. Ist
+doch heute dem Werkstudenten alles recht und billig und hatte ich auch
+eine liebe und treffliche entfernte Verwandte, die fast neunzigjährig
+starb, mit fünfundzwanzigjährigem Fahren auf einem großen Lloyddampfer
+ein kleines Vermögen für ihre alten Tage verdient, das sie bis ans Ende
+ehrlich ernährte. Aber ob ich bei tüchtigem Seegang nicht alle Tassen
+und Teller hinwerfen würde? Dafür konnte ich keine Garantie übernehmen.
+Davor hätte auch kein Studium der Philosophie oder was sonst mich
+bewahrt, wenn ich auch als kleiner Junge daheim zeitweilig mit Vorliebe
+den Tisch gedeckt und gleich meinem Ältesten heute mit Vorliebe in der
+Mutter Puppenstube die Möbel umgeräumt habe und noch heute am liebsten
+immer selbst angebe, wie und wo die Möbel stehen sollen. Also etwas
+Anlage zum Steward lag vielleicht auch in mir, aber ob sie reichte?
+
+Ich fing es lieber doch so an, wie es zunächst meiner Lehre entsprach,
+und hielt es mit dem Sprichwort: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“
+Vielleicht glückte es irgendwo in amerikanischen Wüsten oder Küsten im
+Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Hauslehrer in einer wohlhabenderen
+deutschen Familie zu werden? Die würden dann schon das Reisegeld
+schicken.
+
+Ich war damals dabei, wie gesagt, meinen Doktor rechtschaffen mit dem
+amerikanischen Psychologen zu bauen. Während ich morgens über Spinoza,
+Kant und Hegel nachdachte, mein Hirn mit den Problemen der „Kritik der
+reinen Vernunft“ strapazierte, hielt ich es des Nachmittags ein wenig
+mehr mit der „praktischen Vernunft“ und schrieb Briefe und Bewerbungen
+in alle Welt hinaus, wo nur ein Privatlehrer, Erzieher, Lehrer oder wer
+weiß was gesucht wurde; wo es war, war mir gleich, mochte es Kairo oder
+Konstantinopel, Chikago oder Tokio sein. Nur wurde in entfernteren
+Ländern meist eine mehrjährige Verpflichtung verlangt! So ernst wollte
+ich es aber gar nicht mit dem Auswandern nehmen. Etwa auf fünf Jahre
+mich zu verpflichten, schien mir sehr gewagt und viel zu lang. Wie lang
+erscheinen fünf Jahre der Jugend! Die Auslandsfahrt sollte mehr nur so
+ein recht großer Ausflug zwischen Examen und Berufsbeginn sein, so ein
+bißchen Globetrotter auf Zeit ...
+
+Da lese ich eines Tages in einer unsrer Zeitschriften ein großes
+amerikanisches Stipendium gerade der Universität ausgeschrieben, an der
+mein Doktorthema noch als lebendiger Mensch und angesehener Professor
+lebte und lehrte. Es war mir sofort so, wie wenn jemand zu mir gesagt
+hätte: „Das ist für dich, schreib nur hin -- du kriegst das.“ Man soll
+doch manchmal ruhig etwas auf vernünftige Ahndungen und Eingebungen
+halten!
+
+Ich schrieb also hübsch sauber, wie sich das in solchen Fällen wohl
+gehört, auf einen blanken Foliobogen meinen Lebenslauf und auf andere
+meine Zeugnisse, ließ einige Bittbriefe an hohe und gelehrte Herren
+in Deutschland, die mir trauten und drüben etwas galten, aus dem
+stillen idyllischen Universitätsstädtlein, in dem ich saß, in die Welt
+hinausflattern. Und die hohen und gelehrten Herren hatten alle ein
+gutes und wohlwollendes Herz und stimmten offenbar dem Willen zu den
+„Wanderjahren“ in mir aufrichtig zu und müssen mich wohl recht dem
+hohen amerikanischen Universitätskuratorium empfohlen haben ... denn
+nach einigen Wochen kriegte ich es wirklich, wie ich es gleich in mir
+gefühlt hatte. Ein Telegramm hatte es mir vorher per Kabel -- ~NB~:
+jedes Wort kostete eine Mark! -- angezeigt. Aber auch ohne das wußte
+ich es innerlich schon längst, seit ich die Ausschreibung gelesen
+hatte. So also kam es, daß ich nach Amerika hinüberging, obwohl mir das
+nötige Reisegeld durchaus dazu fehlte. Ein bißchen Glück gehört eben
+auch zum Leben immer dazu.
+
+Als ich meinem besten Freunde die Entscheidung mitteilte, da sagte
+er bloß trocken: „Nun mußt du hin!“ Ja, nun mußte ich hin! Da fühlte
+ich zum erstenmal, daß es doch ein Entschluß war, als junger Mensch
+allein in die neue Welt zu fahren. Was würde ich alles sehen? Was alles
+erleben? Ich freute mich unbändig.
+
+ * * * * *
+
+Viele sagen, das Schönste am Verreisen sei das Plänemachen. Da ist
+auch sicher etwas daran. Die Vorfreude auf Weihnachten ist ja oft
+schöner als nachher Weihnachten selbst. Wie manchmal stieg es bei den
+Vorbereitungen heiß in mir herauf: „Jetzt wird es ernst!“ Alle die
+fremden Menschen und Städte, die fremde Sprache tauchten wie flimmernde
+Bilder vor der Seele auf, und mitten hinein rauschte schon das
+gewaltige Meer ...
+
+Meinem Vater war es nicht ganz recht. Er hielt es mehr mit dem weisen
+Wort: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“ Es wäre ja nun auch
+an der Zeit gewesen, selbst daheim Geld zu verdienen, statt neues
+auszugeben. Aber da er selbst an der Wasserkante aufgewachsen war,
+steckte auch in ihm genug Hanseatengeist, um sich schnell damit
+abzufinden.
+
+Vor allem lernte ich zunächst fleißig wieder Englisch, denn der
+rechte Deutsche setzt doch seinen Stolz darein, firm in der fremden
+Sprache an den fremden Strand zu treten. Die englischen Schulbücher
+wurden wieder hervorgeholt und emsig Vokabeln und unregelmäßige Verba
+gepaukt: „~think -- thought -- thought~, ~fall -- fell -- fallen~
+usw.“. Dazu las ich englische Schriftsteller der Schulzeit noch
+einmal: Kipling und Irving, ein bißchen Walter Scott und Shakespeare,
+den mir ein alter lieber Professor, der von den Hugenotten stammte,
+auslieh, und zum Überfluß ging ich als großer Mensch noch einmal in
+eine Sprachprivatschule, um nicht nur Wörter und Sätze zu verstehen,
+sondern auch sprechen zu können und eine gute Aussprache zu haben.
+Wie begeistert war einst mein Bruder aus ihr heimgekommen, daß dort
+der Lehrer gleich englisch angefangen hatte und kein Wort deutsch
+sprach: ~„This is a pencil. What is this? A pencil~ usw.“, indem er
+belehrend seinen Bleistift zur allgemeinen Ansicht in die Höhe hielt
+und sich nur durch Zeichen mit seinen Schülern verständigte. Wir in
+der Schule hatten bieder Deutsch und Englisch durcheinandergeredet
+und brav erst Vokabeln und Grammatik gelernt. Aber trotz allem -- o
+weh -- wie ging es mir zuerst drüben! Ich las zwar ganz flott Bücher
+und Zeitungen, aber das Verstehen fiel mir doch schwer. Sie redeten
+drüben nachher alle so schnell! Wie der Wind war es um die Ecke, was
+sie gesagt hatten! Das Ohr war noch nicht an die fremden Laute gewöhnt.
+Und mit dem Antworten war es auch nicht so ganz einfach, denn die
+alleralltäglichsten Redensarten hatte man doch noch nicht gleich fertig
+auf der Zunge liegen.
+
+Zu Hause wurde währenddem viel für mich genäht; eine ganze Woche war
+die Näherin, die schon Jahrzehnte in der Familie erlebt, allein für
+mich da. Dann sollte auch noch ein Reiseanzug herbei, natürlich in
+Schnitt und Falten etwas „englisch“, desgleichen der Mantel und die
+Reisemütze. Sie flog mir allerdings gleich am ersten Nachmittag auf
+See bei einem kräftigen Windstoß an der Ecke des Decks ins Meer, gewiß
+weil sie zu sehr englisch war. Dahin war dahin, sie ruht nun wohl schon
+manches Jahr auf dem Grund des Ozeans, wenn sie nicht der Golfstrom wer
+weiß wohin entführt hat. Aber da ja in der Welt nichts an Stoff und
+Energie verlorengehen kann, sondern sich höchstens in andere Formen
+verwandelt, so existiert meine Mütze ganz gewiß auch noch. Nur weiß man
+nicht, wo und wie. Vielleicht dient sie heute einem Haifischgroßpapa
+als Kopfkissen beim Mittagsschläfchen oder wem sonst ...
+
+Mein Schiffsbillett hatte ich auch schon bestellt. I. Kajüte war
+natürlich für mich bescheidenen Nichtsverdiener zu teuer. Blieb
+Zwischendeck oder „Zweiter“? Es hätte nur verhältnismäßig wenig -- ich
+glaube fünfzig Mark -- Unterschied gemacht, wenn ich Zwischendecker
+geworden wäre. In der Zweiten fuhr man menschlich, sogar mehr wie
+menschlich, für meine Erstlingsansprüche recht feudal. Ich habe es
+auch nicht bereut, als ich später das Menschengewürfel von Italienern,
+Slowaken, Russen und Griechen im Zwischendeck und ihr gegenseitiges
+Zusammenleben sah!
+
+So gingen die Wochen der Vorbereitung hin. Eines Frühmorgens hieß es
+um vier Uhr aufstehen. Die Koffer waren längst sorglich gepackt. Ein
+großer ehrwürdiger Familienkoffer, mit dem schon meine Eltern mit uns
+Kindern allen vor vielen Jahren an die See gereist waren, für den
+Gepäckraum, und ein flacherer neuer für unter das Bett zu schieben,
+wie es die Hapag verlangte. Dann ging es an den Bahnhof, ein letzter
+Kuß und Händedruck ... Wann und wie würde man sich wiedersehen ...?
+Eigenartige Gefühle überkommen einen. Man schluckt etwas hinunter ...
+
+Ich fuhr durch das freundliche hessische Land, wie schon so manches
+Mal. Die so malerisch gelegene hessische Universitätsstadt Marburg
+grüßte mit ihrem alten Landgrafenschloß und der feinen Kirche der
+heiligen Elisabeth mich noch einmal als Marburger. Dort oben bei der
+hohen Pfarrkirche hatte ich in aussichtsreicher Studentenbude gewohnt.
+Da drüben hatten wir in den alten gotischen Kreuzgewölben zu Füßen
+unsrer akademischen Lehrer gesessen, und hier oben am Waldsaum waren
+wir gar manchmal zum Kaffee zum „Hansenhaus“ hinaufgestiegen. Vor
+Kassel türmte sich hoch oben auf dem Habichtswald der mächtige Herkules
+über Schloß Wilhelmshöhe ... In Göttingen kreuzte uns der Gegenzug. Ich
+kannte die Strecke. Als neunjähriger Junge war ich sie zum erstenmal
+gefahren, als es zur Hochzeit ins große Hamburg ging. Es war damals
+ein Freitag, weiß ich noch. Sonntags sollte Hochzeit sein. Und am
+Sonnabend entgleiste derselbe Zug, mit dem wir tags zuvor fuhren, in
+der Lüneburger Heide, da ein von einem Güterzug gefallener Querbaum
+die Geleise verbogen hatte. Ein Freitag soll ja immer ein Glückstag
+oder ein Unglückstag sein. Und mich hatte es nicht getroffen. Diesmal
+rasten wir ohne Unfall durch die Lüneburger Heide. Sand, Kiefern, Moore
+... Blauäugige, blondhaarige Menschen und rotgedeckte Ziegelhäuser
+flogen an uns vorüber. Dann donnerten wir über die großen Harburger
+Elbbrücken. In Rauch und Dunst lag Hamburg da. Hoch überragte der
+schlanke gotische Turm der Nikolaikirche die mächtige Stadt. Links
+fauchten auf der breiten Elbe die Ostafrikadampfer der Woermann- und
+der Levantelinie. Ich stellte mir im stillen ihre Maße vor und wünschte
+mir unser Schiff noch etwas größer. Alles rauchte, fauchte und tutete,
+die Sirenen heulten. Kleine Boote und Dampfer schossen hin und her ...
+
+Der Hafen war ein Gewirre von Masten und Schornsteinen, großen
+und kleinen Booten, Ozeandampfern und Elbschiffen, Schleppern und
+Passagierdampfern. An dem langen Uferkai Lagerhäuser an Lagerhäuser,
+Brücken, Krane, Kraftwagen ... Welch mächtiger Verkehr! Dann waren wir
+in die riesige Halle des neuen Hamburger Hauptbahnhofes eingefahren.
+Nun gab es kein Zurück mehr. In zwei Tagen ging es über den
+Atlantischen Ozean ...
+
+
+
+
+Die Abreise.
+
+
+Wer bei uns einen Vorschmack vom Weltverkehr haben und Luft von Übersee
+einmal in die Nase ziehen will, muß wenigstens ein paar Stunden in
+Hamburg herumlaufen ...
+
+Ich trat aus dem Hauptbahnhof und nahm zuerst meinen Weg über die
+breite Lombardbrücke, die die Innen- von der Außenalster scheidet.
+Immer aufs neue von hier war der Blick prächtig über die weite von
+flinken Dampferchen belebte schimmernde Seefläche. Was wäre Hamburg
+ohne seine Alster und ohne seinen „Jungfernstieg“, die Promenade
+der feinen Welt an dem kleineren Becken der Innenalster, mit seinen
+kostbaren Läden und „fashionablen“ Cafés!
+
+Ich suchte mir zunächst Quartier, freilich nicht in einem der großen
+internationalen Hotels, sondern in einem bescheidenen, sauberen Heim,
+wo ich mit Stewards, Kellnern aller Art und allerlei anständigen jungen
+Seeleuten zusammentraf. Es war alles im Hause sauber und gut ...
+
+Ich setzte mich des Abends zu den andern Gästen an den Tisch und
+ließ mir von ihren Reisen erzählen, von Quebek und Brasilien, von
+Petersburg und Neuyork! Wo die schon alles in ihren jungen Jahren in
+der Welt herumgekommen waren! Sie erzählten vom Leben an Bord, von
+hartem Dienst, von Scherz und Spiel, von Sturm und heiterer Fahrt, von
+seekranken Damen und trinkgeldgeizigen Herren, von ordentlichen und
+unordentlichen Kameraden, die ihren Lohn drüben in wenigen Stunden
+verliedert und verludert hatten, die mit keinem Cent in der Tasche
+wieder an Bord gingen, ja ihre Uhr als letzten Besitz noch als Pfand
+dalassen mußten. Zum Schluß setzte sich einer von ihnen ans Klavier
+und in trefflichem Ton sangen alle die flachsblonden, blauäugigen,
+hochgewachsenen friesischen jungen Menschen: „Schleswig-Holstein,
+meerumschlungen ...“, daß es nur so eine Art hatte. Was für ein
+Unterschied war doch zwischen den Schwarzwälder oder oberbayrischen
+Bauernburschen und diesen blonden Holsteinern!
+
+Am andern Morgen war mein erster Gang in das mächtige Geschäftsgebäude
+der Hapag, mein Schiffsbillett zu holen, um dann an den Hafen zu den
+Gepäckhallen zu gehen und nachzusehen, ob auch mein großer grüner
+Koffer mit den vielen Büchern wohl angekommen und bereit sei, mit mir
+nach Amerika zu fahren. Welch ein Getriebe überfiel mich am Hafen!
+Hatte ich ihn tags zuvor nur flüchtig und aus der Eisenbahn von oben
+überschaut, so nahm er sich jetzt von unten, wenn man mitten drin war,
+noch ganz anders aus! Die vielen Boote, Kanäle und Brücken, Krane und
+Frachtwagen, die himmelhohen Lagerhäuser! Welch ein Durcheinander
+von Pfeifen, Signalen, Schreien, Rufen, Schelten, Fahren, Rasseln
+der Ketten ... und über allem dicker Dunst, Rauch und Teergeruch.
+Wahre Kompanien von Schauerleuten und Lademannschaften und dahinter
+die Kontore, Bureaus, Magazine und Ladehallen mit einem Heer von
+Angestellten, Schreibern, Zollbeamten ... Da sah und horchte die
+Landratte auf: Das war Hamburg! Das war Weltverkehr!
+
+Ich hatte mich glücklich bis zu der richtigen Lagerhalle durchgefunden
+und durchgefragt. Berge von Koffern türmten sich vor mir auf; es sah
+aus, als wollte ganz Deutschland mit einem Male auswandern ... Und
+wirklich -- richtig, da drüben zwischen hundert andern stak auch
+mein großer grüner mit dem gewölbten Deckel, auf dem die nächsten
+etwas unsicher balancierten, und lachte mich wie ein guter Kamerad
+freundschaftlich an. Trotz all seiner Vielbenutztheit und seinem
+Abgeschabtsein -- er hätte getrost singen können: „Schier dreißig
+Jahre bist du alt“ -- hätte ich ihm jetzt um den Hals fallen mögen:
+„Da bist du ja, guter Freund, hab Dank, daß du mich nicht im Stich
+gelassen hast ... nun wollen wir auch weiter treulich zusammen übers
+Meer fahren und drüben zusammenhalten ... und gebe Gott, auch beide
+wieder gesund heimkommen ... vor allem aber, alter Freund, krach’ mir
+ja nicht unterwegs, der du den Bauch voll vieler schwerer Bücher hast,
+auseinander!“ --
+
+... „Nein, nein, was du nur von mir denkst, so alt bin ich denn doch
+noch nicht, hab immer noch Kräfte genug zusammenzuhalten“, schmunzelte
+er behäbig zurück. „Du kannst dich auf mich verlassen!“ Und er hat
+seinen Schwur gehalten! Es sei ihm heute noch gedankt. Als ich so
+beruhigt und vollkommen getröstet aus der Halle wieder hinausging,
+scholl hinter mir ein erschütterndes Gelächter her. Tiefe Baßstimmen
+von den schwersten Reisekörben bis zu den hellen hochmütigen Stimmen
+der feinen Damenkoffer. Oder war es eine Gruppe von Schauerleuten? Was
+lag mir daran ...
+
+Ich bestieg einen der flinken Hafenrunddampfer von Käses berühmter
+Hafenrundfahrt und ließ mich ¾ Stunden lang für einen einzigen
+Groschen in allen Richtungen im Hafen herüber und hinüber, an allen
+Molen und Landestellen, auf allen Hafenarmen und auch auf der freien
+Elbe umherfahren. Die Elbe warf dabei oft recht stattliche Wellen.
+Das kleine hochbordige wackere Dampfboot stieg auf und nieder; aber
+manchmal brach auch ein tüchtiger Guß über den Bug herauf aufs
+Vorderdeck und überschüttete die allzuweit Vornanstehenden mit einem
+nicht gerade immer willkommenen Bade.
+
+An den St.-Pauli-Landebrücken stieg ich aus und klomm zur Seewarte
+empor und in ihr bis auf das aussichtsreiche Dach. Welch ein
+majestätischer Rundblick sich von oben bot! Drunten die breiten im
+Sonnenschein herrlich glitzernden breiten Elbarme mit ihren Hunderten
+von hin und her schießenden Booten, weiter hinaus die Docks und
+Werften, die rauchenden Schlote bis hin zu den sanften Linien des
+grünen Hinterlandes. Über der Stadt selbst der übliche Rauch und Qualm
+-- darin tut’s Hamburg London gleich --, aus dem richtunggebend hoch
+und schlank der Nikolaiturm emporstieg. Eindrucksvoll präsentierte
+sich von hier oben Lederers fast zyklopisches Bismarckdenkmal auf
+der Elbhöhe, ein unübertreffliches Symbol deutscher Kraft, deutschen
+schaffenden Willens und hoffnungsfreudigen Blickens in eine neue
+Zukunft: Deutschland kann seine Söhne allein nicht mehr ernähren, wenn
+es nicht wieder mit der ganzen Welt handelt und für sie arbeitet. Ist
+auch das Werk des Alten im Sachsenwalde eingerissen worden, aber sein
+Geist lebt fort und wird wieder auferstehen.
+
+Ich schlenderte durch St. Pauli, die berüchtigte Schiffer- und
+Arbeitervorstadt Hamburgs, übel berühmt durch ihr loses und
+leichtfertiges Vergnügungsleben. Hier will der von schwerer Seefahrt
+heimgekehrte und entlohnte Matrose sich „erholen“, d. h. austoben und
+ausleben, nachdem ihn wochenlang harter Dienst und strammes Kommando
+in Fesseln gehalten hat. Und wie verführerisch lockt des Abends die
+lichterfüllte, überall orgelnde, tönende, schreiende „Reeperbahn“, an
+der Kino an Kino, Varieté an Varieté sich reiht mit all ihren dunklen
+Gassen seitabwärts ...
+
+Aus diesem St. Pauli ging es zurück durch die Stadt und ihre breiten
+und belebten Geschäftsstraßen, wie sie nun nach gewaltigen Durchbrüchen
+am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Ich warf einen Blick in
+die ehrwürdige Nikolaikirche. Vom hohen Turm von St. Nikolai klang um
+Mittag das melodische Glockenspiel, das bis vor kurzem ein hoch in den
+siebziger Jahren stehender Onkel von mir zu spielen hatte, der täglich
+durch Jahrzehnte hindurch die 400 Turmstufen emporstieg, um auf seiner
+Spielbank da oben im luftigen Reiche Platz zu nehmen. Und er behauptete
+immer, sooft man ihn begleitete, diese tägliche Turnübung allein habe
+ihn bis in sein hohes Alter so gesund erhalten ...!
+
+Die herrlichen Säle des Rathauses mit ihren kostbaren Gemälden sah ich
+gern einmal wieder. So machts doch der gute Deutsche: Wenn er einen
+einzigen Tag in einer fremden Stadt zubringt, besieht er sich emsig und
+umsichtig, ein ausführliches und gelehrtes Reisehandbuch in der Hand,
+alle Sehenswürdigkeiten, und es schmerzt ihn nachher sehr, irgend
+etwas Wichtiges und Berühmtes vielleicht doch übersehen zu haben. Aber
+in der Geburtsstadt kann es einem passieren, daß man -- wie mir selbst
+-- zum +ersten Male+ in Goethes Geburtshaus hineinkommt, wenn man es
+von auswärts zugereisten Verwandten zu zeigen hat!
+
+Sooft ich in Hamburg war, konnte ich es mir auch nicht versagen,
+wenigstens einmal über die Alster zu fahren. Eine Alsterfahrt gehört
+immer zu den idyllischsten Erinnerungen. Die Alster ist immer schön,
+am strahlenden Sommertag und ebenso im herbstlich früh einbrechenden
+Abenddunkel, wenn die Alsterboote mit ihren Lichtern wie Leuchtkäfer im
+Nebel hin und her flitzten. In trauter Erinnerung stand bei mir seit
+den Kindertagen auch das Uhlenhorster Fährhaus, von dessen herrlicher
+Terrasse man einen solch entzückenden Blick über das weite Alsterbecken
+bis hin zu den vielen fern und schlank aufragenden Türmen Hamburgs
+genießt.
+
+Hinter Uhlenhorst liegt der Vorort Horn. Er war mir auch seit meiner
+Kindheit bekannt, seit in seiner kleinen Kirche einst mein ältester
+Bruder getraut worden war ... Ich sehe noch immer die nach Althamburger
+Sitte lange Wagenreihe vor mir, die da mit der großen Verwandten- und
+Bekanntenschaft hinausstrebte. Und ich durfte damals als kleiner viel
+verhätschelter Junge mitten zwischen den Brautjungfern sitzen! Und dann
+defilierten wir durch die vielen neugierig an der Eingangstür wartenden
+Vorstadtkinder ... und oben auf der Orgel intonierte der siebzigjährige
+Onkel L., dessentwegen das kleine Kirchlein zur Trauung gewählt worden
+war, derselbe, der täglich zum Glockenspiel auf den Nikolaiturm
+hinaufstieg.
+
+In Horn steht bekanntlich auch Wicherns berühmtes „Rauhes Haus“,
+darin einst der Kandidat Wichern und seine Mutter Wohnung nahmen, um
+selbstlos arme verwahrloste Knaben zu erziehen. Jetzt sind es mächtige
+ausgedehnte Erziehungshäuser der „Inneren Mission“. Die Anstalt erfüllt
+heute einen gar weiten Komplex, in dem sich aus freundlichem Grün die
+einzelnen Häusergruppen familiär und traulich erheben. Als „Familien“,
+von Brüdern und Helfern betreut, leben hier die Zöglinge zusammen. Wie
+mancher mag hier fürs Leben wirklich „gerettet“ worden sein, so daß die
+Anstalten mit Recht ihren Namen tragen.
+
+Für soziale Arbeit habe ich mich schon früh immer stark interessiert.
+Gerade in Hamburgs Straßen blickte ich manchem hungrigen Straßenhändler
+oder armen streichhölzerverkaufenden elternlosen Kinde in die
+Augen ... Ich weilte in des gottbegnadeten Pastor Clemens Schulz’
+Lehrlingsverein, der dem alten Herrn die Familie ersetzte, und sah mich
+um in den sozialen „Volksheimen“ und fühlte mich jedem Eckensteher und
+„Halbstarken“ ein bißchen verwandt. Waren sie nicht alle auch Menschen
+und Brüder? Was können sie für das Elend, in dem sie aufgewachsen sind,
+für Not und Irrtum, die sie in Schuld getrieben? Zeitweilig hatte ich
+einmal ernstlich die Absicht, mich ganz der verwahrlosten Jugend in St.
+Pauli zu widmen ...
+
+So strich ich damals von Horn aus in Rothenburgsort und Hammerbrook
+umher. Vor 30 Jahren war hier noch grünes Marschland. Jetzt reihen sich
+grauschwarz und schmutzigberußt die langen traurig-öden Straßenzeilen
+mit ihren Mietskasernen, ihren dunklen Höfen und düstern Hinterhäusern
+aneinander. Hier wohnen die Menschen so dicht, daß oft ein einziger
+Straßenblock 4000 Menschen mit etwa 1700 Kindern, genug für eine
+32-(!)klassige Volksschule, beherbergt. Hier wächst eine Jugend auf,
+deren Spielplatz die Straße, deren Hauptbildner das Kino ist, die
+von blauem Himmel, grüner Marsch und singenden Vögeln nur wie von
+Sagen und Märchen hören. Ihre Ahnen waren einst selbständige wackere
+Holsteiner Bauern, Handwerker und Fischer; jetzt zerreibt und zermahlt
+sie die Großstadt zwischen Schloten und Maschinen, zwischen seelenloser
+Fabrikarbeit und brutalsinnlichen Vergnügungen zu einer einförmigen,
+grauen Masse, „Proletariat“ genannt, oft ohne jeden Glauben an
+Innerlichkeit. Denn im Rauch, Getöse und Herdendasein der Großstadt
+stirbt das Persönliche. Und mit ihm stirbt Lebensfreude und -glück.
+Aber im „Volksheim“, da suchte man wieder den Menschen zu wecken.
+Da turnten fröhlich die Knaben, da wurde gutes Theater gespielt;
+naturwissenschaftliches Kränzchen und Billardklub, Rezitation und
+Bücherei, Bastel- und Schnitzabend, Schachspiel und Schlagball blühten
+und gediehen friedlich und fröhlich miteinander. Zeigt nicht ähnliche
+Zustände die Großstadt überall, sei es Berlin oder Hamburg, Neuyork
+oder Chikago? Die Großstadt ist am allermeisten und im bösesten Sinne
+„international“. Überall frißt sie das Land und die Seele der Menschen
+zugleich.
+
+In die innere Stadt zurückgekehrt, umflutete mich wieder das Leben der
+großen Geschäftsstadt, die Warenhäuser mit ihren wimmelnden ein- und
+ausströmenden Menschen, die fliegenden Straßenhändler, die klingelnden
+Straßenbahnen und tutenden Autos, die Laufjungen und Portiers, all
+die vielen kleinen Theater und Spielhallen, die Ewerführer auf dem
+Kohlenkahn die düstern Fleets entlang, die Wirte der Hafendestillen,
+die Fuhrleute und Packer, die Börsenmänner und Geldleute und endlich
+im Alsterpavillon die schlemmenden gelangweilten feinen „Damen“. Welch
+eine gegensätzliche Welt! Welch eine Sachenkultur! Elend und Reichtum,
+Verdorbenheit und Selbstsucht dicht beieinander.
+
+Aus der stickigen Großstadtluft trieb es mich am Nachmittag mächtig
+hinaus nach dem Land. Ich fuhr daher nach dem so reizvollen Blankenese
+an der unteren Elbe, Hamburgs Perle, hinaus. Aus den dunkeln, dumpfigen
+Winkeln und Kellern, Straßen und Hinterhöfen voll pestilenzialischer
+Gerüche und verbrauchter Luft ging es zu Schiff hinaus in die frische
+freie Luft des breiten Stroms und des saftgrünen Landes, dahin, wo
+einem schon Salzluft der Nordsee entgegenweht. Am alten Michel vorbei,
+St. Pauli vorüber, entlang den Reihen der vornehmen Landhäuser der
+Großkaufherren in Kleinflottbeck ... Am Strande des Flusses lagen
+vergnügte und sorglose Menschen in ihren hellen Kleidern im weißen
+Sande; Kinder plantschten im Wasser und ließen ihre kleinen Segelboote
+schaukeln ... In der Sonne gebräunt-leuchtende, badende Jungen,
+schwammen hinter dem Dampfer her und tauchten fröhlich in seinen
+spritzenden Wellen ... und drüben lag behäbig und unentwegt das satte,
+saftige grüne Marschland, und draußen wartete auf uns das blaue Meer.
+
+Oben vom Süllberg aber und seiner weitblickenden Aussicht konnte man
+sich kaum trennen. Eine Musikkapelle spielte lustige Weisen. Es war
+prächtig, da oben zu sitzen und über den weiten meerarmartigen Strom
+und das weite grüne Land zu schauen. Die Musik war die Auslöserin der
+rechten Abschiedsgefühle. Deutsche Lieder würden wohl sobald nicht mehr
+an mein Ohr klingen ... Langsam spülte die Flut herein. Allerlei flache
+Inseln und Sandbänke im Strome tauchten unter. Mit Sonnenuntergang
+versank für mich auf lange ein letzter Tag auf deutschem Boden ...
+
+ * * * * *
+
+Ebenso strahlend brach dann der Augustsonntag an, der mich der
+alten Welt entführen sollte. Auf dem Hamburger Hauptbahnhof war ein
+furchtbares Gewühl von Menschen, wie an schönen Sommertagen auf allen
+deutschen Großstadtbahnhöfen. Tausende von Ausflüglern flohen aus
+der heißen Großstadt in die Lüneburger Heide, in den Sachsenwald,
+ins Holsteinische. Dazwischen wimmelten noch die Ozeanpassagiere zu
+Hunderten. Unser Sonderzug dampfte punkt sieben Uhr zunächst mit den
+Passagieren der zweiten Kajüte aus der Halle, bis zum letzten Platz
+besetzt ...
+
+Im hellen Sonnenschein ging es durch die grüne Marsch der Elbe entlang
+-- doch war sie selbst selten sichtbar -- über Stade nach Kuxhaven.
+Im Wagen redete alles bereits deutsch und englisch durcheinander. Die
+echten Deutschamerikaner redeten ihr Deutschamerikanisch: „~Well,
+think~, wir gehn nach vorn“ u. ä. Deutsche Kinder antworteten ihren
+deutschredenden Eltern prompt auf englisch. Übrigens war mein letztes
+deutsches Erlebnis gewesen, daß der Gepäckträger mir schnell noch vor
+der Abfahrt zu wenig herausgab! Immer noch besser als jenes erste
+deutsche Erlebnis des Japaners Utschimura, dem auf dem Hamburger
+Hauptbahnhof gleich sein ganzes Portemonnaie nebst wohlgefülltem Inhalt
+gestohlen wurde ...!
+
+Nach zweistündiger flotter ~D~-Zug-Fahrt lenkten wir plötzlich wieder
+der Elbe zu. Die grüne Marsch, die grasenden Rinderherden entwichen
+... Dort drüben dicht vor uns strahlend gelb und weiß im hellen
+Sonnenglanz lag unser Schiff, und hinter ihm dehnte sich bis an den
+Horizont tiefblau die Nordsee ...
+
+Schon liefen wir in die Bahnhofshalle von Kuxhaven ein. Ich faßte mein
+Handgepäck. Blaugekleidete Stewards mit goldenen Knöpfen und weißen
+Handschuhen sprangen uns gar artig bis auf den Bahnsteig entgegen
+und nahmen uns das Handgepäck ab. Ich hielt aber in übertriebener
+Vorsicht das meine ziemlich fest in der Hand und schleppte es lieber
+im Schweiße meines Angesichts und meines Reisemantels am warmen
+Hochsommersonntagmorgen selbst bis zum Schiff hinauf. Einige Schritte
+ging es noch durch die langen Zollhallen, dann von der Halle bis
+an die Kaimauer ... zuletzt an einer Reihe Schutzleute vorüber die
+Schiffstreppe hinauf: für die Landratte ein eigenartiger Moment! Weil
+alle es so machten, machte man es auch so. Noch einmal wurde der
+Fahrschein kontrolliert ... oben an der Schiffstreppe standen die
+Schiffsoffiziere in weißen Handschuhen, die Hand grüßend an der Mütze.
+Von der Kommandobrücke sah der Kapitän, eine Menge goldener Streifen
+um den Arm, prüfend herab ... Hinter einem Seile auf dem Vorderdeck
+wie Vieh eingesponnen und zusammengedrängt standen die Zwischendecker,
+darunter Physiognomien wie aus einer Verbrecherkolonie, Russen, Polen,
+Italiener, Griechen, Juden aller Herren Länder ... Sie waren mit dem
+Gepäck schon in Hamburg eingeschifft worden.
+
+Durch merkwürdig schmale Gänge wurde man auf dem Schiffe selbst in
+die Kabine gewiesen. Unser Kabinensteward war ein freundlicher,
+hilfsbereiter junger Mensch. Die Kabine fand ich recht geräumig;
+sie enthielt je vier Betten, zwei übereinander, und einen hübschen
+Waschtisch mit zwei Becken. Man legte schnell ab. Ein Mitpassagier,
+ein wohlbeleibter Schauspieler aus Philadelphia, Deutscher von Geburt,
+wurde zunächst mein Berater. Als dritter Kabinengenosse gesellte sich
+ein stockamerikanischer „Coiffeur“ aus Chikago hinzu, der kein Wort
+Deutsch verstand. Der vierte war, wie sich nachher zeigte, ein alter
+Wiener Jude, der seine Tochter, eine Sängerin, in „Neffiorck“, wie er
+aussprach, besuchen wollte. Um etwaigen üblen Explosionen vorzubeugen,
+wählte ich ein oberes Bett, das auf einer kleinen Leiter zu ersteigen
+war.
+
+Wir gingen schnell, nachdem wir abgelegt, wieder nach oben, um ja den
+reizvollen Augenblick der Abfahrt nicht zu versäumen. Mehr und mehr
+sammelten sich die Passagiere auf dem Promenadendeck, um sich noch von
+oben mit ihren Angehörigen auf dem Kai, soweit sie bis nach Kuxhaven
+mitgekommen waren, möglichst lange zu unterhalten. Jetzt wurde in
+gewaltigen Netzen unser Gepäck vom Land aufs Schiff balanciert. Dann
+lief der zweite Sonderzug von Hamburg mit den Passagieren der ersten
+Kajüte ein. (Vornehme Leute kommen bekanntlich in der Welt immer
+zuletzt oder sogar, wenn sie besonders vornehm sind, zu spät!) Auch
+diese dreihundert waren, schnell von hilfreichen Stewards geleitet, an
+Bord gebracht. Mittlerweile war es ¾12 Uhr geworden!
+
+Immer strahlender schien die Sonne wie mit Festglanz vom Himmel
+herab. Tiefblau war Himmel und Meer. Nun ertönte ein Kommando; die
+Haltetaue wurden losgewunden. Die Musik setzte ein: „Muß i denn, muß
+i denn zum Städtle hinaus“ ... Langsam drehte das gewaltige Schiff
+ein wenig vom Kai ab. Die am Ufer begannen zu winken, Taschentücher
+flatterten bald hundertfältig oben und unten, herüber und hinüber
+... einige Damen schluchzten auf ... da und dort sah man rotgeweinte
+Augen ... auch ich biß ein wenig die Zähne zusammen, aber das Fehlen
+von Angehörigen machte den Abschied mir nicht so schwer. Auch war
+meine Brust geschwellt von all dem Neuen, was da kommen sollte. Immer
+breiter wurde schon der Wassergraben zwischen Kai und Schiff. Die
+Schraube arbeitete spürbar, der ganze Schiffsrumpf erbebte unter ihren
+Drehungen, die Maschinen stampften, durch den ganzen Schiffskörper ging
+ein leises Zittern ... So löste sich das Schiff langsam vom Lande ...
+Zehn ... zwanzig Meter rückte es vom Ufer ab ... Alles rief, schrie,
+winkte, weinte ...! Dann wurden es fünfzig, hundert Meter! Die Menschen
+wurden immer kleiner ... Kreischend umflogen uns Schwärme von Möwen ...
+Zuletzt waren Kuxhavens Türme klein wie Spielzeug. Die Musik hatte
+aufgehört zu spielen ... Alles strömte in die Speisesäle, um sich vom
+Obersteward einen Tischplatz anweisen zu lassen ...
+
+Ich wählte lieber den „zweiten Tisch“, wie mir der spätaufstehende
+Schauspieler aus Philadelphia riet, und mußte nun zwölf Tage lang
+zweimal täglich anderthalb Stunden zusehen, wie bereits der „erste
+Tisch“ fröhlich speiste. (Bei voller Belegung des Schiffes reichen
+nämlich die Speisesäle nicht zugleich für sämtliche Passagiere.) Das
+war bei dem besonderen Appetit auf See und der Langeweile, die am
+schönsten von den Mahlzeiten unterbrochen wird, jedesmal eine Leistung.
+Auch sonst war mein wohlbeleibter Berater wie ein böser Dämon neben
+mir, der für die Rührung der Abschiedsszenen nur Spott hatte und auch
+schon am ersten Tage mir von Amerika und den Amerikanern fortgesetzt
+nur Ungünstiges zu erzählen wußte: „Dollarjagd und Bigotterie sei
+drüben alles. Der Freiheitsstatue hätte man lieber eine Dollarnote
+statt einer Fackel in die Hand geben sollen u. ä.“, während ich in
+vollstem Jugendidealismus wie ein kleiner Kolumbus mir eine neue ideale
+Welt erobern wollte ...
+
+Als man endlich aus den Speisesälen und Schiffsgängen wieder hinaufkam
+-- schon prägte man sich etwas die Topographie des Ganzen ein -- da
+schwammen wir bereits mitten auf der weiten, klaren, blauen Nordsee.
+Von Land war nirgends mehr eine Spur. Aber eine breitaufgewühlte Furche
+zog das Schiff wie eine Wasserlandstraße hinter sich her, die den
+zurückgelegten Weg deutlich und lange anzeigte ... Immer noch folgten
+uns kreischende Möwenschwärme tauchend und elegant die zugeworfenen
+Brocken auffangend ...
+
+Das Essen mit seinen vielen und reichlichen Gängen mundete stets
+vorzüglich. Die frische Seeluft tat das ihrige dazu. Vom Schwanken des
+Schiffs war keine Spur zu merken, obwohl am Nachmittag eine frische
+Brise eingesetzt hatte und der Wellengang stärker wurde. Gemütlich
+lag man auf Deck auf seinem gemieteten Deckstuhl wie auf der Veranda
+eines aussichtsreichen komfortablen Hotels und sah auf die nie
+ermüdende unendliche Wasserfläche hinaus und fühlte sich glücklich als
+Weltpassagier ...
+
+
+
+
+Auf dem Atlantischen Ozean.
+
+
+Es begann das regelmäßige Leben an Bord.
+
+Am Mittag war das Meer tiefblau, am Abend nach Sonnenuntergang
+aber wurde es tiefgrün. Der aufkommende Wind rüttelte an Tauen und
+Segeltüchern. Purpurrot war die Sonne im Westen versunken ...
+
+Silberne Streifen warf bald der Mond über das Wasser. Rings ein
+chaotisches Wasserrund. Welche Fluten erfüllen doch die Erde! Von fern
+her blitzten die Leuchtfeuer von den deutschen Inseln ...
+
+Wir waren jetzt etwa auf der Höhe von Borkum. Helgoland war zu weit ab
+und nicht sichtbar. Das Schiff ging noch immer sicher und ruhig, obwohl
+ringsum schon weiße Kämme aufspritzten. Viele, die bereits mehrmals
+herüber und hinüber gefahren waren, rühmten unsern „alten Kasten“ sehr,
+er fahre zwar nicht so rasch wie die großen Schnelldampfer, aber dafür
+ruhiger und sicherer, zumal wenn er wie diesmal voll und schwer geladen
+sei ...
+
+Es trompetete zum Abendessen. Nach der salzigen Seeluft schmeckte
+das Essen jedesmal vorzüglich. Die Stewardbordkapelle spielte dazu
+flotte Weisen im Speisesaal. Die Stewards erwiesen sich überhaupt
+als recht vielseitige Burschen. Erst traten sie als galante Pagen
+und Kofferträger auf, dann waren sie Zimmermädel in Hosen und
+servierende Kellner, für jeden Wunsch und jede Laune dienstfertig
+bereit, und zuletzt talentvolle Musikanten. Alle Achtung vor solcher
+Vielseitigkeit! Aber welche Versuchung zur Unzufriedenheit für sie,
+während ihrer Arbeit um sich ständig nur nichtstuende, schmausende,
+scherzende, geldverzehrende und vergnügungssüchtige Menschen zu sehen!
+Denn daß wir Passagiere vor und nach unsrer Seefahrt auch etwas
+Rechtschaffenes arbeiteten, das sahen sie ja nicht, und vielleicht
+glaubten sie es auch nicht. In ihren Augen waren wir alle „reiche“ und
+nichtstuende Leute.
+
+Als man vom Abendkonzert vor Schlafengehen noch einmal auf Deck kam,
+rauschte rings um uns ein tiefschwarzes Meer. Man hatte in den
+erleuchteten Gängen und Sälen fast vergessen, daß man auf dem weiten
+Meere schwamm ...
+
+Es kam die erste Nacht. Ich konnte mich gar nicht genug wundern, wie
+seelenruhig man sich in sein Bett legte. Freilich sah man einmal der
+Ordnung wegen nach, wo die Rettungsgurten lagen. Ganz Ängstliche
+haben sie wohl auch einmal heimlich, wenn sonst niemand in der Kabine
+war, „für alle Fälle“ anprobiert. Der schreckliche Untergang der
+„Titanik“ oder die Torpedierung der „Lusitania“ mit ihren etwa 1500
+im Wasser versinkenden Menschen hat uns Bilder genug des Schreckens
+vor Augen gemalt! Ich wußte mich auch aus meiner Kindheit eines
+schweren Zusammenstoßes eines Bremer Lloyddampfers mit einem englischen
+Kohlendampfer im Nebel des Kanals sehr wohl zu entsinnen. Der Engländer
+hatte von der Seite kommend und mit Kurs nach Frankreich den im Kanal
+längsfahrenden Lloyddampfer mitten entzweigeschnitten. Eine einzige
+Dame, eine Bremerin, dazu noch eine gute Bekannte unsrer Familie, war
+damals gerettet worden.
+
+Rechtzeitig pflegte ich immer mein Oberbett zu erklimmen, denn das
+lange Spielen, Trinken und Rauchen der Herren liebte ich gar nicht.
+Mit mir ging gewöhnlich der kleine ältliche Wiener schlafen, der
+ja seine Tochter besuchen wollte und der nachher noch sehr unter
+der Seekrankheit litt. Er pflegte sich aus Vorsicht gar nicht ganz
+auszukleiden. Gut, daß er unten und ich oben schlief, denn die See
+hatte es ihm bald angetan! Der Chikagoer, der kein Deutsch verstand,
+sondern nur „~good morning~“ und „~good night~“ sagte, kam gewöhnlich
+erst ein oder zwei Stunden später herein, und zu allerletzt und oft
+wohlgeladen wie unser getreues Schiff, aber doch nicht so ruhigen
+Kurses wie es, kam der deutsche Philadelphier, der glücklicherweise
+nicht nach oben zu klimmen hatte. Er hatte seine Wahl recht getroffen.
+Mit einem mächtigen Plumps fiel er auf seine Lagerstatt. So schlief man
+nicht eher ein, bis alle Mann an Bord der Kabine waren. Zudem leuchtete
+über der offenen Türluke der helle Schein der Ganglampen herein, so
+daß es in der Kabine nie recht finster wurde. Außerdem lag neben
+unsrer Kabine, die freilich mittschiffs nicht weit vom Maschinenraum
+am wenigsten die Bewegungen des Schiffs verspüren ließ, einer der
+Schlafräume der Stewards, die abends nach ihrem Dienst und früh vor
+ihrem Aufstehen einen Heidenlärm machten. Da wurde gelacht, getanzt,
+gescherzt, Mundharmonika gespielt und fröhlich gesungen. Ich gönnte
+ihnen ihre Lustigkeit und Munterkeit von Herzen und wollte mich auch
+nicht griesgrämig beschweren; nur beförderte ihr Treiben gerade den
+ersehnten Schlaf nicht. So lag ich oft noch manche Stunde wach und sah
+gleichsam zum Lohn dadurch auf einmal, wie -- ich traute meinen Augen
+nicht -- gemächlich vom Gang herein oben durch die breite Türluke
+eine große, feiste Ratte in unsre Kabine hereinspaziert kam, an den
+Holzleisten der Wandverschalung gemächlich entlanglief und dann auf
+demselben Wege wieder verschwand. Nach andern Nächten fand ich sogar
+ihre Grüße und Spuren auf meiner weißen Bettdecke, die ihr vielleicht
+bei leerer Kabine als Ruheplatz diente. Sie hatte also, nach den Spuren
+zu schließen, während wir von den Wellen gewiegt selig schliefen,
+uns sehr nahe Besuche abgestattet. Nach dieser Entdeckung hielt
+ich es für ratsam, abends beim Emporklimmen in die „~upper berth~“
+wenigstens einen Pantoffel mitzunehmen und ihn als schußbereite Waffe
+in der Hand haltend einzuschlummern und hatte so das sichere Gefühl,
+gegen etwaige noch nähere Besuche der nächtlichen Freundin notdürftig
+gewappnet zu sein. Als ich meine Entdeckung erstaunt am andern Morgen
+dem Kammersteward mitteilte, meinte er lakonisch: „Ratten gibt’s
+auf jedem Schiff.“ Und erfahrene Seereisende trösteten mich mit der
+Weisheit: „Nur ein sinkendes Schiff verlassen die Ratten.“ Zum runden
+Kammerfenster aber wehte die ganze Nacht erfrischend luftiger Nordwest
+herein, so daß man immer Seeluft genoß. Mußten freilich die Luken wegen
+hohen Wellengangs einmal geschlossen werden, dann entwickelte sich bald
+eine recht dumpfe Atmosphäre, untermischt mit allerlei Küchen- und
+andern Dünsten.
+
+Früh halb sechs verließ ich meist als erster schon unsre Kabine, oft
+drei bis vier Stunden vor dem gutgeladenen Philadelphier. Kam man
+aufs Deck hinauf, so war da oben gewöhnlich noch groß Reinemachen.
+Das Schiff schwamm nicht bloß von unten her, sondern auch in Strömen
+von oben. Matrosen barfuß, in hochgekrempelten Hosen, spritzten und
+gossen mit Eimern und Schläuchen, wuschen und scheuerten, daß es nur
+so eine Art hatte ... Sie sahen es auch gar nicht gern, wenn man gar
+zu früh schon ihre Arbeit inspizierte. Aber gerade die Morgenstunden
+waren besonders schön auf Deck. Die Sonne und das Meer glänzten noch
+heller und frischer als sonst. Frei und unbehindert durch die vielen
+Mitreisenden konnte man sich überall ergehen vom Hinterdeck an, wo
+gelotet wurde, wieviel Faden wir liefen, bis zum Bug, wo man wie auf
+scharfkantiger Bastion das hochaufspritzende Wasser durchschnitt, das
+unwillig dem hochbordigen Schiff sich entgegenwarf.
+
+Wir fuhren jetzt in Höhe von Holland. Der Wellengang hatte zugenommen.
+Das Schiff stieg hinten und vorn recht erheblich auf und nieder. Schon
+fehlten einige der Bekannten am Frühstückstisch; andere schlichen mit
+ängstlichen und bleichen Gesichtern umher, drückten sich möglichst in
+der Nähe der Schornsteine auf ihrem Deckstuhl in die Ecke oder eilten
+ein ums andre Mal verstohlen an die Reeling, um Poseidon zu opfern
+... Wir andern machten tapfer unsre Runde, zwanzig Deckrunden, um --
+wie ein munteres Fräulein neben mir spottete -- „uns die Seekrankheit
+auszulaufen“.
+
+In der Tat läßt sich, glaube ich, mit ein bißchen festem Willen viel
+gegen die Seekrankheit machen. Viele werden zweifellos bloß aus Angst
+oder vom Sehen seekrank. Es ist wohl auch ein Stück Anlage, ob man
+ihr leicht erliegt oder nicht. Es soll ja sogar alte Kapitäne geben,
+die sie bei jeder halbwegs unruhigen Fahrt immer wieder packt. Gar
+spaßig waren die weisen Unterhaltungen und mancherlei Ratschläge
+darüber zu hören. So rieten die einen: „Immer tüchtig essen, aber ja
+nichts trinken!“ Die andern mit scheinbar einfacher Logik: „Den Magen
+ganz leer lassen, dann hat er kein Material zum ...!“ Wieder andere
+mit medizinischer Kennermiene: „Nur einen Kognak trinken, aber sonst
+nichts genießen!“ Die vierten meinten besonders ängstlichen Damen
+gegenüber: „Ruhig hinlegen und die Augen fest schließen und an etwas
+Schönes denken, das hilft!“ Wieder andere: „Hinlegen, aber die Augen
+gen +Himmel+ richten und nur nicht aufs Wasser sehen!“ Auch ein Rat aus
+der Praxis! Die sechsten aber mahnten zum Gegenteil: „Immer tüchtig
+herumlaufen, viel lachen und spielen!“ Die siebenten ergänzten gar
+dazu: „Nur nicht hinuntergehen in die dumpfe Kabinenluft, da kriegt man
+es gleich!“ Und noch andere: „Recht lange im Bett liegen bleiben, da
+spürt man das Stampfen und Rollen nicht so sehr!“ Endlich die letzten
+orakelten: „Man muß einfach weder davon reden noch daran denken“ -- und
+doch sprachen bald alle davon, von dem einen Thema, die einen offen,
+die andern verstohlen. Und wer nicht davon sprach, der dachte daran.
+
+Jeder versah sich auf seine Weise „für alle Fälle“ mit einem guten
+Rat. So spotteten die einen und lachten, die andern verkrochen und
+fürchteten sich. Ich selbst philosophierte über die Möglichkeit einer
+seekranklosen Lage und fand sie in einer kardanisch, d. h. von oben
+zentral wie eine Hängelampe aufgehängten Hängematte, die sofort vermöge
+des Gewichts des darin liegenden Menschen alle Schwankungen des Schiffs
+korrigierte und darum stets in der richtigen, zum Erdmittelpunkt
+zentripetalen Lage bleibt! Leider bin ich nur bis heute noch nicht zur
+Patentierung meiner Erfindung gekommen ... Möchte auch jeden Leser vor
+ihrer vorzeitigen Ausbeutung warnen!
+
+Gegen 11 Uhr fuhren wir auf der Höhe von Dover. Deutlich zeichneten
+sich rechter Hand die weißen Kreidefelsen der englischen Küste ab.
+Wer noch ungebrochener Gesundheit war, schrieb eifrig im Speisesaal,
+Rauchsalon oder Spielzimmer Briefe und Karten an die Lieben daheim,
+denn in Boulogne-sur-mer wurde von einem französischen Tender Post
+abgenommen. Ich konnte noch immer unter anderem stolz berichten: „Nicht
+seekrank!“ Und ich habe mit festem Willen und einer ungeänderten
+Lebensweise bis zuletzt auch gut „durchgehalten.“
+
+So näherten wir uns langsam von Albions stolzer Küste hinüber dem Land
+der uns so sehr liebenden Franzosen. Bald erkannte man durchs Glas
+Wiesen und weidende Rinderherden ...! Eine eigentümliche Sehnsucht nach
+Land entstand in mir. Die reichlich vierundzwanzig Stunden, die wir
+jetzt unterwegs waren, dünkten mich wegen der vielen neuen Eindrücke
+ebensoviel Tage zu sein.
+
+Um Mittag hielten wir weit draußen auf der Reede von Boulogne. Unsre
+Sirenen heulten mehrmals laut hinüber, daß wir da wären. Still stand
+der weithin sichtbare Leuchtturm auf seiner stolzen Höhe, aber der
+Tender mit den Parisern ließ noch eine ganze Weile auf sich warten.
+Fast zwei Stunden zu früh waren wir angekommen. So rasch war unser
+alter Kasten gefahren! Während wir still lagen, ließ sich drüben
+der französische Strand mit seinen großen Hotels, seinen vielen
+Strandkarren und die Kuppel der katholischen Kathedrale gut durchs
+Glas erkennen. Endlich kam auch tüchtig auf und nieder tanzend der
+französische Tender herübergedampft.
+
+Es war ein kleines Kunststück, die Passagiere heil zu übernehmen. „Halb
+zog sie ihn, halb sank er hin.“ Nach dieser Weise kamen sie alle zu
+uns herauf. Die Matrosen hatten dabei allerlei Arbeit. Zuletzt wurden
+wiederum die Koffer im Krannetz hoch über dem freien Wasser schaukelnd
+herüberbalanciert. Dann flogen unsre Postsäcke hinüber -- und der
+Franzose drehte wieder um ...
+
+Es war 4 Uhr nachmittags geworden, als wir uns wieder der englischen
+Küste näherten. Abends winkten uns die langen Lichterreihen von
+Southampton, der paradiesischen Insel Wight und dem Kriegshafen
+Plymouth, der so groß ist, daß er die ganze englische Kriegsflotte
+in sich aufnehmen kann. Wie „fliegende Holländer“ glitten im Dunkel
+bald näher, bald ferner kleinere Küstendampfer mit grünen und roten
+Signallichtern an uns vorüber. Am Himmel aber standen ruhig und
+feierlich die blitzenden Sterne ...
+
+Mit Anbruch des nächsten Tages passierten wir den letzten Punkt
+Europas, die felsigen Szillyinseln. Der Leuchtturm Eddystone, an dem
+hoch die schäumende Gischt emporbrandete, entbot den allerletzten
+Scheidegruß Europas. Nun würden wir kein Land mehr sehen bis zur Küste
+der Neuen Welt. Wir fuhren jetzt erst in den offenen Atlantik hinein.
+
+Länger und höher wurden die Wellenzüge. Bis zur halben Schiffslänge
+tauchte unser Schiff in die Wellentäler, um dann gehorsam vom nächsten
+Wellenberg wieder aufzusteigen. Ein ewiger, erhabener Rhythmus. Wir
+hatten unsre Deckstühle ziemlich weit hinten und sausten dabei manchmal
+recht tüchtig und plötzlich mit ihnen in die Tiefe. Das Rundengehen
+war aufgegeben, denn man mußte zu oft einhalten und sich festklammern.
+Man lag lieber und las, so gut es ging. Das muntere spottende Fräulein
+lag dicht neben mir. Nicht lange -- so entpuppte sie sich als Kusine
+einer meiner liebsten Studienfreunde, als eine muntere Badenserin
+aus dem schönen Freiburg im Breisgau. In Neuyork wollte sie ihren
+unverheirateten Onkel aufsuchen, ihm den Haushalt führen und, wenn
+möglich, sich drüben gut verheiraten. Gewiß hat sie es inzwischen auch
+getan.
+
+Wir haben auf der ganzen Reise zusammen viel Spaß gehabt. Sie gab
+mir ihre Bücher zum Lesen und ich ihr die meinigen. Dann tauschten
+wir unsre Urteile ungehemmt aus. Vielleicht hat unser gegenseitiges
+helles Lachen und Fröhlichsein auch als Medizin gegen die ~seasickness~
+gewirkt, der immer mehr Passagiere erlagen. Immer leerer wurden die
+Decks und Speisesäle, immer lauter das Seufzen der Seekranken. Auch uns
+hob es manchmal so ganz eigentümlich von unten herauf ... Ich las jetzt
+mit viel Interesse aus der Schiffsbibliothek die trefflichen Werke von
+Professor Hötzsch, Lamprecht und Münsterberg über „Amerika und die
+Amerikaner“ und wurde so auf meine Studienfahrt durch die Union aufs
+beste und zugleich geistvollste vorbereitet.
+
+Mehr und mehr Schiffsreisende hatte man kennengelernt. Alle Schichten
+waren dabei vertreten: Farmer, Schauspieler, Sänger, Zirkusleute,
+Familien mit Kind und Kegel, die schon lange drüben waren und nur
+vom Verwandtenbesuchen heimkehrten, und einzelne, die zum erstenmal
+hinüberwollten, wie meine Partnerin, Deutsche und Stockamerikaner
+bunt durcheinander. Ebenso sprachlich gemischt war am Tisch meist die
+Unterhaltung, aber das Deutsche herrschte doch noch entschieden vor.
+
+Jeden Tag war das Meer anders. Bald bewegt, bald glatt wie ein
+Spiegel, aus dem lustig Delphine in hohem Bogen emporsprangen. Manche
+wünschten sich prahlerisch „mal so einen richtigen Sturm“ zu erleben!
+Aber es kam keiner. Dazu war es noch zu sommerlich in der Jahreszeit.
+
+Eines Morgens ½7 überholte uns eins der schönsten deutschen Schiffe,
+die „Kronprinzessin Cecilie“. Rauschend wie eine Königin fuhr sie an
+uns vorüber, eine mächtige Schleppe quirlender Wasser hinter sich
+lassend. War das ein Grüßen, Winken, Rufen und Jubeln hinüber und
+herüber! Aber so schnell wie sie gekommen, war sie auch wieder vor
+uns verschwunden. Mehr als doppelt so groß wie wir war sie und auch
+fast doppelt so schnell fuhr sie. Später rückte von rückwärts her
+die „Adriatic“ von der White-Star-Linie an unsre Seite, um geraume
+Zeit vor uns in Neuyork einzutreffen. Aber uns kümmerte das nicht.
+Im Gegenteil, je länger auf dem Meer, desto schöner. Ich hatte ja
+nichts zu versäumen. Allerlei Spiele -- solange man nicht aß, lief,
+las, lag oder saß -- vertrieben schnell die Zeit. Auf Deck spielten
+sie „~shuffle-board~“, eine Art Deckkegelspiel, Ringwerfen, richtigen
+Nachlauf und „Kriegen“. Eine Gruppe handfester norddeutscher Burschen
+übte sogar „Schinkenkloppen“ zur größten Heiterkeit aller eifrig
+Spalier bildenden deutschen und amerikanischen Dämchen. Je tüchtiger es
+auf den gestrammten Hosen klappte und je seltener einer den Missetäter
+herausfand, desto lauter wurde das Vergnügen. Im Rauchzimmer saßen die
+ganz unentwegten Skatdrescher, von denen einer kurz vor der Ankunft in
+Neuyork mit den bezeichnenden Worten aufs Deck trat: „Jetzt muß ich mir
+schnell noch einmal das Meer ansehen.“ Tabaksqualm und ein Schoppen
+frisch Angestecktes ging doch über alles ...
+
+Zweimal war auch abends Bordfest. Die Decks waren mit Segeltüchern
+geschützt und alles mit Glühbirnen, Wimpeln und Flaggen umzogen. Und
+zu den fröhlichen Weisen der Bordkapelle drehten sich bis Mitternacht
+tanzlustig die Paare ...
+
+Keinen Tag fehlte auch die Bordzeitung, die täglich neu in der
+Borddruckerei mit den neuesten drahtlosen Depeschen aus aller Welt
+gedruckt wurde. Die Bordzeitung brachte auch Bilder und einen
+fortlaufenden Roman! Großes Interesse erregte auch jedesmal die
+Bekanntgabe der täglich zurückgelegten Meilenzahl, die gewöhnlich nach
+dem Mittagessen erfolgte: Meist liefen wir pro Tag zwischen 320 und
+340 Seemeilen, legten also etwa eine Entfernung wie von Dresden nach
+Hamburg täglich zurück, die freilich der Schnellzug in einem Drittel
+der Zeit meisterte. In künftigen Zeiten wird man mit dem Zeppelin etwa
+vier- bis fünfmal so schnell nach Amerika fliegen, als unser alter
+Kasten lief. Aber Kolumbus hätte schon unsre 11 Tage Überfahrt als
+unerhörten Rekord empfunden. Es ist ja alles in der Welt nur relativ!
+
+Ehe die Bouillon zum zweiten Frühstück auf Deck gereicht wurde,
+pflegten der Kapitän, der Erste Offizier und der Schiffsarzt ihre Runde
+zu machen und mit jedem Passagier ein kurzes freundliches Wort zu
+wechseln ...
+
+Sonst passierte nichts von Bedeutung. Nur einem Unglücksraben unter
+den Mitreisenden wurde seine gesamte Barschaft von elfhundert Mark
+gestohlen. Tags zuvor hatte er erzählt, daß er davon drüben eine kleine
+Farm kaufen wolle. Wie sollte man den Dieb ausfindig machen? Was wurde
+nun aus dem Armen und seinen Plänen?
+
+Regelmäßig verlief unser Leben. Aus Abend und Morgen wurde stets ein
+andrer Tag geboren. Die Tage hatten ihre Stunden, unter denen die
+Mahlzeiten immer die wichtigsten und frohbegrüßten festen Punkte waren.
+Mit Essen, Schlafen, Spielen, Lesen und Unterhalten ging die Zeit hin.
+Aber das Meer selbst wurde man nie müde:
+
+ Der Sturm singt mir das Schlummerlied,
+ Die Woge wiegt mich ein;
+ Das Schiff sanft seine Bahnen zieht
+ Im Ozean allein.
+
+ Wie braust der Wind in Mast und Tau,
+ Wie rauscht es in den Wänden!
+ Und droben ruht des Himmels Blau
+ In friedlichen Geländen.
+
+ Weiß spritzt die Gischt und quirlt und schäumt,
+ Ein rollend wallend Brüllen; --
+ Das Aug’ in Weltenferne träumt,
+ Wo Nebel Zukunft hüllen ...
+
+Der Ozean mit seiner unergründlichen Weite und unbezwinglichen Majestät
+regte immer zu neuen und großen Gedanken an. Aber dazu mußte man auf
+ihm auch Stunden allein verbringen können, nicht wie die Skatdrescher
+und Schinkenklopper. Gegen Abend, wenn die Sonne in die Goldbronze des
+Meers tauchte, dann wurde es mir immer besonders feierlich zumute.
+Noch glühte der Abendhimmel wie von einem Weltbrand erleuchtet. Auf
+den Wellen spielte Silber und Gold, eine märchenhafte Pracht. Jede
+Woge war wie ein heranrollendes Gebirge, jeder Wellenberg wie eine
+Farbensymphonie. Aus dem langsam blauschwarz verdunkelnden Himmel aber
+blitzten die ersten Sterne auf. Rötlich stieg langsam der Mars empor
+und warf eine matte Lichtstraße über das Wasser. Zuletzt leuchtete das
+Siebengestirn des großen Wagens in voller Majestät. Welche Abendpracht
+über der Wasserwüste!
+
+Eine wahrhaft grandiose Einsamkeit sprach zu einem, wie man sie ähnlich
+nur auf den Schneehäuptern des Hochgebirges erleben kann. Wie dort
+hoch oben über den letzten Hütten der Menschen und weit fort von den
+tiefeingeschnittenen, in Schatten getauchten Tälern, so war man hier
+Tage entfernt von der Alten und Tage von der Neuen Welt.
+
+Wasser, Wasser, so weit man sah, Wasser und Himmel -- und die ewigen
+Sterne! Noch heute rast hier das Chaos, noch heute blitzt hier Jupiter
+und zürnt Poseidon. Und Kastor und Pollux geleiten freundlich den
+Schiffer, der ihnen vertraut.
+
+Graus und Schrecken war das Meer einst, Dienst und Treue ist es
+heute. Aber drunten liegen die bleichenden Gebeine vieler mutiger
+Helden und die Masten ihrer geborstenen Schiffe. Wer war es, der den
++ersten+ Baumstamm höhlte und +zuerst+ sich aufs Meer wagte? Welcher
+Held schnitzte das erste Ruder und spannte das erste Segel auf? Wer
+strandete in all den Jahrtausenden auf der Sandbank und zerschellte am
+Riff, wo heute Feuerschiffe und Leuchttürme warnen?
+
+Sie alle lebten, sannen, kämpften, wagten und unterlagen für uns heute,
+damit wir heute in schwimmenden Palästen sicher durch alle Ozeane
+gleiten. Wo am wildumhertreibenden Mast sich einst der Schiffbrüchige
+angstvoll klammerte, sind wir heute bei Spiel und Tanz festlich in
+hellerleuchteten Sälen versammelt. Salons erstrahlen in Lichterfülle,
+ausgesuchteste Mahlzeiten sind bereitet ...
+
+Aber in welch unmeßbaren Zeitläuften wurde solche „Kultur“ errungen!
+Welche Zeitperioden schritten auch über das Meer! In welchen gewaltigen
+Zeitstufen wurde die Gegenwart der Schiffahrt errungen: Das Kanoe, die
+Galeere, der Schoner, der Schraubendampfer! Wie lang dauerte jedesmal
+ihre Herrschaft! Fischfang, Seeraub, Kolonialzeit, Weltverkehr lösten
+einander ab. Jahrhunderte tauschten über den Ozean ihre Güter von den
+Glasperlen der Neger und den Pelzen der Eskimos bis zu unsern Maschinen
+und Büchern. Aber wie schnell vergessen wir, was wir vergangenen
+Geschlechtern verdankten!
+
+Und wie schließen wir auch auf dem uns bedräuenden Meer uns in Kasten
+voneinander ab! Droben in den glänzenden Salons Ball und Konzert bei
+strahlenden Toiletten und einem Meer von Licht, blitzende Edelsteine
+und rauschende Seide. Drunten im Zwischendeck abgearbeitete Männer
+in zerschlissenem Rock und abgezehrte Mütter, die kaum mit dem
+Lebensnotwendigsten versehen mühselig eine neue Heimat suchen. Und
+doch werden die da drunten Wälder roden, Kohlen schaufeln und Farmen
+gründen, Erze fördern, ohne die da droben nicht handeln, spekulieren,
+verdienen und leben können. Den Kaffee und Reis auf unserm Tisch werden
++sie+ pflanzen, den Mastbaum haben +ihre+ Väter gefällt, unser Fleisch
+stammt aus +ihren+ Herden und von ihrer Schafe Wolle unsre Kleider. Und
+was bieten wir ihnen? Auch eine Meerfahrt kann uns zu sozialem Denken
+erziehen!
+
+Sicher und unentwegt zog derweilen unser gutes Schiff seine Bahn. Das
+Abendlicht verglomm. Schwarze Nacht war es geworden. Venus strahlte
+hell voran. Westwärts ging unser Kurs. Westwärts geht überhaupt
+der Kurs der Menschheit, von Indien nach Babylon, von Babylon nach
+Griechenland und Rom, von Rom nach Deutschland, Holland und England.
+Von England nach Amerika ... Und von da wieder zum fernen Osten zurück.
+Dann ist der Kreis der Erde ausgemessen.
+
+ Abendlich purpurnes Heer,
+ Goldbronzenes Weltenmeer, --
+ Dort, wo die Wolke steht,
+ Dort, wo der Wind herweht,
+ Dorthin mein Weg!
+
+ So zogen Völker aus,
+ Hinweg von Hof und Haus
+ Kühn auf dem schwanken Schiff,
+ Scheuten nicht Sand noch Riff,
+ Noch Sturmesnot.
+
+ Leuchte, mein Abendstern,
+ Westwärts, dir folg’ ich gern, --
+ Stampfe voran, mein Bug,
+ Voran der Möwen Flug!
+ Schau rechter Hand: Land!
+
+Die Kunde verbreitete sich geschwind: „Morgen, Donnerstag, den 9.
+September, einen Tag früher als erwartet, kommen wir an.“ Alles geriet
+in Unruhe. Die schönen genußreichen Tage, da man sich so recht und
+behaglich hatte „ausfaulenzen“ können, gingen zu Ende. Die Fähnchen auf
+der ausgehängten Seekarte waren dem amerikanischen Festland bedrohlich
+nahegerückt.
+
+Es war auch immer wärmer geworden, je mehr wir uns „drüben“ näherten.
+Der Reisemantel war längst abgelegt. Der wohlbeleibte Philadelphier
+hatte wenigstens mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen recht
+behalten: Entweder Sturm im Kanal oder Nebel bei den Neufundlandinseln.
+Richtig, es kam noch anderthalb Tage lang ganz dicker Nebel, daß man
+auf dem Schiff von hinten nicht bis nach vorne sah. Höchst unheimlich!
+Das Schiff wurde wegen etwaiger Zusammenstöße auf halbe Fahrt
+gesetzt. In regelmäßigen Abständen heulte unaufhörlich das Nebelhorn
+und lauschte auf Antwort. Aber es kam keine. Auch nachts -- noch
+schauriger -- ertönte dasselbe Tuten; noch im Traum vernahm man es,
+bis der Nebel wich und im Sonnenglanz bald wieder eine spiegelglatte
+See vor uns lag. Drüben rechts sah man schon die ersten amerikanischen
+Feuerschiffe ...
+
+Am letzten Morgen, an dem wir noch in der Frühe landen sollten, war
+alles unerwartet zeitig auf den Beinen, und zwar die meisten in sehr
+verändertem Habit. Die Reisemützen der Herren waren verschwunden --
+meine schwamm ja sowieso in der Nordsee oder im Golfstrom -- weiche
+oder steife Filzhüte für die Weiterreise zu Lande waren an ihre Stelle
+getreten. Die Schiffsanzüge waren von Straßenkostümen verdrängt, und
+manchen der Reisegenossen kannte man zuerst in dem ungewohnten Gewand
+kaum wieder.
+
+Währenddem glitten wir in der Morgendämmerung schon an der
+hellbeleuchteten Küstenlinie von Long Island entlang -- wir waren also
+dicht vor dem Ziel! Amerika! Seltsames Gefühl!
+
+Das Lotsenboot nahte und brachte den Lotsen an Bord, der nun das Schiff
+durch die „Narrows“[1] und die Neuyork-Bai in den Hudson steuern
+sollte. Links blitzten die Leuchtfeuer von Sandy Hook übers Wasser. Bis
+hierher gerechnet sind es von Southampton 3100 Seemeilen, von Hamburg
+3500.
+
+Der Morgen graute. Der Morgennebel nahm zu, aber doch so, daß man
+etliche Schiffslängen bequem voraus sehen konnte. Aber leider verhüllte
+er uns doch den bezaubernden Gesamteindruck der Hafeneinfahrt von
+Neuyork.
+
+Wir fuhren jetzt sehr langsam. Bald glitten wir sacht vorwärts, bald
+stoppten wir ganz. Rechts zeichneten sich die Umrisse des weltberühmten
+Vergnügungsortes bei Neuyork, Coney Island, ab, links näherten wir
+uns dem reizend frisch grünen mit Landhäusern und Villen der Reichen
+übersäeten Staten Island, auf das die ~ferry boats~,[2] die heulend
+wie ungetüme Wassertanks aus dem Nebel tauchten, die Neuyorker in 20
+Minuten bringen ...
+
+Der Nebel wich etwas. Die Sonne machte Anstrengungen, aus dem Dunst
+emporzutauchen. Das letzte Frühstück wurde gereicht ... Wir lagen jetzt
+vor Staten Island und erwarteten „den Doktor“ auf dem Quarantäneboot,
+den allmächtigen Mann, der bei 12500 Dollar Jahresgehalt entscheidet,
+wer in das gelobte Land Amerika hereindarf und wer postwendend auf
+Kosten der Schiffahrtsgesellschaft, die ihn herüberbrachte, wieder
+heimgeschickt wird! Vor uns lag die „Adriatik“, die uns kürzlich
+überholt hatte und wurde gerade „bedoktert“, dann legte sich uns ein
+Regierungsdampfer längsseit.
+
+Alles hatte sich an Deck gedrängt. Die Koffer waren zu Bergen
+geschichtet. Die ganze Nacht hatte es gerollt, gedröhnt und gerasselt,
+bis alles Gepäck oben war ...
+
+Wir fuhren wieder ein Stück. Der Nebel nahm wieder zu. Wir glitten
+jetzt nach Passieren der „Narrows“, die mit ihren schweren
+Befestigungen leicht den Eingang nach Neuyork sperren können, in die
+innere Bucht, die sog. „Upper-Bay“, hinein. Links erschienen die
+Umrisse eines riesigen Kolosses auf einer kleinen Insel. Es war die
+berühmte „Freiheitsstatue“, die mit ihrer Fackel in der Hand die Welt
+mit der „Freiheit“ erleuchtet, ein Geschenk Frankreichs an die älteste
+republikanische Schwester. Jedenfalls ein recht imponierendes Denkmal
+an einer einzigartigen Stelle der Welt, denn fast alles, was nach
+Amerika hereinwill, passiert hier die „~statue of liberty~“. Rechts
+tauchten auch schon die Umrisse der andern ebenso berühmten Wahrzeichen
+Neuyorks auf, der „Wolkenkratzer“. Wirklich von märchenhafter Größe
+und Gewalt trotz der riesigen Breite des Hudsonflusses, der in die
+Upper-Bay mündet, und im Morgennebel von fast trutzigem Aussehen ...
+
+Es war gegen halb acht Uhr geworden. Wir dampften langsam noch ein
+kleines Stück den breiten, meeresarmartigen Hudson hinauf, um dann
+links auf der Neujerseyer Seite in Hoboken anzulegen. Nun waren wir
+also wirklich „drüben“! Immer noch unfaßlich! Wirklich in der Neuen
+Welt! Und ein Ozean trennte mich von der Heimat!
+
+Heulend schossen vollbesetzte, schwere, breite Ferryboote vor uns und
+hinter uns vorüber. Links stieg der Turm der Pennsylvania-Railroad
+auf. Nicht weit davon liegen die deutschen Piers (Landebrücken). Von
+den Anlegebrücken winkten schon viele Tücher. Vom Balkon desselben
+aus dirigierte ein Beamter der Hapag die Landung. Ein ganz winziger
+Dampfer, wie ein Knirps anzusehen, zog die Riesenschwester in das Dock
+hinein.
+
+Alles, was auf der Landebrücke und an Bord stand, rief, schrie, winkte,
+lachte und weinte vor Freuden des Wiedersehens und der glücklichen
+Ankunft. Ich suchte auch meinerseits, wie alle ihre Verwandten, meinen
+Onkel, der mich abholen wollte und hielt eine ganze Weile einen älteren
+weißhaarigen Herrn dafür, bis ich auf einmal mit großer Enttäuschung
+meines Fehlschlusses gewahr wurde. Wie, wenn nun niemand da war --?
+Die Musik spielte, wie wir in Kuxhaven abfuhren. Mit Tauen wurde jetzt
+das große Schiff festgemacht. Nun schlugen sie auch die große Brücke
+hinunter. Die zweite Klasse durfte an Land gehen ... Ich war unter den
+Ersten.
+
+Eben wollte ich den Fuß auf amerikanischen Boden in die große Zollhalle
+setzen, als ich auch schon angehalten und zurückgeschickt wurde!! O
+weh, was hatte ich denn verbrochen? Ich war mir gar keiner Schuld
+bewußt! Sollte ich etwa wieder unverrichteter Sache heimgeschickt
+werden? Das wäre ja furchtbar gewesen! Diese Blamage daheim, wenn
+ich überall gefragt wurde, wie es in Amerika war und wie es mir
+dort gefallen hätte!! Oder sollte ich etwa vier Wochen mit den
+Zwischendeckern und Einwanderern nach dem berüchtigten Ellis Island
+geschickt werden? Ich war doch weder krank noch ein Verbrecher! Mein
+Onkel war ein unbescholtener ~American citizen~, ich selbst ein
+wißbegieriger Weltreisender und ein mehrmals akademisch geprüfter
+Deutscher, vor dem die Amerikaner doch sonst einige Achtung zu haben
+pflegen! Meine Papiere waren in Ordnung. Ich hatte weder mit dem
+Kapitän einen Zusammenstoß gehabt noch war ich etwa der Dieb des
+unglücklichen Mitreisenden. Ich kam auch nicht ganz mittellos, wenn
+auch gar nicht vermögend. Mein Reisebillett war auch richtig bezahlt
+... Was es nur war? So schossen mir blitzschnell hundert Möglichkeiten
+durchs Hirn, und schon war ich im Begriff, dem kaltherzigen Beamten
+eine lange Rede zu halten und zu bedeuten, wen er vor sich habe.
+Freilich, ob mein Englisch in diesem Fall der inneren Aufregung schon
+zugereicht hätte? Da hörte ich seine Erklärung: Ich sei weder vor dem
+Doktor noch vor dem Regierungskommissar gewesen, deren Stempel auf
+meiner Karte fehlten!!
+
+Tausend und Doria, wahrhaftig, ich hatte von Deck aus so genau alle
+Einzelheiten der Landung und der Einfahrt beobachtet -- damit mir für
+mein Reisetagebuch ja nichts entgehe -- daß ich es ganz übersehen
+und überhört haben muß, wann und wo man sich den beiden hohen Herren
+vorzustellen hatte. Und aus Deutschland hätte ich doch wahrhaftig an
+Ordnung und Gehorsam gegen die hohe Obrigkeit gewöhnt sein können!
+Wirklich, die Neue Welt hatte auch ihre Gesetze und Rechte und ließ sie
+nicht ungestraft übertreten!
+
+So mußte ich zurück -- und wäre doch so gern der erste bei der Landung
+gewesen! -- durch Gänge und Treppen, davon viele jetzt verschlossen
+waren, wo man sonst ein- und ausging, bis ich endlich den Arzt und den
+Regierungsbeamten im Speisesaal fand, noch von einer dichten Menge
+Passagiere umlagert. Erst wurde hier vom „Doktor“ jedem in die Augen
+geschaut, ob man auch gesund war. Gottlob, ich war es! Dann fragte die
+Einwanderungskommission nach Name, Stand, Herkunft, Reiseziel, sogar
+wieviel Geld man bei sich führe und dergleichen. Wer nicht wenigstens
+25 Dollar bar vorzuzeigen hatte -- die Verpflegung für die ersten Tage
+-- wurde gar nicht ins Land hereingelassen, ebensowenig wer etwa mit
+einer Frauensperson reiste, die weder seine nahe Verwandte noch seine
+Frau war. Auch alleinreisende Mädchen kamen nur nach Amerika herein,
+wenn sie drüben Verwandte besaßen. Glücklicherweise konnte ich auf
+alle Fragen der Kommission eine befriedigende Antwort geben -- ich
+radebrechte zum erstenmal kühn auf englisch drauflos -- ich war weder
+ein alleinreisendes Mädchen noch hatte ich kranke Augen. Ich hatte
+auch ein bestimmtes Reiseziel, besaß mehrere ~American citizens~ als
+Verwandte und konnte sogar den letzten Trumpf ausspielen, daß ich 25
+Dollars in bar vorzuweisen vermochte. Andernfalls hätte ich wohl noch
+einige Tage auf Ellis Island sitzen und über die Nützlichkeit und
+gerechte Weisheit der amerikanischen Einwanderungsgesetze nachdenken
+können, die unangenehme Gäste aus der Alten Welt und insonderheit aus
+Osteuropa dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten am liebsten jetzt
+ganz fernhalten wollen. Kurz, ich kam heil aus dem Fegfeuer, kriegte
+den ersehnten Stempel und durfte die ersehnte Brücke zum Festland
+überschreiten und den Boden des gelobten Landes -- zunächst in Gestalt
+riesiger Zollhallen -- betreten!
+
+Vor den Preis haben die Götter nun einmal den Schweiß -- und auch die
+Geduld gesetzt. Ich, der ich am liebsten gleich über den Hudson nach
+Neuyork hineingestürmt wäre, sah von Amerika in den Zollhallen zunächst
+noch gar nichts weiter als Berge von Koffern meiner Mitreisenden,
+Hunderte von wartenden Menschen und einige völlig rasierte gum-kauende
+amerikanische Zollbeamte in Zivil. Am Strohhut die Regierungskokarde
+war ihr einziges Abzeichen! Jeder Ankömmling hatte sich zunächst bei
+seinem Buchstaben aufzustellen, die in Riesengröße von den Wänden
+hingen und dort auf das Heranbringen seiner Koffer geduldig zu warten.
+Waren sie alle angelangt, so hatte man sich zur „~office~“ zu begeben,
+sich in sehr langer Polonäse daselbst anzustellen und zu warten, bis
+man seinen Zollzettel und seinen Zollbeamten kriegte. Der nahm dann
+genau und gemächlich die Revision vor. Alles, was daheim mit soviel
+Liebe und Akuratesse zusammengepackt war, flog jetzt gleichgültig
+durcheinander, die Hemden aus den Falten, die Anzüge zum Teil in den
+Staub des Hallenfußbodens. Auch war es nachher eine wahre Kunst, alles
+wieder einigermaßen richtig hineinzupacken und den Deckel wieder
+richtig zuzukriegen. Zu Hause war das mit vereinten Kräften und in Ruhe
+erfolgt. Hier mußte alles schnell und allein geschehen. Wie mancher sah
+sich da hilfesuchend nach mitleidigen Seelen um! Zollpflichtiges wurde
+bei mir nicht gefunden, ich hatte weder Seide noch Perlen noch Zigarren.
+
+Aber was nun? Manche weinten schon, weil ihre Angehörigen aus
+Chikago oder wo sonst her noch nicht da waren und sie kein Wort der
+fremden Sprache verstanden! Wir waren ja einen ganzen Tag zu früh
+eingetroffen!! Und die Freude darüber verkehrte sich bei vielen jetzt
+schnell in weinende Wehmut. Als ich gerade darüber nachdachte, was ich
+nun wohl in dem fremden Erdteil mutterseelenallein in einer mir völlig
+fremden Sechsmillionenstadt zuerst anfangen würde, entdeckte ich am
+Eingang einen liebenswürdigen alten Herrn mit goldener Brille, der
+jemand eifrig zu suchen schien. Ich hätte ihm gleich vor allen Leuten
+um den Hals fallen mögen. Es war ja Onkel, mein Retter!
+
+Jetzt brauchte ich nicht mehr alle meine englischen Vokabeln und
+Phrasen zusammenzukramen -- ich konnte erst noch einmal ein paar Tage
+meinem Herzen auf deutsch Luft machen und alle meine Eindrücke deutsch
+verstauen und verdauen. Mein Onkel hatte mich auch erst am nächsten
+Tag abholen wollen -- da las aber zufällig sein Enkel diesen Morgen in
+der Zeitung, unser Schiff werde wahrscheinlich schon diesen Vormittag
+docken, läuft zum Onkel, teilt es ihm mit; der stürzt zum „~subway~“
+(Untergrundbahn) und versucht mich noch in Hoboken zu erwischen. Und er
+kam noch gerade recht.
+
+Wir schüttelten uns herzlich und lange die Hände. Die Fremde war mit
+einem Schlag Heimat geworden! Wie gut, daß ich so lange bei dem Doktor,
+bei den Koffern und beim Zoll warten mußte, sonst hätte mich Onkel in
+Hoboken gesucht und ich ihn derweilen in Neuyork! Man sieht wieder,
+„wozu das Mißgeschick gut war“!
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 1: Engen.]
+
+[Footnote 2: Fähren.]
+
+
+
+
+Neuyork.
+
+
+Das erste, was mir, als wir nun endlich nach Übergabe meines
+Gepäckscheins an eine „~Transfer-Company~“[3] die Tore der Zollhalle
+verlassen konnten, auf dem amerikanischen Pflaster Hobokens auffiel,
+war -- ein Neger. Bald sah ich sie überall, die man bei uns vielleicht
+nur einmal in Zoologischen Gärten bestaunt, als Portiers, Gepäckträger,
+Droschkenkutscher, Handwerker, Hilfsschaffner und dergleichen. Und
+eine der großen Nationalfragen der Union tauchte schon am Zolltor
+Hobokens vor mir auf: die Negerfrage. Mitten durch die demokratische
+Union zieht sich wie ein Riß die Farbenlinie zwischen Schwarz und Weiß.
+14 Millionen Schwarze und Farbige gibt es heute in der Union, im Süden
+noch weit mehr als im Norden. Der große Bürgerkrieg in den sechziger
+Jahren des vorigen Jahrhunderts war um ihretwillen entbrannt. Ich sah
+auch bald, wie sich Weiße und „~colored people~“ ängstlich scheiden,
+wie die Schwarzen vielfach ihre eigenen Bahnabteile, Restaurants,
+Theater, Varietés -- ja Kirchen haben! ... Und ich sah sie bald, vom
+Negerbaby mit seinem reizenden schwarzen Stumpfnäschen in seinen
+blendend weißen Kißchen bis zur behäbigen schwarzen Amme oder dem
+ergrauten niederen Handwerker, vom tiefsten Tintenschwarz, aus dem nur
+die Zähne und die Augen hervorleuchten, bis zum häßlichsten hellen
+Braungelb, je nach der Blutmischung. Ich gedenke aber heute auch noch
+gern zweier persönlicher Negerfreunde. Der eine war unser getreuer
+„Jack“ in der großen Universitätsspeisehalle in Cambridge, der uns alle
+unsere Lieblingsgerichte auf besonderen Wunsch in doppelten Portionen
+brachte -- die gute Seele! -- und der andere war ein strebsamer
+Negerstudent, mit dem ich mich manchmal an den Ufern des Charles River
+in Boston in freien Stunden erging ... Nur ihr Rassenduft war manchmal
+nicht gerade erwünschteste Beigabe ...
+
+
+Mamas kleine schwarze Rose.[4]
+
+ Eines Tages weinte ein kleiner Schwarzer in Tennessee,
+ Sein kleinesHerz schluchzte,
+ Weil er nicht weiß war.
+ Da küßte ihn seine liebe alte Mutter und sagte,
+ Und sagte zu ihm: Weine nicht, Kind,
+ Weine nicht, mein kleines Kind,
+ Und sie sang ihm ein Schlummerlied:
+
+ Trockne deine Tränen, meine kleine schwarze Rose, und weine nicht,
+ Schlaf ein und schließe die Lider.
+ Weine nicht, weil du schwarz bist.
+ Du bist eine Wolke mit silbernem Futter,
+ Wie jeder alte Rabe glaubt, sein Kind sei weiß wie Schnee,
+ So gut weiß deine alte Mutter, daß du eine Rose bist.
+ Und als die Engel dir diese schönen Locken gaben,
+ Mischten sie einen Strahl von Sonne mit hinein.
+ Deshalb, glaube ich, bist du schwarz,
+ Und dein Herz, Liebling, so weiß.
+ Also seufze nicht, weine nicht,
+ Du bist Mamas kleine schwarze Rose.
+
+Nach diesem Empfang umtoste mich nun der Lärm der Weltvorstadt: Autos,
+Omnibusse, Straßenbahnen, Droschken, Agenten, Schutzleute, Reisende
+... alles lief, sprach, klingelte, schrie ... ein sinnverwirrendes
+Durcheinander. Der gute Onkel geleitete mich sicher zum Tunnel der
+Untergrundbahn, und mit ihr fuhren wir dröhnend und rasselnd in
+prächtigen, hellerleuchteten, strohgepolsterten ~D~-Zug-ähnlichen
+Wagen unter dem breiten Hudsonfluß nach dem eigentlichen Neuyork auf
+die langgestreckte Insel Manhattan hinüber. Als wir drüben wieder ans
+Tageslicht stiegen, waren wir mitten auf der Hauptgeschäftsstraße
+Neuyorks, dem berühmten „Broadway“.
+
+Ich mußte unwillkürlich an die Häuserwand treten, um erst einmal
+einen ruhigen Standpunkt zu gewinnen. Da waren sie ja nun wirklich
+dicht vor mir die Wolkenkratzer und erhoben sich mit ihren 24, 30, 40
+usw. Stockwerken bis 100, 150 und mehr Meter Höhe! Der an sich breite
+Broadway wand sich wie eine enge Schlucht zwischen ihnen hindurch.
+Auf dem Asphalt aber ein unübersehbares Gewühl von Lastwagen, Autos,
+Straßenbahnen, Hochbahnen auf mächtigen eisernen Gerüsten, und unter
+uns in der Tiefe raste der „Subway“[5]. Auf den Gangbahnen aber eilten
+die Menschen geschäftig und unablässig wie in Berlin und Hamburg
+hin und her. Die Herren waren alle rasiert. Nirgends sah ich einen
+Schnurr- oder gar Vollbart! Die Gesichter schienen mir etwas eigenartig
+Scharfkantiges, ja fast etwas Rechteckiges an den Kieferknochen zu
+haben; auch ihr Blick schien mir starrer und fester als bei uns.
+Es prägte sich deutlich auf diesen Gesichtern eine noch größere
+Arbeitsunrast als bei uns aus, ja wie eine Unfähigkeit zum gesunden
+Genießen: „Taylorsystem!“ Bummelnde Amerikaner habe ich überhaupt
+nicht gesehen. Selbst im Schaukelstuhl daheim schaukelt man wenigstens
+noch, um nicht ganz untätig zu sein, und in der Straßenbahn kaut man
+zur Unterhaltung und Beschäftigung „~Chewing gum~“. Infolgedessen
+ringsherum auf dem Pflaster ein ständiges unappetitliches Ausspucken.
+Das Pflaster der Gangbahnen des Broadway war von Hunderten kleiner
+Spuckpfützchen übersät!!
+
+Nach wenigen Schritten standen wir vor einem riesigen turmartigen
+Gebäude der Metropolitan-Lebensversicherung und ihrem 48 Stockwerk
+(über 200 Meter, höher als die höchsten Dome Europas!) hohen
+„Metropolitan Tower“, den eine vergoldete Kuppel krönte. Den mußte ich
+bald besteigen und von oben auf das Riesenbabel niederschauen! Das
+stand mir jetzt schon fest. Aber das hatte noch ein bißchen Zeit. Ihn
+überragt heute noch das 58 Stockwerk (228 Meter) hohe ~Woolworth
+building~, dessen Platz allein 4½ Millionen Dollars kostete, wo also
+jeder Quadratmeter etwa hunderttausend Mark wert war. Daneben ist der
+Eiffelturm kein Riese mehr! Aber zunächst erst einmal heim zur Tante,
+die uns gewiß sehnlichst erwartete ...
+
+Wir saßen im ~Broadway subway~, in dem es in der Tiefe ab und zu einmal
+furchtbare Unglücksfälle gibt; in dem stets aber eine wie im Bergwerk
+atembeklemmende Luft herrscht! Er hat vier Schienenstränge, in der
+Mitte für „Schnellzüge“, an den Seiten für „Personenzüge“. Neuyork ist
+auf der Insel Manhattan an 19 Meilen lang. Zu Fuß würde man 4½ Stunden
+zum Durchschreiten seiner Länge brauchen. Die Untergrundschnellbahn
+aber, die nur ein paarmal hält, durchfährt die ganze Strecke in etwa
+25 Minuten! Man steigt unterwegs um in den „Personenzug“, um am
+richtigen Straßenblock aussteigen zu können. Ähnlich dem Betrieb in
+der Horizontalrichtung in der Stadt ist der in der Vertikalrichtung
+in den höchsten Wolkenkratzern! Auch hier fährt man erst mit einem
+Schnellaufzug, der nur jeden 5. Stock hält, etwa bis zum 35., um von da
+noch mit dem „Personenzug“ etwa bis zum gewünschten 39. Der „Expreß“
+aber fährt meist gleich ganz in zwei Minuten bis zum Aussichtsbalkon
+durch ...
+
+An der 137. Straße stiegen wir aus. Querstraßen in den amerikanischen
+Städten sind einfach (zwar praktisch, aber höchst prosaisch!) meist
+nach Nummern benannt, die Längsstraßen werden vielfach als Avenuen
+u. dgl. gezählt. Daher hat auch die berühmte „~Fifth avenue~“
+der Multimillionäre in Neuyork ihren Namen. Die Straßen laufen
+meist zueinander rechtwinklig, so daß jede große Stadt wie ein
+Riesenschachbrett erscheint.
+
+[Illustration: ~NEW YORK~
+
+~The West-Street-Building, rechts der Turm des Singer-Gebäudes~]
+
+[Illustration: ~NEW YORK~
+
+~Trinity-Church, gegenüber Wall-Street~]
+
+Tante empfing mich trotz ihrer vorgerückten Jahre, und obwohl wir uns
+bis dahin im Leben erst einmal gesehen hatten, überaus herzlich und
+hatte allerlei amerikanische und mir noch nicht geläufige Genüsse zur
+Erquickung bereitgestellt: ~Grape fruit~, ~ice-cream-soda~, Bananen
+in Sahne und Zucker aufgeschnitten u. dgl. In der „Halle“ des Hauses
+unten empfing uns der Hausmann, ein Neger, und fuhr uns im Aufzug
+ins „flat“ (Wohnung) nach oben. Zeitweilig hielt sich Tante auch ein
+Negerdienstmädchen, aber .. sie hat es bald aus den erwähnten Gründen
+wieder abgeschafft. Die Jalousien über den großen Schiebfenstern,
+die man von unten nach oben öffnet, waren überall sorglich
+heruntergelassen, denn Neuyork litt trotz der Septembermitte noch unter
+einer sehr großen lästigen feuchtschwülen Hitze. Die Männer gingen
+daher ohne Weste und Jacke, meist bloß im Faltenhemd mit Gürtel. Tantes
+Wohnung glich wie die meisten der amerikanischen Damen einem kleinen
+Museum oder einer großen niedlichen Puppenstube, als sei sie stets nur
+zum Ansehen gewesen. Altbremische Sauberkeit und amerikanische Freude
+an schönen Sachen hatten hier einen Bund geschlossen.
+
+Welch eine Erquickung war es, sich nun des Abends wieder in ein
+richtiges Bett legen zu dürfen und nicht nur in ein Oberbett der
+Kabine. Es erscholl kein in Angst versetzendes Nebelhorn mehr, noch
+stieg die Kabine in den Wänden ächzend langsam auf und nieder oder
+rollte von einer Seite auf die andere. Und auch am Tisch saß man wieder
+ganz fest und sicher ... Und nun ging’s ans Erzählen ...
+
+Lange litt es mich nicht im Hause. Anderen Tag schon begann ich meine
+Wanderungen durch ~New York~, nur mit Reiseführer, Karte und meinen
+bescheidenen englischen Kenntnissen ausgerüstet. Ich fuhr zuerst mit
+der Straßenbahn und der Hochbahn, die vor dem Subway den Vorzug der
+mannigfaltigen Aussicht hatten, wenn sie auch dem Subway sehr an
+Schnelligkeit nachstehen, zurück ins Stadtinnere, also „~downtown!~“,
+wie der Neuyorker sagt. An der +City Hall+, dem alten Rathaus Neuyorks,
+stieg ich zuerst aus. Äußerst bescheiden und klein unter den Riesen
+steht das Rathaus dieser Riesenstadt mit seinem feinen, weißen Marmor
+am City Hall Park, einer anmutigen grünen Oase mitten in dem tollen
+Geschäftstrubel, ein geschichtliches Denkmal dafür, wie es in Neuyork
+noch im Beginn des 19. Jahrhunderts aussah, als der heute verschwindend
+kleine zierliche Rathausturm alle anderen Häuser noch stolz überragte
+und keine Dollarburg ihm das Sonnenlicht verdunkelte. Als Napoleon
+I. nach Rußland zog, wurde City Hall eingeweiht. Im Empfangssaal des
+Governors steht noch das Pult, auf welchem Washington einst seine erste
+Botschaft an den damals in Neuyork tagenden Kongreß geschrieben hat,
+und auch der Stuhl, der George Washington bei seiner Inauguration zum
+ersten Präsidenten als Sitz gedient hat ..! Heute wirkt das alles wie
+ein schlichtvornehmer Gruß aus längst vergangenen Zeiten.
+
+Von der City Hall wanderte ich den Broadway, die einzigartige
+asphaltierte Wolkenkratzerschlucht, zu Fuß weiter hinunter bis
+zur Südspitze der Insel Manhattan, also an den südlichsten
+weitvorgeschobensten Punkt der Stadt, bis zur sog. „+Battery+“. Mich
+zog es zum geliebten Meer hin. Ich mußte einmal wieder Seeluft in
+die Nase ziehen. Dabei kam ich an der alten und ehrwürdigen Trinity
+Church vorüber, die auf ihrem alten Kirchhof mitten zwischen den
+höchsten Wolkenkratzern steht und zwischen ihnen trotz ihres über 80
+Meter hohen Turmes heute völlig verschwindet! Ein höchst instruktives
+Bild der Stadtentwicklung. ~Trinity church~ stammt mit ihrer Parochie
+noch aus der holländischen Zeit der Stadt vor über zweihundert
+Jahren. Die erste Kirche der zweitältesten und reichsten Gemeinde
+der Stadt wurde hier schon 1697 errichtet! Sie ist also „~old, old,
+very old~“! Einst gehörte ihr fast das gesamte Areal des umliegenden
+Hauptgeschäftsviertels! Welche unausdenkbaren Werte! Auf dem Kirchhof
+-- merkwürdigerweise genau gegenüber dem Eingang zu Wallstreet, als
+wollte er symbolisch andeuten, daß auch alle Goldjagd zuletzt der Tod
+endet! -- sind noch Grabdenkmäler zu sehen, die bis ins 17. Jahrhundert
+zurückreichen! Das will in Amerika sehr viel besagen, denn dort ist
+schon sehr „alt“, was aus der Zeit Washingtons vor hundert Jahren
+stammt. Die Union hat ja kaum 1½ Jahrhundert Geschichte hinter sich,
+und jedes Jahr+zehnt+ drüben bedeutet bald soviel wie ein Jahr+hundert+
+in Europa, was die Schnelligkeit der durchlaufenen Entwicklungsstufen
+angeht.
+
+An der Battery -- der Name stammt noch von den ersten holländischen
+Befestigungswerken aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts -- und ihren
+„Batterien“ steht man sowohl auf einem historisch als auch geographisch
+einzigartigen Grunde. Einst war hier an dieser Stelle in der Zeit der
+englischen Herrschaft vor den Freiheitskämpfen der Mittelpunkt des
+Neuyorker geschäftlichen Lebens! Heute liegt der weite Platz fast
+völlig still. Wie haben sich die Zeiten gewandelt! Anfang des 17.
+Jahrhunderts fuhr hier ein Henry Hudson, der Entdecker des Neuyorker
+Hafens, im Auftrag der holländischen Ostindienkompagnie auf seinem
+kleinen Boot dem „Halve Maan“ (Halbmond) unter holländischer Flagge
+den Hudson hinauf, um die sog. „nordwestliche Durchfahrt“ zu finden.
+Aber unverrichteter Sache mußte er umkehren. Drei Jahre später wurden
+hier auf dem Südende von Manhattan die ersten holländischen Blockhütten
+errichtet und Handel mit den damals noch umwohnenden Mohawkindianern
+begonnen. Die +ganze Manhattaninsel+, die heute Neuyork mit 2½
+Millionen Einwohnern trägt, wurde zu jener Zeit den Indianern für
+Glasperlen und Knöpfe, im Werte von etwa 60 Gulden (!!) abgekauft und
+danach noch gratis ein furchtbares Gemetzel unter ihnen veranstaltet!
+Die neue Siedlung erhielt alsdann zuerst den Namen „Neu-+Amsterdam+“.
+Noch am Ende des 30jährigen Krieges wohnten hier nicht mehr als 100
+Weiße! Erst 1667 wurde die Halbinsel von den Holländern an England
+abgetreten und erhielt jetzt den Namen +Neuyork+. Am 9. Juli 1776 wurde
+wiederum die Herrschaft Englands abgeschüttelt und als Zeichen dafür
+die Reiterstatue Königs Georgs VII. von England von den „Söhnen der
+Freiheit“ in Neuyork niedergerissen. Am 25. November 1783 mußten die
+Engländer endgültig Neuyork verlassen. Der erste amerikanische Kongreß
+trat in der Stadt zusammen und wählte General Washington zu seinem
+Präsidenten. An der Battery steht noch heute ein hoher Flaggenmast
+an der Stelle, da die Engländer vor ihrem Abzug zum letztenmal ihre
+Flagge hißten. Den Fahnenmast schmierten sie dabei so ein, daß es den
+„Söhnen der Freiheit“ nicht leicht werden sollte, sie herunterzuholen,
+was auch nur mit sehr großer Mühe gelang. Und so wird heute noch immer
+zur Erinnerung daran am 25. November hier feierlich das Sternenbanner
+gehißt. So hat auch die Neue Welt ihre Geschichte! Nur wissen wir meist
+sehr wenig von ihr.
+
+Noch großartiger als die eigentümlichen geschichtlichen Erinnerungen
+an dieser Stelle ist von hier der Blick über die gesamte ~upper bay~.
+Hoch reckt draußen die Freiheitsstatue im Hafen ihre Fackel empor,
+einer Welt entgegen. ~Ferry-boats~ eilen heulend draußen hin und her
+und speien alle Augenblicke Hunderte von Menschen samt Wagen und
+Autos auf einmal an Land oder verschlucken sie wie nichts in ihren
+doppelstockwerkigen, gewaltigen Leib. Hinter der Freiheitsstatue,
+die übrigens etwas an die Figur der Germania auf dem Niederwald oder
+die Bavaria in München erinnert, dehnen sich in der Ferne die grünen
+villenübersäten Hügelreihen von Staten Island, und weiter hinaus bis an
+den Horizont glitzert der offene weite Atlantische Ozean ...
+
+Ich begab mich nach diesem wohltuenden und wunderbar erhebenden Blick
+auf das Wasser und die ~upper bay~ weiter in das Gewühl der Stadt
+zurück. Geschäftshaus an Geschäftshaus, Bank an Bank, Wolkenkratzer
+an Wolkenkratzer! Rasselnd sausten die Hochbahnen ihre hochgelegenen
+Schienenwege entlang. Lustig flatterten aus ihren Fenstern die
+gelesenen Zeitungen der Fahrgäste auf die Straße hernieder, die viele
+einfach aus dem Straßenbahnfenster werfen! Die amerikanischen Straßen
+sind überhaupt im allgemeinen schmutziger und ungepflegter als bei
+uns. Papierabfälle liegen überall umher. Aber schon durcheilten neue
+Zeitungsboys, die neuesten Ereignisse laut ausschreiend, mit neuen
+„~papers~“, die die Hauptereignisse mit wahren Riesenlettern an der
+Stirn tragen -- u. U. als wichtigstes auch den Sieg einer berühmten
+Fußballmannschaft samt ihren Bildnissen! -- durch die Straßen. Man
+abonniert die Zeitungen nicht, sondern kauft sie einzeln auf der
+Straße. Die Zeitung selbst erscheint dem ruhigen Europäer wie ein
+wildes und fast kindliches Durcheinander und buntes Allerlei einzelner
+außen- und innenpolitischer, sportlicher und privater Einzelnotizen
+in der marktschreieristischen Aufmachung und mit Augenblicksbildern
+übersät. Das Format ist riesengroß, großmäulig wie alles drüben,
+voller Interviews der Tagesgrößen auf allen Gebieten in direkter und
+persönlicher Rede und Gegenwart, alles auf den Augenblick und zu
+augenblicklichem starken Eindruck berechnet, denn binnen fünf Minuten
+wirbelt sie erledigt schon wieder aufs Straßenpflaster. Auch die
+Zeitung spiegelt die allgemeine Hast, Aufgeregtheit und Reklamesucht
+des amerikanischen Lebens. Reklame und wieder Reklame, wohin man
+sieht: Auf allen Dächern blitzt es abends in unerhörter Lichtfülle und
+Buntheit auf und erlischt, in allen Bahnwagen und an allen Haltestellen
+schreit dich dasselbe Ding, Fleischextrakt oder Mundwasser oder Keks
+tausendfach an, so daß zuweilen kaum der Stationsname für den Fremden
+noch zu entdecken ist. An jedem freien Flecke einer großen Hauswand
+steht es wieder in Riesenlettern, was du kaufen, essen, sehen, wie du
+kochen, schlafen, reisen sollst.
+
+
+Lichtreklame[6].
+
+ Hört!
+ +Ich bin Amerika.+
+ Ich komme durch die Nacht.
+ Ich brenne und jage die Dunkelheit fort.
+ Elektrizität bin ich,
+ Wie Blitze die Himmel,
+ Setz ich die Straßen in Feuer.
+ Ob ihr wollt oder nicht,
+ Ihr müßt mich sehn. --
+ Volk kommt in Scharen zu mir,
+ Reichste und Ärmste -- fröhliche Verbrüderung.
+ Um mich stößt sich die Menge,
+ +Ich bin Broadway+.
+ Ob ihr es braucht oder nicht,
+ Ihr müßt von mir kaufen.
+ Ich verkaufe meinem Lande alle Produkte,
+ Vielformige, zahlreiche, fein erfundene Dinge;
+ Aus meiner Erde, meinen Gebirgen,
+ Aus meinen Seen, meinen Flüssen,
+ Von meinen Sternen, meinen Himmeln.
+ Mein Nachbar dort verkauft dasselbe,
+ Das Beste auf dem Globus -- nach meinem.
+ Rivalen sind wir derselben Ader
+ Pulsenden Lebens.
+ Geboren bin ich in Amerika --
+ Gemacht ward ich in Amerika --
+ Und werfe mich in die Schutthaufen Amerikas
+ Platz zu machen einem größern Amerikaner.
+ Prahle ich?
+ Sensitiver, kultivierter, höflicher Fremder,
+ Warum sollte ich nicht? --
+ Ich bin das Ich der „Neuen Welt“,
+ Afrika -- Asien -- Europa --
+ Die Alte Welt ist tot, ich bin die Neue!
+ Hört, hört,
+ Ich komme durchs Dunkel --
+ Zweifelnder Fremder, horch meiner Prahlerei --
+ Gestern ist schon Geschichte --
+ Eine neue Seite schlagt auf:
+ Morgen sieht mich Europa.
+
+ Alfred Kreymborg.
+
+Auf den Straßen überfällt einen die Menge der Obstverkäufer, der
+Jungen, die dir, ob man will oder nicht, die Schuhe putzen und dir
+dazu einfach den Fuß festhalten! Jedermann läßt sich die Schuhe stets
+auf der Straße oder in einem Laden putzen, wie man bei uns etwa täglich
+rasieren geht. Billig ißt man in den „~lunchrooms~“ (Frühstücksräumen)
+und „~dairies~“ (Milchwirtschaften), in den Restaurants zum
+Selbstbedienen mit und ohne Musik u. dgl. In „Wallstreet“[7] war um
+zwölf Uhr vor der Baumwollbörse eine riesige Menschenmenge angestaut.
+In den offenen Fenstern der großen Firmen saßen die Handelsvertreter
+und tauschten heftig gestikulierend die neuen Kurse aus. Börse wird
+hier zum Teil noch offen auf der Straße gemacht!
+
+Als ich mich etwas mehr auf die Ostseite der Stadt begab, kam ich
+in die ärmeren Viertel, wo mehr Italiener als in Mailand, mehr
+ostgalizische Juden als in Lemberg und sogar haufenweise Chinesen
+wohnen. Da hausen zuweilen zwei kinderreiche Familien in einem einzigen
+Zimmer! Auf den eisernen Balkons hängt die Wäsche, liegen die roten,
+unüberzogenen Betten aus. Hier wohnen die Armen, die in der schwülen
+Sommerhitze es vorziehen, lieber am Strand oder in Parks zu nächtigen
+als in jenen menschenüberfüllten Straßen, von denen die eine genau
+aussieht wie die andere. Dazwischen finden sich auch noch unbebaute
+Plätze, wo gehämmert und geklopft wird, wo auf mächtigen Gerüsten
+sich gewaltige Krane drehen. Aber wie Felsen in der Brandung stehen
+mitten im größten Gewühl und Verkehr die stattlichen „~police-men~“
+meist irischer Herkunft, mit einem tropenartigen Helm, den starken,
+weißbehandschuhten Händen und dem praktischen Gummiknüppel. Sonst
+Häuser an Häuser, Blocks an Blocks, Straße an Straße, ein höllisches
+Straßen- und Menschenschachbrett ... Mir brummte der Schädel und
+brannten die Füße, als ich nach dem ersten erlebnisreichen Tage
+heimkam, und noch abends, als ich Schlaf suchte, flimmerten mir
+Menschen und Häuser vor der erregten Phantasie .....
+
+Am zweiten Tag regnete es und zwang mich wohltätig, daheimzubleiben.
+Am dritten begann ich meine Stadtwanderungen aufs neue. Der Subway
+brachte mich zunächst zum Washingtonsquare (Washingtonplatz). Der
+in römischem Stil erbaute Washingtonbogen auf dem Platz trägt die
+Inschrift: „~Let us raise a standard to which the wise and honest
+man can repair. The event is in the hand of God~“. Praktisch und
+fromm zugleich! Die englisch-amerikanische Frömmigkeit versteckt sich
+nicht und ist immer aufs praktische Handeln gerichtet, daher weniger
+spekulativ wie die deutsche. Ein rechtes Leben steht dem Amerikaner
+über dem frömmsten Glauben. An dem Bogen konstatierte ich auch, wie
+doch die klassischen Bauformen bis nach Amerika gedrungen sind! Gerade
+die Zeit der Gründung und des ersten Ausbaus der amerikanischen Union
+war die Hochblüte klassizistischer Baukunst. Oder zog es auch die junge
+Republik bewußt zu den Formen des Vorbildes aller Republiken, dem alten
+Rom? So ist auch General Grants imposantes Totenmal im „Riverside-Park“
+am Hudson eine getreue Nachbildung der römischen Kaisergräber, erinnert
+an die Engelsburg und die Rotunde der Caecilia Metella in Rom an der
+Appischen Straße ...
+
+Dann fuhr ich -- einer Sehnsucht seit Tagen -- zum Metropolitan
+Tower hinauf, um einen vollen Überblick über die Stadt in Ruhe von
+oben zu genießen. Es war ein blendend schöner Nachmittag, als ich
+da oben als im Augenblick einziger Besuch eine unvergeßliche Stunde
+erlebte. Wohl in zwei Minuten war ich bis zum Aussichtsbalkon im 45.
+Stockwerk(!) emporgefahren und trat nun, etwa 200 Meter hoch über
+dem Straßenniveau, hinaus auf den Balkon dicht unter den Uhrglocken
+und der vergoldeten Kuppel. Man stand damit so hoch, daß man sich
+dem Verkehr der Riesenstadt vollständig entrückt fühlte, als ginge
+einen das da unten gar nichts mehr an. Auch recht hohe Häuser
+wie das bekannte spitzwinklige, einem „Bügeleisen“ gleichsehende
+„~flat-iron-building~“ erschienen von hier oben nur klein.
+
+Ein ungeheures Häusermeer, bald hoch, bald niedriger, ohne Stil und
+Plan, erstreckte sich gen Nord und Süd. Im Süden stieg die Hauptmasse
+der Wolkenkratzer drohend und rauchend auf, mit dem Singergebäude
+ungefähr in seiner Mitte wie einem Festungsturm. Dahinter glitzerte
+die ~upper bay~ mit der Freiheitsstatue. Drüben im Osten reckten sich
+die gewaltigen Brücken über den Meeresarm des „East River“ nach der
+dunstigen Millionenstadt Brooklyn hinüber. Das offene Meer sah man
+dort nicht deutlich, aber hell beleuchtet lag Long Island mit seinen
+einladenden Siedlungen da. Im Norden verschwamm das Stadtbild am Ende
+des Zentralparks in der Gegend der St. Johns Kathedrale. Im Westen
+säumte der breite Hudson, von vielen kleinen Dampfern belebt, das
+grandiose Stadtbild. Aus seinen vielen Piers an seinen Ufern schauten
+die Schornsteine der Ozeandampfer aller Herren Länder hervor. Ganz
+drüben lag in Rauch und Dunst gehüllt Hoboken, weiter nördlich grün und
+felsig die sog. „Palisaden“ am Hudsonfluß.
+
+Aus der Vogelschau dehnte sich die Sechsmillionenstadt so tief zu
+meinen Füßen, als wenn Ameisen in ihr umherliefen. Kaum drang ein
+deutlicher Laut herauf, sondern nur ein allgemeines Summen, Surren,
+Klingeln, Hämmern, Pochen und Tuten. Welch ein Millionengetriebe da
+unten! Was haben doch Menschen in hundert Jahren da unten alles gebaut!
+Wie alle diese Menschenhirne da unten täglich sinnen, planen, hoffen,
+sorgen, grübeln, arbeiten. Für was? Um das bißchen täglich Brot auf
+Erden! Nirgends regiert so das Geld und die Arbeitshetze die Welt wie
+da unten! Ein paar hundert Menschen werden da unten täglich geboren
+oder sterben. Wer weiß es oder kümmert sich viel darum? In gut einem
+halben Jahrhundert ist von all den Millionen Menschenameisen da unten,
+die jetzt um Verdienst täglich rennen, kaum einer noch da! Aber das
+gefräßige Ungeheuer selbst, die Millionenstadt, wird weiter rauchen und
+fauchen und schaffen, sich recken und dehnen ruhelos Tag und Nacht!
+
+Welch eine Unsumme menschlicher Arbeitskraft, menschlichen
+Arbeitswillens und -fleißes ist da unten aufgehäuft, aber auch
+ebenso sehr Schmutz, Not, Krankheit, Schande und zerbrochenes Glück
+...! Wer das mit einem Male alles sehen könnte! Ob er es ertrüge?
+Und doch hat alles seinen Gang, seinen Weg und seine Ordnung. Jeder
+weiß, wohin er gehört und wo sein Platz ist, was er will und was er
+zu erreichen gedenkt! Man möchte sich hier oben angesichts dieses
+Menschenmillionenhaufens die Posaune eines Erzengels wünschen,
+um einmal in das Geldbabel die Botschaft vom Wert der geistigen
+Menschenseele hineinzurufen. Wie viele würden sie hören und verstehen?
+... Können Menschen in solcher Atmosphäre wie da unten je eine andere
+Lebensanschauung gewinnen als die, daß Geld und Verdienen einziges Ziel
+und Bestimmung unseres Lebens ist?
+
+Ich habe auf manchem hohen Turm in Deutschland gestanden und bin auf
+manchen hohen Berg gestiegen, aber selten hat mich die Frage nach dem
+Sinne des großstädtischen Menschenlebens der Gegenwart so gepackt
+wie in der einsamen Stunde an jenem sonnigen Septembernachmittag
+allein zweihundert Meter über Neuyork, der Metropole des gesamten
+amerikanischen Kontinentes.
+
+Dann trieb es mich aus dieser grotesken Einsamkeit mitten unter und
+über Millionen Menschen über der Stadt in eine ganz andere idyllische
+Einsamkeit mitten +in+ ihr. Im Zentrum Neuyorks liegt, ähnlich wie in
+der Sechsmillionenstadt London der Hydepark, der lang hingestreckte
+„Zentralpark“, eine prachtvolle, stundenweit ausgedehnte riesige
+grüne Oase, ein Eldorado von alten Bäumen, feinen Spazierwegen,
+wohlgepflegten Rasenflächen, gleichsam mitten aus dem tosenden Verkehr
+herausgeschnitten, von entzückenden und erquickenden kleinen Teichen
+und ihren leise hingleitenden Booten unterbrochen. Wir kennen solche
+ausgesucht schönen Parke auch im Berliner Tiergarten, dem Dresdner
+Großen Garten und etwa auch dem Bremer Bürgerpark, aber mitten in
+Neuyork empfindet man den Zentralpark doppelt und dreifach wie ein
+Paradies, weil man plötzlich aus dem Weltverkehr ruhig auf einer
+stillen Bank sitzend die Eindrücke sammeln und seine Nerven erholen
+kann. Hätten mich nicht die einfachen Inschriften auf englisch,
+deutsch, italienisch und hebräisch (!)[8] daran erinnert, ich hätte
+unter den alten Eichen vergessen können, in Neuyork zu sein.
+
+Auch die geistigen Schätze der Weltstadt ließ ich mir nicht
+entgehen. Hat zwar die Union bis heute noch keine eigentlich
+bodenständige geistige Kultur hervorgebracht, sondern noch immer
+im wesentlichen von den geistigen Brocken gelebt, die von Europas
+überreichem Tisch fielen, besonders in Malerei und Musik, so ist
+doch das Amerikanisch-Geschichtliche und -Geographische trefflich
+zusammengefaßt im „~Museum of natural history~“, und Teile der Schätze
+Europas, bald als Original, bald als Nachbildungen, finden sich neben
+einzelnem amerikanischen Gut im „~Museum of art~“. In dem Mittelraum
+des letzteren standen die Hauptwerke aus Italien und Nürnberg in
+Nachbildungen eigenartig durcheinander: Notre Dame, Parthenon, das
+Sebaldusgrab, der Gattamelata, alles einträchtig nebeneinander.
+Im Obergeschoß fesselten mich neuere amerikanische Gemälde. Heiße
+Sehnsucht erweckte in mir, wie ich mich noch deutlich entsinne, ein
+großes Gemälde aus dem Felsengebirge mit Schneegipfeln bis in die
+Wolken und im Tal Indianerzelte! Wer dahin könnte! Und ich sollte
+noch hingelangen! Imponierend fand ich auch das Kolossalgemälde
+von Washingtons entscheidendem Übergang über den Delaware, dessen
+Darstellung ein wenig an den Blüchers bei Kaub erinnert. Ebenso
+fesselte mich wegen seines historischen Inhalts das Bild: Kolumbus’
+Landung; Schwert und Kreuz zum Himmel erhoben setzen Kolumbus und
+seine Mannschaft ihren Fuß auf das Land des Urwaldes und der Indianer.
+Aber auch gute echte Niederländer waren da, und wie manche Schätze
+sind erst seit der Inflationszeit hinübergewandert! Dazu war die ganze
+griechische Kunst im Abguß vorhanden, allerlei feine Vasen und Steine,
+Musikinstrumente, Gold- und Silberarbeiten u. dgl.
+
+In dem fast noch interessanteren, weit originelleren „~Museum of
+natural history~“ war die gesamte amerikanische Baum- und Tierwelt
+zu schauen samt der Eskimo- und Indianerkultur. Und das alles
+ausgezeichnet praktisch und höchst geschmackvoll und anziehend
+zusammengestellt und angeordnet und durch ausführliche Karten und
+Beschreibungen erklärt. Da sah man gewaltige Mammutgerippe, Wale,
+Eisbären und ausgestopfte Elche, springende Delphine in den Wellen,
+Eskimos und Indianer am Herde im Zelte, bei ihrer Arbeit, samt ihren
+Waffen und Booten. Frappiert hat mich dabei manche Indianermaske mit
+ihrer scharfen Nase und dem charaktervoll geschnittenen Kinn, die
+mich stark an den echt amerikanischen, früher beschriebenen Typ im
+Straßenbild erinnerten.
+
+Welche Geschichte hat sich doch auf diesem Kontinent abgespielt! Von
+den Sauriern und den 30 Meter im Umfange messenden Urwaldriesen, durch
+die bequem ein Wagen hindurchfahren könnte und die sechs Männer nicht
+zu umspannen vermögen, bis zu Henry Fords Autos und den Subways in
+Neuyork! Welches Völkergemisch ist hier zusammengekommen und geht
+in der Riesenretorte des amerikanischen Bürgertums fast restlos
+auf: Holländer, Engländer, Deutsche, Franzosen, Iren, Schweden,
+Italiener, Polen, Juden, Armenier und nicht zuletzt die Neger. Seit
+zwei Jahrhunderten hat sich die abendländische Kultur hier Eingang
+verschafft, hat alles Quantitative maßlos gesteigert, und von der Art
+der Pioniere hat das Angesicht Amerikas das Kühne, Vorwärtsdrängende,
+Schaffensfrohe übernommen. Freilich, der rote Mann ist dabei fast
+ganz der Raublust und Profitgier, dem Betrug und dem Mordgeist
+der Waldläufer und Goldsucher zum Opfer gefallen, und was von ihm
+übrigblieb, ist der geistigen Überlegenheit der abendländischen
+Einwanderer vollständig erlegen, aber aus der Retorte der Völker,
+Rassen und Religionen ist hier -- mit Ausnahme der Neger -- doch ein
+neuer, eigenartig geschlossener Menschentypus emporgestiegen, der
+„Amerikaner“ .....
+
+Nach dem Besuche der Museen bin ich in den nächsten Tagen einmal aus
+der Stadt hinausgefahren, um Neuyork auch an seinen äußeren Punkten
+kennenzulernen. So ging und fuhr ich zunächst über die mehr als
+kilometerlange riesige Brooklynbrücke, die ein deutscher Ingenieur
+(John A. Roebling) erdacht hat[9] und die so hoch (etwa 40 Meter) den
+Meeresarm des East River überspannt, daß die höchsten Masten darunter
+hinwegfahren können. Dann ging es durch das etwas düstere, dunstige
+Brooklyn, das für sich allein über eine Million Menschen beherbergt.
+Einzigartig ist von der Brücke der Blick rückwärts auf das dampfende
+Wolkenkratzerviertel. Sonst ist Brooklyn und das anschließende
+Williamsburg mit seinem wimmelnden Menschen- und Geschäftsverkehr das
+getreue Abbild der größeren Mutter. Weiter hinaus geht es auch in
+stille Wohn- und Villenviertel über, bis man endlich auf langen Alleen
+zuletzt den tollen Vergnügungspark „+Coney Island+“ am Strande des
+Atlantischen Ozeans erreicht.
+
+Man denke sich alle Jahrmärkte, Juxplätze, Vogelwiesen, Oktoberfeste
+usw. bei uns auf +einem+ Haufen samt all ihren Achterbahnen, Kinos,
+Singspielhallen, Berg- und Rutschbahnen, Geheimkabinetten, Schaukeln
+und Karussells, kleinen Theatern, Musikkapellen, Drehorgeln und
+Varietés samt all der dazugehörigen, aber noch verzehnfachten
+ohrenbetäubenden Musik in allen Tonarten und das noch einmal vielfach
+vergrößert durcheinander, dazwischen aber auch noch allen Auswurf,
+Mob, Hefe, Faulenzer und Tage- und andere Diebe Neuyorks in einem
+Haufen zusammen -- dann hat man „Coney Island“, das Paradies unzähliger
+vergnügungslüsterner Neuyorker! Coney Island ekelte mich bald an; ich
+vermochte kaum noch eine halbe Stunde dort zu verweilen, dann zog es
+mich wieder an das geliebte rauschende Meer. Ein frischer Wind fegte
+über leicht schäumende Wellen, die weißkämmig zum Strande heranrollten.
+Einige Badeschönen, die hier in echt amerikanischer Prüderie in
+vollständigem Badekostüm, d. h. mit mehreren (!) Baderöcken, -blusen,
+-strümpfen, -schuhen und Badesonnenschirmen sich ergingen, störten
+freilich das Bild. Dort feiert der Abschaum des Unrats, hier der
+Gegenpol der prüden Unnatur seine Triumphe! Da lobe ich mir doch lieber
+unsere nordgermanischen Vettern und ihre unbekümmerte und unberührte
+und ungeschminkte volle Natürlichkeit.
+
+Auch dem Süden der Stadt stattete ich einen Ausflug ab. Für 5 Cent
+fährt man von der Battery mit dem Ferry in einer halben Stunde nach
+dem grünen „Staten Island“ hinüber und ist auch hier Neuyork auf eine
+Weile völlig entrückt. Dicht an der Freiheitsstatue fährt man vorbei,
+die immer aufs neue stolz und imponierend ihre Fackel hochschwingt.
+Mit Recht hat sie unser wackerer ~Z III~ bei seiner ruhmvollen
+Erstlingsfahrt gebührend gegrüßt und umflogen. Sie verkörpert weithin
+sichtbar alle amerikanischen Ideale und Aspirationen. Mit dem Sockel
+ist das Denkmal etwa 100 Meter hoch! Im Innern der bronzenen Figur
+führt eine Treppe bis in den Kopf wie bei der Bavaria in München.
+Aus ihren Augen kann man heraussehen. Bei Nacht ist die Fackel, die
+die Freiheitsfigur in der Hand hält, weithin strahlend elektrisch
+erleuchtet. Die Figur selbst hat einst dem sie schenkenden Frankreich
+eine Million Franks gekostet. Links liegen blieb Ellis Island, die
+Wehmutsinsel der Auswanderer. Rechts passierten wir eine Reihe
+englischer Schulschiffe, die gerade in der ~upper bay~ festgemacht
+hatten. Wie Möwen saßen die Seekadetten in ihren weißen Anzügen
+aufgereiht in den Raen der Masten und sahen nach Neuyork hinüber.
+Diesen Weg fuhr einst auch unser wackeres Handelsunterseeboot
+„Deutschland“ mit Kapitän König herein, dem die Engländer bei seiner
+kühnen Wiederausfahrt vergeblich auflauerten. Auf Staten Island
+angekommen stieg ich zur Anhöhe hinauf und genoß von dort oben wieder
+einen einzigartig bezaubernden Blick über Bucht, Hafen und Stadt ...
+
+Dann flog ich ein andermal über den Hudson westwärts aus. Ich hatte
+ja beim Abschied vom Dampfer dem munteren Badenser Fräulein, das zu
+seinem Onkel fahren und ihm die Wirtschaft führen wollte, versprochen,
+es einmal in Hoboken zu besuchen. Das Versprechen mußte ich dem
+lieben Geschöpfchen doch auch einlösen, das gewiß schon auf meine
+Ankunft sehnlichst wartete. Ich meldete mich wohlweislich nicht an.
+Vermutlich war dann der Onkel nicht zu Hause! Denn der interessierte
+mich weniger. So riskierte ich einen unerwarteten Besuch. Aber Strafe
+folgt der Missetat oft auf dem Fuße! Ich verfehlte zwar „sie“ nicht,
+aber gründlich zunächst die Palisade Avenue in Hoboken, wo sie wohnte.
+Als ich nämlich glücklich über dem Hudson drüben war, fuhr ich mit
+der „~car~“[10] fröhlich nördlich fast eine Stunde gen Englewood ins
+frische grüne Land hinaus statt südwärts nach Hoboken, bis ich auf
+einmal Verdacht schöpfte und mich erkundigte. Da mußte ich zu meinem
+Schrecken hören, daß ich von meinem Ziel etwa zwölf Meilen entfernt
+war, aber derselben Avenue in Englewood recht nahe. So mußte ich den
+ganzen langen Weg wieder rückwärts nach Hoboken reisen, und kostbare
+Stunden des Nachmittags waren verstrichen. Aber es schadete nichts;
+ich hatte eine schöne Fahrt gemacht, an reizenden Landsitzen und
+leuchtenden Sommervillen hatte ich ein Stück „~country~“ gesehen. Wenn
+„sie“ nur da war! Und sie war es!
+
+Ich traf sie sehr hausfraulich in der Küche. Allein! Ihr Onkel hatte
+ihr zwar streng verboten, einen Fremden hereinzulassen. War ich ein
+Fremder? Sie bereitete dem gestrengen Herrn Onkel das Dinner, wenn er
+von der City mit dem „~ferry~“ heimkäme. Das mußte allerdings bald
+sein. Aber er kam glücklicherweise noch nicht so bald. Arglos und
+fröhlich, wie es ihre Art war, zeigte sie mir unterdessen die ganze
+Villa des Onkels von außen und von innen, von oben und von unten,
+während ich stets ein bißchen ängstlich lauschte, ob man schon die
+Tritte des Herrn Onkels höre. Als wir nach der Hausbesichtigung wieder
+in der Küche angelangt waren -- schon damit auch der Braten ja nicht
+anbrenne -- und noch eine gute Weile geplaudert hatten, hielt ich
+es für diesmal geraten, mich zu entfernen. Wer konnte wissen, wann
+der Herr Onkel erschien und was er sagen würde, und würde nicht auch
++meine+ Tante zürnen, wenn +ich+ zu spät zum Essen zu ihr kam? Und mit
+ihr durfte ich es doch, solange ich in Neuyork weilte, keinesfalls
+verderben. Als ich schied, brachte sie mich bis ans Gartenpförtchen.
+Wollte sie sehen, ob der Onkel schon kam? Oder ... Das gute Geschöpf
+hatte von Neuyork noch gar nichts zu sehen bekommen, und wie hatte sie
+aufhorchend meinen Schilderungen und Erlebnissen gelauscht! Aber der
+Onkel hatte gesagt, Neuyork wäre nichts für junge Mädchen! Sie sah mir
+lange nach. Ich glaube gar, ein kleines Tränchen hing in ihrem Auge
+... Sie sollte sich ja in Amerika gut verheiraten, hatte ihre Mutter
+gesagt. Gewiß hat sie einen viel besseren als mich bekommen! --
+
+Auch den Norden der Stadt durchwanderte ich in der Richtung nach Bronx,
+an den Harlem River und auf seine Höhen. Der Harlem River verbindet
+den East River mit dem Hudson, so daß strenggenommen der Hauptteil
+Neuyorks auf einer langgestreckten Insel liegt. Ganz im Norden fand ich
+noch Reste ursprünglichen Waldgebietes mit einer geradezu subtropisch
+üppigen Vegetation. Man darf ja nicht übersehen, daß Neuyork auf der
+geographischen Breite von Neapel (!) liegt, wenn auch sein Klima
+im ganzen kühler ist als das Süditaliens. Am Fort George, das ich
+nach mehrstündiger Fußwanderung erreichte, war ich erstaunt über die
+sonnigen dichtbewachsenen grünen Hügelreihen, die trotz des zu Ende
+gehenden September noch viel üppigeres und frischeres Laub zeigten
+als bei uns in der gleichen Jahreszeit. Von den „Washington Heights“
+hatte man einen geradezu herrlichen Blick auf die „Palisaden“, d. h.
+die felsigen Ufer des waldumsäumten breiten Hudsonflusses, der an
+manchen Stellen mit unserem Rhein an Schönheit wohl wetteifern kann.
+Freilich fehlen ihm die malerischen Burgruinen und des Rheins ganze
+romantisch-geschichtliche Vergangenheit.
+
+[Illustration: ~NEW YORK~
+
+~Das „Palisaden“-Ufer am Hudsonfluß~]
+
+[Illustration: ~NEW YORK~
+
+~City hall (Rathaus)~]
+
+Neben der Natur zog mich auch immer der Stadt volles Leben an, so auch
+die Theater! Ich sah den „Parsifal“ im ~Metropolitan opera house~
+deutsch. Ich saß in Kinos und kleinen Theatern der Italiener und Juden.
+Höchst volkstümlich und derb! Wieviel wäre zu erzählen vom Sport,
+von städtischer Verwaltung und Verfassung, vom Militär, zu dessen
+Eintritt auf vielen verlockenden Plakaten ständig geworben wird, von
+der Polizei, von der berühmten Neuyorker Feuerwehr, von den Schulen,
+den glänzend ausgestatteten, öffentlichen Bibliotheken und den 1100
+(!) Kirchen der verschiedensten Denominationen in der Riesenstadt, den
+Hospitälern und Friedhöfen. Aber ich bin kein wandelnder Reiseführer.
+So habe ich auch keineswegs alle die einzelnen großen Banken und
+Börsen, alle die staatlichen Ämter, die großen Plätze und Denkmäler
+aufgesucht, noch will ich sie alle beschreiben. Ich habe nicht die
+Absicht, mit meinem persönlichen Reisetagebuch Bädeker, Führer und
+Karten überflüssig zu machen. Einiges davon hole ich bei anderer
+Gelegenheit nach.
+
+Aber ehe ich von Neuyork weiterreiste, erlebte ich noch den Anfang
+einer phänomenalen Jahrhundertfeier in Erinnerung an Hudsons und
+Fultons erste Fahrten. Alle Bekannten und Verwandten in Neuyork hatten
+mich schon immer beschworen, die müsse ich unbedingt noch mitmachen,
+sie sei das „Ereignis“ dieses Jahres. Also war ich aufs äußerste
+gespannt und lief sogar Gefahr, das andere „phänomenale Ereignis“
+in Boston zu versäumen, das ich auch unbedingt mitmachen mußte,
+nämlich die feierliche Einführung des auf Lebenszeit neugewählten
+Universitätspräsidenten von Harvard, eine Feier, der man in manchen
+Kreisen mehr Bedeutung beimaß als dem Einsatz des Unionspräsidenten in
+Washington! So war ich auch darauf aufs äußerste gespannt, denn mein
+akademisches Fühlen war trotz meiner fortgeschrittenen Semester noch
+sehr lebendig.
+
+Am letzten Sonnabend des September begannen die
+Jahrhundertfestlichkeiten und dauerten vierzehn Tage bis in den
+Oktober. Alles zur Erinnerung der beiden großen Seehelden, des Henrik
+Hudson, der vor 300 Jahren den Hudson auf seinem „~Half-moon~“[11]
+entdeckte, und des Robert Fulton, der ihn mit dem ersten +Dampfschiff+
+„Clermont“ befuhr. Vorgesehen waren Gottesdienste -- die in Amerika
+bei öffentlichen Feiern nie fehlen! --, Flottenparaden aller Länder,
+Riesenfeuerwerk, fünf Denkmalsenthüllungen, Opernvorstellungen,
+Parkeröffnungen, große Sportveranstaltungen, glänzende Bankette,
+Truppenparaden, Kinderfeste, wetturnerische Vorführungen, „Karnival“
+genannt (!), Massenausflüge den Hudson hinauf u. dgl. Also ein
+Heidenrummel!
+
+Tatsächlich strömte schon am ersten Festsonntag eine wahrhaft
+ungeheure, nach Hunderttausenden zählende Menschenmenge auf dem
+Riverside-Drive am Hudsonufer zusammen. Herrlicher blendender
+Sonnenschein lag auf Stadt und Strom. Tausende von Ansichtskarten-,
+Album-, Bild- und Fähnchenhändlern bearbeiteten das Publikum ständig
+mit allen Mitteln ihrer Rhetorik. Nur +zwei+ Worte schwirrten noch
+in tausendfacher Variation an allen Orten, in allen Tonlagen und
+Stimmungen, anpreisend, schreiend, rufend, schnarrend ans Ohr bei drei-
+bis vierstündigem Stehen auf einem Fleck, zwischen Menschenmauern
+eingekeilt: „Hudson-Fulton, Hudson-Fulton, Hudson-Fulton“!
+
+Alle Nationen der Welt hatten Kriegsschiffe zur Feier abgeordnet.
+Auf dem Hudson lagen sie in langer Reihe friedlich nebeneinander,
+die braunschwarzen Dreadnoughts und Kreuzer Englands, Frankreichs,
+Deutschlands, Italiens, Japans usw. Wie Lämmer bei Löwen und
+Tigern. Was sind doch alle internationalen Höflichkeitsbesuche
+und Vereinigungen anders als Schein und Heuchelei? Zwischen den
+großen schossen kleine Boote hin und her, die Ferries heulten und
+tuteten unablässig. Von halb elf Uhr ab -- um elf Uhr sollten die
+Feierlichkeiten beginnen -- hatte ich wartend und völlig eingekeilt
+mit hungrigem Magen bis halb vier Uhr nachmittags auf demselben Fleck
+gestanden, ohne mich auch nur einen Fußbreit vor-, rück- oder seitwärts
+bewegen zu können. Endlich um drei Uhr nachmittags begann der Auftakt
+der Flottenparade. Ich dachte, nun würde sich wohl die ganze stolze
+internationale Kriegsflotte rauchend und fauchend in Bewegung setzen
+und allerlei erstaunliche Manöverbewegungen auf dem Hudson ausführen,
+aber sie blieben alle unbeweglich und wie angenagelt auf ihrem Flecke
+liegen und fingen nur alle miteinander an, greulich zu schießen und zu
+donnern, daß man jedesmal nur so zusammenfuhr, wenn ein Feuerstrom, den
+man zuerst sah, aus ihren Mündungen gerade auf uns herüber zuschoß ...
+Dann hallte der Donner lange nach. Schließlich erschien aus Rauch und
+ohrenbetäubendem Gedröhn eine nicht sehr imponierende Festflottille
+von kleineren und einigen größeren Booten, die die neuerbauten
+Nachahmungstypen des alten Hudsonseglers „Halfmoon“ mit seinen hohen
+Schnäbeln und das noch kleinere Fultondampfschiff „Clermont“ mit
+seinen hohen Schaufelrädern und seiner wie ein Gänsehals hohen und
+unförmigen Esse feierlich geleiteten. Die Hunderttausende am Ufer
+brachen in einen nicht endenwollenden Jubel aus, als die rührend
+kleinen und reichlich unbeholfenen Schiffchen an den dröhnenden und
+feuerspeienden Riesen der fremden Kriegsschiffe vorüberglitten ... In
+der Tat, in einem Jahrhundert welche Entwicklung seit Fulton bis zu
+den modernen Ozeandampfern von 55000 Tonnen und gar bis zum ~Z. R.
+III~ und seinem Siegesflug! Und seit Hudson, der mit den Indianern
+über den Kauf Manhattans verhandelte, welche Geschichte in diesem
+Lande! Als die Schiffchen vorübergeglitten waren, verlief sich die
+nach Hunderttausenden zählende Menge, denn wohl nicht nur mein Magen
+und meine Füße revoltierten energisch. Man war richtig steckesteif
+geworden. Gehen war ein Genuß.
+
+Abends wurde dann noch ein riesiges Feuerwerk abgebrannt. Von
+den Palisaden herüber warfen mächtige Scheinwerfer ihre riesigen
+Lichtstrahlen über die Stadt. Und nach einem Kanonenschuß erglühten
+die Konturen sämtlicher Kriegsschiffe auf dem Hudson bis an die Masten
+und Schornsteine mit Tausenden von elektrischen Birnen -- wirklich ein
+märchenhafter Anblick. Aber das Abendrot des nächsten Sonnenunterganges
+dünkte mich doch noch großartiger ... Das war mein Abschied von der
+Riesenweltstadt .....
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 3: Transportgesellschaft.]
+
+[Footnote 4: Aus: Die Neue Welt, eine Anthologie jüngster
+amerikanischer Lyrik, herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag,
+Berlin. 1921. S. 75.]
+
+[Footnote 5: Untergrundbahn.]
+
+[Footnote 6: Aus: Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer
+Lyrik. Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921,
+S. 30.]
+
+[Footnote 7: Sie hat wohl ihren Namen daher, daß einst nur bis dahin
+von der Battery sich die Stadt erstreckte, ¹⁄₁₀₀ ihrer heutigen Länge!]
+
+[Footnote 8: Neuyork zählt ja auch mehrere Hunderttausende Juden!]
+
+[Footnote 9: Erbaut 1870-83.]
+
+[Footnote 10: Straßenbahn.]
+
+[Footnote 11: Halbmond.]
+
+
+
+
+Boston.
+
+
+Am nächsten Morgen schon führte mich vom „Grand-Zentral-Depot“ der
+Expreß nach Nordosten. Aber vorher gab es erst noch einen kleinen
+Anstand, denn das Reisen, erst recht in fremden Ländern, hat nun
+einmal seine Tücken. Obwohl 14 Tage seit meiner Landung in Hoboken
+vergangen waren, hatte die Transfer-Company, der ich vertrauensvoll
+meinen Gepäckschein übergeben hatte, mir noch immer nicht meinen großen
+grünen Koffer, der doch mit soviel gelehrten Büchern vollgeladen war
+und in den Gepäckhallen der Hapag in Hamburg mich so kameradschaftlich
+getröstet hatte, von Hoboken herübergebracht. So blieb mir nichts
+anderes übrig, als das schwer fortbewegliche und vollgefüllte und immer
+mit Zerfall und schnellem Abgang drohende Ungetüm selbst zu holen.
+Vielleicht wartete es auf diesen Freundschaftsdienst. Was das nach
+Gewicht und bei entsprechender Sommerhitze aber für mich bedeutete,
+mag sich der Leser selbst etwas ausmalen. Aber „selbst ist der Mann!“
+ist ja gerade echt amerikanischer Grundsatz. Danach handelte ich
+entschlossen ...
+
+Um acht Uhr früh ging mein Zug. In äußerst praktischer Weise
+bevorzugen nämlich die amerikanischen Bahnen fast stets glatte, runde
+Abgangszeiten, also 8, 8³⁰, 9, 9¹⁵ Uhr usw. Krumme und ungerade
+Minutenzahlen trifft man selten. Auf der Bahn machte ich wieder
+allerlei neue Beobachtungen. Die Bahnhöfe sind praktisch, aber nicht
+immer groß. Eigentliche große Warteräume mit Restaurationsbetrieb
+existieren fast gar nicht, sondern nur offene Wartehallen mit einem
+besonders abgeschlossenen „~ladies-~“ und „~smoking-room~“, der recht
+primitiv sein kann. Die Bahnsteige sind schmal, die Fahrkarten oft
+winzig, meist ohne Angabe des Fahrpreises! Der Einfachheit halber
+steckt man die Karte in das Hutband an den Hut, von wo sie der den
+Zug kontrollierende Schaffner abnimmt und während der Fahrt mehrfach
+kupiert. Bahnsteigsperre gibt es nicht. Der Bahnkilometer ist drüben
+wie vieles teurer als bei uns, er kostet etwa 7½ Pfennig! Fast nach
+jedem größeren Haltepunkte geht der Schaffner aufs neue durch die
+~D~-Wagen und knipst +sämtliche+ Fahrkarten, so daß sie zuletzt mehr
+Löcher als Papier haben!
+
+Demokratisch wie die Straßenbahn ist auch die Eisenbahn; sie kennt nur
++eine+ (gepolsterte) Klasse in ~D~-Zugform, aber ohne Abteileinteilung.
+Der Ausstattung nach ist sie etwa wie bei uns II. Klasse, aber oft
+ebenso schmutzig wie es die Bahn noch bis vor kurzem in Italien war.
+Papier, Obstschalen, Zeitungen wird alles einfach wie aus der Hochbahn
+an den Boden geworfen! Die Bahnen sind sämtlich Privatbesitz und
+machen sich gegenseitig tüchtig Konkurrenz. Oft fahren zwei Linien,
+die von verschiedenen Gesellschaften gebaut sind und betrieben werden,
+dicht nebeneinander vom selben Ort zum selben Ziel! Sie suchen sich
+gegenseitig durch größere oder mindere Schnelligkeit und Zugsicherheit
+(aber ohne kostspielige Bahnwärter und Schranken!), Ausstattung
+der Wagen u. ä. den Rang abzulaufen. Der sich entwickelnde Ruß und
+die umherfliegende Asche der Lokomotiven ist höchst unangenehm. Die
+Wagenfenster sind daher kaum zu öffnen. An Wegkreuzungen ertönen
+Signale der Maschine. Die Landstraße hat nur ein Warnungsschild: „~Look
+out for the engine!~“[12] Jeder hat also auf sich selbst aufzupassen,
+daß er nicht überfahren wird; niemand wird sein Leben garantiert. Die
+Schnelligkeit ist im allgemeinen gut, die Wagen sind sehr fest aus
+Eisen gebaut und auf Zusammenstöße eingerichtet, aber der Unglücksfälle
+sind es wegen mangelnder Aufsicht und beschränktem Personal auch
+dreimal soviele als bei uns! Was macht das? Leben gilt nichts. Ohne
+Umstand fährt der Zug ein und aus nach dem Rufe: „~All aboard!~“ Jeder
+hat selbst dafür zu sorgen, daß er richtig in den Zug hineinkommt und
+das Abfahren nicht verpaßt, sintemal das Trittbrett sehr hoch ist.
+Schilder ihrer Bestimmung tragen die Wagen nicht. Glücklicherweise saß
+ich nicht in einem Wagen, der unterwegs abgehängt wurde ...!
+
+Also fuhr ich zum ersten Male in einem amerikanischen Eisenbahnzug.
+
+Lange noch ging es durch die Häuserblocks Neuyorks. Noch einmal
+hielten wir an der 125. Straße, dann erschienen rechts die Wälder
+des Bronxparkes über dem Harlem River. Reizende Blicke öffneten sich
+rechts nach dem Long-Island-Sund mit seinen blauen Linien des Ozeans
+am Horizont. Das Land war rings übersät von zierlichen, luftigen
+Holzvillen der amerikanischen Bauart, dazwischen gab es aber auch
+wüste, unangebaute Strecken, kleine schlechte Fahrwege, viel Unordnung.
+Das Land erscheint, wie Lamprecht bemerkt hat, immer noch reichlich
+unfertig. Alles erweckt den Eindruck schneller und planloser Bebauung
+ohne Überblick und Zusammenhang. Hier baute sich eben jeder an, wo es
+ihm gerade beliebte, und rodete soviel als er vermochte. Das andere
+blieb, wie es war. Wie würde es erst im Westen aussehen, wenn schon der
+kultivierte Osten so ungeordnet und wild aussah?
+
+Am Long-Island-Sund liegen große Industrieorte, wie Bridgeport
+und Newhaven. Im letzteren ist der Sitz der altberühmten
+„Yale-Universität“, der alten gefeierten Konkurrentin Harvards. Golden
+strahlte aus der Stadt die Kuppel des Stadtkapitols, da alle an Größe
+und Stil gern mit dem großen „Kapitol“ in Washington eifern möchten.
+
+Von Newhaven ging es nordwärts nach dem rauchigen Hartford.
+Obwohl wir hier durch dichtbesiedelte Gegenden fuhren, reicht die
+Bevölkerungsdichte auch nicht entfernt an die unserer europäischen
+Industriebezirke an der Ruhr, in Belgien, um Chemnitz oder Manchester
+heran. Nach den beiden letzten Städten nennt sich die Eisenbahnlinie,
+mit der ich fuhr: „~New York, New Haven and Hartford Railroad~.“
+
+Hinter Hartford lenkten wir östlich in die prächtige hügelige und
+romantische Landschaft Connecticuts: Wälder, Berge, Sümpfe, kleine
+Teiche, pfadloses Gestrüpp, wohin man sah. Hier wäre ich gern einmal
+ausgestiegen und planlos gewandert. Aber der Zug fuhr unentwegt weiter
+und hatte für solche unnützen Landbummler keine Haltestelle. Das
+Wandern durch die Natur und das Steigen auf die Berge ist überhaupt in
+Amerika noch wenig üblich. Dazu sind die Entfernungen auch meist zu
+groß, der Wege zu wenig, die Sonntage zu heilig und ein Rucksack drüben
+-- zu lächerlich! Die Farmen Connecticuts, an denen wir vorbeisausten,
+waren eingebettet in den prächtigsten Herbstschmuck. Hin und wieder sah
+ich äußerst anheimelnde Landhäuser und gemütvoll weidende Rinderherden.
+Sonst nur weglose und ungepflegte Wälder. Üppig und ungehemmt schießt
+und sprießt es überall aus dem noch nie gepflügten oder gerodeten
+Boden. Wie kahl und arm sind dagegen oft unsere allzu wohlgeordneten
+Waldungen.
+
+Einige Male hielten wir auf kleineren Stationen (Willimantic, Pomfret,
+Putnam) in fast unbewohnter Gegend. Seit Hartford hatte sich überdies
+unser Zug recht geleert. So saß man gemütlich auf den Polstern, und
+es ermüdete mich nicht im geringsten, stundenlang unverwandt das Land
+des neuen Erdteiles in mich aufzunehmen. Und hätte man Langweile
+gehabt, so hätte sie einem der ~boy~ vertrieben, der ständig in jedem
+Zug alle möglichen und die unmöglichsten Dinge anzubieten pflegt:
+Glacéhandschuhe, Bilder, Karten, Schokolade, Reiseführer, Zeitungen,
+Bücher u. dgl.
+
+Gegen zwei Uhr nachmittags nach fast sechsstündiger Schnellzugsfahrt
+(man vergleiche aber die kurze Entfernung auf einer Karte der ganzen
+Union!) näherten wir uns Boston, dem altenglischen Kulturzentrum,
+der Stadt, in der die geistig feinsten und aristokratischsten Leute
+Amerikas wohnen, wie man allgemein in Amerika zugesteht. Boston ist der
+Sitz der feinen Bildung und Sitte. Sogar die Aussprache ist dort nicht
+ganz so dumpf wie sonst, sondern sucht sich der helltönenderen der
+Engländer anzupassen.
+
+Seit Blackstone rasten wir ungehemmt durch die Ebene. Dann ging es
+durch die Vorstädte Bostons. „Black Bay Station“ -- und nach wenigen
+Minuten waren wir in der breiten rußigen „South Union Station“. Trotz
+ihrer 16 Einfahrtsgleise hatte sie nichts Imponierendes.
+
+Es regnete! -- -- --
+
+Boston erscheint trotz seiner über eine halbe Million zählenden
+Einwohner klein, wenn man aus Neuyork kommt. Ende des 18. Jahrhunderts,
+zur Zeit der Unabhängigkeitskämpfe, war Boston die volkreichste
+und auch die politisch führende Stadt der Union. Schon 1630 hatten
+sich hier die ersten englischen Kolonisten im benachbarten kleinen
+Salem angesiedelt, während Neuyork noch „Neu-Amsterdam“ hieß und
+kaum 100 Holländer beherbergte (s. S. 51)! 1770 begannen hier die
+Freiheitskämpfe mit dem sog. „Bostoner Blutbad“, in dem einige Bostoner
+von britischen Soldaten, die sie herausgefordert hatten, getötet
+wurden. Das war bei dem noch heute stehenden „Old State House“ mit
+dem noch heute dort befindlichen britischen Löwen und Einhorn auf dem
+Dach. 1773 warfen Bostoner, als Indianer verkleidet, eine englische
+Teeladung, die trotz der „Nichteinfuhrakte“ importiert werden sollte,
+kurzerhand ins Meer, nachdem man sich in der Old South Church, die
+ebenfalls noch steht, versammelt hatte! Die Stelle dieser berühmten
+„~Tea-party~“ ist am Kai bezeichnet. Britische Truppen besetzten nun
+nach dieser Auflehnung die Stadt, aber General Washington überschritt
+bald den Charles River, der an Boston breit wie ein Meeresarm
+vorbeifließt, und befreite die Stadt 1776 aus den englischen Händen.
+Diese ganze Gründungsgeschichte der Union hat sich hier in Boston
+abgespielt! So ist es der historischste Boden des ganzen Landes und so
+erinnert es mit seinen alten efeuumsponnenen Kirchen in der City und
+der ehrwürdigen „Faneuil Hall“ und seinen krummen, engen Straßen in der
+inneren Stadt noch am ehesten an Europa.
+
+Boston ist aber auch das amerikanische „Athen“. Nicht weit von Boston,
+in +Concord+ und Cambridge, lebten und wirkten ein Hawthorne, Emerson,
+Longfellow, Lowell und Agassiz. Auch ein Benjamin Franklin, der
+Erfinder des Blitzableiters, ist in Boston geboren und begraben. Und
+dicht vor Bostons Toren, in Cambridge, liegt noch heute die älteste
+und tüchtigste Universität Amerikas, das Harvard College. Bostons
+Mittelpunkt ist der „Common“, ein zentral gelegener, sympathisch
+wirkender, nicht allzu großer Stadtpark, der stattlich zum Hügel des
+State House (Kapitol) mit seiner weithin leuchtenden vergoldeten
+Kuppel emporsteigt. Das State House (Regierungsgebäude) enthält
+prächtige Innenräume, vornehme Hallen, die in großen Wandgemälden die
+geschichtlich wichtigen Augenblicke aus dem letzten Drittel des 18.
+Jahrhunderts festhalten.
+
+Der unstreitig prächtigste Platz der Stadt aber ist der dem Charles
+River nahegelegene sog. „Copley Square“, den nicht weniger als vier
+ansehnliche und bedeutsame Gebäude zieren: zwei der schönsten und
+stilvollsten Kirchen des Landes, die romanische „Trinity Church“
+der englischen Hochkirche und die in stilvoller italienischer
+Frührenaissance erbaute „New Old South Church“ der Kongregationalisten.
+Weiter säumt den Platz das ~Museum of fine arts~, in der Hauptsache
+eine Gemäldegalerie. In ihr fand eine eigenartige Ausstellung statt,
+die dartun sollte, was für Kultur- und Sozialprojekte in 5 Jahren in
+der Welt und in Amerika im besonderen verwirklicht sein würden! Nur
+vergaß die damalige rührige und prophetische Ausstellungsleitung zu
+weissagen, daß die Welt vor allem das Kulturprojekt des Krieges aller
+gegen alle verwirklichte und gerade das kulturfortschrittliche Amerika
+zuletzt in diesem kulturfördernden Reigen sogar den Ausschlag geben
+würde! Endlich steht dort am Copley Square, wie sie sich rühmt, die
+größte Volksbibliothek der Welt, „~the public library~“, in weißem
+Marmor mit unübertrefflich prächtigen Lesesälen -- auch einer besonders
+für Kinder! -- und überraschenden Einrichtungen für schnellste
+Herbeischaffung jedes gewünschten Buches binnen wenigen Minuten! Ich
+habe dort allerdings den Eindruck gewonnen, daß der einfache Amerikaner
+bildungs- und lesehungriger ist als der gleichgestellte Deutsche.
+So ist auch die Zahl der trefflichen „~magazines~“, d. h. der guten
+illustrierten Wochen- und Monatszeitschriften, die vielmehr als die auf
+den Augenblick berechneten Tageszeitungen den Leser wissenschaftlich
+über alle wichtigen Dinge verständlich auf dem laufenden halten,
+unübersehbar groß und reich.
+
+Um die Innenstadt Bostons mit ihren belebten und -- verglichen mit
+Neuyork -- zum Teil engen Geschäftsstraßen legen sich die feinen
+Wohnviertel, so die „Commonwealth Avenue“ und „Boylston Street“ und
+weiter hinaus umfangreiche Vorstädte, die sich zuletzt in reizende
+Landhauskolonien auflösen. Weite Parkgebiete sind überall dazwischen
+von der Bebauung freigelassen. In weitem Bogen umsäumen liebliche
+und aussichtsreiche Hügelreihen die Stadt in der Ferne wie die „Blue
+hills“, die „Arlington Heights“ u. a.
+
+Am Bostoner Hafen ist’s freilich wie überall in Amerika düster und
+schmutzig. Reizvolle Städtefronten am Wasser anzulegen, versteht der
+Amerikaner offenbar noch nicht. Dazu ist der Sinn all die Jahrzehnte
+hindurch viel zu sehr aufs rein Praktische und Kommerzielle gerichtet
+gewesen. Wenn das Land auch, wie ich es einmal in einem Vortrag des
+greisen Harvardpräsidenten ~Dr.~ Eliot treffend ausführen hörte,
+über „politische Sicherheit, materiellen Reichtum und moralischen
+Fortschritt“ verfügt, so aber nicht über den Sinn für Beschaulichkeit
+und ästhetische Lebensgestaltung. Hier war noch nicht Kulturgeschichte,
+hier will sie erst werden. Hier war bis jetzt, die Neuenglandstaaten
+ausgenommen, im allgemeinen nur Geschichte des Handels und des
+politischen Aufschwungs. Freilich fiel das Riesenland der einst jungen
+und kleinen Union, die zuerst über nicht viel mehr als die schmalen
+Randstaaten des Ostens am Atlantischen Ozean verfügte, ziemlich
+mühelos in den Schoß, und unerschöpflich sind heute das Land, seine
+Bodenschätze, seine Hilfsquellen und Entwicklungsmöglichkeiten. --
+
+Da ich mich lange in Boston und dem nahen Cambridge aufgehalten habe,
+hatte ich Muße genug, mich, soweit möglich, auch um das +geistige
+Leben+ und die geistigen Fragen zu kümmern. So ging ich nach und
+nach fast auch zu allen wichtigeren +kirchlichen+ Denominationen und
++religiösen+ Gemeinschaften, denn sie spielen in Amerika eine sehr
+ausschlaggebende Rolle. Es sind ihrer wohl an 200, deren jede frei
+ihrer Überzeugung lebt und ihr Bestes zu geben sucht. Vollkommene
+religiöse Toleranz hat zuerst Amerika in der Welt praktisch
+durchgeführt! Alle Religionsverfolgten Europas, von den englischen
+Puritanern angefangen, die 1620 mit der „Mayflower“ hinüberkamen,
+fanden hier eine gastliche Freistatt. Von Anfang an war hier Staat und
+Kirche getrennt. Die Kirchen verwalteten als freie religiöse Vereine
+und Genossenschaften sich stets vollkommen selbständig und hatten auch
+für ihre Existenz und ihre Bedürfnisse allein aufzukommen. So lernte
+der Amerikaner von Anfang an andere Überzeugungen achten und für die
+eigenen opfern.
+
+Ein +Sonntag+ in Amerika verläuft anders als bei uns. Am Sonntagmorgen
+liegt über der großen, werktags so rastlosen Stadt mit ihren
+Hochbahnen, Straßen- und Untergrundbahnen eine ungewohnte Stille.
+Nur das nie ruhende Meer wirft seinen weißen Schaum wie immer an die
+Uferdämme. Die wohlverankerten Boote schaukeln ein wenig hin und her,
+aber die Kais sind menschenleer. Die Straßenbahnen fahren selten. Nur
+die Schuhputzer haben wie immer zu tun. Hoch auf den Stiefelthronen
+sitzt heute auch der einfachste Kunde, und der Italiener oder Grieche
+fährt mit wohlgeübten Handgriffen mit mehreren Bürsten zugleich
+über die Schuhe, bis sie blank sind, daß man sich fast darin sehen
+kann. Alle großen Geschäfte, die menschenwimmelnden Warenhäuser, die
+Banken, alle Theater und die meisten Restaurants, in denen in der
+Woche Hunderte ihren Lunch einnehmen, sind geschlossen. Die großen
+Geschäftsstraßen, in denen gestern Abend noch Tausende im Schimmer
+der aufblitzenden und wieder erlöschenden Reklameschilder hin und her
+eilten, sind wie ausgestorben. Es ist der „Sabbat des Herrn“, der Tag
+absoluter Ruhe, an dem sogar auf manchen Eisenbahnstrecken kein Zug
+fährt und manche Bahnhöfe einfach verschlossen sind!
+
+Der Vormittag schreitet voran. Etwa um halb elf Uhr ertönen die ersten
+Glockenschläge, leise, fein und melodisch in rhythmischen Pausen. Kein
+weithin schallendes, ehern schwingendes Geläute ist es wie bei uns. Die
+meisten Gottesdienste in den Kirchen beginnen erst um elf Uhr. Da und
+dort sieht man Menschen den Kirchen zustreben, die meist weit kleiner
+als bei uns sind, versteckt und efeuumsponnen mit zierlichem Turm sich
+wenig oder gar nicht über die hohen, Geschäfts-, Wohn- und Logierhäuser
+hervorheben, ja manchmal wie Old Trinity in Neuyork ganz zwischen
+ihnen verschwinden. Wir studieren den sehr reichhaltigen und überaus
+mannigfaltigen Kirchenzettel der großen Zeitungen, reichhaltig durch
+die Unmenge der Denominationen, mannigfaltig auch durch die seltsamen
+Anzeigen der Predigtthemen und der im Gottesdienst stattfindenden
+Musikdarbietungen! Beides soll im besonderen Maße Hörer und Besucher
+anlocken und etwa andere „Konkurrenz“-Kirchen ausstechen. Liest man die
+lange Reihe durch: „Baptisten, Kongregationalisten, Christian Science,
+Episkopalisten, Quäker, bischöfliche Methodisten, Swedenborgianer,
+Spiritualisten, Presbyterianer, Unitarier, ~New thought~,
+Theosophen, ‚~church of higher life~‘, Universalisten, Lutheraner,
+Heilsarmee,“ so hat man die Wahl. Sie alle sind geschichtlich
+begründet, manche, wie Christian Science, New thought u. a., sind
+erst jüngeren und jüngsten Datums. Bald waren es Unterschiede der
+Verfassung (Bischöfliche oder Episkopalisten, Presbyterianer oder
+mit Ältestenverfassung, Kongregationalisten oder solche, die auf
+Souveränität und Selbständigkeit der Einzelgemeinde pochen), bald
+waren es solche des Glaubens: Der Baptismus verwirft die Kindertaufe,
+der Methodismus fordert persönliche Bekehrung, die Quäker verwerfen
+ein berufsmäßiges Predigtamt. Die Lutheraner sind meist Deutsche,
+Schweden, Dänen oder Finnen. Die ~episcopal church~ ist der Rest der
+einst hier herrschenden englischen Staatskirche, noch heute die Kirche
+der vornehmen und vornehm sein wollenden Leute. Die „Unitarier“ sind im
+Anfang des 19. Jahrhunderts als Protest gegen die Dreieinigkeitslehre
+des Christentums entstanden. Die „~Christian Science~“ ist auch
+in Deutschland als Sekte der „Gesundbeter“ bekannt geworden. Die
+Swedenborgianer sind Anhänger des schwedischen mystisch-religiösen
+Philosophen Emmanuel Swedenborg. Führend im religiösen Volksleben
+scheinen im allgemeinen die Methodisten und Baptisten zu sein, in
+Neu-England mehr die Kongregationalisten, dazu kommt die englische
+Hochkirche unter den Reichen und unter den Deutschamerikanern die
+Lutheraner. Aber auch die meisten von ihnen teilen sich wieder in
+die verschiedensten Teilkirchen; auch die Baptisten und Methodisten
+sind mehrfach gespalten. Doch geht im ganzen durch das amerikanische
+Kirchenwesen heute durchaus ein Zug zur Einigung, vor allem auf
+sozialem und sittlichem Gebiete. So haben die Kirchen erst jüngst den
+Feldzug gegen den Alkohol gewonnen, wie sie einst ihr gewichtiges Wort
+gegen die Sklaven erhoben haben. Den praktisch-ethischen Fragen des
+Volkslebens mißt man drüben ein ganz anderes Gewicht in der Kirche bei
+als bei uns, während in Deutschland in der Vergangenheit sich alles
+in Glaubenskämpfen zerfleischte. Neben all diesen protestantischen
+Denominationen steht und wächst dank der jüngsten romanischen und
+östlichen Einwanderung immer machtvoller auch die römisch-katholische
+Kirche. Ein Kardinal ist ein Amerikaner. Die katholische Kirche
+übertrifft die größten protestantischen Kirchen noch an Bekennerzahl.
+Und sie ist, wie überall, ganz einheitlich.
+
+Welchen Gottesdienst man aber auch besucht, die äußere Art desselben
+ist fast überall, abgesehen von den liturgisch reicheren Episkopalen
+und Lutheranern, sehr ähnlich oder gleich, selbst Swedenborgianer,
+Christian Science und Spiritualisten haben im allgemeinen denselben
+gottesdienstlichen Rahmen mit Lied, Gebet, Ansprache usw. übernommen.
+Außen an der Kirche gibt meist schon ein großes Plakat deutlich
+Auskunft über Name und Art der Gemeinde, über ihre Veranstaltungen,
+über Wohnung und Sprechstunden des Predigers u. dgl. In der Vorhalle
+findet man oft eine kleine Auslage von Büchern und Schriften, von
+denen die meisten unentgeltlich zur Verfügung stehen. Beim Eingang
+empfängt uns einer der Ältesten oder ein sog. „~usher~“, ein jüngerer
+Herr mit weißer Nelke im Knopfloch, der uns zu einem freien Sitzplatz
+geleitet. Die Kirchenbänke sind mit Polstern belegt, aus bequemen
+und wohlgeformten Holzwerk -- nicht wie unsere jahrhundertalten
+steifen, harten Dorfkirchenbänke, von denen man oft mit Rückgrat-
+und Kreuzschmerzen aufsteht. In der Bank findet man Gesangbuch,
+Gebetbuch, ein Neues Testament, Schriften, ja wohl gar Fächer für
+die Damen bereitliegen! Also man liebt auch in der Kirche den
+Komfort und die Bequemlichkeit. Der Geistliche pflegt in einfachem
+schwarzen Rock ohne Talar an ein Sprechpult zu treten. Eigentliche
+Kanzeln haben nur die Katholiken, die Hochkirche und die Lutheraner.
+Auch ein Altar ist nur dort vorhanden. An dem Pulte wird gelesen,
+gebetet, gepredigt. Meist leitet guter Chorgesang den Gottesdienst
+ein. Dann spricht der Geistliche ein freies, längeres Gebet. An das
+Gebet schließt sich gewöhnlich eine Psalmenlesung, bei der Prediger
+und Gemeinde abwechselnd laut vorlesen. Ja, es kommt auch vor, daß
+ein Ältester oder sonst ein Laie die Schriftlesung hält. Danach erst
+setzt der Gemeindegesang ein, zu dem sich die Singenden von den Sitzen
+erheben! Frisch und rhythmisch, selten getragen, klingen die Choräle.
+Das +ganze+ Lied wird abgesungen, nicht nur etwa drei langatmige
+und langsam gespielte Strophen. Die Liedstrophen sind selbst kurz
+und knapp und entstammen +neueren+ religiösen Dichtern. Dem Liede
+folgt eine Solomusik und -- nicht zu vergessen -- das Kirchenopfer,
+das auf +offenen+ Tellern eingesammelt und zur Danksagung nach
+vorn an den Altartisch getragen wird. Ich sah auf den Opfertellern
+meist nur Silberstücke oder Dollarscheine! Von den Kollekten und
+Mitgliedsbeiträgen lebt ja die Gemeinde. Man weiß also rechnerisch,
+was man zu geben hat. Das Auftreten der Solosängerinnen auf offener
+Predigttribüne im Angesicht der Gemeinde wirkt allerdings theatralisch
+und reichlich reklamehaft. Die kirchliche Predigt behandelt zeitgemäße
+Themata. Man liest sie in der Zeitung oft absichtlich eigenartig
+formuliert angezeigt: „Gott am Totenbett eines Sperlings.“ „Nach dem
+Tode -- was dann?“ „Allein mit der Erinnerung.“ „Wie ein Mensch denkt.“
+„Das Leben mit Flügeln.“ „Die Augen des Arztes.“ „Die Bergvision.“
+„Christus und der Arbeiter.“ „Darwin und die Religion.“ „Das Göttliche
+der Selbstüberwindung“ usw. Die Prediger bevorzugen eine lebendige
+Sprechweise, anschauliche, aus dem Leben geschöpfte Darstellung voller
+Beispiele und praktischer Anwendung. Der amerikanische Prediger will in
+der Predigt packen, fesseln, werben und zur Tat veranlassen, weniger
+belehren, denn der Amerikaner bleibt Realist auch im Gottesdienst
+und läßt nie das wirkliche Leben aus dem Auge. So nehmen auch die
+Predigten Stellung zu allen Tagesfragen, den sozialen, politischen,
+gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ja sportlichen Ereignissen.
+Kein Thema ist verpönt. Gewandte Prediger genießen auch ein großes
+Ansehen. Teile ihrer Predigten drucken die Tageszeitungen ab und
+bringen -- echt amerikanisch -- ihr Bild dazu! Wenn auch nicht alle
+Amerikaner zu einer Kirche gehören, so doch alle, die irgendwie
+etwas gelten wollen und etwas sind. Es scheint mir drüben weniger
+Indifferenz und Abkehr von der Religion zu sein als in Europa trotz
+der starken wirtschaftlichen Interessen. Öffentliche Gebäude tragen
+sehr oft Bibelworte an der Stirnseite; keine öffentliche Feier beginnt
+ohne Gebet! Von der kirchlichen Regsamkeit mögen folgende Zahlen ein
+Bild geben: In Neuyork z. B. sind die Baptisten allein mit 51, die
+Lutheraner mit 45, die Methodisten mit 63, die Presbyterianer mit 57,
+die Hochkirche mit 93 (!), die katholische mit über 100, die jüdische
+Religion mit 26 Synagogen vertreten, die kleineren Denominationen
+ungerechnet. Man zählt in der Union etwa 200000 Kirchgemeinden mit
+etwa 150000 Kirchen und etwa 50 Millionen Sitzen. Es könnte also jeder
+Amerikaner einmal jeden Sonntag -- entweder morgens oder abends --
+einen Sitz in einer Kirche finden! Deutsche Großstadtgemeinden haben
+oft 20-30 mal soviel Mitglieder als sie Kirchenplätze haben! Und doch
+sind die amerikanischen Kirchen eher besser besucht im Durchschnitt
+als die deutschen. Etwa 160000 Geistliche -- zehnmal mehr als das
+zwei Drittel so große Deutschland -- unterhalten die amerikanischen
+Gemeinden nebst 200 eigenen theologischen Seminaren. Da die Kirchen
+keine Verbindung mit dem Staate haben, so gibt es in den Schulen
+keinen Religionsunterricht. Nach welcher Glaubensart sollte er auch
+erteilt werden? Nur Andachten mit Gebet und Bibellektion +ohne+
+Erklärung durch den Schulleiter sind daselbst gestattet. Den Ersatz
+des Religionsunterrichts bilden die überaus rührigen amerikanischen
+Sonntagsschulen, die über elf Millionen Kinder durch über eine Million
+freiwillige Hilfslehrkräfte unterrichten! Ist der Gottesdienst aus,
+so sieht man am Ausgang, in der Vorhalle, in den Gemeinderäumen die
+Gemeindeglieder noch länger verweilen, sich begrüßen und wie eine
+große Familie zusammenstehen und ihre Gedanken austauschen. An dem
+allgemeinen „~shake-hands~“ beteiligt sich auch der Geistliche. Wie
+oft ist nach einem Gottesdienst, den ich besuchte, der Prediger
+auch auf mich zugeeilt, weil er in mir den Neuling erkannte und für
++seine+ Gemeinde zu gewinnen hoffte! Das kirchliche Gemeindeleben ist
+allerorts mit seiner Geselligkeit und seinen Vortragsabenden, Vereinen
+und Veranstaltungen sehr rege und vielseitig entwickelt. Es kommt
+vor, daß Gemeinden eigene Turnhallen und Speiseräume, Lesezimmer, ja
+Schwimmbäder für ihre Jugend besitzen!
+
+Der Sonntagnachmittag verläuft ebenso still auch an den
+schönsten Sommernachmittagen wie der Vormittag. Der ganze
+deutsche Vergnügungsrummel samt Ausflugsverkehr, Tanzboden und
+Im-Gasthaus-sitzen ist drüben unbekannt. Auch Fußball, Tennis,
+~base-ball~, die sonst so leidenschaftlich gespielt werden, ruhen am
+Sonntag. Die Theater spielen nicht; es herrscht „Sonntagsheiligung“ wie
+bei uns kaum an Karfreitag oder Totensonntag. Fußwanderungen unternimmt
+man auch nicht, höchstens ein ~auto-car-ride~. Man besucht sich,
+schaukelt im Schaukelstuhl, liest die umfängliche Sonntagszeitung oder
+in den ~magazines~ und geht womöglich des Abends nach dem ~supper~ um
+sieben, halb acht oder acht Uhr noch einmal zum Gottesdienst oder zu
+einem kirchlichen Vortrag.
+
+Des Nachmittags findet man aber auch die Redner, religiöse und
+politische, in den großen öffentlichen Parks am Werke. So erinnere
+ich mich eines Novembernachmittags in Boston. Der Common lag
+kalt und herbstlich mit seinen entlaubten Bäumen da. Das stolze
+Freiheitsmonument schaute über den grünen Rasen. Es bildeten sich
+einige Menschengruppen in dem Parke. Auf einer Bank stand ein
+Sozialist; dreißig, vierzig Arbeiter um ihn herum. Mit volkstümlich
+packenden Worten suchte er seine Hörer für die bald fälligen
+Staatswahlen in Massachusetts zu gewinnen. „~Higher conditions,
+better wages!~“[13] war seine Parole. Hier und da warf ihm einer der
+Umstehenden eine Frage dazwischen. Der Redner wußte immer witzig und
+treffend zu antworten. Ich ging zur nächsten Gruppe. Sie war kleiner.
+Ein Heilsarmeesoldat stand dort in der Mitte, vor Kälte waren ihm
+Hände und Nase rot. Er sang aus einem zerflederten Liederbuche den
+Umstehenden vor, einige Gleichgesinnte begleiteten ihn, und zwar eine
+alte verschrumpelte Negerfrau, drei bleiche Männer in armseliger
+Kleidung, ein hungriger, an einer ~sweetpotato~ (Süßkartoffel) kauender
+Junge und eine schwarzgekleidete feinere Dame, während ringsumher
+andere lachten, rauchten und schwatzten. Die frommen Sänger taten
+mir leid. Nun trat ein weißhaariger Herr auf und erzählte von seiner
+„Bekehrung“ und seinem erfahrenen seelischen Glück. Man lauschte.
+Die Heilsarmeeleute bekräftigten seine Worte ständig mit „Amen“
+und „Hallelujah“! Nach einem weiteren dünngesungenen Liede trat
+ein dritter, bleicher, untersetzter Mann auf und hielt die zweite
+geistliche Ansprache. Das Publikum, das sich angesammelt hatte,
+wandte sich zum Teil schon wieder zum Gehen. Aber der kleine Bleiche
+schrie unentwegt aus Leibeskräften: „Das Geld macht nicht selig;
+die Rockefeller und Vanderbilt fahren alle zur Hölle, wenn sie sich
+nicht bekehren.“ Seine Augen funkelten dabei, aber man nahm ihn nicht
+ernst. Als er geendet hatte, knieten die Heilsarmeeleute -- ein
+peinlicher Anblick -- vor den Umstehenden nieder und beteten laut
+für das Seelenheil aller Anwesenden, der Soldat mit dem zerflederten
+Liederbuch, das alte verschrumpelte Negerweib, der hungrige kauende
+Junge, die feine schwarze Dame, der weißhaarige geistliche Redner
+und die drei bleichen arbeitslosen Männer. Unwillig wandten sich die
+letzten weg; einige junge Burschen aber warfen sogar von hinten ihre
+ausgerauchten Zigarettenstummel auf die Betenden! Nur zwei Damen traten
+heran und drückten den vom Gebet Aufstehenden dankbar und anerkennend
+die Hand und beteiligten sich an dem Schlußgesang. Ich ging fort. So
+geht es der Religion auf der Straße. Mehr Achtung und Anerkennung
+verdient schon das soziale Wirken der Heilsarmee.
+
+[Illustration: ~BOSTON~
+
+~Washington-Street -- Old South Church~]
+
+[Illustration: ~BOSTON~
+
+~Regierungspalast (State house)~]
+
+Es war schwer, am Sonntag um Mittag eine „~dairy~“ oder einen
+geöffneten „~lunchroom~“ zur Erquickung zu entdecken. In den Familien
+saß man jetzt am offenen Kaminfeuer beim traulichen Mittagstisch.
+Und als ich gar am Nachmittag den Versuch machte, in Ermangelung von
+Fußwegen auf der Landstraße einen Nachmittagsspaziergang aufs Land
+hinaus zu unternehmen, überschütteten mich die Autos dermaßen mit
+Straßenstaub, daß ich grau und weiß wie ein Müllerbursche mit meinen
+guten dunklen Sonntagskleidern wieder heimkam! Einmal, sagte ich mir,
+und nie wieder! Für was mich wohl die Insassen der Autos gehalten haben
+mögen? Gewiß für einen „armen dummen Deutschen“!
+
+Boston mit seinen mancherlei geistigen und philosophisch-religiösen
+Bewegungen ist auch der Ursprung für die in der Welt so viel von
+sich reden machende Christian Science (christliche Wissenschaft),
+die am schnellsten von allen Sekten gewachsen ist. So war ich denn
+gespannt, auch sie in ihrer Heimat und am Orte ihrer Entstehung
+kennenzulernen. An einem der nächsten Sonntage besuchte ich ihren
+„Tempel“. Er ist unstreitig eine der schönsten und großartigsten
+Kirchengebäude in Amerika. Im Unterschied von den meisten anderen
+Kirchen ist es eine mächtige, imponierende, etwas an den Berliner
+Dom erinnernde Kuppelkirche im Barockstil, die an 3000-4000 Menschen
+faßt. Weißer Marmor verleiht dem Innern großartige Feierlichkeit.
+Dreifache balkonartige Galerien, wie wir sie in unseren Opern gewöhnt
+sind, laufen an drei Seiten der Rundung um. Die vierte Seite wird von
+einer gewaltigen Orgel eingenommen, deren Marmorseiten in mächtigen
+Lettern an der einen die Bibelstelle von dem Geist als dem Tröster und
+an der anderen ein entsprechendes Wort der Gründerin der Sekte tragen.
+Christus und die Gründerin der Sekte, Mrs. Mary Baker-Eddy, stehen in
+gleichem kanonischen Ansehen, so wie aus der Bibel und dem von ihr
+herausgegebenen „Textbuch“ stets unmittelbar neben- und nacheinander im
+Gottesdienst vorgelesen wird.
+
+Bereits einige Zeit vor Beginn füllte sich die mächtige Halle. Im
+ganzen vorherrschend „die oberen Zehntausend“. Zylinderhut und
+rauschende Seidentoiletten herrschten durchaus vor. Draußen fuhr
+ununterbrochen ein Auto nach dem anderen und eine Equipage nach der
+anderen vor, wie vor kaum einer anderen Kirche der Vornehmen. Als
+schüchterner Fußgänger ging ich zwischen den Parfümduftenden und
+Glacébehandschuhten auch hinein. In geräumigen Wandelhallen war
+Gelegenheit, unentgeltlich wie im Konzertsaal oder im Theater die
+Garderobe abzulegen. Innen führten feingekleidete Herren mit der
+wie überall obligaten weißen Nelke im Knopfloch die Besucher zu den
+mit bequemen Polstern belegten Sitzreihen. (Merkwürdig, daß man
+ausgerechnet in den freien Kirchen des freien Amerika nirgends sich
+seinen Sitzplatz selbst wählen darf!) Ich kam so links von einem der
+Mittelgänge halbwegs nach vorn zu sitzen, von wo ich alles sehr gut
+übersehen und hören konnte. Während die Orgel machtvoll einsetzte,
+schritten der erste und zweite Vorleser, ein Herr und eine Dame (!) die
+goldgeschnittenen Bücher (Bibel und „Textbuch“) feierlich unter dem
+Arm, zu ihren Predigersesseln im Angesicht der Gemeinde auf einer sehr
+geräumigen erhöhten Marmorbühne unter der Orgel. Auch eine Sängerin in
+großer Toilette mit prachtvollem Blumenbukett in der Hand nahm dort
+Platz. Die Feier begann dann mit gemeinsamem Gesang aus dem eigenen
+Liederbuch der Christian Science, zu dem auch Mrs. Eddy selbst eine
+Anzahl Gesänge beigesteuert hat. Dem gemeinsamen Gesange folgte,
+wie überall, gemeinsames Gebet, dem sich das gemeinsam gesprochene
+Vaterunser +in szientistischer Umbildung+ anschloß. Dieselbe lautet in
+deutscher Übersetzung folgendermaßen:
+
+ „Unser Vater-Mutter Gott, +allharmonisch+
+ Und allein anbetungswürdig,
+ Dein Reich ist gekommen,
+ Gott ist allgegenwärtig und allmächtig.
+ Mach uns fähig zu erkennen -- wie im Himmel so auf Erden:
+ Gott ist alles in allem!
+ Gib uns auch heute deine +Gnade+,
+ zu nähren die hungernden Triebe.
+ Und göttliche Liebe strahlt zurück in Liebe.
+ Und Liebe läßt uns nicht in Versuchung
+ sondern befreit uns vom +Übel+: +Sünde, Krankheit und Tod+.
+ +Denn Gott ist alle Substanz der Welt+, Verstand,
+ Leben, Wahrheit und Liebe.“
+
+Ich setze dies Gebet hierher, weil aus ihm recht deutlich die
+Grundanschauungen der Christian Science erkennbar sind. Der Schwerpunkt
+liegt in dem Schluß: Weil Gottes geistiges und vollkommenes Wesen
+alles in allem ist, die alleserfüllende Weltsubstanz, so ist Sünde,
+Krankheit und Tod nur +Schein+. Wer mit Gottes Liebe verbunden ist,
+wird von allen Übeln +wirklich befreit+. So legen die Szientisten auch
+in der Betrachtung des Lebens Christi weit größeren Nachdruck auf seine
++Heilungen+ als auf seine +Verkündigung+, z. B. Worte wie Matth. 10, 8:
+„Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten
+auf, treibet die Teufel aus“ sind für sie geradezu ausschlaggebend.
+Aber merkwürdig halten sie es nicht mit der unmittelbaren Fortsetzung:
+„Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebet es auch. Ihr sollt nicht
+Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln haben.“ Wie man hört, lassen
+sich die Heiler ihre Kunst gut bezahlen, auch das „Textbuch“ ist
+recht teuer! Von der Allmacht des geistigen Prinzips in der Welt und
+im Menschen wird alles Heil, vor allem auch die körperliche Heilung
+von allen Leiden ohne Anwendung medizinischer Mittel erwartet.
+Darin ähnelt die Christian Science den in jüngster Zeit in Amerika
+zahlreich erwachsenen Bewegungen der sog. „~mind-cure~“ (Gemütskur),
+deren auch in Deutschland bekanntester Prophet Ralph Waldo Trine
+ist. Nach der wechselweisen Vorlesung aus Bibel und „Textbuch“ erhob
+sich die Sängerin in großer Toilette und sang mit mächtiger Stimme,
+von den Tausenden bestaunt, in den weiten Dom hinein. Darauf kam,
+wie überall, die „Predigt“, die aber nicht aus der freien Rede eines
+religiösen Redners über ein selbstgewähltes Thema, sondern wiederum
+nur aus einer etwa halbstündigen, auf den Fremden und Nichtgläubigen
+eintönig wirkenden Vorlesung aus Bibel und „Textbuch“, Vorlesungen,
+die für alle szientistischen Gemeinden der Welt autoritativ ausgewählt
+sind, bestand. Sie sollen der Höhepunkt der Versenkung in das alles
+Übel heilende geistige Weltprinzip sein. Die Lektionen sind nach
+Themen geordnet und werden quartalweise im voraus publiziert, z. B.
+1. „Nichtwirklichkeit“. 2. „Sind Sünde, Krankheit, Tod wirklich?“ 3.
+„Die Lehre von der Versöhnung“. 4. „Ewige Verdammnis?“ 5. „Adam und
+der gefallene Mensch“. 6. „Die Prüfung nach dem Tode“. 7. „Sterbliche
+und Unsterbliche“. 8. „Seele und Leib“. 9. „Gott, die einzige Ursache
+und der alleinige Schöpfer“. 10. „Ist das All atomistisch entstanden?“
+usw. Alle diese Themen spiegeln eine durchaus optimistische und
+idealistisch-religiöse Weltanschauung. Nach dieser „Predigt“ wurde
+auch hier die Kollekte gesammelt. Schweigend wurden die offenen Teller
+durch die Reihen gereicht, und ganze Bündel von Dollarscheinen sah
+ich darauf niedergelegt! Dann strebten die Tellerträger mit ihnen
+zur Marmorbühne, wo sie als „Opfer“ niedergesetzt wurden. Nach den
+Schlußworten geriet die ganze große vornehme Menge wieder in Bewegung,
+die Galerien leerten sich, die Treppen und Wandelhallen füllten sich;
+aus den Sonntagsschulsälen strömten die jungen Leute. Draußen tuteten
+die Automobile, und feine Equipagen fuhren mit Pferdegetrappel wieder
+die Asphaltstraßen davon. Und das Sonntag für Sonntag mit erstaunlicher
+Anziehungskraft!
+
+Neben dieser Sonntagsfeier im Christian-Science-Tempel finden jeden
+Mittwoch Abend sog. „~test-meetings~“ (Zeugnisversammlungen) statt, in
+denen anstatt der Vorlesungen Gelegenheit zu offener Aussprache über
++erfahrene Heilungen+ gegeben wird. Schon in Neuyork hatte ich eine
+solche Zeugnisversammlung besucht. Es war ein strahlend erleuchteter
+prunkvoller Kirchensaal, der viele Hunderte faßte und bis auf den
+letzten Platz gefüllt war, wiederum im besten Teil der Stadt gelegen
+und von vornehmsten Kreisen besucht. Gesang, Gebet und Vorlesung
+eröffneten auch hier den Abend. Dann folgten die „~tests~“, auf die ich
+besonders gespannt war. Zuerst erstaunte mich der Freimut der Damen,
+mit dem sie hier zumeist -- wie überhaupt auch sonst im amerikanischen
+Leben -- das große Wort führten, ohne Zögern aufstanden und einige
+Minuten fließend und überzeugend vor Hunderten von ihren Erfahrungen
+sprachen, etwa zehn bis zwanzig Personen. Solche „Zeugnisse“ von
+erlebten Heilungen ohne Anwendung medizinischer Mittel, nur durch
+Glaube und Gebet, wie sie hier gegeben wurden, können in jeder Nummer
+des Christian-Science-Journals nachgelesen werden. Viel eindrucksvoller
+ist natürlich ihre +persönliche+ Wiedergabe in +öffentlicher+
+Versammlung. Der Nachdruck lag, wie ich feststellen konnte, bei den
+meisten auf geheilten Gemütsstörungen und nervösen Leiden, über die
+schon unser alter weiser Kant geschrieben hat: „Von der Macht des
+Gemüts, seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden“[14]. Aber immer
+wird auch von der Besserung und Heilung +akuter+ und +organischer
+Leiden+ erzählt! Für reine Illusionen tritt gewiß niemand öffentlich
+auf, mag auch noch soviel Suggestion und Selbsttäuschung manchmal
+dabei die Hand im Spiele haben. In diesen persönlichen Zeugnissen
+liegt jedenfalls eine ungewöhnliche Werbekraft. Freilich sind auch
+Fälle erwiesen -- mir ist selbst ein solcher persönlich bekannt --,
+wo das überspannte Verschmähen der berufsärztlichen Kunst den Tod
+herbeigeführt oder mindestens beschleunigt hat. Da der Mensch von
+genug Krankheiten und Übeln geplagt ist, die Gesundheit jedem über
+alles geht und schon mancher auch umsonst viel Geld zum Doktor und
+in die Apotheke getragen hat, so wirkt begreiflicherweise diese
+Verheißung von geistiger Heilung wie ein unübertroffenes Evangelium.
+Zweifellos sind auch Erfolge da. Besonders bemerkenswert war mir, in
+wie vielen „~tests~“ betont wurde, daß die Sprecher erst durch die
+Christian Science auch ein neues +inneres+ Glück, echte Lebensfreude,
+ja Kraft, Daseinslust und eine neue inhaltvolle Lebensansicht gewonnen
+hätten. Das sind gewiß noch die echtesten Zeugnisse früher religiös
+unbefriedigter oder unangeregter Menschen. Viele suchten hier Heilung
+des Körpers und fanden Frieden der Seele. Mit solchen Zeugnissen und
+Erfolgen glaubt die Christian Science ihre spezielle Lehre gleichsam
+experimentell bewiesen zu haben. Darum ist nach ihrer Ansicht allein
+ihre religiöse Lehre „Wissenschaft“ (+science+). Krankheit, Sünde und
+Tod sind Irrtum und Schein. Aber hat sie schon je vom Tode geheilt?
+Ist nicht auch die hochbetagte Gründerin Mrs. Eddy schließlich
+gestorben? Merkwürdigerweise hat die Sekte den Tod der Stifterin leicht
+überstanden. So zählt sie heute etwa 1200 Gemeinden in Nordamerika,
+England und Deutschland. Das „Textbuch“ hat seit seinem Erscheinen
+im Jahre 1875 an die 200000 +Auflagen+ (!) erlebt. Die Gemeinden
+sind straff organisiert und zentralisiert. Bis zu ihrem Tode hatte
+die gewandte und energische Mrs. Eddy alle Zügel allein in der Hand.
+Sie ist die Verfasserin des nicht allzu geistvollen „Textbuches“;
+ein amerikanischer Geistlicher namens Quimby hat es entscheidend
+redigiert. Es ist etwa so umfangreich wie ein Neues Testament. Seine
+Ausführungen wiederholen sich endlos. Die Kapitelüberschriften (es
+ist nur in englischer Ausgabe vorhanden!) lauten in Übersetzung: 1.
+Wissenschaft, Theologie und Medizin; 2. Physiologie; 3. Fußstapfen
+der Wahrheit; 4. Schöpfung; 5. Wissenschaft des Seins; 6. Christian
+Science und der Spiritualismus; 7. Ehe; 8. Tierischer Magnetismus; 9.
+Beantwortung einiger Einwürfe; 10. Gebet; 11. Versöhnung und Abendmahl;
+12. Christian-Science-Praxis; 13. Das Lehren der Christian Science;
+14. Zusammenfassung. Anhangsweise folgt noch ein „Schlüssel zur hl.
+Schrift“, d. h. bezeichnenderweise nur zu dem mystisch-mythologisch
+erklärten +ersten+ und +letzten+ Buch der Bibel!
+
+So ist der Amerikaner zwar äußerlich kirchlich in eine Unzahl von
+Kirchengemeinschaften und Sekten geschieden, aber praktisch in den
+Lebenszielen unendlich viel einheitlicher. Mögen sie Baptisten,
+Methodisten, Hochkirchliche, Heilsarmee, Quäker oder Presbyterianer
+heißen, sie wollen alle +dasselbe sittlich-geistige Ideal+ in
+das amerikanische Volk pflanzen. Sie predigen weder Dogmen noch
+ethische Prinzipien, sondern gründeten lieber Liga auf Liga zur
+Bekämpfung +sozialen+ Elends oder der Trunksucht, zur Förderung der
+Sonntagsheiligung, der Ausbildung der Masse, der Ausbreitung der
+Sonntagsschulen, der Einbürgerung der Fremdlinge aus dem fernsten
+Osten ins amerikanische Volk, der Ausbreitung der Mission nach Afrika,
+China und Japan u. ä. Und zwar genügen dem Amerikaner dabei nicht
+Vereine mit wohlausgedachten Statuten und einem Häuflein Mitglieder,
+sondern jedesmal muß es ein „~movement~“ werden, eine Bewegung, die
+riesenschnell wächst, gleich den Wolkenkratzern ihr Haupt gigantisch
+in die Höhe reckt und binnen kurzem Millionen Dollars an freiwilligen
+Spenden flüssig macht. Die Tätigkeit der Gemeinden und Geistlichen
+ist daher vielfach maßlos. Jeder Tag ist erfüllt mit Geselligkeiten,
+Vereinigungen, Zusammenkünften und Klubs aller möglichen Altersgruppen.
+Man ist immer tätig und immer beschäftigt, um des Sonntags auch desto
+strenger zu feiern und zu ruhen. Über die Möglichkeit der Durchführung
+solcher Bestrebungen wird auch nicht lange gegrübelt, sondern frisch
++probiert+. Glückt es, so ist die Sache „gut“ und in ihrer Wahrheit
+„erwiesen“. Das und nichts anderes ist zugleich der Kern der modernen,
+so echt amerikanischen Philosophie des „Pragmatismus“. Freilich ist die
+Kehrseite dieser Art eine Verschwendung von Kräften. Jeder kann eine
+Kirche bauen und eine Gemeinde gründen und einen Pastor berufen. Es
+kann vorkommen, daß ein Städtchen von 1700 Einwohnern sage und schreibe
+neun(!) verschiedene Gemeinden beherbergt und ernährt, daß an allen
+vier Straßenecken je eine Kirche einer anderen Denomination steht,
+so daß schon 50-100 Familien eine „Gemeinde“ bilden und zu ihrer
+Erhaltung unendliche Opfer bringen müssen, aber auch bringen. Dafür
+sind sie aber auch Sonntags womöglich zweimal in „+ihrer+“ Kirche. Die
+Konkurrenz blüht, stachelt, treibt vorwärts und zerreibt zugleich.
+Der Staat ist nicht berechtigt, irgend jemand nach seinem religiösen
+Bekenntnis zu fragen. Die öffentliche Statistik ist auf die Angaben der
+Kirchen selber angewiesen, obwohl auch kein Kongreß oder Senat ohne
+Gebet eröffnet wird. Ein Spötter könnte kein wichtiges öffentliches Amt
+bekleiden, so wenig wie in England.
+
+So rastlos der Amerikaner arbeitet und Geschäfte treibt, so ernst
+nimmt er es mit seiner Religion. Die Opferwilligkeit ist erstaunlich
+groß, die Unzahl der Kirchen, Gemeinden und Pastoren kostet viel
+Geld, wenn die Kirchen auch meist kleiner und schlichter gebaut sind
+als die unseren, und der Missionseifer auch unter den Gebildeten ist
+gleich groß wie auch in England. Nichts wäre unrechter, als einfach
+von amerikanisch-religiöser „Heuchelei“ zu sprechen, jedenfalls ganz
+unrecht von +bewußter+ Heuchelei. Die Moral des Geschäfts und der
+Frömmigkeit gehen in der anglo-amerikanischen Welt nebeneinander
+her und ineinander über. Der Anglo-Amerikaner empfindet nicht die
+Schwierigkeiten, die für uns hier verborgen liegen. Er theoretisiert
+nicht, wie wir es tun. Er ist praktischer Geschäftsmann und ebenso
+praktisch tätig in seiner Religion.
+
+Hier können wir uns gegenseitig um unserer verschiedenen Wesensart
+willen schwer verstehen. Ebenso wie uns die allzu rastlose
+Betriebsamkeit und Überemsigkeit auf kirchlichem Gebiete schließlich
+auf die Nerven fällt und uns zur Stille und Keuschheit wahrer
+Frömmigkeit schlecht zu passen scheint, ist das Drängen auf
+praktisches kirchlich-religiöses Handeln doch auch vorbildlich; und
+doch mögen wir es nicht etwa für den Preis tiefgründigen deutschen
+Weltanschauungsdenkens erkaufen. Daß die Kirche auf sozialem Gebiet oft
+viel lauter als bisher bei uns in der Öffentlichkeit ihre Stimme hätte
+erheben sollen, könnten wir von drüben lernen.
+
+So ist es nicht ganz leicht, ein Wort über das innerste Wesen
+amerikanischer und deutscher Frömmigkeit zu sagen. Der Amerikaner
+ist froher, heller, tatenreicher. Ist er weniger ernst? Der
+Erweckungsversammlungen und Gebetsallianzen sind viele, Missionsstudium
+und Bibelkurse blühen. Und doch will es manchmal scheinen, als reiche
+amerikanisch-englische Frömmigkeit nicht an den tiefer gehaltenen
+Ernst derjenigen eines Martin Luther heran. Das Wesen der Frömmigkeit
+ist schwer zu erlauschen. Die amerikanischen kirchlichen Lieder sind
+frisch und heiter auch in der Melodie. Aber die ernstesten Gedanken
+werden dadurch leicht auch zu Spiel und religiöser Unterhaltung. Wie
+ich es einmal fand, daß man die Choräle mit Händeklatschen begleitete!
+Das Gemisch von religiöser Erbauung und Geselligkeit im Kirchenleben
+hat seine Gefahren. Religion gedeiht doch besser in alten Domen und
+ehrwürdigen gotischen Kirchen als bei Limonade, Schwimmbassins,
+Turnhallen, Empfangsräumen, Salons u. dgl. Die stets freien Gebete
+wirken leicht unkeusch; der Bekehrungseifer stößt ab, die Predigten
+sind oft zu sehr effekthaschend, wenn jedes größere Sportfest u. a.
+auch sofort seine Resonanz in der Predigt findet. -- -- --
+
+Ende November stand mir in Boston ein weiteres wichtiges geistiges
+Erlebnis bevor. Der bekannte und große +Neger+führer Booker T.
+Washington, der noch lebte, sollte in Boston sprechen. Den mußte ich
+natürlich sehen und hören. Mit den gedrückten und ausgestoßenen Negern
+hatte ich gleich bei meiner Ankunft in Hoboken Sympathie empfunden.
+Diese geheime Freundschaft wollte ich ihnen auch bewahren.
+
+Um acht Uhr abends sollte die Versammlung -- bezeichnend! -- in New
+Old South +Church+ beginnen. Als ich um sieben Uhr auf dem Copley
+Square ankam, war die weite Kirche schon gefüllt. Ganz hinten erwischte
+ich gerade noch ein Stehplätzchen. Als die Versammlung begann,
+geleiteten der Rektor der Kirche D. Gordon und Präsident Lowell von der
+Harvard-Universität den großen Negerführer auf das Podium. Präsident
+Lowell -- eine hohe Auszeichnung für den Negerredner -- führte Mr. B.
+T. Washington, einen breitschulterigen, etwas ergrauten gelblichdunkeln
+älteren Neger mit einem breiten untersetzten Kopf, der üblichen
+unschönen Nase und den wulstigen Lippen, mit den Worten ein: „Der große
+Erzieher, Rasseführer und Bürger!“ Echt amerikanisch! Einst war der
+bedeutende Mann im Winkel geboren als Sohn eines unbekannten weißen
+Mannes und einer verführten Negersklavin, Sklave unter Sklaven, nun war
+er Führer einer ganzen Rasse, Volksbildner, Redner und Schriftsteller,
+um den das ganze amerikanische Volk sich drängte, wenn er sprach. Ich
+konnte gerade zwischen zwei riesigen Damenhüten, deren Träger sich mit
+mir Schulter an Schulter hineingeschoben hatten, noch auf Booker T.
+Washington hindurchsehen, wenn ich mich auf die Zehen stellte. Rings um
+mich Kopf an Kopf, meist Weiße, aber auch Schwarze, die nicht in allen
+Kirchen bei den Weißen gelitten sind. Hinter mir stand noch weiter Mann
+an Mann bis auf die Straße hinaus.
+
+Atemlose Stille herrschte, als B. T. Washington mit etwas heiserer,
+aber starker Stimme begann, mit seinem trockenen Humor ein Redner von
+Gottes Gnaden. Eine volle Stunde verbreitete er sich über die Erfolge
+des von ihm geleiteten Negerbildungsinstitutes in Tuskegee, seiner
+eigensten Schöpfung, die 1500 Studenten unter 167 „Instruktoren“
+(Lehrern) zählt. Während er, der Neger, zu dem weißen gebildeten
+Publikum der besterzogenen Stadt der Union redete, sprach seine ganze
+Lebensgeschichte unbewußt mit, und die Zukunft einer ganzen Rasse
+schien wie eine Siegeswolke um ihn zu lagern.
+
+
+Der Sklave.
+
+ Sie setzten den Sklaven in Freiheit,
+ Streiften seine Ketten ab ...
+ Da war er noch ebenso sklavisch wie vorher.
+
+ Er war noch gekettet an Kriecherei,
+ Er war noch gefesselt an Unwissenheit und Faulheit,
+ Er war noch gebunden an Furcht und Aberglaube,
+ Durch Dummheit, Mißtrauen und Wildheit ...
+ Seine Sklaverei lag nicht in den Ketten,
+ War in ihm selbst ...
+
+ Man kann nur Freie in Freiheit setzen ...
+ Und das ist nicht nötig:
+ Freie Menschen machen sich selber frei.
+
+ James Oppenheim.
+
+ Aus „Neue Welt“. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+ Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 50.
+
+Einige Tage zuvor hatte ich B. T. Washingtons „Autobiographie“ und sein
+Buch über die „Zukunft des amerikanischen Negers“ gelesen und war voll
+Bewunderung und Enthusiasmus. Jetzt, da ich ihn selbst sah, tauchten
+alle die anschaulichen Bilder wieder empor, die er gezeichnet hat.
+Welches Elend hatte ihn doch noch in seiner Jugend in der Sklavenhütte
+umgeben, welche harte Arbeit nach der Sklavenfreiheitsproklamation in
+der Salzmine und der Kohlenzeche. Und wie hatte er sich ergreifend
+danach gesehnt, eine Schule besuchen zu dürfen! Welch ein Reichtum
+dünkte ihm die erste Mütze, die ihm seine Mutter aus einigen Fetzen
+zusammennähte, oder das erste Büchergestell, das er sich aus einer
+Kiste zimmerte! Und als er als kleiner Junge ein neues Hemd bekam, trug
+es sein älterer Bruder für ihn erst eine Zeitlang, denn es war aus so
+grobem Stoff, daß es seine zarte Haut wund gerieben hätte. Und als
+er sich dann nach Jahren mit 50 Cents in der Tasche aufmachte, nach
+Hampton zu gehen und die von General Armstrong geleitete Negerschule
+zu besuchen, und auf der Straße schlafen mußte, weil das Hotel ihn als
+Schwarzen nicht aufnahm, Schiffe ausladen half, um sich ein Frühstück
+zu verdienen, und sein Schulgeld im Institut damit verdiente, daß
+er Kohlen trug und die Zimmer fegte, in den Ferien seinen Mantel
+verkaufte, um sich das Reisegeld nach Hause zu verschaffen und seine
+Mutter wiederzusehen, da begann langsam die Zeit seines Emporsteigens
+zu dämmern. General Armstrong schätzte ihn bald sehr hoch und empfahl
+ihn nach seinen Prüfungen als Lehrer an eine Negerschule und dann
+später das Negerinstitut in Tuskegee selbst einzurichten, eine Art
+technische Hochschule für Farbige.
+
+Inzwischen hatte Booker T. Washington seine Ideen zu entfalten
+begonnen. Nur ein Wunsch beseelte ihn, seiner Rasse aufzuhelfen. Die
+Tage der Sklaverei wären vergangen, die Freiheit sei da. Die Freiheit
+aber stelle ungeahnte Aufgaben. Viele Neger betrachteten die Freiheit
+nur als Erlaubnis zu tun, was sie wollten. Andere suchten es sofort den
+Weißen in Wissenschaft und Technik gleichzutun, was meist mißlänge.
+Die meisten seien nach dem Norden ausgewandert und suchten sich eine
+einträgliche Stellung als Kellner, Portier, Chauffeur, Straßenkehrer
+oder niederer Arbeiter und Handwerker zu verschaffen. Was sollte
+geschehen? Booker T. Washington faßte den klugen und volksphilosophisch
+richtigen Gedanken: Unsere Rasse ist jung und unentwickelt, mittellos
+und wenig geachtet trotz ihrer Freiheit. Sie muß sich ihre Achtung
+erst verdienen, sie muß sich ihre materielle Unabhängigkeit dadurch
+erkämpfen, daß sie sich Eigentum und Handfertigkeit erwirbt, die den
+Weißen in ihre relative Abhängigkeit bringt, m. a. W. sie muß anfangen,
+den Weißen im Handwerk und in den technischen Berufen zu überflügeln.
+Der Neger solle den Weißen nicht nur in der Krawatte und dem Schnitt
+des Anzuges, den gelben Schuhen und dem steifen Kragen nachahmen,
+sondern in seiner Tüchtigkeit. Washingtons Absehen ging deshalb allein
+darauf, den Neger technisch zu trainieren und ihn in den Stand zu
+setzen, sich vor allem eine ökonomisch und politisch geachtete Stellung
+zu erwerben. Nie ist Washington -- ein besonders schöner Zug -- ein
+Wort der Anklage gegen den Weißen entflohen, der lange genug den
+Schwarzen als Sklaven auf seinen Pflanzungen in den elendesten, aller
+Kultur und Bildung baren Verhältnissen gelassen hat. Er wollte allein
+seine Rasse aufrufen, ihre Zukunft in ihre Hand zu nehmen, um sich
+Achtung und Geltung selbst in der Welt zu erobern.
+
+Augenblicklich liegen die Verhältnisse in dieser Hinsicht drüben noch
+recht kompliziert; anders im Süden als im Norden. Der Norden, der Neger
+nur in der Minderzahl enthält, hat die Sklavenbefreiung veranlaßt, er
+liebt die Freiheit der Rasse, aber trotzdem gelingt es dem einzelnen
+Neger selten, eine sozial wirklich geachtete Stellung einzunehmen.
+Der Süden, der an Neger+über+völkerung leidet, hat eine völlig
+soziale Trennung der Weißen und Schwarzen durchgeführt bzw. seit der
+Negeremanzipation beibehalten. Der Neger hat dort seine besonderen
+Straßenbahnwagen und besondere Eisenbahnabteils. Kein „weißes“ Hotel
+nimmt einen Farbigen auf, sogar die Parks sind unter die Rassen
+geteilt! Die untergeordneten beruflichen Stellungen, die der Neger
+durchweg innehat, fördern das Gefühl und die Stimmung der Weißen,
+eine Herrenrasse zu sein, und der Neger muß sich auf Grund seiner
+ökonomischen und geistigen Abhängigkeit durchaus als Mensch zweiter
+Klasse fühlen. Um sein Stimmrecht wird er im Süden meist betrogen;
+politischer Einfluß ist für ihn ausgeschlossen. So sieht die Zukunft
+trübe aus für beide Teile. Der Neger bleibt im amerikanischen Volke
+ein Fremdkörper. Niemand sieht eine klare, glatte Lösung. Rückkehr
+der Neger nach Afrika ist unmöglich; Absorption in die weiße Rasse
+ist absolut nicht erwünscht und immer ein Unglück. So leben die 14
+Millionen Neger wie ein unverdaulicher Fremdstoff unter den achtzig
+Millionen Weißen in den Vereinigten Staaten.
+
+Die Schuld der Sklaverei rächt sich heute. Keine geschichtliche Tat
+geschieht ohne Sold. Und doch: Sollte die weiße Rasse nicht berufen
+sein, Lehrmeister ihrer schwarzen Schwester, die sie solange mißhandelt
+hat, zu sein? Keine günstigere Bedingung für die Neger, als in ein
+vollkommen kultiviertes Land gesetzt zu sein, wo der tägliche Anblick
+der Technik und aller entwickelten Lebensverhältnisse, einschließlich
+der sittlichen und sozialen, ihr ständig das höhere Kulturziel
+vor Augen hält, das sie erreichen soll. Sollte es wirklich eine
+Menschenrasse auf Erden geben, die grundsätzlich für alle Zeit auf
+einem niedrigen Niveau zu leben verdammt wäre? Und wenn man noch so
+oft darauf hinzuweisen pflegt, daß die schwarze Rasse bis jetzt noch
+nicht +einen+ bedeutenden Menschen, noch nicht +einen+ Shakespeare oder
+Goethe hervorgebracht hat, so ist das dieselbe Art der Argumentation,
+als wenn etwa Tacitus die Germanen ein Volk zweiten Grades hätte
+schelten wollen, weil sie damals noch keinen Phidias oder Sophokles
+zu seiner Zeit hervorgebracht hätten! Die Negerrasse hat noch keine
+„Geschichte“ gehabt. Sie fängt eben an, die ersten Schritte in
+der Kultur zu tun, warten wir, und wenn es auch Jahrhunderte oder
+Jahrtausende dauern sollte! Der eine Booker T. Washington ist ein
+Gegenzeuge, und seine Tuskegeezöglinge und die auf den fünf anderen
+höheren Negerschulen samt den wenigen Negerstudenten sind schon ein
+Gegenbeweis. Gleich Josephs Brüdern verkauften die Weißen den Neger in
+die Sklaverei. Aber eben sein Gefängnis ist vielleicht dazu bestimmt,
+der Ausgangspunkt einer neuen glänzenderen Zukunft für ihn zu werden.
+Mir aber war es eine stille Freude, einen solchen Mann gesehen und
+gehört zu haben, der große Linien der Geschichte prophetisch schaut,
+mit kühnem Optimismus in die Zukunft seiner Rasse blickt und sein Leben
+dafür eingesetzt hat, daran mitzuhelfen, sie zu ermöglichen.
+
+Als Probe von B. T. Washingtons praktischen Gedanken und seiner
+einfachen und anschaulichen Ausdrucksweise setze ich ein Stück aus
+seinem trefflichen Buche: „Charakterbildung, Sonntagsansprachen an
+die Zöglinge der Normal- und Gewerbeschule von Tuskegee, Berlin 1910“
+hierher, und zwar das Kapitel: „Die Methode im häuslichen Leben“ (S.
+65-69):
+
+
+Der Wert der Methoden im häuslichen Leben.
+
+ „Die meisten von euch werden früher oder später von Tuskegee
+ ausgehen, um ihren Einfluß auf das häusliche Leben unseres Volkes
+ geltend zu machen. Dieser Einfluß wird sich erstrecken auf euer
+ eigenes +Heim+, auf das Hauswesen eurer Mütter und Väter oder auf
+ dasjenige eurer Verwandten. Wo ihr auch hingeht, in jedem Hause
+ werdet ihr einen guten oder einen schlechten Einfluß ausüben. Wie
+ man es anfängt, um die größte Summe von Glück in diese Heimstätten
+ hineinzutragen, das ist eine Frage, die einen jeden unter euch
+ angeht. Ich sage euch das, damit ihr euch klar macht, daß jeder
+ einzelne von euch berufen ist, auf andere einzuwirken. Versäumt ihr
+ es, diesen Einfluß zum besten anderer auszuüben, so habt ihr den
+ Zweck verfehlt, den diese Anstalt verfolgt.
+
+ Vor allen Dingen müßt ihr euren Einfluß auf den Gebieten geltend
+ machen, welche den besten +Erfolg+ versprechen; unter diesen ist
+ es wichtig, unserem Volk ein möglichst hohes +Ideal des häuslichen
+ Lebens+ vor Augen zu stellen. Sehr oft mache ich die Beobachtung --
+ und zwar um so mehr, je länger ich unter unserem Volk umherreise --
+ daß viele Personen sich vorstellen, sie könnten kein behagliches
+ Heim haben, ohne sehr reich zu sein. Nun sind einige der fröhlichsten
+ und behaglichsten Häuser, die ich kenne, solche von Leuten, die
+ durchaus nicht wohlhabend sind, ja, die man geradezu arm nennen
+ könnte. Aber es waltet darin ein Geist der Ordnung und Behaglichkeit,
+ der macht, daß man sich darin so wohl fühlt, als ob man sich in dem
+ Hause sehr reicher Leute befände.
+
+ Ich will mich deutlicher erklären. In erster Linie muß in allen
+ Dingen, die das Hauswesen angehen, +Pünktlichkeit+ herrschen.
+ Beispielsweise +bei den Mahlzeiten+. Es ist unmöglich einen Hausstand
+ ordentlich zu führen, wenn nicht eine bestimmte Zeit für jede
+ Mahlzeit angesetzt ist und auch streng eingehalten wird. Es gibt
+ Häuser, in denen einmal um sechs, einmal um acht, einmal vielleicht
+ gar um neun Uhr gefrühstückt wird; das Mittagsbrot findet bald um
+ zwölf, bald um eins oder zwei statt und das Abendbrot um fünf, sechs
+ oder sieben; selbst dann fehlt oft die Hälfte der Familie, wenn das
+ Essen angerichtet ist. Auf diese Weise vergeudet man Zeit und Kraft
+ und macht sich überflüssige Mühe. Dagegen spart man Zeit und sehr
+ viel Arbeit, wenn man ein für allemal eine bestimmte Stunde für die
+ Mahlzeiten festsetzt und alle Familienmitglieder dazu angehalten
+ werden, um diese Zeit zu erscheinen. Durch dieses Mittel wird der
+ Familie viel Verdruß erspart und man gewinnt kostbare Zeit, um zu
+ lesen oder sonst etwas Nützliches vorzunehmen.
+
+ Was nun ferner die Methode anbelangt; gleichviel wie ärmlich ein
+ Hausstand ist, gleichviel wie wenig Geld im Hause ist, es ist immer
+ möglich, die häuslichen Verrichtungen methodisch zu ordnen. Wie viele
+ Hausfrauen gibt es wohl, die in dunkelster Nacht in ihre Wohnung
+ kommen und ohne Mühe ein +Streichholz finden können+? Daran erkennt
+ man die gute Hausfrau. Kann sie es nicht, so geht Zeit verloren.
+ Man spart Zeit und auch Mühe, wenn man die Streichhölzer an einem
+ bestimmten Ort aufbewahrt und alle Familienmitglieder daran gewöhnt,
+ sie stets wieder dort hinzulegen. Oft findet man die Streichhölzer
+ auf dem Tisch oder auf einem Wandbrett in der Ecke. In vielen Häusern
+ gehen täglich fünf bis zehn Minuten verloren, nur weil die Hausfrau
+ diesen einen kleinen Punkt vernachlässigt.
+
+ Das gleiche gilt vom +Wischtuch+. Das Wischtuch soll einen bestimmten
+ Platz haben und täglich wieder dorthin gelegt werden. Wer keinen
+ bestimmten Platz hat, um seine Sachen aufzubewahren, der muß alle
+ fünf bis zehn Minuten, sobald er einen Gegenstand braucht, bald in,
+ bald außer dem Hause auf die Suche gehen. Beständig muß er fragen:
+ ‚Hans‘, oder ‚Liese, wo ist dies oder jenes? Wo hast du es zuletzt
+ gehabt?‘ usw.
+
+ Ebenso verhält es sich mit dem +Besen+. Vor allen Dingen darf
+ in einem methodisch geordneten Hause der Besen nicht verkehrt
+ aufgestellt werden. Hoffentlich wißt ihr alle, welches das richtige
+ Ende eines Besens ist. In einem solchen Hause steht der Besen
+ niemals verkehrt und immer an seinem Platz. Wenn ein Gegenstand
+ verlegt ist und man danach suchen muß, so verbraucht man nicht bloß
+ Zeit, sondern auch Kraft, die nützlicher angewendet werden könnte.
+ Man muß einen +bestimmten+ Platz haben für seinen Mantel, für seinen
+ Hut, +kurz, für jedes Ding im Hause+.
+
+ Diejenigen Menschen, die für jedes Ding einen Platz haben, das sind
+ die Menschen, denen es nie an Zeit gebricht, zu lesen oder auch sich
+ zu erholen. Ihr wundert euch manchmal, daß die Leute in Neu-England
+ so viel Zeit übrig haben, um Bücher und Zeitungen zu lesen und doch
+ genug verdienen, um unserer Anstalt so viel Geld zuzuwenden, wie dies
+ geschieht. Diese Leute haben hinreichend Muße, sich geistig zu bilden
+ und mit allem, was in der Welt vorgeht, Fühlung zu behalten, weil in
+ ihren Häusern +alles so methodisch geordnet+ ist, daß sie die Zeit
+ erübrigen, die wir damit verlieren, uns mit Dingen abzugeben, die wir
+ eigentlich ganz genau wissen sollten.
+
+ Ich bin selten in eine von Schwarzen gehaltene Pension gekommen,
+ wo die +Lampe+ an ihrem Platze stand. Wenn man in ein solches Haus
+ kommt, muß nur zu häufig erst nach der Lampe gesucht werden; ist sie
+ schließlich gefunden, so ist sie leer; man hat vergessen, morgens
+ Petroleum aufzufüllen; dann fehlt es an einem Docht oder es muß ein
+ Zylinder geholt werden. Hat man endlich alles beisammen, so sind die
+ Streichhölzer verlegt!
+
+ Ich möchte wissen, wieviel Mädchen hier anwesend sind, die es
+ verstehen, ein Zimmer so herzurichten, daß ein Mensch darin
+ übernachten kann -- das heißt, es mit der richtigen Anzahl von
+ Handtüchern, mit Seife und Streichhölzern zu versehen und alles,
+ was ein Mensch zu seiner Bequemlichkeit braucht, zu beschaffen und
+ an seinen richtigen Platz zu stellen. Einige unter euch möchte ich
+ lieber nicht auf die Probe stellen. Diese Dinge müßt ihr lernen,
+ ehe ihr die Anstalt verlaßt, damit ihr anderen und euch selbst zum
+ Nutzen gereicht. Könnt ihr dies nicht, so bereitet ihr uns eine
+ Enttäuschung.“
+
+Weit interessanter und packender ist B. T. Washingtons
+Lebensbeschreibung, von ihm selbst verfaßt: „Vom Sklaven empor“
+(~Up from slavery~), eine der erschütterndsten und lebenswahrsten
+Biographien, die existieren. -- -- --
+
+Hatte ich in dem berühmten Neger einen lebendigen Roman vor mir
+gesehen, so bin ich ganz unvermutet und ungewollt in Boston eines Tages
+zur Abwechslung Mittelpunkt eines Romans geworden.
+
+[Illustration: ~BOSTON~
+
+~Harvard-Brücke über den Charles-River~]
+
+[Illustration: ~BOSTON~
+
+~Christian Science-Tempel~
+
+(~Im Vordergrund die ältere kleinere Kirche~)]
+
+Ich wurde nämlich eines Tages wie ein Medium zum Wiedervereiniger
+zweier sich seit Jahrzehnten suchender Brüder nicht allzu lange vor
+ihrem Lebensabend! Ich erzähle dies persönliche Erlebnis an dieser
+Stelle, weil es anschaulich zeigen kann, was alles in Amerika möglich
+ist. Eines Tages besucht mich in Cambridge, der Vorstadt Bostons, einer
+meiner Vettern aus Neuyork. Sein Vater forsche schon jahrelang nach
+einem Halbbruder, der einst mit 14 Jahren aus Bremen fortgelaufen,
+vermutlich in die weite Welt gewandert sei und von dem man niemals
+wieder etwas gehört habe. Er vermute aber stark, daß derselbe, wenn
+er überhaupt noch lebe, sich wahrscheinlich in der Union aufhalte.
+Nun habe er aber schon so manches amerikanische Adreßbuch nach seinem
+Namen durchgesehen, aber nicht gefunden. Aber hier -- so berichtete
+der Vetter aus Neuyork -- in Boston habe er heute im Adreßbuch ihren
+nicht häufigen Familiennamen -- den Namen eines Arztes in einer der
+feinsten Villenstraßen -- entdeckt. Da der Name in der Union sehr
+selten sei, bestehe stark die Möglichkeit, daß er am Ende wirklich
+der gesuchte Onkel sei! Nun getraue er sich aber nicht recht, den
+völlig fremden Herrn allein aufzusuchen. Wenn zwei gingen, so sei das
+schon besser. Die ganze Sache kam mir recht mystisch, abenteuerlich
+und nach europäischen Begriffen zwecklos vor. Und nun sollte ich,
+der ich selbst erst Ankömmling war, einem reichen Bostoner Arzt ins
+Haus fallen und ihn kurzerhand fragen, ob er etwa mein Onkel sei und
+vor etwa einem halben Jahrhundert aus Bremen fortgelaufen sei?! Nach
+europäischen Begriffen stellte ich mir die Wirkung solchen Fragens
+vor: Er würde uns wohl sofort aus dem Hause weisen. Dafür war es ja
+gut, daß wir dann wenigstens zwei waren. Trotz aller Bedenken ließ ich
+mich bewegen mitzugehen, denn ein bißchen Abenteuer zu erleben lockte
+mich. War nicht meine ganze Amerikareise auch ein bißchen Abenteuer?
+Und wo es etwas ganz Neues zu erleben gab, da war ich gern dabei. Also
+gingen bzw. fuhren wir mit der Elektrischen nach Boston. Wer aber
+sollte reden? Das war noch nicht entschieden. Natürlich mein Vetter,
+denn er sprach als langjähriger Amerikaner fließend englisch. Ich war
+also Zeus, und er machte den Merkur. Höchst gespannt war ich, ob wir
+überhaupt vorgelassen wurden! Was sollten wir denn eigentlich an der
+Tür sagen, wenn geöffnet wurde, weshalb wir kämen? Nun, bei einem Arzt
+mußte man ja vorgelassen werden. Aber nun war es Sonntag nachmittag,
+da kamen doch wohl in der Regel keine Patienten. Immerhin konnten wir
+zuerst so tun, als ob wir es wären ...
+
+Wir standen vor dem Haus, einer stattlichen zweistöckigen Villa im
+vornehmen Viertel Bostons, und zogen die Klingel. Richtig stand der
+Name da: ~Dr. med. N.~, gleich dem Namen meines Neuyorker Onkels.
+Der Name sah sehr heimatlich und familiär aus. Was für ein Geheimnis
+mochte sich hinter ihm verbergen? Aber vor dem Familiennamen stand
+noch ein Zwischenname, den es so leicht wohl in der ganzen Union nicht
+wieder gab. Er hatte französischen Klang. Diesen Namen gab es gewiß in
+unserer ganzen Verwandtschaft nirgends. So sank uns wieder der Mut und
+die Hoffnung, eine freudige Entdeckung zu machen. Indessen hatte auf
+unser Klingelzeichen ein Neger geöffnet. Wir stockten. Was sollten wir
+sagen? Wir standen da wie zwei dumme Jungen, die einen dummen Streich
+vorhatten. Wir sagten gar nichts. Und das war noch das Beste. So führte
+uns der Neger die Treppe in der Vorhalle hinauf und einfach gleich
+in das Wartezimmer und bat uns, Platz zu nehmen. Was wir taten. Das
+Wartezimmer bewährte seinen Namen auch an uns. Es duftete nach Medizin,
+und wir warteten geduldig etwa zwanzig Minuten und hatten alle Bilder
+an den Wänden schon mehrmals besichtigt und reichlich in ausliegenden
+Magazines geblättert. Man hörte, wie mit Teegeschirr geklappert
+wurde. Dann ging die Tür auf; es kam der Doktor und Hausherr, ein
+kleiner, untersetzter, schwarzer Herr mit goldenem Kneifer, der uns
+gewohnheitsmäßig, ohne uns genau anzusehen, in sein etwas dunkles
+Studierzimmer nötigte. Wir folgten und sahen uns beide an, und große
+Enttäuschung und innere Heiterkeit malte sich auf unseren Gesichtern,
+als wollten wir uns gegenseitig zu verstehen geben: Das soll unser
+Onkel sein? Ausgeschlossen! Erstens keine Spur von Ähnlichkeit. Und
+zweitens war der Mann vor uns wohl ein Mann Ende der Fünfzig, mein
+Onkel in Neuyork aber bereits hoch in den Sechzig.
+
+„~What can I do for you?~“ fragte der Hausherr uns höflich forschend,
+wer wohl der Patient wäre, als wir immer noch nichts sagten und
+doch beide offenbar recht gesund aussahen. Ja, was machten und
+sagten wir nun? Mein Vetter faßte sich ein Herz und bat zunächst um
+Entschuldigung, er sein kein Patient, er komme in einer persönlichen
+Angelegenheit. Der kleine Doktor machte ein Gesicht, als wollte er
+sagen: „Ich verstehe schon. Ihr wollt mich anpumpen, aber ich gebe
+nichts!“ Aber mein Vetter fuhr, ohne sich beirren zu lassen, fort:
+„Er selbst heiße auch wie der Herr Doktor, und ob der Herr Doktor
+vielleicht einen Bruder gleichen Namens habe?“ „Nein!“ kam es sofort
+prompt und bestimmt und recht erstaunt ob der persönlichen Anfrage
+zurück. Da erhoben wir uns auch sofort und verabschiedeten uns
+höflichst unter wiederholten Entschuldigungen, nicht ohne daß ich auch
+meinen Namen noch und Wohnsitz nannte, mein Vetter desgleichen. „Ach,
+ich dachte zuerst,“ sagte der Doktor, „die Herren wären vielleicht
+Matrosen in Zivil, von denen ich manchmal Sonntag nachmittags
+aufgesucht werde!“ Er verbeugte sich und schloß hinter uns die Tür. Der
+Neger geleitete uns dienstfertig hinaus. „Wir -- Matrosen?“ Es war ja
+zum Lachen.
+
+Es war also nichts! Wir waren wieder draußen. Ich fuhr zuerst gegen
+meinen Vetter los: „Auch keine Spur von Ähnlichkeit!“ Und mein Vetter:
+„Und er hat ja gar keinen Bruder!“ Also war die Sache klar. Mein Vetter
+überlegte, ob er noch heute wieder abreisen sollte, um seinem Vater
+in Neuyork das erneute Mißgeschick mitzuteilen, um eine Enttäuschung
+reicher. Armer Onkel! Aber wir beschlossen, den Abend doch noch
+gemeinsam zu verbringen, und erst anderntags um Mittag wollte mein
+Vetter nach Neuyork zurückfahren.
+
+Als ich an diesem Abend schließlich in mein Logis zurückkomme, heißt
+es, ein Fräulein aus Boston sei dagewesen von einem Herrn ~Dr.
+med. N.~ und habe nach mir gefragt, sei aber, da ich nicht da war,
+unverrichteter Sache wieder gegangen! Nach einer halben Stunde klingelt
+auch schon das Telephon: Herr K. ~N.~ aus Boston! Er läßt die beiden
+Herren bitten, wenn möglich, morgen Vormittag doch noch einmal bei
+ihm vorzusprechen! -- Donnerwetter! Also doch etwa ein Onkel? Aber
+es war ja unmöglich! Er hatte ja keinen Bruder! Und es war doch auch
+keine Spur von Ähnlichkeit zu sehen .... Oder wollte er uns nur noch
+einmal sprechen, da unsre Unterhaltung etwas reichlich kurz und schnell
+gewesen war?
+
+Ich konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dann fuhren wir wieder
+hin, klingelten und wurden diesmal gleich in den Familiensalon geführt.
+Das war sonderbar! Herr ~Dr. N.~ erschien, trat sofort auf mich zu
+und sagte wörtlich: Mein lieber Herr B., Ihr Vater hieß mit Vornamen
+soundso, ist im Jahre 18.. geboren, lebte in Bremen und hatte zwei
+Schwestern, die hießen B. und A... Ich war sprachlos vor Staunen, als
+hätte mich ein Donnerschlag gerührt. „Woher wissen Sie das?“ rief ich,
+„sind Sie ein Wahrsager und Hellseher oder haben Sie telepathische
+Fähigkeiten?“ „Nichts von alledem,“ gab der Doktor zurück, „aber als
+Sie gestern aus meinem Hause gingen, sah ich Ihnen hinter den Gardinen
+nach. Sie drehten sich noch einmal um. Ich sah jetzt erst deutlich
+Ihr Gesicht. Ihr Gesicht, Ihr Gang, Ihre Art zusammen mit Ihrem Namen
+stellten mir auf einmal wie eine Vision deutlich Ihren Vater vor bald
+fünfzig Jahren in Bremen wieder vor Augen, der damals wohl etwa in
+Ihrem Alter war und Ihnen auf ein Haar glich, und damit tauchten auf
+einmal Welten der Erinnerung in mir auf, die längst in mir versunken
+waren. Ich werde Ihnen das alles noch erklären. Erst lassen Sie mich
+aber meine Frau hereinrufen.“ Er ging ins Nebenzimmer. Wir wußten uns
+vor Staunen gar nicht zu fassen. Also, er war unser Onkel!! Dann trat
+Frau ~Dr. N.~ herein, der wir uns vorstellten und die mit einem etwas
+auffallenden Akzent englisch sprach -- deutsch war es jedenfalls nicht
+-- und ihre „lieben Neffen“ herzlich begrüßte. Dann fuhr Doktor ~N.~,
+sich an meinen Vetter wendend, fort: „Ihr Vater -- mein Bruder -- heißt
+wohl mit Vornamen B .... Ich bin in der Tat der verschollen gewesene
+Bruder, ich bin wirklich Ihr Onkel, den Sie noch nie gesehen haben und
+von dessen Dasein Sie nichts wissen konnten, und Sie sind meine Neffen.
+Seien Sie uns herzlich willkommen!“
+
+Wir wußten beide noch immer nicht, ob wir träumten, im Kino saßen,
+einen unglaublichen Roman hörten, in der Hypnose, Trance oder sonst was
+lebten, oder ob es alles Wirklichkeit war. Aber er wußte ja die Namen
+genau und die Daten. Es konnte gar kein Zweifel an der Echtheit des
+Onkels sein. Glücklicher Onkel in Neuyork! Wenn er das erfuhr! Aber
+wie war das alles nur möglich? Nun erzählte der neue Onkel weiter. Wir
+hatten uns alle indessen am offenen Feuerplatz des Kamins in bequemen
+Sesseln gemütlich niedergelassen und lauschten der unerhörten Mär:
+„Ich bin in der Not vor beinahe fünfzig Jahren,“ begann der Doktor,
+„aus Bremen fort aufs Schiff gegangen. Wir waren sehr viele Kinder.
+Vater hatte nicht für uns alle Platz. Und eine Schuldummheit kostete
+mir den weiteren Aufstieg. Ich schämte mich; Vater verstand mich auch
+nicht recht, da kam die Weltsehnsucht und Abenteurerlust über mich,
+wie es schon manchen Bremer und Hamburger Jungen gepackt hat. So ging
+auch ich fort in die Welt mit dem Entschluß, nicht eher etwas von mir
+hören zu lassen, bis ich etwas geworden wäre. Die Welt ist weit. Ich
+landete nach manchen Irrfahrten in Le Havre in Frankreich. Von dort
+kam ich nach Paris und trat als Schreiber bei einem Rechtsanwalt in
+die Lehre. Dem guckte ich allerlei Juristerei ab, lernte des Abends
+fleißig aus Büchern und faßte den Plan, wenn möglich, noch Jura zu
+studieren. Aber woher dazu das Geld nehmen? Da war der Suezkanal neu
+eröffnet. Das ist meine Chance, dachte ich, und ging nach Ägypten! Aber
+dort packte mich bald das gelbe Fieber, wochenlang lag ich bewußtlos
+zwischen Leben und Tod. Als ich wieder genas, kannte ich selbst mich
+kaum wieder. Alle Erinnerung war in mir wie ausgelöscht. Ich kehrte
+nach Frankreich zurück, trat wiederum bei einem Notar ein und wurde
+nach einigen wohlgelungenen Arbeiten sein Bureauchef, ja Assozié. An
+der Sorbonne legte ich juristische Prüfungen ab, heiratete meines
+Chefs einzige Tochter, meine liebe Frau -- ich sah zu meiner neuen
+Tante, die lächelte, hinüber, also eine Französin! -- und übernahm
+nach seinem Tod seine Praxis. Aber nach dem 70er Krieg war es für
+einen Deutschgeborenen schwer in Frankreich voran zu kommen. Ich
+siedelte deshalb nach Amerika über. Von dem Erlös der verkauften Praxis
+studierte ich hier in Boston an der Medical School Medizin und ließ
+mich schon vor über zwanzig Jahren in Boston als Arzt nieder. Unser
+Haus haben wir seit fünfzehn Jahren. Gestern, als ich Ihr Gesicht sah
+und in Ihnen -- er meinte mich -- wieder Ihren Vater wie einst vor mir
+sah, tauchte nach langer Zeit meine ganze Jugend wieder empor.“ Er
+schwieg. Auch niemand von uns wagte zu sprechen. Wunderbare Lebensläufe
+und Menschenschicksale! Tote schienen lebendig zu werden ...!
+
+Nun wurden die Kinder hereingerufen, darunter ein artiges Fräulein trat
+ein -- sie war es, die mich gestern in Cambridge zu treffen suchte
+-- aber keiner von uns wußte zuerst, ob wir uns nun wirklich gleich
+als Vetter und Base betrachten sollten. Und bald flogen Telegramme
+nach Neuyork und nach Deutschland, und in wenigen Tagen lagen sich
+totgeglaubte und verschollene Brüder wieder in den Armen! Und ich
+mußte der Mittelsmann sein, von dem aus der Funke des Erkennens und
+Wiederfindens übergesprungen war! Mit diesem einen Ereignis hatte sich
+eigentlich schon meine ganze Amerikareise gerechtfertigt und gelohnt.
+Wie rund ist die Welt und wie klein!
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 12: Gib acht auf die Maschine!]
+
+[Footnote 13: Bessere Lage, größerer Lohn!]
+
+[Footnote 14: Man vgl. auch Feuchtersleben, Diätetik der Seele.]
+
+
+
+
+An der Harvard-Universität.
+
+
+Eine meiner Hauptabsichten meiner Reise war, nicht einen verschollenen
+Onkel wieder zu entdecken, sondern u. a. auch das amerikanische
+Universitätsleben näher kennenzulernen und den damals noch lebenden
+Professor William James zu einer deutschen Doktordissertation zu
+„verarbeiten“.
+
+So war ich also bald nach meiner Ankunft in Boston mit der
+„Cambridge-car“ die prächtige Harvardbrücke über den breiten
+Charles River hinüber nach der beinahe 100000 Einwohner zählenden
+Universitätsvorstadt Cambridge gefahren, die in ihrem Mittelpunkt das
+in der ganzen Union hoch angesehene, schon aus dem 17. Jahrhundert, der
+Puritanerzeit, stammende Harvard College mit seinen Hochschulen birgt.
+
+Cambridge[15] selbst machte zuerst keinen allzu erhebenden Eindruck.
+Erstlich regnete es fürchterlich bei meiner Ankunft, und überall
+starrte mir Schmutz entgegen. Aber auch an trockenen Tagen pflegten
+wahre Wolken von Staub die Hauptverkehrsstraßen entlang zu fegen.
+Auch schien die Stadt mir unansehnlich und recht unregelmäßig gebaut.
+Boston selbst wirkte dreimal vornehmer. Aber je weiter man nach
+Cambridge hinein kam, desto anziehender wurde es. Und als ich durch
+die „Quincy Street“ in den prachtvollen Ulmenpark des Universitätshofs
+eintrat, fand ich es geradezu reizend und anheimelnd. Eine angenehme
+Stille lag über den vielen und zum Teil recht zerstreut liegenden
+Universitätsgebäuden mit ihren Vorlesungshäusern, Instituten,
+Seminaren, Speisehallen, Wohngebäuden der Studenten, die alle in den
+sog. „~dormitories~“, einer Art freien Studentenpensionaten (aber
+ohne Verpflegung) zusammenwohnen und auch in großen z. T. vornehm
+ausgestatteten Speisehallen zusammenessen, ausgebreitet. In einer
+sehr stillen Allee in einer der kleineren, älteren, aber äußerst
+traulichen, efeuumsponnenen ~halls~, in der schon Emerson gelehrt hat,
+fand ich meinen Wohnsitz. Der Hausmann (~janitor~) empfing mich auch
+als „German“ sehr freundlich und geleitete mich zu meinem „~furnished
+room~“ (möbl. Zimmer). Auch ein älterer hilfsbereiter Student, der mir
+später ein lieber Freund wurde, Mr. Arthur E. W., instruierte mich über
+alles zunächst für mich Notwendige. Gottlob aber, daß ich Englisch
+verstand und sprach!
+
+In meinem „~furnished room~“ fand ich alles zum Leben Notwendige
+beisammen, einen großen behaglichen Kamin, den ich aber selbst zu
+heizen hatte! In Amerika gilt ja überall: „Selbst ist der Mann! Da
+tritt kein andrer für ihn ein, auf sich selber steht er da ganz
+allein!“ Ich habe das Heizen des offenen Kamins auch redlich oft drei-
+bis viermal versucht, die aufgeschichteten Holz- und Kohlenstöße
+kunstgerecht zu entfachen und dann hübsch in Brand zu halten, aber der
+ungewohnte amerikanische Kamin hatte seine Tücken und wollte sich
+wahrscheinlich auch von so einem „~damned German~“ nicht ohne weiteres
+anheizen lassen. Aber auch in der deutschen Universitätsstadt Tübingen
+ging es zu meiner Zeit einem sehr gescheiten Stiftler ebenso, so daß er
+schließlich dem dortigen Hausmann verzweifelt sein Leid klagte. Der kam
+und sagte lakonisch: „Wenn i das Fujer’ wär’, i ging au aus!“ So kam
+auch hier schließlich ein rettender Engel und half dem unpraktischen
+Deutschen aus der kalten Hölle. Aber noch öfters saß ich ungeheizt,
+natürlich gerade dann, wenn etwa einer der Herren Professoren mir
+seinen liebenswürdigen Gegenbesuch machte, so daß mir noch heute der
+alte weißhaarige, in Samaria eifrig ausgrabende Professor Lyon leid
+tut, der so fröstelnd in meinem hohen strohgepolsterten Lehnstuhl saß
+und sicher mit wissenschaftlicher Schärfe im Stillen die Ursache der
+Kälte in der sonst warmen Hall zu ergründen suchte. Bei mir lagen eben
+die mächtigen Holzklötze, die sonst in den offenen Kaminen schwelen,
+meist nur angekohlt und fröhlich rauchend, aber ohne zu wärmen hinter
+ihrem Gitter, obwohl ich nachher so ziemlich die höchste Rechnung für
+Heizmaterial am Ende des Semesters zu begleichen hatte!! Wenn nicht
+in dem Januarblizzard, der einen meterhohen Schneefall brachte und
+-20° ~R~ ein anderer weit herumgekommener amerikanischer Freund, Mr.
+Moore, der besonders für Konstantinopel, die Türken und die Griechen
+schwärmte, sich meiner erbarmt oder mein japanischer Freund Mr.
+Ashida, heute in Kyoto Dekan der Doshisha-Hochschule, mich in sein
+wohlgewärmtes trauliches japanisches Zimmer mit hinübergenommen hätte,
+wäre ich wohl eines Tages eines seligen Kältetodes gestorben ...
+
+Weiter enthielt mein „~furnished room~“ einen sehr schönen Schreibtisch
+mit jenem obenerwähnten strohgepolsterten Lehnstuhl, einem
+Schaukelstuhl, zugleich Ehrensitz für hohen Besuch, zwei Bücherregale,
+ein paar einfache Stühle und einen kleinen Alkoven, in dem das Bett
+stand, und von dem aus ich den schönsten Blick in die malerischen
+und träumerischen Universitätsanlagen hatte. Hier sah ich das letzte
+goldene Herbstlaub des „~indian summer~“ zu Boden wirbeln, hier sah
+ich den feuchten Novembernebel um die Bäume rieseln, hier sah ich
+den Schnee in wilden Massen niederwirbeln und auf leisen Sohlen den
+amerikanischen Frühling sich nahen ...
+
+Mein großer grüner Koffer war zuerst noch nicht da. So legte ich
+mich die ersten Nächte im Mantel zu Bett. Meine Photographien von
+den Lieben und Freunden daheim stellte ich auf das Kamingesims mit
+der merkwürdigen Empfindung, an 4000 Meilen von ihnen entfernt zu
+sein. Einige deutsche Kunstwartbilder hing ich mir als Schmuck
+an die Wand. Drüben und neben mir zogen in ähnlicher Weise meine
+studentischen Nachbarn ein. Es entwickelte sich bald zwischen uns ein
+recht freundschaftlicher Verkehr. So war ich wieder einmal Student.
+An Semestern war ich wahrscheinlich der älteste im Hause, wenn auch
+nicht an Jahren. Denn die amerikanischen Studenten haben oft schon
+merkwürdige Lebensläufe hinter sich, ehe sie zu studieren anfangen.
+
+Nach meiner Ankunft in Cambridge machte ich sogleich meinen
+schuldigen Antrittsbesuch beim Herrn Dekan der Fakultät („~School~“),
+einem äußerst liebenswürdigen älteren Herrn mit weißem englischen
+Schnurrbärtchen, der mein zum Teil noch sehr fehlerhaftes Englisch
+„~marvellous~“ nannte und bedankte mich für die gütige Einladung
+nach Harvard. Überall fand ich eine sehr große Liebenswürdigkeit,
+Höflichkeit, Gastfreundschaft und ein unbeschränktes Entgegenkommen,
+obwohl ich selbst mit Kritik und recht freimütiger Beurteilung
+amerikanischer Verhältnisse gar nicht zurückhielt, aber überall stieß
+ich auch auf einen höchst ausgeprägten Nationalstolz. Davon könnten
+wir mehr haben! Man war stets in allen Dingen moralisch, technisch,
+politisch, wirtschaftlich wie selbstverständlich überzeugt, das Beste
+und Größte „in der Welt“ zu besitzen. An +Quantität+ aller Verhältnisse
+überragt ja auch in der Tat die Union alle Länder der Welt. Vor
+Deutschlands Wissenschaft neigte sich drüben alles in Ehrfurcht!
+
+Am anderen Tag begab ich mich zu den Mahlzeiten zum ersten Male nach
+einer der gemeinsamen Universitätsspeisehallen. Studenten als Kellner
+weiß gekleidet -- in Amerika gar nichts Ungewöhnliches! -- bedienten
+selbst, nahmen die „~down-stairs-orders~“[16] entgegen, die man auf
+kleine Kärtchen schrieb, und brachten binnen wenigen Minuten von
+unten herauf alles Gewünschte. Längst vor dem Krieg war in Amerika
+der „Werkstudent“ schon fast die Regel. Auch für den wohlhabenden
+Studenten galt es schon immer drüben als unvornehm, sein Studiengeld
+vom Vater zu fordern statt selbst zu beschaffen! So arbeitete in
+der Universitätsdruckerei nachts als Setzer ein Millionärssohn!
+Die meisten „arbeiteten“ in den langen akademischen Sommerferien,
+die drüben etwa ein volles Vierteljahr umspannen, als Kellner in
+den großen Sommerhotels auf dem Lande, oder als Sprachlehrer,
+Bankangestellter, Straßenbahner, Organist, Hotelportier u. dgl. Ich
+kannte einen Studenten, der tagsüber Vorlesungen hörte und nachts als
+Nachtpförtner in seinem Bostoner Hotel seine griechische Grammatik
+lernte! So wurde auch ich öfters gefragt, ob ich nicht einen „~job~“
+(Arbeitsstelle) anzunehmen wünsche. Ich habe mir dann auch neben meiner
+Universitätsarbeit mit deutschen Stunden u. a. noch etwas Taschengeld
+verdient, bis einer der „~freshmen~“ (unterster Jahrgang im „College“),
+den ich unterrichtete, mir eines Tages erklärte, „mein Deutsch sei
+nicht richtig; was ich ihn gelehrt, habe ihm der amerikanische
+Professor als Fehler angestrichen“!! Da habe ich diesem „Frechmän“
+beinahe eine ... -- erklärt, daß er nicht wiederzukommen brauche! Und
+verzichtete auf solchen „~job~“!
+
+Am gemütlichsten und besten aß man in der prächtigen, gotischen
+„Memorial Hall“, die mit ihrem hohen Glockenturm wie eine große Kirche
+alle anderen Universitätsgebäude überragte. Dafür hielt ich sie zuerst
+auch, bis ich über ihre wahre Bedeutung aufgeklärt wurde. Man saß
+hier an kleinen Klubtischen zu vieren oder sechsen -- gegen tausend
+Studenten aßen hier täglich! -- und konnte nach Herzenslust für einen
+festen Wochenpreis von nur 5 Dollar bestellen und essen, besonders wenn
+man sich mit dem Neger gut stellte (das war hier unser alter guter
+Jackson), was und wieviel man begehrte. Und ich stellte mich daher
+immer besonders gut mit ihm! Da reichte mir seine braungelbe Hand
+unermüdlich hin, wonach das Herz verlangte. Was für fröhliche Stunden
+haben wir in Memorial Hall verlebt! Mittags um zwölf Uhr zum „~lunch~“
+und abends fünf oder halb sechs zum „~dinner~“, der Hauptmahlzeit. Da
+fand sich an unserem Tisch ein deutscher Student der Philologie aus
+Heidelberg ein, von dem man rühmte, daß seine englische Aussprache
+besser sei als die der Eingeborenen! Mit dem Grad eines ~A. M.~
+(~Master of arts~) kehrte er in die Heimat zurück. Weiter verkehrte
+bei uns ein Privatdozent der Chemie aus Prag, der heute ordentlicher
+Professor in München ist, dazu drei bis vier junge smarte Amerikaner,
+ein Pflanzerssohn aus dem Südstaat Carolina, dessen Devise war: „Wenn
+dir einer dumm kommt, box ihn nieder!“; ferner der gereifte Bruder
+eines angesehenen Baptistenpredigers in Boston und endlich ein dritter
+Schmächtiger auch aus dem Süden, der ungeheuer viel Pfeffer auf seine
+Speisen warf und dazu unbändig rauchte und dessen Losung war: „Was
+sich dir in den Weg stellt, schieß nieder!“ Typisch für die aus den
+Pflanzer- und Südstaaten! Alle meine Bekehrungsversuche, seine Sitten
+und Anschauungen zu mildern, scheiterten. Unsere Sprache untereinander
+war nur englisch. Und das war gut. Nur der Prager Chemiker -- ein
+echter Deutschösterreicher -- konnte es nicht lassen, wenn er den
+Heidelberger und mich einmal allein am Tisch traf, doch mit seinem
+urgemütlichen wienerischen Dialekt herauszurücken, was dort drüben
+doppelt heimatlich klang ... Auch fand er, die amerikanischen Girls,
+auf die er manchmal ein Auge warf, „fräßen einem richtig aus den
+Händen“ ...
+
+Ich gewöhnte mich schnell an die amerikanisch-akademische
+Tageseinteilung. Früh acht Uhr besuchte ich gern der Sitte gemäß
+die „~morning prayers~“ in Appleton Chapel, der traulichen
+Universitätskapelle. Hier gab es -- echt amerikanisch --
+„~five-minutes-addresses~“! (Ob wir Deutsche das auch fertig brächten?)
+Dann sang ein kleiner melodischer Studentenchor. Von da ging man zum
+Frühstück, das in Amerika mit Früchten beginnt und mit Koteletts
+endigt. Von neun bis zwölf hörte man Vorlesungen. Punkt zwölf
+erschien man wolfshungrig zum „~lunch~“, daran schloß sich ein kleiner
+Spaziergang am Ufer des Charles River oder ein Tennisspiel. Von zwei
+bis fünf Uhr war man wieder entweder im Colleg oder Seminar, übte oder
+las in der Bibliothek, falls man nicht einen Klubvortrag besuchte.
+Ehe man zum ~dinner~ ging, ging es in die akademische Turnhalle[17],
+um rasch einige „~physical exercises~“ in der ganz vorzüglich mit
+den raffiniertesten Geräten ausgestatteten Universitätsturnhalle
+vorzunehmen. Danach nahm man allgemein ein sehr ungeniertes Bad, das
+dem lateinischen Namen der Turnhalle voll entsprach. Nach solchen
+wohlberechneten Vorbereitungen schmeckte das ~dinner~ in Memorial Hall
+einzigartig prächtig. Um sieben Uhr rief die Hausglocke der ~hall~
+zum „~evening-prayer~“ und danach war noch etwa drei bis vier Stunden
+stille Arbeitszeit, um Bücher zu lesen, Referate anzufertigen u. dgl.
+Ich bekam vor der Quantität geistiger Arbeit der amerikanischen
+Studenten allen Respekt!
+
+Gleich zu Anfang des Semesters fanden die großen offiziellen
+Feierlichkeiten der +Einführung des neuen Universitätspräsidenten+
+statt. Die „Registration“ (bei uns „Immatrikulation“) war hingegen sehr
+einfach und unformell. Man wurde schnell mit seinen Personalien in ein
+Buch geschrieben. Das war alles. Aber die Inauguration des Präsidenten
+war höchst feierlich und großartig. Vierzig Jahre lang hatte der
+ehrwürdige, wohl über achtzigjährige ~Dr.~ Eliot das Universitätszepter
+geführt. (Die Universitätsrektoren amtieren drüben auf Lebenszeit!) Nun
+galt es seinen Nachfolger auf Lebenszeit einzuführen, ~Dr.~ Lowell.
+Über 200 Professoren aus dem ganzen Land waren dazu zusammengeströmt,
+Harvard zu Ehren. Vor der Haupthalle der Universität, einem schlichten
+hellen Gebäude im Universitätspark, war ein Podium aufgeschlagen, auf
+dem alle die Ehrengäste und der eigene Lehrkörper in ihren feierlichen
+Doktortalaren unter freiem Himmel Platz nahmen. Über der ganzen Feier
+lag blendender Sonnenschein, und zu vielen Hunderten füllte die
+akademische Jugend vom jüngsten „~freshman~“ bis zu den gereiften
+„~graduates~“ den weiten Park. Unter den Gästen wurde besonders der
+neuangekommene deutsche Austauschprofessor, ein berühmter Berliner
+Historiker, geradezu überschwänglich begrüßt als „~not surpassed by
+living men~“[18]. Der neue Präsident hielt eine lange Ansprache über
+Aufgaben und Ziele der amerikanischen Universitätsbildung und trat ein
+für freiere Wahl der Vorlesungen und bessere Vorbildung der Studenten
+nach -- deutschem Muster!
+
+Denn der amerikanische Lehrbetrieb ist in vielen Stücken ein sehr
+anderer als bei uns. Im selben Alter, in dem wir in Deutschland in die
+Schule eintreten, tritt zwar auch der Amerikaner in die Schule ein, und
+zwar jeder, so will es die jegliche Klassenunterschiede verabscheuende
+Demokratie, die auch in der Eisenbahn nur eine Klasse erlaubt, in die
+Volksschule (~public~ oder ~grammar school~), die gewöhnlich sechs
+Jahrgänge umfaßt. Freilich erlaubt es das amerikanische System den
+Begabteren und Fleißigen, Klassen zu überspringen und so in wenigen
+Jahren das Ziel zu erreichen, das zur nächsthöheren Schulgattung,
+der Oberschule (~high school~), die etwa unserer Realschule oder
+den mittleren Klassen des Gymnasiums entspricht, hinführt. Erst im
+Alter von dreizehn, vierzehn Jahren beginnt der Amerikaner Sprachen
+zu lernen. Bereits die ~High school~-Kurse sind „wahlfrei“, und so
+steht die Wahl zwischen Deutsch, Französisch, Latein oder Griechisch
+oder mehreren von diesen zusammen offen. Nach vierjährigem ~High
+school~-Besuch wird der Amerikaner reif, die Aufnahmeprüfung zum
+„~college~“ zu bestehen. Das ~college~ bildet den Grundstock der
+Universität und kann eigentlich mit keiner deutschen Einrichtung
+verglichen werden. Das „~college~“, englischen Ursprungs, dient
+keineswegs dazu, auf die sogenannten „akademischen“ Berufe, wie
+wir sagen, vorzubereiten, sondern den Amerikaner zum „Gebildeten“
+und „~gentleman~“ in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht
+heranzubilden. Die Lehrgegenstände des ~college~ sind völlig
+wahlfrei und entsprechen ihrem Gehalt nach ungefähr dem, was wir in
+den Oberklassen des Gymnasiums und in den ersten Semestern auf der
+Universität lernen. Nur darf nie vergessen werden, daß nirgends in
+Amerika genau der gleiche Maßstab, dieselben Anforderungen und die
+gleiche Güte vorherrscht. Die Teile des Riesenlandes sind so ungeheuer
+voneinander verschieden, vor allem der Westen und Süden vom Osten,
+den alten Neuenglandstaaten mit dem geistigen Zentrum Boston und der
+Harvard-Universität, daß die qualitative Gleichheit der Schulen und
+~colleges~ ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Ein kleines ~college~ des
+Westens lehrt vielleicht nicht mehr, als was bei uns ein Tertianer oder
+Untersekundaner lernt, während der ~college~-Student in Harvard Zutritt
+zu Kursen hat, die keiner deutschen Universität Schande machten. Der
+~college~-Student, der im gleichen Alter das ~college~ bezieht, wie wir
+etwa die Universität, obwohl er noch nicht dieselbe wissenschaftliche
+Höhe erreicht hat, kann, weil er völlig freie Hand in der Wahl
+seiner Vorlesungen hat, schon auf dem ~college~ spezialisieren, wenn
+er später in eine Fachschule (~Graduate school~), die am ehesten
+unseren Fakultäten entspricht, einzutreten gedenkt. Die meisten aber
+halten sich nur im ~college~ auf, um eine „~liberal education~“ zu
+gewinnen, um ihre Allgemeinbildung zu vollenden, d. h. sie haben kein
+spezielles wissenschaftliches Interesse, hören Literatur, Geschichte,
+Philosophie und suchen nach vierjährigem Lehrgang den Grad eines ~B.
+A.~ (~Bachelor of arts~) zu erhalten, der für eine bestimmte Anzahl (17
+oder 18 dreistündiger) tüchtig durchgearbeiteter Vorlesungen verliehen
+wird. Diejenigen, die den ~A. B.~ haben, sind die „Gebildeten“, in
+welchem Beruf, Geschäft, Technik oder wo sonst sie sich auch später
+befinden mögen. Diejenigen, die Rechte, Philologie, Theologie und
+Medizin, Mathematik und Naturwissenschaft eingehend studieren wollen,
+um Richter, Prediger, Professor u. dgl. zu werden, treten in die
+„~graduate school~“ ein, die allein denen, die den ~degree~ des ~B.
+A.~ besitzen, offen steht. In der ~graduate school~ (~Law School~,
+~Medical and Divinity School~ und ~Faculty of Arts and Sciences~),
+die unseren mittleren und letzten Semestern entspricht, wird etwa
+drei bis vier Jahre gearbeitet und der Doktorgrad erreicht. Aber
+das Studentenbild in der ~graduate school~ ist von dem unseren auch
+wieder recht verschieden. Der ~college~-Student ist zwar in dem Alter
+unserer Studenten, es fehlt ihm aber manchmal an dem eigentlichen
+„wissenschaftlichen“ Interesse, dafür ist sein ganzes Gehaben
+vielleicht ein ganz Teil jugendlicher als das unserer Studenten. Der
+~graduate~-Student aber in der ~graduate school~ übertrifft meistens
+unser Studentenalter beträchtlich; denn durchaus nicht alle treten
+sofort nach Vollendung ihres ~college~-Studiums in eine Fakultät ein,
+sondern viele arbeiten zuerst eine Zeitlang in einem praktischen
+Berufe und verdienen sich das teure Studiengeld erst selber. So
+kann das für uns merkwürdige Verhältnis eintreten, daß z. B. einer
+bereits eine eigene Pfarrstelle auf dem Lande inne hat, die ihm
+mit der sonntäglichen Predigt den Unterhalt für sein theologisches
+Studium gibt, das er jetzt erst eigentlich beginnt (!!). Andere sind
+in einem Geschäft gewesen oder haben an einer Schule bereits einige
+Zeit +gelehrt+; andere sind während ihres Studiums noch in allerlei
+Nebenberufen tätig. Ein „Instruktor“ in Nationalökonomie spielte gar in
+einem Professorenhause den Hausmeister, versorgte morgens um sechs Uhr
+im Winter die Dampfheizung des Hauses mit Kohlen; wieder ein anderer
+war Organist in einer Kirche!
+
+Es existierte nie Klassengeist; der Student bildete nie eine
+soziale Sonderschicht. „Arbeit“ war drüben immer ein allgemeiner
+sittlich-demokratischer Begriff, der für den Studenten sich keineswegs
+auf wissenschaftliche allein beschränkte. Andererseits ist auch die
+wissenschaftliche Arbeit nicht höher eingeschätzt als andere. Jede
+Arbeit ist „~work~“, gleichgültig, was für eine; ausgenommen vielleicht
+Stiefelputzen, das für den Amerikaner einen antidemokratischen Geruch
+mit sich führt. Nur der, der arbeitet, ist geachtet. Die Achtung
+bezieht sich aber fast allein auf die Quantität der geleisteten
+Arbeit und die mit ihr verbundenen Einnahme, nicht so sehr auf
+ihre qualitative Eigenart! Die Art des Studiums ist daher von der
+unseren recht verschieden. Während wir kein höheres Ideal als das der
+„akademischen Freiheit“ kennen, d. h. der völligen Selbstbestimmung
+in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht, ist dieser Begriff
+der amerikanischen Universität, mit Ausnahme der Wahlfreiheit der
+einzelnen Fächer, völlig fremd. Das ~college~ und die ~graduate school~
+ist eine höhere und höchste Art „Schule“, nichts anderes. So hat der
+einzelne Student seinen vorgeschriebenen (!) Platz im Kolleg, er hat
+seine genau bis auf Stunde und Seite „vorgeschriebene“ Lektüre zu
+jeder Vorlesung aufzuarbeiten; er hat oft wöchentliche, monatliche
+oder mindestens halbjährliche Prüfungen zu bestehen, wöchentliche oder
+monatliche schriftliche Referate und Aufsätze oder größere Arbeiten
+einzuliefern, die vom Professor korrigiert und zensiert werden!
+Fernbleiben vom Kolleg ist völlig unbekannt, Bummeln ausgeschlossen.
+Der Student sucht nicht seinen eigenen Weg in der Wahl seiner
+Lektüre, in seiner Privatarbeit und in seinen Spezialstudien, die
+ihn vielleicht dieses Semester dahin und das nächste dorthin führen,
+sondern mit der Wahl eines Kollegs ist sein Weg Schritt für Schritt
+genau vorgezeichnet. Eine solche Fülle der Lektüre und Aufsätze
+überschüttet ihn, daß kaum ein Quentchen Zeit für eigene Wege übrig
+bleibt. So rechnet man konsequent sehr genau mit der Seitenzahl (!)
+der Lektüre, die in diesem und jenem Kolleg vorgeschrieben ist; die
+Aufsätze werden nach der Vielstelligkeit der Zahl ihrer Worte von den
+Studenten taxiert und mit Mindestforderungen der Zahl der Seiten und
+Worte abgegrenzt(!); das Interesse richtet sich auf die +Anzahl+ der
+dreistündigen Vorlesungen, die einer bewältigt, die +Zensuren+, die
+er für seine „~papers~“ davonträgt, und den „~degree~“ (akademischen
+Grad), den er zu bestimmter Zeit mit der Aufarbeitung einer +Anzahl+
+von Vorlesungen erlangen kann, und ~last not least~ -- das Einkommen
+der Stelle, die er mit einem ~Harvard-degree~ zu erlangen hofft!
+Ich will nicht zu schwarz malen. Aber dasselbe quantitative Urteil,
+das hier von jedem neuen Gebäude oder kostbaren Gemälde vor allen
+Dingen den Preis zu nennen weiß, das jede neue gute Institution mit
+dem Titel „~the best and highest in the world~“ belegt, breitet
+seine unheilvollen Schwingen auch über die Wissenschaft. Es war für
+mich ein sehr eigentümlicher Eindruck, als ich zum erstenmal in
+den Lesesaal der Universitätsbibliothek trat und die langen Reihen
+Bücher sah, -- genau bezeichnet für jeden Kurs, keins weniger und
+mehr als vorgeschrieben (!) -- und eine Fülle lesender Studenten --
+aber nur in „vorgeschriebener“ Lektüre von Seite soundsoviel bis
+Seite soundsoviel, kein Wort mehr oder weniger -- da ist der Geist
+freier, ungebundener, eigener kritischer Wissenschaft erstickt im
+Staub pedantischen Schulgeistes, der rechnet, statt wägt, ißt, aber
+nicht selbst verdaut, „lernt“, aber nicht „studiert“, eine Menge
+Bücher kennt und doch kein Forschungsfeld überschaut, der nichts ahnt
+von der unendlichen Weite und Tiefe wirklich eigener selbständiger,
+kritischer, wissenschaftlicher Arbeit; der nie recht wissenschaftlich
+arbeiten lernt trotz mehrjährigen täglichen zehn- oder zwölfstündigen
+Fleißes! Der ganze amerikanische Universitätsgeist leidet an seiner
+Schulmäßigkeit: Auch die Dozenten müssen fast soviel Stunden in der
+Woche wie unsere Schullehrer geben. Der Universitätsprofessor ist mehr
+Lehrer als Gelehrter. Auch seine Bezahlung steht nicht im Verhältnis
+zu dem Reichtum des Dollarlandes, und sein Ansehen ist nicht mit dem
+eines deutschen akademischen Professors zu vergleichen. Alles dies soll
+keineswegs in Abrede stellen, daß auch Amerika sehr tüchtige Gelehrte
+und kritisch begabte Studenten hervorbringt, aber mehr trotz als
+infolge seines Systems. Und doch ist es auffällig, in welcher Überfülle
+die Übersetzungen deutscher wissenschaftlicher Bücher in Gebrauch sind,
+und geradezu rührend ist es zu beobachten und zu hören, mit welch
+aufrichtiger und uneingeschränkter Bewunderung der gebildete Amerikaner
+immer wieder zu dem Land der Dichter und Denker hinaufschaut.
+
+So hatte also auch ich meine liebe Not, genügend freie Zeit für meine
+eigenen Studien zu behalten, Land und Leute kennenzulernen u. dgl.,
+wenn auch ich mit einem „~degree~“ geschmückt Harvard wieder verlassen
+wollte. Und ohne ~degree~ gilt man ja drüben in akademischen Kreisen
+gar nichts. Und ohne ~degree~ zu scheiden, hätte mich in amerikanischen
+Augen als Faulpelz gekennzeichnet ...
+
+Die Inaugurationsfeier schloß mit dem üblichen Gebet, Musikchören
+und dem Jubel der „~college-men~“. Anderntags war noch einmal große
+Vorstellung aller fremden Gäste in der Repräsentationshalle der
+Universität, in „Sanders Theatre“, das seinen Namen von seiner
+theaterähnlichen Rundung hat. Der neue Universitätspräsident, vom
+Stab seiner Dekane begleitet, begrüßte feierlich jeden fremden Gast,
+indem er ihn mit allen seinen Titeln und Verdiensten ausführlich
+der Studentenschaft vorstellte. Jedesmal antwortete wüstes
+Beifallsgeschrei. Es waren auch zwei weibliche Professoren und die
+Spitzen von Heer und Marine unter ihnen, die von den Studenten
+besonders brüllend bejubelt wurden. Alle anderen wurden laut und immer
+lauter beklatscht beinahe zwei Stunden lang. Langsam defilierten sie
+auf dem Podium vorüber, zum Teil ehrwürdige Gestalten und noch junge
+Doktoren aus der Nähe und der Ferne, ja sogar auch aus Kalifornien und
+Texas, die geistige Elite der Union.
+
+Abends brachten die „~fresh-men~“ dem neuen Präsidenten einen
+Fackelzug im „Stadium“ dar. Das Stadium ist ein ungeheurer, etwa 40000
+Personen fassender, elliptischer offen amphitheatralischer römischer
+Zirkusbau, der den großen Universitätsfußballspielen dient. Heute lag
+er im Dunkeln. Nach dem Einlaß kletterte alles affenähnlich über die
+weiten und hohen Betonsitzreihen, die stumm dalagen und sich hell
+vom klaren Nachthimmel abhoben, bis das schier unermeßliche Rund
+doch nur zum kleinsten Teil mit Menschen gefüllt war. Dann nahten in
+langem feierlichen Zug die ~fresh-men~ mit ihren Fackeln, d. h. sie
+trugen auf Stangen kleine Töpfe mit brennendem Öl, an 1200 Mann zu
+je zweien nebeneinander, ein wirkungsvoller Zug. Im Stadium führten
+sie allerlei Reigen und Freiübungen aus, die sich mit den Lichtern im
+Dunkeln außerordentlich eindrucksvoll ausnahmen. Den Schluß machte
+ein Buntfeuerwerk, das zu allerletzt die Namen des Präsidenten und
+des ~college~ zeigte. Der also gefeierte Präsident hielt eine kurze
+Dankesansprache, die in dem großen Rund ausgezeichnet zu verstehen
+war. Mit einem an Indianergeheul erinnernden vieltausendstimmigen
+„Ra-Ra-Ra-Ra ...“, dem traditionellen studentischen Ruf, endete die
+Feier. Die Zeitungen waren noch Tage und Spalten lang voll davon ...
+
+„~Vivat academia, vivant professores~“ heißt es in dem alten deutschen
+Studentenlied. So kommen nun nach der ~academia~ die Professoren
+daran, mit denen ich drüben zusammen sein konnte. Ihr allzeit so
+sehr gefälliges Entgegenkommen habe ich schon gerühmt und verdient
+auch hier eigenen Dank. „~What can I do for you?~“ war die ständige
+Redensart der höflichen Menschen drüben. Der erste, der mich freundlich
+empfing, war der auch in Deutschland als erster Austauschprofessor
+und durch seine Schriften bekanntgewordene Sozialethiker Francis G.
+Peabody, ein Typus des hochgebildeten und vornehmen Neuengländers.
+Er hatte ein prachtvolles und nach jeder Seite hin ausgezeichnetes
+sozialethisches Seminar eingerichtet, wie drüben überhaupt alle
+Seminare, Bibliotheken, Laboratorien an Reichtum der Mittel dank der
+großen Stiftungen der Millionäre die unseren oft weit überragen.
+So findet man drüben in den Bibliotheken nicht bloß die gesamte
+amerikanische und englische Fachliteratur, sondern auch die deutsche,
+französische und italienische, so daß ich meinen schweren grünen
+Koffer mit den vielen Büchern hätte ruhig zu Hause lassen können und
+mir manche Kosten und Ärger ersparen. Freilich Peabodys Vorlesung
+enttäuschte mich. Gewiß ließ der Vorlesungsraum nichts zu wünschen
+übrig. Auf was für vorsintflutlichen Bänken hatte man einst im Tübinger
+Stift gesessen. Hier feine bequeme Subsellien, aufklappbare Halbtische,
+so daß man bequem die Beine beim Schreiben noch übereinanderschlagen
+konnte, wie es der Amerikaner liebt. Nur Gelegenheit, Hüte usw.
+aufzuhängen, sah ich nicht. Die Studenten steckten ihre Mützen in
+die Tasche oder brachten gar keine mit. Freilich die Beine +auf+ den
+Tisch legte im Kollegraum niemand, wie ich das in den Klubzimmern
+täglich und reichlich zu sehen Gelegenheit hatte. Als der Professor
+eintrat, erhob sich niemand; niemand trampelte oder gab sonst ein
+Zeichen studentischer Begrüßung, vielmehr wurde lustig weitergeschwatzt
+und gelacht! Die erste Stunde bestand fast nur in Ankündigungen des
+Semesterpensums, Aufgabe der „vorgeschriebenen“ Lektüre, Verteilung
+von gedruckten Dispositionen, zwar alles klar und praktisch -- aber
+eben auch reichlich schulmäßig. Ich empfand gar nicht, auf einer
+Universität zu sein.
+
+Mit dem deutschen Austauschprofessor trafen wir im „+~cosmopolitan
+club~+“ zusammen, einer interessanten Vereinigung von etwa hundert
+Studenten aus aller Herren Länder, Griechen, Siamesen, Chinesen,
+Japanern, Brasilianern usf., denn Harvard hat Weltruf. Der Professor
+nahm aber merkwürdigerweise von uns Deutschen recht wenig Notiz! Er
+sprach fließend englisch, wenn auch mit deutschem Akzent, an jenem
+Nachmittag ein für amerikanische Ohren wenig glückliches Thema,
+nämlich über „deutsche -- Trinksitten“! Damals schon war Amerika zu
+zwei Dritteln „trockengelegt“. Heute ist es es ganz. Cambridge war
+schon immer eine völlig „abstinente“ Universitätsstadt. Der Erfolg
+der Ansprache war, daß ulkige Studenten dem berühmten Gelehrten
+beim Abschied zwei leere -- Bierflaschen in seine Rocktaschen
+praktizierten!! Bei Professor +William James+, dem berühmten
+Psychologen, einem Sohn eines swedenborgischen Predigers in Neuyork und
+dem Bruder des bekannten Novellisten Henry James, durfte ich öfters
+weilen. Bald konnte ich formlos mit ihm über seine neue pragmatistische
+Philosophie plaudern, über die damals eifrigst diskutiert wurde,
+bald durfte ich an seinem Tisch den „~Thanksgiving-turkey~“, d. h.
+den traditionellen Truthahn an dem nationalen Danksagungstag am 27.
+November mitverzehren. Er war der Meinung, daß Wahrheit nur in der
++Praxis+ des Lebens selbst +erlebt+, aber nicht im voraus von uns
+theoretisch festgestellt werden kann. Das, was sich bewährt, das,
+was „stimmt“, was uns weiterführt, was Erfolg verheißt, ist wahr.
+M. a. W. die Wahrheit „bewahrheitet“, realisiert sich selbst. James
+war immer ein Mensch von seltener Liebenswürdigkeit und Herzensgüte,
+vornehmer Schlichtheit und einem feinen Humor. Nichts war ihm mehr
+verhaßt als Fertig- und Abgeschlossensein. Er selbst blieb immer ein
+Lernender. Auch war er für alles interessiert, denn alles war ihm ein
+Stück Wirklichkeit in diesem großen wunderbaren Universum, zu dem
+wir selbst, wie er von seinem voluntaristischen und aktivistischen
+Standpunkt aus meinte, vielleicht den allerwichtigsten Beitrag
+liefern. Dies Universum ist, meinte er, nicht fertig, sondern es wird
+noch ständig; es wird vornehmlich zu dem, wozu wir es machen. Und
+gute geheimnisvolle Mächte stehen uns dabei hilfreich zur Seite. So
+interessierte er sich auch besonders zeitlebens für den Spiritismus
+und Okkultismus als psychologisch-metaphysisches Problem und schloß
+doch zuletzt ehrlich und behutsam mit einem ~non liquet~. Er soll vor
+seinem Tode seiner Familie versprochen haben, sich, wenn möglich, mit
+ihr aus der jenseitigen Welt zu verständigen, um ihr von ihr einen
+Wirklichkeitsbeweis zu geben. Und seine Familie behauptete wohl auch
+nach seinem Tode, von ihm Botschaften empfangen zu haben (!). Für James
+war nichts zu bizarr und zu ungewöhnlich, daß er als Psycholog es nicht
+untersucht hätte. So war er der Psycholog, der auch allem Wunderlichen
+und Pathologischen nachspürte. Die Haupttypen der religiösen Menschen
+führte er auf ihre verschiedene Nervenanlage zurück. Nach ihm gibt es
+zartbesaitete (religiöse) und grobkörnige (unreligiöse) Menschen. Die
+religiöse Seelenanlage im Menschen entbindet s. E. die wertvollsten
+sittlichen Mächte im Menschen. Aber wir müssen im Leben abwechseln
+zwischen der Haltung des sich selbst verleugnenden Frommen, wie
+es Buddhismus und Christentum fordern, und dem Nietzschetypus des
+sich selbst behauptenden und sich durchsetzenden Menschen. Diese
+Jamessche Philosophie ist durch und durch amerikanisch, praktisch,
+wirklichkeitsnah, systemlos, dem Willen und Handeln entsprechend,
+tatenfroh und lehnt doch keine übersinnliche Wahrheit, wenn sie sich
+bewährt, ab. Welches Glück, den bedeutenden Mann noch kennenlernen zu
+dürfen!
+
+Auch mit dem Universitätspräsidenten selbst traf ich bei einer
+„~reception~“, einem Empfangsabend, bei unserem Dekan zusammen. Diese
+Empfänge hatten freilich etwas sehr Förmliches und Steifes. Zuerst
+stand man wortlos herum, unterhielt sich krampfhaft mit allen möglichen
+fremden und unbekannten Gästen, eine Tasse Tee in der einen und einem
+Gebäck in der anderen Hand (aber Vorsicht war nötig, die Tasse nicht
+auf die feinen Teppiche oder das Parkett zu verschütten!), bis man
+vom Mittelpunkt des Abends, dem Präsidenten, auch einmal ins Gespräch
+gezogen wurde, der uns allen ein paar Minuten die Hand schüttelte.
+Äußerst geschickt lenkte der Präsident bei mir, dem Deutschen, das
+Gespräch sofort über auf 1870, die deutschen Gegensätze von 1866
+und auf das bismarckische Deutschland -- aber stets mit vornehmer
+Achtung, ja Bewunderung. Lebhaft und sprühend waren dabei im Gespräch
+seine sonst etwas in der Ferne scheinbar ausdruckslosen Augen. Welche
+Aufgabe aber für diesen Mann, täglich zu repräsentieren, Ansprache über
+Ansprache zu halten, auch für den Fremdesten sofort ein Thema zu finden
+... An Gewandtheit stand ihm nicht nach Prof. +E. C. Moore+, der selbst
+lange in Deutschland studiert hatte und auf dessen Studiertisch ich
+eine Menge deutscher wissenschaftlicher Zeitschriften sah. Ich war zum
+Abendessen geladen. Bei uns ist man bei Einladungen größere Portionen
+gewöhnt als in Amerika. Und das Getränk war -- echt amerikanisch
+-- ein Glas frisches Wasser mit einem Stückchen Eis zur Kühlung!
+Glücklicherweise hatte auch Freund R. mich noch rechtzeitig ermahnt,
+„~full dress~“ anzulegen.
+
+Sehr oft waren wir Deutsche auch bei dem deutschen, aber
+amerikanisierten Professor der Psychologie +Münsterberg+ eingeladen.
+Mit seinen trefflichen Büchern über „Amerika und die Amerikaner“ hat
+er den ersten völlig sachgemäßen Vermittlerdienst zwischen Deutschland
+und Amerika geleistet. Auch dort war „~reception~“, bei der allerlei
+bedeutende Leute auftauchten: Eduard Meyer, Präsident Eliots ehrwürdige
+greise Gestalt ... währenddem reichten Diener in großer Livree Eiskream
+und Limonade herum. Eine der Töchter des Hausherrn wurde von meinem
+Heidelberger Freund stark umworben ... Ein andermal war es bloß
+„offener Nachmittag“ bei Frau Professor M., die sachgemäß hinter einem
+riesigen Teekessel thronte, aber immer gastlich und fürsorglich. Bei
+Professor F. stellte sich heraus, daß seine Frau eine nahe Verwandte
+einer mir sehr bekannten Frankfurter Familie de Neufville war. Wie die
+Welt rund und klein ist ...!
+
+Nach den Professoren ein Wort über die +Studenten+ und ihr geselliges
+Leben: Sehr viel Anregung bot mir der schon erwähnte „~cosmopolitan
+Club~“. Ich verkenne nicht den Wert und das Erbgut der Nation und
+habe mich erst recht drüben mit Stolz als Deutscher gefühlt und
+Deutschlands Wert trotz allem in der Welt erfahren, aber doch
+habe ich immer auch einen starken Zug in die Welt verspürt, mich
+auch als „Mensch“ denn nur als Angehöriger einer festumgrenzten
+Volksindividualität zu fühlen und mich mit Angehörigen auch einer
+recht fernen Rasse in allem Menschlichen einig empfunden, ob es der
+Negerstudent Mac Sterling war, der mich auch in sein Logis lud, oder
+Freund Ashida, mein japanischer Studiengenosse, oder etliche Griechen,
+Armenier oder Siamesen und was sonst alles in Harvard auftauchte.
+Mehr Berührung mit einzelnen Angehörigen fremder Völker und die Lust
+zu neuen furchtbaren Kriegen wird in der Menschheit sich mindern!
+Im ~cosmopolitan Club~ sprachen die interessantesten Redner: Erst
+der deutsche Historiker, dann war Präsident Eliot angezeigt, danach
+ein belgischer Konsul über den Kongostaat und seine „rechtmäßige“
+Erwerbung, danach ein Spanier von Geburt, Professor Santyana über
+die zwei Hauptweltströmungen, die klerikal-monarchisch-konservative
+und sozialistisch-freimaurerisch-revolutionäre. Darauf „talkte“ ein
+juristischer Harvardprofessor, der damals so etwas wie Justizminister
+des Königs von Siam war, über seinen gütigen Herrscher, dessen Bild im
+Klubraum hing, schließlich der bekannte Franzose Professor Boutroux,
+Präsident des „~institute de France~“ über den Philosophen Pascal, und
+zuletzt fand eine Vorlesung eines japanischen Universitätspräsidenten
+der kaiserlichen Universität in Kyoto statt. Er erschien mit all seinen
+japanischen Orden. Also wahrhaftig eine respektable Galerie seltener
+Köpfe! Andere Redner sprachen über die herrliche Hawai-Inselgruppe mit
+Lichtbildern, ein zweiter über Wanderungen und Bärjagden in Alaska, so
+daß mein wanderlustiges Herz im Anblick dieser herrlichen, einsamen,
+fast noch nie betretenen Gegenden fast zersprang. Daß auch ich bald
+noch recht weit fortreisen mußte, das stand mir seit jenem Abend
+ganz fest! Gletscher, Schneewanderung, Zeltleben mit Eskimos und
+Indianern, Fahrten in der einsamen Bai, Bärschießen und -abhäuten,
+Kahnbau und Pelzfabrizieren -- da wäre ich gern einmal dabei gewesen!
+Freund Moore stellte mir an jenem Abend noch allerlei Griechen vor,
+und sie nahmen mich mit in ein echt griechisches Restaurant in Boston,
+ein sogenanntes „Xenodocheion“. Ein andermal war sogenannter „~ladies
+tea~“, den Mrs. M. in hohem lila wallenden Federhut präsidierte,
+danach ein sogenannter „Nationalitätenabend“. Bei dem ersteren wurden
+uns allerlei graziöse Bostoner Schönheiten vorgestellt, darunter
+eine Ms. St., Freund R.s ganzer Schwarm, gekleidet, gepflegt und in
+Haltung wie eine tadellose Schaufensterpuppe in wundervollem Kostüm,
+dessen Farbe ich über ihren kirschroten Lippen, ihren wohlgepflegten
+blendendweißen Zähnen und ihren schmalen feinen Händen, die gewiß
+noch nie Kochtopf oder Scheuerlappen angefaßt hatten, nicht behalten
+habe. Aber ob ich sie hätte haben mögen? Die Amerikaner lieben es
+zwar, an Frau und Gattin nur eine Schönheit, ein Spielzeug, eine
+heitere und lebensgewandte plaudernde Gesellschafterin zu haben, --
+man sehe sich die entspr. Typen in den ~magazines~ an! -- die keine
+Kinder bekommt und ihre Hausfrauenpflichten anderen überläßt, galante
+„~receptions~“ hält, das Auto lenkt, öffentlich redet und angestaunt
+wird. Da war mir aber doch die kleine schlichte Hobokenerin aus Baden
+bei ihrem Onkel am Küchenherd tausendmal lieber ... An dem anderen, dem
+„Nationalitätenabend“, war der Klubraum mit den Flaggen aller Völker
+sinnvoll und malerisch drapiert. Brüderlich hing die unsere neben der
+Trikolore, dem Union Jack und dem Sternenbanner. Jede Nationalität
+hatte nun einen Toast in ihrer Landessprache auszubringen und eine
+nationale Eigenheit ernst oder humorvoll den Anwesenden vorzuführen.
+Germany wurde zuerst aufgerufen! Es sprach für Deutschland ein
+ehemaliger deutscher Korpsstudent mit tüchtigen Schmissen auf der Backe
+-- so recht etwas für amerikanische Herzen! -- und sang die „Wacht
+am Rhein“, die viele Amerikaner begeistert mitsangen! Dann kamen
+Frankreich, Spanien, Brasilien, Griechenland, Indien, China, Japan
+und Rußland an die Reihe. Welch ein interessantes Ragout gab es da zu
+hören und zu sehen: Japanische Tänze, chinesische Lieder in einer für
+unser Ohr merkwürdig unmusikalischen Art, russische Bauerngesänge, ein
+~Hindu-farewell~-Lied und ein japanisches Gaukelspiel. Ein spanischer
+Student führte zuletzt naturgetreu eine Prügelstrafe aus einer
+spanischen Dorfschule vor zum großen Gelächter der Amerikaner, die
+körperliche Strafen im Schulleben nicht kennen!
+
+Auch ein „deutscher Abend“ des „Deutschen Vereins“ fand statt.
+In dem geräumigen Festsaal der Harvard-Union war eine große
+Hufeisentafel aufgestellt -- in Amerika kennt man sonst nur Klubtische
+oder Einzelsitze -- um eine deutsch-studentische „Kneiptafel“
+vorzuführen. Rings an den Wänden lagen in großen Glasschränken die
+siegreichen Fußbälle aufbewahrt, mit Datum versehen, mit denen die
+Universitätsmannschaften in großen Wettkämpfen im Stadium gesiegt
+hatten. Wie Totenschädel lagen sie da in Reih und Glied und schauten
+verwundert auf das, was im Saale nun anhub. Nun wurde -- in dem
+„trockenen“ Cambridge -- ein Faß deutsches Bier aufgelegt und
+angesteckt, Neger servierten dabei, und die deutsche „Kneipe“ begann!
+Auf diese Weise wurde wieder einmal in den amerikanischen Studenten die
+Überzeugung befestigt, daß Deutscher und Biertrinker ungefähr dasselbe
+ist. Wie oft bin ich selbst drüben gefragt worden, ob ich denn nicht
+„mein Bier“ vermißte, während mir die in Memorialhall zu Lunch und
+Dinner allgemein viel getrunkene Milch viel besser bekam und mundete.
+
+Aber auch mancher +einzelne Student+ ist mir in der liebenswürdigsten
+Weise nahegetreten. Wie oft hat mich mein Freund Arthur E. W. zum
+schönen „~fresh-pond~“ begleitet, einem äußerst idyllisch gelegenen
+Teich mit reizendem Ausblick auf die Landstädtchen Arlington und
+Waverly. Wie manchmal saßen wir dort unter den dunkelen Bäumen,
+während ein leichter Wind die Wellen des kleinen Sees kräuselte,
+freundschaftlich auf einer Bank zusammen. Er lehrte mich Miltons
+„~paradise lost~“[19] verstehen, ich dolmetschte ihm Goethes Faust,
+so gut es ging. Wie schwer war es, dieses urdeutsche Ideenwerk
+englisch verständlich zu machen! Wie mütterlich nahm sich meiner das
+Studentenehepaar M. an. Er +und+ sie studierten, und zwar +beide+ auf
+den philosophischen Doktor hin. Aber sie war noch klüger als er! Er kam
+schon aus praktischer Arbeit und wollte sich nur auf der Universität
+noch weiterbilden. Echt amerikanisch, da man eine Weile arbeitet und
+verdient und dann wieder studiert. Ebenso echt amerikanisch, daß die
+Frau mit dem Mann studierte! Daneben aber versorgte Frau M. noch
+ausgezeichnet ihre kleine Küche in dem kleinen sauberen Logis, das sie
+bewohnten, und wußte dann und wann noch mit einem freundlichen Mahl mir
+aufzuwarten. Manchmal dachte ich es mir freilich ein bißchen peinlich
+für den Mann, wenn die Frau bessere Abschlußzensuren heimbringt als er
+selbst! Aber der Amerikaner ist an die Superiorität der Frau gewöhnt.
+Wie gastfreundlich wurde ich in jenem kleinen und reizend gelegenen
+Landstädtchen Littleton in Massachusetts aufgenommen, da mich einer der
+Mitbewohner unserer Hall, Mr. Joseph H., einführte auf den Landsitz
+seiner Mutter und seiner Brüder! Wie vornehm und weitläufig war dort
+alles! Park, Tennisplätze, Veranden -- und dazu die köstliche Landluft!
+Welch eine Stille hier nach dem immer noch recht belebten Boston
+und Cambridge. Freund H. war damals gerade der Vater, Inhaber einer
+größeren Gestühlfabrik, gestorben. Sofort brach der Sohn pietätvoll
+sein Studium ab und erfüllte den letzten Wunsch des Heimgegangenen,
+das väterliche Geschäft zu übernehmen. Bei dem ebenfalls verheirateten
+Mr. C. und seiner liebenswürdigen Gattin sah ich mich zum ersten
+Male genötigt, mit einem sechsjährigen Kinde englisch zu reden, das
+sich nicht denken konnte, daß es Leute gebe, die nicht von Geburt
+an englisch redeten! Ob ich immer die Worte für das wußte, wofür es
+sich gerade interessierte, das kümmerte es nicht. Es fühlte sich auf
+meinem Schoße trotzdem wohl. Ein sonst delikates Huhn reichte hier
+nach amerikanischer Einteilung für -- sieben Personen! Zur Erledigung
+dieser Portionen war ich, da es eine Abendmahlzeit war, ahnungslos im
+Frack erschienen. Aber wieder einmal falsch, denn es sollte ein ganz
+informelles studentisches Essen sein; und ich hatte die Gastgeberin
+ehren wollen, und saß nun als einziger den ganzen Abend in steifster
+Toilette! Was mag die Hausfrau -- übrigens auch Studentin -- für
+einen Schrecken bekommen haben, als sie mich in meinem ~dinner-dress~
+erblickte!
+
+Ja überhaupt dieser „~full dress~“ -- bis man das richtig heraus
+hatte, wo er angebracht war und wo nicht! Ich hatte schon einmal vor,
+eine Humoreske zu verfassen, betitelt „Die Geschichte meines Fracks“.
+Lieber Leser, höre, ich habe es fast immer falsch gemacht! Nur vor den
+allergrößten Dummheiten ~in puncto~ „Frack“ haben mich wohlmeinende
+Freunde glücklich bewahrt. Bei Professor L. war ich z. B. Sonntags
+mittags eingeladen gewesen -- und kam natürlich +abends+ sechs Uhr,
+weil ich annahm, jedes ~dinner~ sei abends sechs Uhr; aber Sonntags
+ißt man es gerade mittags! Dazu erschien ich natürlich abends im
+Frack, während man Sonntags gerade im Gehrock kommt, da man annimmt,
+daß man am Vormittag den Gottesdienst besucht hat. Schwarzer Rock ist
+aber der Kirchenrock, dazu gehört graugestreifte Hose und hoher Hut
+mit etwa braunen Glacés. So hatte ich es einmal bei Professor James
+Sonntags mittags gefunden und gedacht: Sieh, wie unformell benimmt
+sich der wahrhaft große Mann! Da sieht man es, dachte ich, wie sich
+der Philosoph über Sitte und Mode hinwegsetzt; und dabei hatte er sie
+gerade peinlichst eingehalten! Und ich war es, der es wieder falsch
+gemacht! Also merke, lieber Leser: Wochentags vor 6 Uhr macht man
+Besuche im „~Prince-Albert~“, nach sechs Uhr nur in „~full dress~“
+oder, wenn inoffiziell, im „~smoking~“. Sonntags aber ist es ganz
+anders. Da ist das ~dinner~ um 2 Uhr und der Anzug Gehrock. Bei dem
+Dekan machte ich am ersten Tage gar Besuch im Kollegröcklein, wie
+mir mein Freund W. geraten -- und sicher war das als offizieller
+Antrittsbesuch auch wieder falsch gewesen. Auch fiel mir auf, daß ich
+bei den amerikanischen Damen wenig Eroberungen zu machen schien --
+nur die Ende 60er stehende Gattin des trefflichen Predigers Rev. G.
+bemühte sich sehr um mich! Mein in solchen Dingen äußerst bewanderter
+Freund R., der Philologe und Anwärter des ~A. M.~, hat es mir erklärt:
+Herren mit Schnurr- oder gar einem Vollbart seien bei Amerikanerinnen
+von vornherein unmöglich! Zu spät sah ich tiefbetrübt ein, was ich
+mir hatte entgehen lassen! Gar manches Brieflein von ehemaligen
+amerikanischen Studienfreunden erreichte mich später noch, doch nie
+ein rosa Billetchen von zarter Hand! Nur die Sekretärin der Fakultät,
+der ich durch meinen erworbenen Universitätsgrad angehörte, sendet
+mir unentwegt alle Prospekte und Einladungen zu Harvard-Banketts und
+Vorträgen -- meist, wenn sie schon vorüber sind. Aber so will es ihre
++amtliche+ Pflicht!
+
+Unter den vielen Einladenden war eines Tages auch der brave Hausmann
+unserer Hall, Mr. M. Ich stieg an dem betreffenden Abend freundlich
+zu ihm in seine Souterrainwohnung hinab. Denn ich war immer sozial
+gesinnt. Amerikanische Arbeiter verdienen im allgemeinen mehr und
+leben besser als die deutschen. Schon vor dem Krieg unterschied sich
+der Arbeiter drüben in Kleidung und äußerem Gebaren fast in nichts
+von dem bessergestellten Bürger. Und siehe, bei Mr. M. war es auch
+recht gemütlich. Hübsche Möbel, dazu ein Schrank voller Bücher! Das
+gehörte notwendig zum Inventar eines Universitätshausmanns. Seine Frau
+war übrigens eine geborene Schwedin aus Stockholm! Auch bei ihm gab
+es Früchte, Cakes und Tee und ~ice-cream~ wie bei einer offiziellen
+„Rezeption“, wenn auch ohne Diener und weiße Handschuhe. -- -- --
+
+In wie schöner Erinnerung stehen mir +die Ausflüge+ mit den
+amerikanischen Freunden an so manchem sonnigverträumten Tag des
+„~indian summer~“. Es war immer aufs neue reizend, an den ländlichen
+Seen zu sitzen. Die Möwen wiegten sich auf dem blauen See. Im
+Sonnendunst grüßten die ~Arlington Heights~ herüber ...
+
+ Wie wiegen die Möwen sich leicht auf der Flut
+ Und tauchen und netzen den Flügel!
+ Wie ein mildes himmlisches Auge ruht
+ Der blaue See unterm Hügel.
+
+ Warm scheint die Sonne aufs südliche Feld --
+ Ein Traumduft webt durch die Lande!
+ Vielleicht stand einst hier Indianergezelt
+ An schimmerndem Wasserrande.
+
+ Hier fischt’ er und rudert’ im leichten Boot
+ Die wellende Flut zum Gestade;
+ Hier labt’ er die Glieder so braun und rot
+ Im freien, erquickenden Bade.
+
+ Hier hallte einst Kriegsruf und Mördergeschrei,
+ Als die Weißen kamen und siegten,
+ Jetzt ruht der Himmel friedlich und frei,
+ Wo seit alters die Möwen sich wiegten ...
+
+Wie oft pilgerte ich auch allein die Massachussets-Avenue nach
++Arlington+ hinaus. Nach über einstündiger Wanderung auf der Landstraße
+stieg ich links die Höhen hinauf. Pfad- und weglos -- Amerika kennt
+kaum Fußwege -- strich ich über die mit hübschen Landhäusern übersäten
+Hügel. Von oben ergoß sich ein herrlicher Blick über die parkartigen
+und waldigen Höhen und Talgründe mit ihren vielen kleinen blauen
+Teichen. In der Ferne lag das rauchende Boston mit seiner weithin
+leuchtenden vergoldeten Kapitolskuppel. Oder ich stieg rechts empor
+und war bald -- nur eine Stunde weg von der Millionenstadt! --
+zwischen Steinen, Dornen, zerfallenen Bäumen und verlassenen Feldern
+in einem wahren Urwalde, wo vor Gestrüpp und Buschwerk fast gar
+nicht weiterzukommen war, und hatte Mühe, wieder einen Weg durch das
+prächtige Herbstlaub an den Farmhäusern einfacher Leute vorüber, wo
+Kühe weideten und Kinder spielten, nach der Landstraße zu finden ...
+
+Fast noch prächtiger aber war es weiter nördlich in den sog. ~Middlesex
+fells~, einem herrlichen Naturpark mit wundervollem Aussichtsturm
+jenseits Medford und des Mystic River. Ich hatte wohl noch nie in
+meinem Leben solch prächtige Herbstfärbungen gesehen. Dazu das tiefe,
+glühende Rot des Laubes im Unterholz! Welcher Blick bot sich von oben
+bis nach dem Dichtersitz Concord, nach Cambridge und zum Meer! Und
+allerwärts eine Fülle der malerischen Landhäuser. Auch Amerikaner haben
+Natursinn! Nur ist nicht jedem vergönnt, hier draußen zu wohnen. Im
+ganzen scheint mir drüben der Wohlstand und der Wohnungskomfort höher
+zu sein als bei uns. Auch der kleine Mann hat hier sein eigen Häuschen
+und Garten und vor allem seinen „~bathroom~“[20], denn Waschtische sind
+in den Schlafräumen unbekannt. Die ~bathrooms~ haben nur den Nachteil,
+daß ein Familienmitglied beim Ankleiden auf das andere oft recht lange
+warten muß. Bei Damen kann das eine Stunde währen, bis der ~bathroom~
+wieder frei wird! Und da er zugleich auch noch anderen Zwecken
+dient, ist die Polonäse vor dem ~bathroom~ oft recht ergötzlich bzw.
+hochpeinlich ...!
+
+Je mehr ich Bostons und Cambridges Umgebung kennenlernte, um so mehr
+erschien sie mir wie eine ungeheure, wenn auch regellose Villenkolonie.
+Welch ein Kulturfortschritt! Heil den Glücklichen, die da draußen
+wohnen dürfen! Wie voll sind aber auch die Abendzüge dort hinaus! Wie
+stehen, hängen, hocken sie in fröhlicher Seelengeduld, sich stets ins
+Unvermeidliche schickend, auf Plattformen und Trittbrettern, Zustände,
+bei denen es dem biederen Deutschen graute oder er nur zu schimpfen
+wüßte. Auf den vollbesetzten Straßenbahnen sah ich die Fahrgäste
+manchmal nur noch mit zwei Fingern an einer Längsstange angeklammert,
+in vollbesetzten Lokalzügen womöglich vorn auf der Lokomotive hängen
+oder stehen!
+
+Auch längs der Ozeanküste und der weiträumigen Bostonbai dehnten wir
+unsere Exkursionen aus. So ging es einmal mit der Beachbahn nach dem
+alten Salem und nach dem romantischen Marblehead hinaus. +Salem+
+ist eine der ältesten Ansiedlungen noch aus der Zeit der Puritaner
+(1630), heute eine kleine stille Stadt mit einigen wenigen ganz alten
+Häusern an der Massachussets-Bai. Aber nach Lamprechts begeisterter
+Schilderung erwartete ich viel mehr dort. Marblehead ist Seebad der
+Bostoner. Es war schön, wieder einmal voll dem rauschenden Ozean ins
+Angesicht sehen zu können. Dumpf dröhnend spritzte der Gischt am
+steinigen Strand auf. Auf der einsamen Felseninsel Nahant kletterten
+wir in den öden, zerrissenen Felsen umher, bis uns der Schaum der in
+der Flut heranstürzenden Wogen zurücktrieb. Tausende von angeschwemmten
+Muscheln lagen umher, deren ich mir eine Sammlung mit nach Hause nahm.
+Lange noch zierten die schönsten Stücke mein Kamingesims. Und welche
+Abendstimmung erlebte ich hier draußen! Purpurrot tauchte die Sonne
+die fernen Fabrikschornsteine Bostons wie in Feuerglut, die weißen
+Villen am Strand erglühten wie Bergspitzen in den Alpen, das Meerwasser
+ward erst bronzen, dann silbern, bis am Strande die Lichterreihen der
+Straßen kleiner Städte und Vororte aufblitzten ...
+
+Auch den historischen „+Bunker Hill+“ habe ich erstiegen in der
+Vorstadt Charleston, die an sich düster und rauchig ist. Auf Bunker
+Hill hielt zum erstenmal in den Unabhängigkeitskämpfen die junge
+amerikanische Miliz den englischen Truppen tapfer stand (am 17. Juni
+1775). Im Anfang des 19. Jahrhunderts wurde zur Erinnerung daran ein
+62 ~m~ hoher sehr aussichtsreicher Obelisk errichtet, der weithin mit
+seiner weißen Steinspitzsäule die Vorstädte Bostons überragt ...
+
+Ebenso flogen wir gern nach Osten und Süden aus: Die interessanteste,
+etwas weiter abgelegene Stadt war unstreitig „Concord“, das
+amerikanische Weimar, der Wohnsitz Emersons, Hawthorns, Thoreaus
+u. a. Poeten und Dichterphilosophen. Ringsum schönes, stilles
+hügeliges Farmland mit Wäldern und Viehherden. Concord ist wirklich
+ein Idyll, dazu vom Hauch großer geistesgeschichtlicher Vergangenheit
+umweht. Die Geister der Großen gehen hier noch um wie bei uns in
+Weimar. Wie schlicht und anheimelnd, wie das Goethehäuschen an
+der Ilm, sind ihre Landsitze! Dazwischen überall Denksteine in
+Erinnerung an die Unabhängigkeitskämpfe, die um Concord und Lexington
+begannen. In Concord steht auch das bekannte ansprechende Denkmal
+des „~minute-man~“, der „jede Minute“ bereit den ersten Schuß im
+Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer abfeuerte, „den man in der
+ganzen Welt hörte“.
+
+In Waltham fuhren wir auf den kleinen Seen des Charles River mit
+echten ~canoes~ umher. Ganz entzückend ziehen sich die Seen unter
+tiefbelaubten Bäumen hin. Wie leicht und sanft glitt das spitze,
+schwanke Boot übers Wasser! Zwei amerikanische Freunde ruderten,
+während ich bequem in den Kissen des Damensitzes liegen durfte und
+das Steuern besorgen sollte. Ein junger Nationalökonom führte mich
+eines Nachmittags in das idyllische Waverly, ein äußerst malerisches
+Ineinander von Hügeln, Parks, Villen und Teichen. Er war sehr
+beschlagen in Deutschlands politischer Geschichte, so daß ich ihm nicht
+immer auf alle seine Fragen eine präzise Auskunft geben konnte ...
+
+Dieselben ausgedehnten Parkanlagen fand ich am Südrande Bostons
+in „Jamaica plain“, und von den Blue Hills, die wir mit
+eineinhalbstündiger Fahrt auf der Elektrischen erreichten, bot sich von
+Süden eine ähnlich herrliche Aussicht wie von den Middlesex-fells im
+Norden. Der Aussichtsturm ließ uns über die Wälder der Blue Hills, den
+Ozean und die ferne Stadt samt einem gut Teil des Staates Massachusetts
+schauen! Mächtig kam es mir oben zum Bewußtsein: Es ist ein Stück
+schönsten amerikanischen Landes, das du hier oben überschauen darfst.
+Könnte ich jetzt noch einmal dort stehen! So haben wir studiert und
+innen und außen uns umgeschaut ...
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 15: Nicht zu verwechseln mit dem +englischen+ Cambridge!]
+
+[Footnote 16: Im Keller befand sich die Küche!]
+
+[Footnote 17: „Gymnasium“.]
+
+[Footnote 18: Unerreicht von den Lebenden!]
+
+[Footnote 19: „Das verlorene Paradies“.]
+
+[Footnote 20: Badezimmer mit Wasserklosett und warmem Wasserzufluß.]
+
+
+
+
+Ein Fußballspiel. Weihnachten „drüben“.
+
+
+Jedes Volk hat seine Heiligtümer. Auch das amerikanische. Zu seinen
+Heiligtümern zählt die Bundesverfassung, sein Freiheits- und
+Selbständigkeitsgefühl, sein Weltbewußtsein, gleich England eine Art
+auserwähltes Volk zu sein, und endlich der -- Fußball. An den großen
+Fußballspielen nehmen viele Zehntausende teil. Extrazüge fahren aus
+allen Richtungen. Die Zeitungen geben wie bei den Wahlen sofort an
+der Stirnleiste das Ergebnis bekannt. Und so erwartete ich mit großer
+Spannung das große Wettspiel zwischen den beiden alten Universitäten
+Harvard und Yale. Es gibt Jahre, wo in der Union an die dreißig junge
+Leute in den heißen Fußballkämpfen ihr Leben einbüßen!
+
+Noch summt mir das wilde, tosende Rufen der Harvard- und
+Yale-„undergraduates“ in den Ohren, noch flimmern mir die
+vierzigtausend wogenden Köpfe in dem gewaltigen Rund des
+Harvard-Stadiums vor den Augen ... wie ein brausendes, tobendes Meer.
+
+Es war ein Tag, so heiß wie eine Schlacht und mit einer Spannung
+erwartet und verfolgt wie eine Schlacht. Weit vom Norden und Süden
+und vom mittleren Westen waren sie zusammengeströmt mit Automobil und
+im Sonderzug, die vierzigtausend, das Harvard-Yale-game zu sehen, das
+die Fußballsaison abschließende Spiel zwischen den beiden größten,
+ältesten und bedeutendsten Universitäten in den Vereinigten Staaten von
+Amerika. Jedes ~college~, ja jede ~high school~ hat ihr ~Footballteam~
+und ihr „Stadium“. Im Herbst jedes Jahres messen sie einander. Schon
+hatte dieses Jahr Yale über Wesleyan, Syracuse, Springfield, Holy
+Croß, West Point, Colgate, Amherst und Princeton gesiegt und Harvard
+über Bates, Williams, Maine, West Point, Cornel und Dartmouth; und
+nun sah alle Welt, die neunzig Millionen der Vereinigten Staaten, auf
+das letzte große Spiel zwischen den ehrwürdigen Meisteruniversitäten
+Yale und Harvard. Welche ungeheure Bedeutung dieses Spiel einnimmt,
+das zeigt wohl am besten der Umstand, daß für zwei Tickets in letzter
+Stunde 60, 80, 100, ja 200 Dollars an Spekulanten gezahlt worden
+sind, während Zehntausende keins mehr bekommen konnten; daß ferner
+während des Spiels Tausende die Redaktionen der großen Zeitungen in
+Boston umlagerten und die Anschläge der Drahtnachrichten und so aus
+der Ferne das heiße Spiel Zug um Zug verfolgten; daß in den Theatern
+des Landes in den Zwischenakten die Punkte der streitenden Parteien
+als Transparente erscheinen und natürlich Extrablätter von allen
+Zeitungen verausgabt werden. Der Sport ist in den Vereinigten Staaten
+eine öffentliche, nationale Angelegenheit. Ein Blick in die Zeitungen
+genügt, um das in aller Deutlichkeit zu erkennen. Jede Zeitungsnummer
+bringt täglich spalten- und seitenlange Einzelberichte über die großen
+Teams des Landes, über die Spieler im einzelnen, über ihre Herkunft,
+ihren Lebenslauf, ihr Alter, ihre Geschicklichkeit, ihre Größe, ja
+ihr Gewicht, ihre besten Kicks, Abbildungen der einzelnen Züge und
+wichtigsten Momente des Spiels usw. Diese Sportsnachrichten nehmen
+oft mehr Raum ein als die politischen Artikel; an Umfang können sich
+höchstens mit ihnen noch die Ehescheidungsberichte, Automobilunfälle
+und Theatergrößen messen ...!
+
+Nun war also der große Tag herangekommen. Man mochte ein eisigkaltes
+Wetter erwarten. Tags zuvor blies es bitterkalt vom Norden her. Aber
+merkwürdig, der 20. November war fast lau und mild, und doch mußte
+sich jeder wohl vorsehen, in dieser Jahreszeit zwei oder drei Stunden
+im Freien auf kalten Steinen zu sitzen. Bereits zwischen 12 und 1 Uhr
+mittags nach dem Lunch wälzten sich Hunderte vom „Harvard Square“ in
+Cambridge die Bolystonstreet hinunter hinaus aufs „Soldiers field“ zum
+„Stadium“. Jeder bekannte sich durch ein entsprechendes Abzeichen als
+Harvard- oder Yaleman: hochrote und tiefblaue Kravatten, Armbinden,
+Fähnchen, Federn bis zu den blauen und roten Hüten und Jacketts der
+Damen. Hie rot und Harvard -- hie blau und Yale! Heiser priesen
+die Verkäufer ihre Harvard-Yale-Ansichtskarten und die Bilder der
+Spieler an. Von der entgegengesetzten Seite rollten unaufhörlich die
+Automobile heran, eins hinter dem andern, tutend, heulend, surrend,
+schnaubend, rasselnd. Die Straßenbahnen fuhren Wagen hinter Wagen, bis
+auf die Trittbretter besetzt, auf denen noch fast ebenso viele Plätze
+fanden wie im Wagen; hier hing einer nur noch mit +einem+ Fuß auf dem
+Trittbrett, dort klammerte sich ein anderer nur noch mit den Fingern
+an eine Längsstange; die Mäntel flogen im Wind, die Hüte drohten
+fortgerissen zu werden.
+
+Am Stadium, dem gewaltigen, imposanten, elliptischen, halboffenen
+Amphitheater aus weißgrauem Beton, das nahezu vierzigtausend Personen
+faßt, stauen sich die Massen und schwellen an zu einem wirren
+Menschengewoge; aber niemand drängt und drückt oder schilt und
+schimpft, jeder wartet und ist geduldig, selbstlos und demokratisch.
+Bald war die eine breite Straße, die von Cambridge über eine alte,
+schlechte Holzbrücke über den Charles River zum Soldiers field führt,
+nur noch ein Menschenknäuel mit viel tausend Köpfen. Ringsumher auf
+den Zufahrtsstraßen und am Charles River entlang sammelten sich die
+Automobile zu ganzen Wagenparks. Wohl noch keine Automobilausstellung
+der Welt hat deren eine solche Menge und Verschiedenheit der Marken
+zusammengebracht. Wer nicht zu Automobil kommt, kommt mit einem der
+vielen Eisenbahnsonderzüge, die aus allen Richtungen an diesem Tage
+Boston zustreben.
+
+Das weite Rund des Stadiums mit seinen vieltausend Steinsitzen, seinen
+gewaltigen Substruktionen und seinen schönen Kolonnaden über den
+höchsten Sitzreihen lag still und gemessen da und wartete der Menge,
+die sich von allen Seiten über seine Treppen und Steingänge ergoß und
+es trotz ihrer ungeheuren Zahl nur langsam zu füllen vermochte. Ich
+hatte einen Sitz hoch oben über den Kolonnaden bekommen, wo sich nicht
+nur ein ausgezeichneter Überblick hinunter in die gewaltige halboffene
+Ellipse auf das Spielfeld bot, sondern auch hinaus ins offene Land. Ich
+fühlte mich fast nach Rom in das gleich gewaltige Kolosseum versetzt.
+Gleich dem Tiber wand sich hier der breite Charles River an Cambridge
+hin; mäßige Hügel säumten gleich Rom auch hier rings den Horizont;
+in der Ferne schimmerte die goldene Kuppel des Kapitols von Boston
+auf dem Beacon hill, der schöne Frührenaissanceturm der New old South
+Church grüßte aus dem feinen blauen Herbstdunst herüber, der über
+der großen Stadt lagerte. Wie hier das Menschengewimmel, so mochte
+es einst vor zwei Jahrtausenden zu Zeiten des Titus und Domitian im
+römischen Amphitheater ausgesehen haben, wenn die vierzigtausend das
+Spiel erwarteten. Nur statt der glattrasierten Römer hier glattrasierte
+Amerikaner, statt der Toga und Tunika Automobilpelz und Wintermantel,
+schwarze steife Hüte und graue Reisemützen, statt der Löwen und
+Gladiatoren harmlose Fußbälle und junge Studenten ...
+
+Wie Ameisen krabbelten die Menschen auf den Steinsitzen hin und her
+und suchten ihre Plätze. Schwärzer und schwärzer wurden die runden
+Steinreihen. Bald bewegten sich da unten vierzigtausend Köpfe hin
+und her, vierzigtausend schwarze Männerhüte und graue Reisemützen
+und rote und blaue Damenhüte; dazwischen flatterten lustig die
+hochroten Harvard- und die tiefblauen Yalefähnchen mit dem stolzen
+H. und Y. Harvard war recht siegesgewiß. Sein Captain Fish, einer
+der trefflichsten Fußballspieler, hatte zwar im letzten Spiel gegen
+Dartmouth eine Verletzung davongetragen, aber er war wieder munter
+und war fest entschlossen mitzuspielen und hatte, wie die Zeitungen
+berichteten, geäußert, nur der Tod allein könne ihn von diesem Spiel
+abhalten. Captain Coy von Yale aber war ein ebensowenig zu verachtender
+Gegner, ein weitgefürchteter „Kicker“. Freilich hatte Harvard in den
+letzten zwei Jahrzehnten nur viermal Yale besiegt, aber der Sieg des
+letzten Jahres über Yale und Captain Fish machte Harvard im voraus
+siegesgewiß.
+
+So ward es zwei Uhr. Auf ein Zeichen sprang eine Schar junger Menschen
+mit weiten flatternden roten Tüchern, fast wie Stierkämpfer gekleidet,
+in das Stadium, von tosendem Beifall begrüßt, Captain Fish und die
+Harvardspieler. Bald darauf stürmte ein zweiter Haufe in wehenden
+blauen Tüchern herein -- die Yalespieler. Die Tücher wurden abgeworfen,
+ein schwarzes Überwams ausgezogen -- dann standen die roten und
+blauen Kämpen einander gegenüber. Jeder angetan wie ein Fechter,
+wohlgepolstert an Schultern und Knien und teilweise mit Kopfhauben
+gegen Fußtritte und Schädelbrüche geschützt, in weiten zerschlissenen
+dunkelgelben Hosen und rotem oder blauem Wams. Schon erhoben die
+Harvard- und Yale-„undergraduates“, die auf je einem Haufen auf beiden
+Seiten dicht zusammensaßen, ihr Schlachtgeschrei, und aus vielhundert
+Kehlen, den Schalltrichter vor dem Munde, schallte es: „Har--vard,
+Har--vard, Har--vard, ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ra ...“ Und von
+drüben antwortete es ebenso siegesgewiß und drohend: „Yale--Yale--Yale,
+ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ...“ Jede Partei suchte die andere
+mit Schreien und Lärmen zu überbieten. Das Schreien ging fort
+und wuchs, von Vormännern ganz methodisch und systematisch unter
+Kommando und gewaltigen Armbewegungen dirigiert: „eins--zwei--drei:
+ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ...“
+
+Indessen ertönte ein Pfeifchen. Die Spieler traten an die Mittellinie
+des Feldes, das in viele weiße Karrees geteilt war, ähnlich einem
+großen Tennisplan, gebückt mit den Händen am Boden, den Kopf tief
+gesenkt, zum Fang und Sprung bereit. Harvard begann. Hoch und weit
+wirbelte der Ball, von einem Harvardman gewaltig emporgekickt durch
+die Luft ... ein Yaleman fängt ihn auf, die Harvardleute fallen über
+ihn her ... der Yaleman stürzt rücklings auf den Hinterkopf zu Boden,
+... ein wilder Knäuel um ihn, zweiundzwanzig Menschen wälzen sich
+übereinander und raufen sich um den Ball, ... indessen sehe ich andere
+mit Wasser und Tüchern herbeispringen. Ein Yaleman ist schwer verletzt,
+halb bewußtlos liegt er am Boden; einen Augenblick stoppt das Spiel.
+Der Verletzte wird zur Seite getragen, ein anderer tritt für ihn ein --
+und das Spiel geht weiter. Jedes Jahr sind es ja mehrere, die nicht nur
+Arm oder Bein, sondern das Leben auf dem Fußballspielplatz lassen.
+
+Hin und her wirbelt der Ball, bald ist Harvard einige Yards voraus,
+bald Yale; hier und da stürzen die Spieler übereinander, wälzen sich
+als Knäuel am Boden ... dazwischen Rufen und Jauchzen und Klatschen und
+Winken der Zuschauer, immer lauter und frohlockender, bald Harvard,
+bald Yale. Wie ein Meer toben die Vierzigtausend da unten. Bald wirbeln
+die blauen Yalefähnchen durch die Luft, bald die roten Harvardflaggen,
+bald erheben sich hier auf der Seite Tausende in der Erregung von den
+Sitzen und beugen sich vor, um besser zu sehen, bald dort: Fortwährende
+Rufe und Schreie. Dazwischen das laute Zählen der Spielführer, die
+Pfeifchen der Spielmeister und das wilde „ra--ra--ra--ra“ der Harvard-
+und Yaleundergraduates, wohl kommandiert und dirigiert. So wogt das
+Spiel bei zwei Stunden hin und her.
+
+Währenddessen eilen die Photographen mit ihren Apparaten und Stativen
+unablässig von einem Ende des Spielfeldes zum andern, um ja keinen
+Zug zu verpassen, die Reporter registrieren genau jede Wendung,
+und Punkt für Punkt wird augenblicklich in alle Windrichtungen
+telegraphiert. Als es Yale zweimal gelingt, den Ball über die letzte
+Harvardlinie hinauszuschleudern, und so der Sieg für Yale immer mehr
+an Wahrscheinlichkeit gewinnt, da kann ein ganzer Haufen Yalestudenten
+nicht mehr an sich halten; im Enthusiasmus springen sie von den Sitzen
+und aus den Reihen aufs Spielfeld hinaus, werfen Hüte, Mützen und
+Mäntel in die Luft, umarmen sich und tanzen vor Freude, und einige
+Schutzleute haben Mühe, sie zurückzudrängen, damit die Bahn für das
+Spiel frei bleibt. Indessen notiert das Bulletinboard am inneren Ende
+des Stadiums für die Zuschauer Zug um Zug, Punkt für Punkt und Linie um
+Linie. Draußen am Charles River stehen viele Hunderte, die kein Ticket
+haben erlangen können, die aber wenigstens mit dem Glas die Zahlen am
+Bulletinboard von ferne zu erhaschen suchen. Mehr und mehr neigt sich
+das Glück Yale zu. Die Yalegirls werden immer enthusiastischer, immer
+schneller wirbeln die blauen Fähnchen in den Händen der Girls durch
+die Luft. Das fortwährende kommandierte heisere „ra--ra--ra--ra“ der
+Harvardmen hilft ihren Kampfgenossen nicht auf.
+
+Ja, in der Tat, das Unerwartete geschieht. Yale gewinnt! Es ist vier
+Uhr. „Yale 8 Punkte, Harvard 0.“ Wilder Siegestaumel ergreift die
+Yalestudenten. Sie stürzen wieder von den Sitzreihen ins Feld herunter,
+gruppieren sich geschwind hinter ihrer blauen Musikkapelle, -- und
+nun geht es in wilden Sprüngen und wildem Tanzen unter Siegessang und
+Freudengeschrei im Feld des Stadiums hin und her. Mächtig schallen
+die Yalelieder durch das Rund. Hüte und Mützen fliegen vor Vergnügen
+aufs neue hoch in die Luft und werden beim Umzug über die Balken der
+siegreichen Goals geschleudert. Kläglich und wütend schreien die
+Harvardmen ihr „ra--ra--ra--rarara“ dazwischen. Yale hat gesiegt. Die
+heiße Schlacht ist aus ...
+
+Die Massen der Tausende auf dem Steinrund sind wieder in Bewegung.
+Der gewaltige Automobilpark löst sich auf. Die Straßen beginnen sich
+wieder zu füllen; die Straßenbahnen fahren wieder davon, eine hinter
+der anderen mit den vielen auf den Trittbrettern hängenden Menschen.
+Nur der Charles River fließt ruhig und gemessen im weiten Bogen nach
+dem dunstigen Boston hinunter und wundert sich über die Tausende,
+die seine alte Holzbrücke passieren, voll Jubel, Enthusiasmus und --
+Enttäuschung. Über den Hügeln von Newton und Brookline taucht die Sonne
+purpurrot unter, und ihr glutroter Schein spiegelt sich in den Fenstern
+Cambridges. Ruhig und verlassen liegen unter den blätterlosen alten
+Ulmen die Dormitories und die Collegehalls der Harvarduniversität.
+Memorialhall reckt seinen charakteristischen Vierungsturm empor und
+öffnet sein Tor den vielen fremden Yalemenschen, die sich jetzt in
+seiner weiten gastlichen Halle, wo die großen Ahnen Harvards ehrwürdig
+von den Wänden schauen, zum Dinner niederlassen. Über dem sich
+leerenden, weiß im Abendlicht schimmernden Stadium aber schwebt wie ein
+Aeroplan gemächlich und still eine riesige Flagge: -- „Ponds Extrakt“!
+Es gibt in Amerika keinen schönen und berühmten oder poetischen Ort,
+den die Reklame nicht meinte noch verschönern zu müssen. Wie eine
+Siegesfahne winkt sie hinüber zur goldenen Kuppel des Kapitols in
+Boston im Abenddunst ...
+
+Kaum haben wir unseren Fuß aus dem Stadium gesetzt, da laufen uns
+schon die Zeitungsboys entgegen mit den Extrablättern, die in riesigen
+Lettern verkünden: „Yale Wins. Final score: Yale 8, Harvard 0“, während
+der Draht längst den Sieg Yales in alle Lande trägt. Der siegreiche
+Fußball aber wandert in den „~trophee-room~“ der Yaleuniversität,
+wo ihn die kommenden Geschlechter mit Ehrfurcht und Staunen hinter
+Schrein und Glas beschauen, wie wir wohl vor den Schädeln der Großen
+und Heiligen in der Geschichte mit Ehrfurcht stehen ... Der Ruhm
+der Yalespieler aber ist gesichert für alle Zeiten, weit mehr denn
+eines berühmten Yaleprofessors, der dicke Bände geschrieben und die
+amerikanische Wissenschaft ein gut Stück weitergebracht hat ...
+
+Griechenland hatte seine Amphitheater und Tragödien, Rom seine
+Kollosseen und Gladiatoren, das Mittelalter seine Turniere und
+Ritterspiele, Spanien seine Stiergefechte, die moderne Gesellschaft in
+Deutschland hat ihre Pferderennen und ihre Mensuren, Amerika hat sein
+Fußballspiel ... Kraft und Jugendheldenmut sucht sein Feld; glücklich
+die Nation, die sich am Heroischen begeistert wie ein Mann. Aber ist
+nicht ein Unterschied, wo wir das Heroische suchen ...? -- -- --
+
+Nach diesem Kennenlernen der akademischen Fußballjugend trieb es mich
+ein andermal die in der englisch-amerikanischen Welt großartig in der
+sog. ~Young men’s christian association~ weltumspannend organisierte
+Jugend kennenzulernen. Ich begnügte mich, einer Einladung des
+Zweigvereins, des sog. Y. M. C. A. in Cambridge, zu folgen.
+
+Es war ein geräumiges Vereinshaus, natürlich ein eigenes, an der
+Hauptgeschäftsstraße, der Massachusetts Avenue in Cambridge, in das
+ich eintrat. Als ich die schöne Freitreppe hinanstieg, gelangte ich
+auf dem ersten Stock zu dem Bureau, wo der Sekretär den Fremden
+freundlich empfängt, dann in einen weiten offenen Empfangsraum mit
+feinen Teppichen, elektrischem Licht wohl ausgestattet, und zu den
+anschließenden gemütlichen Lesesälen, wo etwa 30 Zeitungen, die besten
+Tageszeitungen, Wochenschriften aller Art, religiösen, belehrenden
+und künstlerischen Inhalts, auflagen. Auch ein Billard und andere
+Geselligkeitsspiele fehlten nicht und werden allabendlich eifrig
+benutzt. Die Treppen führten mich weiter empor zu den mannigfachsten
+Klubräumen in den verschiedensten Größen für kleinere und größere
+Zusammenkünfte der Jugendlichen. Der Verein in der Großstadt umfaßt
+meist mehrere hundert Mitglieder, die an Einzelbestrebungen und Alter
+so verschieden und zahlreich wie möglich sind, so daß sie geteilt
+sich in kleinen Zirkeln zusammenfinden. Und hier herrscht nun die
+bunteste Mannigfaltigkeit, zunächst was das Alter betrifft: Ich sah
+kleine Knirpse, die wohl kaum zehn Jahre alt sein mochten, die noch die
+Volksschule besuchen, aber eifrig schon „im Verein“ verkehrten. Das
+amerikanische Leben drängt im ganzen ja weit mehr und weit früher auf
+die Öffentlichkeit hin als das unsere. So ist auch das Clubleben weit
+mehr ausgebildet. In jeder Schule von den Kleinsten angefangen bestehen
+oft schon Schülerklubs, die sich selbst regieren, ihre Präsidenten und
+Beamten wählen und so im kleinen die große Demokratie des ganzen Volkes
+abbilden und auf das politische Leben, an dem jeder Bürger Anteil
+nehmen soll, vorbereiten. Neben diesen Kleinen gab es genug derer in
+den Zwanzigern und Dreißigern. Neben den Volksschülern die Männer,
+Arbeiter und Angestellten +aller+ Berufszweige! Dazwischen Realschüler
+von fünfzehn und sechzehn, Lehrlinge, junge Kaufleute und Handwerker
+von noch nicht zwanzig. Jedes Alter und jeder Berufszweig bildete einen
+eigenen Kreis und eine eigene „Klasse“.
+
+Ebenso bunt wie das Alter waren die Bestrebungen, die sich da
+zusammenfinden. Der Y. M. C. A. in Cambridge bietet neben den
+Bibelstunden, die alle als Grundlage vereinen, Unterricht in Sprachen,
+Mathematik, Zeichnen, Singen, Buchhaltung, Schreibmaschinenschreiben,
+Stenographie -- und vor allem Turnen und Sport. Dazu kennzeichnen noch
+zwei Dinge jedes amerikanische Klubleben: Gymnastik und politische
+Debatten. Jedermann vom Schuljungen bis zum Studenten und verheirateten
+Mann übt täglich seine Spiele, es sei Fußball, Base-ball, Basket-ball,
+Tennis oder Laufen, Springen und Geräteturnen ... So muß jedes
+Vereinshaus des Y. M. C. A. vor allem eine eigene vollständig mit allen
+modernsten Geräten und Spielen wohlausgerüstete Turnhalle besitzen.
+An ihrer Größe und Ausstattung kann man das Florieren des Vereins
+kontrollieren. Aber nicht nur das, ein amerikanisches Vereinshaus, das
+auf der Höhe sein will, muß möglichst auch ein eigenes Schwimmbassin
+haben oder allerwenigstens, wenn es nicht als veraltet und rückständig
+gelten will, einen eigenen großen Baderaum mit vielen Brausen und
+Duschen. Was gibt es auch schöneres als Spiel und Sport, erst zu
+turnen und zu springen und zu schwingen und zu schwitzen und dann zu
+baden und zu duschen, zu spritzen und im Wasser zu planschen! Das
+hatte ich selbst in der akademischen Turnhalle öfters ausprobiert. Der
+Verein muß sogar Gelegenheit geben, sich von einem zuständigen Arzt
+auf körperliche Gesundheit und Tauglichkeit untersuchen zu lassen!
+Und wie oft kontrolliert der junge Amerikaner mit Stolz zunehmendes
+Maß, Gewicht und Stärke ... So ist denn auch der professionelle,
+wohlgelernte, mit gutem Gehalt angestellte Turnmeister eine der
+wichtigsten Personen unter allen Vereinsbeamten. Und mit welcher
+prächtigen Grazie und Gewandtheit weiß er alle Übungen vorzumachen!
+
+Dazu tritt das andere, was jedem Amerikaner über alles geht, Reden
+(~addresses~) hören und debattieren. Man kann jeden Abend zwei, drei
+und mehr Redner hören. Man ist einfach für alles interessiert, für den
+Nordpol, den Mars, für Luftschiffe, für babylonische Ausgrabungen,
+neueste elektrische Erfindungen ... jeder Redner und jeder „~speech~“
+ist willkommen. Es muß möglichst jeden Abend oder jede Woche einmal
+etwas Großes im Verein „los“ sein. Und wie offen erfolgt die
+Aussprache! Da werden Fragen gestellt, der Redner unterbrochen;
+keiner fürchtet sich, den Mund aufzutun. In Amerika findet man immer
+und überall fragende, lernbegierige, empfängliche und für geistige
+Darbietungen dankbare Menschen. Selten wird kritisiert, immer bewundert
+und gelobt!
+
+In den obersten Stockwerken des Vereinshauses -- ich kletterte mit
+meinem Führer bis aufs Dach hinauf, wo man den Turm der City Hall
+gerade vor sich hatte und durch die Nacht bis zu dem lichtschimmernden
+Boston hinüberblicken konnte -- fand ich auch Zimmer zum Logieren für
+durchreisende Mitglieder von Zweigvereinen, für den Sekretär und die
+ständig fungierenden bezahlten Beamten des Vereins.
+
+An jenem Abend, an dem ich im Verein weilte, hatte ich Gelegenheit,
+einem Schauturnen beiwohnen zu können, das drüben den seltsamen Namen
+„Karnival“ trägt. Ich wurde erst durch die Baderäume geführt, wo sich
+Kleine und Große in hellen Haufen tummelten und ihre Turnkleidung
+anlegten. Dann bekam ich das „Gymnasium“ (die Turnhalle) zu sehen, mit
+der kaum die besten unserer Turnhallen es hätten aufnehmen können.
+Eine große Zuschauerschaft war schon versammelt, Eltern, Väter und
+Mütter, Brüder und Schwestern. Alles wartete gespannt auf das Öffnen
+der Flügeltüren und das Einmarschieren der Turner. Und dann kamen sie,
+nacheinander, die Riegen der kleinen Knirpse, die so wohl über den
+Bock zu springen und allerlei lustige Purzelbäume zu schlagen wußten,
+dann die älteren Schüler mit ihren exakten Stab- und Hantelübungen,
+und endlich die in den Zwanzigern, meist sehnige, straffe, frische
+junge Menschen mit ihren geschwellten Armmuskeln und strammen Waden.
+Neu waren für mich eine ganze Reihe wohl ausgeführter Reigentänze, die
+mit ihren wilden und doch taktmäßigen Sprüngen mich an Indianer- und
+Negertänze erinnerten. Eine Riege erschien als „Farmer und Trapper“
+verkleidet, eine andere mit brennenden Holzkeulen, die im Dunkeln
+geschwungen einen faszinierenden Eindruck hinterließen. Mancher der
+Turner hatte ein großes „C“[21] auf dem Rücken als Ehrenzeichen, daß
+er eine Reihe vorgeschriebener ausgesucht schwerer Übungen vollendet
+ausführen kann. Auch einige farbige junge Männer waren als Turner
+darunter, was mich besonders freute.
+
+In den Vereinigten Staaten bestehen etwa 2000 solcher
+Y. M. C. A.-Vereine, die 681 eigene Häuser haben mit einer
+Gesamtmitgliederzahl von über 450000 Personen und einem Gesamtvermögen
+von ungefähr 50 Millionen Dollars! Und wieviel wird für sie gegeben!
+Der Bostoner Verein, dessen Haus kürzlich in der Nacht in Flammen
+aufging, sammelte binnen 14 Tagen 500000 Dollars für ein neues
+größeres! Der Cambridger Verein plant, seine Mitgliederzahl von
+200 auf 2000 zu erhöhen und man wird das in einer „Kampagne“ auch
+fertigbringen. Die Stadt wird gleichsam für wenige Wochen bestürmt und
+erobert: Energie, Zielbewußtsein, Begeisterung, „Rekord“ -- die leben
+nirgends mehr denn in Amerika. Die Tätigkeit der Y. M. C. A.-Vereine
+ist im ganzen Land von jedermann anerkannt, vom Präsidenten, der sie
+öffentlich gelobt hat, angefangen. Sie schaffen anerkanntermaßen
+Charaktere, treffliche gebildete Bürger, gesunde frische Menschen,
+allem Gemeinen, Trägen und Genußsüchtigen abhold. -- -- --
+
+Mittlerweile war langsam Weihnachten herangekommen. Wie würde es
+mir im fremden Erdteil am Heiligen Abend ergehen und zumute sein?
+Hatte ich bis jetzt unter den vielen neuen Eindrücken, deren Kette
+für mich gar nicht abriß, nie an Heimweh auch nur gedacht, sondern
+lebte fortgesetzt in einer Art Erobererstimmung, ein ganzes Land in
+seiner eigenen neuen Art, seiner Sitten, Anschauungen und Gebräuchen
+mir geistig zu eigen zu machen, so würden mich vielleicht die stillen
+Weihnachtstage doch auf einmal „kleinkriegen“! Das fürchtete ich ...
+
+Man feiert Weihnachten drüben doch recht anders als bei uns. Die
+zentrale Stellung, die das Weihnachtsfest im deutschen Volks- und
+Gemütsleben hat, hat es drüben lange nicht, ja wohl in keinem Volk
+sonst. Schon das Sinnbild des deutschen Weihnachten fehlt, der
+Christbaum, wenn auch nicht überall ...
+
+Weihnachten voraus geht in Amerika der nationale „~Thanksgiving day~“
+am 27. November. Zwei nationale Feiertage hat die Union, an denen sich
+das ganze Volk ohne Unterschied zusammenfindet, das ist der „~Fourth of
+July~“ (4. Juli), der Verfassungstag, der mit allem Pomp und Aufsehen
+und höchstem Stolz vom ganzen Volk von der Küste des Atlantik bis zum
+Stillen Ozean und von den großen Seen bis zum Golf von Mexiko begangen
+wird; man halte dagegen den Streit und die Zerrissenheit unseres Volkes
+in Sachen eines Verfassungstags! Und daneben religiöser betont als
+der 4. Juli der „Danksagungstag“, wenn die ersten Schneestürme die
+nördlicheren Staaten durchfegen und man sich um den traditionellen
+Truthahn sammelt, wie wir um die Martins- oder Weihnachtsgans.
+An diesem Tage gedenkt das amerikanische Volk in allen Kirchen
+aller Denominationen mit Dank des Reichtums, der Sicherheit, des
+Fortschritts, des Glücks und Ansehens, das es in der Welt genießt
+und auch des Sieges, den es im Weltkrieg „der Gnade des Höchsten“ zu
+verdanken hatte. Und es läßt sich gern die Verpflichtung vorhalten, nun
+auch seinerseits sein Wort und seinen Willen kräftiger als bisher zur
+Beglückung und Befriedung der Völker trotz der Monroedoktrin in die
+Wagschale der Welt zu werfen, Kriege in der Welt zu verhüten (!), daß
+jedem, auch dem kleinsten Volk in der Welt -- darum auch Tschechen,
+Polen, Südslawen und Serben, Juden -- ihr Selbstbestimmungsrecht
+werde, besonders allen Unterdrückten wie einst dem amerikanischen
+Volk selbst, als es „der Herr aus seinem Diensthause führte“. Zu
+diesem feierlichen ~Thanksgivings day~ hatte ich nicht weniger als
+fünf Einladungen erhalten zu drei Professoren, zu dem befreundeten
+liebenswürdigen Studentenehepaar und zu den Eltern meines Freundes
+Arthur E. W. Leider konnte ich nur +einen+ Truthahn verspeisen, da der
+Thanksgiving leider nicht fünf Tage hintereinander gefeiert wird. Ich
+nahm des letzteren freundliche Einladung an, da sie zuerst gekommen
+war, und mußte die anderen nicht leichten Herzens ausschlagen. W.s
+Eltern wohnten in der freundlichen und schöngebauten Vorstadt Bostons
+Dorchester. Ich hatte dort Gelegenheit, auch einmal in amerikanisches
+Familienleben des kaufmännischen Mittelstandes hineinzuschauen. Der
+Familienvater war zwar ertaubt, aber um so intensiver belesen in aller
+schönen Weltliteratur. Und kein Laut der Klage kam wegen seines Leidens
+über seine Lippen ...!
+
+ * * * * *
+
+So kam Weihnachten näher.
+
+Dienstag vor Heiligabend las der Rhetor der Universität in „Appleton
+Chapel“ aus den „Christmas Carols“ von Dickens. Dazwischen wurden
+englische Weihnachtslieder mit frischer Melodie gesungen, darunter
+auch das Lied von der „heiligen Nacht“ in Übersetzung. Wie seltsam das
+in Amerika berührte! Denn kein Lied ist deutscher als dieses. Ebenso
+seltsam klang mir immer die Übersetzung unseres Lutherliedes: „Ein
+feste Burg ...“ als englischer Choral in den Ohren:
+
+ „~A mighty fortress is our God,
+ A bulwark never failing,
+ Our helper he amid the flood
+ Of mortals ills prevailing.
+ For still our ancient foe
+ Doth seek to work us woe,
+ His craft and power are great
+ And armed with eternal hate;
+ On earth is not his equal usw.~“
+
+Dann schlossen die Vorlesungen auf zehn Tage. Zehn goldene Tage
+war ich einmal die vorgeschriebene Zwangslektüre los und konnte im
+Lande der „Freiheit“ einmal wieder meiner geistigen Selbstbestimmung
+leben! Freitag war heiliger Abend. Aber ich sah in Cambridge keinen
+Christbaum, noch weniger einen Weihnachtsjahrmarkt. In Neuengland
+herrschen noch ganz die alten +englischen+ Weihnachtssitten. An den
+Fenstern der Läden und Häuser hingen einige grüne Kränze -- das war
+alles. Nicht einmal rechte Weihnachtsgottesdienste, wie wir sie gewöhnt
+sind, gab es, nichts von Metten und Vespern. Das Fest wird auch bloß
+mit +einem+ Feiertag begangen!
+
+So hatte ich mir selbst am heiligen Abend -- den sie übrigens drüben
+auch gar nicht feiern! -- einen kleinen Weihnachtstisch zurechtgebaut
+und schenkte mir selbst ein paar blitzende amerikanische Schlittschuhe,
+zündete mir einige Kerzen auf dem Kamin an, steckte hinter meine
+Bilder ein paar Tannenreiser, schichtete ein paar rotwangige Äpfel
+auf und feierte so still für mich heiligen Abend in der neuen Welt.
+Als ich die Kerzen angezündet und ihr Schein auf die paar mageren
+Zweiglein fiel, fiel, glaube ich, auch ein kleines, warmes Tränlein
+mit darauf. Jetzt wäre ich doch fürs Leben gern die zehn Ferientage
+einmal schnell zu Hause gewesen und hätte soviel zu erzählen gehabt
+-- aber das Weltmeer mit seinen 4000 Meilen lag dazwischen! Ich fing
+nun manchmal schon heimlich die Wochen an zu zählen, wann es wieder
+heimgehen würde. Bei Wachsduft und Kerzenschein kamen auf einmal alle
+die Weihnachtsfeste der Kindheit leise zu mir in mein amerikanisches
+Studierzimmer hereingeschritten, frohe und ernste, und stellten sich
+wie unsichtbare Engel an den Wänden meines „~furnished room~“ auf und
+hatten wohl alle auch ein kleines, warmes Tränlein an den Wimpern ...
+Damit mir es nun aber in meinem Zimmer nicht gar zu einsam werde,
+holte ich mir einige Kameraden aus unserer Hall herein, von denen die
+meisten aus dem eigenen Lande auch nicht heimfahren konnten, weil
+viele weither aus dem Süden oder dem „mittleren Westen“ waren. So kam
+zu meiner „Weihnachtsfeier“ mein lieber japanischer Freund Ashida,
+Mr. Moore und der Heidelberger Philologe. Wir lasen deutsche und
+englische Weihnachtsgedichte zusammen und sangen dann alle miteinander
+auf +deutsch+ „Stille Nacht, heilige Nacht“, bis die Kerzen langsam
+herabbrannten. Der Japaner, der Amerikaner und wir zwei Deutschen!
+
+Als sie wieder gegangen waren, packte ich die heimatlichen
+Weihnachtspakete aus, die vor einigen Tagen angelangt waren; das wollte
+ich gern ganz allein tun. Da kamen noch allerlei -- aber jetzt echte
+deutsche -- Tannenzweiglein und duftende rotwangige deutsche Äpfel,
+Weihnachtskerzen, warme Sachen und vor allem Weihnachtsbrieflein zum
+Vorschein. Und wie war das alles mit soviel Liebe und weiser Berechnung
+zeitig aus der Heimat abgegangen ...! Und wie wirkte das alles hier so
+traulich und wehmütig zugleich! -- --
+
+Der Abend schloß für mich nicht so ganz still und die Nacht nicht so
+ganz heilig insofern, als sich -- wohl nach einer zugezogenen Erkältung
+-- in der Nacht Fieber einstellte und ich das Bett hüten und nicht mehr
+zu Präsident Lowell gehen konnte, der alle Harvardstudenten, die nicht
+heimfahren konnten, zu einem offenen Weihnachtsabend zu sich eingeladen
+hatte. Das war schön von ihm! Ich lag derweilen allein fiebrig in der
+Weihnachtsnacht ... In derselben Nacht gab es auch noch einen riesigen
+Wasserröhrenbruch in der Stadt, so daß das Wasser in hellen Strömen
+durch alle Straßen schoß. Da man ein böses Einfrieren befürchten mußte,
+griffen noch in derselben Nacht die Studenten mit zu, als sie gerade
+vom Präsidenten kamen, um noch größeres Unglück zu verhüten.
+
+Andern Tags hatte mich Freund W. wieder zu seinen Eltern zusammen
+mit seinem Stubengenossen R. nach Dorchester zum „Christmas-Dinner“
+eingeladen. Wir hatten daselbst wieder „~a very good time~“ (viel
+Spaß), wie man drüben sagt, und sangen allerlei wehmütige Negergesänge,
+die ich einige Tage zuvor in einer baptistischen Negerkirche gehört
+und gelernt hatte. Dort war, als ich eintrat, alles ganz „schwarz“
+gewesen, nur die weißen Zähne und Augen ließen erkennen, daß Menschen
+anwesend waren!! Süßlich-sentimental erklangen die Lieder, aber der
+Prediger fuchtelte dafür um so gewaltiger mit seinen Armen auf dem
+Pult. Ein laut schreiendes Kind und ein bellender Hund begleiteten in
+dieser Negerkirche die Predigt auf ihre Weise! Und überall duftete es
+eigentümlich ...
+
+Gegen Abend machte mein Freund mit uns noch einen Weihnachtsbesuch in
+einem sehr reichen Hause im Franklinpark, wo eine sehr wohlhabende
+Dame, die einst mit ihm -- glückliches Land der Koedukation! -- in
+die „~high School~“ in Dorchester gegangen war, auf ihrem ländlichen
+Schlosse wohnte. Wir schritten die tiefverschneiten Parkwege entlang
+und traten ein. Ein riesiger prächtiger Christbaum stand hier auf
+spiegelblankem Parkett in der Empfangshalle. Er reichte vom Fußboden
+bis an die Decke und war über und über mit Hunderten von Kerzen
+besteckt. So sah ich doch noch einen Christbaum! Feine Herren und Damen
+verteilten unter ihm an eine Anzahl von all der strahlenden Pracht wie
+geblendet dastehende arme Kinder der Vorstadtviertel Weihnachtsgaben.
+Die Dame des Hauses selbst sang am glänzend polierten Flügel allerlei
+süßtönende Lieder ... Aber trotz allem, dies Weihnachten gefiel mir
+auch nicht recht. Es war mir zu fein.
+
+Dieselbe Nacht noch vom ersten zum zweiten Feiertag wütete in ganz
+Neuengland ein furchtbarer Schneesturm, wie man ihn lange nicht
+erlebt hatte. Die schwersten Äste der alten Harvardulmen lagen am
+Morgen zerschmettert am Boden. Die Vorstadt Chelsea stand infolge der
+Sturmflut unter Wasser; viele Schiffe waren gestrandet, Neger wurden
+erfroren in den Straßen aufgefunden, denen es immer noch schwer fällt,
+den nördlichen Winter durchzumachen; Seeleute wurden zahlreich vermißt.
+Auch das kein schönes „Weihnachten“! Und am Morgen lagen, als man
+erwachte, Schneemassen in den Straßen Cambridges, daß niemand von den
+Studenten, die früh zu ihrem „~job~“ als Organist oder Prediger aufs
+Land hinauswollten, auch nur vor die Tür kam!
+
+[Illustration: ~BOSTON~
+
+~Ralph Waldo Emerson’s Haus in Concord (Mass.)~]
+
+[Illustration: ~NIAGARAFÄLLE~
+
+~Links: Der amerikanische Fall~
+
+~Rechts: Der kanadische (Hufeisen-)Fall~]
+
+Als guter deutscher Tourist zog ich trotzalledem nachmittags dicke
+feste Stiefel an, hing einen tüchtigen deutschen Lodenmantel um und
+stapfte nach Mount Auburn hinaus, besah mir die einzigartig schöne
+Winterlandschaft und arbeitete mich bei blendendem Sonnenschein vier
+Stunden durch den hohen weichen Schnee von Concord nach Belmont durch
+und fühlte mich bei dieser Wanderung wie in den Schwarzwald oder auf
+den hohen Westerwald versetzt. Ja, ich hatte Lust, in diesen Tagen nach
+Kanada zu reisen, wo der Winter meist noch dreimal so dick ist als in
+Neuengland, aber ich ließ glücklicherweise den Plan einstweilen wieder
+fallen, denn wer weiß, wo ich in Schnee und Eis stecken geblieben
+wäre ...
+
+Am letzten Abend des Jahres hatte ich noch Gelegenheit, noch einen
+Weihnachtsunterhaltungsabend in einem „+~settlement-house~+“ in Boston
+mitzumachen. In den sogenannten „Settlements“ werden Knaben und Mädchen
+der ärmsten Viertel von sozialgesinnten Studenten zu Klubs, Spiel,
+Sport und Vorträgen gesammelt, um geistiges Leben in ihnen zu wecken,
+Sinn für Anstand, Sitte und charaktervolles Leben in ihnen zu pflegen,
+ja ihnen nach Möglichkeit alles das zu ersetzen, was sie in ihren
+elenden und traurigen Verhältnissen daheim entbehren müssen. Also
+eine Arbeit ähnlich der in den Hamburger Volksheimen, die sich die
+~settlement~-Bewegung in England und Amerika in der Tat zum Vorbild
+genommen haben. Die ~settlement~-Arbeiter oder „Siedler“ wohnen meist
+-- ein großes Opfer ihres Lebens! -- selbst im Klubhaus mitten in der
+übelsten Umgebung (dem sogenannten „~slum~“), um daselbst als Salz
+und Licht ihrer Umgebung zu wirken. Reiche Freunde unterstützen die
+Arbeit und erstatten den Unterhalt der Siedlung. Nach einer feudalen
+Schlittenfahrt im „Franklinpark“ dinierten wir mit den feinen Damen
+der Bostoner Gesellschaft, soweit sie zum Vorstand des Settlements
+gehörten, und dann ging es -- ein mir nicht gerade angenehmer Kontrast!
+-- zu den Vorführungen des armen Jugendklubs. Die Knaben und Mädchen
+boten allerlei hübsche theatralische Aufführungen in niedlichen,
+selbstgefertigten Kostümen; zum anderen Teil unterhielt die Kinder
+ein professioneller Komiker, der sprechend allerlei Tiere und
+Maschinengeräusche nachzuahmen wußte und zuletzt noch als Bauchredner
+auftrat. Nicht endenwollender Beifall der Kinder lohnte ihn. Zum
+Schluß gab es das in Amerika immer unvermeidliche „~ice-cream~“ mit
+Cakes! Ein derber Junge konnte es sich aber nicht versagen -- der
+Komiker hatte es ihm wohl angetan! -- einem anderen eine Portion des
+schönen „~ice-cream~“ in den Nacken zu gießen. Mein Freund setzte ihn
+dafür flugs und energisch an die Luft. Meist waren es Kinder armer
+eingewanderter Italiener, Iren, Juden und Slawen.
+
+So ging das alte Jahr für mich drüben zu Ende. Am Silvesterabend
+zündete ich noch einmal meine Kerzen auf dem Kaminsims an und machte
+schon Pläne zu meiner baldigen großen Fahrt durch die Union, die mich
+bis zum Stillen Ozean führen sollte ...
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 21: = Cambridge!]
+
+
+
+
+Über den Niagara nach Chikago.
+
+
+Aber wie zum Stillen Ozean gelangen? Ein reicher Allerweltsreiseonkel
+war ich ja nicht. Mein mir verliehenes amerikanisches Stipendium
+reichte kaum für das Studienjahr. Und einen wirklich einträglichen
+„~job~“ hatte ich nicht, seit jener „Freshman“ behauptete, mein
+Deutsch striche sein Professor als Fehler an! Da kam eine ernst-frohe
+Nachricht für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es bewahrheitete
+sich wieder einmal: Was dem einen sein Tod ist, ist dem andern sein
+Brot. Hatte ich hier in Amerika einem Onkel das Leben wiedergegeben,
+so starb derweilen mir eine liebe, gute, ferne Tante im Schwabenland,
+die mich einst als Tübinger Studenten freundlich beherbergt und an
+mir beifällig zu rühmen wußte, daß ich trotz all meiner ernsthaften
+Neigungen mit Recht „auch e bissele weltlich“ geblieben sei. Sie
+hatte mir nun -- dafür sei ihr im Grab noch gedankt! -- eine kleine
+Erbschaft hinterlassen, die zu einer Fahrt, wenn man es wohl einteilte,
+an den Stillen Ozean hin und her reichen mochte! So stand ich vor dem
+Entweder-Oder: Entweder das Geld zu den Wechslern zu tragen und dann
+mein Pfund einst mit Zinsen wieder heimzunehmen, oder es auf sehr
+ehrenwerte und anständige Weise hier im Lande Amerika durchzubringen,
+d. h. die Erbschaft in Geist und unwiedereinbringliche Erlebnisse zu
+verwandeln. Ich wählte das letztere und habe es noch nie bereut. Wer
+weiß, ob sie nicht sonst die Inflation verschlungen hätte. So beschloß
+ich, die Erbschaft zu „verreisen“. Ohne dich, liebe gute Tante, hätte
+ich wohl nie den Stillen Ozean und das Felsengebirge gesehen!
+
+Nun fing ich alle Tage zu rechnen an, -- aber es wollte nicht recht
+reichen! Denn die Fahrkarte allein nach San Franzisko und zurück
+kostete wohl bald dreimal so viel wie die von Hamburg zur See nach
+Neuyork! Denn von Boston nach San Franzisko +und zurück+ ist ungefähr
+so weit wie von Berlin in gerader Linie bis nach Kapstadt oder beinahe
+bis nach Wladiwostock!! Ja, ich überlegte schon, ob es am Ende nicht
+gar gescheiter sei, von San Franzisko gleich über den Stillen Ozean,
+durch Japan und auf der sibirischen Bahn heimzufahren. Aber diese
+Route wäre noch um zwei Drittel Weg weiter gewesen. Freilich hätte
+ich dann einen „~trip round the world~“ vollendet und auch von dem
+Felsengebirge, dem Niagara und dem Grand Canyon erzählen können.
+
+Mit diesen rechnerischen Gedanken gehe ich eines Tages durch die
+„Washingtonstreet“ in Boston und sehe in einem Reisebureau günstige
+Fahrgelegenheiten für Auswanderer nach Kalifornien in Gestalt von
+ermäßigten Rundreisescheinen „Chikago-Los Angeles-Frisko-Chikago“
+aushängen -- zum halben Preis! Das war etwas für mich! Ich war ja nun
+zwar kein Auswanderer, aber vielleicht konnte auch ich ein solches
+Billett kriegen. Dazu kam noch die 20stündige Reise Boston-Chikago und
+wieder zurück. Aber die konnte allein auch kein Vermögen kosten. So
+war es. Ich behielt dabei immer noch die Hälfte meines Erbes für den
+Tagesunterhalt. Lebte ich recht sparsam, so mochte es wohl bis nach
+San Franzisko reichen. Wieviel konnte ich sehen, wenn ich so die ganze
+Union in ihrer vollen Breite +zweimal+ durchfuhr! Leuchtend stieg die
+große Reise vor meiner Phantasie auf! Fuhr ich öfters des Nachts, so
+blieben die Tage um so freier zu Besichtigungen. Vor meinem geistigen
+Auge tauchten schon die Niagarafälle, Chikago, die Indianerprärien,
+der Mississippi, das Felsengebirge, die Wüsten Arizonas und Nevadas,
+der Grand Cañon des Koloradoflusses, von dem ich schon geradezu
+faszinierende Bilder gesehen hatte, das paradiesische Kalifornien,
+der Pazifik, das vom Erdbeben zerstörte San Franzisko selbst, die
+Mormonenstadt, der Große Salzsee und wer weiß was alles auf! Ohne
+Zögern schritt ich tapfer in das Reisebureau hinein und erstand das
+preiswerte „Auswandererbillett“, einen richtigen übermeterlangen
+Fahrschein mit allen möglichen und unmöglichen Bahnstationen darauf
+und der Berechtigung auf etwa 12000 ~km~ Eisenbahnfahrt! Mein Herz
+hüpfte und zersprang fast vor Freuden: Einen ganzen Erdteil sollte
+ich zweimal durchfahren! Wie viele in der Welt kamen mir gleich? In
+Harvard staunten sie über meinen kühnen Entschluß. Denn es gab nicht
+viele Amerikaner in Neuengland, die schon einmal bis nach Kalifornien
+gekommen waren! Denn wer von uns Deutschen war am Kaukasus oder am
+oberen Nil?
+
+Mittlerweile war es langsam Frühling geworden. Vom Eise und Schnee
+befreit waren Ströme und Bäche, als ich zur „Northstation“ in Boston
+hinausfuhr in Richtung „Buffalo“! Der weitgereiste Freund Moore hatte
+mir noch viele gute Ratschläge gegeben, Adressen und Reiserouten
+empfohlen, mein japanischer Freund Mr. Ashida hatte noch einmal in
+Boston mit mir zu Abend gegessen und gab mir das Geleit bis an den
+Zug, dann war ich allein, ganz allein und fuhr dem „wilden Westen“ zu!
+Beide Freunde konnten sich wohl am ehesten in meine Seelenverfassung
+hineinversetzen, der eine durch seine weiten Fahrten als Dolmetscher
+und Führer mit Cook bis nach Italien, Griechenland und Konstantinopel,
+der andere kannte selbst den weiten Weg von Japan über den Stillen
+Ozean, das Felsengebirge und die Mississippiebene nach Boston
+herüber ...
+
+Als wir fuhren, schaute ich mich zunächst in dem fürstlich
+ausgestatteten Pullmannwagen um. Die Decke war wie in einem Salon.
+Plüsch auf den Sitzen, auf die man zum Ausruhen die Beine legte (soweit
+hatte ich mich auch schon amerikanisiert!). Hinter jedem Sitz brannte
+zum bequemen Lesen eine besondere Glühbirne. Der Zug war gar nicht
+besetzt. Wenige gelangweilte Zeitungsleser saßen auf einigen anderen
+Plätzen in den Ecken und ließen bald ihre „~papers~“ zu Boden gleiten,
+um selig zu entschlummern, Kaufleute, Geschäftsreisende, die gewiß wie
+oft schon diese Strecke gefahren waren. Was ahnten die, was in meiner
+Brust alles vorging und wie mir das Herz klopfte: „Nun hast du die
+große Fahrt an den Stillen Ozean angetreten ...!“ An der Tür stand,
+jedes Winks gewärtig, der Negerschaffner zur Bedienung. Ab und zu kam
+der „~trainboy~“ und bot seine Postkarten, ein Dollaralbum für einen
+halben Dollar an, Handschuhe, Süßigkeiten, Zeitschriften wie immer.
+Langweilig konnte es mir auch ohne ihn nicht werden. Mir war alles
+interessant, was ich sah; ich schaute gespannt hinaus, solange noch
+etwas von der Landschaft zu erkennen war ...
+
+Langsam senkte sich die Abenddämmerung nieder. Es war ein Nachtzug.
+Wir fuhren durch historische Gefilde. Im Rauch der Großstadt und
+ihrem unübersehbaren Häusermeer versank der schöne Frühlingstag.
+Wir überquerten den Charles River und rasten zwischen dem langen
+straßenreichen Sommerville, mit seinen unzähligen freundlichblickenden
+weißgestrichenen Holzhäusern und ihren offenen Vorhallen und Veranden
+dahin. Über die Dächer grüßte Fort Prospect Hill mit seinen steinernen
+Zinnen und seinem wehenden Sternenbanner, ein stolzes Wahrzeichen aus
+dem Unabhängigkeitskrieg. Der hohe weiße Obelisk auf Bunker Hill, wo
+einst General Warren und Oberst Prescott vor anderthalbhundert Jahren
+sich so lange siegreich gegen die Engländer behauptet hatten, blieb
+zurück. Wir jagten an Arlington, den Arlington Heights und der Gegend
+von Concord in seiner poetischen Einsamkeit vorüber. Sie waren mir
+von meinen Fußreisen wohl bekannt. Im Rauch der Fabriken, Schiffe und
+Bahnen der Boston-Bucht war inzwischen die Sonne hinabgesunken ...
+
+Wir waren über Bostons nächste Umgebung hinaus. Hügel, Wälder und
+Felder mit Obstbäumen, an denen sich schon das erste Grün hervorwagte,
+wechselten miteinander. Aber so rechten Mut, hervorzukommen, hatte
+das Grün an den Bäumen noch nicht. Denn wie oft bricht im April noch
+Sturm und Schnee aus Kanada über Knospen und Blüten herein, die ebenso
+schnell ein plötzlicher Sommer ablöst. Wie das Klima drüben die größten
+Gegensätze aufweist, so sind auch die Menschen voller Kontraste. Das
+hartwechselnde Klima hat sie rauh, aber auch energisch gemacht. Auch
+hier machte das Land, wie einst zwischen Neuyork und Boston, vielfach
+den Eindruck des Unfertigen. Wohlangebaute und wohlausgenutzte Felder
+in unserem Sinn sah man selten. Wälder wechselten mit öder Steppe. Hier
+und da tauchten Farmen auf, manchmal auch verlassene, wo die Ausbeute
+sich nicht mehr lohnte. Aber man muß gerecht bleiben: Was in Europa
+in einem Jahrtausend erreicht worden ist, dazu war ja hier nur ein
+Jahrhundert Zeit zu Besiedlung und Urbarmachung eines Kontinents! So
+sehen wir Europäer, die wir nur an kleine, wohlgeordnete Landschaften
+gewöhnt sind, wo jeder Fußbreit jemandem gehört und seit Urväterzeiten
+umgepflügt worden ist, leicht Unordnung, Schmutz, wüstliegendes Land,
+Steine, verkohlte Baumstämme, unrationell abgeholzte Wälder, an deren
+Wiederaufforstung man kaum denkt, und übersehen die vollbrachte
+Leistung. Hier lag eine Mühle und da eine Faktorei, dort eine einzelne
+Farm und drüben ein abgelegenes Landstädtchen. Der Zug hielt selten,
+kaum alle dreiviertel Stunden oder alle Stunden einmal, manchmal noch
+viel länger auch gar nicht ...
+
+Wir fuhren mit etwa 50 Meilen Geschwindigkeit. Die Wagen sind so fest
+und gutfedernd gebaut, daß man selbst bei langen Fahrten kaum etwas
+vom Fahren merkt. Nur ein leichtes Rollen und ein leises Ächzen der
+Wände verrät es. Das ist alles. Die Stationen enthalten zum Teil
+allerlei Merkwürdiges. Namen: Amsterdam, Utica, Rome, Syrakuse, Genf,
+Batavia! Alle diese Orte liegen im Staate „Neuyork“! An wundervollen
+Gebirgsgegenden fuhren wir vorüber, Caatskill-Mountains und Berkshire
+hills. Ach wer da überall wandern, die Aussichten sehen oder dort ein
+Zelt für ein paar Wochen aufschlagen könnte! Aber dazu reichte meine
+Zeit lange nicht. Da wären noch Pumas, schwarze Bären, Wildkatzen,
+Rotwild, Füchse, Dachse, Adler, Wildenten, Reiher und Haselhühner zu
+erlegen! Es ist die Gegend, wo einst die Mohawkindianer und Irokesen
+dem vordringenden Trapper, der mühsam seinen schweren Karren mit seinen
+Tieren durch die Täler trieb, hemmte, überfiel und erschlug, was ihm
+der Weiße reichlich vergalt. Aber heute ist weder von Mohawks noch
+Irokesen etwas zu sehen ... Nur einförmige Rauchwolken lagen über dem
+Schienenstrang ...
+
+Etwa um zehn Uhr fing der Schlafwagenschaffner, der Neger, in sehr
+großer Gemächlichkeit und Seelenruhe an, unseren D-Wagen (die keine
+Abteile haben, um etwaigen Überfällen leichter begegnen zu können!) in
+einen Schlafwagen zu verwandeln. In äußerst praktischer Weise werden
+dazu von oben und unten Betten heruntergeklappt und hervorgezogen,
+und es wird Raum zum Schlaf für 32 Passagiere! Große grüne Vorhänge
+werden vor die Betten gehängt, hinter denen man sich -- Männlein und
+Weiblein -- ungeniert entkleidet. Ich klomm wie in der Schiffskabine
+mittels einer kleinen Leiter wieder in eins der +oberen+ Betten empor.
+Denn man hat da viel mehr Raum zum Auskleiden, was einem oben sogar
+im Aufrechtsitzen gelingt. Unten dagegen geht es ohne Kopfanstoßen,
+vergebliches Hüpfen, Lupfen, Ziehen und Zerren nicht ab. Auch glaubte
+ich mich oben gegen etwaiges Bestohlenwerden im Schlafe sicherer. Die
+Wertsachen, Uhr und Scheckbuch, barg ich unter meinem Kopfkissen oder
+am Fenster ... und legte mich dann ruhig aufs Ohr schlafen.
+
+Bald verrieten rings überall regelmäßige Atemzüge, daß die meisten
+schon entschlummert waren. Die Glühlampen waren bis auf wenige
+ausgelöscht ... Einsam rollte unser Zug aufwärts durch die Nacht. Nur
+hier und dort blinkte ein Lichtlein ... mit Dampf und Gekeuch ging es
+das Mohawktal hinauf. Mit ziemlicher Gewalt trommelte dabei die aus
+der schwer arbeitenden Lokomotive geschleuderte körnige Asche auf das
+Wagendach und ließ noch nicht so bald ruhigen Schlaf aufkommen ... Ich
+hörte, wie wir in der Hauptstadt des +Staates+ Neuyork, in Albany,
+hielten am oberen einzig schönen Hudson. Auch hier mußte ich es mir
+versagen, auszusteigen. Immerfort ging es in die Nacht hinaus! Wie
+verschieden die Menschen doch zu Zeiten gereist sind! Zu Fuß, zu Pferd,
+auf dem Esel, in der Sänfte, in der alten rumpelnden Postkutsche, auf
+dem Segel- und Dampfschiff, und nun im Schlafwagen oder im eigenen
+Ford-Auto. Es war schön, so ruhend und schlafend durch eine fremde Welt
+gerollt zu werden! Es war ein eigenartiges Bewußtsein für mich: Da
+draußen kennt dich kein Mensch, und du da drinnen kennst auch keinen!
+Wie anders reist der Spekulant, der Geschäftsmann, der Landaufkäufer,
+der Farmer, der Hochstapler, der Tourist, der Novellist, der Student!
+Wie schön, mit frohem Gewissen und geschwellter Brust und klopfendem
+Herzen zu reisen, immer neuer Eindrücke gewärtig ... Um Mitternacht
+fielen mir endlich doch die Augen zu ...
+
+Als ich wieder erwachte, war es schon heller schöner Morgen. Ich hatte
+ganz gut eine Reihe von Stunden geschlafen. Nebel wallten im Mohawktal.
+Wir fuhren jetzt abwärts. Ringsum frühlinghaftes Land und Sonnenschein.
+Aber im Schlafwagen hatte sich eine recht stickige Luft gesammelt.
+Einige erhoben sich schon und wandelten mit struppigem Haar oder -- je
+nachdem -- in langen Zöpfen halb angekleidet zu den Waschräumen am Ende
+des Wagens, wo einer nach dem anderen recht ungeniert im fahrenden Zug
+Toilette machte, ähnlich den Polonäsen vor den ~bath-rooms~. Dörfer
+flogen währenddem draußen vorüber, aber meist wahllos, ordnungslos
+gebaut. Man sah Holzhäuser, nirgends Backsteinbauten. Auch die Schienen
+liefen über feste Holzbohlen. Was mußten hier die Wälder einmal alles
+hergegeben haben! Dürftige Holzgatter hielten das Vieh zusammen. Kleine
+Tümpel, Wäldchen; kleine äußerst einfache Holzkirchen mit goldenem
+Kreuz oder Knauf. Häßliche Reklameschilder an den Scheunen ...!
+
+Wir näherten uns Buffalo am Lake Erie, einem jener großen Seen oder
+besser Binnenmeere, die unserer Ostsee gleichen. 440 Meilen, also
+etwa die Entfernung Frankfurt-Hamburg, hatte ich schon in der Nacht
+durchfahren. Gegen acht Uhr früh dampften wir langsam über eine Brücke,
+deren Einsturz bald erwartet wurde! Die Bahn ist versichert -- das
+genügte der Bahngesellschaft! Früher hat man Brücken über Schluchten
+zuweilen einfach auf gekappte Bäume gebaut, solange sie hielten ...
+
+Ich war in der „Büffelstadt“, in der 1901 Präsident McKinley ermordet
+wurde. Viele Deutsche wohnen in ihr. Nicht ganz ausgeruht, aber froh
+der allmählich unerträglichen Luft des Schlafwagens entronnen zu sein,
+verließ ich den Pullmann und reckte die steifen Glieder ...
+
+Buffalo machte auf den ersten Anblick einen etwas düsteren Eindruck.
+Ich entdeckte nichts Besonderes in ihm. Wer aus dem lärmenden Neuyork
+und dem gebildeten Boston mit seinem „~fascinating~“ Harvard College,
+wie mir eine alte weißhaarige Dame, die Mutter eines Privatdozenten in
+Harvard, begeistert rühmte, kommt, dem haben mittlere Großstädte, wie
+Buffalo, die reine Geschäftsstädte sind, nicht viel zu sagen.
+
+Kühn kann man behaupten, man mag einen unversehens in eine
+Geschäftsstraße in Neuyork, Chikago, San Franzisko, Buffalo oder St.
+Louis stellen -- und er wird kaum zu sagen wissen, wo er sich befindet.
+Eine ungeheure Gleichförmigkeit liegt über allen amerikanischen
+Großstädten. Völlig gerade und geradlinig einander schneidende, oft für
+den Fußgänger schier endlose Straßen, gleich abgezirkelte Häuserblocks
+mit ihren Warenhäusern und Wolkenkratzern, deren wenigstens ein
+paar sich in jeder großen Stadt finden, machen jedes Stadtbild zum
+Schema. Man findet keine individuellen Straßennamen, das macht die
+Charakterlosigkeit des Städteeindrucks vollkommen. In der Mitte der
+Stadt liegt stets irgendwo die „City Hall“, das Rathaus, oder auf einer
+Anhöhe das Staatskapitol mit einer meist stattlichen Kuppel; dazu
+irgendwo ein größerer Park; in der Stadt selbst sind außer wenigen
+„Squares“ meist keine größeren öffentlichen Plätze vorhanden, die die
+Architektur der öffentlichen Gebäude zu voller Wirkung kommen ließen.
+Die Theater sehen von außen auch oft wenig imponierend aus und sind
+wie die meisten Kirchen in die Häuserfronten hineingebaut, damit das
+Riesenschachbrett der Häuserblocks ja nicht irgendeine malerische
+Unterbrechung erfährt. Fast in allen Hauptstraßen fahren wie bei uns
+elektrische Straßenbahnen, deren Wagen aber meist länger und schwerer
+sind als bei uns; irgendwo rasselt auch eine Hochbahn ohrenbetäubend
+auf ihren Eisengerüsten daher und nimmt das letzte Licht, das die
+Wolkenkratzer noch in den Straßen gelassen haben, hinweg, oder in
+unterirdischen Tunneln braust ein ~subway~, der hier und da wie ein
+geheimnisvoller Maulwurf seine Hügel in den Straßen in Gestalt kleiner
+gläserner Eintrittshallen zu den unterirdischen Stationen aufgeworfen
+hat. Zeitungsjungen laufen die Straßen entlang und schreien ihre
+~papers~ aus, die in riesigen roten Lettern irgendeinen Streik, ein
+Schiffsunglück oder einen Mordprozeß ankündigen, meist mit viel
+Übertreibung. Sind irgendwo ein paar Arbeiter ausständig, so heißt
+es in der Zeitung „~big strike and riot~“. Ehescheidungsprozesse,
+Sensationen, Brände, Gesellschaften der Society-Leute,
+Gerichtsverhandlungen und Sportnachrichten nehmen fast allen Raum ein.
+Das Politische kommt oft recht zu kurz oder ist in kleine persönliche
+Geschichtchen zerstückelt. Automobile tuten an allen Ecken, Schutzleute
+mit Pfeifchen dirigieren den Verkehr an den Straßenkreuzungen. Das ist
+so der äußere Eindruck der amerikanischen Großstadt, auch Buffalos.
+
+Darüber hinaus weiß ich von Buffalo nicht viel Individuelles zu
+erzählen. Alles Historische fehlt ja in Amerika, zumal wenn man
+den Osten verläßt. Dann steht man überall auf allerjüngstem Boden.
+Man kann in Amerika nirgends nach alten Schlössern und malerischen
+Stadtumwallungen, nach zackigen Türmen oder gotischen Kathedralen,
+nach historischen Gebäuden und alten Rathäusern, selbst nicht überall
+nach Kunstgalerien und weltberühmten Museen forschen. Alles das fehlt!
+All der historische und geistig kulturelle Zauber, wie ihn eine
+tausendjährige Geschichte über die Städte Europas gebreitet hat, fehlt:
+Hier ist weder ein Florenz noch Rom, weder Straßburg noch Nürnberg,
+weder Paris noch London. Eins ist hier allbeherrschend, das ist der
+„~Busineß~-Geist“. Hier ist Pionierland und immer noch quantitative
+Anfangskultur. Die amerikanischen Großstädte, vielleicht eine einzige,
+Washington ausgenommen, sind Geschäftsstädte.
+
+So war in Buffalo selbst nicht viel, was mich anzog. Ungeheuer
+schnell ist es in wenigen Jahrzehnten emporgewachsen. Vor dreißig
+Jahren sind noch viele Deutsche hier eingewandert. McKinley wurde,
+wie gesagt, hier ermordet, und ein Indianerhäuptling hat hier ein
+Denkmal in einem Friedhof der Stadt. Das ist seine Geschichte. Ich
+nahm deshalb am Bahnhof sofort die Straßenbahn, um hinaus zu den
++Niagarafällen+ zu fahren. Einkehr hielt ich nahe den Fällen in einem
+schlichten deutschen Pastorat, wo deutsche Familiengemütlichkeit mich
+wundersam in der amerikanischen Umgebung umfing. All das Unruhige
+der reklameschreierischen Großstadt, alle die Läden und Banken,
+Trust-Compagnies und Warenhäuser samt den Alleen der Vorstädte und
+ihren oft hübschen Wohnsitzen blieben hinter mir, und ich suchte
+meine Zuflucht für einige Stunden wieder einmal auf einem Fleckchen
+Deutschland, wo ein deutscher Professorensohn und eine deutsche
+Professorentochter als deutscher Pfarrer und Pfarrfrau neben ihrer
+netten, aber doch bescheidenen Holzkirche hausten ...
+
+Die beiden Pfarrersleute sind auf eine merkwürdige Weise dahingekommen.
+Er hatte nie in Deutschland richtig sein Abitur gemacht, sondern
+war nach seiner Ausbildung auf einem Seminar (um zuerst Missionar
+zu werden) „hinüber“ gegangen samt seiner Braut, der einzigen
+Tochter eines bekannten Nationalökonomen in einer Universitätsstadt
+Mitteldeutschlands, so wie er auch der Sohn eines bekannten
+Universitätstheologen derselben Stadt war. Sie hatten von Jugend auf in
+derselben Straße miteinander gespielt und sich früh kennen und lieben
+gelernt. Die Eltern wollten die Verbindung beider erst nicht recht
+zugeben. Auch daß der Heidenmissionar zum smarten Amerikaner wurde,
+paßte ihnen gar nicht. Aber allemal ist der Wille der Kinder ja stärker
+als der der Eltern. So fuhren sie ohne große Mittel und ohne zu wissen,
+wohin und wo bleiben, übers große Wasser und fanden wie alle drüben
+ihren Platz. Erst wurde er Pastor einer deutschen Gemeinde in Illinois,
+dann in Iowa mit nur etwa 250 Dollar Jahresgehalt. Und nun hier am
+Niagarafall. Eine solche kleinere Gemeinde setzt echt amerikanisch
+voraus, daß ihr trotz seiner kleinen Gemeinde viel beschäftigter Pastor
+noch allerlei Nebenerwerb betreibt, mit dem er das Fehlende seines
+Gehalts selbst dazu verdient, wobei kein Arbeitszweig schändet.
+
+Traulich war es wieder einmal an einem deutschen Familientisch zu
+sitzen und wieder einmal deutsch zu reden. Freilich die in Amerika
+geborenen Kinder des Pastors empfanden ganz amerikanisch und sprachen
+untereinander nur englisch; nur den Eltern antworteten sie noch aus
+schuldiger Rücksicht deutsch. Aber auch der Hausfrau entschlüpften dann
+und wann in ihrer deutschen Unterhaltung die englischen Fachausdrücke:
+„Bitte, kommen Sie in den ~parlor~!“ (Empfangszimmer). -- „Hier hat
+uns der Maler die Stube gepaintet“ (~paint~ malen). -- „Wünschen Sie
+noch etwas ~jam~?“ (Gelee). -- „Nicht wahr, in Buffalo ist auf den
+Straßen immer ein mächtiges ~crowd~?“ (Gedränge). In diesem Stil ging
+es fort. Aber wie erfreut waren sie doch, daß ich, obwohl so ganz
+unangemeldet, zu ihnen kam! Ich kannte des Hausherrn Schriften und
+konnte ihm erzählen, daß ich noch bei seinem Vater an der Universität
+Vorlesungen gehört hatte! Dann tauschten wir gemeinsame Erinnerungen
+an Saalefahrten, deutsche Studentenverbindungen, und über Deutschland
+im allgemeinen aus. Er wußte nicht genug die Treue und Anhänglichkeit
+seiner Gemeindeglieder, die alle aus einfachem Stande waren, deutsche
+Holzarbeiter, Zimmerleute, Straßenbahner usw., zu rühmen, etwa 150
+Familien, die die ganze Kirche samt Pastor unterhielten. So hatte ich
+auch in dem Schaffner der Straßenbahn, die mich hinausführte, einen
+alten Württemberger entdeckt. Aber keiner von ihnen allen wollte wieder
+in die alte Heimat zurückkehren!
+
+Als ich mit dem deutschen Pastor in seiner kleinen hölzernen Kirche
+stand, wie rührend überkam mich da die Schlichtheit, die mich umfing!
+Die einfachen Bänke und die Kanzel und der Sonntagsschulsaal und
+die bescheidenen Gemeinderäume ...! Sogar eine große Küche war
+hinten angebaut, wo allmonatlich eines Abends für Arme eine eigene
+„patentierte“ dicke Suppe gekocht wurde, die außen an der Kirche
+durch ein aushängendes Schild der Gemeinde und den Umwohnenden
+angezeigt wurde. Sie war außerordentlich beliebt und wurde gern
+gegessen und gekauft. Aus diesem Suppenabend sprang dann meist noch
+ein beträchtlicher Gewinn für die Gemeindekasse heraus! Die Gemeinden
+drüben fühlen sich viel mehr als Familie als bei uns. Man kennt
+einander genau. Man pflegt aber auch öfter die Kirche zu wechseln.
+Die Kirche ist oft der einzige Zusammenschluß, den man hat; sie
+vertritt die Gesellschaft. Nun ist aber die Erhaltung speziell der
+deutschen Kirchen ein großes Problem. Die zweite und dritte Generation
+ist ja fast immer schon völlig amerikanisiert und versteht oft kaum
+noch Deutsch. Die „deutschen“ Kirchen können auf die Dauer daher nur
+als Missions- und Übergangskirchen für die Einwandernden angesehen
+werden. Denn alle Nationalitäten amerikanisieren sich hier über kurz
+oder lang völlig. Der deutsche Charakter, Gemüt und Tüchtigkeit mag
+sich auch unter der englischen Zunge erhalten oder ein Ferment in dem
+sich bildenden amerikanischen Nationaltypus sein. Aber ausgeprägtes
+Deutschtum als solches und als Bestandteil für sich hat auf die Dauer
+im amerikanischen Volkskörper wenig Zukunft. Nicht anders ergeht es dem
+Irischen, Italienischen oder Griechischen drüben.
+
+Am Nachmittag machte mein Gastgeber sich mit mir auf den Weg, mir eines
+der imposantesten Naturschauspiele der Erde zu zeigen, die es gibt, den
++Niagarafall+. Der Niagara selbst ist ein breiter, nur einige Meilen
+langer Flußkanal, der den Eriesee mit dem Ontariosee verbindet. Auf
+halbem Wege stürzt dabei der imposante Fluß über eine fast anderthalb
+Kilometer breite und 50-60 Meter hohe Felsenwand hinab in zwei durch
+eine breite Insel geschiedenen nebeneinanderliegenden Fällen. Seit
+meiner Jugend klang mir das alte indianische Wort „Niagara“ wie ein
+Zauber im Ohr. „Niagara“, Donner der Gewässer, ist nicht das einzige
+indianische Wort, das sich erhalten hat.
+
+Wie würde der Niagara wohl aussehen? Ich erinnere mich wohl, Bilder
+von ihm in früheren Jahren gesehen zu haben, aber sie waren mir doch
+nicht mehr ganz deutlich in Erinnerung. Nun sollte ich ihn selbst in
+Wirklichkeit sehen. Sagenumwoben sind seine „donnernden Gewässer“;
+jährlich verschlingen sie zwei Opfer nach der indianischen Sage, und
+jährlich muß nach altem Glauben ein reines Mädchen im gebrechlichen
+Kanoe den Fall hinuntergesandt werden, aus dem sie nimmer lebend
+entrinnt, um die Geister des Stromes günstig zu stimmen! Jährlich
+-- aber das ist die rauhe Wirklichkeit -- verschlingt der Niagara
+mehrere Menschen, die in ihm verzweifelt den Tod suchen und von seiner
+schauerlichen Macht magisch sich angezogen fühlen. Die Geliebte eines
+modernen deutschen Dichters und Dramatikers stand am Rand des Falls
+und war so in seine brausende Gewalt versunken, daß man sie mit Gewalt
+davor bewahren mußte, sich nicht auf der Stelle in ihm den Tod zu
+geben. Andere fühlten sich zu den tollsten Wagnissen gereizt; auf
+Drahtseilen haben Seiltänzer die Fälle überschritten, in einem Faß hat
+sich einer die Stromschnellen hinabtreiben lassen und ist mit dem Leben
+davongekommen, und hat fortan seinen Lebensunterhalt damit verdient,
+daß er sich mit seinem Faß für Geld sehen ließ!
+
+Wir hatten uns erst durch die Stadt „Niagara Falls“, die sich dicht
+an den Fällen angebaut hat, samt all ihren Hotels, Basaren, Ständen,
+Droschken, Autos, Führern und Händlern durchzuwinden, -- ach, daß in
+aller Welt Händler und Marktleute die gewaltigen Naturschönheiten
+gerade als ihren besonderen Raub betrachten und, während man sich von
+dem „Donner der Gewässer“ betäuben lassen möchte, einem unaufhörlich
+mit Donnerstimme ihre oft unschönen Ansichtskarten anpreisen und einem
+als Führer fast den Weg versperren! -- bis wir auf einmal wunderbar
+frische Luft atmeten, ein feiner Wasserstaub herübersprühte, ein
+ungeheures Donnern, das mit jedem Schritt zunahm, sich hörbar machte,
+-- wir waren in den Anlagen dicht an den Fällen! Noch ein paar
+Schritte, und links bot sich der erste Blick auf den amerikanischen
+kleineren Fall. Von oben gesehen übt er nicht seine volle Wirkung.
+Geht man aber tief bis auf das Niveau seines unteren Endes hinunter,
+so spürt man erst die erdrückende Gewalt der herniederdonnernden
+Wassermassen.
+
+Nun bot sich uns bei unserem Besuch noch ein besonders eigenartiges
+Schauspiel. Es war Anfang April. Die Sonne schien freundlich warm.
+Rings sproßte es in tiefem, frischem Grün an Baum und Strauch: Weite
+Wiesenflächen zwischen Baumgruppen in entzückendem Grün -- aber im
+Niagarastrom war noch Eis und Schnee. Wie ein mächtiger Gletscher
+türmten sich die Schnee- und Eisschollen vom noch weithin zugefrorenen
+Flußbett den donnernden, schäumenden Wassern entgegen. Man konnte sich
+auf dem Eis am Ufer ein Stück weit auf den Fluß hinauswagen und trotz
+der warmen Frühlingssonne eine Schnee- und Gletscherpartie unternehmen,
+Schneehügel emporklimmen und sich von den Wolken voll Wasserstaub
+überschütten lassen und von unten hinaufsehen zu den unablässig
+herniederstürzenden und wieder aufschäumenden Wogen. Es gibt viele
+großartige Wasserfälle in der Welt, in der Schweiz und in Italien; aber
+der Niagara übertrifft sie doch alle weit mit der ungeheuren Masse
+seines Wassers. Den überwältigendsten Eindruck macht der kanadische
+Fall, der noch dreimal so breit als der amerikanische und von ihm durch
+die breite Felseninsel völlig geschieden ist.
+
+Aus der Gletscherregion stiegen wir wieder empor in die
+Frühlingssonnenwärme und zu den frischen grünen Wiesen hinan -- ein
+Kontrast, wie man ihn nur an einzelnen Punkten in den Alpen erleben
+kann, wo ziemlich plötzlich der letzte Schnee den grünen Matten Platz
+macht. Wir nahmen unseren Weg nun hinüber auf die breite, waldige,
+jetzt wohlgepflegte Insel „Goat Island“, die die beiden Fälle
+voneinander scheidet. Auf sanften Wegen kann man hier sich jetzt zu Fuß
+und Wagen ergehen. Aber wie muß es einst hier gewesen sein! Als noch
+keine Eisenbahnbrücke den Strom überspannte, noch keine Geschäftsstadt
+sich am Fall angebaut hatte, noch keine Fabriken ihre rauchigen
+Schornsteine über die Felsen reckten, gierig, die unausschöpfbaren
+Urkräfte zu nutzen, als dichter, schier undurchdringlicher Urwald die
+Ufer und diese Insel säumte, die wohl vermutlich nie ein menschlicher
+Fuß betrat, als nur hin und wieder ein Indianer scheu das Dickicht
+durchbrach und mit Entsetzen diese donnernden Gewässer erschaute und
+zitternd die Kunde ins Dorf und zu dem Stamm brachte und man dann in
+Haufen aufbrach, die Wunder der Götter und Geister zu schauen und
+den Donner ihrer Stimme zu vernehmen, und der Häuptling, am Fluß
+angekommen, in vollem Schmuck die Zweige auseinanderbog und der
+Majestät der Natur ins Auge schaute ...
+
+Das obere Ende dieser „Ziegeninsel“, der vier kleine Felsinselchen
+vorgelagert sind mit den poetischen Namen „~Three Sisters and little
+Brother~“, eröffnet einen ganz unerwarteten Blick auf den riesig
+breiten Niagarafluß oberhalb der Fälle, wo er mehrere Kilometer breit
+mit seinen schäumenden, rauschenden Stromschnellen und seinen darüber
+kreisenden Möwen fast den Eindruck eines wogenden Meeres macht. Rollend
+und brausend rauscht der gewaltige Strom, mit Eisschollen bedeckt, die
+in den Fällen an den Felsen zerschellen, daher, ein tobendes Gewässer.
+Nur noch wenige hundert Meter -- und die Wasser neigen sich über die
+Felskanten hinab im tosenden Fall ...
+
+[Illustration: ~NIAGARA~
+
+~Der amerikanische Fall, vereist~]
+
+[Illustration: ~CHICAGO~
+
+~Chicago’s Wasserfront am Michigansee~]
+
+Den Niagarafluß, oder besser gesagt die Niagaraschlucht, unterhalb
+der Fälle entlang hat man auf beiden Seiten eine elektrische Ringbahn
+gebaut, die auf gefährlichem Pfad, dicht zwischen dem tosenden Fluß
+und den steil abstürzenden Felsrändern hinführt und den besten Blick
+auf die Stromschnellen unterhalb der Fälle gewährt. Der oben mehrere
+Kilometer breite Strom wird unterhalb der Fälle in eine enge, noch
+nicht hundert Meter breite Felsschlucht zusammengezwängt, in der
+er eine furchtbare Tiefe annimmt und in der sich die Wasser mit
+unablässigem Schäumen und vielen mächtigen wilden Strudeln fast konvex
+zusammentürmen und -zwängen, bis sie in einen fast kreisrunden Teich
+gelangen, den sogenannten „Whirlpool“, wo sie ans Land spülen, was
+sie in ihrer tollen Fahrt über die Fälle mit heruntergerissen haben,
+es seien Baumstämme oder Menschenkörper. Auf leichtbeschwingter
+Brücke -- es führen deren einige in mehr oder weniger vollendeter
+Eisenkonstruktion über die Felsschlucht -- setzt die Gürtelbahn über
+den Strom und führt durch schöne Haine von hohen Lebensbäumen, aus
+denen sich ein entzückender Rückblick auf den sich wieder in sanfterem
+Hügelland verbreiternden Fluß und die in duftigem Dunst leise sich
+andeutenden Uferlinien des Ontariosees ergibt, hinauf zu der stolzen
+Denksäule des im amerikanischen Krieg 1812 gefallenen englischen
+Generals Brockes. Auf der wohlangelegten, von der amerikanischen
+wohl abstechenden kanadischen Seite geht es dann durch gut gepflegte
+Parkanlagen, die noch manchen reizvollen Blick hinunter auf die
+Stromstrudel und hinüber auf die amerikanischen Felsen mit ihren wie
+Hephästus’ Werkstätten rauchenden und feuerspeienden Eisenwerken
+bietet, zurück zum kanadischen Fall. Je näher ich ihm wieder kam,
+bis ich seine ganze ungeheure, an einen Kilometer fast fassende
+Breitseite, die mit immer neu aufsteigenden, fast undurchdringlichen
+Wasserstaubwolken geheimnisvoll verhüllt ist, vor mir hatte -- da war
+ich von der Macht der brausenden, mit ihrem verhaltenen gebrochenen,
+wie von Bergsprengungen herrührenden Donner doch überwältigt. Was
+ich beim amerikanischen Fall noch vermißte, das fand ich hier alles.
+Diese ungeheuren Gewalten, die sich hier entfalten, lassen sich nicht
+beschreiben. Unausstehlich war nur das Gehämmer der Bohrarbeiter in
+der Nähe an den Felsen herum, ihre schrillen Pfiffe, das Surren der
+Maschinenräder, fortgesetztes Hämmern und Klopfen. Aber was bedeutet
+all dies menschliche Kratzen und Pochen an dem Urgestein gegenüber der
+Macht, die da drüben seit Jahrtausenden täglich sich frei auswirkt?
+
+Man kann auch in die Felshöhlen unter dem amerikanischen Fall mit
+Führer auf schwankenden Treppen und Stegen gelangen, wobei die
+Teilnehmer ganz in Gummi gehüllt sich -- soweit schwindelfrei -- an den
+Händen fassen. Aber erstens war zu meiner Zeit noch alles vereist, und
+zweitens hätte ich mir doch überlegt, ob ich meine Nerven riskieren
+soll. --
+
+So fuhren wir wieder heim ins Pastorat. Auf der Elektrischen traf ich
+am Bahnhof einen Westpreußen aus Elbing. Er fragte mich, wie mir die
+Fälle gefallen hätten? Aber diese Frage war immer noch verständiger
+als die andere, ob man in Deutschland auch schon Dampfheizung oder
+elektrisches Licht und Straßenbahnen und Automobile habe, ob auch hohe
+Häuser und große Läden da seien, und wie schnell die Bahnen führen, ob
+sie so gut und bequem seien wie in Amerika, und ob man im Winter auch
+wirklich warme Zimmer habe! Die ausgewanderten Deutschen kennen oft nur
+noch ihr Deutschland von vor fünfzig Jahren, da man bald noch mit der
+Post fuhr und Petroleumlampen brannte, und nun meinen sie, das gelobte
+Land Amerika allein besitze Technik und Kultur in der Welt!
+
+Die nächste Nacht schlief ich wieder einmal in einem weißüberzogenen
+Bett bei den gastfreien gütigen Landsleuten. Mit dem Frühesten
+ging es wieder nach Buffalo hinein, wo gegen acht Uhr der Zug
+nach Chikago abging, der über Detroit dort abends um elf Uhr (!)
+eintreffen sollte! Diesmal bestieg ich nicht den Pullmann, wo man Bad,
+Schreibtisch, Telephon, Barbiersalon usw. benutzen kann, sondern einen
+Auswandererzug der billigeren Wabashlinie, deren große D-Wagen mit
+auszieh- und drehbaren plüschbezogenen Lehnstühlen auch noch bequem
+genug ausgestattet waren. Auch in ihm konnte man nach Belieben sitzen,
+liegen, essen und schlummern. Die Fahrt war dementsprechend billiger,
+zwar auch dafür ein klein wenig langsamer. Aber ich hatte ja Zeit.
+Also in fünfzehn Stunden von Buffalo nach Chikago! Die Mitreisenden
+waren aus einfacheren aber mir interessanten Ständen: Einige handfeste
+Schweden mit Familien saßen im Wagen. Den großen starken Menschen
+hing zwar -- wenig amerikanisch! -- hinten das Blusenhemd aus dem
+Hosengürtel. Das kümmerte mich aber wenig. Neben mir aßen sie
+faustdicke Brotscheiben mit fingerdickem Käse darauf. Das kümmerte
+mich schon ein wenig mehr! Obwohl Amerika vom schönsten Obst förmlich
+birst, kosteten doch zwei Äpfel im Zuge beim ~trainboy~ 10 Cent (50
+Pf.)! An jeder Wegkreuzung prustete die Lokomotive keuchhustenartig
+ihr Warnungssignal in die Ferne. Auch dieser Zug hielt selten, die
+Stationsbahnhöfe -- natürlich Detroit ausgenommen -- waren merkwürdig
+primitiv.
+
+Die donnernden Gewässer des Niagara lagen hinter mir. Langsam rollten
+wir über die lange Brücke, die den Strom überspannt, ins englische
+Kanada hinein. Von einer Zollrevision merkte man fast nichts. Dann
+gings durch unendliche Ebenen, die sich nun ohne Unterbrechung
+Tausende von Meilen weit bis an die Rocky Mountains erstrecken. Diese
+unendlichen Ebenen des Mississippistromgebietes sind die Quellen
+von Amerikas Reichtum. An den Seen gibt es Kohle, Eisen, Kupfer und
+Blei, in den „Weizenstaaten“ vermag soviel Korn zu wachsen, um die
+ganze Menschheit zu ernähren. Farmland an Farmland. Hier besitzt man
+nicht zwei, drei Äcker, sondern 500 bis 1000 „~acres~“, deren jeder
+einen halben Hektar ausmacht. Wie muß sich hier der deutsche Bauer
+fühlen, der aus den engen Grenzen seiner alten Heimat kommt! Eins
+ist es hier vor allem, das jeden Fremdling in Erstaunen setzt, die
+Ungeheuerlichkeit des Landes; wohl an zwanzig Deutschland gehen ja auf
+den Flächenraum der Vereinigten Staaten, die eher mit einem Kontinent
+denn mit einem einzigen Land verglichen werden müssen. Der Staat
+Texas allein übertrifft unser Deutsches Reich an Größe, und viele
+der großen westlichen Staaten kommen ihm an Größe fast gleich. Reist
+man bei uns Stunden, um das halbe Land zu durchqueren, so hier Tage.
+Und doch zählt die Union erst hundert Millionen Einwohner. Welche
+Zukunft und welches Bevölkerungswachstum mag ihr noch bevorstehen! So
+wächst hier der Unternehmungsgeist und die Energie ins Fabelhafte.
+Ungeahnte Möglichkeiten und Chancen tun sich überall auf. Alles das
+ist faszinierend für den Auswanderer, der sich hier ein neues Leben
+und sein Glück sucht. Die alten Brücken zur Heimat werden zunächst
+abgebrochen. Der Anfang ist zwar schwer, bis man sich in die neuen
+Verhältnisse und die neue fremde Sprache eingelebt hat, aber dann, nach
+fünf, zehn Jahren beginnt man Boden unter den Füßen zu fühlen. Stolz
+sucht man jetzt von dem Erfolg in die Heimat zu berichten, die alten
+Fäden wieder anzuknüpfen. Bald geht man ein-, zweimal selbst wieder
+übers Meer, die alten Verwandten wieder zu sehen, und ihre eisernen
+Öfen, die harten Holzbänke in der langsamen Eisenbahn und das Fehlen
+des Badezimmers mit warmem und kaltem Wasser zu verspotten und sich
+zu freuen, wenn man wieder in den blauen Hafen Neuyorks einfährt, die
+Wolkenkratzer ihre Konturen am Himmel abzeichnen, die Freiheitsstatue
+ihre Fackel über die Bai reckt und man den Fuß wieder in das gelobte
+Land des Dollars setzen kann.
+
+Das amerikanische Leben ist ja auch ungeheuer beweglich. Der Vater war
+vielleicht noch deutsch und ein rechter Bauer, der Sohn geht schon
+aufs Kollege, ist Amerikaner und siedelt sich in der Großstadt an oder
+geht weiter westwärts. Typisch ist dieser Zug für Amerika „westwärts“
+zu gehen. Von Anbeginn ging man „westwärts“, erst den Hudson hinauf,
+dann über die Berge an die Seen, dann bis Chikago, dann schritt man
+über den Mississippi, und dann wagte man sich in die Rockies, und
+schließlich faßte man Fuß in Kalifornien. Scherzweise hat man gesagt,
+der Amerikaner will in keinen Himmel kommen, wo man nicht weiter
+„westwärts“ gehen kann. Das 18. Jahrhundert lebte im wesentlichen
+noch im Osten in den dreizehn alten Staaten, das neunzehnte faßte Fuß
+in den ungeheuren Mississippiebenen, das zwanzigste wird den Westen
+kultivieren. In Ägypten schauen vergangene Jahrtausende von den
+Pyramiden auf ein starres Land herab, in Amerika schauen +kommende+
+Jahrtausende von den Wolkenkratzern auf ein ungeheuer bewegliches
+und vielgestaltiges Leben. Hier ist alles anders als in den alten
+Ländern. Hier genoß kein König und Kaiser Ehrerbietung, hier war
+keine Kirche, die vom Staat ihre Steuern eintreiben läßt, hier waren
+keine Stände mit besonderen Vorrechten, keine Orden, die den Beamten
+schmücken. Frei war das Volk, frei der Mann in seiner Selbstachtung
+und der Achtung anderer, völlig auf sich selbst und seine Arbeit
+angewiesen und darauf, wieviel er selbst aus sich machen kann ohne
+Pension und Altersversorgung. Daher auch die Jagd nach dem Geld. Selbst
+die Politik und die öffentlichen Ämter sind oft ein Spielball in der
+Hand derer, die möglichst viel für die eigene Tasche herauszuschlagen
+suchen. Ungeheurer Reichtum überall. Schnellste Lebenskarrieren, vom
+Straßenjungen, der Zeitungen verkauft, auf zum Inhaber der größten
+Zeitung in einer Großstadt, vom Farmerkind zum Professor in Harvard.
+War nicht Roosevelts Karriere eine der typischsten? Kaum vom Kollege
+graduiert, ist er schon Magistrat in Neuyork; wenige Jahre später ohne
+jede militärische Laufbahn Reiteroberst und Sekretär der Marine und
+bald darauf Präsident des Landes! Man wechselt und wandert, wie es die
+Gelegenheit gibt, heute Student, morgen Professor, heute ~clerk~ und
+morgen ~trustee~, bald im Osten, bald im Westen. So hat sich in den
+Vereinigten Staaten kein Provinzialismus und wenig Gauindividualität
+entwickeln können, und Dialektunterschiede existieren fast nicht oder
+sind wenigstens mit den ausgeprägten in den europäischen Ländern gar
+nicht zu vergleichen. Die ganze Union spricht +eine+ Sprache.
+
+Indessen fuhren wir durch die sich überall ungeheuer gleichenden
+Ebenen Stunden für Stunden. Eine Abwechslung bot nur der kleinere Lake
+St. Clair mit seinen gelbbraunen, sich ins Uferlose erstreckenden
+Wasserflächen, über denen schwere Regenwolken hingen. Ein paar
+Fischerhütten am Strand, eine kleine Steinkirche zeigte sich; unter
+grünen Pappeln ein steinernes Häuschen. Am Strand ein altes Kanoe und
+ein paar Männer, die ihre Netze ausgeworfen hatten. Auf dem Flurland
+dicht neben der Bahn ein Farmer mit seinem Pflug. Die Pferde bäumten
+sich wild auf, als der Zug vorbeibrauste. Indessen turnte der schwarze
+Kellner aus dem Speisewagen den Mittelgang der Wagen entlang und rief
+monoton sein ~first call for „luncheon“~ aus. So kamen wir um Mittag
+nach Detroit. Die amerikanischen Zolloffiziere gingen durch den Zug.
+Auf einem Trajekt setzten wir über den Endzipfel des Sees. Dann ging
+es wieder weiter durch endlose Strecken Michigans und Indianas gen
+Chikago, wieder auf amerikanischem Boden.
+
+Hie und da lag eine einsame Station, alle halbe oder ganze Stunden.
+Überall war fruchtbares Ackerland, das wohlgepflegter aussah, als um
+Buffalo. Es wohnen hier viele Deutsche. Hie und da an der schlechten
+Landstraße, die neben der Bahn herlief, ein Blechpostkasten einer
+entfernten Farm, der als Briefablage und -aufgabe zugleich dient.
+Kleine Haine, übel zugerichtet. Hier existiert ja keine Forstpolizei,
+und erst neuerdings gibt es Staatsschutz für den Wald.
+
+So wurde es Mittag und Nachmittag und Abend, und noch immer dieselbe
+Landschaft. Fast alles noch braun und dürr, weil es noch früh in der
+Jahreszeit war. Hie und da ein blühendes Bäumchen auf der Flur wie
+ein Kuß Gottes auf die Frühlingserde. So wurde es Abend und Nacht. Am
+Himmel standen hell und klar die Sterne, dieselben Sterne, die jetzt
+auch über Deutschland standen. Im Wagen schliefen schon die meisten;
+die bequemen Chairs gestatten es, sich weit zurückzulehnen. Und als
+wir uns endlich nach fünfzehnstündiger Fahrt Chikago näherten, war es
+fast Mitternacht geworden. Viele hellerleuchtete Vororte flogen an
+uns vorüber. Elektrische Lampen erhellten die Bahnhöfe, Straßen und
+Fabrikviertel -- und ein brennendes Haus, in das die Feuerspritzen ihre
+Wasserstrahlen sandten, leuchtete wie eine Riesenfackel schaurig durch
+die Nacht. So tüchtig und ausgezeichnet die amerikanischen Feuerwehren
+sind, so oft brennt es hier; manchmal sind schon halbe Städte einer
+Feuersbrunst zum Opfer gefallen, so Chikago 1872.
+
+Und nun kam ich wirklich in die Stadt, deren Namen eine so eigenartige
+Nuance des typischsten unbegrenztmöglichen Amerikanertums für unser Ohr
+bekommen hat. Chikago zählte 1831 noch hundert Einwohner! Einst war es
+ein Fort gegen die Indianer, und heute ist es mit bald vier Millionen
+die viertgrößte Stadt der Welt, an Flächenraum viermal größer als
+Berlin, mit einer Wasserfront von 35 Kilometern Länge am See Michigan,
+der uferlos wie das Meer aussieht. 40 Sprachen werden in Chikago
+gesprochen. Etwa 600000 Deutsche leben in der Stadt, und vielleicht nur
+ein Zehntel ist in Chikago selbst geboren.
+
+Ich war in Chikago! Wachte oder träumte ich? Auf dem Schiff hatten
+sie manchmal begeistert ein Lied Chikagos zu Ehren im Chor gesungen,
+das ich aber damals nicht recht behalten habe. Zum Schluß jeder
+Strophe kam immer wieder als Refrain von wildem Beifallsgetrampel und
+-händeklatschen begleitet: „O Chikago, o Chikago ...!“ Und dann ging es
+so weiter, daß ihm in der Welt nichts gleich sei! Ich war in Chikago,
+der Stadt mit den meisten einlaufenden Eisenbahnzügen, wo zirka 500
+Personen im Jahr durch Autos ihr Leben verlieren, wo 40000 Schutzleute
+den Verkehr dirigieren, wo in einem einzigen der großen Warenhäuser
+¼ Million Kunden ein- und ausgehen, wo neben 10000 Angestellten
+allein über 500 Feuerwehrleute ständig Wachtdienst tun, wo täglich
+Hunderttausende Stück Vieh ihr Leben lassen und zu Konservenfleisch und
+Wurst verarbeitet werden, wo man einen ganzen Fluß, den Chikago-River,
+gezwungen hat, in seinem Lauf wieder umzukehren und seine verdorbenen
+Wasser statt in den See zu ergießen, dem Mississippi zuzuführen und so
+Typhus und Cholera fast verbannt hat! Nun kam ich wirklich in diese
+merkwürdige Stadt ...
+
+Einer meiner beiden Chikagovettern empfing mich liebenswürdig in der
+„Illinois Central Station“ mit ihrem verwirrenden ohrenbetäubenden
+Getriebe. Ach, wie reckte ich die Glieder nach der fünfzehnstündigen
+ununterbrochenen Bahnfahrt, die mich trotz des bequemen „~reclining
+chair~“ recht steif gemacht hatte. Immerhin war es eine gute Vorübung
+für die noch dreimal längeren Bahnfahrten, die mir hinter Chikago
+bevorstanden!
+
+Jetzt war ich in Chikago bereits 1000 ~km~ vom Atlantischen Ozean
+entfernt, aber immer noch 3000 ~km~ vom Stillen! Wie angenehm empfand
+man das freundliche Empfangenwerden durch liebe Verwandte zumal in so
+später Nachtstunde in der riesigen Weltstadt, freilich durch Verwandte,
+die ich noch nie im Leben gesehen hatte, die ich nur vom Hörensagen
+kannte. Sie alle hatten ihren typisch-amerikanischen Entwicklungsgang
+durchgemacht, aber sich alle auch zu angesehenen Stellungen selbst
+emporgearbeitet. War es in Neuyork die Musik, in Boston die Medizin,
+so waren es in Chikago Juwelen und das unvermeidliche Auto, das ihnen
+Wohlstand und Brot gegeben.
+
+So fuhr ich denn mit meinem neugefundenen Vetter zunächst mit der
+Hochbahn aus der City und ihrem Trubel, ihrer blendenden Lichtreklame,
+durch dunkle, schmutzige Viertel, an zahlreichen Wolkenkratzern
+vorüber -- die freilich noch nicht die wahnsinnige Höhe der Neuyorker
+erreichten -- schöne Alleen hinaus in den freundlichen Villenvorort
+Oakpark, wo mein Vetter mit seiner Familie ein gutausgestattetes
+Landhaus bewohnte mit dem typisch-amerikanischen Meublement, das stets
+das gleiche ist, ob man in Neuyork einkehrt oder in San Franzisko,
+in Chikago oder St. Louis. Amerika bleibt eben überall das gleiche
+Amerika. Die alles nivellierende Fabrikware hat hier ihren völligen
+Sieg erfochten.
+
+Bald hatte ich die Ehre und Freude, auch wieder eine neue Cousine
+kennenzulernen, eine geborene Amerikanerin, die kaum ein Wort Deutsch
+verstand ...
+
+Andern Tages ging es gleich wieder an meine „Arbeit“ des Besichtigens,
+in möglichst kurzer Frist viele wichtige Eindrücke in mich aufzunehmen.
+Also fuhr ich andern Tags sogleich nach dem Frühstück, mit Reiseführer
+und Karte in der Hand, mit der „~elevated~“ hinein in Chikagos
+Großstadtgewühl! Und es übertrifft an manchen Stellen noch dasjenige
+Neuyorks! Über, unter, neben dem Kopf rollt, rast, saust, klingelt,
+tutet, pfeift es überall. Alles ein ununterbrochenes Gelaufe und
+Gerenne! Es dampfen die Wolkenkratzer. Die Warenhäuser speien ständig
+Hunderte und Tausende von Menschen aus, um andere ebensoviele wieder
+einzusaugen. Die Amerikaner kommen aus dem Felsengebirge, ja aus
+Seattle in Alaska und aus San Franzisko, um in Chikago bei „Siegel u.
+Cooper“ oder „Marshall Field u. Co.“ einzukaufen! Dies „~shopping~“ ist
+ein Hauptvergnügen amerikanischer Damen.
+
+Welchen Eindruck machte Chikago auf mich, das Neuyork des mittleren
+Westens? Eine ungeheure, etwas düstere Großstadt mit Hochbahngerassel
+und Automobilgetute, Wolkenkratzern, die die Geschäftsstraßen
+zu Schluchten verengen, mit Bank an Bank, Geschäft an Geschäft,
+~lunchroom~ an ~lunchroom~, „~moving pictures~“ an „~moving
+pictures~“. Das ist die City. Auch hier wie überall. Bei Tage ein
+ungeheuer lebendiges Treiben von den höchsten Stockwerken der
+„~office-buildings~“, zu denen sieben bis zehn Aufzüge gleichzeitig
+auf- und niederfahren, bis herunter auf die Straße und ihr Gewimmel.
+Nachts und Sonntags ist die City eine ausgestorbene Stadt, in der kein
+Kirchturm offen emporragt, und nur Nachtwächter und Schließer ihr
+Logis haben. Die Geschäftsleute wohnen draußen in den Vorstädten, die
+man mit einstündiger Fahrt mit der Hochbahn erreicht, draußen bei den
+großen Parks, die sich um die Stadt ziehen. Zwischen der City aber und
+den Parkvorstädten liegen die unabsehbaren Viertel der kleinen Leute,
+voll Italiener und Neger, dazwischen noch vielfach unbebaute Strecken,
+auf denen Knaben ihren Baseball spielen. Hier weiß niemand vom anderen.
+Hier sind Städte in einer Stadt, und Stunden dauert es, um vom Norden
+nach dem Süden oder zum Westen zu kommen.
+
+Ich stand auf dem Turm des „Auditoriums“, eines großen Theaters, und
+sah über die rauchenden Wolkenkratzer und in die ~offices~ hinein
+mit ihren Bureaus, wo Tausende von jungen Mädchen ihren Beruf darin
+gefunden haben, von morgens bis abends auf der Schreibmaschine zu
+klappern und sich dabei ungeheuer frei und selbständig vorkommen. Ich
+sah über die Riesenwarenhäuser von „Siegel u. Cooper“ und „Marshall
+Field u. Co.“, wo einfach alles in der Welt zu haben ist, Warenhäuser,
+die ganze Straßenblocks einnehmen. Mit Staunen schreitet man durch
+die Säulenhallen, sieht die Aufzüge in allen Ecken mit Menschen auf-
+und niedersausen und schaut die Schätze aller Erdteile vor sich
+ausgebreitet. Die Boys an den Eingangstüren führen umfangreiche
+Kataloge bei sich, um den Käufer sofort zu der richtigen Abteilung
+leiten zu können. Weiter blickte ich über den weiten Michigansee,
+der die lange Front der Stadt bespült und im Sturm seine gelbbraunen
+Wogen gischtschäumend ans Ufer peitscht, Handelsschiffe als Wrack ans
+Land wirft, ein Binnenmeer Nordamerikas; weiter über die wunderschöne
+Hauptpost, die leider zwischen die Blocks so eingekeilt ist, daß sie
+unmöglich ihre architektonische Schönheit entfalten kann, und über die
+ganz flache, niedrige, im Renaissancestil gebaute Kunstgalerie, die wie
+ein kleines Kind unter Riesen steht ...
+
+Um Mittag warf ich einen Blick hinein in die „First Nationalbank“
+mit ihren prachtvollen Marmorvestibülen und in die Börse, wo ein
+wilder Tumult herrschte. In drei Haufen standen die Makler zusammen
+und schrien gegeneinander. Nur mit Fingerzeichen verständigten sie
+sich. Von den Bureaus flogen die Telegramme hin und her, an den
+Bulletinboards notierten die Schreiber mit Kreide die Kurse, die ihnen
+klappernde Telegraphen zuraunten, alles in allem ein wildes Geschrei,
+dessen Sinn ich kaum verstand.
+
+An einem der Nachmittage in Chikago ging ich ins „Kolosseum“, einen
+der amerikanischen Riesenzirkusse, der wohl 10000 Menschen zu fassen
+vermag, gleich jenem von Barnum und Bailey, der zuweilen mit seinem
+Riesenzelt in Deutschland von Stadt zu Stadt zog. Übrigens entdeckte
+ich ihn als guten Bekannten wenigstens an den Reklameanschlägen auch
+dort. Es war, soviel ich mich erinnere, ein Montag nachmittag um zwei
+Uhr. Und doch war der Zirkus gut gefüllt. Ich mußte mich fragen, wo
+alle diese hier sonst so arbeitseifrigen Menschen die Zeit hernehmen,
+an einem lichten Montagnachmittag drei Stunden im Zirkus zu sitzen!
+Aber der Amerikaner wie sein antiker demokratischer römischer Vetter
+liebt die Spiele über alles. Ich habe selbst in Italien nicht soviel
+Kinematographentheater gesehen, die alle besetzt sind, wie hier. Die
+Vorstellungen im Zirkus gingen auf fünf Podien +zugleich+ vor sich!
+Der Amerikaner mißt auch das Vergnügen nach der Quantität. Auf dem
+einen Podium wurde Schule geritten, auf einem anderen tanzten Bären,
+Affen und Hunde, auf einem dritten turnten Akrobaten, auf einem vierten
+wurden Gewichte bis 300 und 500 Pfund gehoben, auf einem fünften
+produzierten sich Seiltänzer und Springer, dazu einer, der alle Glieder
+seines Leibes in die schauderhaftesten Verrenkungen bringen konnte;
+rings herum noch ein Heer von Clowns, die ihre Witze rissen und in
+ihren abgeschmackten Kostümen sich balgten. Eine der Glanznummern war
+ein Pferd, das an einem Luftballon in die Höhe fuhr, und zuletzt ein
+tolles römisches Wagenrennen um die Arena. Alt und jung, Männer und
+Frauen, Schwarze und Weiße füllten als Zuschauer die weiten Galerien!
+
+Im Auto fuhr mich mein Vetter nach der Universität hinaus, die
+Rockefeller, der Petroleumkönig, nachdem sie eine Zeitlang eingegangen
+war, mit vielen Millionen wieder neu ausgestattet hatte, so daß sie
+heute überaus schöne, dem englischen Universitätsstil nachgebildete,
+sehr weitläufige und zahlreiche Gebäude zu den ihren zählt. Sie
+hat eine gute Lage weit draußen im Jacksonpark am See, am Südende
+der Stadt. Ehrwürdig schauen ihre Kapellen im englischen gotischen
+Stil, ihre Bibliothek, ihre „Dormitories“ und Kolleggebäude über die
+weiten grünen Parkrasenflächen, wo Studenten in leuchtenden weißen
+Sportshemden und -hosen Tennis und Golf spielen. Die täglichen
+körperlichen Übungen, die Lust zu Sport und Spiel können wir Deutschen
+gar nicht genug von Engländern und Amerikanern lernen. Die Tüchtigkeit
+unserer höheren Schüler und die deutsche Wissenschaft in allen
+Ehren, aber im ganzen sind wir Deutschen doch lange Stubenhocker und
+Stammtischphilister geblieben. Nur eins haben wir, das Wandern. Im
+übrigen hatten wir in unseren Schulen viel zu wenig Turnstunden die
+Woche und nur +einen+ Nachmittag für „Turnspiele“. Der amerikanische
+Student spielt +täglich+ schon in der Volksschule, als Boy in der ~high
+school~, +täglich+ im Kollege, als ~graduate~ und noch als erwachsener
+Mann. Das Jahr ist geradezu in verschiedene Spieljahreszeiten
+eingeteilt: Im Frühjahr spielt man Baseball, im Herbst Fußball, sonst
+Tennis und Golf, solange es das Wetter nur irgend erlaubt.
+
+Draußen am Jacksonpark, wo der frische Seewind durch die Anlagen
+streicht, war einst auch der Platz für die berühmte Weltausstellung
+1893 zum vierhundertjährigen Gedenken an die Entdeckung Amerikas, zu
+der an zwanzig Millionen Menschen zusammenströmten. Was war doch gegen
+diese Menschenmassen die Völkerwanderung, von der wir in der Geschichte
+so viel Wesens machen? Noch sind einige Reste von der „~world fare~“
+übriggeblieben. Die Nachbildungen der drei Schiffe des Kolumbus liegen
+noch in einer kleinen Bucht, hochbugige kurze Galeeren, mit denen sich
+heute keiner mehr auch nur für eine Woche über den Ozean wagen würde --
+und Kolumbus fuhr vier Monate! Ferner stand noch das Kunstmuseum und
+das türmereiche „Deutsche Haus“, das erst kürzlich einer Feuersbrunst
+zum Opfer gefallen ist, und endlich wie auf einem felsigen Kap ein
+weißgestrichenes Franziskanerkloster. Aber wie wenig passen doch diese
+mittelalterlichen Häuser in diese Umgebung!
+
+Einer meiner Besuche galt auch dem „Hull House“, einem der ältesten und
+bedeutendsten „~settlements~“ in Amerika. Das Hull House, von einem
+Mr. Ch. J. Hull 1889 in Immigrantenvierteln Chikagos gegründet, umfaßt
+heute dreizehn Gebäude, Turnhalle, Schulräume, Läden, Klubzimmer,
+ein Restaurant, Musikräume, Tanz- und Theatersaal, Handwerksstätten,
+Lesesäle usw. Etwa 9000 junge Menschen verkehren wöchentlich in diesen
+Räumen, suchen hier ihre gesellige, körperliche und geistige Erholung!
+50 sich selbst unterhaltende freiwillige Leiter wohnen im Hause und
+bilden untereinander einen korporativen Klub. Daneben sind über 200
+andere freiwillige „Settlement-Worker“ als Klubleiter tätig. Die
+Knabenklubs treiben alle Art Handwerk bis hinauf zu künstlerischer
+Malerei -- ich sah Bilder, die keiner Ausstellung Schande machten --
+und lernen eifrig Sprachen; die meisten sind junge Italiener, Griechen
+und Russen. Auch Musik ist wohlgelitten und natürlich vor allem der
+Sport. Die Bäder sind offen für das Publikum und ebenso das Restaurant.
+Bäder wurden im letzten Jahre 30000 genommen, und das Restaurant
+besuchen täglich 500 Personen. Das sind auch fast die einzigen
+Einnahmen des Hauses. Im Sommer wird auf dem Land ein „~camp~“, ein
+Lager, bezogen, das den Klubmitgliedern für eine Woche frei zur
+Verfügung steht. Welcher kulturelle Segen muß von einem einzigen
+dieser Settlements auf ein ganzes Stadtviertel ausgehen! Hier herrscht
+Ordnung, Sauberkeit, Geselligkeit, Kameradschaft, Freundschaft, Zucht,
+Sitte, Kunst und die Anfänge wissenschaftlicher Bildung und technischen
+Könnens. Mein letzter Blick galt der Kleinkinderschule und der Krippe,
+die mit dem Hull House verbunden ist. Ich vergesse nie all die Kleinen
+an ihren winzigen Tischchen und mit ihren kleinen Tassen und Löffeln,
+die Babies in ihren Bettchen und endlich die schwindsüchtigen Kinder
+auf dem Dach, wo sie in freien Hallen unterrichtet werden. Auf dem Dach
+in einer Großstadt! Besser wenigstens als in den finsteren Löchern
+ihrer Wohnungen. Aber warum nicht hinaus aufs Land, wo kein Schornstein
+und kein Wolkenkratzer droht und die Luft beengt? Welches Elend!
+Zugleich welche Hilfe! Wenn man diese warme Sonne der Liebe überall
+scheinen fühlt, dann vermag man fast das Elend, das diesen Armen aus
+den Augen schaut, zu vergessen ...
+
+Das war Chikago. Universität und Settlement, Zirkus und Wolkenkratzer,
+am See und in den Schluchten der Geschäftsstraßen, in den Parks und
+Fremdenvierteln, im ~lunchroom~, wo man sich selbst bedient, und in der
+~office~ 20 Stock hoch, wo der Ausläuferboy im zerschlissenen Anzug mit
+seinen acht Dollars die Woche, auf Aufträge wartend, gelangweilt die
+Zeitung liest -- aber wer weiß, was er noch für eine Zukunft hat! Wie
+hieß es doch in jenem amerikanischen Stück „Die City“? Nicht die City
+vernichtet den Mann, sondern sie erfordert einen, der ihr gewachsen
+ist. Nicht die City macht den Mann, sondern der Mann die City. Ja die
+City! Ihre Geschichte läßt sich nie ausschreiben.
+
+Durch meinen Vetter wurde ich auch in Kreise eingeführt, die
+sich für alle möglichen philosophischen und metaphysischen Dinge
+interessierten. Mein Vetter selbst schrieb, obwohl vollkommen Laie,
+Artikel über ethische Probleme trotz Kontor- und Geschäftsaufgaben.
+Immerhin eine Leistung! Er stellte mich einem Herrn vor, der mir --
+echt amerikanisch -- bekannte, nacheinander Methodist, Materialist,
+Buddhist, Naturphilosoph und Spiritualist (Spiritist) geworden zu
+sein. Echt amerikanisch! So wurde ich darauf aufmerksam, wie stark
+z. B. neben dem Anwachsen der Christian Science auch die Beschäftigung
+mit dem +Spiritismus+ in Amerika ist. Ich hatte Gelegenheit -- auch
+schon in Neuyork -- an „spiritualistischen“ Vortragsveranstaltungen,
+Sitzungen u. dgl. teilzunehmen. Aber rechten Geschmack konnte ich
+den Dingen nicht abgewinnen, vor allem konnte ich mich nicht von der
+Wahrheit und Wirklichkeit der behaupteten Erscheinungen überzeugen.
+So geschäftstüchtig und wirklichkeitsnah der Amerikaner ist, so
+unkritisch und leichtgläubig scheint er mir in übersinnlichen Fragen.
+Hier fehlt jede kritische deutsche Gründlichkeit. Der Amerikaner hält
+von vornherein viel mehr für möglich und wahrscheinlich als wir, die
+wir von unseren großen kritischen Philosophen geschult sind. Jedenfalls
+ist er dafür, daß alles einmal probiert und versucht werde. Probieren
+geht vor allem in Amerika über Studieren: Die Wahrheit wird sich schon
+selbst bewähren! denkt man drüben. Erweist sie sich nicht selbst in der
+neuen Richtung, so wird die Sache auch von selbst wieder eingehen und
+verschwinden. So argumentiert amerikanisches Denken. Während wir meist
+von der Theorie zur Praxis schreiten, macht man es drüben umgekehrt.
+
+Ich war also recht gespannt auf das, was ich zu sehen bekäme. In jeder
+der amerikanischen Großstädte gibt es sogar mehrere Gemeinden von
+„Spiritualisten“, deren „Gottesdienste“ äußerlich ähnlich denen der
+Kirchen verlaufen.
+
+Ich will ganz einfach erzählen, was ich in spiritualistischen
+Versammlungen gehört und gesehen habe. Vier Arten von
++spiritistischen+ Versammlungen habe ich besucht, „Gottesdienste“,
+sog. „~test-meetings~“, eine Sitzung mit voller „Materialisation“ der
+Geister und endlich eine Wochenversammlung, wo Gelegenheit zu Frage und
+Antwort über den Spiritualismus gegeben war.
+
+Die „Gottesdienste“ finden Sonntags zu den üblichen Stunden statt.
+Einmal des Morgens war es in einem Konzertsaale. Rednerpult, Lehnstühle
+für Älteste, Gesang, Gebet (zu Gott als „Prinzip“!) Schriftvorlesungen,
+offene Tellerkollekte, Predigt und Segen war wie in jedem
+amerikanischen Gottesdienst. Die Gesänge waren frisch und lyrisch, die
+Melodien voll Innigkeit. Ich setze den Schlußvers des Liedes, das ich
+in Neuyork mitgesungen habe, hierher:
+
+ ~We shall sleep, but not forever in the lowe and silent grave,
+ Blessed be the Lord, that taketh, Blessed be the Lord, that gave;
+ In the bright eternal city, Death can never, never come
+ In his own good time He’ll call us from our rest to home, sweet
+ home;
+ Refrain:
+ We shall sleep but not forever, There will be a glorious dawn.
+ We shall meet to part, no, never, on the resurrection morn.~
+
+Aus dieser einzigen Strophe geht der religiöse Grundcharakter
+zweifellos hervor, das starke und einzige Betonen des Glaubens an
+ein Weiterleben der Toten. Für diesen Glauben sucht man Beweise;
+mit Augen will man die Geister der Gestorbenen sehen und mit Ohren
+Botschaften von ihnen vernehmen. So heißt es in einem Flugblatt, das
+mir schon in Newyork gegeben wurde, ausdrücklich „nicht zu zerstören,
+sondern den Glauben, wie er in den hauptsächlichen Lehren aller
+Religionen enthalten ist, zu bestärken und zu begründen, ist der
+Spiritualismus bestrebt“. Und er allein rühmt sich, die Lehren „aller
+großen Lehrer von Konfuzius bis Mohammed und von Moses bis Jesus
+durch psychische Phänomene +demonstrieren+ zu können und uns so einen
+klareren Einblick in Ethik und Philosophie zu eröffnen“. Aber die
+Predigtrede im sogenannten „~Trance~“zustand enttäuschte mich sehr.
+Das Lesepult ward zur Seite gerückt. Der Redner saß für einige Minuten
+in seinem Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schien in
+„~Trance~“ zu verfallen. Er zuckte einige Male heftig, dann erhob er
+sich mit unsicheren Schritten, um mit geschlossenen Augen eine mehr
+als halbstündige äußerlich formgewandte Rede zu halten. Neben einigen
+guten Gedanken, allerlei krauses, ungeschichtliches Zeug über Christi
+Reisen, die er in seiner Jugend im Alter zwischen 12 und 30 Jahren
+nach Babylon, Indien und Ägypten unternommen habe, wo er zu den Füßen
+der alten Weisheitslehrer gesessen und von ihren Lippen seine Lehre
+empfangen habe! Ich bin nicht psychologisch bewandert genug, die Frage
+zu entscheiden, ob jemand im ~Trance~-zustand eine solche halbstündige
+Predigt, formgewandt und logisch konsequent, zu halten vermag, und
+ob es überhaupt möglich ist, gleichsam auf Kommando und auf eigene
+Initiative hin, selbst in Trance zu fallen und aus ihr wieder zu
+erwachen. Ist aber die Trance simuliert, liegt also bewußte Täuschung
+vor, so erregt der ganze „Gottesdienst“ trotz ansprechender Gebete
+und Lieder Abscheu. Jedenfalls aber soll die Trance die Predigt als
+„inspiriert“ legitimieren und den Eindruck erwecken, Geister sprechen
+durch den Prediger; der Redner selbst ist bewußtloses und willenloses
+Werkzeug der „Inspiration“! In der Tat kündigt die spiritualistische
+Gemeinde für jeden Sonntag zwei andere „Geister“ an, die durch den
+Prediger sprechen sollen, so einmal -- niemand anders als William
+Shakespeare (!) und Darwin. Damit auch die Komik nicht fehlt, sollte am
+Morgen desselben Tages der Geist eines der Bauleute am salomonischen
+Tempel sprechen!!
+
+Der spiritualistische „Gottesdienst“ war recht spärlich besucht, aber
+es sollte Gottesdienst sein, nichts von Klopfgeistern und Tischrücken.
+Der Spiritualismus ist eben drüben mehr als das, was man gewöhnlich
+von ihm weiß, eine organisierte und anerkannte religiöse Sekte. Auch
+die „Sonntagsschule“ fehlt dabei nicht. Als Lesegegenstand wurde
+bekanntgegeben: Eine Geschichte unseres Planeten und des Mars seit
+ihrem 68000- bzw. 25000jährigen Bestehen!! Weiter wurde in diesem
+Zusammenhang erzählt, daß ein berühmter Astronom im Westen der
+Vereinigten Staaten dieses Buch über den Mars zu seinen Berechnungen
+benutze (!). Ich mußte auch über die umfangreiche spiritualistische
+Bibliothek staunen, die ich im Bibliothekzimmer zu sehen bekam; sie gab
+mir einen Eindruck davon, wie viele Menschen hier ihre geistigen Kräfte
+an den Spiritismus und seine Lehren gewandt haben müssen.
+
+[Illustration: ~CHICAGO~
+
+~Das Leichenbegräbnis Mc Kinley’s in der State-Street~]
+
+[Illustration: ~CHICAGO~
+
+~Blick in die Union Stock Yards (Großschlächtereien)~]
+
+Ein andermal ging ich zu einem sogenannten „~test-meeting~“, d. h.
+zu einer Versammlung, in der Geister durch ein Medium Botschaften an
+ihre lebenden Verwandten ausrichten und so die übersinnliche Welt
+und ihr Wirken durch weissagende Zeugnisse, die das Medium kraft der
+Inspiration einzelnen ausstellt, beweisen. Diese Versammlung hat in
+einem prunkvoll ausgestatteten Saal einer Loge stattgefunden. Es
+mögen wohl 100 Personen anwesend gewesen sein, darunter besonders
+viele weißhaarige Damen. Es war Sonntag nachmittag. Wieder ein
+„gottesdienstlicher“ Rahmen. An Stelle der Predigt kamen die
+„Geisterbotschaften“. Das Medium, eine Dame in den mittleren Jahren,
+von imponierender Erscheinung, saß für einige Minuten, ganz wie
+jener Prediger, von dem ich oben berichtete, die Augen mit der Hand
+geschützt, in ihrem hohen Stuhl und schien in „~Trance~“ zu fallen.
+Ringsum feierliches Schweigen und gespannte Erwartung: Was werden die
+Geister zu sagen haben? Wem wird sie eine Botschaft ausrichten? Dann
+erhebt sich die Dame -- ich vermochte, obwohl ich in der ersten
+Reihe saß, durchaus keine psychische Veränderung an ihr wahrzunehmen --
+mit offenen Augen und sicherem Schritt. Sie tritt zu einem Tischchen,
+wo vor Beginn des Gottesdienstes die „Gläubigen“ allerlei Andenken
+an ihre Verstorbenen, Ringe, Armbänder, Bilder, sogar eine Bibel,
+verhüllt niedergelegt haben. Sie greift eines der Objekte heraus; und
+nun beginnt der „Geist“ des Verstorbenen, der sie leitet und auf den
+sich das Objekt bezieht, ihr eine Botschaft an den Lebenden aufzutragen
+und durch sie als Medium dem Lebenden sich durch Mitteilung seines
+vergangenen und zukünftigen Lebens als wirklich zu erweisen, d. h. das
+Medium begann in ganz +allgemeinen+ Ausdrücken zu weissagen, auf wen
+sich das Objekt bezieht, etwa so: „Ich sehe eine Gestalt neben mir
+in weißem Haar, eine Frau, alt, sorgenvoll und doch mit treuem Auge
+...“ Dann bricht sie ab, hält den Ring empor, den sie ergriffen, und
+fragt: „Wem gehört dies?“ Ein älterer Mann in Trauerkleidung steht
+auf. Sie fährt fort: „Ich sehe Ihre Frau neben mir, und sie sagt mir,
+sie begleite Sie auf allen Ihren Wegen und sie schütze Sie vor Unglück
+und freue sich, Sie bald im Himmel wiederzusehen. Doch zuvor müssen
+Sie durch Leid und schwere Sorgen hindurch ... usw.“ In ähnlichen ganz
+allgemeinen Phrasen bewegen sich die „~tests~“. Manchmal scheint es
+nicht recht zu stimmen, was die Prophetin von der verstorbenen Person
+weissagt. Der Gläubige denkt hin und her und kombiniert und überlegt
+und entdeckt hier und da einen Sinn und ein Zusammentreffen und tröstet
+sich und die übrigen damit, daß die Geister nicht alles enthüllen und
+Prophetien immer dunkel zu sein pflegen. Aber einige Male scheint die
+Kunst der Prophetin auffallend das Richtige getroffen zu haben, die
+betreffende Person erhebt sich und bekennt: „Es stimmt ganz genau“, und
+ein allgemeiner Beifallssturm lohnt die Prophetin, die enthusiastisch
+ausruft: „~Friends, the world moves on ...!~“ So ging es fort für eine
+ganze Stunde; wohl 20 Personen bekamen ihre „~tests~“.
+
+Über was soll man sich mehr wundern, über die Gläubigkeit dieser
+„Gläubigen“ oder die psychologische Kunst des „Mediums“? Wenn doch
+die „Geister“ einmal wirklich neue Offenbarungen senden wollten und
+nicht nur Gemeinplätze und zweideutige Phrasen! Aber hat denn nicht
+manchmal das „~test~“ genau gestimmt? Ja, es scheint so. Aber es ist
+erstens nicht zu vergessen, daß das Medium meist seine Leute kennt,
+dieselben kommen ja fast sonntäglich; viele begrüßte sie mit Namen und
+Handschlag nach der Versammlung. Vieler Lebensgeschichte mag sie in
+einigen Umrissen kennen oder erschließen aus ihrer Person, ihrem Alter
+und ihrer Kleidung (es fiel mir auf, daß sie sich fast ausschließlich
+an Personen in Trauerkleidung wandte!), aus ihrer Haltung und ihrem
+Gesichtsausdruck. Je nachdem, was sich während ihres Weissagens auf
+den Gesichtern der Angeredeten ausprägt, ob Zustimmung, Befremden,
+Freude, Schmerz, Erstaunen, fährt sie in ihrem Spruch fort, ändert ihre
+Worte oder hält ein. Viele der Angeredeten, die „glauben“, sind zudem
+natürlicherweise im Augenblick der „~tests~“ erregt, verwirrt, sie
+kombinieren und phantasieren, sehen mehr Zusammenhänge, als da sind,
+und hören mehr und deuten mehr aus den Worten des Mediums heraus kraft
+ihrer eigenen wirklichen Kenntnis ihres Lebens und ihrer Verstorbenen,
+als was das Medium in seiner allgemeinen Zweideutigkeit hat wirklich
+verlauten lassen. Interessant wäre es auch zu wissen, wieweit dieses
+Medium sich eines +Betruges+ und seiner psychologisch kombinierenden
+Kunst selbst +bewußt+ ist oder wieweit es an seine Geistesinspiration
+selbst glaubt(?).
+
+Die dritte Art Versammlung, die ich besuchte, sollte eine Sitzung
+mit +voller Materialisation+ von Geistern sein! Sie fand abends
+acht Uhr statt. Wieder mögen es etwa 100 Personen gewesen sein.
+Fremde wurden nur auf den hinteren Reihen zugelassen! Fürchtete man
+vielleicht eine plötzliche Störung und Entlarvung durch Unberufene?
+Der Leiter der Versammlung erklärte die Maßnahme damit, daß alle rohe
+Selbstsucht von ungläubigen Personen, die in der ersten Reihe sitzen,
+dem Eintritt der Materialisation hinderlich sei(!). Damit auch hier
+die Komik nicht fehlte, bat er am Schluß seiner einleitenden Worte
+den Diener, ein Fenster zu öffnen, da frische Luft den Geistern sehr
+zur Verkörperlichung helfe!! Der Raum wurde alsbald verdunkelt --
+merkwürdig, daß Geister immer nur im Dunkeln erscheinen! Das Medium,
+eine Frau in mittleren Jahren, setzte sich hinter einen roten Vorhang
+... (warum immer noch hinter einen Vorhang?). Ein Klopfen ließ sich
+hören, der Vorhang öffnete sich ein wenig und eine weiße Gestalt
+huschte vorbei. So mehrere Male. Dann begann die weiße Gestalt -- die
+merkwürdigerweise weder Größe noch Gestalt, noch Gewand, noch Stimme,
+noch ihren Platz wechselte! -- +Namen+ zu nennen, undeutlich flüsternd,
+so daß man bald diesen, bald jenen herauslesen konnte. Der Leiter gab
+dann den Namen laut bekannt und fragte, ob jemand den Geist erkenne.
+War jemand desselben Namens im Saal, so fragte derselbe etwa den Geist:
+„Bist du’s, Mutter?“ Der Geist antwortete dann: „Ja, meine Tochter.“
+Freudig rief die Gläubige dann: „Ich freue mich, dich zu sehen, komm
+bald wieder!“ Und der Geist verschwand. Das war die ganze „geistreiche“
+Unterhaltung der Geister aus der anderen Welt, die sich aber nie auf
+eine lange Unterhaltung einließen. Wohl nicht weniger als 50 solcher
+Geister erschienen binnen einer Stunde an diesem Abend, hier und da
+auch ein Mann mit schwarzem Bart und schwarzem Rock ... aber dann
+dauerte es gewöhnlich etwas länger, bis er kam. (Nahm der Geist sich
+erst Zeit, das weiße Gewand mit dem schwarzen zu vertauschen?)
+
+Dies war die eindrucksloseste, albernste Versammlung und der
+offensichtlichste und plumpste Betrug, den ich je erlebt habe.
+Man muß sich nur über die Leichtgläubigkeit der Menschen wundern,
+die in dunklem Raume eine Frau in weißem Laken für einen Geist
+halten. Den Alten verzeihen wir es, wenn sie körperliche Geister
+sahen, aber in unserer kritischen und naturwissenschaftlichen Zeit
+scheint es unverständlich. Ich will nicht vergessen zu sagen, daß
+eine Dame vor der Materialisation ein stimmungsvolles Lied sang und
+während der „Geistererscheinungen“ eine simple Spieldose ihre Weisen
+klimperte, vielleicht um „Sphärenmusik“ zu imitieren! Einige in der
+Versammlung konnten sich des Lachens nicht enthalten, wurden aber
+von einer „gläubigen“ Dame, die sich umdrehte, in barschen Worten
+zurechtgewiesen. Lachte man mehr, lief man Gefahr, ganz hinausgewiesen
+zu werden.
+
+Endlich die vierte Art spiritistischer Versammlung, der ich beiwohnte,
+war eine Wochenversammlung, wo man Fragen stellen konnte und Antwort
+über spiritistische Lehren erhielt. Hier kam das allerkonfuseste
+Zeug zutage, z. B. Frage: „Was ist Gott?“ Antwort: „Natur“. -- „Wer
+war Jesus?“ Antwort: „Geboren in einer Vegetarierfamilie, deshalb
+mit so starkem und wundertätigem Körper und Geist begabt!“ -- Die
+Geister leben in verschiedenen Vibrationssphären und scheinen eine
+Art ethischer Läuterung durchzumachen. Für täglichen Spaziergang und
+körperliche Bewegung als gesundheitsfördernd wurde stark eingetreten!
+Ein Bild eines Geistes in Gips wurde vorgezeigt, das vor vielen 1000
+Jahren bei einer Materialisation abgenommen sein soll! David und Saul
+wurden als spiritistische Rivalen(!) geschildert. Die Propheten der
+Bibel waren natürlich samt und sonders Spiritisten. Auch die „Hexe von
+Endor“ (1. Sam. 28) durfte natürlich nicht unerwähnt bleiben. Kurz,
+ein wahrer Hexentanz von geschichtlicher Unkenntnis und phantastischer
+Metaphysik, vermischt mit ethisch-asketischen Tendenzen, ja schließlich
+ein bißchen Vegetarianismus. Ein trüber Strom, der sich unbekannt und
+unbeachtet in obskurer Literatur von den Zeiten der hellenistischen
+Religionsmischung an durch das hexengläubige Mittelalter und die
+krausen Spekulationen phantastischer Philosophen herabergießt bis auf
+unsere Tage, neu aufgefrischt und aufgetischt mit Geistererscheinungen
+und spiritistischen Sitzungen.
+
+Das waren meine Abschiedseindrücke von Chikago. Wirr und kraus wie die
+Stadt im ganzen, schien mir auch ihre geistige Verfassung zu sein. Was
+mag sich an Geldjagd, Lebensnot, Glaube, Schande und Aberglaube alles
+in ihr bergen! Und das alles emporgeschossen in noch nicht 100 Jahren!
+1831 ja noch ein Indianerdorf am „Zwiebelfluß“, 1925 die viertgrößte
+Stadt der Welt! Und es wird nicht ruhen, bis es noch eines Tages
+Neuyork überflügelt hat!
+
+
+Chikago.
+
+ Schweinemetzger der Welt,
+ Werkzeugfabrikanten, Weizenschieber,
+ Spieler mit Eisenbahnen, Warenhändler der Nation,
+ Stürmisch, rauh, lärmend,
+ Stadt der breiten Schultern.
+
+ * * * * *
+
+ Sie sagen, du seist versumpft, und ich glaube ihnen; denn ich sah
+ Deine gemalten Frauen unter den Gaslaternen die Farmboys ködern.
+ Und sie sagen, du seist ungerecht, und ich sage: Ja, es ist wahr,
+ Ich sah den Apachen morden und frei herumgehn, um weiter zu morden.
+ Und sie sagen, du seist roh, und ich antworte: Auf den Gesichtern
+ Der Frauen und Kinder sah ich Zeichen lüsternen Hungers.
+ Und so antwortend, wend’ ich mich ihnen zu, den Spöttern über meine
+ Stadt
+ Und gebe ihnen den Spott zurück und sage:
+ Kommt und zeigt mir eine andre Stadt, singend,
+ Erhobenen Hauptes, so stolz zu leben, grob zu sein und stark und
+ schlau.
+ Während der Arbeit
+ Magnetische Flüche schleudernd,
+ Ein großer, kühner Raufbold, der sich lebhaft auflehnt gegen die
+ kleinen sanften Städte.
+ Wild, wie ein Hund, mit der Zunge lechzt er nach Tat,
+ Listig wie ein Wilder, kämpft er gegen die Wildnis,
+ Barhaupt,
+ Beiseiteschiebend,
+ Zertrümmernd,
+ Platzmachend,
+ Bauend, niederreißend, wieder aufbauend,
+ Unter dem Rauch, Staub um den Mund, mit weißen Zähnen lachend,
+ Unter der schrecklichen Last des Schicksals lacht er, wie ein junger
+ Mann lacht,
+ Lacht, wie ein unwissender Kämpfer lacht, der nie eine Schlacht
+ verlor,
+ Prahlend und lachend, daß der Puls klopft unter dem Handgelenk
+ Und unter den Rippen das Herz des Volkes.
+ Lachend!
+ Lachend das stürmische, heisere, lärmende Lachen der Jugend.
+ Halbnackt, schwitzend.
+ Stolz darauf, Schweinemetzger, Werkzeugmacher, Weizenschieber,
+ Spieler mit
+ Eisenbahnen und Warenhändler der Nation zu sein!
+
+ Carl Sandburg.
+
+ Aus: Neue Welt, eine Anthologie amerikanischer moderner Lyrik, S.
+ Fischer Verlag, Berlin.
+
+
+
+
+Über den Mississippi ins Felsengebirge.
+
+
+Ich hatte genug von dem mystischen Spuk der Spiritisten und ebenso von
+dem Geschäftstrubel Chikagos; ich freute mich daher ordentlich auf die
+Einsamkeit im -- Eisenbahnwagen, dem ich mich nun wieder für etwa 40
+Eisenbahnstunden anvertrauen wollte und ebenso auf die Einsamkeit der
+ungeheuren Mississippiebenen.
+
+Dankbar verabschiedete ich mich von meinen freundlichen Gastgebern,
+die mir soviel gezeigt und soviel zugänglich gemacht hatten. Aber
+immer hätte ich um keinen Preis in Chikago wohnen und weilen mögen
+ebensowenig wie in Neuyork. Ich könnte weder der täglichen Ermordung
+der Zehntausende von Hammeln und Ochsen zusehen, wie das lebende Vieh,
+das frühmorgens eingeliefert, am Abend als fertige Wurst die „~Union
+stock Yards~“ verläßt, noch möchte ich täglich bei Marshall Field u.
+Co. aus- und eingehen oder als Türboy Hunderttausenden täglich die Tür
+öffnen. Eher noch würde ich auf den weiten Wassern des Lake Michigan
+herumfahren oder in den grünen Parks baseball spielen wollen. Aber so
+gnädig erweist sich ja das Leben den wenigsten unter den Menschen.
+
+So verzichtete ich auch nicht allzuschweren Herzens auf den Besuch
+der deutschesten Stadt Amerikas, Milwaukee, in der allein auch
+sozialistische Stimmen sich maßgebend geltend zu machen pflegen! Wie
+anders in Deutschland, dem Mutterland des Marxismus! Der Amerikaner ist
+viel zu sehr Individualist, als daß er in Massen je dem marxistischen
+Sozialismus anheimfallen könnte. Er hat zu sehr auf Schritt und Tritt
+in seinem Lande erprobt, was persönliche ungehemmte Energie und
+Eigenart des einzelnen vermag, ja daß die Union der Entschlußkraft und
+Unabhängigkeit des wagenden Individuums alles verdankt, als daß er
+überzeugter Marxist werden könnte. Die Deutschen kommen im Urteil des
+Stockamerikaners nicht immer gut weg. Wie die Stimmung über sie ist,
+zeigt folgendes moderne Gedicht:
+
+
+„Deutsche Nachkommen.“
+
+ Riesen von 48,
+ O Märzwind!
+ -- -- --
+ Nachgeborene
+ Mit dem schwarzen Stigma
+ Der Niederlage.
+ Flucht, Angst der Träume,
+ In der Ferne Verlorene --
+ Unstolze Ruhe,
+ Schlaf und Dunkel ...
+ Exil!
+ -- -- --
+ Jenseits des Flusses
+ Graue Wölbung des Viadukts,
+ Tal der Fabriken.
+ Die ganze Stadt gehört ihnen,
+ Ihre Stadt -- Deutschland.
+ Der glatte Boulevard
+ Gürtelt die schmächtigen Straßen,
+ Hügel und See.
+ Rasenbeet --
+ Kohlbeet --
+ Kleines Glück der Mittelmäßigkeit
+ Zwischen evangelischen Türmen
+ Und den Kaminen der Brauereien,
+ Ganzes Glück der Mittelmäßigkeit.
+ In großen gotischen Lettern
+ Über Laden und Buden
+ Zwischen Gurken und Kraut
+ Und den irisierenden Saucen des Herings.
+
+ Qualmende Küchen
+ Mit ihrem Wäsche- und Backduft ...
+ Schweigen ... Katze und Uhr ...
+ Schwerer Griff trägt zierlichen Römer,
+ Breiter Lehnstuhl für das Abendblatt.
+
+ Sonne und Sonntagsstaub
+ Bespritzt die Kastanienbäume
+ Und die gemalten Tische
+ Mit den überschäumenden Bechern --
+ Starker Männerchor,
+ Rhythmus und schwarz-rosa Schweiß
+ Der Turnvereine ...
+ Fahnen, Schnurrbart und Kreuz --
+ Hoch!
+
+ Er war Bäcker, Brauer,
+ Gewann auf der Börse -- bescheiden,
+ Und dann das weiße Palais auf dem Boulevard.
+ Und Madame, eifersüchtig
+ Auf die Künste der Köchin
+ Strickt mit den Lappen der alten Kleider
+ Unzählige Teppiche ...
+ Und die Töchter nähen, kochen
+ Und gehen in Scharen zum Kollege.
+
+ Alles solide und fest!
+ Ein wenig Musik aus Tradition.
+ Weniger Kunst
+ (diese Maler sind zu modern),
+ Nur das Alte ist gut.
+ Alte Möbel,
+ Alte Sitten,
+ Alte Dichter
+ Und alte Tugend,
+ Das alte Land dort drüben
+ Über alles -- -- --!
+
+ „Solides, starkes Volk,
+ Bewahre dein reines Blut,
+ Baue für dich!
+ Unser Reichtum heirate unsren Reichtum.
+ Die Kinder gehören uns
+ Uns
+ Dem auserwählten Volk.“
+ -- -- --
+ Unsre Stadt --
+ Deutschland.
+
+ Francis Treat.
+
+ Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+ Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 66.
+
+Ebensowenig weinte ich den großen Pullmann-Werkstätten nahe Chikago
+in Pullmann eine Träne nach, daß ich sie nicht in Augenschein nahm.
+Nur fort aus dem Menschenameisenhaufen Chikago! Das war jetzt mein
+sehnlichster Wunsch.
+
+Bald nach der Abfahrt, als die letzten Fabriken wichen, taten sich
+ungeheure Ebenen im Staate Illinois auf mit herrlichen Fluren, von
+denen viele deutschen Farmern gehören. Ein wenig hügelig war das
+Gelände, aber nicht lange. Die ersten Frühlingsknospen waren an
+den Bäumen. Das Land sah etwa so aus, daß es auch in der Provinz
+Sachsen in Mitteldeutschland hätte liegen können. Wir näherten uns
+dem Illinoisriver, demselben, in dessen Oberlauf man den Chikagofluß
+zurückzufließen zwang, damit er nicht länger mit seinen schädlichen
+Abwässern den trinkwasserspendenden Lake Michigan verunreinige. Langsam
+zog eben auf ihm eine Barke dahin, die ein großes Segel aufgespannt
+hatte. Die einzige Unterbrechung des Flußbildes. Hier und dort dehnte
+sich Sumpfland. Ab und zu sah man eine alleingelegene Farm, Rinder-
+und Pferdeherden. Alles ein ganz anderes Bild als die geschlossenen
+deutschen Dörfer mit ihrer engen, wohlabgezirkelten Gemarkung!
+
+In unserem Zug -- ich fuhr wieder in der „~chaircar~“, nicht im
+Pullmann -- saßen allerlei Leute meist einfacheren Standes mit ihren
+Kindern. Sie hatten ihre Decken, ihre eigenen Eßkörbe mitgebracht,
+aus denen sie die üppigsten Mahlzeiten hervorzogen -- auch der Wein
+und das Tischtuch fehlte nicht. Für drei Tage und Nächte Fahrt nach
+Kalifornien hatten sie sich häuslich eingerichtet, so wie man es
+sich auf Deck und in der Kabine des Schiffes gemütlich macht. Sie
+spielten, lachten, lasen, rauchten, aßen, schliefen, wie es paßte.
+Die Kinder benutzten bald den langen Mittelgang als ihre Rennbahn und
+die langen Liege- und Drehstühle als Verstecke, spielten Hasch und
+Sichkriegen. Der Boden des Wagens verwandelte sich daher allmählich in
+ein Stilleben von Obstschalen, Orangen- und Brotresten, Papier aller
+Sorten, leeren Schachteln usw. Eine ästhetisch veranlagte Dame vor mir
+hatte sich an den Plüsch des Sitzes ihr gegenüber eine dunkelrote
+Rose gesteckt, um ihre Umgebung zu verschönern. Aber in der allmählich
+sich verschlechternden Luft -- die Fenster sind wegen des stets sehr
+reichlichen Ascheflugs aus der Lokomotive nicht zu öffnen -- welkte
+sie, und ein rotes Blatt nach dem andern fiel langsam mit einem leisen
+„Hsch“ zu Boden. Neben mir saß ein junger Eisenbahner von vielleicht
+22 Jahren, der in Kalifornien Stellung suchte und in mir das gleiche
+vermutete. Er empfahl mir, in den ~Y. M. C. A.~[22] einzutreten. Das
+sei überall in der Welt eine gute Sache. Ihr könne man angehören. Er
+pries mir alle die äußeren und inneren Vorzüge derselben, aber das
+hinderte ihn doch nicht, nachher in einer Ecke des Wagens lustig mit
+zwei kecken Chikagogirls ein wenig zu flirten. Im Wagen wurden wie
+immer Karten, Schokolade, Handschuhe und Obst angeboten. Nur daß sich
+das Obst, je weiter wir uns von Chikago entfernten und je seltener wir
+hielten, ständig verteuerte.
+
+So etwa je nach ein bis zwei Stunden gab es eine Haltestelle.
+Dazwischen war nichts. Die Bahnhöfe verdienen kaum diesen Namen! Und
+ein Namensschild derselben war selten deutlich zu entdecken. Die
+Siedlungen lagen alle immens weit auseinander. Jeder ist hier König
+in seinem eigenen Reich und auf seiner schier unbegrenzten Scholle.
+Wie anders in den Riesenstädten, wo sich die Menschheit zu Millionen
+zusammenballt! Wer nicht einmal durch diese endlosen Ebenen gefahren
+ist, kennt Amerika nicht! Neuyork und Chikago allein sind noch nicht
+die Union! Aber nirgends war auch etwa eine alte Dorfkirche, wie in
+Franken oder Schwaben, zu entdecken. Die Besiedlung ist hier ja erst
+vor 50 bis 70 Jahren vor sich gegangen. Es ist hier immer noch Anbau-
+und Gründungszeit, wie es etwa bei uns unter Karl dem Großen war. Bei
+einer Gruppe von etwa 20 Wohnhäusern steht schon eine kleine hölzerne,
+höchst primitive Farmerkirche. Sie fehlt nirgends, oft sind es gar
+zwei oder drei verschiedener Denominationen! Alles ist in diesem
+Lande ungeheuer, die Ebene, die Ströme, die Seen, die Städte, die
+Bodenschätze, die Fruchtbarkeit, der Reichtum. Während bei uns ein
+Bauer bei allem Fleiß im allgemeinen aus dem Boden -- die künstliche
+Düngung nicht gerechnet -- nicht viel mehr ziehen kann als sein Vater
+und Großvater vor 40 und 60 Jahren zog, erntet ein Ansiedler, der mit
+nichts nach Amerika kommt, oft schon nach sechs, sieben Jahren so viel,
+daß er sich ein eigenes wohlmöbliertes Landhaus bauen und ein Automobil
+kaufen kann! Wie müssen die Ebenen hier erst bei voller Ernte strahlen,
+wenn Korn und Mais übermannshoch steht und die großen Mäh-, Dresch- und
+Säemaschinen auf den Feldern fauchen! -- --
+
+Je südwestlicher wir kamen, desto wärmer wurde es! Man sah schon
+Landleute auf den Feldern mit vereinzelten Strohhüten gehen. Sonst ist
+erst der 15. Mai drüben der offizielle Termin, den Strohhut auf- und
+nicht mehr abzusetzen bis in den indian summer hinein! Um Mittag hatten
+wir den Mississippi erreicht. Glitzernd wälzte er seine blauen, bis 1
+~km~ breiten Fluten träge und gemächlich -- wie etwa die Elbe unterhalb
+Hamburgs -- durch die ungeheuren Ebenen des mittleren Westens. Seine
+Länge ist dreimal die unseres Rheins. Ich war am Mississippi! War es
+möglich? Wovon man als Kind nur in Indianergeschichten geträumt und
+gelesen hatte! Es war mir in den Augenblicken, da unser Zug bei Fort
+Madison gravitätisch über die lange eingleisige Mississippibrücke
+rollte, unbeschreiblich seltsam zumute, daß ich es mir immer wieder
+sagen mußte: Jetzt fährst du über den Mississippi! Zwei kleine,
+alte, vorsintflutliche Dampfer kreuzten den von bewaldeten Inseln
+eingenommenen mächtigen Strom. Fort Madison lag gänzlich einsam, nur
+von wenigen Häusern umgeben. Welchen Feind will es hier abwehren?
+Stritt es einst gegen die Franzosen oder Engländer oder Mexikaner oder
+die Indianer? Von rechts her winkten grüne Wälder. Alles glänzte in
+blendendem Frühlingssonnenschein. Zur Feier der Überfahrt über den
+Mississippi verzehrte ich die letzte Apfelsine, die mir die liebe
+Cousine in Chikago mit eingepackt hatte. Dann fuhren wir wieder und
+fuhren und fuhren ... Von den 38 Stunden bis Neumexiko waren erst
+die wenigsten herum. Wie hatte doch bei Florenz einmal mir gegenüber
+eine deutsche Dame, als sie in vier Stunden von Bologna kam, schon
+ungeduldig ihren Mann gefragt: „Ach, Artur, wann sind wir denn
++endlich+ da?“ Hier lernte man in Geduld sitzen und fahren.
+
+Jenseits des Mississippi, im Staate Missouri, den wir jetzt
+durcheilten, liegt das alte Prärieland, da man einst mit dem
+Lasso die Büffel jagte und Indianer durchs übermannshohe Gras
+ritten. Das Flußtal begleiteten sanfte Hügelreihen, eine angenehme
+Unterbrechung der endlosen Ebenen, sanfte Bachtäler, Wiesenhänge,
+auf denen zahlreiche Kühe weideten. Wie bald werden sie nach
+Chikago in die ~Union stock yards~ wandern? Gefallene Bäume
+liegen da, um die sich niemand kümmerte. Aber nirgends waren hier
+umfangreichere Wälder. Einst war es romantischer, mit der Büchse
+durch die Wildnis zu reiten, als mit der Bahn hindurchzufahren,
+aber wieviel ungezählten Millionen wächst hier jetzt das Brot,
+während früher die Indianer wohl nur einige Hunderttausend gezählt
+haben. Die sanftgewellten Hügelreihen am glitzernden Mississippi
+hatten mit ihren Büschen, Bächen und Pferdeherden ihren eigenen
+Reiz. O wie hätte ich all den Schreibmaschinenfräuleins und den
+blassen Angestellten in dem wimmelnden und dampfenden Chikago, wo
+man in den Wolkenkratzerschluchten kaum den Himmel und vor all der
+Lichtreklame kaum noch die Sterne sieht, einmal hier auf einige Wochen
+herauszukommen, um sich ohne Zeitungsgeschrei und Dollarjagd in Licht,
+Luft und Sonne gesund zu baden, gegönnt! So wie die Pferde und Rinder
+heute hier weideten, weideten sie auch einst vor Jahrtausenden am Nil,
+am Euphrat oder am Eurotas. Aber kein Expreß dampfte an ihnen vorüber,
+daß sie erschreckt zur Seite sprangen, kein Auto tutete in ihre
+Wildnis, kein Wolkenkratzer reckte sich gen Himmel! Wie die Kulturen
+im Kern einander gleich bleiben und doch verschiedenes Antlitz tragen!
+So wie die Menschen am Ganges braun, am Nil schwarz, am Jangtsekiang
+gelb, am Rhein weiß und am Mississippi rot sind und doch die gleichen
+Bedürfnisse und Gedanken haben. Wie ist hier Macht vor Recht gegangen
+und hat dem roten Mann, der selbst vielleicht einst vor Jahrtausenden
+als ein Bruder des Gelben aus Nordasien hier hereingekommen ist, Land
+und Grund genommen, ihn mit Pistole und Branntwein ausgerottet und sich
+an seine Stelle gesetzt! Und lag nicht doch in der vorwärtsdrängenden
+Kulturmacht des Weißen ein höheres Recht, so daß Macht auch ein
+Recht in sich birgt? Ich muß im Grunde allen fremden Völkern und
+Rassen wohlgesinnt sein -- dazu erziehen uns Weltreisen --, aber ich
+muß doch auch in der Geschichte der Kriege und Kolonisationen Sinn
+finden. Heute haben hier die Indianer in den meisten der Staaten
+des mittleren und fernen Westens nur noch ihre „Reservationen“, am
+größten in Oklahoma. Es gibt eine Reihe Amerikaner, die mit Stolz
+Indianerblut in sich tragen, während Negerblut völlig verachtet ist!
+Es gibt genug Indianer, die als Amerikaner gekleidet fast unerkennbar
+in amerikanischen Diensten stehen. So lernte ich einen indianischen
+Studenten und Lokomotivführer kennen! Aber es gibt vielleicht auch
+noch eine Viertelmillion Vollblutindianer, die abgelegen in ihren
+Dörfern (~pueblos~) leben und sich von Töpferei oder Teppichweberei
+kümmerlich nähren und in ihrer Liebe zu den wilden Bergen und einsamen
+Felsschluchten nicht lassen können ...
+
+Am Flußufer standen einige Fischer mit ihren Angeln und schauten
+stundenlang in das Blau des Himmels und in die Weite. Vor seinem
+Haus in der offenen Halle saß ein behäbiger Farmer in weißem Bart
+und schaute unserem Zug nach, dem einzigen Ereignis, das am Tag sein
+Einerlei unterbricht. Auf einem grünen Anger spielten barfüßige Knaben
+-- die man in Amerika selten sieht -- ihren ~baseball~. Bei einem
+kleinen Ort stand eine Holzkirche armselig wie eine Scheune. Nur die
+Fenster mit ihren gotischen Holzladenfenstern und einem eisernen Kreuz
+am First ließen sie als solche erkennen. Am Abend sah man die Landleute
+in Ermangelung von Wegen und Straßen einfach auf den Bahnschienen ihren
+Wohnungen zustreben! Das ist der ebenste und kürzeste Weg drüben. Die
+Lokomotive pfeift, und man tritt einen Augenblick zur Seite! Wer dabei
+überfahren wird, hat es sich selbst zuzuschreiben. Polizeistrafen gibt
+es dafür nicht!
+
+Purpurrot begann die Sonne im Westen zu sinken. Immer weiter westwärts
+ging unsere Fahrt ... Zwei barmherzige Schwestern fuhren allein in
+einem äußerst primitiven Reisewägelchen draußen durch den Abend.
+Der Wagen suchte sich selbst die beste Fahrgelegenheit durch den
+Sand und das Gras. In einigen erleuchteten Zelten saßen Bahnarbeiter
+um ihr Abendbrot ... Mit Dunkelheit kamen wir nach Kansas City im
+Staate Kansas und überschritten hier den mit seiner gewaltigen Breite
+fast an den Mississippi erinnernden Missouri, der von hier nach St.
+Louis zum Einfluß in seinen größeren, aber bis dahin kürzeren Bruder
+strömt. Kansas hat etwa 200000 Einwohner und ist die größte Stadt des
+gleichnamigen Staates. Sie liegt am Einfluß des Kansasflusses in den
+Missouri. Sie ist wie alle amerikanischen Städte rasch gewachsen. 1860
+hatte sie noch nicht 5000 Einwohner! Jetzt hat sie ihr stattliches
+„Kapitol“, ihre prächtigen Parks usw., wie es einer ordentlichen
+großen Stadt zukommt. Einer der Einwohner unserer Hall in Cambridge
+war aus Kansas, Freund R., er hatte also 38 Bahnstunden in seine
+Universitätsstadt zu fahren! Wer macht ihm das in Deutschland nach?
+
+Mit einem Trinkgeld brachte ich unseren besonders trägen und
+lässigen Neger auf die Beine, daß er mir im Schlafwagen noch ein
+Bett verschaffte. Denn die ganze Nacht mit den Kleidern in der Ecke
+sitzen, wenn auch der „~reclining chair~“ erlaubte, ihn lang wie einen
+Liegestuhl auszuziehen, erschien mir doch nicht gerade das Ideal zu
+sein, zumal mir +noch+ ein ganzer Tag Eisenbahnfahrt bis nach Neumexiko
+hinein bevorstand. Der Neger, wohlbeleibt und mit breiter Nase, hatte
+mir grinsend und schmunzelnd zugesagt, eine „~upper berth~“, wie das
+meine Gewohnheit war, zu verschaffen. So geschah es auch. Ich stieg in
+dem mit seinen grünen Vorhängen wohlverhängten, besagten Schlafwagen
+als einer der letzten auf der kleinen Leiter in mein hochgelegenes
+Reich und kleidete mich oben aus, barg alles wohl in einer Ecke und
+sah noch nach, ob auch Uhr, Scheckbuch und Börse wohl in ihren Taschen
+waren. Dann legte ich mich ruhig aufs Ohr. Die meisten anderen im
+Wagen schliefen schon den süßen Schlaf des Gerechten und fuhren mit
+mir im Staate Kansas in die Nacht hinein ... „Rumrumrum ... rumrumrum“
+rüttelte der Zug dahin. Bald war man nach dem vielen Sehen und der
+schon etwa 15stündigen Fahrt wohl in den Schlaf gewiegt. Kein Laut
+noch Kindergeschrei störte hier die Stille. Die Auswandererfamilien
+mit ihren Kindern waren der größeren Billigkeit halber in der
+„~tourist-car~“ zurückgeblieben und hatten zwischen den ausgezogenen
+Stühlen ihre Kissen und Decken ausgebreitet. Es war dort das reinste
+„Nachtlager von Granada“. Ich hoffte wohlgestärkt am Morgen in einem
+neuen Staate, Kolorado, von denen jeder allein etwa ein Drittel so groß
+ist wie das Deutsche Reich, wieder aufzuwachen ...
+
+Plötzlich, als ich wohl ein bis zwei Stunden geschlafen hatte, hält
+mir mitten in der Nacht jemand eine Blendlaterne vors Gesicht, rüttelt
+mich am Arm und zieht mir auch schon die Bettdecke weg -- eine recht
+eigenartige Situation. War es ein Überfall? War der Zug von Räubern
+angefallen? Nein. Der Neger bedeutete mir, ich müsse schleunigst aus
+dem Bett heraus ... es sei noch ein Fahrgast eingestiegen, der auf
+das Bett Anspruch habe! Wachte oder träumte ich? Es war leider kein
+Zweifel an der betrübenden Wirklichkeit: Der Schlafwagenneger stand
+grinsend mit seinem breiten, braunen Gesicht vor mir und packte schon,
+ohne meine Antwort abzuwarten, meine Kleider über den Arm und schleppte
+sie davon in die Ecke des Wagens und warf sie dort auf ein anderes
+oberes Bett, das anscheinend noch frei war. Warum er mir das nicht von
+Anfang an gegeben hatte? Ich ergriff die letzten Utensilien hinter ihm
+drein, kaum daß ich Zeit hatte, wenigstens die Unaussprechlichen noch
+anzuziehen. Aber es schlief ja alles im Wagen und sah meinen höchst
+eigenartigen Umzug nicht. Nur der Neger und der neu eingestiegene
+Fahrgast, der schon auf mein wohlgewärmtes Bett wartete! (Übrigens
+pflegen echte Amerikaner nachts einen Schlafanzug anzuziehen, so daß
+für sie ein solch plötzlicher Umzug nicht allzu genierend ausfällt.
+Bei mir als echtem Deutschen war das anders.) Ich war so schlaftrunken
+-- der erste Schlaf ist ja wohl immer der beste -- daß ich kaum
+nachzusehen und nachzuzählen vermochte, ob der Neger auch alles richtig
+herüberbugsiert hatte. Kurz, ich schlief bald wieder ein. Und der
+Zug hielt ja wohl auch in der Nacht nicht mehr ... „Rumrumrum ...
+rumrumrum“ hörte ich es wieder wie im Traum ...
+
+Morgens wachte ich auf bei blendendem Sonnenschein. Ungeheure gelbe
+kahle Ebenen dehnten sich zu beiden Seiten! Der Schlafwagen ward
+lebendig; Männlein und Weiblein strebten nach den Waschtoiletten ...
+Man kleidete sich an. Ich zählte: Alle meine Kleidungsstücke waren
+vorhanden. Die Uhr knöpfte ich in die Weste -- da fühle ich zufällig in
+die innere Rocktasche: wo war mein Scheckbuch? Nun war das Scheckbuch
+weg! Das ganze Erbe der lieben Tante aus Schwaben! Und im Portemonnaie
+waren nur einige Halbdollarstücke und einige Cents. Das reichte
+vielleicht noch einen Tag! Und dann saß ich in Neumexiko, im Herzen
+des nordamerikanischen Kontinents -- 40 Bahnstunden von den nächsten
+Menschen, die mich kannten. Aber auch wenn ich sie telegraphisch um
+Geld zur Rückkehr anging -- sollte nun die ganze Fahrt zu Wasser
+werden? Wie furchtbar! Mir saß der Schreck in allen Gliedern. Wie doch
+der Mensch ahnungslos aus allen Himmeln stürzen kann!
+
+Was tun? Sollte ich mich einem der mir völlig unbekannten Reisenden
+anvertrauen? Keiner würde mir Geld geben! „Selbst“ ist in Amerika
+der Mann! „Steig aus und nimm irgendeine Arbeit an!“ hätte man mir
+vielleicht auf amerikanisch geantwortet. Aber ich mußte ja doch auch
+nach Harvard zurück! Hier konnte ich keinesfalls bleiben. Und wenn
+nun gar jemand mein Scheckbuch gefunden und auf meinen Namen, der mit
+Unterschrift vorne drin stand, mein ganzes Geld abhob! Wie gewonnen,
+so zerronnen! Liegt auf geerbtem Geld kein Segen? „Was du ererbt von
+deinen Vätern hast, +erwirb+ es, um es zu besitzen.“ Darüber hatten wir
+einmal einen Aufsatz machen müssen. Galt das jetzt mir? So schossen mir
+die Gedanken hin und her durch den Kopf. Ach, wenn ich doch sonst was
+verloren hätte, nur nicht die Reisekasse selbst! Ich verwünschte schon
+den Niagara und den Mississippi, daß sie mich überhaupt zu dieser
+Reise verleitet hatten! Hätte ich doch nie in der Washingtonstreet in
+Boston das Auswandererbillett gesehen! Was nutzte mir all das jetzt?
+Und dabei fuhren wir immer weiter, immer weiter fort, für mich ins
+Verderben ... immer tiefer in die Wildnis eines Erdteils ohne Geld!
+Wenn der Zug doch bloß einmal zu ruhigem Überlegen gehalten hätte!
+„Rumrumrum ... rumrumrum“, so schien mich der Zug selbst mit seinem
+endlosen und monotonen Rhythmus zu verhöhnen.
+
+[Illustration: ~CHICAGO~
+
+~Lincoln, der Sklavenbefreier~]
+
+[Illustration: ~CHICAGO~
+
+~Das große Chicago-Fußballspiel (30000 Zuschauer)~]
+
+Ich erkundigte mich, nichts verratend, nach der nächsten Station.
+„Um halb acht Uhr sei Frühstück in Syrakuse, an der Grenze von
+Kolorado“, hieß es. Also da hielt der Zug 25 Minuten, und im Wartesaal
+war Gelegenheit, für 75 Cents warm und reichlich zu frühstücken:
+Hammelkotelette, Huhn und andere schöne Sachen. Was scherte mich jetzt
+das Frühstück? Ich mußte mein Scheckbuch haben. Wenn nur der Zug
+endlich einmal halten wollte und ich Schritte tun konnte! Fuhr er bis
+ans Ende der Welt? Aber wenn ich ausstieg, sollte ich vielleicht dann
+da bleiben, in einem weltverlorenen Städtchen nur noch 200 ~km~ vom
+Felsengebirge entfernt? Nein, mir kam ein besserer Gedanke: Bleiben
+kostete Geld, was ich ja nicht hatte, Fahren kostete mich im Augenblick
+kein Geld, denn mein Rundreisebillett, was bis Chikago zurücklautete
+-- freilich über Kalifornien! -- war ja bezahlt und steckte in meiner
+Tasche. Also weiterfahren und sehen, was dann kommt! Mein Plan war
+gefaßt: In Syrakuse nur aussteigen, um in der Frühstückspause „Schritte
+zu tun“! Ich wußte glücklicherweise die Nummern meiner Schecks genau;
+die hatte ich mir vorsichtig mit Bleistift notiert. Und das Notizbuch
+hatte ich noch! Also auf dem Bahnhof sofort an die Bankzentrale
+depeschiert und die betreffenden Nummern sperren lassen! So war
+vielleicht doch noch mein Erbe gerettet.
+
+Als der Zug endlich hielt, handelte ich kurz entschlossen. Denn
+gestohlen war das Scheckbuch auf jeden Fall! Ich depeschierte.
+Dann trat ich nach Aufgabe meines Banktelegramms nach Boston an
+den diensttuenden ~police-man~ auf dem Bahnsteig und forderte ihn
+energisch auf, sämtliche Reisenden sofort zu durchsuchen oder etwa
+den Schlafwagenschaffner einfach zu verhaften, bis heraus sei, wer
+mein Scheckbuch gestohlen habe. Der ~police-man~, ein Hüne von Gestalt
+und wohl Ire von Geburt, sah mich sehr groß an und an mir herunter
+-- und rührte sich nicht von der Stelle! Erwartete er erst einmal
+ein großes Trinkgeld? Das hatte ich ja nicht. Oder bedurfte er dazu
+höheren Befehls? Wie sollte ich den in der Eile erwirken? Ich mußte
+doch weiterfahren. Enttäuscht und niedergeschlagen wandte ich mich in
+den Wartesaal, gab mein Scheckbuch verloren und setzte mich verzweifelt
+an die „Frühstücks“tafel -- es waren noch 15 Minuten Zeit. Hunger
+hatte ich, mechanisch schlang ich Hammelkotelette und etwas vom Huhn
+hinunter. Aber was half’s? Meine Barschaft schmolz nur um so mehr. Sie
+würde wohl kaum noch diesen Tag überleben. Was dann? So wollte ich
+wenigstens noch einmal gut und vorsorgend gegessen haben. Sollte ich
+mich dann in Los Angeles als Kuli verdingen? Wenn wir nur erst dort
+wären! Bis dahin waren aber noch 48 Stunden mit der Bahn zu fahren!
+Reichte die letzte Mahlzeit bis dorthin?
+
+Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte -- ich hatte mich nicht
+entschließen können, in dem weltverlorenen Syrakuse zu bleiben; und
+das war gut! -- stieg ich wieder ein, wie üblich, von dem kleinen
+bereitgestellten Schemel hinauf auf das sehr hohe Trittbrett und
+meldete jetzt dem Schlafwagenneger meinen Verlust. Grinsend hörte
+er mich an. Ich bedeutete ihm, ich sei der Fahrgast, den er heute
+Nacht aus dem Schlaf geweckt und in das andere Bett gewiesen. Er
+nickte. Durch seine Schuld sei also das Scheckbuch verlorengegangen.
+Er schüttelte. „No, Sir“ war seine Antwort, und er verschwand. Er
+suchte offenbar den Schlafwagen ab, klappte die Betten zusammen --
+und fand natürlich nichts! Mir war längst alles gänzlich vergällt.
+Sah ich sonst mit begeistertem Interesse stets in die Landschaft
+hinaus, so interessierte mich jetzt nichts mehr. Stumm sah ich vor
+mich hin und brütete. Die letzte Hoffnung war dahin. Im Schlafwagen
+nahmen auf den Sesseln die Reisenden wieder Platz. Ich teilte jetzt
+auch anderen meinen Verlust mit und wurde allgemein bemitleidet. Ich
+erwartete bloß noch, daß sie für mich eine freiwillige mildtätige
+Sammlung veranstalteten, daß ich bis Los Angeles zu leben hätte. Aber
+selbst das geschah nicht. Sah ich dazu zu wohlgekleidet aus? Ging sie
+der „~German~“ nichts an? Dachten sie: „Mag er sich’s doch wieder
+verdienen, jung genug ist er“? Ich weiß es nicht. Und wenn wir jetzt
+über die romantischen Pässe des Felsengebirges gefahren wären, ich
+hätte keine Notiz von ihnen genommen ...
+
+So mochten wohl wieder dreiviertel Stunden vergangen sein, da kommt
+der Neger grinsend wieder herein, tritt auf mich zu und hält in der
+Hand triumphierend -- mein Scheckbuch!! Beinahe hätte ich es ihm aus
+der Hand gerissen. Ich wußte nicht, sollte ich ihm um den Hals fallen
+oder gar als vermeintlichem heuchlerischen Dieb eins auswischen. Ich
+unterließ aber lieber beides. An Kraft war er mir sicher überlegen.
+Er hielt das Buch wohlweislich sehr fest. „Ob das meins wäre?“ -- Nun
+natürlich, wie konnte er nur fragen; ich nannte ihm genau die Nummern
+aus dem Notizbuch. Da hielt er es mir näher, immer breiter grinsend
+hin, aber gab es noch nicht frei! Ich griff instinktiv in die Tasche
+und schüttete ihm meine noch übrige Barschaft in die braune Hand. Da
+auf einmal wurde sein breiter Mund schmäler und -- er gab es mir!
+Wie ein Paradiesesstrom floß es durch meine Seele! „~Well, Sir!~“ --
+„Ja, ~well, Sir~, aber wo war es denn?“ Er behauptete: Eben hätten
+es ihm zwei spielende Knaben aus dem Schlafwagen gebracht, die zum
+Versteckspielen unter die Sitze gekrochen wären! Das war möglich; dann
+war es also schon des Abends bei dem nächtlichen Umzug aus der Tasche
+gefallen oder genommen und unter die Sitze gestoßen worden....! ~Well,
+Sir~, alles möglich! Oder ob der gute Neger nicht alles so beabsichtigt
+hatte? Ob er so ein gutes Trinkgeld verdienen wollte? Oder ob er gar
+erst bare Dollarnoten darin vermutet hatte? Mir war’s gleich. Wie
+interessant war sofort draußen wieder die Landschaft! An der nächsten
+Station war ich der erste, der aus dem Zug sprang und wieder an die
+Bank in Boston telegraphierte: „Scheckbuch gefunden, Sperre aufheben!“
+Sie war wohl noch nicht ergangen ...
+
+ * * * * *
+
+Unsere Fahrt ging durch Land wie durch die Wüste Gobi. Zum zweiten Male
+mußte die Uhr eine Stunde, jetzt auf „Mountain-Time“ (Gebirgszeit)
+zurückgestellt werden, wie in Detroit auf „Zentralzeit“. Der
+geographische Mittelpunkt der Union war überschritten. Die Vereinigten
+Staaten haben nämlich wegen ihrer Ausdehnung eine vierfache Zeit: In
+Neuyork ist ~Atlantic time~, in Chikago ~Central time~, im Gebirge
+~Mountain time~ und in Kalifornien „~Pacific time~“, denn dort geht die
+Sonne vier Stunden später auf und unter als an der Küste des Atlantik.
+Auf dem Meer hatten wir täglich die Uhr nur um 20 Minuten zurückstellen
+müssen und auf der Rückfahrt später wieder vor! Da der Bahnzug etwa
+dreimal so schnell fährt als das Schiff, so macht es zu Lande beinahe
+jeden Tag eine Stunde aus, wenn man ständig westwärts fährt. -- -- --
+
+Im Wagen herrschte jetzt wüstes Kindergeschrei, die Babys brüllten,
+die Boys haschten einander. Alles das störte mich in meiner
+Paradiesesfreude nicht. Der Boden des Wagens glich jetzt schon nicht
+mehr einer menschlichen Wohnung, denn jeden Tag mehrten sich der Abfall
+und die Speisereste beträchtlich. Mir gegenüber sog ein Kindchen an
+der Mutterbrust ... es ahnte nicht, wo es ist und wem es entgegenfuhr.
+Welch Pionier wird einmal aus ihm werden? Bei mir saß ein früherer
+Seemann, der schon Australien, die Türkei und England befahren hatte.
+Neben ihm und seinen Schilderungen kam ich mir sehr klein vor ... Staub
+und Rauch nahmen auch ständig zu, dazu die Wärme, denn wir fuhren jetzt
+bereits unter dem 37. Breitengrad, auf dem in Europa -- oder vielmehr
+Afrika! -- die Nordküste von Tunis und Algier liegt.
+
+Vor dem heranbrausenden Zug rasten etliche Pferdeherden in die Steppe
+hinein. Alles war draußen gelb und baumlos. Man sah Zelte wie ein
+Zigeunerlager aufgestellt. Neben der Bahn strich ein schlechter Fahrweg
+mit dünnen und krummen Telephonstangen hin. So fest, gerade und glatt
+wie bei uns sind sie drüben nur in kultivierten Gegenden. Hier und da
+lag ein einsames Lehmblockhaus. Wir traten allmählich in ursprünglich
+spanisches Kulturland und indianisches Siedlungsgebiet ein. Man sah
+einige strohgedeckte Holzhütten. Die Leute ritten auf Maultieren durchs
+Land wie die alten Trapper. Auf den weiten kahlen Steppendünen in der
+Ferne einige dunkle Punkte, die man durchs Glas als weidendes Vieh
+erkennt. Wenn nicht die Bahn die Blutader für diese Einsamkeiten wäre,
+wären sie alle, Mensch und Vieh, hier von aller Welt abgeschlossen. Die
+großen Pazifiklinien haben erst den Westen Amerikas erschlossen. Hier
+war zuerst die Bahn, dann kamen die Menschen der Bahn nachgezogen. Bei
+uns in Europa waren erst jahrhundertelang die Menschen und ihre Städte
+da, dann erst verband sie die Bahn miteinander ...
+
+Wo kriegen die Leute hier nur ihr Wasser her? fragte ich mich. Die
+Wasserläufe schienen alle ausgetrocknet zu sein. Gelbe Wüste reiht
+sich an die salzhaltige Steppe. Regen fällt hier ganz selten, höre
+ich. Wie heiß mag es erst im Sommer sein? Wie grün und fruchtbar war
+es dagegen im Mississippital! Die unentgeltlichen Wasserfässer am
+Ende des Eisenbahnwagens finden immer stärkeren Zuspruch. Eine dünne
+spinnewebfeine Eisenbahnbrücke führt uns über einen sandigen Fluß. In
+Chikago Tausende von Kunstbauten; hier erweckt ein einziger von ihnen
+großes Interesse in all seiner Dürftigkeit. Unter einem dürren Baum
+liegen drei Rinder im Schatten. Im Fluß stehen andere, wie die Kühe im
+Nil zu Pharaos Zeiten. Was könnte hier alles noch werden und wachsen,
+wenn das Land einmal systematisch berieselt und besiedelt sein wird!
+
+Nach Stunden wieder einmal eine weltverlorene Station. Drüben erheben
+sich jetzt mäßig hohe felsige Hügelreihen. Verblichene Baumstämme
+liegen umher und ein paar faulende Knochen. Ich schaue gespannt nach
+dem Felsengebirge aus, aber sehe es immer noch nicht. Die Stationsnamen
+werden immer spanischer. An der Bahnstrecke arbeiten Neger in hohen
+spitzen Strohhüten wie bei uns die Pferde im heißen Sommer. Zwischen
+den Schienen liegen Haufen Sand wie verwehte Dünen ...
+
+In La Junta, einem wichtigen Bahnkreuzungspunkt, ist ~lunch~. Alles
+stürzt hungrig hinaus. Da mein Bargeld am Ende ist und ich hier keinen
+Scheck eingewechselt bekomme, nehme ich ein billiges Mittagessen in
+einem Arbeiter-~saloon~ dicht beim Bahnhof. Warum soll ich nicht einmal
+da essen, wo Arbeiter, Neger, Spanier oder Mexikaner essen? Das Besteck
+und Tischtuch ist freilich nicht allzu appetitlich ... aber es schmeckt
+auch ... Freilich sehen sie mich alle recht erstaunt an ...
+
+Nach 25 Minuten dampfen wir weiter in nun fast genau südlicher Richtung
+durch den Südostzipfel des Staates Kolorado. Hügeliges Tafelland
+beginnt. So denke ich mir etwa Südafrika. Wilde Wasserfurchen zeichnen
+sich im Sand ab. Ein wenig Föhrengestrüpp ist das einzige, was hier
+wächst. Hier muß es, wenn es regnet, sehr heftig regnen. Man sieht es
+an den verhärteten Furchen. Die Bahn steigt ständig. Wir sind schon
+1000 ~m~ hoch! In der Richtung aufs Gebirge ist es leider wolkig und
+umzogen, sonst sähe man jetzt das Felsengebirge. Man erblickt die Kette
+der Rockies bei klarer Sicht über 250 Meilen weit! Meine Erregung
+steigert sich. Wann werde ich die Berge zuerst wahrnehmen? Ich bin
+gespannt wie einst, als wir als Studenten das erste Mal in die Alpen
+fuhren ...
+
+Mit einem Male sind wir auf eine weite hohe Ebene hinaufgeklommen, an
+deren hinterem Rande jetzt stattliche hohe blaue Bergketten sichtbar
+werden; hinter ihnen noch höhere, die aber nicht deutlich zu sehen
+sind. Ein paar Pferdeherden im Vordergrund bilden die einzige Staffage
+zu diesem grandiosen Bild. Sonst rings kein Baum und Strauch. Das
+müssen die Ketten des Felsengebirges sein. Sie sind es! Ziemlich links
+erhebt sich die Koloradokette mit etwas Schnee auf den Berghäuptern,
+tiefblau, bis über 4000 ~m~ hoch. Man sieht jetzt die Bahnlinie eine
+weite Strecke vorwärts an den langen Zeilen der Telephonstangen, die
+wie eine Streichholzpallisade in der Erde stecken. Stracks fahren
+wir auf die Berge zu. Es wird immer öder. Rechts drüben erhebt sich
+gigantisch der berühmte Pikes Peak bei Denver, einer der höchsten und
+am weitesten in die Mississippiebene vorgeschobenen Gipfel (4300 ~m~).
+
+Wie leicht rollt der Zug über die Riesenebene! Wieder mächtige wilde
+Wasserrinnen! Wie mag hier der Regen hausen! Aber mitten in der
+einsamen Wüste auch ein -- Reklameschild an der Bahn: „Star-Tobacco!“
+Die ersten Indianerpueblos[23] tauchen auf mit ihren fast fensterlosen
+niedrigen Lehmhütten. Braune und schwarzhaarige Kinder spielen
+davor. Ein Güterzug kommt uns auf der eingleisigen Strecke entgegen.
+Die Züge verständigen sich schon aus der Ferne durch gegenseitiges
+lautes Pfeifen darüber, wo man sich ausweicht. Jener hält lange an
+der Ausweichstelle und wartet auf uns, bis wir vorüber sind. Aber
+wie machen sie es im Nebel und bei Nacht? Der Güterzug rollt die
+Schätze Kaliforniens nach Chikago. Die „Straße“ neben der Bahnlinie
+ist jetzt nur noch eine einzige feine Räderfurche im Sand. Ruhig,
+stolz und tiefblau schauen die Berge zu uns herüber. Wir halten an
+Station Trinidad, 1800 ~m~ über dem Meere, einem altmexikanischen
+Städtchen unter einer hohen Bergspitze, fast schon an der Grenze von
+Neumexiko. Die kleinen Orte sind hier meist nicht viel mehr als ein
+Haufen Lehmhütten wie im primitivsten Italien oder im Orient. Die
+mexikanischen Häuser sind sehr niedrig, die Straßen breit. Alles hat
+einen vollkommen südlichen Charakter. Die Männer (Mexikaner) tragen
+einen breitrandigen Schlapphut, den Italienern ähnlich, und haben
+feurige schwarze Augen.
+
+Die Bahn steigt weiter steil an wie über den Apennin. Alles ringsumher
+bleibt kahl und steinig. Kein grünes Hälmchen ist zu sehen. Alle
+Frühlingspracht Missouris ist verschwunden. Wir fahren durch ein
+schmales höchst malerisches Felsental, dann durch einen Tunnel auf
+einer Paßhöhe von fast 2400 ~m~! (Die Gotthardbahn erreicht bei
+Göschenen nur 1100 ~m~!) Jenseits des Tunnels senkt sich die Trasse
+wieder beträchtlich. In Station Ratton stehen Sattelpferde an der Bahn,
+ankommende Reisende abzuholen. Wir sind mitten im Gebirge. Ringsum ist
+der Blick durch hohe malerische Bergketten eingeschränkt. Aber alles
+ist noch viel weitläufiger und riesiger als in den Alpen. Inzwischen
+umziehen sich die Berge, Wolken hüllen uns ein. Regenschauer prasseln
+nieder. Aber draußen herrscht wunderbar frische, würzige Bergluft,
+drinnen im Wagen aber ist die Luft zum Umkommen ...
+
+Wir fahren wieder aufs neue über mächtige Hochebenen in beinahe 2000
+~m~ Höhe, die von hohen bewaldeten Bergketten eingesäumt sind. Noch
+einmal taucht die Abendsonne nach dem Regen über dem Schnee der Berge
+empor, dann versinkt sie. Das Felsengebirge ist, wie ich jetzt schon
+bemerkte, kein geschlossenes Gebirge wie die Alpen, sondern eine
+Sammlung von hohen Randgebirgen, die in sich ungeheuerliche Hochebenen
+einschließen. Das Gestein leuchtet bald rötlich, bald grünlich. Wem
+gehört all dies Land? Auf drei Bahnstunden keine menschliche Wohnung!
+Neumexiko hat bei einer Größe von 317000 ~qkm~ eine Bevölkerung von
+nur 200000 Einwohnern, also eine Dichte von 0,6 auf 1 ~qkm~. Auf
+eine Entfernung Frankfurt a. M.-Karlsruhe oder Dresden-Leipzig keine
+nennenswerte Siedlung!
+
+Während die Abenddämmerung einbricht, tauchen neue schneebedeckte
+Bergketten unter den Wolken auf. Geheimnisvoll! Sind alle diese Berge
+schon bestiegen? Wie lange Jahrtausende hausten hier die Indianer
+allein? Beinahe um zehn Uhr Sonnabend abends bei stockdunkler Nacht
+bin ich in Lamy Junction. Ich verlasse mit noch zwei Personen den Zug,
+um nach Santa Fé, Neumexikos Hauptstadt, umzusteigen. Seit Freitag
+früh hatte mich der Zug beherbergt. Er war einem wie zu einer Heimat
+geworden. Ohne Unfall hatte er mich von den großen Seen des Nordens
+quer durch die ganze Mississippiebene bis ins Herz des Felsengebirges
+gefahren. Man empfand so etwas wie Dankbarkeit ihm gegenüber, als
+man ihn verließ und er in die stockdunkle Nacht wieder auf- und
+davondampfte.
+
+Nun saß ich nachts zehn Uhr mit zwei anderen wildfremden Menschen,
+einem Mann und einer Frau, auf dem kleinen Bahnhof dieses winzigen
+und herzlich unbedeutenden Nestes, Lamy genannt, noch 1200 ~km~ vom
+Stillen Ozean, beinahe 3000 ~km~ von Neuyork, über 6000 ~km~ von der
+Heimat oder vier Monate Fußwanderung entfernt! Es dauerte eine volle
+Stunde, bis der kleine Zug nach Santa Fé weiterging, der uns drei
+Menschen beförderte. Rings war rabenschwarze Nacht. Kein Lichtsignal,
+kein Anzeichen von menschlichen Wohnungen! Nach 18 Meilen Bahnfahrt
+waren wir etwa um Mitternacht in Santa Fé, der etwa 5000 Einwohner
+zählenden kleinen altmexikanischen Hauptstadt des jüngsten Staates
+der Union, Neumexiko, beinahe unter dem 35. Breitengrad, also in Höhe
+Maltas, Kretas und Zyperns gelegen. Aber von all seiner Schönheit und
+Altertümlichkeit war in der stockfinstern Nacht vorerst gar nichts zu
+sehen. Der Bahnhof lag ein wenig draußen. Ich sah mich um. Kein Mensch
+war weit und breit. Ich ging wie die anderen beiden eine völlig dunkle
+Straße stadtwärts, beziehungsweise in der Richtung, wo man sie etwa
+vermuten konnte. Am kleinen Bahnhof wurden die Lichter ausgelöscht. Nun
+war aber auch alles stockfinster. Meine Reisegenossen gingen einige
+Schritte vor mir. Sie kannten anscheinend ihr Ziel.
+
+Da kam uns ein einfacher Mann entgegen, soweit man erkennen konnte. Er
+wechselte mit den beiden vor mir ein paar Worte. Die Frau ging weiter.
+Der Mitreisende aber blieb stehen, mit einer einfachen Ledertasche in
+der Hand. Jetzt kam der Fremde auch auf mich zu. Was wollte er? War
+es Freund oder Feind? „Ob ich schon Nachtquartier hätte? Ich könnte
+bei ihm billig schlafen.“ Da der andere schon zugesagt hatte, willigte
+auch ich ein. Mitgegangen, mitgehangen! Ich wundere mich noch heute,
+wie ich damals um Mitternacht in Santa Fé in völliger Finsternis einem
+mir völlig unbekannten Mexikaner mit einem anderen, der mir ebenso
+unbekannt war, in sein Haus folgen konnte. Wenn man mich hier etwa in
+der Nacht aufgehoben hätte, so hätte wohl kaum jemand je erfahren, wo
+und wie ich eigentlich von der Welt verschwunden wäre. Aber an diesem
+Buche sieht der Leser, daß ich am Leben blieb. Ich wollte auch zunächst
+die Schlafgelegenheit erst einmal „besichtigen“. „Es sollte nah sein,“
+sagte der Fremde, „aber in die Stadt noch weit.“ So wollte ich einmal
+das Abenteuer probieren. Hatte ich in einem sehr feinen Haus in
+Neuyork unter ~bed-bugs~[24] leiden müssen, so brauchte ich mich gewiß
+hier im Felsengebirge nicht über sie zu beklagen; aber vielleicht ging
+es sogar ohne sie ab.
+
+Wir kamen nach ein paar Minuten an einem kleinen Haus an. Alle Läden an
+ihm waren geschlossen. Insofern machte es einen mystischen Eindruck.
+Der Mexikaner öffnete und führte uns eine Treppe hinauf. Eine alte Frau
+steckte in Nachtkleidung den Kopf aus einer halbgeöffneten Tür. Er
+murmelte zu ihr ein paar mir unverständliche Worte auf spanisch; darauf
+verschwand sie und erschien nachher notdürftig angekleidet mit einer
+kleinen Wasserkanne und einem Ding, das wohl ein Handtuch vorstellen
+sollte. Mein Begleiter bekam rechts ein Gemach, ich links. Das meine
+war noch etwas vornehmer und größer, enthielt außer dem Bett sogar eine
+Kommode und einen kleinen Waschtisch. Ich akzeptierte, der andere auch.
+Was sollte ich jetzt in Santa Fé nach Mitternacht nach 39stündiger
+Bahnfahrt noch lange nach einem Zimmer herumlaufen? Eine Räuberhöhle
+oder Verbrecherfalle schien es ja nun auch nicht gerade zu sein.
+Schließlich sind auch die Mexikaner Menschen wie wir, dachte ich, und
+der andere war ja auch noch zur etwaigen Hilfeleistung und Verteidigung
+da. Beim Schein einer Kerze, die ich dankend angenommen hatte, schaute
+ich zuerst, als ich allein gelassen war, in meiner Kammer unters Bett,
+ob keiner etwa drunter läge, der nachher, wenn ich schlief, hervorkäme
+und mich vielleicht beraubte. Schließlich verrammelte ich noch zur
+Sicherheit die Türen mit der Kommode und dem Waschtisch. Sollte also
+ein nächtlicher Angriff von dorther geplant sein, so würden mich
+mindestens die umstürzenden Möbel noch rechtzeitig aus dem Schlaf
+wecken. Das Fenster schloß ich, erstens von wegen des Einsteigens --
+was sich ja sogar einmal ein Bonsels geleistet hat! -- zweitens von
+wegen der auf 2100 ~m~ Höhe trotz des 35. Breitengrades empfindlichen
+Nachtkühle. Dann untersuchte ich das Bett auf kleine Schlafgenossen
+hin, fand aber nichts Bedenkliches und legte mich zuletzt sorglos
+hinein ... um nach prachtvollem Schlaf -- die 39 Bahnstunden saßen
+mir doch recht in den Gliedern -- am anderen Morgen, einem Sonntag, um
+sieben Uhr bei strahlendem Sonnenschein wohlgestärkt zu erwachen ...
+
+Ich sah mich in dem hellen Zimmer um. Es war alles bescheiden und
+einfach, aber ganz ordentlich. Das Fenster war noch geschlossen, es war
+also niemand des Nachts eingestiegen. Die Kommode stand noch geduldig
+hinter der Tür, also auch von dort hatte sich kein Feind genaht.
+Scheckbuch und Uhr waren auch noch vorhanden! Was wollte ich mehr? Ich
+sah aus dem Fenster und ließ die herrliche Morgenluft hereinströmen und
+sagte zu mir selbst: Nun bist du wirklich in Neumexiko, und die Berge
+dort drüben sind ein Stück Felsengebirge. Alles war wie ein Traum! --
+-- --
+
+Ich kleidete mich rasch an, um die Stadt zu besehen und möglichst auch
+noch heute in die Berge zu kommen. Denn durchs Felsengebirge zweimal
+quer hindurchzufahren und auf keinen Berg zu kommen, dünkte mir ein
+Ding der Unmöglichkeit. Ich pilgerte bald in das Städtchen und fand
+es nicht so weit vom Bahnhof, als ich vermutet hatte. Bald stand ich
+auf seinem Marktplatz. Während man sonst in amerikanischen Städten
+durch „Wolkenkratzerkañons“ zum Zentrum kommt, war man hier wie in
+einer völlig anderen Welt. Eine belaubte und schattige, rechteckige
+nicht allzugroße stille „~plaza~“ wie in einem süditalienischen
+oder spanischen Landstädtchen öffnete sich als der Mittelpunkt des
+„Verkehrs“. Ihn bestritten einige in der Sonne sitzende kleine
+schwarzhaarige Mexikaner in ihren breiten Schlapphüten und hier und
+da ein echtsüdlicher zweirädriger Eselskarren. Die eine Längsseite
+der ~plaza~ säumte der alte dreihundertjährige „~governors palace~“,
+ein einstöckiges flachgedecktes, etwas verfallen aussehendes
+langgestrecktes Gebäude, das heute ein Museum birgt. Fast vornehm wie
+eine versunkene Pracht wirkten seine Säulenkolonnaden. Einst war es
+die „Residenz“ spanischer, mexikanischer und auch noch amerikanischer
+Gouverneure. General Lewis Wallace, der 1879-82 Gouverneur von
+Neumexiko war, schrieb hier seinen vielgelesenen Roman „Ben Hur“!
+Wahrhaftig, hier herum hatte er auch das passendste Milieu dazu, denn
+Neumexiko steht an Vegetation, Bergwelt, Bauweise und Klima in nichts
+dem heiligen Lande nach. Still und ehrwürdig klangen die Glockenschläge
+der nahen zweitürmigen, aber im ganzen einfachen romanischen
+„Kathedrale“ des heiligen Franziskus, die zur Morgenmesse riefen
+und auf die Mexikaner und katholische Indianer aus den umliegenden
+Siedlungen zustrebten. Es war Sonntag. Auf altspanischem Boden
+herrscht noch heute der Katholizismus. Santa Fé ist für amerikanische
+Zeitverhältnisse uralt. Schon 1542 fanden hier die Spanier ein großes
+Indianerpueblo vor, als selbst Neuengland noch kein Weißer betreten.
+Und noch heute wohnen zahlreiche Indianer auch in der Stadt. Die
+Sträßchen um die ~plaza~ lagen still und verlassen. Die schlichtesten
+Lehmbauten, die Läden vor der schon am frühen Morgen recht warm
+scheinenden Sonne herabgelassen, waren hier aneinandergereiht. Man
+hätte auch in Assisi oder sonst wo in Mittelitalien in einem verlorenen
+Bergstädtchen sein können!
+
+Welch wohltuende Ruhe in diesem alten Städtchen! Hier einmal dem
+Weltverkehr mit seinem Expreß, seinen Autos, Wolkenkratzern und
+Millionenstädten vollständig entronnen zu sein, war ein Labsal! Hier
+hätte ich am liebsten gleich vier Wochen zugebracht! Aber mich zog es
+noch weiter in die Bergwelt, die ringsumher ihr Haupt hob ... Freilich
+bis auf die Schneegipfel würde ich wohl nicht kommen, das war mir klar.
+Aber vielleicht auf die in mittlerer Höhe vor ihnen? Santa Fé selbst
+liegt schon 2147 ~m~ hoch. Die Gipfel, die seine mächtige Hochebene
+säumen, mögen wohl 4000 ~m~ hoch sein, und das „Mittelgebirge“ vor
+ihnen vielleicht gegen 3000 ~m~. Das war also mein Ziel.
+
+Ich nahm gleich den nächsten Berg aufs Korn. Hinter der Stadt stiegen
+einige wegähnliche Gebilde durch die Felder und Weinberge bergan.
+Da mußte es emporgehen. Es war mir gleich wohin. Die Richtung nach
+Santa Fé zurück würde ich schon immer wieder finden. Im letzten Laden
+der Stadt verproviantierte ich mich ein wenig mit Brot, Konserven
+und eingemachten Früchten. Das sollte oben mein Mittagessen sein.
+Dann stieg ich wacker bergan ... Die Sonne schien heiß, obwohl es
+noch zeitig am Morgen war. Immer noch kamen mir einzelne Mexikaner,
+den ausgezogenen Rock den Italienern gleich frei über eine Schulter
+gehängt, aus den umliegenden Orten, und auch vereinzelte Indianer in
+bunten Decken, einen holzbeladenen Esel vor sich hertreibend, den
+Hohlweg herab. Jedem von ihnen schaute ich nach und bestaunte sie:
+Leibhaftige Mexikaner und Indianer! So klein, braun und schwarz wie
+etwa bei uns die Zigeuner, mit denen sie als ursprüngliche Mongolen (?)
+vielleicht auch rassemäßig zusammen gehören.
+
+Von einer roten Farbe sah ich allerdings keine Spur. Vielleicht waren
+die roten Indianer weiter im Norden und Osten. In schwarzen langen
+Strähnen hing ihnen das Haar in den Nacken; es kamen nur Männer.
+Frauen und Kinder blieben wohl daheim in ihren „~pueblos~“, den fast
+fensterlosen und nur mit Leitern zu ersteigenden flachen Lehmhäusern.
+Bald aber kam niemand mehr. Was sie wohl von mir dachten? Hier und
+da sah einer dem Fremden nach. Ob schon je einer hier heraufstieg?
+Wenn nun ein paar vielleicht von ihnen heimlich umkehrten und mir
+etwa auflauerten? Mein kleines Taschenmesser wäre meine einzige Waffe
+gewesen, aber auf wie lange? Mit Revolver und Büchse war ich noch nie
+in die Wildnis gezogen ... In solche Rolle hätte ich mich auch nicht so
+leicht finden können.
+
+So stieg ich wohlgemut auf Schusters Rappen höher und höher. Den
+Hohlweg hatte ich verlassen, der schien mir zu weit ab und zu wenig in
+die Höhe zu führen. Rechts hinauf war noch eine Zeitlang so etwas wie
+ein Jäger- oder Wildpfad, der zwischen dem fast mannshohen stachlichten
+Gesträuch hinaufführte. Dann hörte auch der auf. Einige Fliegen folgten
+mir summend, sonst war es völlig still. Die Sonne meinte es sehr gut.
+Kein schattenspendender Baum war ringsum. Ein Wiesel huschte vor mir
+über den Weg und verschwand scheu. Im Gebüsch raschelte es manchmal
+wenig anheimelnd. Waren es Schlangen? Gar giftige? Ich mochte nicht
+erst untersuchen, sondern setzte meinen Anstieg, der immer steiler
+wurde, unentwegt fort. Hier lag ein gebleichter Ziegenschädel. Der Balg
+des Tieres war verschwunden. Und dort ein zerzauster Vogel. Hatten
+hier Kämpfe stattgefunden? Waren hier Raubtiere (Pumas?) in weidende
+Herden auf den Bergen eingebrochen? Gab es hier sonst noch Gefahren?
+Ich wußte es nicht und stieg bergan.
+
+Kein Mensch war weit und breit. Santa Fé lag schon eine sehr gute
+Strecke unter mir. Seine wohlgeformte Kapitolskuppel leuchtete in
+der Sonne, sonst schrumpfte alles andere des Städtchens auf einen
+ziemlich engen Raum zusammen. Ein Ruf wäre nicht mehr hinabgedrungen.
+Gab es auch hier oben Indianer? Friedliche oder räuberische? Karl
+Mays Indianergeschichten, einst in der Jugend verschlungen, tauchten
+in meiner Erinnerung wieder auf. Ich sah rauchende warme Skalpe
+am Gürtel hängen. Passierte das heute noch? Ich hatte noch nichts
+dergleichen in den Zeitungen gelesen. Zugüberfälle und Lynchjustiz an
+Negern, die weiße Mädchen überfielen, pflegten vorzukommen, aber auch
+Pistolenschießereien und Eifersuchtsszenen in den Südstaaten, wo das
+alte heiße und stolze Kreolenblut noch in den Adern rollt. Sollte ich
+lieber umkehren, um nicht etwas zu riskieren? Aber wozu? Vielleicht war
+ich hier oben sicherer als mitten in Chikago oder Neuyork. Sollte ich
+mich nachher vor mir selber schämen? Ich stieg weiter empor ...
+
+Nach einer Weile hielt ich eine kleine Rast und schnitt eine Büchse
+mit in der Hitze besonders lieblich schmeckenden Aprikosen auf und aß
+von meinem Brote. Dann stieg ich höher. Nur Stechpalmen und Kakteen
+begleiteten mich noch. Vom Weg war schon lange keine Spur mehr. Nicht
+einmal Tritte waren zu sehen. Jeder Schritt mußte jetzt erobert werden.
+Dicht und dichter wurde das stachelichte Gebüsch. Aber die Schneegipfel
+ringsum hoben sich auch immer höher und unersteiglicher. Ich nahm
+mir einen Bergabsatz als Ziel, der mir noch erreichbar schien. Die
+Sonne stieg auf Mittaghöhe und leuchtete unbarmherzig vom wolkenlosen
+strahlend blauen Himmel. Endlich unter viel Schweißtropfen nach viel
+Klettern und Kriechen war das Ziel erreicht. Meine Hände waren blutig
+gerissen. Noch immer sah man Santa Fé, aber wie in einer tiefen Ebene
+gelegen. Wie hoch mochte ich jetzt sein? Die Aussicht war überaus
+großartig. Wie stumme Helden umlagerte mich die Kette der Schneegipfel.
+Wie weltverloren zitterte dünn und fern der Pfiff einer Lokomotive
+herauf. Durch die weite Hochebene wand sich eine winzig kleine schwarze
+rauchende Schlange -- der Sonntagszug. Als ich die Reste meines
+Proviants verzehrt hatte, schlief ich, ohne es zu merken und zu wollen,
+hier oben müde von dem dornigen, steilen und heißen Anstieg ein. Auch
+lag mir wohl noch die 39stündige Bahnfahrt von Chikago her in den
+Gliedern ...
+
+Als ich wieder gestärkt von der herrlichen Bergluft erwachte, schaute
+ich mich verwundert um. Wo war ich? Ich merkte, daß ich geschlafen
+haben mußte. Ach, da unten lag ja Santa Fé. Ich war in Neumexiko, und
+diese Berge sind ja ein Stück Felsengebirge! Das ganz unbeschreiblich
+Eigentümliche meiner weltverlassenen Situation wurde mir wieder klar.
+Schlangen waren nicht gekommen, auch keine räuberischen Indianer
+hatten mich angefallen. Keine Moskitos hatten mich gestochen ... Ich
+zog die Uhr. Mittag war vorüber! Es war Zeit, schleunigst umzukehren,
+wieder unter Menschen zu gehen, wenn ich noch mehr sehen wollte. Wie
+gerne wäre ich weiter hinaus in die Bergwelt gestiegen, bis hin zu
+den Indianerpueblos und -reservationen, aber ohne jede Begleitung und
+besondere Ausrüstung war es doch wohl zu gewagt. Dazu gehörte vor allem
+Reittier und Führer ...
+
+Der Abstieg ging natürlich viel rascher vonstatten als der Anstieg.
+In über einer guten Stunde war ich wieder in der Nähe der Stadt auf
+Wegen. Ich hatte einen kleinen Bachkañon mit Maultierspuren gefunden,
+wirkliche echte „Indianerpfade“, denen ich folgte. Denn alle Begriffe
+von Wegweiser, Farbzeichen, gebauten Wegen und etwa gar Ruhebänken
+wären im Felsengebirge eine bare Lächerlichkeit ...!
+
+Als ich wieder auf die „~plaza~“ kam, saß da jetzt die ganze Stadt
+unter den belaubten Bäumen versammelt. Wie bunt waren die Kleider der
+Mexikanerinnen! Bei den Weisen einer konzertierenden Kapelle saß man,
+plauderte, rauchte und sah in die Sonne ... ein genügsames Völkchen!
+
+Trotz ungewöhnlicher Wärme -- es war noch Anfang April -- ging
+ich am Nachmittag noch in anderer Richtung hinaus vor die Stadt,
+eine +Indianerschule+ zu besuchen, die der Staat zur Ausbildung
+und Erziehung tüchtiger indianischer Bürger eingerichtet hat. Die
+Schule war eine Art Internat und großes Pensionat, ein umfänglicher
+Gebäudekomplex mit Kapelle, Wirtschaftsgebäuden, Werkstätten, Wohn-,
+Lehr- und Schlafräumen und großen Spielplätzen. Als ich die Schule
+betrat, strömten die Indianerbuben, große und kleine, gerade aus der
+Kapelle aus der Sonntagsschule, alle in blauen Uniformen mit blanken
+Knöpfen, ihrer Schulkleidung. Dann stürmte alles hinaus aufs ~camp~
+zum Spiel. Ich ließ mich zunächst beim Schulleiter, dem sogenannten
+„Superintendent“, melden und bat um die Erlaubnis der Besichtigung,
+was mir auch freundlichst gewährt wurde. Freilich auf eine lange
+Unterhaltung mit mir ließ sich der Herr „Superintendent“ jetzt an
+seinem freien Sonntagnachmittag nicht ein, denn er war gerade mit
+seinem Freund, dem Arzt der Stadt, übrigens einem Herrn +deutscher+
+Abstammung aus Michigan, beim Schachspiel. Das mochte er offenbar nicht
+unterbrechen. Er war zwar gemütlich und entgegenkommend, aber ein wenig
+unhöflich, indem er vom Schachtisch nicht einmal aufstand, um mir nur
+die Hand zu schütteln. Aber ich war es ja vielleicht auch, unangemeldet
+Sonntag nachmittag um halb vier Uhr ihm ins Haus zu fallen. Er fragte,
+ob ich nicht morgen wiederkommen könnte. Da wollte ich schon in die
+1000 ~m~ tiefe Schlucht des Grand Cañon sehen ... Also das ging nicht.
+
+Der Schulsuperintendent klingelte seinem Adjutanten, einem der
+Lehrer der Anstalt, einem Mr. G. Der erhielt den Auftrag, mich zu
+führen. Was er auch in der allerausführlichsten Weise tat. Mr. G.
+war selbst Indianer(!), freilich in europäischer Kleidung wie alle
+die Indianerjungen. Schade! Wieviel romantischer hätten sie in ihrer
+Nationaltracht ausgesehen! Aber das nennt sich ja „Kultur“, alles
+Bodenständige, Individuelle und Originelle möglichst auszurotten
+und alles grau in grau zu nivellieren. So werden auch bald die
+zivilisierten Indianerjünglinge ihr höchstes Ideal darin sehen,
+Strohhut, Kravatte, Blusenhemd, Gürtel und Hosenfalten genau nach
+Neuyorker Vorschrift zu tragen ... Mr. G. führte mich durch die weiten
+Schlafsäle, in denen die Betten ebenso sauber und ordentlich in Reih
+und Glied standen wie in einem deutschen Schulinternat, dann in die
+Baderäume mit ihren Duschen. Waschgeschirr im Schlafzimmer kennt ja der
+Amerikaner nicht. Hier muß es ein unterhaltendes Schauspiel sein, die
+200 munteren braunen kleinen Kerle planschen und spritzen zu sehen.
+Dann gingen wir durch die Schulzimmer, wo sie an einzelnen Tischchen
+und auf Schemeln sitzen, in die Werkstätten, wo jeder irgendein
+Handwerk lernt, in die Anstaltsgärten mit ihren wohlgepflegten Feldern
+und Obstplantagen -- welche Freude, diesen südlichen Reichtum zu sehen!
+-- und endlich zuletzt in die katholische Kapelle, wo Franziskanerinnen
+die Sonntagsschule halten. Der „~disciplinarian~“ -- das war Mr. G.s
+offizieller Titel -- machte mich auch aufmerksam auf die Unterschiede
+an den Uniformen der Knaben, wer Kapitän, Adjutant, Leutnant u. dgl.
+sei. Die Anstalt ist also nach dem Prinzip des amerikanischen ~self
+governement~ der Schüler ein sich selbst regierender Schulstaat,
+der der Jugend viel Spaß bereitet und mit großem Ernst von ihr bis
+zum Schulgerichtshof gehandhabt wird. Zu allerletzt führte mich
+Mr. G. in seine eigene Wohnung und stellte mich seiner Frau vor --
+einer geborenen Mecklenburgerin! Diese Landsmännin war in Santa Fé,
+Neumexiko, schon 18 Jahre mit einem Indianer verheiratet! ...
+
+[Illustration: ~DIE SAN FRANCISCO-BERGE IN ARIZONA~]
+
+Ich verabschiedete mich mit großem Dank von dem „~disciplinarian~“,
+ließ mich dem Herrn Superintendenten empfehlen und begab mich noch
+hinaus zu dem 20 Minuten abliegenden Spielplatz, wo die Indianerbuben
+jetzt ihren Sonntagnachmittagsbaseball spielten. Von fern sahen sie
+in ihren blanken Uniformen fast aus wie preußische Kadetten. Aber nun
+konnte ich sie auch recht in der Nähe betrachten. Von 10-16 Jahren
+waren alle Altersklassen vorhanden. Lauter braune stämmige Bürschchen
+und Burschen mit starken Backenknochen, langem schwarzglänzenden
+strähnigen Haar und einem leichten Anflug von Kupferröte auf den
+braunen Backen! Wie merkwürdig! Da lernen nun die Kinder von
+„Adlerfeder“ und „Falkenauge“ usw., einst der Schrecken der Weißen,
+Englisch, Geographie und Geschichte, um einmal als Normalamerikaner in
+Denver oder Chikago oder wo sonst eine kaufmännische oder staatliche
+Stelle zu bekleiden und im Amerikanismus aufzugehen. Der Stammverband
+löst sich, ihre Religionen sind gestorben, die Götzenbilder wandern in
+die Museen, und der Medizinmann findet keinen Glauben mehr. Der Sinn
+für Krieg und Jagd ist dahin; sie sollen „~good citizens~“ werden.
+Reklameindianer bieten in ihren bunten Trachten auf den Bahnhöfen der
+Santa Fé-Eisenbahn ihre Erzeugnisse, bunte Teppiche und Töpfe, feil
+oder führen Nationaltänze in den Bars der großen Hotels auf. So endet
+die alte Geschichte der Indianer in der Neuzeit! Freilich die alten
+runzligen Weiber in ihren Perlschnüren und die am Feuer kauernden
+Männer in ihren bunten Decken sind kein dauerndes Menschheitsideal.
+Aber wehmütig war mir es doch, diese Indianerjungen beim Baseball
+statt beim Pfeilschießen und Pferdereiten zu sehen ... Im Garten der
+Anstalt saßen einige ihrer Väter mit braunen runzligen Gesichtern,
+fransenbesetzten Lederhosen und einem turbanartigen Tuch um das
+glänzend schwarze, langgeschorene Haar. Ein bißchen heroischer hätte
+ich sie mir allerdings vorgestellt ...!
+
+ * * * * *
+
+Am Abend zog nach dem heißen Aprilsonntag ein Gewitter auf. Stahlblau
+sammelten sich die Wolken an den Bergen. Über den Schneehäuptern
+zuckten gelbe Blitze. Sie spiegelten sich in den blendenden Fenstern
+des adligen Kapitols, dessen Kuppel aus seinen üppigen Gärten mich zum
+Abschied grüßte. Ich erreichte gerade noch vor dem Gewitterregen den
+Bahnhof und bestieg wieder den Zug nach Lamy, wo sich heute am Sonntag
+Abend am Bahnhof ganze Haufen von Indianern in voller Tracht tummelten.
+Es war immer derselbe Eindruck: Tiefbraune Gestalten, schwarze,
+langsträhnige Haare, bunte Umschlagetücher und befranste Hosen ... So
+erwarteten sie den Kaliforniaexpreß und boten während des Aufenthalts
+ihre ohne Tonscheibe geformten und mit der Hand schön bemalten Tonwaren
+an.
+
+Es war schon dunkel geworden, und ich war wieder im Schlafwagen. Leider
+durchfuhren wir gerade jetzt in dieser Nacht eine sehr interessante
+Gegend am breiten und reißenden Rio Grande entlang, der fast doppelt so
+lang als der Rhein schließlich sich in den Golf von Mexiko ergießt. Wir
+passierten Albuquerque, wo sich die Eisenbahn nach dem Zentrum Mexikos
+abzweigt, nach El Paso, Chihuahua und Mexiko ... freilich eine Reise
+von hier etwa noch zwei Tage weit. Dürr, eintönig und wenig bewässert
+ist rings das Land. Yuccapalmen, oft vielemannshohe Kakteen und
+Wermutsträucher sind die einzigen Steppenpflanzen, die hier fortkommen.
+An den Berghängen gedeihen Föhren und Zedern ...
+
+Als ich am Morgen erwachte, dehnten sich rechts und links der Bahn
+wieder ungeheure Hochwüsten, kahle Felsen warfen scharfe Schatten; die
+Luft war ganz trocken und rein. Sonniges Himmelblau spannte sich über
+einem rötlich schimmernden Lehmboden. Hier und da sah man halbwilde
+Rinderherden, die von Cowboys zu Pferde umstellt und umkreist,
+eingefangen und zur Tränke oder zum Transport getrieben wurden.
+Herden oft von mehreren hundert bis tausend Stück, ein wimmelndes,
+buntbewegtes Schauspiel ...
+
+In Winslow -- wir sind noch immer 1470 ~m~ hoch -- war
+„Frühstücksstation“. Ja, wie das wohltut, einmal wieder aus dem
+ewigfahrenden Eisenbahnwagen auf 25 Minuten aussteigen zu dürfen,
+wieder nach einer durchfahrenen Nacht als Mensch auf dem Erdboden
+sich in freier Luft und Sonne zu ergehen und die steifen Beine wieder
+bewegen zu können! Alles stürmte aus dem wieder zur Heimat gewordenen
+Wagen in den „Speisesaal“ der Station. Zum ersten Male bedienten hier
+chinesische Kellner, ein Zeichen, daß wir uns Kalifornien näherten, das
+sein Angesicht schon gen Asien wendet. Was man also in Amerika alles
+antrifft! Das Bild wurde immer bunter: Neger, Indianer, Chinesen, dazu
+die ganze Völkerkarte Europas ...
+
+Wohlgestärkt fahren wir wieder ab. Mit zehn Pullmanns und zwei
+Maschinen fauchen wir über die Hochebene. Nach etwa zweistündiger Fahrt
+stoppt der Zug auf ein Flaggensignal mitten in der Wüste. Was ist los?
+Ein Unglück? Sind wir an einer Station? Bahnwärter oder Bahnbeamte
+u. dgl. sind nirgends sichtbar. Ein paar braune Gestalten kauern unter
+einem Schuppen. Ein einziger Passagier „steigt“ tatsächlich „aus“,
+d. h. er springt mit einem mächtigen Satz von dem sehr hohen Trittbrett
+auf das freie Feld der Wüste. Sein Gepäck wirft man ihm kurzerhand
+nach! Er dankt und winkt. Der Zug fährt weiter. Ob die braunen
+Gestalten ihn erwartet haben? So sehen also zum Teil „Stationen“ des
+Kaliforniaexpreß auf der Grenze von Neumexiko und Arizona aus! Hier
+kann man sich denken, wie leicht es unter Umständen sein muß, Schienen
+aufzureißen und Züge zum Halten zu bringen ...
+
+Auf über 60 ~m~ hoher Brücke setzen wir über den berüchtigten „Diablo
+Cañon“. Hier haben sich einst blutige Kämpfe mit den Apachen-Indianern
+abgespielt. Am Horizont tauchen aufs neue hohe dunkelblaue Bergketten
+auf. Heiß steht die Halbmittagssonne über den sandigen Hügeln. Die
+kupfernen Drähte längs der Bahn blinken im hellen Sonnenlicht. In
+der Ferne erheben sich die kraterartigen Gipfel höher und höher; es
+sind die sogenannten „San Franzisko Mountains“, die aber von der
+gleichnamigen Stadt noch über 1000 ~km~ Luftlinie entfernt sind! Welch
+einen malerischen Kontrast bilden die gelbe unfruchtbare Wüste und
+das Tiefblau der Berge! Die Wasserscheide zum Stillen Ozean haben
+wir überschritten. Der Rio Grande war der letzte Fluß, der noch den
+Atlantischen Ozean im mexikanischen Golf erreicht. Inzwischen sind
+wir politisch auch schon in den Staat „Arizona“ eingetreten, der
+halb so groß wie das Deutsche Reich, doch nur wenig mehr als 100000
+Einwohner zählt. Denn gut ein Drittel von ihm ist Wüste und ein Drittel
+Hochgebirge. Gemütlich liege ich im ~reclining-chair~ und schaue mir
+unverwandt auch diese neue Welt rings um mich an. Es war schön, so
+gemächlich durch Wüste, Wildnis und Hochgebirge gefahren zu werden.
+Man kann auch einmal auf ein Halbstündchen die Augen schließen und
+ein Schläfchen halten -- und versäumt dabei doch nichts Wichtiges.
+Denn die Szenerie ändert sich sehr langsam, manchmal auf einen halben
+Tag nicht. Jetzt sieht man draußen eine Zeitlang nur mächtige
+wilde Lebensbäume als das einzige, das die großartige Monotonie der
+Hochsteppe unterbricht. Das Leben im Zug ist inzwischen wieder wie das
+einer Familie geworden. Man kennt sich allmählich gut. Kinder tollen
+in den Gängen. Man tauscht Leid und Freud miteinander aus. Ab und
+zu tut man mehr aus Langeweile als aus Bedürfnis einen Gang zu dem
+Eiswasserfaß am Ende des Wagens. Schließlich wird man auch dazu zu
+träge. Der „~trainboy~“ bietet unaufhörlich Postkarten und Obst an. Es
+ist alles im Zuge vorhanden. Nur neueste Zeitungen fehlen; denn die aus
+Los Angeles oder Denver sind schon zu alt und ausgelesen. Aber etwa,
+während man durch Arizona fährt -- vielleicht nie wieder im Leben! --
+irgendwelche Romane, es sei denn der berühmte Indianerroman „Ramona“,
+oder sonst wissenbereichernde ~magazines~ zu lesen, hielte ich in
+solcher Umgebung für ein Reiseverbrechen.
+
+Auf einmal setzte wieder dichterer Baumbestand ein, je mehr wir uns den
+majestätischen San Franzisko-Mountains nähern. Aber wie hat man auch
+hier mit den Baumbeständen gewüstet! Man gab sich in Amerika ja nicht
+immer die Mühe, regelrecht zu fällen und zu roden. Man brannte die
+Wälder einfach nieder, um anbaufähiges Land zu gewinnen, ein Verfahren,
+das vielleicht bei uns in und nach der Zeit der Völkerwanderung geübt
+wurde. Ganze Reihen halbverkohlter, an- und ausgebrannter Baumstümpfe
+bleiben einfach stehen und liegen, so daß die Wälder schauerlichen
+Ruinenstätten gleichen. Teilweise aber sind die Baumruinen auch
+furchtbare Zeugen ungeheurer Waldbrände, deren es in der Union
+an 300000 im Jahre geben soll. Zu ihrer Auffindung verwendet man
+neuerdings staatliche Forstbeamte mit Flugzeugen, die eine Beobachtung
+auf große Entfernungen gestatten. Nun möchte man dem völligen Untergang
+der riesigen Waldungen des riesigen Landes doch nach Kräften wehren ...
+
+„Flagstaff“! Nach etwa 100 ~km~ Fahrt von Winslow halten wir wieder
+einmal. Es ist halb zwölf Uhr mittags. Die herrlichste kühle Bergluft
+strömt zu den geöffneten Fenstern herein. Wir sind jetzt dicht
+unter den imposanten, mit Neuschnee halb herunter bedeckten San
+Franzisko-Bergen. Die herrlichste Alpenlandschaft wie ein Berner
+Oberland breitet sich vor uns aus! Indianer hocken um ein Feuer
+gruppenweise in der Nähe der Station auf dem Waldboden. Einige weidende
+Pferde um sie herum. Auf dem Bahnsteig treffe ich auch einen deutschen
+Schlächter. Seine Eltern wohnen in Neuyork. Er ging „nach Westen“. Die
+erste Frage, die übrigens der Biedermann an mich, den Stammesgenossen,
+richtete, war: „Ob in Deutschland die Züge auch so schnell fahren und
+so fein sind?“ Ich habe gleich Ja gesagt. Da schaute er mich spöttisch
+und verächtlich an. Denn auch ihm ging schon nichts über Amerika. Es
+war gut, daß man wieder einsteigen mußte. An den hohen Bergketten
+selbst bauten sich reizende Holzhäuser im Stil der Schweizerhäuschen
+empor. Wie kühl, frisch, rein war hier alles! Von den Bergen, auf deren
+einem sich das Lowell-Observatorium befindet, wehte frische Schneeluft
+herab. Hier müßte man bleiben können! Eine idealere „Sommerfrische“ als
+hier, Tausende von Kilometern von aller Kultur entfernt, könnte ich mir
+kaum denken. Indianer als Bahnarbeiter schleppten mächtige Balken zum
+Verladen herbei. Der Holzhandel blüht ...
+
+Nach weiteren 35 Meilen Fahrt sind wir am frühen Nachmittag in
+„Williams“, der Umsteigestation nach dem „+Großen Cañon des
+Colorado River+“, meinem nächsten Ziel, das an Großartigkeit noch
+die Niagarafälle übertreffen sollte. Williams ist ein kleiner Ort,
+dessen Bedeutung der Viehtransport und -handel ebenso ausmacht wie
+der Transport der Reisenden nach dem einzigartigen Naturschauspiel
+Amerikas ... Von Williams aber hatten wir nach der Grand-Cañon-Station
+noch einmal beinahe drei Stunden auf einer Nebenlinie zu fahren,
+obwohl es nur als ein „kleiner Abstecher“ von der Hauptlinie angesehen
+wird. Täglich geht ein Zug im Anschluß an den Kaliforniaexpreß hin
+und her. Die Kleinbahn fuhr langsamer als der Expreß über das weite
+Koloradohochplateau, aber auch sie war recht komfortabel eingerichtet.
+Drei Stunden lang durchfuhren wir dieselbe Gegend! Die San
+Franzisko-Berge, durch die man früher den Weg zum Grand Cañon nahm,
+blieben hinter uns. Kahle grasige Hochebene war jetzt das einzige.
+Echte Gebirgssteppe rechts und links, bevölkert hier und da nur von
+nach Tausenden zählenden Schafherden. Ein wenig war sie unserer wenn
+auch tiefgelegenen Lüneburger Heide vergleichbar, aber im ganzen viel
+öder, einsamer und unbewohnter.
+
+Unterwegs an Station Willaha halten wir länger, damit die Reisenden in
+der Nähe sich die gerade statthabende Schafschur, die hier maschinell
+im Großbetrieb erfolgt, ansehen können. Etwa 5000 Schafe sind im
+Pferch. Eins nach dem anderen wird wenig sanft gepackt, zu Boden
+gedrückt, zwischen die Beine eines starken Mannes geklemmt und die
+Schermaschine rasch über seinen Pelz weggeführt. Abgezogen wie eine
+Rübe oder Kartoffel und oft aus vielen Schnittwunden blutend wird das
+Tier dann nach wenigen Sekunden entlassen, um anderen Platz zu machen.
+Aber mit der sprichwörtlichen Lammesgeduld, ohne auch nur einen Laut
+von sich zu geben, ließen die Tiere alles über sich ergehen ...
+
+Ein andermal halten wir bei einem kleinen, auf einem Stab angebrachten
+Blechbriefkasten. „~U. S. mail~“ steht da. Sonst ist nichts weit
+und breit zu sehen. Alles schaut aus dem Fenster dem interessanten
+Schauspiel zu, das hier in der Wüste als wichtige Unterbrechung der
+Fahrt vor sich geht. Die kleine Postblechbüchse wird nämlich geöffnet
+und „geleert“! Und aus dem Zug werden einem herbeisprengenden Reiter
+zwei Postkarten und einige Zeitungen übergeben. Mit diesen sprengt er
+auf seinem dürren Gaul und in seinen schafpelzigen Hosen in die Steppe
+zurück und verschwindet im Busch. Post für die Cowboys! Ich denke an
+den Postverkehr der Millionenstädte. Welche ungeheuerlichen Gegensätze
+in demselben Lande!
+
+Draußen liegen einige trockene, wurzellos vom Sturm geknickte Föhren.
+Sie faulen und verwittern. Vor Jahrtausenden sind sie versteinert und
+heute zum Teil noch in allen Farben schillernd nach Form und Gestalt
+erhalten. Ganze Wälder von Lebensbäumen treten auf. Die Vegetation
+belebt sich. Ach könnte man bei den Cowboys einmal im Zelt schlafen
+und mit ihnen reiten oder auf die San Franzisko-Berge steigen bis
+an den Schnee! Im Zug preist der Hotelportier der großen Cañonhotels
+immer aufdringlicher ihre unvergleichliche Unterkunft an, Wagenfahrten,
+Reittiere, Indianertänze, Zeltreisen und wer weiß nicht was ... Wir
+nähern uns also unserem Ziel.
+
+ * * * * *
+
+Wir halten! „Grand Cañon-Station!“ Nur wenige Schritte, und wie beim
+Niagara wird eins der größten Naturwunder der Erde sich vor mir auftun
+...! Zuvor aber bestelle ich mir im Hotel „~Bright angel~“ ein Zimmer
+und lege mein Gepäck ab. Dann will ich in aller Muße und Ruhe das
+grandiose Naturschauspiel von hier oben genießen. Der Hotelportier
+ist zur Abwechslung -- ein Schweizer! Ein prächtiger, urwüchsiger,
+unverdorbener Bursche, der seinen volksechten Dialekt unter den
+englischen Brocken noch nicht verlernt hat. Der Wirt war leider ein
+etwas allzutypischer, sehr wohlbeleibter, damals oft dem Gläschen
+am Büfett zusprechender Deutscher, der hier schon recht treffliche
+Geschäfte gemacht hat. Freilich ist der „~Bright angel~“ nicht der
+einzige, aber älteste und verhältnismäßig preiswerteste Gasthof, was
+bei mir neben den Naturschönheiten immer etwas mit ins Gewicht fiel ...
+
+Und dann trat ich an den Rand des Cañon! Er übertraf wirklich
+alle Erwartungen! Man stand einen Augenblick wie starr vor dieser
+märchenhaft-titanischen Naturszenerie, die sich da auftat. Ich war
+noch nie von einem Naturschauspiel so wahrhaft im buchstäblichen
+Sinne überwältigt wie hier. Selbst der Niagara -- unvergleichlich
+in seiner Art -- tauchte daneben auf eine Weile in den Schatten der
+Erinnerungen. Ich war in den Alpen gewesen, im Berner Oberland vor der
+Jungfrau, im Allgäu, in Tirol, im Stubaier, im Ortlergebiet. Aber hier
+übertrafen die Ausmaße und die grandiose Wucht des Ganzen alles bisher
+Geschaute. Das konnten gleichsam nur götterhafte Riesen der Vorzeit
+aufeinandergetürmt haben. So empfand man. Ich stand und schaute ... Wie
+klein war man dieser Urwelt gegenüber! ... Was ist der Mensch, diese
+Eintagsfliege auf seinem uralten und urmächtigen Planeten ...?
+
+Eine wahrhaft ungeheuerliche mit Felstürmen, Plattformen, Nebencañons
+in allen Farben vom Violett und vollem Rot bis zum satten Dunkelgrün,
+Gelb und Weiß des Jurakalks schimmernde, unfaßlich weite, nach unten
+in gewaltigen Terrassen sich stark verengende Riesenschlucht tat sich
+auf. Mehr einem steinernen Zaubergarten, in dem sich heimlich Riesen
+ergehen, oder verwunschenen Riesenschlössern vorweltlicher Titanen und
+Götter mit Zacken, Zinnen und Türmen vergleichbar denn einem Felsental
+eines einzigen Stromes, das er in Jahrhunderttausenden ausgewaschen und
+eingefurcht hat.
+
+Oben steht man auf einem völlig flachen und platten, etwa 2000 ~m~
+über Seehöhe befindlichen Steppenplateau, nur von winddurchwehten,
+niedrigen, knorrigen Föhren bewachsen, die sich da und dort zu
+Wäldern verdichten, und dann stürzt es dicht vor einem hinunter in
+wahrhaft gigantischen Stockwerken von jedesmal mehreren 100 ~m~ bis
+zur Fußsohle, die wieder in einer besonders scharf eingeschnittenen
+Felsenschlucht anderthalbtausend Meter unsichtbar unter dem Beschauer
+in der Tiefe des Cañons liegt. Gerade weil der Urheber des Cañons,
+der Koloradofluß, der in den kalifornischen Golf sich ergießt,
+völlig unsichtbar bleibt und doch wie Hephästus ständig in der Tiefe
+arbeitet, rauscht und braust, schafft und weiter sich einfrißt und an
+der Schlucht in alle Ewigkeit bohrt; wirkt das Ganze noch mystischer
+und unfaßlicher ... Mitten aber in den steinernen gigantischen
+Felsenöden erblickt man auf einmal bei schärferem Zusehen etwa 800
+~m~ tief unten eine kleine grüne Oase mit einem menschlichen Haus
+-- eine zerbrechliche Menschenhütte in der Welt der Titanen! -- das
+sogenannte „~halfway-house~“ (Halbweg-Haus) in der Hälfte des Abstiegs
+zum Koloradofluß. Man kann zu Fuß und auf Maultieren auf sehr steilem
+steinigen Zickzackpfad in die schaurige Tiefe hinabgelangen ...
+
+Ich konnte mich von diesem riesenhaften Anblick nicht so bald trennen.
+Ich liebe es immer, auf hohen Bergen, an besonders großartigen Punkten
+der Natur auf Erden stundenlang allein zu weilen, um die großen,
+erhabenen Eindrücke und das feierliche Schweigen der immer grandiosen
+Natur in mich recht hineinzusaugen. Das ist mir dann Lohn genug für
+alle Anstrengungen, Mühen und Ausgaben der Fahrt. So lag ich schon
+als Vierzehn- und Fünfzehnjähriger stundenlang auf den Höhen des
+Schwarzwaldes, etwa dem Hochfirst über dem Titisee oder dem Feldberg
+über dem Feldsee oder auf dem Sulzer Belchen oder Donon in den Vogesen,
+als noch niemand daran dachte, sie könnten je wieder französisch
+werden, und sog die ungeheuren Ausblicke über die Rheinebene, die
+Gipfelwelt des Wasgaus, den Anblick der vielen kleinen Dörfer und
+Städte in mich hinein. Wie in einem Tempel geweiht trat man dann den
+Abstieg und Heimweg an. Es war die Seele gleichsam auf Jahre hinaus
+geweitet. Alles menschliche Gezänke und Gejage erschien da oben so
+erbärmlich! Man war eigentlich grundsätzlich von ihm erlöst. Streit
+um Mode und Meinung, um Richtung und Partei zerfloß vor solchen
+Erlebnissen wie eine Lächerlichkeit. Es war etwas vom Geiste des
+Universums in das Individuum geströmt und hatte es frei gemacht. Wie
+kindisch erschienen nach solchen Eindrücken auf hohen Bergen die
+Menschen in den großen Städten, die den Hals so lang recken und den
+Kopf so hoch tragen, da einer auf den anderen herabsieht, weil der eine
+einen anderen Rock trägt als der andere oder dieser einen geringeren
+Beruf hat als jener. O über die erbärmlichen und kleinlichen Menschen!
+
+Stunden der inneren Erlösung werden am Rande des Cañon geschenkt --
+wenn nur nicht zwei Minuten hinter mir sich schon die „Kultur“ in
+Gestalt der Gasthöfe erhoben hätte samt den typischen Reisenden mit
+ihrem unnützen Geplauder und Gewäsche. Auf den Bänken am Rande des
+Cañon müßte etwa angeschrieben stehen: „Alles laute und oberflächliche
+Schwatzen und Lachen ist angesichts der großen Natur strengstens
+untersagt.“ Ich saß da, bis es dunkelte, und konnte mich nicht satt
+sehen. O das wunderbare Rot! Dieses strahlende Feuer des Gesteins um
+die Zeit des Sonnenuntergangs! Diese Riesenbauten, immer aufs neue
+großartig in ihrer schweigsamen Pracht! Letzte Sonnenstrahlen ließen
+jede Wand, jeden Sandfleck noch einmal rot, blau, violett, tiefgelb
+erstrahlen. Das Farbenspiel an den Wänden des Cañon war fast ebenso
+wundersam wie seine Größe. Dazu der Kontrast der obersten weißen
+Juraformation mit den roten und braunen Gesteinsbändern. Hier versagen
+alle Beschreibungen. Wie ein aufgeschlagenes lebendiges Museum hat
+hier die Erdoberfläche alle ihre geologischen Geheimnisse enthüllt und
+ihr Inneres offen und furchtlos aufgedeckt. Man sah wie die letzten
+Sonnenstrahlen langsam aufwärts glitten. Was für Gründe und Schlünde!
+Wände wie flüssiges Feuer! Jetzt wurde die rote Schlucht von der
+Abendsonne nicht mehr erreicht. Aber der gelblichweiße Kalk leuchtete
+noch lange! Langsam erstarben auch diese Lichter. Der Abend kam. Die
+kühnen Riesenschlösser verdunkelten ...
+
+Aus dem nahen Föhrenwald ritt eine Gruppe Indianer heraus. Eine
+bessere Staffage konnte ich mir zuletzt gar nicht wünschen. Unter
+ihnen ein Bursche mit zwei feuerroten Pferden, als seien sie dem Cañon
+entstiegen. Jetzt halten sie am Rande der Riesenschlucht. Auch für sie
+scheint er, obwohl gewohnt, ein immer neues unfaßliches Schauspiel.
+
+
+Grabgesang für den indianischen Häuptling Schwarz-Amsel
+
+(Aufrecht begraben auf einem lebenden Pferd am Felsenufer über dem
+Missouri.)
+
+ Er ist tot,
+ Unser Häuptling,
+ Ai! Ai! Ai! Ai!
+ Krankheit überfiel ihn,
+ Ihn, unsren Führer,
+ Schmerzlich starb er dahin.
+
+ Zu seinen Füßen sind wir Krieger,
+ Seine Kinder versammelt.
+ Zerschnitten haben wir unser Fleisch
+ Vor seinem Leib.
+ Unser Blut tropft auf die Weiden,
+ Mit denen wir unsre Arme durchbohrten.
+ Wir schlagen uns mit Weiden,
+ Wir betrauern unsren Bruder, unsren Vater,
+ Wir singen langsame Lieder
+ Dem lauschenden Geist des großen Häuptlings
+ Schwarz-Amsel.
+
+ Gestern
+ Unterm roten Himmel,
+ Durch den die Sonne stürzte,
+ Riefen sie dich,
+ Deine Vorfahren
+ Aus der Mitte des Himmels,
+ Aus der dich umkreisenden Wolke
+ Riefen sie deinen Namen.
+
+ Er ist tot
+ Unser Führer
+ Ai! Ai! Ai! Ai!
+ Unser Häuptling Schwarz-Amsel!
+ Schlagt euch mit Weiden,
+ Laßt tropfen euer Blut für ihn!
+ Ihr habt den Todesgesang
+ Euren Freunden gesungen,
+ Den Gräsern der Prärie,
+ dem Fluß,
+ Der die Prärie
+ Wie der Mond den Himmel schneidet.
+
+ Sieh, wir richten dich auf.
+ Das Blut unsrer Weidenwunden
+ Tropft auf dich.
+ Wir kleiden dich in dein Hemd aus weißem Bocksfell,
+ Wir knüpfen deine Gamaschen aus Bergziegenfell,
+ Wir legen um deine Schultern
+ Dein Kleid aus dem Fell des jungen Büffelstiers,
+ Wir haken dein Halsband aus grauen Bärenklauen
+ Um deinen Hals
+ Und setzen auf dein Haupt
+ Deinen Kriegshelm aus Adlerfedern.
+ So hast du es befohlen.
+ Ai! Ai! Ai! Ai!
+ Schlagt euch mit Weidenruten!
+ Du fährst fort von uns,
+ Es ist Zeit für dich fortzufahren,
+ Du trittst die lange Reise an.
+
+ Hinauf auf die hohe Klippe
+ Tragen wir dich.
+ Unser Blut tropft auf die Erde,
+ Und dein Pferd,
+ Dein weißes Pferd
+ Geht mit dir,
+ Es folgt dir nach,
+ Sanft leiten wir es
+ Deinem Körper nach,
+ Deinem nicht mehr schweren Körper,
+ Den der Tod zerschrumpft.
+ Der Habicht fliegt
+ Halbwegs zum Himmel,
+ So wirst du halb über der Erde schweben.
+ Auf hohem Ufer wirst du stehen,
+ Wenn wir dich aufstellen,
+ Zittert die Erde.
+
+ Du bist tot,
+ Doch du hörst unsren Gesang,
+ Du bist tot,
+ Doch wir heben dich auf dein weißes Wieselroß.
+ Es zittert wie die Erde,
+ Sein Fell zuckt
+ Bei der leisen Berührung mit deinen Knien,
+ Unser Blut schreit zu dir,
+ Da es über die Blätter der Weiden tropft.
+ -- -- --
+ Du leuchtest wie Sonne zwischen Bäumen,
+ Du blendest wie Sonne,
+ Die über Präriegras rinnt.
+ Du durchbohrst unsre Augen,
+ Wenn die Donnerwolke sich empört gegen den Wind.
+
+ Wer sollte das sein,
+ Wenn nicht er, unser Häuptling?
+ -- -- --
+ Ai! Ai! Ai! Ai!
+ Stolz reitet er sein weißes Pferd,
+ Seine Hauptfedern rauschen leis’ im Wind.
+ Großer Häuptling,
+ Vater des Volks,
+ Der du schaust auf den kluftigen Hügel
+ Und den langen beweglichen Fluß.
+
+ Der du gefaßt erwartest den Saum der Nacht
+ Und das Kommen der Sterne,
+ Bereit zu springen
+ Den Sternweg mit der mächtigen Kraft
+ Deines wundervollen Pferdes,
+ Die Wolfsspur aufzunehmen,
+ Mit dem Schrei des Erfahrenen
+ Aufwärts zu reiten über den großen Himmel.
+
+ Wir bewachen dich,
+ Wir begeistern dich,
+ Wir schreien dir Beifall mit unsrem Jagdruf,
+ Unsrem Schlachtlied.
+ Zum Klatschen unsrer Weiden sollst du reiten,
+ Und dein weißes Roß
+ Soll dich hinter die Wolken tragen
+ Hinter die unbeweglichen Sterne.
+
+ Wenn die Wasser ruhen
+ Und Nebel steigen,
+ Wirst du +wieder erscheinen+?
+ Dann werden deine Brüder, die Ottern,
+ Aus den Wassern tauchen,
+ Unter dem hohen Hügel
+ Wird deiner Stimme starkes Echo tönen.
+ Wie Metall wird deine Stimme
+ Durch die Himmel dringen.
+
+ Deine Kriegskeule wird durch die Räume hallen
+ Wie deine Brüder, du Adler,
+ Wird deine Stimme zu uns niederfallen
+ Durch die Böschungen des Winds.
+ Du wirst rund um die Welt gehen,
+ Du wirst über und unter die Welt gehen,
+ Du wirst zum Geisterplatz kommen.
+
+ Ai! Ai! Ai! Ai!
+ -- -- --
+ Wenn Regen kommt
+ Auf den Schwingen der Krähen,
+ Im Frühling
+ Müssen wir die Stimme der Eule fürchten
+ Allein in unsren Hütten,
+ Nun, da du von uns gegangen.
+
+ Wie groß ist die +Zahl deiner Schlachten+!
+ Zur Nacht,
+ Wenn die Hunde schweigen,
+ Gehst du leise
+ Über die Dörfer der Feinde, sie zu zerstören.
+ -- -- --
+ Tod bringe ich!
+ Ich tanze auf denen, die ich töte!
+ Ich skalpiere die, die ich töte,
+ Ich lache über die, die ich töte,
+ Heh -- heh!
+ Rot waren deine Pfeile wie des Grashüpfers Flügel,
+ Hoch in der Sonne.
+ Denn Feinde schämten sich vor dir,
+ Bis du ihnen die Köpfe abschnittst
+ Und ihren Skalp an deinen Zügel bandest.
+ Nun reisest du allein,
+ Reise die Wolfsfährte entlang,
+ Müde zu den kleinen Sternen!
+
+ Amerikanische Nachdichtung von Amy Lowell.
+
+Die braunen Burschen mit Federn und Bogen, gestickten Mokassins und
+prachtvollen warmen, weichen Decken -- angenehm jetzt in der wehenden
+Abendkühle -- verschwanden in einigen nahen Lehmbauten, wo sie -- man
+sieht es durch die offene Tür -- ein Feuer entzündeten. Malerisch
+säumten ihre bunten Kopfbinden das langsträhnige glänzend schwarze
+Haar ...
+
+Geschminkte und gepuderte reisende Damen kamen jetzt daher und
+richteten ihre Lorgnette auf die Söhne der Natur. Da wünschte ich
+mir eine Geißel ...! Drinnen aber im ~Hopi-house~, der Lehmhütte der
+angekommenen Hopi-Indianer, schaukelte friedlich ein Baby auf einem von
+der Decke an zwei Stricken hängenden Brett. Ein Älterer der Rothäute
+trat jetzt mit einer blitzenden Axt vor die Hütte, um Holz zu spalten
+und das Feuer zu entfachen. Diente nicht diese Axt wilderem Zweck? Am
+liebsten wäre ich zu der um das Feuer in der Hütte hockenden Gruppe
+gegangen und hätte mich unter sie gesetzt und mit aus ihrem Napf
+gegessen. Und Karl May war nie solcher Anblick vergönnt! -- --
+
+Nach dem Abendessen im „~Bright angel~“ trat ich noch einmal an den
+Rand des Cañon. Der Mond übergoß jetzt mit blendendweißem Licht die
+grellbleichen Kalkfelsen, die da in den schauerlichen Grund abstürzten.
+Welch eigentümliches Licht! Aber auch hier fehlte die Komik der Kultur
+nicht. Elektrische Bogenlampen erhellten frech und frank rings die
+Nacht um das Hotel! ... Fledermäuse umschwirrten sie. Glühlämpchen am
+Cañon! Welche Stillosigkeit! Auf den Bänken saßen einige Hotelburschen,
+deren Arbeit zu Ende war, und sangen süßmelancholische Negerlieder aus
+Kentucky und Tennessee! Vor dem Hopi-house aber tanzte -- verhülle
+dein Haupt -- für ihnen auf den Boden zugeworfene Kupfermünzen
+die Gruppe der Hopi-Indianer indianische Volkstänze. Sieben bis
+acht Männer, Frauen und Kinder waren es. Es war ein merkwürdiges
+rhythmisches Stampfen und heiseres Schreien, das durch eine Rassel
+in der Hand unschön unterstützt wurde. Die Frauen tanzten barfuß mit
+Blumensträußchen in den Händen, bald neben-, bald hintereinander
+zierlich und rhythmisch sich wiegend, die Männer in ihren Mokassins.
+Indianertänze im bleichen Mondschein vor der Indianerhütte am Rande des
+Cañons waren also der letzte Eindruck dieses Tages! Den nahm ich mit in
+meine Träume der Nacht ... --
+
+Für den anderen Tag hatte ich mir vorgenommen, den Abstieg auf dem
+schwierigen und sehr mühevollen „~bright-angel-trail~“ in den Cañon zu
+wagen. Aber nicht mit Maultier und Esel, Führer und Pferden, Zelten
+und Proviant, mit geputzten Herren und gepuderten Damen, Dienern
+und Troß, sondern allein zu Fuß und mit ein paar Brotscheiben in
+der Tasche ... Allein, Auge in Auge, wollte ich der Nacktheit der
+Natur und den titanenhaften Schroffen des Kolorado gegenübertreten.
+Hoffentlich störte mich heute kein Menschenschwarm und -geschwirr,
+keine schwatzenden, beschleierten und lorgnettierenden Damen oder
+politisierenden Männer ...
+
+[Illustration: ~SANTA CATALINA IM STILLEN OZEAN~]
+
+Ich nahm also einstweilen Abschied von der bewohnten Oberfläche der
+Erde, um mich in die Eingeweide ihrer Unterwelt zu begeben. So kam es
+mir vor. Oben blieb die Menschheit zurück, und ich stieg der Tiefe zu,
+wie der Bergmann in den Schacht fährt und der Taucher in den Ozean
+sinkt. Fast so war es mir zumute. Hoffentlich gab mich der Cañon heil
+der oberen Erde wieder. Je weiter ich stieg -- jeder Tritt war mit
+Vorsicht zu wählen, und jeder Schritt eine kleine Leistung -- desto
+ungeheuerlicher wurden die Ausmaße der Abstürze. Und so tief man auch
+hinabstieg, immer neue Felsenabstürze gähnten unter mir, immer ferner
+rückte die Randhöhe des Plateaus oben, immer weiter wurde die Spanne
+von Rand zu Rand der Riesenschlucht. Welche Entfernungen, welche
+Tiefe, welche Steilheit des Felsenpfads! Welch schauerliche Felsöden!
+Man kam sich vor wie in einem Riesengefängnis, das kein Schließer zu
+verschließen braucht. Drüben aber die in der Morgensonne leuchtenden
+roten Zacken, Zinnen, Türme und Wände, die noch kein menschlicher Fuß
+betrat.
+
+Etwa zwei bis drei Stunden bin ich mühsam allein hinabgestiegen. Kein
+Laut störte die Einsamkeit. Kein Vogel kreiste über den unfruchtbaren
+Felsmassen. Nur da und dort rollte ein Steinchen, das unter dem Tritt
+sich löste, springend, hüpfend mit ein wenig Geklirr in größere Tiefen.
+Es hallte der eigene Schritt wieder von den nächsten Felswänden.
+Ein paar niedrige Kakteen wuchsen zwischen den Steinen und ein paar
+blühende Anemonen ...
+
+Ich landete auf einem Plateau, halbstündig im Geviert. Eine kleine
+grüne Steppeninsel inmitten der Felsmassen lag vor mir, von etwas
+quellendem Wasser berieselt. Das „~half-way-house~“, der Rastort der
+Touristenkarawanen, war erreicht. Ich kletterte noch vor bis an den
+Rand des eigentlichen engeren Flußcañons, wo es schwarz und steil in
+die Tiefe geht. Aber weiter wage ich mich nicht. Ich hätte gerne dort
+unten meine Hand in den Kolorado gesteckt ... Aber jeder Schritt tiefer
+kostete zwei mühsame Schritte nachher wieder herauf. Und hinauf war es
+weit länger und anstrengender als hinab. Würde auch das Wetter halten?
+Der Himmel hatte sich dunkel umzogen ...
+
+Ich mochte eine halbe Stunde am Rand des letzten Absturzes gelegen
+haben, wie Jakob das Haupt auf einen harten Stein gebettet, und hatte
+in die Felseinsamkeit und den Himmel gestarrt. Vom Kambrium bis zum
+Tertiär lagen wohlabgezeichnet alle Schichten von unten nach oben
+übereinander, rote Granite, dunkelbraune Gneise, mattgrüner Schiefer,
+dunkelroter Kalkstein, rot und weißgebänderte Sandsteinformationen und
+zuoberst hellgrauer Kalk. Von Rand zu Rand spannt die Riesenschlucht
+oben etwa 15 ~km~, bis 1½ ~km~ ist sie tief, und der Fuß auf der Sohle
+ist noch an 100 ~m~ breit. Bei Hochwasser kann der Kolorado bis um
+70 ~m~ steigen! Wie mag der erste Weiße, der Goldsucher Garcia Lopez
+de Cardenas im Jahre 1542 gestaunt und gebebt haben, als er diese
+teuflische Schlucht, die bis 350 ~km~ (also etwa von Berlin bis über
+Prag hinaus) lang ist, zum ersten Male erblickte! Was besagen diesen
+Maßen gegenüber alle die Klamms Oberbayerns oder selbst die Elbrinne
+unserer sächsischen Schweiz? 1869 unternahm es zuerst der kühne Major
+J. W. Powell, den Koloradofluß durch den Cañon hindurch im ganzen 1600
+~km~ weit zu befahren! -- -- --
+
+Ich hatte mich erhoben, um wieder anzusteigen. Und ich tat gut daran.
+Wolken und Nebel fuhren dichter über die Felszinnen. Ängstlich huschten
+die Eidechsen in ihre Steinritzen. Als ich eine kleine Stunde mühsam
+bergangeklommen war, brach um mich ein Schneesturm los! Im Nu tanzten
+wilde Flocken und hüllten mich ein. Kein Mensch war weit und breit.
+Orkanartig brauste es die Wände entlang. Verschwunden war mit einem
+Male der Zaubergarten samt allen seinen Farben. Im Schneesturm, in
+Nebel und Wind mutterseelenallein an eine Felswand gedrückt, wartete
+ich das Wetter ab. Der Steilpfad war zwar kaum zu verfehlen. Ein
+Verlorengehen war nicht gut möglich. Und ein Tornado oder eine
+Windhose, die mich am Ende nach dem anderen Rande des Cañons entführte,
+würde ja hoffentlich nicht gerade kommen.
+
+Vorgestern noch in Santa Fé ein Sommergewitter und heute in derselben
+Höhe und Breite ein Schneesturm im April unter 36 Grad Breite! Welche
+Kontraste doch dieser Kontinent barg!
+
+Vom anstrengenden, steinigen, steilen und eiligen Steigen klopfte mir
+das Herz bis zum Halse hinauf. Eine Zeitlang barg ich mich in der
+schützenden Nische an der Felswand. Die Hände waren mir eiskalt, aber
+am Rücken troff mir der Schweiß! Das Schneegestöber nahm zu. Ich war
+früh aufgebrochen. Die reitenden Karawanen hatten es vorgezogen, oben
+zu bleiben oder waren auf dem Viertel Weg wieder umgekehrt. Als ich
+endlich nach viel Mühe, durchnäßt und durchfroren wieder oben war, lag
+der Schnee auf den Hoteldächern und der Terrasse! ... Man glaubte sich
+in eine Winterlandschaft des Riesen- oder hohen Erzgebirgs versetzt und
+wärmte sich gern am behaglichen Kamin mit seinen mächtigen glimmenden
+Holzklötzen ...
+
+Die Nacht erquickte die vom Ab- und Anstieg ausgereckten Glieder
+wunderbar. Es war die zweite Nacht am Rande des Cañons. Wie würde
+morgen das Wetter sein?
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 22: ~Young men’s christian association.~]
+
+[Footnote 23: Indianerdörfer.]
+
+[Footnote 24: Wanzen.]
+
+
+
+
+Nach Kalifornien.
+
+
+Am anderen Morgen war auch noch Nebel und Schnee. Die Tiefen des Cañons
+waren dicht verhüllt. So konnte ich also nicht einmal rechten Abschied
+von ihm nehmen. Wir fuhren erst wieder unsere drei Stunden bis an
+die Hauptlinie nach Williams: Pußta, Prärie, Heide -- immer dieselbe
+Großartigkeit! In Williams ging es wieder -- weniger angenehm nach der
+herrlichen Berg- und reinen Steppenluft -- in die seit drei Tagen nicht
+gelüftete „~chair-car~“ des Chikago-Los Angeles Expreß, mit dem ich vor
+zwei Tagen hier angelangt war. Viele Auswanderer saßen wieder drin mit
+Kind und Kegel. Kalifornien ist seit dem Goldfieber von 1848 noch immer
+das Land der Sehnsucht aller Auswanderer. Unaufhörlich geleiten die
+Pazifikbahnen den fremden Menschenstrom in das gelobte Land am Stillen
+Ozean ... Die Bahn senkt sich. Der Nebel streicht über die Föhren wie
+über irgendeine deutsche Heide. Weite blaue Bergländer tun sich in
+der durchbrechenden Mittagssonne auf. Wir halten in Ash-Fork, einer
+Bahnkreuzung. Aber es ist nicht mehr als ein Dorf, dessen Straßen aus
+Holzplanken bestehen! Die Häuser sind buchstäblich auf den Sand gebaut.
+Aber bald wird auch hier eine „~main-street~“ (Hauptstraße), ein paar
+~lunchrooms~, eine ~general merchandise~ sein, und wohl auch ein oder
+zwei kleine Holzkirchen stehen. Links und rechts erheben sich mächtige
+Kraterhügel, wie unvermittelt auf das Plateau aufgesetzt. Schnaubend
+zieht die Bahn, nach der Durchschreitung des felsigen Johnsons Cañon,
+wieder in die Höhe. Neue Aussichten über weite, wellige Hochländer
+öffnen sich. In gewaltigen Kurven dampfen wir das Grasland hinan. Und
+weit und blau spannt sich der Himmel über dem ungeheuren Lande. Wem
+gehört hier dies alles? Niemand? Die Dämme sehen alle noch recht frisch
+und unbewachsen aus. Einige armselige „~fences~“ (Hürden) zeigen einige
+private Besitzer an.
+
+In „+Seligman+“ wird die Uhr zum viertenmal seit Boston um eine volle
+Stunde nachgestellt: Nun ist „~Pacific time~“! (Die Union ist ja
+etwa 17mal so groß als das Deutsche Reich, also rund viermal so lang
+und so breit. Darum kommen wir in Deutschland mit ein und derselben
+Görlitzer Zeit aus, d. h. die Sonnenzeit in Köln und Königsberg
+differiert nur etwa um eine Stunde und die Görlitz-Berliner Zeit
+hält das Mittel inne.) Wir setzen auf wohlvollendeter Brücke über
+einen völlig wasserlosen Cañon. Dann dehnen sich wieder endlose
+gelbgraue menschenleere Steppen, blendend im Sonnenschein mit
+scharfabgezeichneten Schatten auf dem sandigen Boden säumender
+Bergreihen. Wie rein und klar ist hier die Luft und wie sonnig! Wenn
+ich jetzt alle die durchfahrenen Distanzen überdenke: Eine volle
+Nacht von Boston bis Buffalo! 15 Stunden von Buffalo nach Chikago.
+Und von Chikago bis zum Pazifik waren es vier Tage und drei Nächte!
+Bädeker hat recht mit seinem lakonischen Satz im Vorwort: „In Amerika
+lasse man alle engen Vorstellungen zurück.“ Wer Freude an einer
+wochenlangen, fortgesetzt wechselnden Bahnfahrt haben will, hat bloß
+zwei Möglichkeiten dazu, entweder mit der sibirischen oder einer
+amerikanischen Pazifikbahn zu fahren.
+
+Was für Zukünfte schlummern noch in diesem ungeheuren Land der Rassen
+und Schätze an Eisen und Kohle, Weizen, Mais und Baumwolle, Vieh, Gold,
+Quecksilber und Petroleum! Davon ahnen die kleinen Italienerkinder noch
+nichts, die im Mittelgang unseres Wagens einander fröhlich haschen.
+Die Geschwindigkeit läßt etwas nach. Kleine Steppenkolonien tun sich
+auf, deren Häuser wie kleine Badehütten an einer Düne stehen. Ein paar
+völlig weltverlorene Stationen, wo nichts weiter als ein Stationsschild
+mit Aufschrift die Haltestelle bezeichnet und ein paar Schuppen
+für Hirten stehen. Die einzigen Tiere, die man zu Gesicht bekommt,
+sind hier merkwürdig kleine, dünnbeinige, aber wahrscheinlich sehr
+ausdauernde Steppenpferdchen ...
+
+Weiße Wölkchen stehen sonnendurchschienen am blauen Himmel. Im Wagen
+spielen die Männer gelangweilt Karten, essen, schlafen, schmökern
+aus Zeitungen, trinken Eiswasser und träumen von der Zukunft. Wer
+rauchen will, muß für eine Zeit den am Ende des Zugs befindlichen
+allgemein zugänglichen, aber engen ~smoking-room~ aufsuchen. Recht
+nachahmenswert!
+
+Ein Kolonistendörfchen mit etwa 15 Hütten zeigt sich unter ein paar
+grünen Bäumen. Ob nicht in zehn Jahren hier eine Stadt sein wird? Dann
+wird die Landschaft wieder steiniger, als es auch in der arabischen
+Wüste kaum sein könnte. Aber die Menschen erscheinen hier viel ruhiger
+und gelassener als im Osten. Es jagt sie keine „City“ mit ihren
+Untergrundbahnen und Autos. Die Natur ist auch zu groß hier für Hast
+und Hitze. Selbst die typischen kleinen Kirchen sieht man hier kaum
+noch. Sind die Menschen hier darum gottloser? Ich kann mir das in
+dieser Naturszenerie gar nicht vorstellen.
+
+Gegen Abend -- wir nähern uns jetzt der Grenze des Staates Kalifornien
+-- werden die Randgebirge wieder höher. Stundenlang geht es durch
+dieselbe eintönige Wüste. Leben hier wilde Tiere? Und was für
+welche? Kein Wölkchen trübt mehr den purpurroten Abendhimmel.
+Unter einigen Kakteen, Yuccabäumen und Palmen hocken ein paar
+runzlige Indianerfrauen. Station Kingman. Das Gelände ist jetzt
+von ganz südlichem Charakter. Was wir daheim in Treibhäusern und
+Palmenhäusern bestaunen, wächst hier wild. 100 Meilen wieder seit
+Seligman! Dazwischen haben wir nicht +ein+mal gehalten! Wozu auch?
+In den namenlosen Bergen und Felscañons? Rötlich schimmern die
+einsamen Bergketten im Abendlicht. Arizona trägt seinen Beinamen
+„das Land der schönen Sonnenuntergänge“ nicht umsonst. Sand um Sand,
+purpurschimmernde Kraterhügel wie von Riesenmaulwürfen aufgeworfen. Wie
+mit der Schere ausgeschnittene Bergketten, die sich scharf vom blanken
+Himmel abzeichnen.
+
+Hier könnte man sich, da die Stationen 100 Meilen auseinanderliegen,
+bei Nacht einen Zugüberfall sehr gut vorstellen. Tatsächlich fand
+einer gerade in dieser Gegend zwei Tage später, als ich schon in San
+Franzisko war, in der üblichen Weise statt, über die sich niemand in
+Amerika mehr aufregt: Schienenaufreißen, falsche Signale, Aufspringen
+auf die Lokomotive, Überwältigen von Lokomotivführer und -heizer,
+Durchsuchen des Packwagens, Einschüchterung der schlafenden Reisenden
+mit vorgehaltenen Revolvern ... Dann geht es wieder weiter. Man rührt
+sich nicht, und ohne Blutvergießen geht es vorüber! Aber was machen
+sie hier in den Fällen von Maschinendefekt und ähnlichem? Das mag eine
+hübsche Zeit dauern, bis hierher eine Reservemaschine kommt!
+
+In dem nahen Flußbett sieht man Wagenspuren. Wüsten um Wüsten. So
+hätte ich mir Arizona nicht vorgestellt, so einsam und verlassen. Wie
+völlig anders waren dagegen die Staaten am Atlantik! Und was soll hier
+wachsen? Endlose purpurn erglühende Bergzüge. Wie Goldkronen liegen die
+letzten Sonnenküsse auf den rückwärtsliegenden Felsbergen ...
+
+Wir setzen über einen sehr breiten Strom. Es ist der Kolorado River,
+der den Cañon durchströmt; eine Ebene öffnet sich am Fluß. „Needles“
+ist erreicht am Eingang zum Goldland Kalifornien, genannt nach
+den in der Ferne wie spitze „Nadeln“ aufsteigenden Porphyrketten.
+Die Bahnlinie hat sich wieder mächtig gesenkt. Die Hochebenen sind
+verlassen. In eiliger Fahrt war es in mannigfachen Windungen hinab dem
+Koloradofluß zugegangen, der hier kaum noch 200-300 ~m~ über Seehöhe
+aus den Bergschluchten tritt! Hier ist alles subtropisch, ja fast
+tropisch. Kaum aber daß ein bißchen Naß das Land besprengt, da sprießt
+es auch schon in ungeahnter Üppigkeit. Man sieht die Männer hier auch
+abends im Frühling nur in Hemdsärmeln.
+
+Es ist Zeit, das Abendessen einzunehmen. Wie ausgehungert eilt alles
+zu den Fleischtöpfen ... Geradezu mystisch schön sind die Tinten an
+dem unbeschreiblich kristallklaren Abendhimmel ... Dann geht es nach
+25 Minuten Aufenthalt wieder in die Nacht hinein. Die Mondsichel tritt
+klar und scharf heraus. Wir fahren durch die Mojawewüste. Ich wache
+in der Nacht einmal auf, als wir in Dudlow halten. Funkelnd steht der
+Orion am Himmel. Laut zirpen Tausende von Grillen durch die milde
+südliche Nacht. Von den San Bernhardinobergen sehe ich freilich nichts,
+auch nichts von den erloschenen Vulkanen und ausgetrockneten Salzseen
+der Mojawewüste ...
+
+Aber wie verwandelt ist das Bild am Morgen! So wie wenn man durch den
+Gotthard fährt und auf der anderen Seite des Tunnels, nachdem die
+Wasserscheide der Alpen durchschritten ist, eine andere Welt findet.
+So wachen wir in der Frühe, als wir von den San Bernardinobergen (3500
+~m~!) in die Ebene in sausender Fahrt herunterfahren, bei feuchten
+Morgennebeln auf, die schon vom Stillen Ozean herandringen; das Berg-,
+Steppen- und Wüstenklima Arizonas ist völlig verschwunden. Es herrscht
+nebliges Seeklima. Um sechs Uhr rüttelt mich der Neger an der Schulter:
+Noch 40 Minuten bis Los Angeles! Aufstehen!
+
+Nun, da war es ja Zeit, sich zu erheben und wie immer auf dem
+Oberbett sitzend anzukleiden und sich fertigzumachen. Für die
+meisten Mitreisenden bedeutete die Ankunft in Los Angeles viel mehr
+als für mich! Die meisten kamen jetzt an ihr Lebensziel, in ihre
+neue Heimat, sowie wir etwa damals in Neuyork nach über 3000 Meilen
+Seefahrt landeten, so „landeten“ sie jetzt nach einer Bahnfahrt von
+4000 ~km~ von Neuyork oder 3000 ~km~ von Chikago -- also fast ebenso
+großen Entfernungen wie von Europa! -- an der Küste des Stillen
+Ozeans. Als ich zum Wagenfenster hinausschaute, bot sich ein völlig
+veränderter, fast märchenhafter Anblick dar. Tagelang waren wir
+durch grasige Steppen und einsame Hochebenen, über sandige Wüsten
+und durch felsige Cañons gefahren, und jetzt fuhren wir auf einmal
+durch die ausgedehntesten prächtigsten Weingärten, vorüber an ganzen
+Alleen von Pfeffer- und Orangenbäumen, vorbei an den herrlichsten mit
+hohen Palmen bepflanzten Straßen und den saubersten, malerischsten,
+von den üppigsten Pflanzungen grünumrankten und unter Blütenpracht
+förmlich begrabenen Landhäusern und Landstädtchen. Zitronen und
+Eukalyptus, Orangen, Palmen und Wein, Akazien und Agaven, welche
+ein märchenhaftes Paradies, noch viel üppiger und blühender als das
+fruchtbare Oberitalien! Und Los Angeles’ Umgebung ist vielleicht wieder
+die Krone des ganzen herrlichen Landes. Aber, lieber Leser, sage das
+nicht laut in San Franzisko! Du könntest auf offener Straße dafür
+niedergeschlagen werden. Und jedermann würde es recht finden! Denn es
+gibt auf Gottes Erdenrund kaum zwei aufeinander eifersüchtigeren Städte
+als San Franzisko und Los Angeles, die beiden ehrgeizigen Königinnen
+Kaliforniens ... Wir halten. Ich steige aus. Am Ziel! Eine Welt von
+Bildern und Eindrücken, was mit zum Großartigsten der Welt gehört, war
+an mir vorübergezogen.
+
++Los Angeles+ hat einen schönen und stolzen Namen. Als spanische
+Gründung 1781 wurde es „~La Puebla de Nuestra Señora La Reina de Los
+Angeles~“ („Stadt unserer Herrin der Königin der Engel“) genannt. Erst
+seit 1846 ist es bei nur 1600 Einwohnern (!) amerikanisch geworden.
+Noch 1880 hatte es noch immer kaum 50000 Einwohner, heute bald eine
+halbe Million. Als ich aus dem Bahnhof trat, sah ich zunächst noch
+nichts von seiner paradiesischen Herrlichkeit, noch von seinen 130
+Kirchen, eher konnte ich an seine 2000 Fabriken glauben. Schmutzig
+und düster erschien die nächste Umgebung. Der erste Kampf ging wieder
+einmal darum, mit heiler Haut aus dem Geschrei der Kofferträger,
+Transferagenten, Hotelportiers, Autos und Kutscher herauszukommen.
+Lastwagen wirbelten auf den zum Bahnhof führenden Straßen genug Staub
+auf ... Ich sah japanische, chinesische Anschriften, den Fremden
+einladende Herbergen der Heilsarmee ... dann schlug ich mich durch bis
+zur Innen- und Geschäftsstadt. Banken, Läden, Warenhäuser wie überall.
+Es hielt mich diesmal auch nicht lange in der Stadt. Geschichtliches
+bietet sie gar nichts. Ich strebte so schnell wie möglich nach dem
+Stillen Ozean, von dem „die Stadt der Engel“ noch immer 35 ~km~
+entfernt liegt!
+
+Möglichst rasch und entschlossen ging ich zu dem Bahnhof der
+ausgezeichneten elektrischen Lokalschnellbahnen, die nach jeder
+Richtung von Los Angeles in die Umgebung streben. Ich bestieg sofort
+einen Zug, der geradewegs nach San Pedro am Pazifik fuhr.
+
+Mit Schnellzugsgeschwindigkeit waren wir in 40 Minuten dort ... Noch
+war es wolkig, und Morgennebel lag über den Feldern. Erst ging es
+eine Weile durch weniger reizvolle Vorstädte, Chinesenviertel und
+Arbeiterquartiere und an allerlei Schuppen und Lagerhäusern vorbei.
+Dann kam ein Geländestreifen mit reizenden Landhäuschen, tief in das
+üppigste südliche blühende Grün eingebettet: Palmen, Gummibäume,
+Eukalyptus, Orangen, Rosen, Geranien, Yuccas und Granatbäume in
+paradiesischem Wechsel. Danach wieder lange unangebaute grasige
+Steppen. Die Gegend glich in manchem der zwischen Rom und Ostia in
+Italien. Zuletzt erhoben sich rechter Hand die San Pedroberge. Und
+vor uns dehnte sich gewaltig -- der Stille Ozean! Wir hielten in der
+kleinen Hafenstadt San Pedro an der San Pedrobai.
+
+Grau und etwas wolkig mit mäßigem Wellenschlag lag der Stille Ozean
+da. Er schien seinem Namen Ehre machen zu wollen! Nun war mir an
+seiner Küste das Angesicht Asiens, Japans und Chinas zugewendet! Im
+Hafen lag ein großer Dampfer, der „President“, der gerade nach San
+Franzisko in See stechen wollte. Ein Stück weiter links schaukelte
+sich ein kleineres Dampfboot von nur 600 Tonnen, nicht viel größer
+als unsere Rheinschiffe, zur Abfahrt bereit nach der sonnigen Insel
+Santa Catalina im Stillen Ozean. Sie ist 25 Meilen von der Küste
+entfernt, also etwa zwei Drittel soweit wie Helgoland von Cuxhaven.
+War ich einmal am Stillen Ozean, so wollte ich auch +auf+ den Stillen
+Ozean! Also schnell ein Billett gelöst und auf der Ozeannußschale, dem
+„Cobrillo“, eingeschifft!
+
+Nach kaum 20 Minuten stach er mit Menschen wohlgefüllt in See! Er
+fährt täglich einmal am Vormittag hinüber und am Nachmittag wieder
+zurück. Ich hatte es gut getroffen. Bald nach der Abfahrt hellte
+sich der Himmel langsam auf. Nach einer Stunde Fahrt verschwand die
+kalifornische Küste hinter uns. Man sah nur noch das Wasserrund des
+Ozeans. Nicht lange danach tauchten vor uns matte Linien ziemlich
+stattlicher Berge auf, die ersten Wahrzeichen des einsamen Eilandes
+draußen ...
+
+Die Meerfärbung war noch eintönig grau. Mehrmals hielt ich die
+Dunst- und Nebelgrenze auf dem Wasser schon für die Küstenlinie,
+aber so schnell waren wir nicht dort! Die Dünung der See war mäßig,
+aber für das kleine Boot schon beträchtlich. Wir waren kaum zum
+Wellenbrecher hinaus, da erbleichten auch schon die meisten Gesichter
+der mitfahrenden Damen. Der kleine Kasten stieg tüchtig auf und nieder
+oder rollte rhythmisch von einer Seite auf die andere. Einige Frauen
+sanken blaß ihren Männern in die Arme, andere stürzten gleich mit dem
+Deckstuhl um ... Möwen folgten uns noch lange ...
+
+Je näher wir dem Eiland kamen, desto deutlicher wurden seine Umrisse.
+Jetzt erkannte man auch schon Felsabhänge und kahle und grasige
+bis zu 600 ~m~ aus dem Meer ansteigende Bergabhänge auf ihm. Wie
+ein Blinklicht glänzte das helle Dach eines Sommertheaters uns
+entgegen. Solange wir auf See waren, war es fast kühl. Als wir nach
+zweieinhalbstündiger Fahrt in die Bucht von Avalon einfuhren, brach
+die Sonne leuchtend hervor, und eine wohlige Wärme empfing uns auf der
+basaltischen Insel ...
+
+Recht spaßig war die Landung. Während wir in die Bucht hineindampften,
+empfing uns eine ganze Menge kleiner Ruderboote, aus denen uns die
+Bootsführer schon auf ziemlich beträchtliche Entfernung ihre Hotels,
+Pensionen, Bars, ~lunchrooms~, Wagen, Boote usw. durch das Sprachrohr
+anpriesen, mit echt südländischer Lebhaftigkeit einer den anderen
+überschreiend. In gleicher Weise wurden wir einst auf der ähnlich
+gelegenen und ähnlich anmutenden Insel Capri empfangen. Die meiste
+Reklame machte ein Boot mit einem „gläsernen Boden“, unter dem ständig
+ein nackter, brauner Schwimmer einherschwamm, um des Bootes und des
+Wassers Durchsichtigkeit zu zeigen! Auch ein Sport! Wieder andere
+tauchten unaufhörlich nach ins Wasser geworfenen Fünfcentstücken, deren
+sie in wenigen Minuten mehrere schwimmend und tauchend heraufholten und
+triumphierend und wie Seehunde triefend auf die nasse Ruderbank ihres
+Bootes zum Beweis und als Lohn niederlegten. Als wir endlich auch noch
+die prüfenden hämischen Blicke der Badegäste am Landungssteg passiert
+hatten, hielten wieder die ~porters~, Agenten und Hotelburschen uns
+mit Geschrei und Anpreisungen auf; eine resolute Wirtsfrau aber
+übertönte sie alle, indem sie mit einer mächtigen Klingel in der Hand
+laut schellend vor ihrem ~lunchroom~ auf- und ablief, bis sie ihn voll
+Ankömmlinge hatte. Und Appetit hatte die Seefahrt ja gemacht ...
+
+Dann erging man sich in den wundervollen sattgrünen und sonnigen
+Anlagen am Strande des Seebades, wo sich Hotel an Hotel und Villa
+an Villa reihte. Weit ins Innere begab ich mich nicht. Ich fand es
+am schönsten, mich an einer etwas abgelegenen und einsamen Stelle
+am Strande zu lagern und als freies Kind der Natur dem Spiel der
+ankommenden sich brechenden Wellen zuzuschauen und dem heiseren Bellen
+der plumpen Seelöwen zu lauschen, die nicht weit vom Strand auf
+wasserumspülten Klippen ihr lustiges Spiel trieben, bald mit ihrem
+glatten, geschmeidigen Körper ins Wasser gleitend, bald triefend wieder
+aufs Trockene emportauchend.
+
+Wie warm schien die Sonne auf Sand und Steine! Einige Möwen kreisten zu
+meinen Häupten. Ein ganz milder Wind wehte von der See herein: Leicht
+und klar umplätscherte mich das Wasser des Ozeans. Die Wiese herab
+blühten unzählige weiß und lila leuchtende Blümlein. Es waren einzige
+Stunden der Erholung und des Unberührtseins von Welt und Menschen.
+Nach einer Stunde kam den Weg an den Felsen entlang als einziger
+Mensch eine alte weißhaarige Dame geschritten, die ihren üblichen
+Nachmittagsspaziergang machte. Eine schwarze Dienerin trug und hielt
+ihr den Sonnenschirm über den Kopf. Wie sie mich plötzlich von ferne
+am Wasser im warmen Sand ruhend erblickte, kehrt sie erschreckt um.
+Die Taucher und der Glasbodenschwimmer lagen derweilen auch in ihren
+Bademänteln, auf neue „Arbeit“ wartend, am Strand unter den Hotels.
+Der „Cobrillo“ rauchte friedlich aus seinem Kamin in der Bucht.
+Die Seelöwen bellten immer noch, und die resolute Wirtin hatte ihr
+lautes Schellen eingestellt. Welche paradiesische Ruhe hier! Welche
+nervenstärkende Stille und wohlige Wärme an diesem glücklichen Strande!
+Und wie lockend mußte es sein, diese paradiesische Insel wie ein
+Robinson nach allen Richtungen zu durchstreifen ...
+
+Um dreieinhalb Uhr rief der Cobrillo mit seiner Sirene wieder seine
+Fahrgäste zusammen, auf daß man noch zum ~dinner~ abends nach Los
+Angeles kommt. Vier Stunden Aufenthalt waren mir wie ein Tag auf
+diesem paradiesischen Eiland vorgekommen. Die See war jetzt ganz
+ruhig geworden. Die ersten Fahrgäste überschritten schon wieder den
+schwankenden Landungssteg und suchten sich gewitzigt von der ersten
+Fahrt die Mittelplätze beim Schornstein aus. Die Taucher gingen wieder
+an ihre „Arbeit“. Der nackte, braune Glasbodenschwimmer ruderte sein
+Boot hinaus. Da mußte auch ich meinen Strandwinkel verlassen und warf
+mich wieder in die Tracht des wohlbekleideten Kulturmenschen. Ach, daß
+das Schönste immer am schnellsten vorübergeht! Und es bleibt allein die
+Erinnerung ...
+
+Bei völlig ruhiger See und vollem Sonnenschein stachen wir wieder auf
+dem kleinen Dampfer in See, dem Kontinent entgegen. Die Berge hoben
+sich in unserem Rücken wieder höher und höher. Eine alte spanische
+Missionskirche über dem Hotel Metropole und Grand View winkte uns den
+Abschied zu. Die Möwen flogen auch wieder mit uns heimwärts. Und die
+Hochzeitspärchen an Bord hatten bei der Rückfahrt keine ungewollten
+Umarmungen mehr zu befürchten ...
+
+Um sechs Uhr liefen wir wieder in San Pedro ein. In der Abenddämmerung
+rasten wir die 23 Meilen nach Los Angeles mit der elektrischen
+Schnellbahn in 40 Minuten zurück. Und als ich wieder nach diesem
+eindrucksvollen Ausflug die „Main Street“ durchschritt, brannten
+bereits die vornehm wirkenden Glaskandelaber in den Hauptstraßen
+von Los Angeles und machten sie zu wahren Wandelgängen unter freiem
+südlichem Himmel. Alles Volk, besonders die flirtende Jugend, zog
+die Hauptstraße unter den brennenden Kandelabern auf und ab, eine
+allgemeine südliche Mode wie in den Hauptstädten Italiens und Spaniens,
+wo man sich erst abends recht aus den Häusern wagt. Mein Abendessen
+nahm ich bescheiden in einem sogenannten „~help-yourself~“-Restaurant.
+Da tritt man zu den langen Büfettreihen selbst mit einem Tablett in
+der Hand, nimmt sich Teller, Messer, Löffel, Gabel und stellt sich
+selbst aufs Tablett an Speisen, die ständig am Büfett bereitstehen,
+was man begehrt. Bei dem letzten Büfettfräulein erhält man dann einen
+Zettel, auf dem sie alles blitzschnell addierend, angibt, was das
+selbstgewählte ~Menu~ kostet. Der Preis wird beim Ausgang an einer
+Kasse entrichtet. Äußerst praktisch wie alles in Amerika und zugleich
+auch recht appetitanreizend! Außerdem spart man die Ausgabe für
+Getränke und Bedienung, die ja bei uns oft noch ein Drittel Aufschlag
+bedeuten. Man ist auch schneller fertig, macht anderen Platz, wischt
+den Mund, stellt das abgegessene Geschirr zur Seite, bezahlt und geht,
+denn „~time is money~“. Ja hier gab es sogar noch Abendmusik gratis
+dazu!
+
+Dann ging ich auch einmal in ein „~show~“, ein einfaches Theater, um
+den Abend nützlich zu verbringen. Es hatte drei Ränge, die an fast
+gefängniskahlen Wänden umliefen. Der Vorhang war, ehe er aufging --
+echt amerikanisch! -- mit Reklamen bedeckt! Das Theater saß ziemlich
+voll junger Leute, Weiße und auch Chinesen! Der Eintrittspreis war
+nicht gering. Das Spiel dauerte zweieinhalb Stunden. Aber es wurde
+dabei geraucht; andere aßen Orangen und Bananen. Die Schalen warf man
+einfach unter die Sitze! Erst kamen allerlei recht üppige Balletts,
+die anscheinend besonders den anwesenden Halbwüchsigen gefielen,
+dann trat eine tauchende Dame in schwarzem Trikot auf, zuletzt kam
+ein amerikanisches Drama: „Die City“, in dem die Gefahren und die
+schließliche Verzweiflung eines von der City Zermalmten geschildert
+wurden. Die Taucherin sprang und hüpfte und schwamm wie ein Aal; behend
+und schlank war sie wie ein Reh. In dem Drama wurde eine wohlhabende
+Bankierfamilie einer Landstadt geschildert: Sohn und Tochter streben
+nach Neuyork. Der konservative Vater warnt vergeblich. Ein natürlicher
+Sohn desselben fordert Geld von ihm und droht ihm im Weigerungsfall
+mit Erschießen. Das erregt den Alten so, daß er darüber stirbt, nicht
+ohne seinem rechten Sohn den Grund offenbart zu haben. Zehn Jahre
+später steht dieser vor seiner Wahl zum Gouverneur in Neuyork. Seinen
+Halbbruder hat er zu seinem Sekretär gemacht. Seine Schwester will
+sich von ihrem trunksüchtigen Mann scheiden lassen, weil sie ihren
+Halbbruder liebt, ohne um sein Geheimnis zu wissen. Ihr echter Bruder
+offenbart ihr, daß ihre mit ihm bereits heimlich geschlossene Ehe
+nichtig ist. Daraufhin erschießt verzweifelt der Halbbruder die Gattin,
+die seine Schwester ist. Er wird verhaftet und dem Gericht übergeben.
+Die Sünde der Väter rächt sich an den Kindern! Der Held des Stückes
+schließt: „Nicht die City verdirbt den Menschen, sondern der Mensch die
+City. Die City offenbart nur, wer sich in ihr zu behaupten vermag und
+wer nicht.“ Man ging ergriffen. Draußen umwogte einen die wirkliche
+„City“ mit ihrer Dollarjagd und ihren Versuchungen. Welch erschütternde
+Bekenntnisse hatten mir Freunde anvertraut! Es menschelt überall sehr
+und immer in gleicher Weise in der Welt, aber im ganzen scheint man in
+Amerika schamhafter und „moralischer“ zu sein, wenn auch oft prüder.
+Die Witzblätter dürfen nicht so offen geil wie zuweilen bei uns sein.
+Die Prohibition hat sicher auch hier ihre unschätzbaren Verdienste ...
+
+ * * * * *
+
+Am anderen Tag hoffte ich, Kalifornien, das allein so groß ist
+wie unser jetziges Deutsches Reich, zu durchqueren. Die Luftlinie
+von Los Angeles bis Frisko mißt etwa 600 ~km~! Die Gesamtlänge
+des amerikanischen Kaliforniens beträgt aber etwa 1500 ~km~ oder
+die Entfernung von Memel bis Basel! Freilich beträgt die Breite
+durchschnittlich nur 300-400 ~km~. Danach kann man sich ungefähr
+von seiner Größe eine Vorstellung machen. Die Einwohnerzahl beträgt
+freilich noch nicht zwei Millionen, von denen die reichliche Hälfte in
+den beiden wetteifernden Großstädten wohnt! Man fährt von Los Angeles
+15-16 Stunden mit dem Expreß nach San Franzisko. Ich teilte mir deshalb
+diese Strecke lieber, um unterwegs noch allerlei mitzunehmen.
+
+Volles sonniges, warmes Wetter begünstigte die Fahrt. Man bedauerte
+es fast, wieder in den Pullmann steigen zu müssen. Draußen lagen die
+pinienbewachsenen Berge im hellsten Sonnenschein; ihnen zu Füßen
+reifende Getreidefelder im April! Viermal wird hier im Jahr Gras
+geschnitten und Heu gemacht!
+
+Von der Fruchtbarkeit und Üppigkeit Kaliforniens machen wir uns
+in Deutschland ebensowenig eine zureichende Vorstellung wie von
+der Wüstenhaftigkeit des Felsengebirges und der Unendlichkeit der
+Mississippiebenen. Ich fuhr mit der „~Line of the thousand wonders~“
+(Linie der 1000 Wunder) und war auf die „Wunder“ wirklich gespannt. Wie
+in Italien schimmerten von allen Höhen weißgestrichene Häuschen. Durch
+die Felder zogen Pflüge, von acht Maultieren gezogen. Rechts grüßten
+die Berge, links dehnten sich die strotzenden Felder, ganz leicht blau
+drüben lockte die Linie des Ozeans! Ganze Haine voller Oliven, als ob
+es graue Weiden wären, flogen vorüber.
+
+Neben mir sitzt, wie ich bald herausbekomme, ein alter
+Schleswig-Holsteiner, der als Junge in den fünfziger Jahren des
+19. Jahrhunderts schon herübergekommen war. Jetzt war er gut ein
+Fünfundsiebziger geworden! Er war nicht zurückgekehrt, weil er Preußen
+haßte und nicht beim Militär dienen wollte. Da ich ständig mit
+Notizbuch und Bleistift in der Hand zum Wagenfenster hinausstarrte,
+fragte er mich, ob ich Land kaufen wollte. Daß man bloß zum Vergnügen
+und zum Studium durch die ganze Union reisen könne, begriff er nicht,
+am allerwenigsten aber, daß ich wieder in die alte Heimat zurückwollte.
+Spöttisch fragte er mich -- die typische Frage alter verbissener
+Deutschamerikaner -- ob es jetzt in Deutschland auch Straßenbahnen,
+elektrisches Licht und Dampfheizung gebe, oder ob wir noch
+Petroleumlampen brennten und mit der Postkutsche führen? Er war nie
+wieder, verbittert wie er war, in die Heimat zurückgekehrt und konnte
+sich kaum vorstellen, daß auch bei uns jetzt modernes Leben herrschte.
+Vielleicht überzeugt ihn unser Zeppelin ~Z III~, falls er ihn noch
+erlebte, wenn er als „Los Angeles“ die „Stadt der Engel“ besucht.
+
+Bald trat die Bahnlinie ganz dicht und höchst malerisch an den Ozean
+heran. Die felsigen Berge ließen nun kaum noch Raum für ihre Trasse.
+160 ~km~ lang fuhren wir an der kalifornischen „Riviera“ hin, die in
+der Tat der italienischen und französischen nichts nachgibt. Drüben
+über dem St. Barbara-Kanal sah man die felsige Insel Santa Cruz, die
+Hänge der Berge über und über mit Blumen übersät, als herrsche hier
+ewiger Frühling. Schäumend brachen sich die anrollenden Wogen des
+Ozeans an der Steilküste wie in Rapallo oder Nervi. Auf hoher See zog
+ein Dampfer mit langer Rauchfahne. War es der „President“ von gestern
+aus San Pedro? Wo sich das Land wieder ein wenig öffnete, zeigten
+sich goldgelbe Senffelder, in denen braune Spanier arbeiteten. Von
+ihnen stammt die Landbevölkerung vielfach besonders um die alten Sitze
+der spanisch-mexikanischen Missionen herum ab. Dann sah man wieder
+Gummibäume, Eichen, Oliven und weite Weidetriften. Und so oft die Bahn
+stieg, weiteste Aussicht über den blauen Ozean! Man wurde die Illusion
+nicht los, als ob man etwa zwischen Pisa und Genua fahre. Gelb und
+blau sind die Meeresabhänge in unbeschreiblich prächtigem Blumenflor.
+Es waren wirklich die „~thousand wonders~“ keine Phrase! Dann drängten
+uns mächtige Dünen vom Meer ab. Asphalt- und Petroleumquellen an und in
+demselben mit den die Landschaft entsprechend verunzierenden Essen und
+Fördertürmen tauchten auf ...
+
+[Illustration: ~SANTA BARBARA~
+
+~Alte spanische Franziskaner-Mission~]
+
+Wir hielten in Santa Barbara, 100 Meilen von Los Angeles, dem
+amerikanischen „Mentone“, einem der Glanzpunkte der kalifornischen
+Riviera, zugleich einem der mildesten und geschütztesten
+Winterkurorte der Union, wo man keinen Winter kennt und auch keinen
+unerträglich heißen Sommer, eingebettet in Rosen und überragt von
+der alten historischen und höchst malerischen 1786 gegründeten
+Franziskanermission des berühmten Padre Junipero Serra. Die Bilder
+des Klostergartens mit seinem Kreuzgang, dem Refektorium, der
+weißgestrichenen Kirche und den braunen Kutten der Franziskaner
+zauberten ein volles Stück Mittelalter mitten in das modernste Land der
+Erde. Noch hatte kein Erdbeben es verwüstet.
+
+Weiter geht es an der Riviera entlang in 100 Meilen nach San Luis
+Obispo in einem weiten Wiesental. Es wird allmählich warm. In einem
+von der Mittagssonne blendenden Steinbruch arbeiten halbnackte,
+braunschwarz gebrannte Arbeiter. Denken wir im Anblick der Kapitols,
+~state-houses~ und ~skyscrapers~ immer daran, wer ihre weißen Blöcke
+gebrochen und ihre Quadern behauen hat? Wieviel Menschenschweiß klebt
+doch an jedem Stein der Großstadt! Die Bahn steigt in mächtigen Kehren
+vom Ozean ab über das Gebirge der Luciaberge 400 ~m~ hoch durch sieben
+mit Holzplanken gestützte und ausgebaute Tunnels hinüber in das
+Salinastal, wo in weiten wegelosen Eichenhainen halbwilde Rinderherden
+fröhlich ihr Leben genießen. Ab und zu tutet die Lokomotive mächtig in
+die Welt hinaus, um Gegenzüge zu warnen, oder klingelt, um Wanderer
+von dem Schienenweg zu scheuchen. Die weitesten Strecken liegen hier
+noch unangebaut! Der alte Schleswig-Holsteiner hatte nicht so unrecht.
+Hier könnte man gut nach Land ausschauen. Was könnte hier aus den
+Weidetriften noch für ein Etschtal werden!
+
+Wie aus einem Kinderspielzeugkasten tauchten weißgestrichene Landhäuser
+zwischen dunklem Grün auf. Kleine, schwarze, scheinbar unansehnliche
+Schweine, halb verwildert, tummeln sich an einem kleinen Sumpf. In
+Salinas steige ich aus, um Monterey, die älteste Stadt Kaliforniens,
+einst vor San Franzisko und Los Angeles des Landes Hauptstadt,
+aufzusuchen. Heute ist Monterey ein ganz stilles Landstädtchen von kaum
+2000 Einwohnern an der entzückenden, paradiesischen Montereybucht. Ein
+Wagen bringt uns auf herrlicher Straße zu einem der komfortabelsten und
+prächtigsten Hotels der Welt, Hotel del Monte. Seine Gärten und Parks
+sind weltberühmt, sie bergen in sich alle Pflanzenwunder Arizonas und
+Kaliforniens zugleich. Man wandelt unter Palmen und riesigen Kakteen,
+in Alleen von Rosen und Eukalyptus, unter immergrünen Steineichen,
+Pinien und Zypressen. Es dunkelte schon, als wir aus der Heide
+wieder ans Meer kamen. Geheimnisvoll tauchte wieder der Ozean, unser
+Begleiter, auf. Einsame Vögel kreisten am Abendhimmel. Schwarz zogen
+sich im Dunkel die Dünen am Strande hin. Letzte Lichter tanzten auf dem
+Wasser ...
+
+Im kleinen Städtchen mit seinen alten, krummen und primitiven Straßen,
+deren Häuser meist nur ein- oder zweistöckig sind wie in Santa
+Fé, fühlt man sich bald nach Mexiko und bald nach China versetzt.
+Chinesischen Wäschern und Fischern begegnet man dort ebenso zahlreich
+wie den spitzhütigen Mexikanern. Und das Bild wird noch bunter durch
+die Uniformen der zahlreichen Soldaten des „~presidio~“. Abends
+promenierten sie alle durcheinander an den wenigen Läden, den einfachen
+~dairies~, ~drug-stores~ und ~bars~ entlang, die aber nicht viel mehr
+als erleuchtete hölzerne Buden waren. Besonders viele Aushängeschilder,
+mit denen zum Eintritt in das Heer aufgefordert wurde, sah man hier:
+
+ „~U. S. Army. Young men wanted! Good pay! No expenses! Unusual
+ opportunity for travel, education and advancement!~“[25]
+
+Nach einem Abendimbiß trete ich in ein Lokal der „Bethlehem-Mission“,
+in der gerade eine „Erweckungsversammlung“ stattfindet. Sie verläuft
+ganz heilsarmeemäßig. Zwar ist sie nur halbgefüllt mit einfachen
+Frauen und Männern; auch Soldaten sind da. Eine Prediger+in+, eine
+verhältnismäßig noch junge Dame, steht am Pult und redet unter Singen
+und Händeklatschen, wozu sie auch bei Haupt- und Kraftstellen die
+Anwesenden animiert, von der Notwendigkeit der sofortigen Bekehrung.
+Die Soldaten hörten ganz andächtig zu. Zur Bußbank kam freilich
+keiner. Da ich es nicht über mich brachte, meine religiösen Gefühle
+rhythmisch mit anderen zusammenzusprechen und unter Händeklatschen
+den Takt angebend zu begleiten, entfernte ich mich recht bald wieder.
+Die geistige Kultur, auch die religiöse, erschien mir zuweilen drüben
+noch recht primitiv! Vielleicht hätte die Predigerin auf Neger und
+Navajo-Indianer mehr Eindruck gemacht als auf mich. Freilich war ihr
+Eifer und sittlicher Ernst höchst anerkennenswert. Man stelle es
+sich etwa so vor: „~God is love~“ (klatsch, klatsch!) -- „halleluja,
+halleluja, halleluja!“ (klatsch, klatsch!) usw. Das lag mir noch lange,
+aber nicht gerade angenehm im Ohr. Hier wirkt mehr das Exerzitium, die
+Routine und die Suggestion als freie Überzeugung. So preßt und knetet
+man Seelen, aber gewinnt sie nicht.
+
+Ein herrlicher Morgen brach anderen Tags an, wie es der vorige
+war am Santa Barbara-Kanal und der kalifornischen Riviera.
+Strahlendes Blau spannte sich über dem blendend weißgelben Strand
+und den sanft anrollenden Wogen mit ihrem ewigen Anprallen und
+Zurückschlürfen. Die chinesischen Fischer wuschen schon ihre Netze,
+als ich mich auf die Wanderung begab, den herrlichen und berühmten
+~seventeen-miles-drive~[26] entlang zu gehen. Bei Pazifik Grove nahm
+mich ein kühler schattenspendender Fichtenwald auf, in Amerika eine
+Seltenheit. Mir gingen Schillers Zeilen im Kopfe um:
+
+ „Und in Poseidons Fichtenhain,
+ Tret’ ich mit frommem Schauder ein ...“
+
+Immer üppiger wurde der Forst. Auch hier hätten Räuber kommen können
+und den deutschen Götterfreund erschlagen. Ob mich auch Kraniche
+oder die Möwen der Monterey-Bucht gerächt hätten? Ich bin die
+komfortable Straße nicht ganz entlang gewandert, denn 17 Meilen wäre
+eine Tagesleistung gewesen, und ich wollte den Nachmittag noch nach
+San Franzisko. So strebte ich aus dem Waldesdickicht nach einiger
+Zeit wieder heraus und quer hinüber nach dem Strand des Pazifik. Denn
+der Ozean hatte es mir nun einmal angetan, so oft ich seiner habhaft
+wurde, ob es auf Coney Island oder an der Battery in Neuyork, in
+Shirley Point bei Boston oder an der Wasserfront in Chikago, in San
+Pedro oder auf Santa Catalina war. Das Meer übt seine magische Gewalt
+über den Menschen. Fast noch mehr als das Hochgebirge hat es etwas
+Feierlich-Erhabenes und Grenzenloses. Damit wird es zum Auslöser der
+größten Sehnsucht in uns. Am Meer umspannen wir mit der Phantasie
+gleichsam das Ganze der Welt: Was liegt da drüben hinter der letzten
+Wasserlinie? Es zieht uns mit seinen ewig gleichen Wellen weiter und
+weiter in die Welt hinaus. So lockte es alle Seehelden, daß sie Leben
+und Wohlfahrt in die Schanze schlugen und sich auf gebrechlichem
+Fahrzeug der ungewissen Weite anvertrauten, um neues Land zu erobern.
+Aber das Meer übt auch eine wunderbar gemütheilende Wirkung. Nicht bloß
+seine reine salzige Luft, sondern ebenso seine Weite und Größe. Sie
+macht alles Kleine unseres Lebens klein und alles Große groß:
+
+ Im Grenzenlosen sich zu finden
+ Wird gern das einzelne verschwinden,
+ Da löst sich aller Überdruß.
+ Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
+ Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen,
+ Sich aufzugeben ist Genuß.
+
+Diese Goetheworte durchlebte ich, als ich wieder am Strande lag, mich
+ganz der großen Natur hinzugeben. Ich wollte ja auch nicht einen Rekord
+des Rasens durch einen Kontinent aufstellen, sondern zugleich mitten in
+allem Schauen und Lernen mich noch ein wenig selbst finden. Freilich
+war weder Boston noch Buffalo, weder Chikago oder sonst eine große
+Stadt erholsam, aber um so mehr der Tag am Grand Cañon, die Stunden
+auf Santa Catalina und nun an der prachtvollen Bucht des für Amerika
+uralten Städtchens Monterey in Kalifornien. Schon 1602 waren hier
+die Spanier gelandet, als es noch kein Neuyork noch Boston gab, und
+nannten die Siedlung, die sie schufen, nach dem damaligen Vizekönig von
+Mexiko, dem Grafen von „Monte Rey“. Und so blieb „Monterey“ Hauptstadt
+des Landes bis zur amerikanischen Besitzergreifung 1846, zweieinhalb
+Jahrhunderte lang, denn lange gab es weder ein San Franzisko noch
+ein Los Angeles! Dann aber mit dem plötzlichen fabelhaft schnellen
+Aufschwung dieser beiden Handels- und Hafenstädte versank Monterey in
+seinen Dornröschenschlaf, aus dem es wohl nie wieder erwachen wird. Nur
+die „Kurgäste“ und Globetrotter, die die Bucht, das Hotel del Monte
+und Pazifik Grove besuchen wollen und den „~seventeen-miles-drive~“
+unter viel Getute und Benzingestank entlang kutschieren, bringen etwas
+Leben und Geld in den stillen malerischen Erdenwinkel, der noch immer
+mit seinem alten Zollhaus, seinen alten Forts und seiner katholischen
+Missionskirche ungefähr ein Bild der Zustände vor zwei, ja fast drei
+Jahrhunderten zu bieten vermag.
+
+Da wo ich mich in den feinen weißen Sand der Bucht, noch fast zwei
+Stunden vom Städtchen, einwühlte, war niemand als die goldene Sonne,
+die so warm und wohlig die in Tropfen blinkende Haut entlang rieselte
+und so sanft trocknete. Einige dicke Algen lagen angespült neben mir
+am Strand, so dick und hart wie Schiffstaue oder Gummischläuche;
+von den Seelöwenfelsen hörte man das heisere Bellen der spielenden
+glatten Tiere. Nautische Signalglocken erklangen melodisch unter
+Wasser, die bei Nebel den Schiffer vor den Klippen warnen sollen;
+Pinguine watschelten behäbig mit ihren leuchtenden weißen Westen auf
+den Felsenkanten und erhoben ein mörderisches Geschrei, als ich ihnen
+ähnlich froh und frei in die sacht anrollenden Wogen entgegenschritt.
+Gibt es einen herrlicheren Naturgenuß, als wenn die goldene Sonne
+uns auf Brust und Schulter küßt, wenn die reine Ozeanwoge spritzend
+uns umspült und wenn nur blauer Himmel Dach unserer Zelle ist? Warum
+wird uns solch Glück so selten zuteil? Warum hüllen wir törichten
+Kulturmenschen uns auch im heißesten Sommer in so viel unnütze
+Kulturhäute? Wer vermag schneller und voller zu heilen als Licht, Luft
+und Sonne?
+
+Aber auch diese goldenen Stunden verrannen nur zu schnell. Ein paar
+Ruderboote nahten mit ächzenden Schlägen und scheuchten mich aus meinem
+sonnigen Bade. Auf der Düne lag das verlassene Wrack eines Segelbootes.
+Ein großer Dampfer zog am Horizont mit langer Rauchfahne vorüber. Kam
+er von Frisko und fuhr nach Los Angeles? Als ich mich angekleidet
+und wieder nach Monterey zurückkehrte, kam ich wieder an allerlei
+Fischerdörfern vorüber, wo die Chinamen ihren Fang sortierten, ihre
+Netze wuschen und mir recht erstaunt nachsahen. Auf einem Sandplatz
+übten die Soldaten ...
+
+ * * * * *
+
+Damit mußte ich der schönen Bucht von Monterey Lebewohl sagen. Ein
+Eilpersonenzug führte mich am Nachmittag nach San Franzisko. Mein
+meterlanges Rundreisebillett war nun allmählich schon recht klein
+geworden.
+
+Wieder ging es durch blühendes Obst- und Weingelände. Das scherte
+einige Gemütsmenschen im Wagen nicht, den Handkoffer auf den Knien
+als Tisch benutzend Skat zu spielen! Von der Kreuzung Pajaro ging es
+hinüber an den Santa Cruz-Bergen vorbei, die man auch in der Bucht von
+Monterey sich erheben sieht, in das Tal des Guadeloupe River. Wieder
+welch ein breites, schönes, wohlangebautes Tal! Etschtalerinnerungen!
+Die üblichen weißen Holzdörfchen mit ihren weiß angestrichenen
+Kirchlein erschienen.
+
+Golden stand die Abendsonne im Westen. Der ~brakeman~, d. h. der
+farbige Bremser oder Hilfsschaffner, schreit mechanisch die Stationen
+aus. Es steigen nur immer Leute zu, die „~to the city~“, nach „Frisko“
+wollen. Es ist, obwohl April, so warm wie bei uns im Juli! Bei
+Santa Cruz, am anderen Ende der Montereybucht, steht noch ein Rest
+vollkommen vorgeschichtlicher Urwälder, ein Hain von 20 Riesenbäumen
+der sogenannten „~big trees~“, die zum Teil einen Umfang von 21 ~m~ und
+einen Durchmesser von 7 ~m~ erreichen! Kaum sechs Männer können sie
+umspannen! Ihre Höhe mißt 100 ~m~ und darüber! Ihr Alter wird zum Teil
+bis auf 3000 Jahre geschätzt! Manche sind so mächtig, daß Wagen bequem
+durch sie hindurchfahren oder 12 bis 14 Personen auf ihrem Stumpf Platz
+haben können!
+
+Unser Zug eilte das Guadeloupetal hinab gen San José, an die Südspitze
+der 35 Meilen langen San Franzisko-Bai. Rechts hoch oben zeigte sich
+im Abendlicht scharf vom Himmel abhebend auf dem Mount Hamilton,
+der mit seinen 1354 ~m~ über der Bucht bald wie der Rigi über dem
+Vierwaldstätter See ragt, die berühmte Lick-Sternwarte wie ein weißer
+Punkt, eine der größten Sternwarten der Welt. Der Bürger James
+Lick hinterließ nämlich bei seinem Tode 1876 in San Franzisko ein
+Vermächtnis von 700000 Dollars zur Begründung einer Sternwarte. So
+wurde sie eine der ersten und bestausgestatteten der Welt. Die Linse
+des großen Refraktors hat heute einen Durchmesser von 100 ~cm~! James
+Lick selbst hat sich -- höchst originell -- im Fundament des Fernrohrs
+beisetzen lassen, so daß man also buchstäblich auf seinen Schultern
+stehend den Himmel beobachtet! Die Aussicht soll, wie sich denken
+läßt, überaus großartig sein, nicht weniger großartig als einer der
+unvergleichlichen Blicke durch das Rohr selbst.
+
+Bald tauchte auch links eine Merkwürdigkeit auf. Wieder eine
+echt amerikanische hochherzige Stiftung! So wie Rockefeller die
+gesamte Universität Chikago, eine der besten und großartigsten der
+Union, gestiftet und Carnegie fast jeder amerikanischen Stadt eine
+Volksbibliothek geschenkt hat, so hat nicht weit von der Station
+„Palo alto“, wiederum nach einem mächtigen Rotholzbaum so benannt,
+das Ehepaar Leland Stanford aus San Franzisko zum Gedächtnis an
+ihren einzigen früh verunglückten Sohn eine Universität mit einem
+Grundkapital von nicht weniger als 30 Millionen Dollars gestiftet; sie
+heißt daher „Leland-Stanford-Junior-Universität“. Man kann vor diesen
+großzügigen amerikanischen Stiftungen nicht Achtung genug haben. 1891
+wurde die Hochschule in prächtigster Umgebung und mit den prächtigsten
+und stilvollsten Gebäuden eröffnet. Man fühlt sich in ihren herrlichen
+Hallen und Gängen nach Athen zu Platos und Sokrates’ Zeiten versetzt.
+Das Gelände selbst gehörte einst dem Stifter und war ein über 3000 ~ha~
+großes Gestüt. Heute ergehen sich dort an 2000 Studenten, darunter
+Hunderte studierender Damen!
+
+Während unserer Weiterfahrt nahmen die Reklamen und die Besiedlung
+ständig zu, ein Beweis, daß wir uns einer Großstadt näherten ...
+Um acht Uhr mit Einbruch der Dunkelheit waren wir nach 137 Meilen
+Fahrt in San Franzisko, der „Stadt des Erdbebens“! Das war fast das
+einzige Konkrete, was ich von Frisko bis dahin wußte, und daß es
+der amerikanische Überfahrtshafen nach Japan ist, auch daß es am
+sogenannten „Goldenen Tor“ liegt.
+
+Ich trat aus dem Bahnhof. Das erste, was mir im Schein der Bogenlampen
+in der Stadt auffiel, war noch stark unebenes Pflaster und allerlei
+Unebenheiten in der Fahrbahn. Ja, manchmal waren ganze Buckel auf
+dem Bürgersteig, da und dort nur notdürftig mit Brettern und Steinen
+Löcher im Fahrdamm zugeflickt. Das waren die Spuren des Erdbebens! Zum
+ersten Male im Leben sah ich mit eigenen Augen seine Wirkungen und
+Verwüstungen. Aber sie waren doch noch viel größer als ich geahnt
+hatte ...
+
+Nachdem unschöne Viertel mit allerlei ~bars~ und ~shows~ durchschritten
+waren, wo des Abends hier ein Heilsarmeesoldat und dort eine Negerfrau
+und hier sogar ein Chinese auf der Straße predigte -- ausgerechnet in
+der einstigen Stadt der Goldsucher, Abenteurer, Verbrecher und der
+schlimmsten Korruption -- bog ich in die glänzend erleuchtete und von
+Menschen nur so wimmelnde Market Street ein, wo sich alles erging wie
+in Los Angeles unter den erleuchteten Kandelabern der Mainstreet.
+Mächtige Geschäftshäuser, Banken und Hotels erhoben sich da. Nach der
+Stille der Monterybucht und dem Idyll auf Santa Catalina, den Santa
+Cruz-Bergen und dem Tal des Guadeloupe River umlärmte mich hier wieder
+die typische Großstadt, ja Weltstadt. Wenn auch San Franzisko Neuyork
+an Größe noch weit nachsteht -- es hat nur ein Zehntel seiner Einwohner
+-- so ist es doch mit seinem weltmännischen Gebaren das Neuyork des
+Westens. Schaut man von Neuyork nach Europa, so schaut man von hier
+nach China und Japan. Der Blick ist beide Male gleich groß und weit
+übers Weltmeer gerichtet. Freilich trennt von Yokohama beinahe die
+doppelte Zeit und Strecke als wie von Southampton ...
+
+Aus dem Bezirk der blendenden Lichtreklame, der ~shows~ und ~moving
+pictures~ strebte ich quartiersuchend in stillere Straßen. Bald stand
+ich fast völlig im Dunkeln, wo es nur noch bergauf und bergab ging.
+Rollende Drahtseilbahnen strebten zu steilen Hügeln hinauf, auf denen
+San Franzisko gebaut ist. Mein getreuer Bädeker, der noch im Jahre des
+Erdbebens erschienen war, ließ mich jetzt ziemlich grausam im Stich!
+Teils waren die Straßen, die ich suchte, vom Erdboden verschwunden,
+teils waren sie neu- oder anders angelegt. An ganzen Vierteln kam
+ich vorbei, wo Block an Block noch eine Wüstenei war. Den vollen
+Umfang der fast unvorstellbaren Katastrophe aber übersah ich erst im
+Hellen am anderen Tage. Und doch hatte die Energie und die Tatkraft
+der Amerikaner schon so viel wieder aufgebaut. Aber stärker noch als
+das Erdbeben hatte wie immer das ausgebrochene Feuer gewütet, das
+nicht zu löschen war, weil mit den entzündeten Gasrohren auch die
+Wasserleitungsrohre zerborsten waren und kein Wasser zum Löschen
+hergaben. Die Einwohnerschaft war in die Parks geflüchtet und mußte
+Häuser und Besitz ihrem furchtbaren Schicksal überlassen ...
+
+Als ich schließlich in einem sehr sauberen und ordentlichen Privatlogis
+im Bett lag, konnte ich noch lange keinen Schlaf finden. Immer
+war mir’s, als bewege sich der Fußboden und das Bett wanke, denn
+zu unheimlich war der erste Eindruck all der Bodenerhebungen und
+geflickten Straßenstellen und der zerstörten Stadtviertel im Dunkeln
+auf mich als Fremdling gewesen ...
+
+Anderen Tages, als die Sonne schien, war es mir fast wie eine
+Beruhigung. Das Haus stand noch fest, auch die Stadt lag noch
+ruhig wie tags zuvor. Ich bestieg einen der echt amerikanischen
+„~observation-cars~“, der Stadtbesichtigungsautomobile, die ja auch zu
+uns herübergekommen sind, und ließ mich mit einer ganzen Schar auf den
+amphitheatralisch angeordneten Sitzen durch die Stadt fahren. Vorn
+stand der Ausrufer mit dem Schalltrichter, der uns genau erklärte, wo
+und wie das Feuer ausbrach, und zeigte, wie weit es um sich gegriffen
+hatte. Man sah noch immer deutlich die Feuerlinie und die Stellen,
+wo es zum Stillstand gekommen war. Gerade das Zentrum der Stadt war
+heimgesucht worden; die äußeren Wohnviertel blieben verschont. Aber
+keineswegs waren alle Wolkenkratzer zuerst eingestürzt. Im Gegenteil,
+manche hatten gerade dank ihrer festen Konstruktion aus Eisen und Beton
+standgehalten. Aber das Stadthaus, die prunkvolle kuppelgeschmückte
+~city-hall~ war trotz ihrer sechs Millionen Dollar Baukosten in 20
+Sekunden ein Opfer ihrer zum Teil betrügerischen Konstruktion geworden.
+Denn sie stammte noch aus der Zeit der Korruptionswirtschaft. Nach dem
+„Feuer“ -- davon spricht man in der Stadt selbst viel mehr als von dem
+„Erdbeben“, wovon man Stöße wohl öfter verspürt, ohne sie sonderlich
+zu achten -- baute man das Geschäftszentrum zuerst in eingeschossigen
+Baracken und Holzgeschäftsbuden notdürftig wieder auf und es hieß:
+„~business as usual~“. Aber bald begann die Periode des völligen
+Wiederaufbaus ...
+
+Geradezu ungeheuer war der Ausblick auf die Zerstörung im ganzen. So
+furchtbar hatte ich es mir nicht gedacht![27]
+
+Allmählich fuhr uns das Besichtigungsauto aus der Stadt heraus
+-- die wie immer die amerikanischen Großstädte außer Hotels und
+Geschäftshäusern sonst wenig Originelles und Bemerkenswertes bietet
+-- zu dem berühmten Goldengatepark, der zwischen der Stadt und der
+Steilküste des offenen Ozeans liegt. Die Stadt selbst ist nicht
+unmittelbar am offenen Pazifik gebaut, sondern an der Bucht, die sich
+durch die etwa 1½ ~km~ breite Öffnung des „Goldenen Tors“ einzigartig
+10 ~km~ breit und bis 85 ~km~ lang ins Land hinein erstreckt. Sie
+erinnert an Konstantinopel und den Bosporus. Im Norden wird sie
+malerisch von dem fast 900 ~m~ hohen Mount Tamalpais und im Osten von
+der Schneekette der Sierra Nevada (über 4000 ~m~!) überragt. Von Süden
+schaut auf sie der Mount Hamilton mit der Lick-Sternwarte von fern
+hernieder. Ein herrliches Landschaftsbild, groß und glänzend in seinen
+Ausmaßen!
+
+Hatte der Ausrufer uns bisher unter anderem „~the largest
+apartement-store +in the world+~“ gezeigt, so hieß es jetzt „~the
+most beautiful park in the +world+~, ~the prettiest and largest
+tennis-lawns in the +world+~“. Am Golden Gate selbst wartete auf
+uns gar „~the largest salt-water-bath-house +in the world+~“. Je
+weiter man in Amerika nach Westen kommt, desto voller wird der Mund
+genommen und desto überzeugter ist man, das Größte und Beste von
+allem „+in der Welt+“ zu besitzen. Höchst spaßhaft war es für mich
+als Deutschen, als wir im Goldengatepark an einer Nachbildung von
+Rauchs Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal vorbeifuhren und der Ausrufer
+durch den Trichter uns anbrüllte: „~Mister Gois änd Mister Skill~
+(so ausgesprochen!!), ~two German poets!~“. Die anderen Amerikaner,
+Japaner, Engländer und was sonst da oben saß, nahm auch davon
+wohlgefällig Kenntnis wie von einem ~drug-store~ oder einem neuen Hotel.
+
+An den Felsen des einstigen stolzen „~Cliff-house~“, eines höchst
+komfortablen und aussichtsreichen, aber kürzlich auch durch Feuer
+zerstörten Strandhotels rollte der offene pazifische Ozean an. Ein
+dumpfes Brausen, in das sich wieder das heisere Bellen großer Scharen
+mächtiger Seelöwen mischte, die drüben auf den „~seal-rocks~“ ihr
+Wesen hatten. Leider war es etwas unsichtiges Wetter; aber um so
+geheimnisvoller rollten aus dem Nebel die mächtigen Wogen heran. Am
+Strande lagen viele einfache Familien mit Kind und Kegel und genossen
+hier ein billiges Sonntagvormittagsvergnügen. Nur flogen zu hunderten
+und tausenden ihre Butterbrotpapiere höchst malerisch am Strande
+herum! Einige Sandplastiker formten berühmte Köpfe wie Washington,
+Lincoln, Grant, Garfield, auch so mancher eine von der See mit ihrem
+Kind ans Land gespülte ertrunkene Frau, ja den berühmten Löwen aus dem
+Gletschergarten von Luzern höchst treffsicher und eigenartig aus dem
+Sand ... Aber der immer stärker einsetzende kühle und feuchte Nebel
+lud heute nicht zu allzulangem Verweilen ein. Merkwürdig, über dem
+Park und der Stadt schien die Sonne, aber vom Ozean heran kroch der
+Nebel, über dem das Haupt des Mount Tamalpais wie eine sagenhafte Insel
+schwamm ...
+
+ * * * * *
+
+Am Nachmittag setzte ich mit einer der großen und trefflichen Ferrys
+über die weite seeähnliche Fläche der blauen Bai hinüber nach Oakland,
+dem Brooklyn San Franziskos, der Stadt der schönen „Eichen“alleen,
+von denen die Stadt den Namen hat, um Berkeley, den Sitz der
+prachtvollen staatlichen Berkeley-Universität, zu besichtigen. Auf
+einem Gartenpavillon wehte eine deutsche Flagge -- wie das anheimelte!
+-- und auf der Straße hörte ich einen Mann ganz unverfälscht schwäbeln.
+Gern hätte ich auch den Mount Tamalpais bestiegen, aber in Berkeley
+hatte ich es übernommen, Verwandte meines guten Harvardfreundes W. zu
+besuchen. Ich hatte den Besuch auch nicht zu bereuen, denn die Tochter
+des Hauses, selbst Studentin, führte mich in der wundervoll in Parks
+und Gärten gelegenen Berkeley-Universität überall kundig umher. Durch
+die märchenhaftesten südlichen Haine von Sykomoren, Oliven, Palmen
+und Kakteen wandelten wir in sinnende wissenschaftliche Gespräche
+vertieft zu dem prächtigen, in griechischem Stil erbauten „Theater“,
+in dessen offenem Halbrund ein ausgezeichnetes auch überall sehr gut
+wahrnehmbares Sonntagskonzert gegeben wurde. Von den Parkhügeln aber
+ergoß sich ein bezaubernder Rückblick auf die weite blaue Bucht und
+die ferne Stadt ... Freund W.s Verwandte hätten mich gern gleich da
+behalten, und ich hätte gleich von Oakland die Weiterreise fortsetzen
+können, aber einmal hatte ich mein Gepäck nicht da, und dann gab
+es in Frisko noch manches andere zu sehen. Auch wollte ich die
+Gastfreundschaft völlig Unbekannter doch nicht zu sehr in Anspruch
+nehmen und fuhr noch vor Abend mit dem Fährboot wieder herüber.
+Schon die Fahrt lohnte sich! Mit voller Glut sank die Sonne über dem
+Goldenen Tor, es wahrhaft vergoldend, während sie früh über den hohen
+Schneehäuptern der Sierra Nevada heraufzusteigen pflegt. An den Molen
+und Bahnlinien blitzten die ersten Lichter auf ...
+
+Ich wollte von Frisko nicht abfahren, ohne daß ich auch seiner
+~chinatown~ einen Besuch abgestattet hätte. Den Abend pilgerte ich
+daher ein wenig in das Chinesenviertel der Stadt, das von etwa 10000
+Gelben bewohnt wird. (Mit dem Einwanderungsverbot hat ihre Zahl stark
+abgenommen. Sie war früher viel höher.) Man soll zwar abends nicht ohne
+Geheimpolizist sich dorthin begeben! Aber so wie ich mich in Santa Fé
+arglos ohne Weg und Steg auf einen Berg der Rockies begab, so bummelte
+ich auch hier des Abends gemächlich ~tutti solo~ in die ~chinatown~
+hinein. Was für ein enges und wimmelndes Leben herrschte da mit eigenen
+chinesischen Läden, Restaurants, Teestuben und kleinen primitiven
+Theatern! Die meisten der Gelben saßen allerdings mit ihren weiten
+schwarzen Blusen und Hosen, ihren Schlitzaugen, dem glattrasierten
+Schädel feiernd und pfeiferauchend auf Stühlchen in Pantoffeln vor
+ihren Häusern. Man sah in die offenen Läden, in die sonderbaren
+Apotheken und Werkstätten hinein. Frauen und Mädchen bügelten Wäsche;
+Schreiber schrieben Briefe ... alle aber blickten mir verwundert nach.
+In einem kleinen Basar kaufte ich mir ein paar chinesische Deckchen
+zum Andenken. Aber nirgends hatte ich den Eindruck, daß man hier
+einen eindringenden Europäer etwa umbringen wollte. Auch die Chinesen
+schienen mir im Grunde ein gutmütiges Völkchen zu sein wie die Neger
+und Indianer. Ja, sind nicht alle Menschen im Grunde gutmütig, wenn
+man sie nicht gerade reizt oder aufhetzt? In der ~chinatown~ traf ich
+aber auch Araber im weißen Turban und braune Hindus, auch massenhaft
+Japaner. In Frisko landen Schiffe aus aller Herren Länder; es ist
+wirklich eine Weltstadt. Der seltsamste Anblick aber war wohl ein
+Chinese -- in Heilsarmeeuniform! Man sieht, wie weltumspannend diese
+seltsame, aber so rührige und soziale „~army of salvation~“ ist!
+
+Anderen Tages früh stieg ich in der Stadt zum sogenannten
+„Telegraphenhügel“ hinauf, eine der höchsten und aussichtsreichsten
+Anhöhen Friskos. Von oben lag die erhaltene und zerstörte Stadt wie ein
+Riesenschachbrett vor mir, auf dem ein unartiges Riesenbaby sich ein
+Vergnügen daraus gemacht zu haben schien, Häuser umzustürzen. Von der
+Stadt schweifte der Blick zur immer aufs neue schönen blauen Bucht und
+zu dem Durchlaß des „Goldenen Tors“ mit dem Tamalpais im Hintergrund.
+Ich hätte ihn gar zu gern doch noch bestiegen -- aber woher zu allem
+die Zeit nehmen? So bin ich auch nicht mehr in den „versteinerten
+Forst“ bei Calistoga gekommen. Aber ist es nicht auch ratsam, sich
+auch noch etwas für den -- zweiten Besuch aufzusparen? Sonst fehlte ja
+jeglicher Anreiz und jede logische Begründung für ihn?!
+
+Dicht beim Telegraphenhügel war eine Negerkleinkinderschule, wo die
+putzigen kleinen Negermädchen und -knaben mit ihren breiten Stumpfnasen
+und schwarzkrausigen Wollköpfen wie andere Kinder sangen, spielten
+und lernten ... Nicht sehr weit davon stieß ich auf eine kleine
+protestantisch-italienische Kirche. Auf was man in amerikanischen
+Städten nicht alles stößt! Auch die alte spanische Missionskirche „~San
+Francisco de Dolores~“, 1776 erbaut, steht noch, die den Anfang des
+mexikanischen San Franzisko bildete, das noch 1850 nur 500 Einwohner
+hatte! 1847 wurde es von einem amerikanischen Kriegsschiff für die
+Union in Besitz genommen. So wurde der ferne Westen eher amerikanisch
+als die Territorien im Felsengebirge.
+
+Die den steilen Hügel hinabführende Kabelbahn brachte mich wieder
+hinab zum Hafen. Ein wimmelnder Obstmarkt hatte sich aufgetan! Was für
+Unmassen Orangen, Bananen, Spargeln wurden hier zu Bahn und Schiff
+verfrachtet! Dazu die Ausfuhr des feurigen kalifornischen Weins, den
+auch zuerst spanische Missionare aus Europa einführten. In der neueren
+Zeit pflanzten Deutsche dazu rheinischen Weißwein. Aus französischen
+Reben zog man bald auch den vorzüglichsten Bordeaux, Medoc, Portwein
+und Sherry. Die letzteren freilich südlicher um St. Barbara und Los
+Angeles.
+
+Frisko ist eine eigene Stadt! Viel Kirchtürme sieht man nicht, aber
+hier konnte einer, wie mir erzählt wurde, vom „~newsboy~“, einem armen
+auf der Straße Zeitungen verkaufenden Jungen bis zum Inhaber einer
+der größten Blätter sich emporschwingen. Freilich diese Hoch-Zeit der
+Gründungen ist längst vorüber; das Goldfieber ist längst erloschen.
+Und der Friscoman steht an Überlegsamkeit heute in nichts dem Neuyorker
+nach, ja er fühlt sich als sein westliches Gegenstück. Und Los Angeles
+ist geschlagen! Aber sage es ja nicht in +seinen+ Straßen!
+
+Nachmittags unternahm ich noch einmal eine aussichtsreiche Überfahrt
+mit dem Fährboot an den Fuß des Tamalpais am Rande des „Goldenen
+Tors“ nach dem ganz italienisch anmutenden Sausalito. Weißschimmernd
+leuchteten Oakland und Berkeley mit der Kalifornia-Universität herüber.
+Rings umher steile Felsenufer. In südlicher Vegetation versteckt baut
+sich das Villenstädtchen das felsige Ufer hinauf wie nur die alten
+Städtchen an den oberitalienischen Seen.
+
+Das Wetter war stets bei allem angenehm sommerlich warm, aber nie
+heiß, obwohl San Franzisko auf der geographischen Breite Palermos
+liegt! Doch nirgends fand ich trotz all der Naturschönheiten einen
+rechten Ruheplatz. Der Amerikaner braucht kein Ausruhen. Es fehlen die
+Bänke oft sogar in den Parks und an Aussichtspunkten. Man kennt kein
+stillsinnendes Naturgenießen. Auf den Bahnhöfen umbranden einen die
+Agenten, Schuhputzer und Kofferträger. Die ~bars~ und ~lunchrooms~
+sind nicht immer offen, Gartenwirtschaften gibt es in der ganzen Union
+nicht. Als Fremder ist man daher drüben richtig auf die Straße gesetzt.
+Ganz anders der Chinese -- den ich auch diesen Abend zum Abschied noch
+einmal aufsuchte; denn wann würde ich wohl einmal nach China kommen,
+zumal seit mein einziger treuer Studienfreund ~Dr.~ Moses Chiu, den
+ich noch von Halle her kannte, zu früh in seiner Heimat in Amoy hatte
+sterben müssen.
+
+Wie seelengemütlich saßen die gelben Zopfträger jetzt wieder vor und
+in ihren Häusern! Warum? Weil sie mit wenigem zufrieden und weil sie
+Kinder einer jahrtausendalten Kultur und Schulung sind. Ihr gerades
+Gegenteil ist der Yankee. Nie zufrieden mit dem Erreichten, ein steter
+rastloser Vorwärtser und ein Sohn der reinen Gegenwart. Wie behäbig,
+wie beleibt, wie runzelig neben ihm mancher Chinese, aber auch wie
+gutmütig aus den Augen schauend, so ungefähr wie eine blinzelnde Katze
+im Sonnenschein ... --
+
+Nun hieß es allmählich das noch immer halbmeterlange Zettelbillett +zur
+Rückfahrt+ stempeln lassen und Abschied nehmen vom Stillen Ozean. Es
+war mir ein bißchen weh ums Herz. Aber selbst ein Alexander der Große
+mußte aus Indien umkehren! Mit ihm konnte ich mich trösten, daß es
+jetzt für mich nicht gleich noch eine Erdhälfte zu durchqueren gab!
+Ich hätte ja fürs Leben gern jetzt einen der unter Dampf liegenden
+Japansteamer bestiegen und wäre über Yokohama, Hongkong, Kalkutta
+oder Wladiwostok, Moskau heimgereist, aber was hätten sie in Harvard
+gesagt, so ohne Abschied auf und davon zu gehen! Und auch auf der
+Rückfahrt durch die Union würde es ja noch manches zu sehen geben: Die
+Salzseestadt, die Wüsten Nevadas, den Pikes Peak bei Denver, Pittsburg,
+Washington, Baltimore, Philadelphia ...
+
+So setzte ich zum dritten Male abends neun Uhr über die weite Bai.
+Die Lichter der Stadt funkelten im Wasser. In Oakland stieg ich zehn
+Uhr abends in den bereitstehenden Chikagoexpreß. Der Schlafwagen
+war international überfüllt: Auch Japaner, auch Damen ... Aber ich
+hatte mein Oberbett fest und zeitig bestellt und ließ es mir auch
+nicht wieder rauben, obwohl nicht alle unterkamen. Wir setzten uns in
+Bewegung. Bald lag man wieder oben und rollte durch die Nacht. -- -- --
+
+Um Mitternacht passierten wir Sacramento, die eigentliche
+Regierungshauptstadt des ganzen Staates Kalifornien mit einem
+gebieterisch ausschauenden Staatskapitol inmitten herrlichster Anlagen,
+nach fast 90 Meilen Fahrt und dem Überqueren ausgedehnter Sumpfgegenden
+und erneutem Übersetzen über einen Buchtarm. Die Bahnlinie
+überschreitet darauf den Sacramentofluß und sein breites Tal und keucht
+dann in mächtigen Windungen stundenlang zu den Pässen der Sierra
+Nevada hinauf. Es wurde nun eine richtige Alpenfahrt wie über den St.
+Gotthard, nur doppelt so hoch! Schade, daß das nächtliche Dunkel uns
+die zauberischsten Rückblicke auf die San Franziskobucht verwehrte ...
+
+[Illustration: ~SAN FRANCISCO~
+
+~Das Geschäftsviertel nach dem Erdbeben~]
+
+[Illustration: ~SAN FRANCISCO~
+
+~Abbruch nach dem Erdbeben~]
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 25: Amerikanische Armee. Junge Leute gesucht. Gute Bezahlung!
+Keine Ausgaben! Ungewöhnliche günstige Gelegenheit für Reisen,
+Ausbildung und Beförderung!]
+
+[Footnote 26: 17 Meilen-Fahrweg.]
+
+[Footnote 27: Der Leser kann sich die Zerstörung gar nicht groß genug
+vorstellen, sie ist nur mit der Niederlegung und Beschießung ganzer
+Städte im Weltkrieg annähernd zu vergleichen.]
+
+
+
+
+Am Großen Salzsee und in Kolorado.
+
+
+Am Abend waren wir von der subtropischen Küste des Stillen Ozeans
+weggefahren, am Morgen wachten wir nach völliger Verwandlung in Höhe
+von 2000 ~m~ in prächtigster Alpenschneelandschaft der Sierra Nevada
+wieder auf. Die Sierra Nevada ist ein etwa über 700 ~km~ langer
+bis über 4000 ~m~ ansteigender schneebedeckter Alpengebirgszug des
+Felsengebirges, der Kalifornien von der Union so stark trennt, daß
+diesseits und jenseits des Gebirges völlig anderes Klima herrscht. Die
+kühlen und feuchten Seewinde dringen nicht bis in die unfruchtbaren
+heißen Wüsten Nevadas, und das milde gleiche Klima Kaliforniens kennt
+nicht den stürmischen Wechsel auf den Hochflächen des Felsengebirges
+und in der nördlichen Mississippiebene.
+
+Erstaunt sah man aus dem Fenster. Auch zwischen den Schienen lag
+wirklich Schnee! Und noch tags zuvor hatte ich mich wohlig in
+dem durchsonnten Sand des Ozeans gebräunt. Die Paßhöhe war eben
+überschritten. In vielen Windungen an steilen Felshängen entlang in
+schwindelnder Höhe über tiefeingeschnittenen Tälern mit herrlichem
+dunklen Fichtenbestand, aus dem blinkende Bergseen wie in der Schweiz
+und dem Schwarzwald heraufschauten, eilte unser Zug, der den stolzen
+Namen: „~China and Japan fast-mail~“ trug, auf der ältesten seit 1869
+eröffneten Pazifiklinie in eiligem Tempo wieder abwärts.
+
+Viele hundert Meter lange künstliche Holztunnels sicherten die Bahn
+gegen Schneeverwehungen. Aber aus den Aussichtslöchern boten sich
+köstliche Blicke in die Bergwelt ...
+
+Im Wagen machte gerade alles Morgentoilette. Und einige der alten
+Damen packten schon aus ihren Reisekörben ein leckeres Frühstück
+aus, das in mir so etwas wie Appetit weckte. Auf sauberem Tafeltuch
+stellten sie Tassen zurecht; dann folgte ein Gang dem andern: Belegte
+Brötchen, Käse, Obst, kaltes Geflügel, Sardinen, kalter Braten und
+zuletzt Rotwein! Wer hätte da nicht mittun wollen? Sie hatten sich
+gut vorgesehen, weil sie wußten, was ihnen bis Chikago bevorstand! Ich
+aber hatte übersehen, daß zwar unser „~China and Japan fast mail~“
+„~the best dining-car-service of the world~“ besaß, aber dafür auch
+keine Frühstücks- und Lunchstationen innehielt wie der Santa Fé- und
+Los Angeles-Expreß. Und da nun der „beste Speisewagendienst der Welt“
+auch offenbar die „besten Preise der Welt“ hatte -- z. B. ein Beefsteak
+einen Dollar! -- so war ich diesmal ziemlich aufs Hungern angewiesen,
+denn meine Reisekasse schmolz und mein Speisevorrat bestand aus -- drei
+Apfelsinen, von denen ich alle drei Stunden eine zu verzehren beschloß,
+dann würde es gerade noch bis zur Mormonenstadt reichen, wo man wieder
+zivilen Boden und menschliche Preise unter die Füße bekam. Nachts
+brauchte man ja glücklicherweise keine Nahrung. So mußte ich mich also
+diesen Tag mit dem Anschauen der interessanten Gegenden „sättigen“ und
+mein Getränk dem unentgeltlichen Eiswasserfaß am Wagenende entnehmen.
+Das tat ich ebenso oft wie jene Kinder, die ein paar Sitze weiter
+plötzlich in unverfälschtem Dialekt ihren Vater laut fragten: „Du,
+Pape, ist do’ Wasser in de’ Pump?“, was der Vater mit einem beifälligen
+lauten Gähnen quittierte. Man war also nie allein, immer wieder unter
+„Landsleuten“, auch wo man es gar nicht vermutete. Auf der Straßenbahn
+in Buffalo ebenso wie auf dem Bahnsteig in Flagstaff am Fuße der
+schneebedeckten himmelaufragenden San Franziskoberge, in Oakland so
+gut wie in dem Expreß auf 2000 ~m~ Höhe in der Sierra Nevada. Also
+war man nicht nur unter Japanern, die jetzt mir gegenüber in einem
+blaueingebundenen Buch mit wunderlichen Schriftzeichen lasen -- war das
+eine buddhistische oder taoistische Morgenandacht? -- und nicht nur
+unter Chinesen, die sichtlich als nicht ganz vollwertig von den übrigen
+Mitreisenden gemieden wurden (Neger wagten sich schon gar nicht in
+den Wagen) und den breitgesichtigen, stets wohlrasierten Amerikanern.
+Leid tat mir eine Lady, die in der Nacht, wie ich vor Syrakuse mein
+Scheckbuch, so jetzt ihr meterlanges Zettelbillett bis Neuyork
+eingebüßt hatte! Ich kann auch nicht sagen, ob sie es wiedergefunden
+hat oder noch an ihr Ziel gekommen ist. Helfen konnte ich ihr auch
+nicht -- als allein mit innigem Mitgefühl.
+
+Im Waschraum schwamm es indes förmlich bei so ausgiebiger Benutzung
+und so völliger Besetzung des Wagens! Es war auch nicht ohne
+Interesse, daselbst die verschiedenen Rassen und Nationalitäten
+bei der Eigenart ihrer Morgentoilette und halb im Naturzustande zu
+beobachten ...! Aber ich hätte einen Dollar geopfert, wenn ich dafür
+den nachtdurchschlafenen Wagen, der sich nun wieder in einen fahrenden
+„Salon“ verwandelte, gründlich hätte durchlüften können, eher als für
+ein Dollarbeefsteak im Speisewagen ...
+
+Es war wieder ein ganz wundervoller Morgen geworden. Warm und
+freundlich grüßend schien die helle Sonne vom blauen Himmel auf den
+frischen weißen Schnee herab. Rauschend brausten in der Tiefe der
+Täler die Gebirgsbäche und schäumten donnernd über die Felsbänke. Die
+Szenerie glich durchaus der von Göschenen vor dem Gotthardtunnel.
+Dann und wann schauten Hochgipfel aus den Seitentälern. In unzählig
+vielen Windungen ging es rollend und bremsend im ganzen etwa 800 ~m~
+Gefälle abwärts, also ungefähr so viel wie vom Gotthardtunnel hinab
+zum Vierwaldstätter See, durch zahllose Tunnels mit ihren langen
+Holzdächern bis zur „Hauptstadt“ des Staates Nevada, +Reno+, mit seinen
+5000 Einwohnern!
+
+Reno liegt ganz an der Grenze des Wüstenstaates Nevada, der bei 300000
+~qkm~ (Größe Preußens!) nur 50000 Einwohner zählt, also erst auf 6
+~qkm~ einen Menschen! Reno hat zwei Merkwürdigkeiten. Erstens ist es
+Sitz einer „Staatsuniversität“, die aber so geringwertig ist, daß man
++nach+ ihrer Absolvierung kaum fähig wird, in Harvard ins Kollege
+aufgenommen zu werden, d. h. von vorne zu studieren! Die zweite noch
+größere Merkwürdigkeit ist, daß man in Reno in zwei Minuten geschieden
+werden kann, so daß von 20 Ehepaaren im Staat Nevada etwa 13 (!) wieder
+auseinanderlaufen. Günstiger liegt das Verhältnis sonst in der ganzen
+Union, wo erst (!) auf 10 Ehen +eine+ Scheidung kommt. Das liegt an
+der gesetzlichen Leichtigkeit der Scheidungen. Schon beiderseitige
+gänzliche Abneigung genügt zur Trennung. Meist dringen mehr die
+amerikanischen Frauen auf Scheidung als die Männer. Und doch haben die
+Frauen es drüben viel leichter im häuslichen Leben als bei uns. Keiner
+Frau mutet man in Amerika schwere körperliche Arbeit zu. Kein weißes
+Dienstmädchen braucht drüben Kohlen zu tragen, Teppiche zu klopfen,
+Stiefel zu putzen u. dgl., erst recht nicht die Hausfrau. Selbst den
+Kinderwagen schiebt stets der Mann, ebenso trägt und hebt der Mann
+stets das Kind. Der Mann ist der Frau Knecht. Und sie ist drüben mehr
+sein Gespiele, seine schöngekleidete und wohlgepuderte Puppe als seine
+harte Mitarbeiterin. Sie gebietet, und der Mann führt vielfach nur
+ihren Willen aus. +Sie+ redet, predigt, organisiert, lenkt auch das
+Automobil! Fast der gesamte Unterricht der Jugend liegt in Händen
+von Frauen! Im öffentlichen Vereinsleben geistiger und wohltätiger
+Art spielt sie die durchaus tonangebende Rolle. Die Prohibition war
+auch wesentlich ein Sieg der Frauen. Sehr groß ist daher auch die
+öffentliche Rücksichtnahme auf die Frau überall. Ihr wird es +nie+
+drüben begegnen, daß sie z. B. je in einem Straßenbahnwagen stehen
+muß. Auch der älteste Herr macht ohne weiteres der jüngsten Dame
+Platz! Anders und eigenartig sind auch die Grußverhältnisse. Männer
+untereinander nehmen nie Hut oder Mütze ab, auch nicht Schüler vor
+dem Lehrer, denn auch er ist nur ein älterer „~boy~“. Aber im Gruß
+zwischen Herr und Dame grüßt der Herr nicht zuerst die Dame, sondern
+hat zu warten, ob sie ihm mit ihrem Gruß ihre Gunst bezeigt! Eine Dame
+zuerst zu grüßen würde als so unschicklich gelten, als wenn man bei uns
+eine fremde Dame ohne weiteres anspräche. Stets geht auch der Herr auf
+der Außenseite des Fußsteigs, so der Dame die geschütztere Innenseite
+überlassend. Ja manche reden schon von einem fast femininen Einschlag
+in der amerikanischen Kultur, deren äußeres Kennzeichen auch das sehr
+große Wertlegen der Herren auf „~style~“ (Mode) und ihre Vorliebe für
+-- Süßigkeiten ist. In diesem Licht sind die vielen Ehescheidungen
+begreiflich. Sie sind nicht Zeichen sittlichen Verfalls, sondern nur
+der Ausdruck der hohen Ansprüche der Frauen an Leben und Wertschätzung
+und eines hochgespannten Idealismus, der sofort Verbindungen löst, die
+dem Ideal nicht mehr entsprechen. Bedenklicher ist schon der Rückgang
+der Geburten in stockamerikanischen Ehen, so daß sich fortgesetzt
+das Ursprungsverhältnis der Bevölkerung zugunsten der erst kürzlich
+eingewanderten ungebildeten Schichten aus Osteuropa verschiebt ...
+
+Wir fuhren indessen in der warmen hügeligen Nevadawüste, die an
+Einsamkeit, Verlassenheit und Grenzenlosigkeit mit Arizona wetteifern
+kann. Stationsnamen, wenn der Zug einmal hielt, fand ich selten
+angeschrieben. Ohne den Ruf: „~All aboard!~“ setzte sich der Zug
+langsam wieder in Bewegung. Man mußte dabei zusehen, daß man noch
+rechtzeitig auf das Trittbrett kam. Auf einer der verlassenen
+Stationen erstand ich mir eine Tafel Schokolade, die ich mir in die
+Tasche steckte. Als ich sie aber nach qualvoller längerer Zeit der
+Selbstverleugnung wieder hervorzog, war sie unter Nevadas Wüstensonne
+in braunes Wohlgefallen zerflossen und hatte das Rockfutter hübsch
+braun gefärbt und durchsalbt ... Es war um Mittag heiß geworden. Der
+Gang zum Eiswasserfaß wurde zur Polonäse!
+
+Immer eintöniger wurde die Landschaft. An einem einfachen Fluß stehen
+ein paar Kinder und schauen stumm dem Zug nach. Wo ein bißchen
+Gras sprießt, weiden ein paar Pferde. Sonst sieht man nur Sand und
+wieder Sand, und zwar so grell und weißleuchtend, daß er im Wagen
+einen richtigen Widerschein an die Decke wirft und in der Ferne sich
+spiegelnd gar wie lockende Seen erscheint. Am Horizont prangen in der
+Ferne blaue Randgebirge. Näherbei sieht man nur Föhrengestrüpp und
+Wermutgesträuch ...
+
+Im Zug schliefen sie jetzt wie die Fliegen an warmer Wand ihren
+Nachmittagsschlaf. Ich bin der einzige, der noch krampfhaft und
+interessiert hinaus ins Land schaut. Auch der Japaner hat längst
+sein blaugebundenes Buch mit den seltsamen Runen zugeklappt. Die
+weißhaarigen Damen haben längst den Rest ihrer opulenten Mahlzeiten in
+ihre Körbe versteckt und die Rotweinflaschen wieder zugekorkt. Auch
+die Chinesen lehnen gedrückt und müde in einer Ecke. Die Lady, die
+ihr Billett verloren, hat resigniert die Augenlider heruntergelassen
+wie müde Fensterläden, hinter denen Lebensverdrossenheit wohnt. Die
+deutschen Buben, die nach dem „Wasser in de’ Pump’“ frugen, spielen
+auch schon lange nicht mehr. Alles schläft. Es ist ja auch nichts zu
+versäumen. Es steigt niemand weder aus noch ein. Der Zug schlingert
+so durch die Sandwüste wie ein Schiff bei Windstille über das Meer.
+Man weiß es eben wieder nicht mehr anders, als daß man fährt und
+fährt und immer wieder fährt. Jeder hat sich in seiner Weise in sein
+Eisenbahnschicksal ergeben ...
+
+Es ist Goldgräberland, das wir jetzt durchfahren. Verlassene Minen und
+Bergwerke wechseln mit neuaufblühenden. Manchmal ist eine Siedlung
+schon auf den Sand hingestellt, aber es sind noch keine Menschen da,
+drin zu wohnen! Alles sieht aus, wie aus einer Holzbaukastenschachtel
+putzig, schematisch aufgebaut bis auf die kleine weiße Holzkirche, die
+nicht fehlen darf. Im ganzen wohnt hier ein robustes und skrupelloses
+Geschlecht, die Nachkommen echter Abenteurer, wilder Spekulanten, denen
+Spiel um Geld Sport war und noch ist und der Revolver oft gar leicht
+und lose im Gürtel sitzt ...
+
+Wer hier zu Fuß gehen wollte! Er könnte wie durch die Sahara waten
+und verdursten. Den einzigen Schatten wirft weite Strecken nur der
+Zug. Rötlich schimmern die Felsengipfel. Dann wieder einmal ein paar
+armselige Hütten mit Menschen darin. Station Paran. Auf dem „Bahnsteig“
+am Zug spielen hemdärmlig einige Burschen Fußball! Er ist der einzige
+planierte Platz. Der Bahn entlang reitet durch den Sand ein Herr und
+eine Dame im Tropenhelm! Die Sonne steht hoch, die Berge werden immer
+höher und steiler. Immer neue Berge und Wüsten tauchen im Vorblick
+auf. Kein Europäer hat ja eine Ahnung, wieviel Tagefahrten +breit+
+„das Felsengebirge“ ist, welche riesigen Hochebenen zwischen den
+drei Hauptgebirgszügen desselben liegen, deren Streifen scheinbar
+schmalfurchig von Norden nach Süden ziehen! Wieviel Schweiß muß es hier
+einst gekostet haben, diese Bahn durch die Einöden zu bauen!
+
+So kommt wieder der Abend heran. Wir fahren unentwegt. Wir haben längst
+schon wieder „~Mountain-time~“ und die Uhr eine Stunde vorgerückt.
+Der erste Abend bricht an, da uns die Sonne nicht mehr im Rücken,
+sondern wieder im Angesicht aufgeht -- eine Weissagung auf Heimkehr!
+Die sandige Wüste färbt sich abendlich graugrün. Die Chinesen sind
+in ihrer Ecke erwacht und kauderwelschen laut miteinander in der
+stolzen Sicherheit, daß sie niemand versteht. Mein Japaner liest
+seinem Kind aus dem blauen Buch vor. Die ältlichen Damen breiten zum
+Abendessen wieder ihre saubere Serviette aus und entkorken wieder die
+Rotweinflaschen. Unentwegte Raucher suchen für eine Weile das kleine
+Rauchabteil auf. Wem es nicht aufs Geld ankommt, der folgt jetzt dem
+„~last call for dinner~“[28] des Kellners in den Speisewagen. Die
+Kinder balgen sich wieder im Mittelgang. Mit dem Abend erwacht alles
+Leben ...
+
+Wir halten an einer Bahnkreuzung. Eine Reihe immer dünner werdender
+Telegraphenstangen weist durch die Wüste gegen die Berge ins Wegelose
+... Der Lehmboden rings ist trocken und rissig. Jeder Zentimeter
+Regen und Schnee bedeutet hier Brot. Allmählich bricht Dunkelheit an.
+Wir fahren immer noch in einer Höhe von 1000 bis 1500 ~m~. In der
+Dämmerung sehe ich noch durstiges Rindvieh in einem trockenen „~creek~“
+stehen. Niedrige Büsche werfen lange dunkle Schatten. Einige weiße
+Zelte leuchten im grellen Mondschein. Sind es Bahnarbeiter, Hirten,
+Goldgräber?
+
+Dann klettere ich -- zum wievielten Male? -- wieder einmal in meine
+„~upper berth~“. Der Salonwagen hat sich wieder in einen Schlafsaal
+schnarchender Nasen verwandelt.
+
+ * * * * *
+
+Am zweiten Morgen wieder eine völlige Verwandlung! Als ich erwacht bin
+und aus dem Fenster sehe, ist es lichter Morgen. Vom blauen Himmel
+scheint helle Morgensonne, die noch nicht lange aufgegangen sein
+kann, und -- ist es Traum, Vision oder Wirklichkeit? -- wir fahren,
+obwohl noch immer im Eisenbahnzug, mitten durch einen herrlich weiten
+glänzendblau schimmernden See, der sich bis an die schneebedeckten
+Berge der Wasatch Mountains verliert. Rechts und links spülen die
+Wasser an den mäßig über dem Wasserspiegel erhöhten Bahndamm. Er
+scheint künstlich aufgeworfen, auf Pfählen und Holzbrücken errichtet.
+Stundenlang rollen wir so im glitzernden Morgensonnenschein mitten
+über den großen Salzsee! Vor einigen Jahren hat nämlich die Southern
+Pacific-Eisenbahn, um die Route nach Kalifornien um 70 km abzukürzen,
+den Schienenweg auf 37 ~km~ langer Holzbrücke mitten durch den an
+seinen tiefsten Stellen nur 11 ~m~ tiefen, aber 6000 ~qkm~ großen[29],
+etwa 100 ~km~ langen und 60 ~km~ breiten Salzsee (~Great Salt Lake~)
+gelegt. Sein Wasserspiegel liegt immer noch 1280 ~m~ über dem Meere!
+Wir befinden uns also wiederum auf einer der riesigen Hochebenen
+zwischen den Hauptgebirgszügen des Felsengebirges, dem Zentrum des
+Mormonenstaates „Utah“, eines Staates, der selbst halb so groß wie
+Kalifornien ist. Als wir den See überquert haben, eilt der Zug durch
+die lachendsten und wohlangebautesten Fluren und Felder, die den
+denkbar stärksten Gegensatz zu den unfruchtbaren Wüsten Nevadas bilden.
+
+Ein wahres Kulturparadies breitete sich auf einmal um uns aus, das
+einem wie einst das „gelobte Land“ den Israeliten erschien, als sie
+aus der Sinaiwüste heranzogen. Der Schöpfer dieses Paradieses, das
+vor dreiviertel Jahrhunderten genau so trostlose Wüste wie der größte
+Teil Nevadas war, ist die eigenartige Sekte der „Mormonen“ oder, wie
+sie sich selbst nennen, der „Heiligen Jesu Christi der letzten Tage“.
+Wir hielten zuerst in der ein wenig vom See landeinwärts gelegenen
+mittelgroßen Mormonenstadt Ogden. Hinter uns lag der schimmernde
+Salzsee, vor uns wie ein Schweizer Bild die schneebedeckten Wasatch
+Mountains. In Ogden verließ ich die Hauptroute nach Chikago, um nach
+der Hauptstadt der Mormonen, der Großen Salzseestadt umzusteigen. Auf
+sie war ich allerdings schon lange sehr gespannt. Da ich eine Stunde
+Aufenthalt in Ogden hatte, ging ich etwas in das Städtchen hinein.
+Nichts Sonderliches war außer einer Mormonenkirche zu bemerken.
+Überall ruhige Sauberkeit und breite Straßen.
+
+Nach einer weiteren Stunde südlicher Fahrt war Salt Lake City erreicht.
+Auch zwischen Ogden und Salt Lake City liegen prächtige Feldfluren
+zwischen wohlgepflegten Pappelreihen, unter denen wohlgebaute gerade
+Landstraßen hinführen. Allen Reisenden, die einstiegen, und denen, die
+man draußen erblickte, schaute ich immer mit der stillen Frage ins
+Gesicht: „Bist du ein Mormone oder nicht? Sehen so die Mormonen aus?“
+Ich meinte immer, man müßte es ihnen von außen schon an einer Art
+sonderbaren Wesens ansehen. Aber das war keineswegs der Fall.
+
+So war es morgens acht Uhr geworden. Klopfenden Herzens steige ich
+in Salt Lake City aus. Mir war es, als käme ich jetzt in die Stadt
+des Dalai Lama. Die Lage ist ja derselben nicht so ganz unähnlich.
+Ich empfand so, wie wir uns in Rom aufmachten, um über den Tiber
+in das Trastevere zu gehen und in das heilige Viertel des Vatikans
+und der Peterskirche einzudringen. Mußte nicht dort, so dachte ich,
+jeder Stein im Pflaster von besonderer Heiligkeit reden und die
+Luft rings gleichsam geschwängert sein von Andacht? Mit ähnlichen
+Spannungsgefühlen trat ich aus dem Bahnhof in Salt Lake City auf die
+sehr breite Hauptstraße und hatte sofort nach wenigen Minuten nach
+Durchschreitung einiger Bahnhofsquartiere den Eindruck, zum ersten Male
+in einer peinlich sauberen und trotz ihrer 100000 Einwohner stillen und
+ruhigen amerikanischen Stadt zu sein, dazu in malerischster Umgebung.
+Von gesteigerter Heiligkeit war noch nichts zu bemerken! Die Menschen
+kauften und verkauften, gingen, fuhren, redeten genau wie in anderen
+Städten der Weltkinder. Heilig schienen mir die schneebedeckten Berge,
+die hier wie in Innsbruck die Schneehäupter zur Maria-Theresienstraße
+hereinschauen. So endet auch in dieser Stadt der Blick meist an den
+schneebedeckten Wasatch, die südlich bis zum Grand Cañon reichen! Schon
+in Ogden hatte mir ein eifriger Postkartenverkäufer auf der Straße
+seine Karten von den Wasatch Mountains mit den Worten angepriesen:
+„~The finest mountain-view +in the world+!~“ Selbstverständlich!
+
+Ich schritt indessen in das Stadtinnere bis zu dem gebietenden Denkmal
+Brigham Youngs, des kraftvollen Nachfolgers des „Propheten“ Joseph
+Smith, des Gründers des Mormonismus. Dann stehe ich in dem heiligen
+Bezirk der Mormonen, dem „Tempelblock“ selbst, der von einer langen
+quadratischen Mauer umgeben ist. Aus ihrem Innern erhebt sich mächtig
+der vieltürmige Tempel und das riesenschildkrötenartig gewölbte Dach
+des sogenannten „~tabernacle~“. So stehe ich jetzt an der Stelle, die
+den Mormonen so heilig und zentral ist wie Rom den Katholiken, wie
+die Kaaba den Mohammedanern, der Tempelplatz in Jerusalem den Juden
+und Olympia den Griechen. Aus dem nahegelegenen Mormonenkollege aber
+strömen gerade die Schüler aus der Morgenandacht.
+
+Echt amerikanisch begibt man sich zur Besichtigung des Tempelbezirks
+zunächst in das „~information-bureau~“, wo die Einlaßkarten und
+Führer zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten zu haben sind. Geld
+und Geschäft hat bis jetzt keine heilige Stätte der Welt verschont,
+auch die der Mormonen nicht. Christus schwingt noch immer seine Geißel
+umsonst.
+
+Unter einem Stimmengeschwirr von Menschen werden wir dann in das
+„Tabernakel“ geleitet. Wir treten durch die niedrigen Backsteinpfeiler
+ein; treppauf geht es auf die Galerie in das Innere. Es öffnet sich
+ein kahler Riesenraum, den eine einzige Deckenwölbung überspannt
+und der an 10000 Sitzplätze faßt! Den einzigen Schmuck des Raumes
+bildet eine mächtige Orgel, an der ein großer Stern mit der Umschrift
+„Utah 1896“ angebracht ist. Denn in diesem Jahr wurde das bis
+dahin mehr oder weniger unabhängige Mormonenterritorium als Staat
+in die Union aufgenommen. Von der Orgel reichen etwa 500 Personen
+fassende Sitzreihen die Orgelbühne herab, die nur Sitze für Priester
+und mormonische geistliche Würdenträger enthalten. Denn unter den
+Mormonen hat fast jeder zehnte Mann irgendeine priesterliche Würde.
+Das Tabernakel dient zu Gottesdiensten und auch für große Konzert-
+und Vortragsveranstaltungen. Die Akustik ist trotz des riesigen Raums
+dank seiner ovalen Anlage und seiner ungestützten hölzernen Wölbung
+vorzüglich. Man hört auch nur leise gesprochene Worte bis in entfernte
+Ecken! Das Tabernakel wurde bereits in den 60er Jahren des 19.
+Jahrhunderts erbaut, ein Zeugnis des Selbstbewußtseins der Mormonen,
+deren Stadt damals kaum soviel Einwohner zählte als der Raum Sitze! Am
+Tempel selbst aber baute man von 1873 an Jahrzehnte hindurch.
+
+Wir treten wieder unter den 44 Backsteinpfeilern, den kurzen Füßen
+der hölzernen Riesenschildkröte, hervor und begeben uns zum „Tempel“,
+den wir aber von innen nicht besichtigen dürfen! Kein profaner Blick
+von „Heiden“ (d. h. Nichtmormonen) darf ihn beschauen, ja selbst
+nicht einmal jeder Mormone kommt in sein Inneres! Als mächtiger
+sechstürmiger Bau, dessen höchsten Mittelturm eine große Bronzestatue
+des Engels „Moroni“ krönt, erhebt er sich -- freilich ohne erkennbaren
+Stil -- aus dem Grün des schön angelegten Tempelblocks und überragt
+weithin die Stadt. Er ist keine eigentlich allgemein gottesdienstliche
+Stätte, sondern dazu bestimmt, der Tempel „des neuen Zion“ zu sein, wo
+Christus, wenn er in Bälde zum Weltgericht wiederkommt, seinen Thron
+aufschlagen und das Gericht über die sündige Welt abhalten wird. Etwa
+vierzig Jahre wurde am „Tempel“ gebaut; vier Millionen Dollar hat er
+gekostet! Er soll innen aufs prächtigste mit kostbarstem Marmor und
+edlen Steinen geschmückt sein, erzählte man mir. Je schwieriger es
+ist, ihn zu betreten, desto geheimnisvoller erscheint das gewöhnlichen
+Sterblichen verschlossene Bauwerk. Nur Mormonen höheren Grades kommen
+in ihn anläßlich mormonischer „Versiegelungen“ für die Ewigkeit und
+„Taufen für Verstorbene“ hinein. Ich hatte vor, -- auch amerikanisch!
+-- geradewegs dem Präsidenten der Mormonenkirche, also gewissermaßen
+dem Papst von Salt Lake City einen Besuch zu machen und ihn angesichts
+meiner weiten Reise um einen Blick in das Tempelinnere zu bitten, aber
+wahrscheinlich hätte auch das mir nichts geholfen. Aber vielleicht
+hätte er mich an seine Tafel geladen? Schade, daß ich es nicht
+versuchte! Da hätte ich alles leicht aus erster und bester Quelle
+erfahren, was ich zu wissen wünschte.
+
+Unsere gesprächige Führerin, die uns auch noch eine kleinere
+Mormonenkirche, die sogenannte „~assembly hall~“ aufschloß, die
+immerhin auch 3000 Personen faßte, und zuletzt uns noch einmal zu
+einem imponierenden Orgelkonzert ins „Tabernakel“ einließ, hatte
+natürlich auf recht viele Fragen der Besucher zu antworten. Alles
+bestürmte sie förmlich um Auskunft über das Wesen und die Lehren des
+Mormonismus. Ihre Auskünfte waren natürlich nur sehr bruchstückartig
+und unzusammenhängend, ebenso wie die an sie gestellten Fragen. Aber
+sie blieb unermüdlich und unerschütterlich: „Der Mormonismus ist wahr!
+Er ist nicht von Menschen gemacht. Er stammt aus direkter göttlicher
+Offenbarung. Die christlichen Kirchen sind vom wahren Christentum
+abgefallen. Die ganze Geschichte der christlichen Kirche ist nichts
+als ein großer Abfall. J. Smith bekam von Gott durch seinen Engel
+Autorität, die wahre Religion der Bibel wiederherzustellen und das
+echte aaronitische Priestertum zu erneuern. Auch die ‚Ordnungen‘ der
+Ämter hat die Kirche unrechterweise geändert. Die Taufe darf z. B.
+nicht an kleine Kinder nach mormonischer Meinung erteilt werden! Die
+Mormonenkirche tauft erst achtjährige Kinder. Es gibt auch eine Taufe
+für ungetauft Verstorbene. Die Handlung der Buße hat sie erneuert.
+Die Trauung ist gültig auch für das ewige Leben. Eine Mehrehe -- der
+große Streitpunkt -- habe auch Jesus nicht ausdrücklich verboten, im
+Alten Testament wurde sie sogar von den Erzvätern geübt! Seit 1896
+ist freilich die Mehrehe durch Aufnahme in die amerikanische Union
+öffentlich verboten; geübt wurde sie bis dahin auch nur von zwei bis
+fünf Prozent der Mormonen. Und Salomo hatte doch auch sogar -- darauf
+wies die Sprecherin nachdrücklich hin -- 1000 Weiber! Jeder Mormone hat
+an seine Kirche den ‚Zehnten‘ abzuliefern. Gott offenbart sich fort
+und fort durch Propheten, so war auch Joseph Smith beauftragt, neue
+Offenbarungen zu geben.“ Das ist einiges von den bruchstückartigen
+Darlegungen der Führerin auf die an sie gestellten Fragen.
+
+Mir genügte das freilich nicht. Im ~information-bureau~ kaufte
+ich mir daher zunächst eine Mormonenbibel „~the book of Mormon~“,
+in dem ich auf meiner Weiterfahrt sehr eifrig las, ein kleines
+schwarzeingebundenes Buch ungefähr im halben Umfang unserer Bibel.
+Außerdem eine Darlegung der mormonischen Lehre von einem mormonischen
+Theologen. Und endlich schenkte mir in demselben Bureau ein alter
+Mecklenburger, als er mein intensives Interesse wahrnahm und mich
+als Deutschen erkannte, noch eine Schrift „~the great apostasy~“,
+in der die Geschichte der Kirche als „der große Abfall“ von dem
+wahren Evangelium dargestellt wird. Der Mecklenburger schüttelte mir
+bewegt die Hand, ich möchte auch noch zur Erkenntnis der Wahrheit
+kommen, und schloß mit dem Bekenntnis: „~My heart feels satisfied~“.
+Neuerdings hat Professor Eduard Meyer anläßlich seines Aufenthalts in
+der Union eingehende Studien über den +Mormonismus+ angestellt und
+veröffentlicht. Danach ergibt sich geschichtlich das Folgende, das
+sowohl für die Geschichte und Zustände der Union als auch die religiöse
+Mentalität drüben im Ganzen äußerst charakteristisch ist:
+
+Der Gründer der Mormonensekte, Joseph Smith, ist am 23. Dezember 1805
+als vierter von neun Geschwistern in dem Dorf Sharan im Staate Vermont
+geboren. Sein Vater war -- echt amerikanisch -- bald Handelsmann,
+bald auch Schullehrer. Ruhelos zog er von Ort zu Ort und ist nie zu
+beständigen Verhältnissen gelangt. 1815 siedelte er nach Palmyra im
+Staate Neuyork über, darauf nach Manchester, N. Y. Die Mutter des
+Propheten, Lucy Smith, war ebenfalls die Tochter eines Abenteurers
+namens Salomon Mack, der erst bei einem Bauern arbeitete, dann
+Soldat und Marketender in den Indianerkämpfen und Religionskriegen
+des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, später als Matrose diente und
+zuletzt um 1810 als fast Achtzigjähriger in höchst fehlerhafter und
+unorthographischer Sprache eine Erzählung seines Lebens mit mancherlei
+Träumen und Visionen herausgab! Dieses Erbteil ging auf die Mutter
+des Propheten über, die zeitlebens an Visionen litt und ihren Sohn
+überlebte († 1856). Auch sie gab von ihren inneren Erlebnissen in einer
+Selbstbiographie Kunde. Religiöse Fragen haben das Elternpaar stets
+beschäftigt; auch Vater Smith erlebte allein sieben Visionen. Der
+Eltern äußere Lebensumstände können gar nicht armselig genug gedacht
+werden, und doch waren in ihrer Hütte wie in den meisten amerikanischen
+vor über 100 Jahren die Axt und die Bibel die am meisten gebrauchten
+Gegenstände. Von diesen Eltern, von beiden Seiten her also aufs
+stärkste visionär erblich belastet, stammte der „Prophet“. Schulbildung
+hat er bei dem ständigen Umherziehen seines Vaters nur vorübergehend
+genossen; Lesen und Schreiben konnte er Zeit seines Lebens nur dürftig;
+an Träume und Visionen glaubte er seit frühester Jugend. Und schon früh
+bedrückte sein religiöses Gemüt die Frage, welche von den vielen Sekten
+wohl die rechte sei oder ob sie nicht alle von der Wahrheit abgefallen
+seien und die rechte Religion erst wieder entdeckt werden müßte ...
+
+An einem schönen Frühjahrsmorgen 1820 -- so heißt es in seiner
+Lebensbeschreibung -- sei er fünfzehnjährig in den Wald gegangen und
+habe Gott um Erleuchtung über die Wahrheit angefleht. Da habe ihn
+zuerst dichte Finsternis umgeben und seine Zunge sei wie gefesselt
+gewesen, aber dann habe sich eine Lichtsäule auf ihn herabgesenkt, in
+der zwei verklärte Gestalten sichtbar wurden. Die eine sagte ihm, alle
+Sekten seien im Irrtum, keiner solte er sich anschließen, vielmehr sei
++er+ berufen, die rechte Kirche erst zu gründen. Erwacht fand er sich
+allein auf dem Boden liegend, die Augen gen Himmel gerichtet ...
+
+Mit 18 Jahren (1823) folgte eine neue wichtige Vision, in der ihm
+lichtumflossen der Engel „Moroni“, der heute als Bronzefigur den Tempel
+krönt, erschien und anwies, nach dem Hügel Cumorah bei Manchester, N.
+Y., zu gehen. Dort werde er beim Graben zwei goldene Platten finden,
+die mit geheimnisvoller Schrift bedeckt seien. Dreimal erschien ihm
+der Engel Moroni bei der Nacht, und noch ein viertes Mal am Tage bei
+der Feldarbeit, wo er neben seinem Vater ohnmächtig wurde. Noch an
+demselben Tage habe Smith den Hügel aufgesucht, die Platten gefunden,
+aber der Engel habe ihm verboten, +jetzt schon+ die Platten zu heben!
+
+In den folgenden Jahren verdingte sich Smith zur Feldarbeit wie sein
+Vater, wird aber als schmutzig, scheu und träge, ja dem Trunk ergeben
+geschildert. Er benutzt seine visionären Kräfte, um nach Schätzen zu
+graben, verlorene oder gestohlene Sachen wieder herbeizuschaffen.
+Dabei diente ihm ein durchsichtiger Kristall („~peek-stone~“), den er
+in seinen vor die Augen gehaltenen Hut legte, worauf er die gesuchten
+Dinge in dem Kristall sah[30]. Mit 21 Jahren verheiratete sich Smith
+und erhielt nun von dem Engel die Erlaubnis, den Schatz zu heben.
+
+Im nächsten Jahr, Februar 1828, beginnt J. Smith mit einigen Freunden,
+Farmern wie er, Martin Harris, dem Schullehrer Oliver Cowdery und David
+Whitmer, selber hinter einem Vorhang sitzend (!), das Mormonenbuch,
+die goldenen Tafeln mit Hilfe seines „Gucksteins“ übersetzend, zu
+diktieren. 1829 war das Buch fertig und wurde 1830 veröffentlicht. M.
+Harris, obgleich gewarnt, hatte das Geld zum Druck dazu hergegeben.
+
+Was ist’s nun mit diesen geheimnisvollen Tafeln? Niemand hat sie je mit
+irdischen Augen gesehen. J. Smith behauptet, daß sie in einer Kiste
+in seinem Hause gelegen haben. Der Engel aber hatte dem Propheten
+verboten, sie jemand zu zeigen! Nachdem die „Übersetzung“ fertig
+war, wurden die Tafeln dem Engel Moroni „zurückgegeben“! Aber die
+Freunde bestanden darauf, sie zu sehen. So hat J. Smith eines Tages in
+einer Vision ihren Anblick vermittelt. Das bezeugen sie schriftlich
+auf der ersten Seite des Mormonenbuches. Aus all dem folgt, daß die
+Offenbarungstafeln wohl nie existiert haben, daß aber der „Prophet“
+visionär sie gesehen und an ihr Vorhandensein geglaubt hat.
+
+Und was ist der Inhalt dieser „Mormonenbibel“? Ich habe mich nach der
+Abfahrt von der Salzseestadt viele Stunden im Eisenbahnwagen redlich
+bemüht, ihren Inhalt in mich aufzunehmen, aber über 30, 40 Seiten habe
+ich es nicht hinaus gebracht, so langweilig, inhaltslos und grotesk
+und geschichtlich unmöglich ist der Inhalt. Das Mormonenbuch ist wie
+die Bibel in Bücher, Kapitel und Verse eingeteilt. Sein Stil erinnert
+stark an das Alte Testament. Im ganzen will es ein Bericht über die
+Schicksale der bei der Eroberung Samarias 722 v. Chr. verschollenen
+zehn Nordstämme des Volkes Israel sein, die nach den mannigfachsten
+Irrfahrten und Kriegszügen nach Nordamerika gekommen seien und deren
+Nachkommen niemand anders als -- die Indianer geworden wären! Man
+denke sich, die Indianer Nachkommen der alten Juden!! Das bestätigt
+gewiß auch die gegenseitige Rasseähnlichkeit!? Auch Christus ist, wie
+Smith glaubte, nach Ostern auf dem amerikanischen Kontinent erschienen
+und hatte ihm die Offenbarung der wahren Religion gegeben. Nur sind
+seine rechtgläubigen Anhänger in Amerika aufgerieben worden, und seine
+Offenbarung wäre verschollen, wenn nicht der letzte Prophet „Mormon“
+und sein Sohn, der Engel Moroni sie auf jene Tafeln aufgezeichnet
+und vergraben hätten, bis sie J. Smith wieder fände. Diese Bibel des
+Propheten Mormon, von J. Smith erneuert, sei die Bibel für Amerika, ja
+für die Welt. Eine ganz abstruse und unmögliche Sache!
+
+Woher aber stammt dieser Inhalt des Mormonenbuches? Das schlechte und
+fehlerhafte Englisch und die absurden geschichtlichen Ideen lassen
+niemand anders als J. Smith selbst als Verfasser erwarten. Das Buch
+ist der Spiegel seines ererbten visionären Fabuliertalents und seiner
+vollständigen Unkenntnis der wirklichen Geschichte des amerikanischen
+Kontinents und der Welt. Aber wie ist es möglich, wird man fragen,
+daß ein solches Buch überhaupt Glauben fand? Nun im ersten Drittel
+des 19. Jahrhunderts unter den ungebildeten und schwärmerischen
+Abenteurern ist es für Amerika nicht unbegreiflich, zugleich in einer
+Zeit der stürmischsten und die Menschen wie eine Psychose ergreifenden
+Erweckungsversammlungen (~camp-meetings~, ~revivals~); ebensowenig
+angesichts der ungeschichtlichen naiven Gläubigkeit des Amerikaners
+allem gegenüber, was sich als alt und uralt ausgibt, weil man ja selbst
+in einem fast vollkommen geschichtslosen neuen Lande lebt. Es ist
+also nicht nötig, zu der Vermutung zu greifen, die man lange geteilt
+hat, Smiths Buch sei ein Abklatsch eines Romans eines puritanischen
+Predigers Spaulding, dessen Manuskript wiederum ein Buchdrucker Rigdon
+dem Propheten in die Hände gespielt habe. Das seit 1885 bekannte
+Manuskript Spauldings zeigt nur äußere Ähnlichkeiten in Stil und
+Herkunft, aber gar nicht im religiösen Inhalt.
+
+[Illustration: ~SALT LAKE CITY~
+
+~Der California-Expreß quer durch den Salzsee~]
+
+[Illustration: ~SALT LAKE CITY~
+
+~Salt Lake City mit dem Wasatch-Gebirge~]
+
+Wie ist es danach zu einer eigenen Mormonen+kirche+ gekommen?
+Unmittelbar nach Fertigstellung des Mormonenbuches begann eine
+Propaganda für den neuen Glauben im Staate Neuyork. J. Smith war
+überzeugt, daß seine Anhängerschaft zur Weltherrschaft berufen sei!
+Ein solch phantastischer Traum ist auf dem amerikanischen Kontinent
+und auf dem Gesinnungsboden eines „auserwählten Volkes“ durchaus
+begreiflich. J. Smith verkündete bald die Nähe des „1000jährigen
+Reiches“ und setzte seine Mission im Staate Ohio fort. Immer neue
+Orakel verkündete er. Seinen Anhängern wurden auch wunderbare Heilungen
+nachgesagt. Von Ohio ging ein Teil der Gläubigen bis nach Kansas und
+Missouri. Aber 1832 begannen auch schon die ersten Verfolgungen der
+„Heiligen“ durch „die Heiden“. Smith und sein Freund Rigdon wurden
+in einer Nacht aus dem Bett gerissen, auf die Straße geschleift --
+einer der nicht wenigen Fälle von amerikanischer Lynchjustiz -- mit
+Teer beschmiert und zum Spott mit Federn ausstaffiert! Den Mormonen
+in Missouri warf man die Fenster ein, zündete ihr Heu an und schoß in
+ihre Häuser! Die Staatsregierung unternahm zunächst nichts. Aber je
+mehr die Mormonen verfolgt wurden, desto mehr breiteten sie sich aus.
+Auch J. Smith machten die Verfolgungen in seiner Überzeugung nicht
+irre. Im Gegenteil. 1834 forderte der „Prophet“ seine Anhänger zum
+Abzug auf, er selbst organisierte sie militärisch als ihr „General“!
+Die Mormonen verschanzten sich gegen anrückende Regierungstruppen in
+einem festen Lager in Missouri, wurden jedoch umzingelt und mußten sich
+der amerikanischen Miliz ergeben. Smith wanderte ins Gefängnis. Das
+Todesurteil wurde über ihn 1838 verkündet, aber nicht vollstreckt!
+Smith entfloh, seine Anhänger sammelten sich in Nauvoo in Illinois,
+das damals noch ganz unkultiviert war. Nauvoo sollte nun der Sitz des
+neuen Zion und des Tempels werden. Aber auch hier war ihres Bleibens
+nicht lange. Zu großem Anstoß führte die jetzt schon eifrig geübte
+Polygamie! Seit 1843 rechtfertigte sie der Prophet und übte sie
+selbst. Die „mit Heiligen versiegelten“ Frauen würden bestimmt des
+ewigen Lebens teilhaftig! So sollen sich nach Smiths Tod 27 Frauen
+gerühmt haben, dem Propheten „angesiegelt“ gewesen zu sein! 1844
+wurde J. Smith von seinen Anhängern sogar ernsthaft als Kandidat
+für die Präsidentschaft der Union aufgestellt!! Smith stand auf der
+Höhe seiner Erfolge. Eine Druckerei, die ihn schmähende Artikel und
+Zeitungen erscheinen ließ, ließ er zerstören und erklärte der Union
+den Krieg, die ihn zur Verantwortung ziehen wollte! Dann aber nahm
+er eingeschüchtert die Kriegserklärung wieder zurück und entfloh ins
+Felsengebirge. Seine Anhänger verlangten aber von ihm, daß er sich
+freiwillig den amerikanischen Gerichten stelle! Er tat es und ahnte
+sein Endschicksal voraus. Er wurde des Hochverrats für schuldig erklärt
+und eingekerkert. Obwohl das Gefängnis von amerikanischer Miliz bewacht
+wurde, drangen am 27. 6. 44. nachmittags fünf Uhr 200 abenteuerliche
+Gesellen mit geschwärzten Gesichtern ein und erschossen den Propheten
+in seiner Zelle, in der er sich vergebens zur Wehr setzte. Er wurde in
+Nauvoo begraben und war so, 39 Jahre alt, für seine Überzeugung den
+Märtyrertod gestorben.
+
+Aber damit ging der Mormonismus nicht unter. Im Gegenteil, er blühte
+erst recht auf. In Brigham Young, dessen Denkmal mit Recht im
+Mittelpunkt der Salzseestadt steht, erhielt das Mormonentum einen
+äußerst tatkräftigen und zielbewußten und vor allem organisatorisch
+hervorragend begabten Führer, der die Mormonen aus Nauvoo hinweg
+unter viel Mühsalen und Beschwerden bis in die damals noch völlig
+unbewohnten Einöden am Großen Salzsee führte. Hier entstand bald
+mit Hilfe künstlicher Bewässerung ein Kranz blühender und fleißiger
+Dörfer. Merkwürdigerweise trennte sich Smiths Frau und Mutter mit den
+Kindern von des „Propheten“ Gemeinde und gründeten eine reformierte
+Mormonenkirche! Einer der Brüder Smiths wurde sogar aus der Kirche
+der „Heiligen“ ausgestoßen! Young, vier Jahre älter als der Prophet,
+leitete die Mormonenkirche bis 1877. Von Hause aus war er Tischler und
+Glaser. Unter ihm erst wurde das anstößige Dogma von der Polygamie
+öffentlich verkündet (1852).
+
+Man begnügte sich bald nicht mehr nur mit den Siedlungen am Salzsee,
+deren Fruchtbarkeit von allen Seiten Landsucher anlockte, sondern
+schickte auch Sendboten nach Europa! Young verschönte und vergrößerte
+auch die Hauptstadt, er baute das „Tabernakel“ und legte den Grundstein
+zum „Tempel“. Mit den umwohnenden Indianern, in denen man ja die
+Nachkommen des auserwählten Volkes Israel sah, verbündete sich
+Young und hielt mit ihnen zusammen lange Zeit die amerikanischen
+Regierungstruppen in Schach. Utah war selbständiges Territorium. Young
+übte die Rechte eines Gouverneurs aus. Er war zugleich Präsident des
+Staates +und+ der Kirche. Die Gerichte urteilten nach seinen Weisungen
+und zuweilen mußten Verbrechen durch freiwilligen Tod gesühnt werden!
+Von den nach Kalifornien strömenden Goldsuchern erhob man hohe
+Durchgangszölle. Die Landsuchenden hielt man in Abhängigkeit, indem
+die Kirche selbst das Land verpachtete. Aber die Einöde um den Salzsee
+verwandelte sich bald in ein Kulturparadies, das ich selbst mit Augen
+sah. So wurde Salt Lake City eine der saubersten und schönsten Städte
+der Union. Die Industrie blieb hier noch lange ganz fern.
+
+Young hielt auch auf straffe sittliche Zucht. Die Stadt wurde in
+Bezirke eingeteilt, denen Bischöfe und Priester vorstanden. Sie hatten
+das Leben sämtlicher Familien streng zu kontrollieren. Völlerei,
+Diebstahl, Betrug, Meineid, Fluchen und Würfelspiel -- sonst vielgeübt
+-- waren hier Seltenheiten. Als 1867 die Bahn nach dem Stillen Ozean
+gebaut wurde, hörte Utah auf, von der Welt abgeschnitten zu sein. Der
+Durchgangsverkehr stieg gewaltig. 1890 erteilte der amerikanische Staat
+Amnestie an alle Polygamisten. 1896 wurde Utah als Staat der Union
+eingegliedert. Der Traum eines mormonischen Weltstaates mit Salt
+Lake City als Mittelpunkt war damit ausgeträumt. Übrig blieb nun der
+religiöse Mormonismus als Sekte wie der religiöse Katholizismus nach
+Aufhebung des selbständigen römischen Kirchenstaats. Heute mögen die
+Anhänger des Mormonismus in aller Welt eine halbe Million betragen.
+In Salt Lake City selbst haben sie dank der Einwanderung nicht mehr
+die Majorität. Eine ganze Reihe Kirchen anderer Sekten wie der
+Presbyterianer, der Methodisten usw. erheben sich auch jetzt daselbst.
+Aber etwa 2000 mormonische Missionare durchziehen die Welt und werben
+für J. Smiths Lehre und Sendung. In Deutschland und der Schweiz soll es
+etwa 5000 Mormonen geben, deren heißeste Sehnsucht es ist, einmal nach
+Salt Lake City zu kommen und im Schatten des Tempels zu sterben ...
+
+ * * * * *
+
+Ich hatte die Stadt durchschritten und stand am sogenannten
+„Eagle-Gate“ (Adler-Tor), das sich aus vier eisernen Bogen bestehend,
+vom Unionsadler gekrönt, angeblich über „die längste Straße der
+Welt“ spannt dicht beim Grab des mächtigen Brigham Young. Salt Lake
+City ist so modern geworden, daß sich auch schon ein paar stattliche
+Wolkenkratzer erheben, wenn auch nicht von der Höhe derjenigen
+Neuyorks. Die Innenstadt ist umkreist von einem Kranz höchst gefälliger
+und geschmackvoller Landhäuser. Alle Straßen, deren ein großer Teil
+mit hohen Pappeln bepflanzt ist, machen einen äußerst sauberen und
+gepflegten Eindruck. Um die Stadt leuchten Schneeberge. In der Tat,
+eine prächtige Lage für das mormonische Zion! In einigen kleineren
+Straßen entdeckte ich auch noch recht alte Häuser, darunter ein aus
+rohen Balken gezimmertes Blockhaus, das erste in Salt Lake! -- --
+
+Wolken hatten sich zusammengezogen. Es fing an zu regnen. Ich flüchtete
+in die neue stattliche, gotische katholische Marienkathedrale und
+empfand wieder einmal, daß es doch etwas Schönes um die offenen
+katholischen Kirchen ist; sie bieten den Fremden und Reisenden stets
+einen unentgeltlichen Ruhesitz, wo man dem Lärm des Straßenverkehrs
+und der Nervenanspannung der Besichtigungen auf eine Weile ungehindert
+entfliehen kann. Ich suche sie daher in fremden Städten immer gern auf
+und saß auch jetzt eine Weile in Salt Lake so gut in der katholischen
+Kirche wie in München in der Theatiner Hofkirche, in Venedig in S.
+Marco oder in Rom in Maria Maggiore. Es ist auch gewiß etwas Großes
+um das Weltumspannende der katholischen Kirche, die dieselbe in Köln
+oder in Sevilla, in Dresden oder in St. Marys Kathedrale in Salt Lake
+ist. Der Katholik kann sich darum überall in der Welt in seiner Kirche
+sofort daheim fühlen und zurechtfinden ...
+
+ * * * * *
+
+Wieder verließ ich wie im Staat Neumexiko in Santa Fé und San Franzisko
+im Schlafwagen auch das Zion der Mormonen des Abends. Fort ging’s in
+das Zauberbergland +Kolorados+. Bei der Abfahrt leuchtete mir noch ein
+strahlendes Alpenglühen auf den Wasatchbergen den Abschiedsgruß ... Ein
+letzter wundervoller Eindruck!
+
+Ich hatte wieder eine weite Fahrt vor mir, wieder eine ganze Nacht und
+einen ganzen Tag durch einen großen Teil des Staates Utah über die
+Kette des Wasatchgebirges hinein in das größte Gebirgs- und Alpenland
+Amerikas Kolorado bis nach „Kolorado-Springs“ an den Fuß des 4300
+~m~ hohen Pikes Peak, den Eckpfeiler des Felsengebirges am Rande der
+unendlichen Mississippiebene. War ich wieder soweit, dann hatte ich die
+ganze mächtige Breite des Felsengebirges wieder hinter mir.
+
+Ich las auf meinem Bett sitzend noch eine Weile in der Mormonenbibel,
+dann entschlummerte ich in meiner „~upper berth~“, die ich mir wieder
+rechtzeitig gesichert hatte. Ich war jetzt schon so sehr an das
+Schlafwagenfahren gewöhnt, daß ich so ruhig und gut wie im schönsten
+Hotelbett schlief. Dazu hielt der Zug in dieser Nacht wohl gar nicht,
+und ich wurde so wieder 700 Meilen, also etwa eine Strecke von
+Königsberg-Basel mühelos weitergerollt. Am „Jordan“ entlang ging es
+vom Salzsee zum viel kleineren Utahsee und dann keuchend hinauf über
+die Paßhöhe des Wasatchgebirges (2300 ~m~) und wieder hinab durch das
+sogenannte „Castle Gate“, an dessen Eingang drohend zwei riesige 150
+~m~ hohe aufragende Sandsteinfelsen stehen und kaum den eingleisigen
+Schienenweg hindurchlassen, zum Green River, einem Quellfluß des
+Koloradostromes. Von all dem sah ich freilich wenig, sondern verschlief
+es; aber am nächsten Tage sah ich dergleichen genug, was den stolzen
+Namen der Bahnlinie als der „~most scenic line +of the world+~“
+rechtfertigte, denn sie geht mitten durch das wildzerklüftete Alpen-
+und Goldland Kolorado, die „Schweiz“ der Vereinigten Staaten, hindurch.
+
+Ich erwachte am Morgen, als wir schon die Koloradowüste hinter uns
+und den Green River überschritten hatten und im felsigen Cañon des
+Grand River, des anderen Quellflusses des Kolorado, fuhren. Aus
+dem lieblichen Kulturparadies am Salzsee war ich in die wilden
+Bergschluchten Kolorados, wie aus dem Italien und Spanien Kaliforniens
+in die Schneewelt der Sierra Nevada und aus dieser wieder in die
+sengende Wüste Nevadas versetzt. Was für Verwandlungen! So war ich
+wieder am Koloradofluß, in dessen wilden Großcañon ich vor etwa einer
+Woche von 2000 ~m~ Höhe geschaut hatte -- freilich mehrere hundert
+Meilen von hier südlich -- und den wir bei Needles an der Grenze
+Kaliforniens bei herrlichstem Sonnenuntergang breit wie einen Meeresarm
+gekreuzt hatten. Jetzt dampften wir seinen Oberlauf aufwärts. Wir
+hielten in Grand-Junction, wo eine Nebenlinie nördlich durch das
+Bergland auch nach Kolorado Springs führt. Ich blieb auf der kürzeren
+Hauptlinie, die ein Umsteigen ersparte. Aber jedem Leser rate ich, im
+entsprechenden Fall doch lieber die noch viel interessantere Nebenlinie
+zu benutzen.
+
+Die Farmen in den Hochtälern wie auf Alpenweiden und -matten erwachten!
+Hunde spielten vor den schweizähnlichen Blockhäusern. Hühner gackerten
+heimatlich. Hemdärmelig standen in hohen Stiefeln und wollenen Jacken
+stämmige Menschen vor ihren Blockhäusern, die mich sehr an die am
+Fuß der San Franziskoberge in Flagstaff erinnerten, und schauten dem
+Tagesereignis, dem Zug, nach ...
+
+Es ist herrlicher Morgensonnenschein. Aus einem Cañon geht es ohne
+Unterlaß in den anderen. Meist läßt der Felsabsturz gerade nur noch
+den Platz für die Bahnlinie frei. Ein Zugzusammenstoß muß hier
+leicht möglich, aber nicht gerade ungefährlich sein! Bergwerkstollen
+sieht man bis hoch an die Felswände hinauf. Im Wagen sitzen allerlei
+-- amerikanisch! -- bibellesende Menschen, darunter auch wieder ein
+Heilsarmeesoldat. Mit einer ihre Morgenandacht im Wagen haltenden
+jungen Dame komme ich ins Gespräch. Sie stammt von deutschen Eltern
+und bekennt sich als eifrige Sonntagsschullehrerin. Sonntags besucht
+sie zwei- bis dreimal ihre Kirche. Sie liest fast nur in der Bibel,
+sagt sie. Andere Bücher bedeuten nichts! Meine Morgenandacht bestand im
+Augenblick im Hinausschauen in die großartige Natur- und Gebirgswelt.
+Redete nicht auch hier Gott zu mir? Ich brauchte jetzt kein Buch über
+Gott. Meine Bibel waren im Augenblick die grandiosen Felsabstürze
+und Schneehäupter und rauschenden Ströme, an denen ich mich nie müde
+sehen konnte. Und etwa zur Mormonenbibel zu greifen, hatte ich jetzt,
+obwohl wir kaum aus Utah heraus waren, immer weniger Neigung. Was
+ging mich jetzt die abstruse und unmögliche Geschichte der Juden auf
+dem amerikanischen Kontinent vor ein paar tausend Jahren an? Sollten
+wirklich Juden durch diese Kañons gezogen sein oder auf diesen Almen
+ihr Vieh geweidet oder an diesen rauschenden Strömen gekämpft und sich
+ausgerottet haben? Ich bin kein Judenfresser -- aber das auch nur
+einmal auszudenken, wäre mehr als grotesk. Ärgerlich packte ich diese
+Art „Bibel“ zu unterst in meinen Handkoffer ... Die junge Dame war auf
+Deutschland nicht gut zu sprechen, obwohl sie es selbst nie gesehen
+hatte ...! „Aber es muß doch dort nicht schön sein“, so philosophierte
+sie zu mir flötend und selbstbewußt, sonst wären doch meine Eltern
+nicht hierher in die „States“ ausgewandert! Ihr Vater kam aus Elbing in
+Westpreußen, wo er ein kleines Bauerngütchen besessen hatte, und hier
+war er allerdings bald Großfarmer geworden. Ich sagte ihr -- und es
+sollte keine bloße Höflichkeit sein -- daß ich hier am liebsten jetzt
+ausstiege und durch die Wälder ginge und über die Felsen dem Schnee
+entgegenstiege! Da sah sie mich ganz entgeistert an und bekam fast
+einen kleinen Ohnmachtsanfall: „Aber hier gibt es ja nirgends Wege! In
+diesem Lande geht man nicht spazieren!“ Mehr als mitleidig sah sie
+mich dabei an, und ich entgegnete ihr ebenso mitleidig in Gedanken:
+„Armes Land, das zum Wandern zu ungeheuer ist, das man nur im Expreß
+oder mit dem Auto durchrasen kann. Und selbst das nicht, denn auch dazu
+fehlen noch die Straßen durch die Rockies. Ihr Amerikaner, dachte ich,
+müßt doch eine ganz andere Seele haben als wir Deutschen. Bei euch ist
+alles aufs Riesige, Große, Ungemessene gestellt. Ihr kennt nicht die
+Kleinszenerie eines deutschen Mühlentälchens oder den lauschigen Sitz
+an der Quelle und den wohldurchwegten Buchenwald.“ --
+
+Wir waren inzwischen immer höher gekommen und fuhren wieder einmal auf
+2000 ~m~ Höhe. Die kleinen Bahnhöfe, die wir zuweilen passierten, an
+denen manchmal ein einziges Fräulein den ganzen Bahndienst versieht
+oder ein Bursche mit einer Flagge winkt -- ~NB~ die ganze bahnamtliche
+Verständigung! -- erinnerten mich lebhaft an Hochtäler in Tirol und
+ihre grasigen einsamen Weiden. Kühe weideten hier oben wie in den
+Alpen. Und ringsum grenzten Schneeberge den Horizont.
+
+Ja, jetzt schneite es gar. Wie lustig! Wie warm aber mochte es
+gleichzeitig auf dem Asphalt des Broadway in Neuyork sein! Nur die
+Gletscher fehlten hier zur Vervollständigung des alpinen Bildes. Von
+der Bahn aus wenigstens sah ich keinen. So tief wie in unseren Alpen
+reicht hier der Schnee nicht in die Täler. Sonst war alles wie in
+unseren Alpen. Auch wenn ich mir die Menschen hier oben betrachtete,
+so schienen mir die Bewegungen der Koloradoleute, an Sturm und
+Schnee gewöhnt, viel stämmiger, gemessener und gewichtiger als der
+typischen überbeweglichen Yankees. Die Koloradoleute kommen einem
+recht unamerikanisch vor, so wie etwa bei uns der Schwarzwälder oder
+Partenkirchener mit dem Berliner auf dem Asphalt der Friedrichstraße
+auch wenig gemein hat.
+
+Bald sind wir in vollendeter Schneelandschaft. Es schneit hier stark.
+Bahnrauch, Nebel und Schnee hüllen das Hochtal ein. Noch immer laufen
+die Gebirgsbäche zum Stillen Ozean. Wir sind in die romantische
+Schlucht des „~eagle-cañon~“ eingefahren. Die Schlucht ist nur noch
+wildrauschender Fluß und mehrere hundert Meter hoch aufsteigende
+Felswände. Die Bahn keucht in Windungen immer höher empor. Endlich in
+Höhe von 3184 ~m~ (!) -- also z. B. noch 400 ~m~ über dem Stilfser
+Joch in Tirol, einem der höchsten Alpen+straßen+pässe -- erreicht die
+Bahn den „Tennesseepaß“, d. h. die +Wasserscheide zwischen Stillem
+und Atlantischem Ozean+! Der Zug hält, gleichsam stolz auf seine
+Leistung. Es ist auch eine. Die Lokomotive faßt Wasser und Kohlen
+und erholt sich von ihrem Rekord, einen ~D~-Zug mit sechs Wagen auf
+solche Höhe hinaufgebracht zu haben. Für einen Augenblick springen wir
+Globetrotters von den hohen Trittbrettern aus unseren Pullmann-Wagen,
+die uns seit Salt Lake City schon wieder etwa 16 Stunden beherbergen.
+O diese wunderbare köstliche frische Hochgebirgsluft! Wir sind 200
+~m~ +über+ der Höhe der Zugspitze!! So ist es auch draußen recht
+empfindlich kalt. Das Thermometer zeigt 0 Grad! Rings hüllt uns eine
+neblige Schneelandschaft völlig ein. Schneehäupter schauen über
+alle Seitentäler herüber, darunter die stolzen Gipfel der „Sangre
+de Christo“-Berge[31]. Ach könnte ich ein wenig hierbleiben und die
+Koloradoalpen ersteigen! Aber die unerbittliche Zeit, Fahrplan, Geld
+und Arbeitsfrohn treiben mich mit ihrer Geißel und dem Ruf unserer
+Fronvögte: „~All aboard!~“ in die dumpfen Wagen mit ihrer verbrauchten
+Stickluft aus Nacht- und Tagkampieren, Speiseresten, Abfällen,
+weggeworfenen Zigaretten, Zeitungen u. dgl. zurück.
+
+In Station „Buena Vista“ ist da oben wirklich eine Prachtaussicht. Wir
+fahren eine Zeitlang auf einem Hochplateau in 3000 ~m~ Höhe. Um uns
+erheben sich die sogenannte „~Collegiate Peaks~“, die nach den großen
+Universitäten genannt sind: „~Mount Yale~, ~Mount Princeton~ und ~Mount
+Harvard~“, jeder ein Montblank für sich, an 4300-4400 ~m~ hoch! Nicht
+weit von hier ist ein Tunnel, durch den die dortige Bahnlinie sogar in
+3500 ~m~ (!) Höhe die Wasserscheide der Ozeane überschreitet. Draußen
+steht -- wie ich beim Hinaussehen feststelle -- wieder einmal bei
+ein paar Hütten eine kleine Holzbaukastenkirche. Einige weidende Esel
+zeigen sich uns als die einzigen Lebewesen hier oben, wie auch diese
+geduldigen Tiere allein bei uns nach den Alpenhütten emportraben. Fast
+heimatliche Gefühle stellen sich bei mir ein, je öfter ich daran denke,
+daß es wieder dem Atlantischen, „unserem“ Ozean zugeht! Werde ich noch
+einmal im Leben am Rande des Pazifik liegen, mich in seinem Sande in
+der Bucht von Montery wohlig wärmen oder nach der paradiesischen Insel
+Santa Catalina hinüberfahren oder die Seelöwen gegenüber dem Goldenen
+Tor der San Franzisko-Bucht brüllen hören? Das alles kam mir jetzt auf
+diesen hochalpinen Ebenen wie ein sonniges, aber verklungenes Märchen
+vor samt den Zinnen des Mormonentempels und den weiten glitzernden
+Fluten des Salzsees ...
+
+Allmählich ging es von der alpinen Hochebene wieder herab in einen
+neuen schaurigen Cañon. Die Bahntrasse hatte sich beträchtlich
+gesenkt. Es war wohl der vierte große Cañon dieses Tages, der des
+„Arkansas-River“, der viele hundert Meilen lang bereits dem „Vater der
+Ströme“, dem Mississippi, zuströmt. Sein Wasser rauscht frisch und
+kalt, wie es aus den Bergen kommt. Mächtige Felsblöcke sperren seinen
+Weg. Immer enger wird der Bahnweg. Wie ein ständig sich krümmender
+Wurm windet sich der Zug durch die riesige Schlucht. Wirklich, diesmal
+war der Mund nicht zu voll genommen: Es war „~the most scenic line of
+the world~“, die ich fuhr. Der Arkansascañon übertraf alle Tiroler,
+Schweizer und oberbayrischen Klamms zusammen, die ich gesehen hatte.
+Welche Wildromantik ständig da draußen! Mich beseligte ein eigenartiges
+stilles Glücksgefühl, das alles einmal sehen zu dürfen. So hätte ich
+bis ans Ende der Welt fahren können! Nur zu schnell glitt alles
+vorüber ...
+
+„~Morningpapers~“[32] wurden ausgeboten. Was scherten mich jetzt
+in dieser Alpenszenerie die Politik der Welt und die Börsenkurse,
+Theatergrößen und Sporthelden! Wie lächerlich klein, unwichtig und
+aufgebauscht erscheint all das Menschengetriebe der Kulturgroßstädte
+hier oben! Andere im Wagen studieren immer von neuem die Fahrpläne,
+die sie doch bald auswendig können müssen, um die Zeit totzuschlagen,
+die mir viel zu schnell vergeht. Auch Kartenspiel ist nicht jedermanns
+Sache und dünkte hier mich Sünde. Ich studiere derweilen immer aufs
+neue die majestätische Natur draußen und suche die großen Eindrücke
+recht fest und tief in mich einzusaugen ...
+
+An den kleinen Stationen, wo es etwa alle ein bis zwei Stunden einmal
+hält, steigt niemand ein und aus. Aber zuletzt, ehe wir aus dem
+Felsengebirge austreten, kommt noch das Großartigste von allem, die
+sogenannte „Royal-Gorge“[33]. 800 ~m~ hohe Wände steigen hier fast
+senkrecht aus der Schlucht empor. Die Schlucht wird jetzt so schmal,
+daß die Spur für die Bahn zum Teil erst künstlich geschaffen werden
+mußte. Auf hängender Brücke (!), deren obere Eisenbänder in die
+Felswände eingelassen sind, überschreitet die Bahn die allerengste
+Stelle. 13 ~km~ lang ist dieser ganze unbeschreiblich romantische
+Engpaß. Unter uns oder dicht neben uns tost der Arkansas-River. Hier
+wächst kein Gräslein mehr in dieser Teufelsschlucht, kein Sonnenschein
+dringt in die Tiefe ... Der Zug hält einen Augenblick zur Bewunderung
+der grandiosen Gebirgsszenerie. Dann auf einmal tritt nach nicht
+allzulanger Weiterfahrt die Bahnlinie urplötzlich ins offene Gefilde
+hinaus. Wie aus einem Höllental geht es ins Himmelreich, wie aus der
+Teufelsschlucht des Gotthardpasses in das grüne „Andermatt“. Die
+Berge treten zurück. Die Baumblüte ist im Gange. Noch erscheinen
+keine zusammenhängenden Siedlungen, sondern erst nur Einzelfarmen.
+Berittene Hirten treiben mächtige Kuhherden in die Hürden, denn der
+Tag neigt sich wieder einmal zum Abend. Wir halten in Cañon-City,
+dann in Pueblo, das nicht mehr weit von La Junta ist, der Gegend, wo
+ich mein Scheckbuch verlor und wiederfand. Ich bin also eine riesige
+Schleife gefahren. Ich steige aus in dem amerikanischen Davos,
+in „Kolorado-Springs“ am Fuß des 4300 ~m~ hohen Pikes Peak. Der
+vielbesuchte Badeort liegt selbst 1800 ~m~ hoch, also auf Rigihöhe.
+Dicht vor sich hat man die Kette des Felsengebirges, das ich einst
+so sehnsüchtig erschaut und nun zweimal so ausgiebig seiner ganzen
+ungeheuren Breite nach durchfahren hatte; zur Rechten beginnen die
+ebenso ungeheuerlichen Mississippiebenen ...
+
+Als ich aus dem Bahnhof trat, fiel schon die Nacht ein. In meinem
+Logis, das ich bald gewählt, freute es mich doch, nach der 24stündigen
+Fahrt seit Salt Lake wieder einmal ungerollt und ungewiegt schlafen zu
+dürfen. Wie in Kalifornien in Los Angeles, Monterey und San Franzisko
+wollte ich mich auch hier in dem vielgerühmten Klima ein bißchen
+erholen und es mir auf ein bis zwei Tage gemütlich machen, denn noch
+immer lagen ungeheure Entfernungen vor mir. Erst ein Drittel der Breite
+der Union war wieder von Westen nach Osten durchmessen ...
+
+Von Kolorado-Springs, dem Davos oder Luzern Amerikas, kann man viele
+herrliche Touren machen, aber dazu braucht man Führer, Esel, weitere
+Bahnfahrten, so in die „Cheyenne Berge“, die Alpenfahrt nach der
+Goldgräberstadt „Cripple Creek“, vor allem aber zu dem nach dem
+Indianergott Manitou, dem „großen Geist“ genannten Gebirgsort am Fuß
+des Pikes Peak, zu dem „~garden of the Gods~“, dem Göttergarten mit
+seinen grotesken Felsbildungen, und vor allem auf den die ganze Gegend
+beherrschenden „Pikes Peak“ selbst.
+
+Es war fast immer blendender Sonnenschein, wenn ich aufstand. In
+Kolorado-Springs regnet es von September bis April überhaupt nicht;
+selten fällt Schnee! Es ist noch trockener und sonniger als Davos und
+wird daher viel von Brustkranken, Tuberkulösen und Neurasthenikern in
+der Union aufgesucht. Von den endlosen Prärien der Mississippiebene
+weht der reine warme Wind herein. Die hohen Berge der Rockies schützen
+es gegen Stürme und Kälte. Es war also allein schon ein erhebendes
+Bewußtsein, an einem so gesunden und paradiesisch-klimatischen Ort
+zu weilen. Man lebte den ganzen Tag in dem Gefühl, wie von rosigen
+Engelslüften umgeben zu sein, und war von der fast fixen Idee besessen,
+daß man nur immer recht tief Atem zu holen brauche und die Lungen
+davon recht gefüllt mitzunehmen, um gesund zu sein. In der Tat, als
+ich wieder nach Chikago zu meinen Verwandten kam, waren sie erstaunt,
+mich trotz der inzwischen geleisteten Bahnfahrt von 5000 Meilen so
+frisch und rotbackig zu finden. Das hatte ohne Zweifel die Luft von
+Kolorado-Springs zusammen mit dem sonnigen Sand am Pazifik zuwege
+gebracht.
+
+So fuhr ich nach dem Frühstück sofort mit der Eisenbahn die nicht
+allzugroße Strecke über „Kolorado-City“ ins Gebirge hinein nach
+„Manitou“. Kolorado-Springs war schon still. Denn die großen Hotels
+waren noch geschlossen. Die Saison war noch nicht angegangen. Aber
+Manitou war geradezu noch wie ausgestorben. Vielleicht hätte ich hier
+jetzt noch nicht einmal ein Zimmer bekommen. Denn alle Pensionen
+und Gasthöfe schienen noch geschlossen zu sein. In Kolorado-Springs
+dominierte schon einzigartig schön das Montblanchaupt des Pikes Peak,
+aber in Manitou wirkte es geradezu erdrückend. Man war ihm hier jetzt
+näher wie in Lautersbrunn oder Wengen in der Schweiz der „Jungfrau“.
+Manitou liegt verstreut mit Villen und Pensionen in einem alpinen
+Kessel, etwa 2000 ~m~ hoch. Von hier aus wird die Besteigung des Pikes
+Peak meist unternommen. Und die hatte ich mir nun einmal schon lange
+in den Kopf gesetzt. Sie stand als unerschütterlicher Punkt auf meinem
+Reiseprogramm.
+
+Es geht auf den Pikes Peak eine Zahnradbahn hinauf, die drei Stunden
+braucht. Aber die hätte ich verschmäht, auch wenn sie gegangen wäre.
+Gewiß war sie auch für meinen Geldbeutel zu teuer. Ebenso wie ich es
+für eine Entheiligung unserer Alpen halte, daß sich jetzt jede feiste
+Madame oder jeder Schieber auf die Jungfrau oder bald auf die Zugspitze
+hinauffahren lassen kann. Auch auf den Rigi und den Pilatus sind wir
+seinerzeit ganz zu Fuß hinauf- und wieder hinuntergestiegen. Das war
+redliche Touristenarbeit. Die Zahnradbahn war aber noch nicht wieder
+eröffnet! Außer der Zahnradbahn geht eine 27 ~km~ lange Fahrstraße
+auf den Gipfel! Die kann man hinauffahren. Aber sie war für mich zu
+weit. Ich wäre auch nie in der Kutsche hinaufgefahren. Zu Fuß wäre ich
+hinauf-, aber an einem Tage nicht wieder heruntergekommen! Endlich geht
+ein Fuß- und Reitweg durch den Englemans Cañon hinauf, zu dem man
+sechs Stunden braucht! Mit dem Fußweg wollte ich es tapfer versuchen.
+Ausgerüstet war ich zwar gar nicht dafür. Ich hatte weder Bergschuhe
+noch Alpenstock, auch keine langreichende Wegzehrung! Was hatte ich
+auf dem Frühlingspflaster in Boston und Chikago auch an Alpentouren
+im Felsengebirge in Schnee und Eis gedacht! Schon am Niagara war ich
+höchst überrascht, ihn Anfang April noch völlig vereist anzutreffen ...!
+
+Ich wanderte also zunächst, als ich aus der Bahn stieg, durch den
+prächtigen Luftkurort Manitou, kam am Bahnhof der Zahnradbahn vorüber
+und stapfte tapfer, klirrend meinen Stock aufstützend, den Fahrweg zum
+Englemans Cañon hinauf. Es wurde immer stiller und einsamer um mich.
+Nur die Sonne schien und war meine treue Begleiterin. Der Fahrweg
+hörte bald ganz auf und wandte sich rechts ab. Der Fußweg hörte bald
+auch auf -- nämlich im tiefen Schnee! Nun blieb nur noch die Trasse
+der Zahnradbahn als Pfad zu erkennen. Der folgte ich. Einige weidende
+Esel waren die letzten Lebewesen gewesen, die ich sah. Im Sommer
+trugen sie wohl unermüdlich die Touristen auf den Alpengipfel des
+Pikes Peak. Nun kam lange gar nichts mehr. Ich setzte immer Fuß vor
+Fuß, eine tüchtige tiefe Spur hinter mir lassend. Nach einiger Weile
+hüpfte mal ein graues Eichhörnchen über den Weg, das noch lange nicht
+daran dachte, sein Sommerkleid anzulegen. Hier und da löste sich im
+wärmenden Sonnenschein eine Schneelast von den dichtstehenden Tannen
+und huschte mit gespenstischem Laut zur Erde nieder. Eine reine Luft
+war rings zum Jauchzen. Ein Himmelblau spannte sich über mir, wie ich
+es so tief und klar kaum je gesehen hatte. Ich dehnte und weitete meine
+Brust und füllte die Lungen, als ob es bis ans Lebensende reichen müßte
+... So war eine Stunde nach der anderen vergangen. Aber der Pikes
+Peak erschien mir immer höher und -- ferner! Rings um mich war alles
+Schnee. Auch die Trasse der Zahnradbahn war jetzt so dicht mit Schnee
+zugedeckt, daß sie kaum noch zu erkennen war. Jeder Schritt wurde zu
+einer mächtigen Anstrengung. Lautlos still war alles ringsum. Leise
+Zweifel begannen in meiner Brust aufzustehen, ob ich wohl heute noch
+hinaufkäme. Oben sollte ein Gasthaus sein, aber es war gewiß jetzt
+noch geschlossen! Ein Herr und eine Dame waren mir entgegen abwärts
+geschritten, wohlausgerüstet wie Alpensteiger. In der Freude, in dieser
+Hochgebirgseinsamkeit einmal plötzlich Menschen zu sehen, griff ich
+auf gut deutsch an den Hut und sagte fröhlich, ganz vergessend, wo ich
+war: „Guten Morgen“! Die Lady sah mich groß an, offenbar sehr erstaunt
+und beleidigt zugleich, daß ich es wagte, als Mann eine Dame zu grüßen
+und anzusprechen, und grüßte nicht wieder! Ich hatte im Augenblick
+auch ganz vergessen, daß ich ja auf amerikanischem Boden eine Dame
+nicht zuerst grüßen darf! Und selbst auf dem Weg zum Pikes Peak muß
+man die Form wahren! Der Herr, offenbar, wie ich beim Näherkommen sah,
+ein Führer, murmelte lächelnd ein paar Worte. Ich rief ihm noch nach,
+wieweit es noch auf den Pikes Peak sei, da antwortete er: „Bis zum
+~half-way-house~ noch eine gute halbe Stunde.“ So stapfe ich weiter,
+in der Hoffnung, beim „~half-way-house~“ wohl eine trockene und warme
+Stube zu finden. Dann überließen sie mich meinem Schicksal. Als ich
+endlich, vom ewigen Schneestapfen und Bis-ans-Knie-Einsinken recht müde
+geworden, das „~half-way-house~“ erreiche, ist es -- verschlossen!
+Ich rüttele an allen Türen, es hilft nichts. Die Fensterläden sind
+zugeschlagen. Kein Lebewesen, weder Mensch noch Tier, regt sich in ihm.
+Mir wie zum Spott steht bloß groß da angeschrieben: „~Half-way-house~“
+-- und droben erhob der Pikes Peak sein Haupt, jedesmal höher, ferner
+und anscheinend unerreichbarer denn je zuvor!
+
+Ich verzehrte meinen Mundvorrat an Gebäck und Orangen im Stehen. Meine
+Füße steckten naß in leichten Strümpfen und durchlässigen Schuhen wie
+in ständigem Schneewasserbad. Ich überlege. Zum Umkehren kann ich
+mich noch nicht entschließen; aber ob ich heute noch auf den Pikes
+Peak komme und auch wieder mit heiler Haut bei diesen unerwarteten
+Schneeverhältnissen herunter, ist mir nun höchst zweifelhaft geworden.
+Und wenn oben gar auch verschlossen ist wie hier das ~half-way-house~,
+sollte ich dann die Nacht oben im Schnee zubringen? Das waren keine
+angenehmen Aussichten! Wie es nur wohl die nicht wiedergrüßende
+Lady gemacht hatte? Hatte sie vielleicht einen Schlüssel zu dem
+Unterkunftshaus mitgehabt? Meine Wirtin in Kolorado-Springs hatte es
+mir nicht sagen können, ob „oben“ offen sei und ob man jetzt schon
+hinauf könne. Ich müsse es versuchen. Ich las in meinem getreuen
+Bädeker nach, da fand ich den mir jetzt leider nur allzu wahr
+erscheinenden Satz: „Die Besteigung des Pikes Peak ist des Schnees
+wegen nicht vor Juni, nur im Sommer anzuraten!“ Er hatte recht, der
+treffliche Bädeker, wie immer. Aber da ich im tiefen Schnee so manchen
+Berg auch im deutschen Winter erstiegen hatte, dachte ich, ich könnte
+auch den Pikes Peak in Amerika im April zwingen ... Der Mensch
+denkt! ...
+
+Ich stapfte weiter. Meine Stiefel waren außen Schnee und innen Wasser.
+Ich gab das Rennen noch nicht auf. Oder sollte ich etwa doch besiegt
+einen Kompromiß schließen? Kompromisse sind stets vom Übel. Aber
+manchmal geht es doch nicht anders. Rechts oben über einem steilen Hang
+schaute ein Aussichtstempel herab: „~Grand-view-rock~“ nannte er sich.
+Ein Wegweiser, aber jetzt ganz ohne Weg, wies hinauf. Sollte ich mich
+mit diesem kleinen Pikes Peak begnügen? Schmählich! Aber der Mensch
+versuche die Götter nicht! Sollte etwa nachher in den amerikanischen
+Zeitungen stehen: „Am Pikes Peak wurde ein deutscher Tourist erfroren
+und entkräftet aufgefunden. Aus seinen Papieren ergab sich, daß er usw.
+...“ Nein, diese Sensation gönnte ich den so sehr sensationslüsternen
+„~papers~“ neben alle den anderen auf dem Asphalt Chikagos und Neuyorks
+denn doch nicht! Dazu war der ~sacro egoismo~ in mir zu lebendig. Also
+wandte ich mich rechts hinauf und stieg zunächst weg- und steglos durch
+den Wald und über vereiste Felsen zum „~grand-view-rock~“ hinauf, bis
+mir das Herz bei dem fast senkrechten Steigen bis zum Halse hinauf
+klopfte ...
+
+[Illustration: ~SALT LAKE CITY~
+
+~Der Tempel-Block in Salt Lake City~]
+
+[Illustration: ~WASHINGTON~
+
+~Das Capitol~]
+
+Ich hatte ihn erreicht. Auf hohem Felsen thronte ein Holztempelchen.
+Ich trat ein. Die Aussicht von oben war in der Tat glänzend
+und „groß“. Unten zu meinen Füßen lag Manitou wie aus einer
+Spielzeugschachtel aufgebaut, weiter hinaus Kolorado-Springs, und
+dann ergoß sich die endlose Ebene wie ein Meer bis an den weitesten
+Horizont; ringsum aber die immer gewaltiger ansteigenden Berge. Über
+allem das noch immer unbezwingliche Schneehaupt des Pikes Peak! Ich
+stand wohl jetzt etwa noch knapp 1000 ~m~ unter seinem Gipfel. Es war
+Mittag. Der Hunger meldete sich. Und der Weg abwärts und zurück war
+auch noch ein gutes Stück Arbeit. So entschloß ich mich schließlich
+doch schweren Herzens, die weitere Besteigung des Berges nicht zu
+versuchen. Aber es hat mich einen Kampf gekostet ...!
+
+An den Felsen des ~grand-view-rock~ waren sehr merkwürdige Inschriften,
+die zur religiösen Bekehrung riefen, angeschrieben, z. B.:
+
+ „~God will save us. The wicked go to the hell. Where will you spend
+ eternity? He that believes, shall be saved. He, that does not, shall
+ be damned.~“[34]
+
+Also Heilsarmeefrömmigkeit bis auf den Pikes Peak hinauf! Ob das hier
+gerade sehr geschmackvoll wirkte? Ob nicht die grandiose Bergwelt
+allein dem Menschen mehr wirkliche Gotteserkenntnis predigte als
+solche Inschrift? Das Holzgeländer des Tempelchens, das vor der Tiefe
+schützen sollte, war recht morsch. Im Winter mag hier manch schöner
+Sturm und Frost wüten! Nachdem die letzte Kost verzehrt und der letzte
+Blick hinauf auf das göttergleiche Haupt des Pikes Peak und hinab in
+die endlosen Prärien getan war, begann ich innerlich traurig den nicht
+mühelosen Abstieg nach Manitou ...
+
+In Manitou wieder angekommen, mache ich, ehe ich nach Kolorado-Springs
+zurückkehre, noch einen weiten Umweg in die „~gardens of the gods~“,
+d. h. in jenes Gebiet der merkwürdigsten Sandsteinbildungen, noch
+vielmal absonderlicher als etwa die unserer sächsischen Schweiz,
+besonders eigenartig durch ihre rotglühende Färbung. So wandle ich am
+Nachmittag -- die Schneeregion ist wieder verlassen -- zwischen dem
+„Turm von Babel“, einem mächtigen mehrgipfligen spitzen Fels, den „drei
+Grazien“, drei steilspitzen Nadelfelsen, den „siamesischen Zwillingen“,
+zwei eigenartig fast in gleicher Höhe nebeneinander aufragenden
+und durch ein Felsstück verbundenen Gesteinstürmen, so daß sie wie
+zusammengewachsen erscheinen, am „Wackelstein“, einem mächtigen auf
+einer Ecke balanzierenden Felsblock, und dem „Gateway“, einem mächtigen
+Felsentor, vorbei zu den Höhlen der Felsenbewohner (~cliff-dwellers~)
+aus vorgeschichtlicher Zeit und den „Titanen“felsen, die fast den
+Eindruck assyrischer Götterfratzen machen. Und zwischen all diesen
+seltsam bizarren roten und weißen Sandsteinbildungen blickt immer
+wieder das majestätische Haupt des Pikes Peak aus der Ferne hindurch
+wie der schneeige Libanon durch die grandiosen Tempelruinen von Baalbek
+in Syrien ...
+
+Gegen Abend bin ich wieder in Kolorado-Springs und kann mich auch hier
+nicht satt sehen an dem dominierenden Schneegipfel.
+
+ * * * * *
+
+Nach einer nach diesen Anstrengungen wohldurchschlafenen Nacht
+entführte mich der Zug in die „Königin des Westens“ Denver. Mein lieber
+Freund Moore in Harvard, Dolmetsch und Cookführer in Konstantinopel
+und Griechenland, hatte es mir geradezu auf die Seele gebunden, daß
+ich seine Heimatstadt Denver besuchen müßte. Die Entfernung von
+Kolorado-Springs betrug 75 Meilen, also nur ein Katzensprung für
+amerikanische Begriffe. Während der ganzen Fahrt dorthin hatte man
+links eine Prachtaussicht auf die Kette des Felsengebirges. Und je
+weiter wir uns vom Pikes Peak entfernten, desto höher erschien er.
+Es war wieder ein feiner Frühlingsmorgen. Der Zug hatte mit Tuten
+öfters Vieh und Spaziergänger vom Bahndamm zu jagen, der auch hier als
+bequemster Verbindungsweg galt! Rechts dehnte sich der Blick in die
+endlose Prärie. Die Büffel in ihr sind freilich verschwunden. Die sieht
+man bloß noch im Golden-Gate-Park in San Franzisko oder in zoologischen
+Gärten. Auf 2000 ~m~ Höhe, auf der wir hinfuhren, waren die Bäume hier
+noch unbelaubt, während es in Kalifornien schon wie Sommer gewesen war!
+
+Denver liegt wie München auf einer Hochfläche vor den Alpen. Rings ist
+wohlangebautes Farmland. Aber nirgends entdeckte man in ihm so etwas
+wie Volkstracht. In der Stadt selbst, die sauber, aber mir auch recht
+windig vorkam, empfangen mich wieder endlose Straßenzeilen. Nachdem
+ich einen Lunch eingenommen habe, gehe ich zu dem erhöht liegenden
+Staatskapitol der Stadt, um von oben recht die Aussicht über die Stadt
+und auf das Felsengebirge zu genießen. Aber es ist Sonnabendnachmittag,
+und ich werde nicht mehr zur Kuppel heraufgelassen, es sei schon „für
+Sonntag gekehrt“! Das tut man also auch in Amerika! So konnte ich die
+schöne Aussicht, die das Felsengebirge hier in einer Ausdehnung von 270
+~km~ zeigt, nicht bewundern und mußte mich mit Streifen durch die Stadt
+begnügen. So ging ich unter anderem in den Stadtpark und treffe auf
+ein Denkmal des Dichters Burns mitten zwischen Kanonen! Geschmackvoll!
+Die Zeitungsbureaus sehe ich umlagert von Massen, die auf die neuesten
+Nachrichten über den Ausgang der Sonnabendnachmittags-Fußball- und
+-Baseballkämpfe warten! So war auch Denver typisch amerikanisch. Das
+amerikanische „Gesicht“ ist überall gleich ...
+
+Denver ist Hauptstadt des Staates Kolorado und dank der reichen
+Goldfunde und Minen äußerst schnell gewachsen. Erst 1858 wurde es von
+Goldgräbern gegründet, 1870 war es noch eine unbedeutende Stadt, heute
+zählt es schon 300000 Einwohner!
+
+Abends sitze ich schon wieder in meinem Schlafwagen, um in einer Nacht,
+einer Tagesfahrt und einer Nacht über Kansas City und den Mississippi
+wieder Chikago zu erreichen. Dann wird mein verbilligtes meterlanges
+Auswandererzettelbillett abgefahren und die große Schleifen-Westreise
+vorläufig vollendet sein. Stiller Mondschein liegt über den
+unendlichen Gefilden der Prärie. Ich war froh, in zwei +Nächten+ sie
+zu durchfahren. Denn sie noch einmal ganz bei Tageslicht in ihrer
+grenzenlosen Einförmigkeit zu durchleben, wäre fast eine zu große
+Nervenbelastung gewesen. Die Seele war nun aus Neu-Mexiko, Arizona,
+Kalifornien, Nevada, Utah, Kolorado zu sehr mit immer wechselvollen
+und romantisch-anziehenden Bildern gesättigt, um jetzt noch für die
+monotone Öde der Mississippi-Ebene empfänglich zu sein und sie etwa 36
+Bahnstunden lang hintereinander in sich aufzunehmen. Die Abspannung war
+aber auch sowieso noch groß genug. Ich fuhr also die Nacht zum Sonntag,
+den ganzen Sonntag und die Nacht zum Montag ohne Unterbrechung! Am
+Sonntag war der Zug sehr leer. Denn vielen Amerikanern ist es einfach
+Sünde, am Sonntag zu reisen. Die Zahl der Züge ist auch beschränkt.
+
+An wie vielen kleinen Städten, einsamen Farmen, kleinen Kirchen fuhren
+wir in den 36 Stunden vorüber! Und dazwischen Land, Land und immer
+wieder unendliches Land. In Kansas und Illinois fing es auch erst ganz
+schüchtern an, Frühling zu werden. Es ist die Gegend der furchtbaren
+Frühlingsorkane, der gefürchteten Tornados, die sich bilden, wenn
+die südlich warmen und nördlich kalten Luftströme ungehindert
+aufeinanderstoßen. Die Natur war noch keinen Schritt weiter wie vor
+zweieinhalb Wochen.
+
+Nachdem man viele Stunden lang nichts Besonderes gesehen hatte, zeigten
+sich einmal drei Jäger zu Pferde mit Flinten in der Steppe -- welch
+ein Ereignis! Ein andermal standen ein paar Männer an einem kleinen
+Bahnhof und sahen dem Zug nach -- ein Ereignis! Im Zuge selbst wurde
+es beim langen Fahren einer Dame übel. Bleich sank sie auf ihrem Stuhl
+zusammen -- ein Ereignis! Ich wundere mich überhaupt, daß es bei dem
+endlos langen Bahnfahren nicht noch mehr Menschen übel und ohnmächtig
+wird. Aber sie haben offenbar hier von Jugend an andere Eisenbahnnerven
+als wir! Ich wunderte mich auch manchmal über mich selbst, daß ich die
+12000-~km~-Bahnfahrt so gut überstanden habe! Aber nun kommt angesichts
+der ohnmächtigen Lady ratlos der Neger-Wagenhilfsschaffner auf mich zu
+-- was hat er nur mit mir vor? Erfolgt etwa ein neuer Angriff auf mein
+Scheckbuch? Er fragt mich, ob ich vielleicht ein „~physician~“[35]
+sei, und ob ich der bleichen Dame beistehen könne. Beschämt muß ich
+meine vollständige medizinische Unkenntnis eingestehen. Wie kam er
+auf mich? Hat er mir mit hellseherischen Augen die Verwandtschaft mit
+meinem Onkel, dem Doktor in Boston, angesehen? Immerhin riet ich, die
+Dame sanft zu lagern, ihr ein Kopfkissen unterzuschieben und etwas
+Wasser zu holen und dann sie sich selbst zu überlassen, bis sie wieder
+zu sich käme. Das geschah auch bald, genau nach meinem medizinischen
+Rat! Und ich war zum Glück weiterer medizinischer Künste enthoben. Für
+was man mich drüben alles gehalten hat! Bald war ich Landaufkäufer,
+Reisender, Zeitungsschreiber, Stundengeber, Student, Arzt, nur nicht
+das, was ich wirklich war ...
+
+Am Arkansasriver entlang ging es stracks gen Osten. Farmer stiegen
+ein, die nach Chikago wollten oder nach Neuyork zum Einkaufen! Welcher
+pommersche Bauer fährt bei uns nach Frankfurt am Main, Basel oder
+Mailand zum Einkaufen? Alle waren hier in der gleichen einförmigen
+städtischen amerikanischen Kleidung, auch die Farmer. Bauerntracht gibt
+es nicht. Man unterscheidet am Rock drüben niemand, keinen Kaufmann,
+Beamten, Farmer, Schreiber oder was sonst. Sie sind alle „~citizens~“,
+sitzen in derselben Eisenbahnklasse und treten gleich als „Bürger“
+auf ...
+
+In Kansas City hatte ich umzusteigen. Wie primitiv sind die Wartesäle
+selbst in einer so großen Stadt! Bloß Bänke in einer großen Vorhalle!
+Ich habe Zeit, gegenüber dem Bahnhof auf eine Felsenterrasse zu
+steigen. Rauchig und düster kommt mir an diesem Abend die Stadt vor.
+
+Wieder geht es hinein in den „~sleeper~“ nach Chikago, und ich schlafe
+dem Lake Michigan entgegen. Nächtlich prasselt beim Fahren tüchtig die
+Asche aus der Lokomotive auf das Dach. Der Zug fährt schlecht, ruckt,
+zieht an, stöhnt, pfeift, steht und fährt wieder. Ist etwas nicht im
+Lote? Ich denke an die dreimal mehr Eisenbahnunfälle in Amerika als
+in Deutschland, und es ist mir etwas ungemütlich. Aber wohlbehalten
+rollen wir früh in Chikago ein. Gott sei dank, einmal wieder auf festem
+Erdboden! Mein Billett ist abgefahren! -- --
+
+Diesmal langte ich in der Morgenfrühe in Chikago an, das war besser.
+Zwei Tage vorher hatte ein von Kanada einbrechender Schneesturm auch
+Chikagos Asphalt in Schnee gehüllt und weithin in Illinois, Wiskonsin,
+Michigan die Baumblüte „vernichtet“. So beuteten die Zeitungen schnell
+das unerwünschte Ereignis aus und kabelten, was für ein nationales
+Desastre führende Männer über Illinois prophezeiten! So daß man als
+naiver Mensch wirklich zuerst glaubte, die Union stehe am Vorabend des
+Hungertodes! Aber das diente wohl nur im voraus dazu, die amerikanische
+Menschheit auf höhere Obstpreise gefaßt zu machen, so daß der
+„Blizzard“ den Obstmagnaten nicht ganz ungelegen kam.
+
+In Wolken, Regen, Schnee und Nebel wirkten die Wolkenkratzerschluchten
+diesmal noch düsterer und grandioser als sonst. In den unteren
+Stockwerken brannte den ganzen Tag Licht. Bei Marshall, Field & Co. sah
+ich das alte wahnsinnige Getriebe und Gewimmel im Ein- und Ausgehen. In
+den Straßen wie immer die ~policemen~ und Negerfuhrleute. Zum Brechen
+voll waren die ~moving pictures~, Theater, Zirkusse. Man will Geld
+machen und sich vergnügen. Sonst will man in Chikago nichts ...
+
+Luft bekam ich erst am stürmisch erregten Michigansee mit seiner
+weiten, meerähnlichen Wasserfläche. Von ihr aus kann man durch die
+anderen Seen und den Lorenzstrom zu Wasser bis nach London fahren! Die
+„~stockyards~“ widerten mich an. Die Clowns und Akrobaten bei Barnum
+und Bailey lockten mich nicht mehr. Das Geschrei an der Börse hielt
+mich keine Minute. Auch nicht das römische Wagenrennen der Cowboys noch
+die Todesspringer aus der Kuppel des Zirkus scheuchten mich aus dem
+Schaukelstuhl meiner Verwandten, aus dem ich der lieben Kusine meine
+gesamte Rundreise nach Kalifornien zu schildern suchte. Mein Vetter
+wollte es gar nicht glauben, daß man in verhältnismäßig so kurzer Zeit
+solche Entfernungen durchmessen und soviel sehen könne und dabei noch
+Nerven behalten und gesund bleiben, ja gesünder wiederkommen könne
+als man fortfuhr. Ich freute mich, als ~German~ selbst den Yankees zu
+imponieren! Und das ist nicht immer ganz leicht.
+
+So nach einem zweiten Aufenthalt in der drittgrößten Stadt der
+Welt dampfte ich eines Morgens wieder im Pullman davon, aber nicht
+geradeswegs über den Niagara nach Boston zurück, wie ich gekommen
+war -- das wäre ja nichts Neues gewesen -- sondern nach einem neuen
+leuchtenden Stern in meinem Reiseprogramm, nach +Washington+. Hatte ich
+soviel in der Union gesehen von Osten bis zum äußersten Westen, so wäre
+es schon ein Akt internationaler Unhöflichkeit gewesen, wenn ich nicht
+auch der Hauptstadt meinen respektvollen Besuch gemacht hätte. Freilich
+von Chikago nach Washington fahren, das bedeutete noch einmal tief nach
+Süden ausbiegen und dann wieder weit hinauf nach Norden. Also auf nach
+Washington!
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 28: Letzter Ruf zum Abendessen.]
+
+[Footnote 29: Also etwa zwölfmal so groß wie der Genfer See!]
+
+[Footnote 30: Solche Dinge sind psychologisch möglich durch
+Zurücktreten des Wachbewußtseins und Hervortreten des Unterbewußtseins,
+das sich Dinge erinnert, die das Wachbewußtsein „vergessen“ hat.]
+
+[Footnote 31: „Blut Christi“-Berge von ihrer rötlichen Sandsteinfarbe.]
+
+[Footnote 32: Morgenzeitungen.]
+
+[Footnote 33: Königliche Schlucht.]
+
+[Footnote 34: Gott will uns retten. Die Bösen gehen zur Hölle. Wo
+willst du die Ewigkeit zubringen? Wer glaubt, wird gerettet werden; wer
+aber nicht glaubt, wird verdammt werden.]
+
+[Footnote 35: Ein Arzt.]
+
+
+
+
+Über Pittsburgh nach Washington.
+
+
+Ich schickte mich an, noch zwei mächtige Katheten eines riesigen
+rechtwinkligen Dreiecks abzufahren statt der viel näheren direkten
+Hypotenuse. Das hatte aber auch den Vorteil für mich, daß ich auf
+diese Weise nicht nur nach Washington kam, sondern zugleich die große
+Hafenstadt Baltimore und die „Wiege der Freiheit“, die „Stadt der
+Bruderliebe“, die Millionenstadt Philadelphia berührte, ja zuletzt auch
+noch einmal durch Neuyork kam. War ich dann wieder in meiner „Heimat“
+Boston, so hatte ich im ganzen eine riesige Acht gefahren, deren
+Schnittpunkt Chikago, deren bei weitem größerer unterer Teil gen Westen
+und der kleinere obere nach Osten lag. Immerhin waren es von Chikago
+nach Washington noch 650 ~km~ und von da nach Boston zurück weitere
+400, also wiederum über 1000 ~km~. Endlich aber kam ich unterwegs
+durch den großen Eisen- und Kohlenbezirk Pittsburgh, das amerikanische
+Essen, wo ich einen alten Großoheim eines meiner besten Jugend- und
+Schulfreunde besuchen und begrüßen sollte, der dort schon ein halbes
+Jahrhundert als Prediger einer kleinen Arbeitervorstadtgemeinde wirkte.
+
+So wallte ich wieder durch den amerikanischen Kontinent lotrecht auf
+die Küste des „heimatlichen“ Atlantischen Ozeans zu. Erst ging es
+durch den Staat „Indiana“, dann nach „Ohio“ hinein, das ich nicht allzu
+weit vom Südende des Lake Erie in seiner ganzen Breite durchfuhr. Ohio
+war mir seit Kindheit an ein vertrautes Wort samt seiner Aussprache
+„Oheio“, denn in meiner Kindheit wohnte Onkel E. mit seiner Musikschule
+in der Hauptstadt dieses Staates, dem durch seine Schweinezucht
+berühmten Cincinnati. Die Stadt selbst ist nach dem agrarischen Römer
+Cincinnatus, der vom Pfluge weg zum Diktator berufen wurde, wie wir als
+Quintaner schon lateinisch zu übersetzen hatten, benannt. Und wenn in
+meiner Kindheit an den Onkel geschrieben wurde, so wußte ich schon als
+Kind, daß das stets hieß: „Cincinneti, Oheio“. Aber nie hätte ich es
+damals für glaublich gehalten, daß ich einmal selbst in dies mysteriöse
+„Oheio“ (das uns Kinder immer ein bißchen an „heio, popeio“ erinnerte)
+verschlagen würde. Cincinnati berührte ich allerdings in dieser
+Nacht direkt nicht. Es ist berüchtigt wegen seiner fürchterlichen
+häuserumstürzenden und dächerabdeckenden Tornados. So vermieden
+wir beides und durchfuhren schlafend und seelenruhig den ganzen
+Staat „Ohio“. Die strahlenden Bogenlampen über den vom Regen nassen
+glänzenden Schienen des Central Union Depots in Chikago waren einer der
+letzten Eindrücke meines Wachbewußtseins, ehe ich in das andere Land
+der Träume hinüberschlief ...
+
+Am Morgen fuhren wir mitten durch grünes, ansprechendes Hügelland.
+Überall sahen frische grüne Halmspitzen hervor. Es wollte mit Macht
+auch hier Frühling werden. Wir hatten wieder „~eastern time~“ nach
+der „~mountain time~“ des Felsengebirges und der „~central time~“ von
+Chikago. Das Land war wieder bedeutend dichter besiedelt als in den
+Ebenen westlich Chikago. Den Ohiofluß aufwärts ging es gen Allegheny
+und Pittsburgh. Die einstigen Indianertäler sind heute voll Fabriken.
+Welche Wandlungen!
+
+Dicker Rauch lagerte über der industriereichen Gegend. Man glaubte um
+Birmingham oder an der Ruhr zu sein. Aus dem Sonnenschein des grünen
+Landes umfing es uns bald mit dunkelgelber Finsternis der Wälder von
+Fabrikschloten. Einst war Pittsburgh, das heute die amerikanische
+Metropole für Eisen und Kohle ist, einst nichts als ein kleines Fort
+namens Duquesne gegen die Indianer am Zusammenfluß des Allegheny River
+und des Monongahela gelegen. Heute ist es eine halbe Millionenstadt
+zwischen beiden. Schon ist der Ohio hier am Oberfluß fast so breit
+wie unser Rhein. Sein ganzer Lauf bis zum Mississippi aber gibt dem
+Missouri an Länge nicht viel nach.
+
+Wir fahren über den breiten Strom in die rauchende, stampfende,
+dampfende und dröhnende Stadt ein, wo auch schon genügend Wolkenkratzer
+ihren steilen Hals aus der City recken. Ja, das Flußtal des Ohio ist
+so sehr mit Rauch gefüllt, daß man kaum bis zur nächsten Brücke sehen
+kann! Ehe wir in den Bahnhof einlaufen, umkreist der Zug fast die ganze
+Stadt.
+
+Ich kann nicht sagen, daß mich Pittsburgh anzog, ebenso wie ich bis
+jetzt den Rauch der Ruhr mied und den englischen Industriebezirk um
+Manchester und Birmingham so schnell wie möglich wieder floh. Denn ich
+halte es viel lieber mit grünen Wiesen, blauen Seen und schneegipfligen
+Bergen und bin der altmodischen Meinung, daß Fabrik und Industrie,
+Kohle und Eisen die Menschheit zwar reicher, aber nicht glücklicher
+gemacht haben. Freilich muß ich zugeben, daß ich ohne Dampf und Eisen
+nicht nach Frisco und nicht nach Pittsburgh gekommen wäre.
+
+Die Stadt und ihre Schwesterstadt Allegheny, die wie Elberfeld und
+Barmen zusammenliegen, wird von steilen Hügeln umkränzt, so daß sie des
+Malerischen nicht ganz entbehrt. Neben Eisen und Kohle ist die Gegend
+ebenso reich an Petroleum und dem der Erde entströmenden geruchlosen
+Naturgas. Ich hatte keine Neigung, eins der riesigen Stahlwerke „Edgar
+Thomson“ oder die „Homestead Steel Works“, das älteste Werk Carnegies,
+oder die „Duquesne Steel Works“ zu besuchen, wenn es auch sicher höchst
+eindrucksvoll gewesen wäre. Den Lärm der Eisenhämmer und das Surren der
+Treibriemen kann ich, wenn ich will, auch bei uns genießen. Viel mehr
+zogen mich die Menschen an, ihre Meinungen und Schicksale. So pilgerte
+ich durch die Straßen nach Allegheny hinüber, zunächst einmal den
+achtzigjährigen Großoheim unangemeldet und überraschend aufzusuchen.
+Hoffentlich war er nicht etwa gerade kürzlich verstorben ...
+
+Unterwegs traf ich auf allerlei Anschläge: „~Vote for socialism!~“
+Der Aufschrei einer geknechteten und entwürdigten Menschheit! Wie
+viele Deutsche mögen unter den amerikanischen Arbeitern sein, die
+den amerikanischen Stahlmagnaten, Trusts und Milliardären fronen! In
+Pittsburgh soll es keine 24 Stunden ohne einen Streik abgehen! Wie
+viele deutsche Abkömmlinge haben hier Granaten im Weltkrieg gegen die
+deutschen Stammesbrüder gedreht! An einer anderen Ecke mitten zwischen
+den Wolkenkratzern ein Arbeitervermittlungsbureau mit der heimatlichen
+Anschrift: „Hier wird deutsch gesprochen.“ Wie mancher mag hier schon
+hoffnungsvoll eingetreten und furchtbar enttäuscht wieder gegangen sein!
+
+
+Aus: Rauchnächte.
+
+
+I.
+
+ Feuer rennt heraus, rennt herein, rennt überallhin,
+ Und der Stahlbarren wird zur Kanone, zum Rad, zum Nagel, zur
+ Schaufel,
+ Zum Ruder unterm Meer, zum Steuer der Luft.
+ Dunkel ist das Herz des Eisens,
+ Durch Dampf und Menschenblut.
+ Pittsburgh, Youngstown, Gary -- sie machen aus Menschen ihren Stahl.
+
+ Mit Blut der Menschen und Tinte der Kamine
+ Schreibt der nächtliche Rauch seinen Fluch:
+ Dampf in Stahl, Blut in Stahl.
+ Homestead, Braddock, Birmingham -- sie machen aus Menschen ihren
+ Stahl,
+ Dampf und Blut ist die Mischung des Stahls.
+ Der Vogelmensch summt
+ Im Blauen; Stahl singt
+ Ein Motor und surrt.
+ -- -- --
+
+
+II.
+
+ Schicksalsmonde kommen und gehen:
+ Fünf Männer schwimmen in einem Kessel aus rotem Stahl.
+ Ihre Knochen sind geknetet in den Teig des Stahls:
+ Ihre Knochen sind zerbrochen in Spulen und Amboß
+ Und in saugende Taucher meerkämpfender Turbinen.
+ Sieh sie im verworrenen Gerüst einer drahtlosen Station.
+
+ Einer von ihnen sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die Gesellschaft ist
+ gut zu mir. Amerika ist ein wundervolles Land.“
+ Einer: „Jesus, meine Knochen schmerzen. Die Gesellschaft ist eine
+ Lügnerin. Das und ein freies Land -- wie die Hölle!“
+ Einer: „Ich hab’ ein Mädel, einen Pfirsich! Wir sparen zusammen und
+ gehen fort auf eine Farm. Ziehen Schweine und sind unsre eigenen
+ Herren.“
+ Und die andern, rauhe Sänger der langen Heimwege.
+ Sieh dich um nach ihnen dort am stählernen Gruftgitter.
+
+ Sie lachen auf eigene Kosten.
+ Sie halfen dem Vogelmenschen ins Blaue.
+ Stahl singt ein Motor und surrt.
+
+ Carl Sandburg.
+
+ Aus: Die Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+ Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag. Berlin.
+
+So komme ich hinüber in die ansteigenden Straßen Alleghenys. In
+einem graudüsteren Arbeitervorstadtviertel klingle ich neben einer
+kleinen, fast baufälligen Kapelle an einem niedrigen einstöckigen
+Haus mit blanken Türgriffen. Mir klopft ein wenig das Herz. Wer
+wird öffnen? Lebt der alte treue Mann noch? Ein breitschultriger,
+weißbärtiger, freundlich blickender alter Herr von etwas gebückter
+Haltung in schwarzem Rock öffnet. Ohne Zweifel der alte Prediger! Er
+fragt englisch nach meinem Begehr und öffnet sofort weit die Tür zum
+Eintreten. Was er wohl von mir denken mag? Ob ich als Bräutigam eine
+Trauung bestellen will? Aber dazu sehe ich wohl nicht festlich und
+strahlend genug aus. Ob ich gar ein Begräbnis vermelden will, aber dazu
+lachen meine Augen doch zu hell. Dann bin ich sicher ein bettelnder,
+hilfesuchender Einwanderer und „Landsmann“? Das ist nicht so ganz
+falsch! Und ich? Ich kauderwelsche gar nicht erst englisch, sondern
+sage frisch und fröhlich auf deutsch: „Guten Tag, lieber Herr v. d. L.,
+ich soll Sie bestens von Ihrem Großneffen Alexander P. in Deutschland
+grüßen.“
+
+Der alte Mann fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück und sah mich
+groß wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. „Habe ich recht
+gehört?“ redete er jetzt auch gut deutsch, „Alexander P.?“ -- „Jawohl,
+wir haben neun Jahre zusammen auf der Schulbank gesessen, dann sind
+wir ein paar Jahre zusammen Studenten gewesen, und bei Ihrer Nichte,
+Frau Professor P., ging ich ein und aus.“ -- „Es ist nicht möglich?
+Aber wenn Sie es sagen, muß ich es schon glauben. Aber wo kommen Sie
+denn her?“ Wir standen immer noch zwischen Tür und Angel. „Gerade
+aus San Franzisko oder aus dem Mormonentempel in Salt Lake oder
+vom Pikes Peak herunter, wie Sie wollen.“ Jetzt machte er ein noch
+erstaunteres Gesicht und zog fast die Hand schon wieder zurück, die
+mich schon ins Zimmer zu bitten schien: „Da bin ich alter Mann von
+80 Jahren, obwohl ich dort drüben an dieser Kapelle schon 53 Jahre
+predige“ -- sein Finger wies auf die stark berußte alte steinerne
+Kapelle -- „noch nicht gewesen.“ Wir traten ins Haus, und ich mußte
+erzählen. Stundenlang saßen wir einander gegenüber, und ich erzählte
+von Deutschland, von seinen Verwandten und von meiner Reise durch die
+Union, von Neu-Mexiko und dem Grand Kañon und dem Stillen Ozean. Und
+dann fing er an, aus seinem Leben zu erzählen; fast ein Jahrhundert
+sprach aus seinen durchfurchten Zügen und mannigfachen Erlebnissen.
+Er war in Rom als Sohn eines bekannten deutschen Bildhauers v. d. L.
+geboren. Sein Vater starb früh. In meiner Heimatstadt besuchte er das
+alte städtische Gymnasium und konnte auch den Frankfurter Dialekt noch
+recht unverfälscht nachahmen. Ach, da mußte ich nun genau beschreiben,
+wie es jetzt auf dem Römerberg, am Dom und auf der „Zeil“ aussehe! Er
+kannte freilich nur die einstige freie Reichsstadt. Wie anders war seit
+Jahrzehnten alles geworden! Dann war er als junger Mensch nach Amerika
+gegangen in den Zeiten, wo Deutschland noch nichts bedeutete!
+
+Drüben wurde er erst Farmer. Die Gelehrsamkeit hatte er an den
+Nagel gehängt. Vom Farmer avancierte er -- echt amerikanisch -- zum
+Apotheker! Ohne eigentliche Lehre und viel Ausbildung. Aber dann
+zog es ihn doch wieder zur wissenschaftlichen Bildung zurück. Er
+übernahm eine Schullehrerstelle! Und schließlich folgte er dem frommen
+Sinn seiner künstlerischen Familie, deren Urheimat das Baltenland
+war, besuchte ein amerikanisches Presbyterianerseminar und wurde
+an der Kapelle drüben Prediger, der er noch heute, nach 53 Jahren,
+vorstand! So lernte er nacheinander italienisch, deutsch, englisch
+und französisch reden und hatte in seinem Leben den Einwanderern auch
+schon in allen diesen vier Sprachen gepredigt. Als er anfing, brachte
+seine Gemeinde für ihn gerade 87 Dollars Jahresgehalt durch freiwillige
+Beiträge zusammen! In seiner ersten Kirchenkollekte fanden sich sieben
+Cent! Seine Gemeinde blieb immer eine der ärmsten von den armen. Aber
+er hielt ihr die Treue. Augenblicklich war sie wieder auf 70 Familien
+zusammengeschmolzen und unfähig, für den alten Herrn ein Ruhegeld
+aufzubringen. So sah er sich genötigt, bis zum letzten Atemzug zu
+arbeiten. Und war es zufrieden.
+
+Wir plauderten lange. Ich fühlte mich bald bei dem lieben alten Herrn
+wie daheim. Er war seit Jahrzehnten Witwer. Aber da allmählich mein
+Magen etwas knurrte, so wollte ich mich auf eine Weile verabschieden,
+um irgendwo einen bescheidenen Lunch einzunehmen. Aber das litt der
+alte Herr nicht, sondern nötigte mich an seinen peinlich sauber
+gedeckten bescheidenen Tisch. Nach dem Essen mußte ich allerlei alte
+Familienbilder, Lebenserinnerungen, Bilder aus Rom, das ich aus eigener
+Anschauung kannte, ansehen. Und wie interessierte es ihn, zu hören, wie
+es heute beim Pantheon, auf dem Forum, auf dem Kapitol und in St. Peter
+aussehe! Mit einem gemütlichen Spaziergang über die Höhen der Stadt
+beschlossen wir den Tag. -- --
+
+Andern Tags fuhr ich nach Washington.
+
+53 Jahre hätte ich nicht gerade in Pittsburgh oder Allegheny wohnen
+mögen, wo man die längste Zeit des Lebens in Rauch und Qualm verbringt;
+aber die Treue und Genügsamkeit des alten Predigers war doch ein Stück
+stillen Heldentums. Ich lechzte derweilen wieder nach freier Sonne und
+grünen Wiesen und Feldern. Sie sollten auch nicht lange auf sich warten
+lassen ...
+
+Lotrecht fuhren wir südöstlich auf das Alleghenygebirge zu, das als
+einziges den amerikanischen Osten unterbricht. An Ausdehnung und
+Höhe ist es mit dem Felsengebirge nicht entfernt zu vergleichen,
+sondern erinnert seiner ganzen Art nach vielmehr an unsere deutschen
+Mittelgebirge.
+
+Stark stieg die Bahn an. Hell und freundlich schien wieder die Sonne.
+Wohlangebaute Fluren dehnten sich rechts und links. Man sah es den
+Feldern und Siedlungen an, daß sie weit älter sein mußten als die um
+Chikago oder gar westlich davon. Auch merkte man sichtlich die ständig
+wachsende Dichte der Besiedlung. Immer höher kamen wir in das Bergland
+hinein. Es schäumten die Bäche lustig und rasch vom Gebirge herab. Da
+und dort sah man wieder verwüstete und abgebrannte Wälder. Felstäler
+taten sich auf wie in der Schwäbischen Alb. Immer romantischer wurde
+die Landschaft und immer sonniger und grüner, je weiter wir südlich
+kamen und je näher dem Ozean. Als wir gar jenseits des Passes das Tal
+des Potomac River hinabfuhren, lachte uns geradezu ein jauchzender
+Frühling entgegen mit keimenden Saaten und herrlichstem Himmelblau.
+Anmutig leuchteten zartrosa die Apfelbäume in ihrer ersten schüchternen
+Blüte. Welche klimatischen Unterschiede auch hier wieder! Die großen
+Ebenen um Chikago sind schutzlos den kanadischen Froststürmen, die
+über die großen Seen hereinbrechen, preisgegeben. Aber das Land
+östlich und südlich der Alleghenies ist durch sie gegen die kalten
+Nordwinde wie durch eine Mauer geschützt, so daß man in Washington
+schon den Geschmack der warmen Süd- und Plantagenstaaten empfindet,
+den warmen Hauch Virginias, des „Landes der jungfräulichen Königin“
+(Elisabeth) und Carolinas, des Staates Karls I. von England, der alten
+Hauptsklavenstaaten.
+
+Bei „Harpers Ferry“ mündet fast wie in einer Neckarlandschaft der
+„Shenandoah“-Fluß[36] in den größeren Potomac. Links und rechts
+begleiteten uns die lieblichsten Hügelreihen. Es war ein lachendes
+Flußtal, das gerade für Bahn, Straße und schmale Siedlungen Raum läßt.
+In Harpers Ferry ist man an einer historischen Stelle. Nicht nur daß
+hier mancherlei Schlachten im Bürgerkrieg geschlagen wurden -- denn
+in diesen Strichen lief die Grenze zwischen Nord- und Südstaaten,
+zwischen Sklavenbefreiungs- und Sklavenhalterstaaten -- sondern Harpers
+Ferry ist die denkwürdige Stelle, wo schon 1859 John Brown mit wenigen
+entschlossenen Abolitionisten in das Städtchen eindrang, um die Sklaven
+zum Aufstand zu veranlassen. Aber die Neger folgten seinem Ruf noch
+nicht. John Brown wurde umzingelt, besiegt und schließlich von den
+Sklavenhaltern gehängt. Sein letzter Widerstand erfolgte in einem
+kleinen, scheunenartigen Haus, jetzt „John Browns Fort“ genannt, das
+heute noch steht. Die Bahn fährt dicht daran vorüber.
+
+Als wir eine geraume Strecke weiter aus den Bergen in die Ebene
+hinausgefahren sind, ragt mit einem Male ein hoher Obelisk aus tiefem
+buschigen Grün, das Washington-Monument, empor. Bald darauf schwebt
+über der Landschaft eine hohe, stolze adlige Kuppel wie St. Peter über
+der Campagna bei Rom -- das Kapitol der Bundeshauptstadt.
+
+Ich bin wirklich in Washington! Traumhaft! Etwas wie Ehrfurcht
+überkommt mich. Vereint sich in Wallstreet und auf dem Broadway in
+Neuyork das Kapital der Union, so in Washington alle Regierungsmacht.
+Washington liegt gerade auf der Grenze des Nordens und Südens. So
+ist es von hier nicht weit nach den Schlachtfeldern von Gettysburg,
+Harrisburg und dem Hauptquartier der Südstaaten, Richmond. Man ist in
+Washington ungefähr in der Mitte zwischen Maine und Florida. Es ist
+auch bezeichnend, daß die Bundeshauptstadt ganz im Osten der Union
+liegt. Der Osten (außer Chikago und St. Louis) ist Amerika. Im Westen
+dominiert nur noch das einzige San Franzisko. Aber welche Entfernungen
+von der Bundeshauptstadt dorthin! Wir sind gewohnt, Hauptstädte in der
+Mitte des Landes zu suchen. Aber wir dürfen nicht vergessen, noch vor
+gut einem halben oder Dreivierteljahrhundert war Amerika bloß ein
+Streifen am Atlantik, dessen Mitte Washington bildete. So erklärt sich
+noch heute seine Lage.
+
+Der Hauptbahnhof in seinem strahlenden Marmorweiß und seinen
+unzähligen, zum Teil unbenutzten Geleisen macht einen sehr vornehmen
+Eindruck. Der Bahnverkehr Washingtons ist freilich, verglichen mit
+dem Neuyorks und Chikagos, recht gering. Gleichwohl hatte Washington
+den echt amerikanischen Ehrgeiz, den „größten Bahnhof der Welt“ zu
+besitzen, selbst auf die Gefahr hin, daß es alle diese Geleise gar
+nicht ausnutzte!
+
+Washington ist im ganzen eine stille, aber äußerst stattliche und
+höchst saubere Stadt. Nur zwei Städte machten auf mich diesen Eindruck,
+Washington und -- Salt-Lake-City. Alles hell, gerade, luftig, grün,
+weitläufig. Eine wahre fürstliche Platzverschwendung herrscht in
+Washington überall.
+
+Ich nahm meinen Weg sofort zum Kapitol, das aus dichtem dunklen
+Parkgrün hervorschaut. Ich war immer aufs neue überrascht von den
+weiten prächtigen Parkanlagen, von den großen, weiten Plätzen und
+überaus breiten Straßen, die ich hier sah. Ich hatte sofort den
+Eindruck, diese Stadt ist die schönste der Union, und sie kann sich
+wirklich mit den europäischen Hauptstädten messen. Welche königliche
+Platzverschwendung hat man sich hier erlaubt! Das ganze Gelände
+vom Kapitol zum Obelisk und von da zum „Weißen Haus“, eine gute
+halbe Stunde Weges, ist +ein+ Park. Aristokratisch und edel steigt
+das Kapitol mit seinem weißen Sandstein und seinem Marmor, seinen
+vorspringenden Flügeln mit ihren klassischen Tempelstilfronten und
+seiner imponierenden, von der Freiheitsstatue gekrönten Kuppel
+auf einer kleinen Anhöhe auf, ein wahrhaft majestätischer Bau.
+Fast erscheint die Kuppel, weniger in Anbetracht der Länge als der
+verhältnismäßig geringen Höhe des Gebäudes, etwas groß und schwer.
+Besonders reizvoll sind die Blicke auf sie aus den verschiedenen
+Parkwegen und von dem unteren Ende der Pennsylvania-Avenue.
+
+[Illustration: ~WASHINGTON~
+
+~Das Weiße Haus~]
+
+[Illustration: ~WASHINGTON~
+
+~„Mount Vernon“, Washingtons Landsitz~]
+
+Am anderen Tag saß ich eine Weile auf der Galerie im Repräsentantenhaus
+und ebenso eine Weile im Senat und hörte den Debatten zu. Am meisten
+Eindruck aber machten mir die acht ehrwürdigen Richter des „~Supreme
+Court~“ in dem kleinen Saale des „obersten Gerichtshofes“, dessen
+Bedeutung etwa dieselbe wie die unseres Reichsgerichts in Leipzig
+ist, ja vielleicht eine größere, denn in Amerika wird das Recht nicht
+so sehr nach festgelegten Paragraphen angewandt, sondern nach dem
+Rechtssinn und Gewohnheitsrecht +gefunden+. Die Richter, außer denen
+des ~Supreme Court~, sind nicht vom Staatsoberhaupt ernannt, sondern
+werden vom Volke erwählt.
+
+Dann stand ich unter der Kuppel unter den großen historischen Gemälden,
+die von der Landung des Columbus, der Einschiffung der Pilgerväter,
+Washingtons Übernahme des Oberbefehls über die Revolutionsarmee,
+von der Entdeckung des Mississippi und der Unterzeichnung der
+Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia 1776 Kunde geben. Eine
+imposante Halle! Oben in der Kuppel befindet sich eine mächtige
+Darstellung der Apotheose Washingtons, dessen Name mit diesem Land und
+seiner Verfassung und dieser Stadt unlöslich verknüpft ist. Kein Name
+ist berühmter geworden, selbst nicht der Lincolns, mit dessen Namen der
+Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung unauslöschlich verbunden sind. Als
+ich dann in den nächsten Saal zur Linken trat und den Marmorstatuen
+der großen Amerikaner gegenüberstand, deren zwei aus jedem Staat
+hier aufgestellt sind, drang die Geschichte, Größe und Macht dieses
+Landes, das einen ganzen Kontinent umfaßt, mächtig auf mich ein.
+Eine kurze, fast stille Geschichte, und doch bedeutungsvoller als
+irgendeine der europäischen Dynasten- und Raubkriege. Die Reibereien
+der europäischen Großmächte, Kolonialkriege, Kaiser- und Papsttum
+-- alles das blieb hier unbekannt. Alles, was hier geschah, diente
+der Kolonisation, der wirtschaftlichen und der politischen Einigung.
+Aus Kolonien ist das Land zu einer selbständigen, an Volkszahl und
+Reichtum alle europäischen Mächte überbietenden Großmacht ersten Ranges
+emporgewachsen, die mehr „~world-spirit~“ in sich trägt als vielleicht
+sogar England, dessen Hauptabkömmling Amerika doch letztlich ist.
+Der anglikanische Typus ist in Amerika vorwiegend und hat dank der
+Sprache auch die absolut dominierende Herrschaft erlangt, während die
+Spanier, obwohl die ersten Ansiedler, die Franzosen am Mississippi
+in Neuorleans, Louisiana und in Kanada, die Holländer im alten
+Neuamsterdam, dem heutigen Neuyork, die Deutschen, zerstreut durch das
+ganze Land, und endlich die romanischen und slawischen Elemente der
+jüngsten Einwanderung im Anglikanismus Amerikas aufgegangen sind und in
+ihm wohl aufgehen werden.
+
+Amerikas Geschichte beginnt eigentlich erst mit dem
+Unabhängigkeitskrieg am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Auffassung des
+Staats, der Kirchen im Verhältnis zu ihm, des Menschentums und der
+politischen Freiheit sind +Aufklärungs+gedanken. Hier hat Frankreich,
+das Frankreich der Revolution und der Republik, Pate gestanden
+(Lafayette!). Aus dieser Zeit stammt sowohl der klassizistische
+Stil der Staatsgebäude wie die Anlage der Stadt Washingtons. Ein
+französischer Architekt hat die Pläne seiner Parks entworfen.
+Frankreich schenkte die Freiheitsstatue für den Hafen von Neuyork, und
+immer ist die besondere Sympathie Frankreichs für die große Schwester
+in der neuen Welt wach geblieben. Wundern wir uns also nicht allzusehr,
+daß der inneren Stimmung nach und nicht nur aus Geschäftsgründen
+Amerika im Weltkrieg auf seiten Englands und Frankreichs trat. Aber
+kein anderer als Friedrich der Große ist die Ursache gewesen, daß
+Frankreich nach dem Siebenjährigen Kriege seine Besitzungen in Amerika
+an England abzutreten hatte! Der Siebenjährige Krieg war ebenso
+Kolonialweltkrieg zwischen England und Frankreich als Kontinentalkrieg
+zwischen Österreich und Preußen. Friedrich der Große war zum Teil
+Englands Soldat!
+
+Seit dem Unabhängigkeitskrieg gab es nur noch +ein+ Ereignis, das die
+Union tief erschütterte, den Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung.
+Durch Kauf wurde später Florida, Louisiana und Alaska erworben; von
+Mexiko wurden die südwestlichen Territorien Neumexiko, Arizona und
+Kalifornien an die Union abgetreten; so wuchs allmählich und doch rasch
+das Riesenland zusammen, bis es im letzten Jahrzehnt anfing, selbst
+Kolonialmacht und der Erbe Spaniens, das einst den Entdecker Kolumbus
+aussandte, zu werden.
+
+Diese Macht des Landes hat sich hier in der Hauptstadt ihre Symbole
+in prächtigen öffentlichen Gebäuden geschaffen. Gegenüber dem Kapitol
+liegt die Bibliothek des Kongresses, innen überreich mit Marmor
+ausgeschmückt, wie nur irgendein Palast in Italien, und mit einem über
+alles prächtigen Lesesaal, der sicher nicht viele Konkurrenten in der
+Welt hat. Nahe dem „Weißen Hause“ die stattlichen klassizistischen
+Gebäude des Bundesschatzamts und des Kriegsministeriums. Auf freiem
+offenen Plan davor ragt der stolze, schlanke, zu Ehren Washingtons
+erbaute 169 ~m~ hohe Obelisk auf, lange der höchste Steinbau der Welt,
+bis ihn die Wolkenkratzer überhöhten. Im Morgendunst von fern wie ein
+mächtiger weißer Spargel aus grünem Gebüsch, abends zart rosa leuchtend
+anzuschauen. Von seiner Spitze, zu der ein Aufzug -- wie mühselig sind
+doch die vielhundertstufigen alten Steintreppen in unseren Domtürmen!
+-- hinaufführt, eine überraschend großartige Rundsicht. Die ganze
+Stadt, die trotz ihrer verhältnismäßig geringen Einwohnerzahl doch
+einen immensen Flächenraum einnimmt, ist eingebettet in Parkgelände.
+In weitem Bogen bespült sie der Potomac, so breit wie die Elbe bei
+Hamburg, der sich bald unterhalb der Stadt zu einer langen, tief ins
+Land einschneidenden Bucht verbreitert. Und jenseits liegt der große,
+schattige Nationalfriedhof für die Gefallenen aus dem Bürgerkrieg.
+Ich bedauerte, daß nicht eine gerade stattliche Allee vom Kapitol
+zum Obelisk führte, mit ständigem Durchblick auf die Kapitolskuppel,
+und ebenso vom Obelisk zum Weißen Hause. Aber das Weiße Haus wäre
+in seiner Bescheidenheit gar nicht dazu angetan, den Endpunkt einer
+stolzen Allee zu bilden, denn hier wohnt ein „Bürger“, von keinem
+Posten bewacht, von keiner Schloßwache beschützt, ein „Bürger“ in einer
+besseren Bürgervilla, zu der jeder „Bürger“ Zutritt hat. Es war mir
+doch seltsam zumute, als ich am Gartengitter stand und in den Garten
+des Weißen Hauses hineinlugte mit seinem kleinen Springbrunnen in der
+Mitte, seinem eigenen Tennisplatz und seinen wohlgepflegten, mit gelbem
+Kies bestreuten Wegen. Um mich herum auf dem offenen grünen Plan am
+Obelisk spielten Schuljungen und junge Burschen ihren Baseball. Viele
+Leute, die aus dem Geschäft oder von der Arbeit kamen, Schwarze und
+Weiße, standen da herum und schrien mit, applaudierten und ermunterten
+die Spieler. Ich ging ins „Weiße Haus“ hinein, soweit es erlaubt war.
+Ich erwartete kein Schloß und sollte kein Schloß erwarten. Es will
+auch absichtlich mit keinem Schloß konkurrieren. In der Vorhalle des
+Weißen Hauses fand ich eine Galerie von Präsidentenfrauen bis auf Mrs.
+Roosevelt; auch durfte man in den sogenannten „Eastroom“ eintreten,
+einen bescheidenen Empfangssaal mit Parkett, goldenen Leuchtern auf
+den Marmorkaminen, ein paar Blattpflanzen an den Fenstern und drei
+Kristallkronleuchtern. Das war alles von äußerem Glanz.
+
+Am Nachmittag benutzte ich das Dampfboot und fuhr den Potomac hinunter
+nach Washingtons Landgut „Mount Vernon“ in Virginia. So bekam ich auch
+etwas Geschmack vom Süden, in dem einst die großen Negerplantagen
+waren und die Sklaverei herrschte. Die Sklaverei ist aufgehoben.
+Aber noch hat der Neger kein volles Recht. Zu Zeiten kommen z. B.
+noch fürchterliche Lynchgerichte am Neger vor. Und ob man immer den
+Schuldigen trifft?
+
+
+Johnson, Neger.
+
+ Hinunter steig ich in die Kohlenstadt von Westvirginia.
+ Man hat einen Neger +gelyncht+.
+ Sonnig lächelt die Stadt zwischen Berg und Fluß,
+ Und nachts prunkt ihre Hauptstraße:
+ Aufreizende Läden, elektrisches Licht ...
+ Rauhe Haufen, Bergarbeiter und Bauern suchen Frauen, Trunk und
+ Vergnügen.
+
+ Am Tag in der ruhigen Sonne brütete Schrecken und Schuld über der
+ Stadt.
+ Der Sheriff zitterte:
+ „Ich tat, was ich konnte“ sagt er, „Daisy ist 13,
+ Ihr Vater Bergarbeiter.
+ Sie bestellt das Haus.
+ Es war zehn Uhr früh und Daisy allein.
+ Es klopft. Sie öffnet.
+ Ein Vieh von Neger nahm sie bei der Kehle -- sagt sie aus --
+ Und tat es ihr.
+ Dann ging er weg.
+ Wir stellten fünfzehn Neger in der Runde auf,
+ Den Burschen Johnson unter ihnen.
+ Man holte Daisy. Sie zeigt auf ihn und schreit.
+ Das fällte ihn ...
+
+ O ja, ich tat, was ich konnte, nahm ihn hinüber nach Gentryville,
+ Fort aus der Provinz.
+ Ich kann nichts sagen,
+ Ich denke mir mein Teil ...“
+
+ Ich weiß, was er dachte.
+ Aus dem Träumer in mir wurde der Neger Johnson.
+ Ich komme ein Fremder in eine fremde Stadt.
+ Ein Mädchen schreit, ich habe sie geschändet.
+ Ich werde festgenommen, ins Gefängnis gebracht ...
+ Es ist eine Heimsuchung von Gott.
+ Ich traure und winsle aus Furcht vor dem Übernatürlichen.
+ Dann Entsetzen: Das große, heulende, knurrende Tier ist vor dem
+ Gitter.
+ Schüsse, niedergerissene Türen, Füßegestampf.
+ Ich kreische. Mitleid! ... O meine Mutter! Meine Mutter!
+ Man schleift mich an einem Seil die Straße entlang,
+ Mein Blut rinnt, Schläge fallen,
+ Ich muß sterben ...
+
+ Ich bin schrecklich verstümmelt,
+ Das Seil wird über Telegraphendrähte geschleudert,
+ Man zieht mich hinauf ...
+ Zuletzt Flinten, mitleidige Kugeln ...
+ Ist es zu Ende?
+
+ Nein: Noch baumelt der Leib, der nackte schwarze blutige Leib,
+ Man zerreißt ihn in Stücke.
+ Weiber und Männer tragen Finger, Zehen und Knochen als Reliquien
+ heim.
+
+ Dies ist heute Amerika!
+ Puritanisches Amerika, moralisches Amerika, freies Amerika ...!
+ Ich ziehe gen Norden, freudloser als ich kam.
+
+ James Oppenheim.
+
+ Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik. S.
+ Fischer, Berlin.
+
+In Mount Vernon verbrachte Washington den Rest seines Lebens, nachdem
+er zweimal Präsident gewesen und eine weitere Wiederwahl ablehnte,
+so daß es seitdem für die Präsidenten geradezu Pflicht geworden ist,
+höchstens acht Jahre die Präsidentschaft inne zu haben. Mount Vernon
+ist ein reizender lauschiger Landsitz auf einer sanften Anhöhe am
+Fluß, unter alten, dichtbelaubten Eichen, unter denen Washington
+und seine Frau auch begraben liegen. Ein paar Minuten standen wir
+entblößten Hauptes, eine Gruppe College-Studenten um mich herum,
+vor der schlichten Grotte samt einem Haufen älterer reisender Damen
+aus Philadelphia, die laut sich unterhaltend die liebliche Stille
+dieses geweihten Erdenwinkels unliebsam störten. Dann kam man
+oben zu der einfachen Meierei hinauf mit ihrem Herrenhaus, einem
+niedrigen zweistöckigen weißen Farmhaus mit offener, sehr simpler
+Vorhalle und einer Reihe von Ökonomiegebäuden im Hintergrund. Immer
+war da noch der alte Hausrat in den engen, niedrigen Stuben mit dem
+blankgescheuerten abgetretenen Holzboden und den großen blankgeputzten
+Türklinken, den alten runden goldumrahmten Bildern, den weißgetünchten
+Zimmerdecken, den großen offenen Kaminen und den einfachen Stühlen an
+dem runden Eichentisch, dem alten Klavierchord im Musikzimmer und den
+Gardinenbetten im Dachstock mit seinen kleinen „Sparerooms“, in deren
+einem Martha Washington gestorben ist, weil sie gern einen Blick auf
+ihres Mannes Grab haben wollte. Es war eine Luft, eine Umgebung und
+ein Hausrat etwa wie im Frankfurter Goethehaus. Frau Martha Washington
+schien mir sogar etwas Ähnlichkeit mit der alten Frau Rat Goethe zu
+haben. Man konnte auch Washingtons Todeszimmer sehen, wo er selbst
+1799 starb. Die reisenden Damen aus Philadelphia schluchzten fast vor
+Vergnügen, daß sie das alles sehen durften, und brachen in jedem Zimmer
+in juchzende Seufzer aus: „Ach, hier hat er gesessen, ach und hier hat
+er gegessen und hier in diesem Bett ist sie gestorben -- hier ist sein
+Degen, den er trug, und hier die Guitarre, die er spielte.“ In hellen
+Haufen drängten sie sich in dem kleinen Haus und auf den engen Stiegen
+und in den kleinen Zimmern, rannten über die Höfe und die grünen
+Grasplätze und erfüllten alles umher mit ihrem Geschwätz. Daß man nicht
+einmal hier ein stilles Stündchen verbringen konnte! Wie drang hier
+die alte Zeit auf mich ein, da vor hundert Jahren noch Philadelphia
+und Boston, die größten Städte der Unionstaaten, kaum ein paar Tausend
+Einwohner zählten! Wenn Washington heute die Millionen Menschen und
+die Wolkenkratzer und Chikago, das damals noch ein Sumpf war, und den
+fernen Westen sähe, an den vor hundert Jahren noch niemand dachte! --
+-- --
+
+Aber die Dampfsirene des Schiffes ertönte und mahnte zur Rückkehr.
+Und nun mußte man dieses stille alte Landgut mit seinen Erinnerungen
+wieder allein lassen und konnte nicht mehr unter den alten Bäumen
+sitzen und auf die breite Wasserfläche des Potomac hinunterschauen, wo
+von ferne die weiße Säule des Obelisk aufragt und die adlige Kuppel
+des Kapitols, die beide diesen Mann von Mount Vernon ehren. Inzwischen
+schnatterten die Damen aus Philadelphia wieder durcheinander,
+Deutsch-Amerikanerinnen anscheinend mit den Fehlern beider Nationen
+behaftet, ohne ihre guten Seiten zu besitzen, in einem fürchterlichen
+Sprachmischmasch: „Wollen Sie nicht hier sitzen, Miß Fuchs, ich habe
+für Sie einen Chair mitgebracht oder ~sit down right here~ ... schade,
+daß es regnen will, wo haben Sie denn Ihre ~umbrella~ gelassen? ...
+Wo ist Mrs. Arnold, ~perhaps she is looking for you~ ... Großartige
+Rosenstöcke, ~did you see them~? Oh, ich bin so ~sorry~, ich war nicht
+in der ‚~kitchen~‘, ~it makes me mad~. Ich habe auch nicht gesehen, wo
+Mrs. Washington ~died~ ... Sehen Sie, hier habe ich einen ~spoon~ von
+dem Holz der Bäume, die er selbst gepflanzt hat, gekauft; sie ~sell~
+es nirgends anders ... ~They have the copyright~ ... Und ich habe
+hier einen Teller gekauft für ~parties~ ... Und ich habe für meinen
+~boy~ ein Bild, ~because~ er ist so ~interested in it~ ...“ In diesem
+Sprachstil ging es fort ...
+
+Es ist schade, daß man ein Glück selten rein genießen darf. Während
+wir mit dem Dampfboot den Potomac wieder aufwärts fuhren und ich so
+gern den geschichtlichen Erinnerungen noch nachgehangen hätte, und
+der Abend langsam über Land und Wasser herabsank, wie damals als
+ich am letzten Abend auf deutschem Boden von Blankenese nach Hamburg
+zurückfuhr, schnatterten mir immerzu diese „philadelphischen“ Damen mit
+ihrem Deutsch-Amerikanisch dazwischen. Immerhin eine Vorbereitung auf
+Philadelphia, das ich morgen betreten wollte.
+
+Noch einmal schritt ich den Abend durch die fürstlichen und adligen
+Straßen der Bundeshauptstadt. Eine gemessene Vornehmheit des höheren
+Beamtentums bewegte sich durch die Hauptstraßen, merklich anders als
+in Los Angeles und San Franzisko, aber auch anders als in Neuyork und
+Chikago, am ähnlichsten noch Boston.
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 36: Indianisch.]
+
+
+
+
+Baltimore, Philadelphia.
+
+
+Es gibt keine Stadt in der Union, die sich mit Washington an
+Stattlichkeit vergleichen könnte. Seine marmornen Institute und sein
+Kapitol sah ich noch lange vor Augen.
+
+Es kam der vorletzte Tag meiner Rundfahrt, der mich wieder bis Neuyork
+zurückbringen sollte. In zwei schnellen Stunden -- wie kurz waren hier
+im Osten die Entfernungen! -- ging es durch das wohlangebaute Maryland
+nach dem großen von Schloten und Überseedampfern mächtig rauchenden
+Baltimore. Baltimore ist nächst Neuyork der größte Überseehafen der
+Union.
+
+[Illustration: ~PHILADELPHIA~
+
+~Market-Street mit dem 155 m hohen Turm des Stadthauses (City
+hall)~]
+
+[Illustration: ~LAKE WINNIPESAUKEE~]
+
+Die Millionenstädte des Ostens liegen alle an breiten,
+tiefeinschneidenden Buchten, in die große Ströme einmünden. Die
+nördlichste Boston an der kreisrunden Massachusettsbai, in die breit
+der Charles River strömt, England am nächsten gelegen, daher von den
+Puritanern auch zuerst erreicht. Es folgt Neuyork an der Mündung
+des breiten Hudson auf der einst unangreifbareren, langgestreckten
+Halbinsel Manhattan am inneren Rand der prachtvollen „~upper bay~“, die
+in den ~narrows~ einen engen, leicht verschließbaren Ausgang nach dem
+Ozean hat. Dann kommt die früher, ehe Neuyork so fabelhaft anwuchs,
+größte und bedeutendste Stadt der Union Philadelphia, heute noch immer
+ihre drittgrößte Stadt, an dem breiten Delawarefluß, der sich in die
+Delawarebucht ergießt. Philadelphia ist von dem sehr viel jüngeren
+Chikago, der Hauptstadt des mittleren Westens, schnell überholt
+worden. Einst war Philadelphia mit Boston die geistige Führerin der
+Union. Boston als Sitz der Puritaner, Philadelphia als Sitz der Quäker
+und vieler Deutschen in dem ersten Hauptabschnitt ihrer Einwanderung.
+Dem Quäkertum verdankt die Stadt auch ihren schönen Namen: „Stadt der
+Bruderliebe“. Es folgt an der Küstenlinie Baltimore, groß, rauchig
+und an Seeverkehr ein amerikanisches Liverpool oder Hamburg, an der
+breiten, fast an 300 ~km~ tief ins Land nordwärts einschneidenden
+Chesapeakbai, in die der breite Susquehanna River mündet.
+(Nebenbeigesagt sind in den Flußnamen besonders viele indianische
+Bezeichnungen erhalten: Susquehanna, Potomac, Monongahela, Shenandoah
+usw.) Die jüngste Gründung war Washington, eine reine Beamten- und
+Verwaltungsstadt am breiten Potomac, der auch in die Chesapeakbai
+fließt. Also fünf riesige Städte wie an eine Schnur aufgereiht in einem
+Gesamtabstand von Washington bis Neuyork von etwas über 350 ~km~, für
+die Union eine kleine Entfernung.
+
+Da ich im Grunde meiner Seele die Großstädte hasse -- und ihrer soviele
+in der Union nur deshalb aufgesucht habe, weil in ihnen das eigentliche
+amerikanische Leben pulsiert -- so versagte ich es mir entgegen meinem
+Reiseprogramm nach kaum anderthalb Stunden Fahrt von Washington aus,
+in Baltimore -- es wäre mein zwölfter Großstadtbesuch gewesen -- schon
+wieder auszusteigen. Ich war es nun vier Wochen gewohnt, mindestens
+einen vollen Tag und eine Nacht oder gleich zwei bis drei von ihnen
+hintereinander durchzufahren, daß es mich ordentlich verwunderte, daß
+ich „schon“ um Mittag vor der City Hall mitten in Philadelphia stand!
+Im Osten schrumpfen eben die Entfernungen schnell zusammen, wenn man
+aus dem Westen kommt und nehmen einigermaßen wieder europäische und
+menschliche Maße an. So ließ ich mir also am Blick von der Eisenbahn
+auf die rauchende Hafenstadt Baltimore genügen und dampfte weiter.
+Baltimore hat gleich Washington -- darin kennzeichnet sich seine
+südlichere Lage -- nicht bloß sehr viel Farbige -- über ein Zehntel
+seiner Bevölkerung! -- sondern auch besonders viele Katholiken, denn es
+geht ja auf die Gründung des katholischen Lords gleichen Namens zurück
+und war eine Zufluchtsstätte verfolgter englischer Katholiken. So ist
+hier auch der Sitz des amerikanischen Erzbischofs und Kardinals, einer
+Person, die sich eigentümlich mit ihrem mittelalterlichen Ursprung
+in dem übermodernen amerikanischen Leben ausnimmt. Aber gerade in
+den jüngsten Zeiten der Einwanderung aus Süd- und Osteuropa hat das
+katholische Element sehr zugenommen.
+
+Die Stadt Baltimore wurde schon 1729 gegründet. Sie ist eine der
+Veteranen in der Union. Heute ist sie Hauptsitz der Austernkonserven-,
+der Stahl-, Segeltuch- und Backsteinindustrie, dazu Hauptausfuhrhafen
+für Getreide. Baltimores Washingtonmonument und seine City Hallkuppel
+grüßten mich. Die bekannte Universität Baltimores „John Hopkins“ hätte
+ich gern zum Vergleich mit Harvard aufgesucht, aber es fehlte die Zeit.
+Wie die großen Städte, so liegen auch die großen geistig führenden
+Universitäten fast alle wie auf eine Schnur gereiht an der Küste des
+Atlantischen Ozeans: Harvard bei Boston, Yale in Newhaven (s. S. 70),
+Kolumbia in Neuyork, Princeton bei Philadelphia, deren Rektor eine
+Zeitlang niemand anders als Woodrow Wilson war (!), und John Hopkins in
+Baltimore, Stiftung eines reichen gleichnamigen Handelsherrn.
+
+Währenddem waren wir schon über den mächtig breiten Susquehanna
+River gesetzt, +Philadelphia+ entgegen. Die rauchige riesige
+Hafenstadt mit ihrem Wald von Masten und Schloten der Ozeandampfer
+hatte wieder saftigen Wiesen mit weidenden Viehherden, Wäldern und
+kleinen idyllischen Bachtälern Platz gemacht. Überall sah man sehr
+wohlangebautes und wohlgepflegtes Farmland, dem man es ordentlich
+anmerkte, daß es schon Jahrhunderte alt war. Pennsylvanien ist
+noch heute einer der bestbesiedelten und bestangebauten Staaten.
+Fast an norddeutsches Tiefland erinnerten seine gefälligen roten
+Backsteinbauten mit ihren grünen Fensterläden, die noch in der „Stadt
+der Bruderliebe“ weit verbreitet und heimisch sind, so daß man in
+Philadelphia wie etwa heute noch bei uns in Bremen zumeist im eigenen
+kleinen Heim wohnt statt in riesigen Mietskasernen wie auf dem
+engbeschränkten Raum Neuyorks. Philadelphia hat sich damit mit Recht
+den ehrenden Namen einer „~City of homesteads~“ (Stadt der Heimstätten)
+erworben!
+
+An Wilmington ging es vorüber, der größten Stadt in dem kleinen Staat
+Delaware, was allerdings nicht viel sagen will. In Delaware besteht
+übrigens aus früheren Zeiten allein noch die öffentliche Prügelstrafe!
+Sie könnte auch für manche Roheitsdelikte in der alten Welt noch
+bestehen! In dieser Gegend, die wir jetzt durchfuhren, landeten zur
+Zeit des 30jährigen Krieges schwedische Kolonisten und gründeten ihre
+erste europäische Niederlassung am Delawarefluß. Noch heute steht
+davon als Wahrzeichen eine kleine, Ende des 17. Jahrhunderts erbaute
+Schwedenkirche! Weiter ist es hier die Gegend, wo Washington den
+Delaware im Kampf gegen die Engländer überschritt. Hier war es auch,
+wo sich die geduldigen, friedliebenden Quäker unter William Penn schon
+1682 festsetzten und vertragsmäßig -- nicht wie sonst mit Gewalt und
+Krieg -- den Indianern das Land mit Verträgen abkauften, die einzig
+hier in der Welt nicht gebrochen wurden, ohne beschworen zu sein!
+Bekanntlich verwerfen die Quäker noch heute den Eid.
+
+Allmählich mehrte sich wieder der Rauch. Alle Anzeichen einer nahen
+großen Stadt meldeten sich. Über einem riesigen Häusermeer erschien
+bald der 155 ~m~ hohe Turm der City Hall von Philadelphia, lange
+auch eines der höchsten Bauwerke der Welt. Punkt zwölf stand ich am
+Ende der 19 Meilen langen „Broad Street“, die mit dem Broadway in
+Neuyork eifert, an seinem Fuße. Wieder umbrandete mich der typische
+amerikanische Großstadtverkehr! Es war wieder nicht viel Unterschied,
+ob man auf der State Street in Chikago oder dem Broadway in Neuyork
+oder der Broad Street in Philadelphia stand. Freilich am wildesten
+ist die Tonart des Verkehrs in Neuyork, am sanftesten für die Größe
+der Stadt noch in Philadelphia; Chikago hält etwa die Mitte. So steht
+es auch mit den Wolkenkratzern. Neuyork hat weitaus die meisten und
+höchsten, in Philadelphia sind es im ganzen nur wenige und mäßighohe,
+die Stadt hat ja nach allen Seiten Ausdehnungsmöglichkeiten genug und
+hat von ihnen Gebrauch gemacht. Der weißlockige perückentragende
+William Penn hat sie einst rechtwinklig angelegt wie alle
+amerikanischen Städte, indem er das riesige Straßenkreuz der Broad
+und Market Street anlegte, in dessen Mitte genau die City Hall mit
+ihrem riesigen Turm steht, so daß er gebietend gleichsam über die
+ganze Stadt sieht. Aber fast kaum glaublich ist, daß noch zur Zeit des
+Unabhängigkeitskrieges die heutige Zweimillionenstadt nur etwa 12000
+Einwohner zählte, und geradezu rührend wirkt das alte kleine State
+House, dessen Backsteine man im Fairmountpark wieder aufgebaut hat, das
+älteste Backsteinhäuschen des ganzen Landes von wenig Quadratmetern
+Umfang!
+
+Ich fuhr zum Turm der City Hall hinauf und hatte von oben wie vom
+Obelisk in Washington wieder eine märchenhafte Aussicht über die ganze
+Stadt und ihre Umgebung. Man stand hier oben dem Menschengewimmel und
+Geschäftsgetriebe fast so entrückt wie auf dem Metropolitan Tower in
+Neuyork. Weit sah man zum grünen und hügeligen Fairmountpark, dem Stolz
+Philadelphias, hinüber und auf der andern Seite zu dem meerarmartigen
+breiten Delaware. Mitten durch das Riesenschachbrett der Stadt windet
+sich außerdem noch der weit schmälere Schuylkill-River, der in den
+Delaware unterhalb der Stadt fließt.
+
+Dann trieb es mich vor allem zu den historischen Stätten, die einem
+anwehen wie etwa die Faneuil Hall in Boston, z. B. zur „Independence
+Hall“. Am 5. September 1774 versammelte sich hier in Philadelphia
+als der damals durchaus geistigführenden Stadt der erste Kongreß,
+der hier am 4. Juli 1776 die berühmte Unabhängigkeitserklärung der
+Vereinigten Staaten von England erließ, noch heute die Magna Charta
+der Union. Und noch immer ist der „~fourth of July~“ der größte
+nationale Feiertag, an dem die Begeisterung für das Banner „der Sterne
+und Streifen“ auch in Philadelphia keine Grenzen kennt. Freilich fiel
+damals vorübergehend die Stadt noch einmal in die Hände der Engländer,
+aber als sie wieder erobert war, tagte hier der Kongreß bis 1797. Dazu
+war sie zugleich der Sitz des ersten Präsidenten. In der „Halle der
+Unabhängigkeit“ wird noch heute als Hauptheiligtum der bescheidene
+Sitzungssaal mit den alten Möbeln und dem Tisch gezeigt, auf dem die
+denkwürdige Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde. Jene Männer
+vor 150 Jahren konnten freilich nicht im entferntesten ahnen, welche
+beispiellose Entwicklung diesem Lande bevorstehen sollte. Auch die
+Glocke, die zuerst nach der Unabhängigkeitserklärung als Zeichen der
+errungenen Freiheit geläutet wurde, die sogenannte „Liberty bell“,
+ist noch vorhanden. Zwar hat sie Mitte des vorigen Jahrhunderts
+einen Sprung bekommen und wird seitdem nicht mehr benutzt. Aber ihr
+ehrwürdiges Dasein genügt. Im oberen Stock sind Erinnerungen an die
+Hauptgröße Philadelphias, den Gründer der Stadt, den Quäker William
+Penn, dazu ein Stück der Ulme, unter der er den denkwürdigen Vertrag
+mit den Indianern -- ein Vorgang, der so oft gemalt wurde -- abschloß.
+Endlich redet in Philadelphia zu dem Besucher noch eine dritte
+Berühmtheit, Benjamin Franklin, der den Blitzableiter hier erfand
+(1752). Stattlich sitzt er vor dem Hauptpostamt, während Penn seinen
+Ehrenplatz hoch auf dem Turm der City Hall gefunden hat.
+
+Zum Fairmountpark kam ich leider nicht hinüber, auch nicht zur
+Kathedrale „Peter und Paul“ des römischen Kardinals, noch zu dem
+Waisenhaus „Girard College“, zu dem Geistlichen -- wohl einzig in
+seiner Art in der Welt -- der Zutritt ausdrücklich verboten ist!
+Einen Blick warf ich in die Universität, weil ich einen ihrer Lehrer,
+den bekannten babylonischen Ausgrabungsforscher Prof. Hilprecht
+schon in meiner Jugend in Deutschland einmal hatte sprechen hören.
+Dicht bei Philadelphia liegt auch die von Deutschen einst gegründete
+Vorstadt „Germantown“, wo sich schon 1683 niederrheinische aus der
+Heimat vertriebene Mennoniten niedergelassen hatten. Germantown war
+die allererste deutsche Siedlung in Amerika überhaupt! Von hier ging
+auch schon 1688 der erste Protest gegen die Sklaverei aus, freilich
+wirkungslos für noch fast zwei Jahrhunderte! So war das pennsylvanische
+Deutschtum das alteingesessenste! Mein Magen fing bei all dem
+„Besichtigen“ einmal wieder an zu knurren und erhob einen nicht ganz
+erfolglosen Protest gegen weitere Stadtdurchstreifungen.
+
+Ich fuhr gen Neuyork zurück. Erst ein Stück am Delaware hin. Bei
+Trenton setzten wir über den mächtigen Fluß. Die letzten Berge zur
+Linken entschwanden. In den Staat Neujersey gelangt, näherten wir
+uns bald der weiten blauen, fast heimisch wirkenden Newarkbai, deren
+Hauptstadt Newark, obwohl an 300000-400000 Einwohner zählend, doch
+ganz im Schatten Neuyorks steht und daher nichts bedeutet, ja wohl
+noch nicht einmal dem Namen nach in der Welt bekannt ist! Dann ging’s
+ein Stück an der blauen, herrlichen ~upper bay~ entlang, und die
+Wolkenkratzer tauchten auf! ... Wie sie jetzt auf mich wirkten, wie
+alte gute Bekannte! Mit durchaus heimatlichen Gefühlen langte ich
+wieder in Neuyork an. Mir war es, als wäre ich erst gestern von dort
+weggefahren, obwohl die mannigfachsten Erlebnisse von nicht weniger als
+von acht Monaten dazwischen lagen!
+
+Da ich nun einmal wieder in Neuyork war, so faßte ich schnell den
+Entschluß, ehe ich wieder Onkel und Tante in der 137. Straße guten Tag
+sagte und mit dem ~subway~ hinausraste und ihnen vom Felsengebirge und
+dem Stillen Ozean erzählte, schnell noch einen Besuch in Westhoboken
+in der Palisade Avenue zu machen, die aufzufinden ich einst vor acht
+Monaten jene weite Irrfahrt ins grüne Land hinaus bis nach Englewood
+gemacht hatte! Pochenden Herzens sprang ich wie ein gewisser Goethe in
+Sesenheim durch die niedrige Gartenpforte nach der Haustür. Aber sie
+war und blieb diesmal festverschlossen! Ich hätte so gern meinen ersten
+Bericht von Indianern und Mormonen, dem Niagara und dem Grand Cañon der
+kleinen Badenserin vorgetragen und in der Küche wieder einmal bei ihr
+geplaudert, während sie dem Onkel das Essen rüstete. Aber es war und
+blieb das Gartenpförtlein verschlossen ... Wie schmerzlich! Gerade für
+diesen Abend hatte der ängstliche und vorsichtige Onkel sein Nichtchen
+einmal mit in die Oper nach Neuyork genommen, wie ich später erfuhr ...
+Wir sahen uns nur noch einmal im Leben, aber nicht in Hoboken ...
+
+Bei Onkel und Tante tat ich in aller Unschuld so, als käme ich
+geradewegs vom Bahnhof der Pennsylvaniaeisenbahn! So oder ähnlich
+machen es ja wohl alle jugendlichen Neffen in ähnlichen Fällen. Es
+wurde Abend, der rasende und donnernde ~subway~ hatte mich wieder in
+die 137. Straße hinausgebracht. So war ich wieder „daheim“!
+
+Ich brauchte diesen Abend in keine „~upper berth~“, in die ich so oft
+geklettert war, zu kriechen und mich halb liegend auszuziehen, noch
+wähnte ich in Traum und Schlaf mit dem Bett auf dem schwankenden Boden
+hin und her zu fahren wie auf dem erdbebendurchrüttelten Pflaster San
+Franziskos, noch hatte ich es nötig, mich im Dunkel der Mitternacht
+einem wildfremden Mann für ein Nachtlogis anzuvertrauen wie in Santa
+Fé und vorsorglich die Tür zu verbarrikadieren. Keine Fahrpläne und
+Hotelpreise ängstigten mich mehr, keine Reisepeitsche, alles Wichtigste
+auf die rascheste und billigste Weise mitzunehmen, wurde über meinem
+Haupt mehr geschwungen. Ich hatte mein Werk getan. Neuyork kannte ich
+gut; es brachte mich also auf keine Stunde früher aus dem Bett am
+anderen Morgen als notwendig. Am Abend aber gab es noch ein Erzählen
+ohne Ende ... Ich war doch weiter in den wenigen Wochen herumgekommen
+als alle meine amerikanischen Verwandten zusammen in den 40 Jahren
+ihres Dortseins!
+
+Andern Tags war Sonntag. Ich fühlte so etwas wie ein Bedürfnis,
+eine deutsche Kirche -- die es ja in dem stockenglischen Boston
+nicht gab -- aufzusuchen und ein stilles „Nun danket alle Gott“
+für mich allein zu singen. Denn es war wirklich ganz wider alle
+Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen, daß ich auf amerikanischen Bahnen
+gegen 12000 ~km~ gefahren war, ohne einen einzigen Unfall zu erleben.
+Ich hatte viel gesehen, mehr wie in vielen Jahren meines Lebens. Ich
+war mehr Eisenbahn gefahren als vielleicht bisher und später in meinem
+ganzen Leben. Aber gleich dieselbe ganze Fahrt noch einmal zu machen,
+hätte ich doch nicht für 1000 Taler getan.
+
+In der deutschen Kirche, die ich aufsuchte, amtierte -- ein
+schönes Zusammentreffen -- ein in Deutschland geborener Pastor,
+der auf derselben Universität wie ich studiert hatte, ja derselben
+Studentenverbindung angehörte wie ich einst. So wurde es ein besonders
+traulicher Abschied aus der Weltstadt Neuyork. Werde ich sie im Leben
+noch einmal wiedersehen, die Dollarburgen und die blaue ~upper bay~,
+die Freiheitsstatue und die Brooklynbrücke? -- --
+
+Ich fuhr wieder nach Boston. Ich wollte nicht meine Gänge durch das
+Dollarbabel von vorne beginnen und der lieben alten Tante auch nicht
+noch einmal länger zur Last fallen. Wie bekannt kam mir jetzt die
+Strecke über Newhaven, am blauen Long-Island-Sund hin vor! Überall
+blühte es jetzt in Connecticut, dem „Kastanienstaat“. Wie oft hatte ich
+auf meiner weiten Reise schon den Frühling erlebt und war immer wieder
+in den Winter zurückgeschleudert worden! In Kalifornien war es schon
+fast Sommer; auf der Sierra Nevada, in Kolorado und Chikago schneite
+es! Hinter Pittsburgh jenseits der Alleghenies war der Frühling um
+Washington gerade mächtig im Kommen, und hier zwischen Neuyork und
+Boston setzte er gerade erst langsam ein, während in Arizona und Nevada
+die Sonne schon wie im heißesten Sommer gebrannt hatte und in Santa
+Fé sich gar schon heftige sommerliche Gewitter entluden. Es kam einem
+dieser ständige Wechsel wie ein einziger Traum vor ...
+
+Am Abend in der Dämmerung lief unser sehr leerer Zug in Boston ein.
+Ich gottloser Mensch hatte es gewagt, am heiligen Sonntag auf der
+Eisenbahn heimzukehren! An einem Sonntag abend war ich vor Wochen
+klopfenden Herzens abgefahren, ungewiß einem Kontinent mit seinen
+unermeßlichen Entfernungen entgegen, ein über meterlanges Reisebillett
+in der Tasche. Wohlbehalten und mit wohlgefülltem Geist -- freilich
+auch wohlgeleerter Tasche -- kehrte ich „heim“, denn auch Boston und
+erst recht mein Harvard- = „~furnished room~“ kamen mir jetzt wie
+traute Heimat vor. Wie mußte ich meinem japanischen Freund Mr. Ashida
+danken, der mir, so oft ich vorher wieder schwankend werden wollte,
+stets zugeredet hatte, die Fahrt auf jeden Fall zu unternehmen. Wie
+ein Traum war mir jetzt das Ganze, als ich wieder unter Harvards Ulmen
+hinschritt, daß ich in den vorweltlichen Schlund des Grand Cañon
+geschaut, über den Salzsee gefahren, auf Santa Catalina im Stillen
+Ozean gelegen und versucht hatte, den Pikes Peak, den amerikanischen
+Montblanc, zu besteigen! Noch manchmal glaubte ich im Bett liegend zu
+fahren -- und saß doch still hinter den Büchern. Noch manchmal glaubte
+ich den Bädeker für morgen genau studieren zu müssen -- und hörte
+derweilen Professor Josiah Royces schwere philosophischen Gedanken des
+englisch-amerikanischen Hegelianismus ...
+
+ * * * * *
+
+Meines Bleibens war aber in Harvard nun auch nicht mehr sehr lange.
+Seit ich den Paß in den Koloradobergen von der Wasserscheide
+herabgefahren war, wo der Arkansas die Richtung zum Atlantischen Ozean
+weist, hatte ganz leise der Zug zur Heimat zu arbeiten begonnen. Nur
+noch einen reichlichen Monat hielt ich es drüben aus, dann schloß ich,
+einen wohlerworbenen amerikanischen „~degree~“, den ich mir mit
+nicht leichten Prüfungen ehrlich verdient hatte, in der Tasche, die
+Koffer zur Heimfahrt. Ich wartete den Semesterschluß der Universität
+gar nicht erst voll ab, sondern beschloß meine Studien zum Erstaunen
+der Herren Professoren, die drüben solch akademische Freiheit gar
+nicht gewöhnt sind, schon vier Wochen vor der der übrigen Studenten.
+Ich hatte ja in Deutschland längst ausstudiert. Und alles Arbeiten auf
+amerikanischem Boden war für mich nur „überflüssig gutes Werk“.
+
+So kamen die Abschiedsbesuche bei all den wohlwollenden Herren und
+sonstigen lieben Menschen, die sich meiner so freundschaftlich
+angenommen hatten. Ich bin ihnen allen noch heute sehr verbunden
+und verpflichtet. Dann fiel der Deckel auf den großen graugrünen
+Hochzeitskoffer meiner Eltern mit den Büchern und all den vielen
+Siebensachen, die sich nun noch reichlich vermehrt hatten, zur Fahrt
++durch Kanada+ heimwärts. Ob er wohlbehalten mit mir die Heimat
+erreichte? Ich hoffte es.
+
+
+
+
+Kanada.
+
+
+Kanada ist ein ganz riesiges Land, +noch viel riesiger als die
+amerikanische Union+! Es ist wenig kleiner als ganz Europa
+einschließlich Rußland! Ich hatte natürlich nicht vor, etwa auch
+noch dies Land seiner ganzen Breite nach zu durchfahren, seine
+unermeßlichen Prärien und unerschöpflichen Wälder zu erforschen, die
+die Bevölkerung trotz der ungeheuren Landfläche auf ein Zehntel der
+der Union beschränken. Dazu fehlte völlig die Zeit. Mir sollte es
+genügen, wenigstens einen Blick in das Land hineinzuwerfen und einen
+Abschiedshauch von ihm mitzunehmen.
+
+Kaum +eine+ namhafte Großstadt gibt es auf kanadischem Boden. Ein
+äußerst kalter und rauher Winter läßt das Land monatelang erstarren,
+obwohl seine Südgrenze etwa in der Höhe von Mailand läuft! Gar tief
+schneidet die Hudsonbai, die das ganze Jahr mit Treibeis (!) gefüllt
+ist, in das Land ein. Eisig sind die Stürme, die von Grönland und
+dem Eismeer herein und von hier bis in die obere Mississippiebene
+hinabbrausen. Es war mir möglich, den einzig wichtigen Osten zu
+durchfahren, wo vor England einst Frankreich Fuß faßte, das zu
+Zeiten von Neuorleans über Saint Louis bis Quebec gebot! Welch eine
+Koloniallinie! Im Siebenjährigen Krieg verlor ja Frankreich dank der
+Siege Friedrichs des Großen ganz Kanada, dessen Wert damals niemand
+ahnte, an England, und das Mississippital verkaufte Napoleon I. an
+die Union, auch seine Bedeutung nicht für möglich haltend, für ein
+Butterbrot! (15 Millionen Dollars). Von Ostkanada, Montreal und Quebec,
+wollte ich den mächtigen Lorenzstrom hinunter über den nördlichen
+Atlantischen Ozean nach Schottland hinüberfahren und noch England
+durchstreifen. Das waren wieder neue Erlebnisse! Der Plan, gar über
+Japan heimzukehren, war für mich leider unausführbar; so hielt ich mich
+dafür an den kanadischen Weg, sintemal die Route Kanada-Schottland die
+kürzeste Überfahrt auf offener See bietet!
+
+So ging es durch Massachusetts, das liebliche Neuhampshire und
+Vermont gen Quebec. Ich sagte dem Charles River Lebewohl, der golden
+leuchtenden, so oft geschauten Kuppel des State House auf dem Boston
+Common, dem schönen Renaissanceturm der ~New old South~, auch all den
+vertrauten Collegegebäuden von Harvard, in denen ich so oft ein- und
+ausgegangen war.
+
+Wir hielten in der rauchenden über 100000 Einwohner zählenden
+Fabrikstadt Lowell. Ein Mönch in brauner Kutte stieg ein. Wie sich das
+in Amerika ausnimmt zwischen all den rasierten ~gentlemen~! Er wollte
+offenbar nach dem katholischen Kanada reisen! Auch schon in Lowell gibt
+es genug französisch redende kanadische Arbeiter, die in den nördlichen
+Industrien der Union Verdienst suchen.
+
+Dann kam rings schöne grüne Heide, je weiter wir nach Neuhampshire
+hineinfuhren. Flüsse, Seen und sanftgewellte Hügel bestimmten den
+Charakter der Landschaft. Alles alte Indianergründe! Davon zeugen noch
+heute die Namen der Flüsse, Seen und Berge, wie z. B. der Name des
+äußerst lieblichen, an den mittelenglischen Seendistrikt erinnernde
+Lake Winnipesaukee. Birkenbepflanzte Fahrwege säumen ihn, kleine
+Dampfer eilen über seine spiegelglatte Fläche. Waldige Mittelgebirge
+überhöhen ihn rings sanft ansteigend. Unverwandt schaute ich wieder
+hinaus in diese liebliche einsame Landschaft. Wieviel Raum und Platz
+ist hier noch für wanderlustige und siedlungsbereite Menschen! Der
+Zeitungsboy wanderte indessen wie immer durch den Bahnwagen und
+bot Ansichtskarten und Albums aus. Auch er hatte schon einen etwas
+fremdartigen Akzent ...
+
+Die Stationsnamen hatten oft puritanisch-biblischen Klang:
+„Bethel, Kanaan, Lebanon“, wie man auch heute noch viel
+biblisch-alttestamentliche Vornamen unter den Amerikanern und
+Engländern findet: +Abraham+ Lincoln, +David+ Jefferson, +Isaak+
+Newton, +Jonathan+ Eduards, +Josiah+ Royce usw. -- und waren doch alle
+beileibe keine Juden! Die Bahnhöfchen wurden immer unansehnlicher, je
+weiter wir nordwärts kamen.
+
+Den See Winnipesaukee samt den malerischen White-Mountains ließen wir
+zur Rechten und fuhren nach dem Staat Vermont hinüber und dann den
+langen, vielverzweigten und vielbesuchten „Lake Champlain“ entlang.
+Er ist über 150 ~km~ lang, d. h. also mehr als doppelt so lang als
+unser Bodensee, wenn auch nicht von seiner Breite. Ein Kanal verbindet
+ihn mit dem Hudsonfluß. Immer aufs neue werden alle unsere deutschen
+Maßvorstellungen über den Haufen geworfen. Und dabei zählt dieser
+See samt dem Salt Lake in Utah durchaus zu den „kleinen“ Seen. Es
+war äußerst erfrischend und erquickend an ihm entlang zu fahren. Wir
+hatten eben einen 300 ~m~ hohen Paß mit der Bahn überschritten und
+senkten uns nun in seine liebliche Niederung. Auch an Joseph Smiths,
+des Mormonenpropheten Heimat, Dorf Sharon, eilten wir vorüber. Also in
+dieser träumerisch-idyllischen Landschaft hat der Prophet seine ersten
+seelischen Eindrücke empfangen! Sie ist freilich der denkbar größte
+Gegensatz zu den Einöden und Steppen um den Salzsee.
+
+Je weiter wir an dem Lake Champlain nordwärts kamen, desto ebener
+und flacher wurde das Land wieder. Die freundlichen Berge Vermonts
+blieben zurück. Vor St. John erreichten wir die Grenze der Union und
+fuhren nun nach Kanada hinein. Es war für mich nicht das erstemal, daß
+ich englischen Boden berührte. Schon vom Niagara bis Detroit hatte
+ich das südlichste kanadische Gebiet durchfahren. Der Lake Champlain
+fließt ab im „Richelieu River“, der so breit ist wie ein Meeresarm.
+Schon der Name belehrte mich, daß sich hier eine alte geschichtliche
+Welt auftat, die noch heute neben 100000 Indianern über eine Million
+französisch redende Kanadier bewohnen. Dünn ist das Land besiedelt.
+Ungeheure Ebenen bis an den Horizont taten sich auf, die an Weite und
+Unfaßlichkeit noch die Ebenen des Mississippi übertreffen! Auf weiten
+grünen Weiden tummelten sich Pferde und Rindvieh. Von Zollrevision
+merkte ich nichts. Freut sich etwa ~The Dominion of Canada~ über jeden
+Menschen und jedes Stück Ware, was in sein ungeheuer aufnahmefähiges
+Land hineinkommt? Oder spart man Beamte? Die Bauart der Häuser zeigte
+hier einen anderen Stil als in der Union. Es sind im östlichen
+Kanada meist Steinhäuser mit flachem oder französischem Doppeldach.
+Verschwunden sind die typischen amerikanischen hölzernen Farmhäuser.
+Auch die meisten Stationsnamen sind jetzt französisch, z. B. „Brosseau“!
+
+Es dunkelte. Über den ungeheuren Grassteppen war westwärts die Sonne
+versunken. Von einer Reihe abendlich beleuchteter Hügel blitzten
+Lichter auf. Wir näherten uns den Ufern des St. Lorenzstromes,
+der kaum noch ein Strom zu nennen ist, der als der breite Abfluß
+des Ontariosees, einer der großen, ostseeähnlichen Seen, wie der
+Niagarafluß der Abfluß des Eriesees seeartig daherströmt. Er ist fast
+so lang wie die Wolga und schon 400 ~km~ vor der Mündung 20 ~km~ breit!
+
+Einen ganzen Tag war ich wieder gefahren, als wir endlich zwischen
+neun und zehn Uhr abends in Montreal (frz.: „Königsberg“, aber hier
+meist englisch ausgesprochen: „~montrioll~“) eintrafen. Auf mächtiger
+Brücke setzen wir über den St. Lorenz, der hier so breit wie die
+Unterelbe ist. Montreal liegt auf einem unmittelbar am Fluß hoch
+ansteigenden Berg. Daher trägt es auch seinen Namen zu Recht. Es
+übertrifft an Alter, wenn auch keineswegs an Größe und Bedeutung,
+die meisten seiner viel jüngeren amerikanischen Schwesterstädte.
+1608 wurden schon die ersten französischen Niederlassungen am St.
+Lorenzstrom gegründet! Heute zählt Montreal über 200000 Einwohner.
+Es besitzt eine alte prächtige Kathedrale in französischer Gotik. Im
+Winter stauen sich die mächtigsten Eisschollen zu Bergen am Flußkai vor
+ihr. -- Ich war der letzte, der aufs Schiff kam, das am Landungssteg
+schon ein geraumes Stück stadtabwärts abfahrtbereit lag. Ich nahm mir
+im Dunkeln eine Droschke. Wie hätte ich sonst im Dunkeln, eben erst
+in Kanada eingetroffen, nachts zehn Uhr durch die bergig gelegene
+Stadt das Schiff finden sollen? Mit der Straßenbahn, auf der viele
+Fahrgäste französisch wie in Straßburg sprachen, war ich nicht recht
+vorwärts gekommen. Ich mußte im Oberstübchen erst tüchtig umräumen
+und umschalten, bis ich nach dem vielen Englisch die richtigen
+französischen Worte fand! Gegen elf Uhr betrat ich das Deck, von den
+Passagieren neugierig angestaunt, und verstaute mich selbst auf dem
+„~Royal-mail-twin-screw-steamer Jonian~“, wie er offiziell hieß!
+
+Der Dampfer selbst kam mir in seinen Ausmaßen recht klein vor, als ich
+ihn betrat, im Vergleich mit den Ozeanriesen, die man aus den Docks in
+Neuyork gewöhnt war. Aber solcher Riesen brauchte es ja auch zwischen
+Kanada und Schottland nicht. Er hatte immer noch 8000 Registertonnen
+und gehörte der englischen Allan-Linie. Angenehm war es, daß er nur
+II. Klasse führte, so daß einem auch als Menschen „zweiter Klasse“
+und von minderem Geldbeutel doch einmal das ganze Schiff mit allen
+Decks und Salons bis hinauf aufs Oberdeck zur Verfügung stand; ferner
+war angenehm, daß im ganzen nur etwa 150 Passagiere mitfuhren. Es
+waren diesmal ein gut Teil Missionare darunter, die zu einer großen
+Missionskonferenz nach Schottland wollten. Die Besatzung aber betrug
+dennoch allein 180 Mann! Die wenigen Passagiere machten aber die ganze
+Fahrt recht familiär.
+
+Müde von den langen Eisenbahnfahrten ging ich bald in meine Kabine, die
+ich für mich allein hatte. Zum Schlaf sollte es doch noch nicht sobald
+kommen, denn um Mitternacht begann ein wahrhaft höllisches Gepolter.
+Die großen Schiffskrane versenkten nämlich sämtliches große Gepäck und
+sonstige Ladung in die tiefen Laderäume im Bauch des Dampfers. Das
+gab ein Rasseln der Ketten, ein Drehen der Krane, ein Rufen, Pfeifen,
+Rollen, Schieben, Fallen ohne Aufhören. Erst etwa gegen drei Uhr nachts
+hörte es auf. Die Augen fielen mir zu ... Die Ankerketten wurden
+hochgezogen. Das war englische Rücksichtslosigkeit und Nüchternheit
+-- wir fuhren! Ohne Sang und Klang ging es ab -- auch englisch --
+ohne den ganzen schönen theatralischen Abschied wie in Kuxhaven. Kein
+Winken, auch kein Weinen! Der Engländer ist nicht so sentimental und
+melancholisch wie wir.
+
+Als ich morgens erwachte, mir die Augen rieb und durch die Luke
+hinausschaute, schwammen wir mit unserer „Jonian“ auf einem breiten,
+schimmernden Strom, den liebliche grüne Ufer und sanft geschwellte
+Hügel begrenzten, sacht und ohne jede Erschütterung abwärts. So
+sollte es zweieinhalb Tage fortgehen, bis wir in den offenen Ozean
+hinauskamen. Ich hätte so bis ans Ende der Welt fahren mögen ... Gegen
+Vormittag zehn Uhr kamen wir an Quebec, der anderen alten französischen
+Gründung, vorbei. Quebec war mir zum ersten Male in der Kindheit in
+einem Gedicht Seumes begegnet, aber wie in völlig nebelhafter Ferne.
+Jetzt sah ich es wie Montreal auf noch steilerem Berg herrlich und
+gebietend über dem St. Lorenz thronen als natürliche starke Festung.
+Festungsmauern und drohende Kasematten säumten die Zitadelle, aber
+auch riesige Hotels mit gewiß prächtiger Aussicht haben sich den Berg
+hinangebaut. Quebec erinnerte mich stark an unseren Ehrenbreitstein am
+Rhein gegenüber Koblenz.
+
+Hinter Quebec wurde der St. Lorenz noch zwei- bis dreimal so breit
+als bisher. Er weitete sich mehr und mehr und wurde fast wie zu
+einer tiefeingeschnittenen Bucht. Die in der klaren Luft wie gemalt
+ausschauenden Berge begleiteten ihn noch lange. Dann und wann
+passierten wir buschige Inseln mitten im Strom wie am Niederrhein. Nach
+Stunden begegnete uns auch das schönere und neuere Schwesterschiff, die
+„Virginian“, die von Schottland kommend und derselben Linie angehörend
+stattlich den St. Lorenz aufwärts dampfte. Lebhaftes Grüßen und Winken
+und Tücherschwenken hinüber und herüber -- und dann war auch dies
+„Ereignis“ wieder vorüber! Nach einigen Stunden kam auch noch die „Lake
+Erie“ von der Dominian-Linie und ein Seedampfer, der der Canadian
+Pacific-Eisenbahn gehörte. Solche Schiffsbegegnungen sind immer „große“
+Ereignisse an Bord und beliebte Ziele für Operngläser und Feldstecher.
+
+Am Rand des Stromes tauchten hier und da kleine weißschimmernde Dörfer
+auf mit kleinen weißen Kirchtürmen, aber im ganzen doch selten. Sonst
+machte das weite Gras- und Hügelland links und rechts den Eindruck
+völliger Unbewohnheit, der uns in Europa -- Rußland ausgenommen -- so
+ganz fremd ist! Wir nahmen den Kurs nach der „Belle-Isle-Straße“, dem
+nördlichsten Ausgang aus dem St. Lorenzstrom, so daß wir das eisige
+Labrador links und „Neubraunschweig“ rechts ließen.
+
+Als der erste Tag der Fahrt auf dem Lorenzstrom zu Ende ging, wich
+die Helligkeit abends nur sehr langsam. Es war ja Juni und ging dem
+hellsten Tag entgegen. Mit jedem Tag aber kamen wir in nördlichere
+Breiten. Ja es blieben zuletzt breite helle Streifen die ganze Nacht
+am dunklen Himmel stehen, die uns entweder als Reflexe des Eises im
+nördlichen Labrador oder als Nordlicht gedeutet wurden! So kriegte man
+fast ein bißchen Geschmack wie von „Grönland“ und „Nordpol“. Von der
+Südspitze Grönlands trennten uns nachher ja auch nur noch etwa 600
+~km~, also etwa eine Entfernung wie von Edinburg zur Südküste Englands.
+Labrador allein ist so groß wie ganz Skandinavien und Spanien zusammen!
+
+Aus einem buntfarbigen Abend tauchte ein strahlender Sonntagmorgen.
+Ruhig und gelassen glitt unser Schiff wie ein Riesenschwan den viele
+Kilometer breiten blauen Strom abwärts. Wir waren jetzt in den St.
+Lorenz+golf+ eingetreten, der sich in zwei Straßen nördlich und südlich
+der Neufundlandinseln zum Atlantischen Ozean öffnet. Wie mit dem Messer
+geschnitten zeichnete sich die Wasserfläche in der völlig staubfreien,
+herrlich-klaren frühlingshaften salzigen Seebucht vom Horizont ab. Von
+den aus dem warmen Golfstrom so oft aufsteigenden Nebeln war diesmal
+nichts zu merken. Rechts glitt eine längliche bergige Insel vorüber.
+Zum ersten Male begann sich jetzt unser Schiff dank der vom offenen
+Ozean nun seitlich hereindringenden Wellen ein wenig zu heben und zu
+senken. Der erste Gruß des offenen Atlantik!
+
+Im Speisesaal fanden heute Sonntags auf dem englischen Dampfer nicht
+weniger als vier (!) Gottesdienste nacheinander statt, bei denen
+zumeist die mitreisenden Missionare predigten und aus ihrer Arbeit in
+Japan, auf den Philippinen und in Indien erzählten. Einer von ihnen,
+ein französischer Missionar, berichtete in mangelhaftem Englisch von
+seinen Erlebnissen bei der Fremdenlegion. Ehe sie redeten, wurden
+sie jedesmal mit Namen und Wirkungskreis vorgestellt! Auf einem mit
+dem englischen Union Jack umwundenen Pult lag eine große vergoldete
+Schiffsbibel. Das war die Kanzel. Die Mannschaft nahm, soweit frei,
+auch an dem „~worshipping the Lord~“ teil. Ich kann mich nicht
+entsinnen, daß wir auf dem Hapagdampfer bei der Hinfahrt Sonntags je
+irgendeine religiöse Veranstaltung gehabt hätten. Sonntags spielte hier
+auch die Schiffskapelle nicht einmal zu den Mahlzeiten! Kein Spiel,
+erst recht nicht Karten, wurde auf Deck veranstaltet oder geduldet,
+auch kein Tanz u. dgl. Rauch- und Biersalon blieben heute unbesucht!
+Das Klavier wurde nur zu Chorälen geöffnet ...
+
+Eine breit aufgewühlte Wasserfurche ließ unser Schiff hinter sich.
+Schwärme von Möwen folgten ihm. Der Himmel behielt unverändert seine
+strahlende Bläue. Wir näherten uns der großen Insel „Anticosti-Island“.
+Ein Leuchtturm blinkte herüber. Bei Eisgang nehmen die Schiffe
+gewöhnlich von hier den weiteren südlichen Kurs um Neufundland herum,
+wir aber behielten den kürzeren nördlichen bei an der Küste von
+Labrador hin unter Grönland weg!
+
+Montag morgen passierten wir die Nordküste der wegen ihres Nebels so
+berüchtigten Neufundlandinseln und fuhren in die Straße von Belle-Isle
+ein. Labrador schien ganz unbewohnt, trotz seiner ungeheuren Größe,
+bergig, öde. Es zählt wohl kaum 10000 Einwohner[37]. Es kennt wie
+Kanada noch große Büffel- und Rinderherden, auch Bären! Als wir den
+Ausgang der „Belle-isle-Straße“ um Mittag ins offene Meer gewannen,
+kamen uns -- zu unserer Freude -- richtige Eisberge auf ihrer Wanderung
+von Grönland südwärts entgegengeschwommen. Wir machten freilich einen
+recht respektvollen Bogen um sie. Denn die „~ice-bergs~“ ragen oft nur
+wenige Meter über dem Wasserspiegel, aber um so länger sind sie unter
+ihm! Im ganzen waren es nur vier dieser Burschen, die wir sahen. Uns
+interessant, von den Seeleuten gefürchtet. Noch steht in furchtbarer
+Erinnerung der Zusammenstoß der Titanic mit einem dieser unheimlichen
+Gesellen 1912. Aber malerisch sehen sie aus, wenn sie so blendend weiß
+im tiefen Blau des Ozeans dahergeschwommen kommen, lautlos und doch so
+gebieterisch, ein Stück losgelöstes Nordpolland.
+
+Als wir den offenen Ozean gewonnen hatten, zeigte er weiße Kämme
+bei schwacher Bewegung ... Das interessantere Stück der Fahrt war
+nun vorüber. Jetzt folgte wieder das erhabene Einerlei des offenen
+Ozeans ohne Küstenstrich und Abwechslung für die Augen. Freilich ein
+strahlender Tag löste den anderen ab. Leicht fuhr das Schiff seine
+Bahn. Das Meer war kaum bewegt. Es war ein wundervolles Dahingleiten
+in dieser Juniherrlichkeit der See. Ich saß entweder ganz am Bug vorn
+und schaute in die unendliche Weite, der wir entgegenfuhren, vorwärts
+das Land Europas „mit der Seele suchend“ oder ganz auf dem Achterdeck
+rückwärts gewandt allein mit meinen Gedanken über Amerika und sah der
+breiten quirlenden und schäumenden Furche nach, die unsere Schrauben
+hinter uns zurückließen. Es war zu prächtig, nichts zu tun als zu
+schauen und zu sinnen ... Andere, wie die Missionare, unterhielten
+sich ständig über Missionsfragen, lasen viel in ihren Büchern oder
+zankten sich auch über kirchliche Dinge. Merkten sie gar nichts von
+der Missionspredigt, die ihnen täglich der ewige Ozean Gottes hielt?
+Dafür nannte mich der französische Missionar, der bei der Fremdenlegion
+gedient hatte, „~not sociable~“[38]. Meinetwegen! Der beste Sozius in
+unserem Leben ist doch auch manchmal das eigene sinnende Ich, wenn
+es sich weitet zu einem Überich und seelische Tiefen aufzubrechen
+anfangen. Aber mit diesem Ich mögen so wenige allein sein! Sie müssen
+immer Menschen und „Unterhaltung“ um sich haben, die doch oft so seicht
+und fade ist ...
+
+An einem der Wochentagabende war wieder nach den vier ~services~ des
+Sonntags -- „~prayer-meeting~“. Es knieten nebeneinander im Salon die
+bärtigen Schotten und die glattrasierten Kanadier, und einer nach dem
+anderen begann ein langes freies und doch gepreßtes Gebet. Ich hielt
+es lieber mit dem: „Wenn du betest, so geh’ in dein Kämmerlein und
+schließ’ die Tür zu ...“
+
+Am Freitag regnete es einen halben Tag lang, und wir fuhren in feuchtem
+Nebelgrau. Passierten wir den Golfstrom? Ich benutzte die Stunden,
+die man in den Salons zubringen mußte, meine Einführungsrede in mein
+Amt, das ich sofort nach meiner Ankunft in der Heimat antreten
+sollte, auf dem freien Ozean auszuarbeiten. Hier war Stille dafür.
+Salzluft des freien Himmels wehte mit hinein. Plötzlich tutete es zum
+Rettungsappell. Alles mußte in die Boote. Aber glücklicherweise war es
+nur Probealarm. Schreckhaft, aber interessant!
+
+Sonnabend nachmittags näherten wir uns der schottischen Küste. Kein
+einziges Schiff war auf diesem nördlichen Kurs uns auf dem offenen
+Meer begegnet! Nur fünf Tage hatte die Fahrt auf offener See gedauert;
+zweieinhalb Tage fuhren wir auf dem St. Lorenz!
+
+Vormittags elf Uhr tauchte zuerst frohbewillkommnet die bergige blaue
+Küste des grünen Irland auf, an dem wir nördlich vorbeifuhren. Wir
+hatten also das Ziel richtig gefunden. Möwen umflatterten uns begrüßend
+wieder zu Hunderten.
+
+Ein letztes Konzert an Bord galt, wie üblich, der Mannschaftskasse.
+An seinem Ende wurde „~God save the king~“ gesungen! Jeder hatte
+dabei aufzustehen. Der Speisesalon war reich mit englischen Flaggen
+dekoriert. Gegen Abend tauchten auch schon die felsigen, unmittelbar
+aus dem Meer aufsteigenden malerischen Steilküsten Schottlands mit
+ihren Schlössern und alten Städten auf. Jetzt redete wieder die alte
+Welt mit tausendjähriger Geschichte zu uns ...
+
+Den letzten Tag wurde unser Schiff noch ganz blank gestrichen.
+Temperaturmessen, Loten, Flaggenhochziehen war mir als Landratte
+immer wichtig ... Dann kam ein letzter himmlisch-klarer Abend bei
+der Durchfahrt durch die felsige Clydebucht, an deren innerem Ende
++Glasgow+ liegt. Ihr Eingang wirkt wie ein norwegischer Fjord. Um elf
+Uhr abends war es in diesen Juninächten Schottlands noch hell genug zum
+Lesen ...
+
+Als ich Sonntag früh erwachte, lagen wir bereits fest im Dock in
+Glasgow mitten zwischen Schuppen und Lagerhäusern. Ebenso prosaisch und
+klanglos wie die Abfahrt in Montreal war die Landung in Glasgow. Ich
+war auf dem Boden Seiner britischen Majestät!
+
+Kein Empfang, keine Musik!
+
+Ich betrat wieder europäischen Boden ...
+
+
+Fußnoten:
+
+[Footnote 37: Den Namen soll es von „~terra laboratorum~“, d. h. Land
+guter Sklavenarbeiter erhalten haben?!]
+
+[Footnote 38: Nicht gesellig.]
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+Druck der Roßberg’schen Buchdruckerei, Leipzig.
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75888 ***
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+ Quer durch Amerika | Project Gutenberg
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75888 ***</div>
+
+<div class="transnote mbot3">
+
+<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+
+<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von
+1926 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche
+Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
+nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
+unverändert.</p>
+
+<p class="p0">Einige Ausdrücke wurden in verschiedenen Schreibweisen
+wiedergegeben, verschiedene englischsprachige Benennungen sind nicht
+ganz korrekt. Sofern die Verständlichkeit des Texts davon nicht berührt
+ist, wurden diese Ausdrücke aber belassen wie im Original angegeben.</p>
+
+<p class="p0">Die Fußnoten wurden am Ende des betreffenden Kapitels
+zusammengefasst.</p>
+
+<p class="p0">Das Buch wurde in Frakturschrift gesetzt; Passagen in
+Antiquaschrift werden in dieser Fassung, mit Ausnahme der Bildunterschriften,
+<span class="antiqua">kursiv</span> dargestellt.
+<span class="p0 hidehtml">Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät
+installierten Schriftart können die im Original
+<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in
+serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt
+erscheinen.</span></p>
+
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowe34 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover">
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+ <figcaption><span class="u">Original-Einband</span></figcaption>
+</figure>
+
+<p class="center padtop5 break-before"><span class="antiqua">Copyright 1926 by</span> Dresdner
+Verlagsbuchhandlung<br>
+M. O. Groh, Dresden-N. 6.</p>
+
+<p class="center padtop5 break-after">Alle Rechte,<br>
+einschließlich das der Übersetzung, vorbehalten.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_003">
+ <img class="w100 mtop3" src="images/illu_003.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">DER SAN FRANCISCO-CHICAGO-EXPRESS IM
+ FELSENGEBIRGE
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_003_gross.jpg"
+ id="illu_003_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<h1 class="mtop3 break-before">Quer durch Amerika</h1>
+
+<p class="s3 center mtop2">Ein Reisetagebuch</p>
+
+<p class="s4 center mtop1 mbot1">von</p>
+
+<p class="s2 center"><span class="antiqua">Dr.</span> Karl August Busch</p>
+
+<p class="s4 center padtop5">1926<br>
+Dresdner Verlagsbuchhandlung<br>
+M. O. Groh, Dresden-N. 6</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Vorwort">Vorwort.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Z. R. III hat seine Siegesfahrt über den Atlantischen Ozean längst
+vollendet. Er kreiste um die Freiheitsstatue in Neuyork und das Kapitol
+in Washington und wurde als Zeichen deutschen technischen Geistes und
+deutscher Tatkraft überall stürmisch bejubelt. Die tiefen Wunden, die
+uns im Weltkrieg das Dazutreten Amerikas zu unseren Feinden schlug,
+beginnen langsam zu vernarben. Völker noch eher als Einzelmenschen
+müssen immer wieder miteinander leben.</p>
+
+<p>So ist das Interesse bei uns für Amerika wieder erwacht. Man fragt
+wieder interessiert: Wie sieht es drüben wirklich aus? Handbücher
+der Erdkunde, der Politik, des wirtschaftlichen Lebens usw. Amerikas
+gibt es dafür genug. Was ich im folgenden biete, will nichts als
+eine anschauliche Schilderung persönlicher Eindrücke und Erlebnisse
+in der Union von Neuyork bis San Francisco sein, die mir ein volles
+Studienjahr bot: Es will dem Leser, vor allem auch der weltbegierigen
+und wanderlustigen reiferen Jugend, schildern, wie es „drüben“ aussieht
+und wie es „drüben“ zugeht.</p>
+
+<p>Natürlich kann ich es nur so sagen, wie ich es erlebt und gesehen
+habe, und werde auch nur das beschreiben, was ich erlebt habe. Aber
+das Persönliche wird hier gerade das Reizvolle sein. Darum hat dabei
+hier und da wohl auch der Humor sein Recht. Nebenbei aber wird der
+aufmerksame Leser bald merken, daß er auch aus dieser Schrift allerlei
+Wissenswertes über das Leben des amerikanischen Volkes und das Land im
+ganzen lernen kann, so daß er bei der Lektüre das Angenehme mit dem
+Nützlichen verbindet.</p>
+
+<p>Dresden, den 10. November 1925.</p>
+
+<p class="right mtop1"><span class="mright2">Karl August Busch</span><br>
+<span class="mright4"><span class="antiqua">Dr. phil.</span></span><br>
+<span class="antiqua">B. D. (Harvard University)</span>.</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt.</h2>
+
+</div>
+
+<table class="toc">
+ <tr>
+ <td class="s5 vam">
+ &#160;
+ </td>
+ <td class="s5 vam">
+ <div class="right">Seite</div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">Vorwort</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Vorwort">4</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">1. <em class="gesperrt">Wie ich dazu kam.</em> Was ich
+ drüben wollte. Der wanderlustige Großvater. Lehrjahre, Wanderjahre.
+ Wohin in die Welt? Auf nach Amerika! Aber woher das Geld? So etwas wie
+ Austauschstudent. Englischlernen und Kofferpacken. Die Fahrt nach Hamburg</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Wie_ich_dazu_kam">7</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">2. <em class="gesperrt">Die Abreise.</em> In Hamburg.
+ Die Hapag. Im Hafen. St. Pauli. Beim Rathaus. Auf der Alster. Im „Rauhen
+ Haus“ und im Volksheim. Letzter Tag in Deutschland. Blankenese. Mit dem
+ Sonderzug nach Kuxhaven. Zum erstenmal auf Deck des Ozeandampfers.
+ Die Abfahrt</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Die_Abreise">17</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">3. <em class="gesperrt">Auf dem Atlantischen Ozean.</em>
+ Bordleben. In der Kabine. Morgen und Abend auf See. Allerlei wohlgemeinte
+ Ratschläge! Vor Boulogne-sur-mer. Eddystone und die Scilly-Inseln.
+ Bordspiele. Kulturgeschichte des Meeres. Sozialismus auf dem Meer. In
+ Erwartung der Landung. In der „<span class="antiqua">upper bay</span>“.
+ In Hoboken. In den Zollhallen</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Auf_dem_Atlantischen_Ozean">28</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">4. <em class="gesperrt">Neuyork.</em> Auf dem Broadway.
+ Im „<span class="antiqua">subway</span>“. Die Yankees. An der Battery.
+ Gründungsgeschichtliches. „Wallstreet.“ In Ostneuyork. Auf dem
+ Metropolitan-Tower. In den Museen und dem Zentralpark. Coney Island, der
+ größte Vergnügungspark der Welt. Auf Staten Island, in Hoboken, in Bronx.
+ Die Jahrhundertfeiern auf dem Hudson</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Neuyork">45</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">5. <em class="gesperrt">Boston.</em> Die Eisenbahnen.
+ Durch Connecticut. Bostons Geschichte im Freiheitskampf. Bostons Bildung.
+ Die religiösen Denominationen. Ein amerikanischer Sonntag. Im Tempel der
+ „Christian Science“. „Testmeetings.“ Amerikanisches und deutsches
+ Kirchentum. Der große Neger Booker T. Washington. Ein wunderbar
+ wiederentdeckter Onkel</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Boston">67</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">6. <em class="gesperrt">An der Harvard-Universität in
+ Cambridge (Mass.).</em> Unter den Ulmen Harvards. Mein
+ „<span class="antiqua">furnished room</span>“. In der
+ Studentenspeisehalle am Klubtisch. Der neue Universitätspräsident.
+ Amerikanischer Universitätsbetrieb. Fackelzug im Stadium. Im
+ amerikanischen Kolleg. <span class="antiqua">Vivant professores!</span>
+ Im kosmopolitischen Klub. Deutsches Kneipen und amerikanische Studenten.
+ Die Geschichte meines Fracks. Allerlei Herbst- und Winterspaziergänge:
+ Salem, Bunker Hill usw. Concord, das amerikanische Weimar</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#An_der_Harvard-Universitaet">102</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">7. <em class="gesperrt">Ein Fußballspiel und
+ Weihnachten drüben.</em> Das große Harvard-Yale-Spiel im Harvardstadium.
+ Harvard unterliegt! Im Vereinshaus des Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A.
+ Thanksgivingday. Heiligabend allein. Weihnachten im Bürgerhaus, bei den
+ Reichen, im Settlement. Silvesterabend</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Ein_Fussballspiel_Weihnachten_drueben">128</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">8. <em class="gesperrt">Über den Niagara nach Chikago.</em>
+ Geld zur Weltreise? Im Pullmann. Die erste nächtliche Fahrt. Am Lake
+ Erie. In Buffalo. Im deutschen Pfarrhaus zu North-Tonawanda. Ausflug zum
+ Niagara. Vereist! Eindrücke <span class="pagenum" id="Seite_6"><span class="s4a">[S. 6]</span></span>
+ des Falls. Auf der amerikanischen und kanadischen Seite. Über Detroit
+ nach Chikago. Im Auswandererzug. „Der Zug westwärts.“ In Chikagos
+ Wolkenkratzerschluchten. Nationalitäten. Verkehr. Im Zirkus und im
+ „<span class="antiqua">Hull-house</span>“. Bei den Spiritualisten.
+ Geistererscheinungen? Wahrsagerei</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#UEber_den_Niagara_nach_Chikago">146</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">9. <em class="gesperrt">Über den Mississippi ins
+ Felsengebirge.</em> Das grüne Land in Illinois. Über den Mississippi und
+ Missouri. Die Prärie. Kansas City. Ein Reiseschreck! „Mountain-Time.“ In
+ altspanischem Siedlungsgebiet. In den „Rockies“. Santa Fé. Auf
+ Indianerpfaden. In der Indianerschule. Unter den San Franzisko-Bergen.
+ Am Grand Cañon des Colorado River. Abstieg in den Cañon. „Schwarz
+ Amsels“ Tod</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#UEber_den_Mississippi_ins_Felsengebirge">182</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">10. <em class="gesperrt">Nach Kalifornien.</em> Durch
+ die Wüsten Arizonas, das Land der schönen Sonnenuntergänge. Im Italien
+ Amerikas. Los Angeles, ein Paradies. Nach San Pedro. Auf dem Stillen
+ Ozean. Auf Santa Catalina, dem kalifornischen Capri. Im Theater. „Die
+ City.“ Mit der „Linie der 1000 Wunder“. An der kalifornischen Riviera.
+ St. Barbara. Die spanische Gründung. An der Montereybucht. Auf dem
+ 17-Meilenweg. Im Sand des Stillen Ozeans. Die Riesenbäume. Das
+ Lick-Observatorium. Die Stanford-Junior-Universität. In San Francisco,
+ der Stadt des Erdbebens. Am „Golden Gate“. Über die Bai nach Oakland.
+ Auf dem Telegraphenhügel. Das Chinesenviertel</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Nach_Kalifornien">227</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">11. <em class="gesperrt">Am Großen Salzsee und in
+ Kolorado.</em> Über die Schneepässe der Sierra Nevada. Durch die Wüsten
+ Nevadas. Reno und seine Ehescheidungen. Die Frau in Amerika. In Utah.
+ Über den Salzsee. Ogden. Das mormonische Zion. Im Tempelblock. Der
+ „Prophet“ J. Smith. Aus der Geschichte des Mormonismus. Die Mormonenbibel.
+ Nach Kolorado. Durch alpine Kañons und Pässe. Entlang dem Arkansas. Die
+ „Royal Gorge“. Colorado Springs. Aufstieg zum Pikes Peak. Der
+ Göttergarten. Manitou. Wieder 36 Stunden durch die Mississippiebenen.
+ Wieder in Chikago im Schneetreiben!</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Am_Gro_en_Salzsee_und_in_Kolorado">257</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">12. <em class="gesperrt">Über Pittsburgh nach
+ Washington.</em> In Ohio. Im Kohlen- und Eisendistrikt. Das rauchende
+ Pittsburgh. Beim alten Prediger. Durch die Alleghenies ins Tal des
+ Monongahela. Harpers Ferry. Ankunft in Washington. Eine adlige Stadt.
+ Das Kapitol und „Weiße Haus“, die Institute des Staats. Ausflug nach
+ Mount Vernon. An Washingtons Grab</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#UEber_Pittsburgh_nach_Washington">295</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">13. <em class="gesperrt">Baltimore, Philadelphia.</em>
+ Baltimores Gründung und heutige Bedeutung. Die Geschichte der
+ Quäkerstadt. William Penn und Benjamin Franklin. Germantown.
+ Pennsylvanien. Auf dem Turm der City Hall. John Hopkins. Über den
+ Delaware nach Newark und Hoboken. In der deutschen Kirche in Neuyork.
+ Zurück nach Harvard</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Baltimore_Philadelphia">312</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="just">14. <em class="gesperrt">Kanada.</em> Ein französisches
+ Kolonialland. Unermeßlichkeit. Die Landschaft der Nordstaaten. In
+ Montreal. Ankunft und Abfahrt. Auf dem St. Lorenz. An Quebek vorbei. Die
+ nördliche Route an Labrador. Eisberge. In fünf Tagen nach Schottland. In
+ Glasgow gelandet</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#Kanada">321</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+</table>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Wie_ich_dazu_kam">Wie ich dazu kam.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Ich bin nicht nach Amerika gegangen, weil ich etwa in Deutschland
+etwas „ausgefressen“ hatte oder hier nicht mehr guttat oder weil es
+mir bei uns nicht mehr gefiel. Ich wollte auch weder Goldsucher noch
+Farmer werden noch mich gar drüben reich verheiraten. Sondern daß ich
+hinüberging, das kam so:</p>
+
+<p>Einst kramte ich als dreizehnjähriger Junge auf unsrer Bodenkammer.
+Da fand ich zwischen dem Kaufmannsladen, dem Prachtstück aller
+Weihnachtserwartungen in unsrer Kindheit, der ehrwürdigen Puppenstube
+meiner Mutter, auf die mein Bruder ein schönes zweites Stockwerk
+aufgesetzt hatte, so daß nun unten im Erdgeschoß Empfangszimmer,
+Wohnstube und Damensalon, im ersten aber die Küche mit gelbschwarzen
+Fliesen und die Schlafzimmer angeordnet waren, einer mit sechs Türmen
+bewehrten trutzigen Festungsburg, in deren Innerem ganze Regimenter
+Soldaten verstaut werden konnten und deren dicke Mauern den stärksten
+Kanonen trotzten, zwischen einem alten wohlabgebrauchten Kinderwagen,
+dessen Radgestell allein noch intakt war, mehreren Reihen verstaubter
+Einmachgläser, überzähligen Bettdecken und Federbetten, einem Knäuel
+Wäscheleinen und dgl. auch einen Kasten voller alter Papiere und
+vergilbter Karten. Ich war allzeit wißbegierig. Die Papiere waren
+in vergilbten Umschlägen wohlsortiert, wohlgefaltet und ein wenig
+wurmstichig, aber in haarfeiner sauberster Schrift geschrieben und
+alle mit einem seltsamen „Ich“ gezeichnet. Die gelblichen Karten waren
+sauber auf Leinwand gezogen und wohlnummeriert.</p>
+
+<p>„Ich“ war, wie ich erfuhr, das Signum meines Großvaters
+mütterlicherseits, Johann Carl H., mit dem er alle seine Schriftstücke,
+selbstverfaßte<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> Gedichte und Briefschaften an Familienangehörige
+und nächste liebe Verwandte zu unterzeichnen pflegte. Diesen meinen
+Großvater habe ich nun zwar selbst nie gekannt. Elf Jahre vor meiner
+Geburt ist er gestorben. In dem nationalen Unglücksjahr Deutschlands
+1806 war er geboren. Als bedächtiger Mann von 42 Jahren hat er meine
+Großmutter geehelicht, also gerade im Revolutionsjahr 1848, und zwar
+dazu in der Stadt der Paulskirche und des Parlaments, der er als eines
+ehrsamen Bürgers Sohn entstammte; aber gespürt habe ich ihn in meinem
+Fühlen, Reisen und Wandern immer.</p>
+
+<p>Lange Jahre war er auf Wanderschaft in der Welt draußen gewesen. Daher
+stammten die vielen Karten. Er muß ein sehr genauer und auch recht
+ästhetisch empfindender Mann gewesen sein, denn haargenau war seine
+Handschrift, wohlabgezirkelt und klar. Und wohlaufbewahrt sind alle
+seine Gedichte nach Geburtstagen wohldatiert, nach Weihnachtsfesten
+und Jubiläen in der Verwandtschaft. Und so wanderte er auch, genau
+und akkurat in allem, nie ohne Karte — schon vor hundert Jahren!
+Heute läuft jeder Fünfzehnjährige draußen mit einer Generalstabskarte
+im Kartenhalter auf der Brust herum, aber damals in der Zeit, wo man
+noch mit der Postkutsche fuhr und die allerersten Eisenbahnen sich
+schüchtern hervorwagten, war es ein Zeichen selbständiger Akribie und
+Bildung.</p>
+
+<p>So hat mein Großvater Bayern, Oberitalien, Nordfrankreich und Belgien
+durchwandert. Wie anders lagen damals noch die Grenzen Europas. Da
+gab es noch kein Deutsches Reich! Preußen und Bayern lagen noch wie
+auf zwei verschiedenen Halbkugeln der Erde. Und die freie Reichsstadt
+Frankfurt a. M. lag stolz und selbständig mitten innen, und ihr
+weißer Adler auf rotem Grunde regte noch seine eigenen Schwingen!
+Das habsburgische Österreich aber reichte weit und mächtig gebietend
+bis tief nach Oberitalien hinein. Mailand und Venedig waren Habsburg
+untertan. Als ein letzter Rest von jenem Reich Karls V., in dem
+die Sonne nicht unterging! Belgien war noch kein blutiger Feind
+für das deutsche Volk, sondern Brüssel ein klein Paris,<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> zu dem
+der lernbegierige und nach Bildung und feiner Form strebende junge
+Frankfurter der Biedermeierzeit bewundernd aufsah.</p>
+
+<p>Blut soll ja dicker als Wasser sein. Blut der Vorfahren rollt in
+unseren Adern, mehr als wir ahnen, und bestimmt uns vielleicht öfter,
+als wir es uns vorzustellen wagen. Denn wir kommen uns doch immer
+so frei und selbständig vor! Je mehr wir aber die Eigenart unsrer
+Ahnen studieren, um so mehr verstehen wir uns selbst und um so mehr
+erkennen wir, wieviel wir von ihnen ererbt haben. Es war derselbe
+Großvater, der nach seinem Dienst auf dem freien Frankfurter „Römer“
+mit seinen Kindern fast täglich nachmittags in den Stadtwald ging und
+sie des Abends auf die Waldwiese leitete, wenn das Wild heraustrat zu
+äsen, der mit ihnen des Sonnabends und Sonntags zu Fuß in das nahe
+Taunusgebirge zog, als noch keine überfüllten Bahnzüge leicht und
+schnell Zehntausende dahinführten. Es war derselbe Großvater, der
+eine echte Schwäbin heimführte, und deren Tochter wieder aus ganz
+andrer Ecke Deutschlands von der Wasserkante aus altem friesischen
+Bauerngeschlecht. So wurde in mir Süd, Nord und Mitte Deutschlands
+wohlverbunden, noch ehe ich auf die Welt kam.</p>
+
+<p>Was Wunder, daß es mich nun in meiner Jugend in alle Gaue Deutschlands
+zog, daß ich in der Schwabenheimat mich zu Hause fühlte wie kaum wo
+sonst und daselbst anfing zu studieren! Und daß ich durchaus an der
+Wasserkante mein erstes Amt versah! Was wunder, daß Schwarzwald und
+Nordsee mich gleicherweise beglückten und ich aber auch gleich dem
+Großvater nicht ruhte, bis ich alle Gebirge Deutschlands schon in der
+Jugend durchwandert hatte. Wir Jungen standen als Obersekundaner auf
+dem Donon und dem Sulzer Belchen, als die Welt noch an keinen Weltkrieg
+dachte, auf dem Brocken und dem Kickelhahn, auf der schwäbischen Alb
+und dem fränkischen Jura als Studenten. Waren das nicht immer noch die
+Karten des Großvaters, die in mir rumorten?</p>
+
+<p>Merkwürdig, als ich noch in Quarta war, da war, wie meine Zensurbücher
+ausweisen, mein allerbestes Fach natürlich die Geographie, wo<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> ich
+sehr oft eine blanke Eins bekam. Die Städte an der <em class="gesperrt">Elbe</em> konnte
+ich damals besonders gut und rasch bei unserm Geographielehrer —
+von dem ich noch nicht ahnen konnte, daß er nach beinahe zwanzig
+Jahren ganz woanders zum Oheim meiner künftigen Frau werden würde! —
+herunterschnurren, als noch niemand mir zu prophezeien wagte, daß ich
+ausgerechnet in einer unter ihnen, dem unvergleichlichen Dresden, mein
+Domizil aufschlagen und von einer andern aus in die neue Welt fahren
+würde. Es liegen anscheinend mehr Weissagungen schon in unsrer Jugend
+verborgen, als wir oft auch nur zu ahnen wagen würden.</p>
+
+<p>So kam für mich die Zeit, da es in Deutschland anscheinend nichts mehr
+zu durchwandern gab. Nun mußte man eben als guter Deutscher ins Ausland
+gehen. Denn das Ausland gilt dem rechten Deutschen immer mehr als die
+Heimat! War es uns nicht auch, auch wenn nicht schon die Abstammung
+dahingewiesen hätte, immer in der Schule an den Großen eingeprägt
+worden, was sie nicht erlernt, das hätten sie <em class="gesperrt">erwandert</em>?! Und
+beim Wandern lerne man mehr als in der besten Lehre! Sollen nicht in
+guter Reihenfolge in jedes rechtschaffenen Menschen Lauf auf Lehrjahre
+Wanderjahre folgen? Auch schon darum durfte ich von dieser Regel nicht
+abgehen.</p>
+
+<p>Aber wohin ins Ausland? Meine Examina waren gemacht, der Eintritt
+in den Beruf stand bevor. Dazwischen hinein ließ sich noch das
+Ausland einschieben, selbst auf die Gefahr hin, daß man ein oder zwei
+Dienstjahre später einrückte. Die Jugend hat Idealismus! Nur nicht zu
+pedantisch! Was kümmern zwei Jahre? Der Trott in den wohlausgefahrenen
+Dienstgeleisen konnte noch bald und lange genug kommen! Also hielt mich
+nichts! „Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir erblüht!“ Dem jungen
+Menschen steht die ganze Welt offen. Der Alpdruck der Prüfungen war
+überwunden; die Tore der neuen Lebenszwingburgen hatten sich noch nicht
+aufgetan. Zum letztenmal war man noch ungebunden und jung. Also hinaus
+in die Welt!</p>
+
+<p>So war es mir fast zur Selbstverständlichkeit geworden: Ich gehe<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> ins
+Ausland. Gleich, wohin! Nur einmal hinaus! Einer meiner Ahnen ist als
+württembergischer Gefolgsmann Napoleons I. in Rußland geblieben. Aber
+an Rußland — war es zu bolschewistisch? — dachte ich gar nicht.
+Südwärts oder westwärts konnte es gehen, in die alte oder in die neue
+Welt!</p>
+
+<p>Den humanistisch einst wohlgebildeten Gymnasiasten lockte Italien
+und Griechenland, das heilige Land oder Ägypten! Nun waren wir als
+Oberprimaner schon einmal bis zum Gardasee vorgedrungen und hatten
+— ich weiß es noch gut — als gute Deutsche vom Gardasee die erste,
+natürlich italienisch geschriebene Postkarte nach Hause gesandt.
+Als Studenten waren wir bis ans römische Forum und bis zu St. Peter
+gekommen, tasteten uns durch die Kallistkatakomben und besichtigten
+eingehend alle heiligen sieben Mutterkirchen Roms. Jetzt hätte es
+heißen müssen: Athen oder Jerusalem! Das wäre ein folgerichtiger
+Bildungsgang gewesen. Aber so folgerichtig geht’s nicht immer im
+Leben. Das Leben enthält vielmehr Zufälle und Sprünge — und hinterher
+scheinen sie auch ganz folgerichtig zu sein! Wer weiß, ob mir nicht
+<em class="gesperrt">die neue Welt</em> beschieden war!</p>
+
+<p>Ich arbeitete damals gerade an den Schriften eines bedeutenden
+amerikanischen Psychologen, um auf echte deutsche Art ihn zu einer
+Doktordissertation zu „verarbeiten“. Aber nicht bloß der Geist,
+auch das Blut drängte nach Amerika. Zwei Schwestern meines Vaters
+waren schon früh in ihrem Leben nach Neuyork übergesiedelt und waren
+„Bindestrich-Amerikaner“ geworden, wie Wilson die Deutschamerikaner im
+Weltkriege so geschmackvoll zu definieren beliebt hat. Beide hatten
+sich mit ihren Männern und Familien der Musik verschrieben, die eine
+schrieb allerlei in Zeitungen und Romanen.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Aber wie nach Amerika kommen?</em> Ebenso wie zum Kriege gehört zum
+Reisen Geld und nochmals Geld und zum dritten Male Geld. Erst recht
+ins Land des Dollars. Aber daran fehlt’s gewöhnlich gerade denen, die
+es ganz ideal zu verwenden am ehrlichsten geloben könnten. Sollte ich
+als blinder Passagier hinüberfahren? Aber das war zu unsicher und mir
+auch nicht „ehrlich“ genug. Und wie hätte<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> das drüben weitergehen
+sollen? Oder vielleicht als Kohlenschipper? Dazu fehlten mir Muskeln
+und Übung. Eine studierte Schreiberseele führt schlecht die Schaufel.
+Auch sieht man bei dieser nützlichen, wenn auch rußigen Tätigkeit zu
+wenig vom Meer und seinen Schönheiten. Aber vielleicht als Steward?
+Nicht, daß mich ein falscher Standeshochmut abgeschreckt hätte. Ist
+doch heute dem Werkstudenten alles recht und billig und hatte ich auch
+eine liebe und treffliche entfernte Verwandte, die fast neunzigjährig
+starb, mit fünfundzwanzigjährigem Fahren auf einem großen Lloyddampfer
+ein kleines Vermögen für ihre alten Tage verdient, das sie bis ans Ende
+ehrlich ernährte. Aber ob ich bei tüchtigem Seegang nicht alle Tassen
+und Teller hinwerfen würde? Dafür konnte ich keine Garantie übernehmen.
+Davor hätte auch kein Studium der Philosophie oder was sonst mich
+bewahrt, wenn ich auch als kleiner Junge daheim zeitweilig mit Vorliebe
+den Tisch gedeckt und gleich meinem Ältesten heute mit Vorliebe in der
+Mutter Puppenstube die Möbel umgeräumt habe und noch heute am liebsten
+immer selbst angebe, wie und wo die Möbel stehen sollen. Also etwas
+Anlage zum Steward lag vielleicht auch in mir, aber ob sie reichte?</p>
+
+<p>Ich fing es lieber doch so an, wie es zunächst meiner Lehre entsprach,
+und hielt es mit dem Sprichwort: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“
+Vielleicht glückte es irgendwo in amerikanischen Wüsten oder Küsten im
+Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Hauslehrer in einer wohlhabenderen
+deutschen Familie zu werden? Die würden dann schon das Reisegeld
+schicken.</p>
+
+<p>Ich war damals dabei, wie gesagt, meinen Doktor rechtschaffen mit dem
+amerikanischen Psychologen zu bauen. Während ich morgens über Spinoza,
+Kant und Hegel nachdachte, mein Hirn mit den Problemen der „Kritik der
+reinen Vernunft“ strapazierte, hielt ich es des Nachmittags ein wenig
+mehr mit der „praktischen Vernunft“ und schrieb Briefe und Bewerbungen
+in alle Welt hinaus, wo nur ein Privatlehrer, Erzieher, Lehrer oder wer
+weiß was gesucht wurde; wo es war, war mir gleich, mochte es Kairo oder
+Konstantinopel, Chikago<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> oder Tokio sein. Nur wurde in entfernteren
+Ländern meist eine mehrjährige Verpflichtung verlangt! So ernst wollte
+ich es aber gar nicht mit dem Auswandern nehmen. Etwa auf fünf Jahre
+mich zu verpflichten, schien mir sehr gewagt und viel zu lang. Wie lang
+erscheinen fünf Jahre der Jugend! Die Auslandsfahrt sollte mehr nur so
+ein recht großer Ausflug zwischen Examen und Berufsbeginn sein, so ein
+bißchen Globetrotter auf Zeit&#160;...</p>
+
+<p>Da lese ich eines Tages in einer unsrer Zeitschriften ein großes
+amerikanisches Stipendium gerade der Universität ausgeschrieben, an der
+mein Doktorthema noch als lebendiger Mensch und angesehener Professor
+lebte und lehrte. Es war mir sofort so, wie wenn jemand zu mir gesagt
+hätte: „Das ist für dich, schreib nur hin — du kriegst das.“ Man soll
+doch manchmal ruhig etwas auf vernünftige Ahndungen und Eingebungen
+halten!</p>
+
+<p>Ich schrieb also hübsch sauber, wie sich das in solchen Fällen wohl
+gehört, auf einen blanken Foliobogen meinen Lebenslauf und auf andere
+meine Zeugnisse, ließ einige Bittbriefe an hohe und gelehrte Herren
+in Deutschland, die mir trauten und drüben etwas galten, aus dem
+stillen idyllischen Universitätsstädtlein, in dem ich saß, in die
+Welt hinausflattern. Und die hohen und gelehrten Herren hatten alle
+ein gutes und wohlwollendes Herz und stimmten offenbar dem Willen zu
+den „Wanderjahren“ in mir aufrichtig zu und müssen mich wohl recht
+dem hohen amerikanischen Universitätskuratorium empfohlen haben ...
+denn nach einigen Wochen kriegte ich es wirklich, wie ich es gleich
+in mir gefühlt hatte. Ein Telegramm hatte es mir vorher per Kabel —
+<span class="antiqua">NB</span>: jedes Wort kostete eine Mark! — angezeigt. Aber auch ohne
+das wußte ich es innerlich schon längst, seit ich die Ausschreibung
+gelesen hatte. So also kam es, daß ich nach Amerika hinüberging, obwohl
+mir das nötige Reisegeld durchaus dazu fehlte. Ein bißchen Glück gehört
+eben auch zum Leben immer dazu.</p>
+
+<p>Als ich meinem besten Freunde die Entscheidung mitteilte, da sagte
+er bloß trocken: „Nun mußt du hin!“ Ja, nun mußte ich hin! Da fühlte
+ich zum erstenmal, daß es doch ein Entschluß war, als<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> junger Mensch
+allein in die neue Welt zu fahren. Was würde ich alles sehen? Was alles
+erleben? Ich freute mich unbändig.</p>
+
+<p class="mtop2">Viele sagen, das Schönste am Verreisen sei das Plänemachen. Da ist
+auch sicher etwas daran. Die Vorfreude auf Weihnachten ist ja oft
+schöner als nachher Weihnachten selbst. Wie manchmal stieg es bei den
+Vorbereitungen heiß in mir herauf: „Jetzt wird es ernst!“ Alle die
+fremden Menschen und Städte, die fremde Sprache tauchten wie flimmernde
+Bilder vor der Seele auf, und mitten hinein rauschte schon das
+gewaltige Meer&#160;...</p>
+
+<p>Meinem Vater war es nicht ganz recht. Er hielt es mehr mit dem weisen
+Wort: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“ Es wäre ja nun auch
+an der Zeit gewesen, selbst daheim Geld zu verdienen, statt neues
+auszugeben. Aber da er selbst an der Wasserkante aufgewachsen war,
+steckte auch in ihm genug Hanseatengeist, um sich schnell damit
+abzufinden.</p>
+
+<p>Vor allem lernte ich zunächst fleißig wieder Englisch, denn der rechte
+Deutsche setzt doch seinen Stolz darein, firm in der fremden Sprache
+an den fremden Strand zu treten. Die englischen Schulbücher wurden
+wieder hervorgeholt und emsig Vokabeln und unregelmäßige Verba gepaukt:
+„<span class="antiqua">think — thought — thought</span>, <span class="antiqua">fall — fell — fallen</span>
+usw.“. Dazu las ich englische Schriftsteller der Schulzeit noch
+einmal: Kipling und Irving, ein bißchen Walter Scott und Shakespeare,
+den mir ein alter lieber Professor, der von den Hugenotten stammte,
+auslieh, und zum Überfluß ging ich als großer Mensch noch einmal in
+eine Sprachprivatschule, um nicht nur Wörter und Sätze zu verstehen,
+sondern auch sprechen zu können und eine gute Aussprache zu haben. Wie
+begeistert war einst mein Bruder aus ihr heimgekommen, daß dort der
+Lehrer gleich englisch angefangen hatte und kein Wort deutsch sprach:
+<span class="antiqua">„This is a pencil. What is this? A pencil</span> usw.“, indem er
+belehrend seinen Bleistift zur allgemeinen Ansicht in die Höhe hielt
+und sich nur durch Zeichen mit seinen Schülern verständigte. Wir in
+der Schule hatten bieder Deutsch und Englisch durcheinandergeredet<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span>
+und brav erst Vokabeln und Grammatik gelernt. Aber trotz allem — o
+weh — wie ging es mir zuerst drüben! Ich las zwar ganz flott Bücher
+und Zeitungen, aber das Verstehen fiel mir doch schwer. Sie redeten
+drüben nachher alle so schnell! Wie der Wind war es um die Ecke, was
+sie gesagt hatten! Das Ohr war noch nicht an die fremden Laute gewöhnt.
+Und mit dem Antworten war es auch nicht so ganz einfach, denn die
+alleralltäglichsten Redensarten hatte man doch noch nicht gleich fertig
+auf der Zunge liegen.</p>
+
+<p>Zu Hause wurde währenddem viel für mich genäht; eine ganze Woche war
+die Näherin, die schon Jahrzehnte in der Familie erlebt, allein für
+mich da. Dann sollte auch noch ein Reiseanzug herbei, natürlich in
+Schnitt und Falten etwas „englisch“, desgleichen der Mantel und die
+Reisemütze. Sie flog mir allerdings gleich am ersten Nachmittag auf
+See bei einem kräftigen Windstoß an der Ecke des Decks ins Meer, gewiß
+weil sie zu sehr englisch war. Dahin war dahin, sie ruht nun wohl schon
+manches Jahr auf dem Grund des Ozeans, wenn sie nicht der Golfstrom wer
+weiß wohin entführt hat. Aber da ja in der Welt nichts an Stoff und
+Energie verlorengehen kann, sondern sich höchstens in andere Formen
+verwandelt, so existiert meine Mütze ganz gewiß auch noch. Nur weiß man
+nicht, wo und wie. Vielleicht dient sie heute einem Haifischgroßpapa
+als Kopfkissen beim Mittagsschläfchen oder wem sonst&#160;...</p>
+
+<p>Mein Schiffsbillett hatte ich auch schon bestellt. I. Kajüte war
+natürlich für mich bescheidenen Nichtsverdiener zu teuer. Blieb
+Zwischendeck oder „Zweiter“? Es hätte nur verhältnismäßig wenig — ich
+glaube fünfzig Mark — Unterschied gemacht, wenn ich Zwischendecker
+geworden wäre. In der Zweiten fuhr man menschlich, sogar mehr wie
+menschlich, für meine Erstlingsansprüche recht feudal. Ich habe es
+auch nicht bereut, als ich später das Menschengewürfel von Italienern,
+Slowaken, Russen und Griechen im Zwischendeck und ihr gegenseitiges
+Zusammenleben sah!</p>
+
+<p>So gingen die Wochen der Vorbereitung hin. Eines Frühmorgens hieß es
+um vier Uhr aufstehen. Die Koffer waren längst sorglich gepackt.<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> Ein
+großer ehrwürdiger Familienkoffer, mit dem schon meine Eltern mit uns
+Kindern allen vor vielen Jahren an die See gereist waren, für den
+Gepäckraum, und ein flacherer neuer für unter das Bett zu schieben,
+wie es die Hapag verlangte. Dann ging es an den Bahnhof, ein letzter
+Kuß und Händedruck ... Wann und wie würde man sich wiedersehen ...?
+Eigenartige Gefühle überkommen einen. Man schluckt etwas hinunter&#160;...</p>
+
+<p>Ich fuhr durch das freundliche hessische Land, wie schon so manches
+Mal. Die so malerisch gelegene hessische Universitätsstadt Marburg
+grüßte mit ihrem alten Landgrafenschloß und der feinen Kirche der
+heiligen Elisabeth mich noch einmal als Marburger. Dort oben bei der
+hohen Pfarrkirche hatte ich in aussichtsreicher Studentenbude gewohnt.
+Da drüben hatten wir in den alten gotischen Kreuzgewölben zu Füßen
+unsrer akademischen Lehrer gesessen, und hier oben am Waldsaum waren
+wir gar manchmal zum Kaffee zum „Hansenhaus“ hinaufgestiegen. Vor
+Kassel türmte sich hoch oben auf dem Habichtswald der mächtige Herkules
+über Schloß Wilhelmshöhe ... In Göttingen kreuzte uns der Gegenzug. Ich
+kannte die Strecke. Als neunjähriger Junge war ich sie zum erstenmal
+gefahren, als es zur Hochzeit ins große Hamburg ging. Es war damals
+ein Freitag, weiß ich noch. Sonntags sollte Hochzeit sein. Und am
+Sonnabend entgleiste derselbe Zug, mit dem wir tags zuvor fuhren, in
+der Lüneburger Heide, da ein von einem Güterzug gefallener Querbaum
+die Geleise verbogen hatte. Ein Freitag soll ja immer ein Glückstag
+oder ein Unglückstag sein. Und mich hatte es nicht getroffen. Diesmal
+rasten wir ohne Unfall durch die Lüneburger Heide. Sand, Kiefern, Moore
+... Blauäugige, blondhaarige Menschen und rotgedeckte Ziegelhäuser
+flogen an uns vorüber. Dann donnerten wir über die großen Harburger
+Elbbrücken. In Rauch und Dunst lag Hamburg da. Hoch überragte der
+schlanke gotische Turm der Nikolaikirche die mächtige Stadt. Links
+fauchten auf der breiten Elbe die Ostafrikadampfer der Woermann- und
+der Levantelinie. Ich stellte mir im stillen ihre Maße vor und wünschte
+mir unser Schiff noch<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> etwas größer. Alles rauchte, fauchte und tutete,
+die Sirenen heulten. Kleine Boote und Dampfer schossen hin und her&#160;...</p>
+
+<p>Der Hafen war ein Gewirre von Masten und Schornsteinen, großen
+und kleinen Booten, Ozeandampfern und Elbschiffen, Schleppern und
+Passagierdampfern. An dem langen Uferkai Lagerhäuser an Lagerhäuser,
+Brücken, Krane, Kraftwagen ... Welch mächtiger Verkehr! Dann waren wir
+in die riesige Halle des neuen Hamburger Hauptbahnhofes eingefahren.
+Nun gab es kein Zurück mehr. In zwei Tagen ging es über den
+Atlantischen Ozean&#160;...</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Abreise">Die Abreise.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Wer bei uns einen Vorschmack vom Weltverkehr haben und Luft von Übersee
+einmal in die Nase ziehen will, muß wenigstens ein paar Stunden in
+Hamburg herumlaufen&#160;...</p>
+
+<p>Ich trat aus dem Hauptbahnhof und nahm zuerst meinen Weg über die
+breite Lombardbrücke, die die Innen- von der Außenalster scheidet.
+Immer aufs neue von hier war der Blick prächtig über die weite von
+flinken Dampferchen belebte schimmernde Seefläche. Was wäre Hamburg
+ohne seine Alster und ohne seinen „Jungfernstieg“, die Promenade
+der feinen Welt an dem kleineren Becken der Innenalster, mit seinen
+kostbaren Läden und „fashionablen“ Cafés!</p>
+
+<p>Ich suchte mir zunächst Quartier, freilich nicht in einem der großen
+internationalen Hotels, sondern in einem bescheidenen, sauberen Heim,
+wo ich mit Stewards, Kellnern aller Art und allerlei anständigen jungen
+Seeleuten zusammentraf. Es war alles im Hause sauber und gut&#160;...</p>
+
+<p>Ich setzte mich des Abends zu den andern Gästen an den Tisch und
+ließ mir von ihren Reisen erzählen, von Quebek und Brasilien, von
+Petersburg und Neuyork! Wo die schon alles in ihren jungen Jahren in
+der Welt herumgekommen waren! Sie erzählten vom Leben an Bord, von
+hartem Dienst, von Scherz und Spiel, von Sturm und heiterer Fahrt, von
+seekranken Damen und trinkgeldgeizigen Herren, von ordentlichen und
+unordentlichen Kameraden, die ihren Lohn<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> drüben in wenigen Stunden
+verliedert und verludert hatten, die mit keinem Cent in der Tasche
+wieder an Bord gingen, ja ihre Uhr als letzten Besitz noch als Pfand
+dalassen mußten. Zum Schluß setzte sich einer von ihnen ans Klavier
+und in trefflichem Ton sangen alle die flachsblonden, blauäugigen,
+hochgewachsenen friesischen jungen Menschen: „Schleswig-Holstein,
+meerumschlungen ...“, daß es nur so eine Art hatte. Was für ein
+Unterschied war doch zwischen den Schwarzwälder oder oberbayrischen
+Bauernburschen und diesen blonden Holsteinern!</p>
+
+<p>Am andern Morgen war mein erster Gang in das mächtige Geschäftsgebäude
+der Hapag, mein Schiffsbillett zu holen, um dann an den Hafen zu den
+Gepäckhallen zu gehen und nachzusehen, ob auch mein großer grüner
+Koffer mit den vielen Büchern wohl angekommen und bereit sei, mit mir
+nach Amerika zu fahren. Welch ein Getriebe überfiel mich am Hafen!
+Hatte ich ihn tags zuvor nur flüchtig und aus der Eisenbahn von oben
+überschaut, so nahm er sich jetzt von unten, wenn man mitten drin war,
+noch ganz anders aus! Die vielen Boote, Kanäle und Brücken, Krane und
+Frachtwagen, die himmelhohen Lagerhäuser! Welch ein Durcheinander
+von Pfeifen, Signalen, Schreien, Rufen, Schelten, Fahren, Rasseln
+der Ketten ... und über allem dicker Dunst, Rauch und Teergeruch.
+Wahre Kompanien von Schauerleuten und Lademannschaften und dahinter
+die Kontore, Bureaus, Magazine und Ladehallen mit einem Heer von
+Angestellten, Schreibern, Zollbeamten ... Da sah und horchte die
+Landratte auf: Das war Hamburg! Das war Weltverkehr!</p>
+
+<p>Ich hatte mich glücklich bis zu der richtigen Lagerhalle durchgefunden
+und durchgefragt. Berge von Koffern türmten sich vor mir auf; es sah
+aus, als wollte ganz Deutschland mit einem Male auswandern ... Und
+wirklich — richtig, da drüben zwischen hundert andern stak auch
+mein großer grüner mit dem gewölbten Deckel, auf dem die nächsten
+etwas unsicher balancierten, und lachte mich wie ein guter Kamerad
+freundschaftlich an. Trotz all seiner Vielbenutztheit und seinem
+Abgeschabtsein — er hätte getrost singen können: „Schier dreißig
+Jahre<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> bist du alt“ — hätte ich ihm jetzt um den Hals fallen mögen:
+„Da bist du ja, guter Freund, hab Dank, daß du mich nicht im Stich
+gelassen hast ... nun wollen wir auch weiter treulich zusammen übers
+Meer fahren und drüben zusammenhalten ... und gebe Gott, auch beide
+wieder gesund heimkommen ... vor allem aber, alter Freund, krach’ mir
+ja nicht unterwegs, der du den Bauch voll vieler schwerer Bücher hast,
+auseinander!“&#160;—</p>
+
+<p>... „Nein, nein, was du nur von mir denkst, so alt bin ich denn doch
+noch nicht, hab immer noch Kräfte genug zusammenzuhalten“, schmunzelte
+er behäbig zurück. „Du kannst dich auf mich verlassen!“ Und er hat
+seinen Schwur gehalten! Es sei ihm heute noch gedankt. Als ich so
+beruhigt und vollkommen getröstet aus der Halle wieder hinausging,
+scholl hinter mir ein erschütterndes Gelächter her. Tiefe Baßstimmen
+von den schwersten Reisekörben bis zu den hellen hochmütigen Stimmen
+der feinen Damenkoffer. Oder war es eine Gruppe von Schauerleuten? Was
+lag mir daran&#160;...</p>
+
+<p>Ich bestieg einen der flinken Hafenrunddampfer von Käses berühmter
+Hafenrundfahrt und ließ mich ¾ Stunden lang für einen einzigen
+Groschen in allen Richtungen im Hafen herüber und hinüber, an allen
+Molen und Landestellen, auf allen Hafenarmen und auch auf der freien
+Elbe umherfahren. Die Elbe warf dabei oft recht stattliche Wellen.
+Das kleine hochbordige wackere Dampfboot stieg auf und nieder; aber
+manchmal brach auch ein tüchtiger Guß über den Bug herauf aufs
+Vorderdeck und überschüttete die allzuweit Vornanstehenden mit einem
+nicht gerade immer willkommenen Bade.</p>
+
+<p>An den St.-Pauli-Landebrücken stieg ich aus und klomm zur Seewarte
+empor und in ihr bis auf das aussichtsreiche Dach. Welch ein
+majestätischer Rundblick sich von oben bot! Drunten die breiten im
+Sonnenschein herrlich glitzernden breiten Elbarme mit ihren Hunderten
+von hin und her schießenden Booten, weiter hinaus die Docks und
+Werften, die rauchenden Schlote bis hin zu den sanften Linien des
+grünen Hinterlandes. Über der Stadt selbst der übliche Rauch und Qualm
+— darin tut’s Hamburg London gleich —, aus dem richtunggebend<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> hoch
+und schlank der Nikolaiturm emporstieg. Eindrucksvoll präsentierte
+sich von hier oben Lederers fast zyklopisches Bismarckdenkmal auf
+der Elbhöhe, ein unübertreffliches Symbol deutscher Kraft, deutschen
+schaffenden Willens und hoffnungsfreudigen Blickens in eine neue
+Zukunft: Deutschland kann seine Söhne allein nicht mehr ernähren, wenn
+es nicht wieder mit der ganzen Welt handelt und für sie arbeitet. Ist
+auch das Werk des Alten im Sachsenwalde eingerissen worden, aber sein
+Geist lebt fort und wird wieder auferstehen.</p>
+
+<p>Ich schlenderte durch St. Pauli, die berüchtigte Schiffer- und
+Arbeitervorstadt Hamburgs, übel berühmt durch ihr loses und
+leichtfertiges Vergnügungsleben. Hier will der von schwerer Seefahrt
+heimgekehrte und entlohnte Matrose sich „erholen“, d.&#8239;h. austoben und
+ausleben, nachdem ihn wochenlang harter Dienst und strammes Kommando
+in Fesseln gehalten hat. Und wie verführerisch lockt des Abends die
+lichterfüllte, überall orgelnde, tönende, schreiende „Reeperbahn“, an
+der Kino an Kino, Varieté an Varieté sich reiht mit all ihren dunklen
+Gassen seitabwärts&#160;...</p>
+
+<p>Aus diesem St. Pauli ging es zurück durch die Stadt und ihre breiten
+und belebten Geschäftsstraßen, wie sie nun nach gewaltigen Durchbrüchen
+am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Ich warf einen Blick in
+die ehrwürdige Nikolaikirche. Vom hohen Turm von St. Nikolai klang um
+Mittag das melodische Glockenspiel, das bis vor kurzem ein hoch in den
+siebziger Jahren stehender Onkel von mir zu spielen hatte, der täglich
+durch Jahrzehnte hindurch die 400 Turmstufen emporstieg, um auf seiner
+Spielbank da oben im luftigen Reiche Platz zu nehmen. Und er behauptete
+immer, sooft man ihn begleitete, diese tägliche Turnübung allein habe
+ihn bis in sein hohes Alter so gesund erhalten ...!</p>
+
+<p>Die herrlichen Säle des Rathauses mit ihren kostbaren Gemälden sah ich
+gern einmal wieder. So machts doch der gute Deutsche: Wenn er einen
+einzigen Tag in einer fremden Stadt zubringt, besieht er sich emsig und
+umsichtig, ein ausführliches und gelehrtes Reisehandbuch in der Hand,
+alle Sehenswürdigkeiten, und es schmerzt ihn nachher<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> sehr, irgend
+etwas Wichtiges und Berühmtes vielleicht doch übersehen zu haben. Aber
+in der Geburtsstadt kann es einem passieren, daß man — wie mir selbst
+— zum <em class="gesperrt">ersten Male</em> in Goethes Geburtshaus hineinkommt, wenn man
+es von auswärts zugereisten Verwandten zu zeigen hat!</p>
+
+<p>Sooft ich in Hamburg war, konnte ich es mir auch nicht versagen,
+wenigstens einmal über die Alster zu fahren. Eine Alsterfahrt gehört
+immer zu den idyllischsten Erinnerungen. Die Alster ist immer schön,
+am strahlenden Sommertag und ebenso im herbstlich früh einbrechenden
+Abenddunkel, wenn die Alsterboote mit ihren Lichtern wie Leuchtkäfer
+im Nebel hin und her flitzten. In trauter Erinnerung stand bei
+mir seit den Kindertagen auch das Uhlenhorster Fährhaus, von dessen
+herrlicher Terrasse man einen solch entzückenden Blick über das weite
+Alsterbecken bis hin zu den vielen fern und schlank aufragenden Türmen
+Hamburgs genießt.</p>
+
+<p>Hinter Uhlenhorst liegt der Vorort Horn. Er war mir auch seit meiner
+Kindheit bekannt, seit in seiner kleinen Kirche einst mein ältester
+Bruder getraut worden war ... Ich sehe noch immer die nach Althamburger
+Sitte lange Wagenreihe vor mir, die da mit der großen Verwandten- und
+Bekanntenschaft hinausstrebte. Und ich durfte damals als kleiner viel
+verhätschelter Junge mitten zwischen den Brautjungfern sitzen! Und dann
+defilierten wir durch die vielen neugierig an der Eingangstür wartenden
+Vorstadtkinder ... und oben auf der Orgel intonierte der siebzigjährige
+Onkel L., dessentwegen das kleine Kirchlein zur Trauung gewählt worden
+war, derselbe, der täglich zum Glockenspiel auf den Nikolaiturm
+hinaufstieg.</p>
+
+<p>In Horn steht bekanntlich auch Wicherns berühmtes „Rauhes Haus“,
+darin einst der Kandidat Wichern und seine Mutter Wohnung nahmen, um
+selbstlos arme verwahrloste Knaben zu erziehen. Jetzt sind es mächtige
+ausgedehnte Erziehungshäuser der „Inneren Mission“. Die Anstalt erfüllt
+heute einen gar weiten Komplex, in dem sich aus freundlichem Grün die
+einzelnen Häusergruppen familiär und traulich erheben. Als „Familien“,
+von Brüdern und Helfern betreut, leben hier<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> die Zöglinge zusammen. Wie
+mancher mag hier fürs Leben wirklich „gerettet“ worden sein, so daß die
+Anstalten mit Recht ihren Namen tragen.</p>
+
+<p>Für soziale Arbeit habe ich mich schon früh immer stark interessiert.
+Gerade in Hamburgs Straßen blickte ich manchem hungrigen Straßenhändler
+oder armen streichhölzerverkaufenden elternlosen Kinde in die
+Augen ... Ich weilte in des gottbegnadeten Pastor Clemens Schulz’
+Lehrlingsverein, der dem alten Herrn die Familie ersetzte, und sah mich
+um in den sozialen „Volksheimen“ und fühlte mich jedem Eckensteher und
+„Halbstarken“ ein bißchen verwandt. Waren sie nicht alle auch Menschen
+und Brüder? Was können sie für das Elend, in dem sie aufgewachsen sind,
+für Not und Irrtum, die sie in Schuld getrieben? Zeitweilig hatte ich
+einmal ernstlich die Absicht, mich ganz der verwahrlosten Jugend in St.
+Pauli zu widmen&#160;...</p>
+
+<p>So strich ich damals von Horn aus in Rothenburgsort und Hammerbrook
+umher. Vor 30 Jahren war hier noch grünes Marschland. Jetzt reihen sich
+grauschwarz und schmutzigberußt die langen traurig-öden Straßenzeilen
+mit ihren Mietskasernen, ihren dunklen Höfen und düstern Hinterhäusern
+aneinander. Hier wohnen die Menschen so dicht, daß oft ein einziger
+Straßenblock 4000 Menschen mit etwa 1700 Kindern, genug für eine
+32-(!)klassige Volksschule, beherbergt. Hier wächst eine Jugend auf,
+deren Spielplatz die Straße, deren Hauptbildner das Kino ist, die
+von blauem Himmel, grüner Marsch und singenden Vögeln nur wie von
+Sagen und Märchen hören. Ihre Ahnen waren einst selbständige wackere
+Holsteiner Bauern, Handwerker und Fischer; jetzt zerreibt und zermahlt
+sie die Großstadt zwischen Schloten und Maschinen, zwischen seelenloser
+Fabrikarbeit und brutalsinnlichen Vergnügungen zu einer einförmigen,
+grauen Masse, „Proletariat“ genannt, oft ohne jeden Glauben an
+Innerlichkeit. Denn im Rauch, Getöse und Herdendasein der Großstadt
+stirbt das Persönliche. Und mit ihm stirbt Lebensfreude und -glück.
+Aber im „Volksheim“, da suchte man wieder den Menschen zu wecken.
+Da turnten fröhlich die Knaben, da wurde gutes Theater gespielt;
+naturwissenschaftliches<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> Kränzchen und Billardklub, Rezitation und
+Bücherei, Bastel- und Schnitzabend, Schachspiel und Schlagball blühten
+und gediehen friedlich und fröhlich miteinander. Zeigt nicht ähnliche
+Zustände die Großstadt überall, sei es Berlin oder Hamburg, Neuyork
+oder Chikago? Die Großstadt ist am allermeisten und im bösesten Sinne
+„international“. Überall frißt sie das Land und die Seele der Menschen
+zugleich.</p>
+
+<p>In die innere Stadt zurückgekehrt, umflutete mich wieder das Leben der
+großen Geschäftsstadt, die Warenhäuser mit ihren wimmelnden ein- und
+ausströmenden Menschen, die fliegenden Straßenhändler, die klingelnden
+Straßenbahnen und tutenden Autos, die Laufjungen und Portiers, all
+die vielen kleinen Theater und Spielhallen, die Ewerführer auf dem
+Kohlenkahn die düstern Fleets entlang, die Wirte der Hafendestillen,
+die Fuhrleute und Packer, die Börsenmänner und Geldleute und endlich
+im Alsterpavillon die schlemmenden gelangweilten feinen „Damen“. Welch
+eine gegensätzliche Welt! Welch eine Sachenkultur! Elend und Reichtum,
+Verdorbenheit und Selbstsucht dicht beieinander.</p>
+
+<p>Aus der stickigen Großstadtluft trieb es mich am Nachmittag mächtig
+hinaus nach dem Land. Ich fuhr daher nach dem so reizvollen Blankenese
+an der unteren Elbe, Hamburgs Perle, hinaus. Aus den dunkeln, dumpfigen
+Winkeln und Kellern, Straßen und Hinterhöfen voll pestilenzialischer
+Gerüche und verbrauchter Luft ging es zu Schiff hinaus in die frische
+freie Luft des breiten Stroms und des saftgrünen Landes, dahin, wo
+einem schon Salzluft der Nordsee entgegenweht. Am alten Michel vorbei,
+St. Pauli vorüber, entlang den Reihen der vornehmen Landhäuser der
+Großkaufherren in Kleinflottbeck ... Am Strande des Flusses lagen
+vergnügte und sorglose Menschen in ihren hellen Kleidern im weißen
+Sande; Kinder plantschten im Wasser und ließen ihre kleinen Segelboote
+schaukeln ... In der Sonne gebräunt-leuchtende, badende Jungen,
+schwammen hinter dem Dampfer her und tauchten fröhlich in seinen
+spritzenden Wellen ... und drüben lag behäbig und unentwegt das satte,
+saftige grüne Marschland, und draußen wartete auf uns das blaue Meer.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>Oben vom Süllberg aber und seiner weitblickenden Aussicht konnte man
+sich kaum trennen. Eine Musikkapelle spielte lustige Weisen. Es war
+prächtig, da oben zu sitzen und über den weiten meerarmartigen Strom
+und das weite grüne Land zu schauen. Die Musik war die Auslöserin der
+rechten Abschiedsgefühle. Deutsche Lieder würden wohl sobald nicht mehr
+an mein Ohr klingen ... Langsam spülte die Flut herein. Allerlei flache
+Inseln und Sandbänke im Strome tauchten unter. Mit Sonnenuntergang
+versank für mich auf lange ein letzter Tag auf deutschem Boden&#160;...</p>
+
+<p class="mtop2">Ebenso strahlend brach dann der Augustsonntag an, der mich der
+alten Welt entführen sollte. Auf dem Hamburger Hauptbahnhof war ein
+furchtbares Gewühl von Menschen, wie an schönen Sommertagen auf allen
+deutschen Großstadtbahnhöfen. Tausende von Ausflüglern flohen aus
+der heißen Großstadt in die Lüneburger Heide, in den Sachsenwald,
+ins Holsteinische. Dazwischen wimmelten noch die Ozeanpassagiere zu
+Hunderten. Unser Sonderzug dampfte punkt sieben Uhr zunächst mit den
+Passagieren der zweiten Kajüte aus der Halle, bis zum letzten Platz
+besetzt&#160;...</p>
+
+<p>Im hellen Sonnenschein ging es durch die grüne Marsch der Elbe entlang
+— doch war sie selbst selten sichtbar — über Stade nach Kuxhaven.
+Im Wagen redete alles bereits deutsch und englisch durcheinander. Die
+echten Deutschamerikaner redeten ihr Deutschamerikanisch: „<span class="antiqua">Well,
+think</span>, wir gehn nach vorn“ u.&#8239;ä. Deutsche Kinder antworteten
+ihren deutschredenden Eltern prompt auf englisch. Übrigens war mein
+letztes deutsches Erlebnis gewesen, daß der Gepäckträger mir schnell
+noch vor der Abfahrt zu wenig herausgab! Immer noch besser als jenes
+erste deutsche Erlebnis des Japaners Utschimura, dem auf dem Hamburger
+Hauptbahnhof gleich sein ganzes Portemonnaie nebst wohlgefülltem Inhalt
+gestohlen wurde ...!</p>
+
+<p>Nach zweistündiger flotter <span class="antiqua">D</span>-Zug-Fahrt lenkten wir plötzlich
+wieder der Elbe zu. Die grüne Marsch, die grasenden Rinderherden
+entwichen ... Dort drüben dicht vor uns strahlend gelb und weiß im<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span>
+hellen Sonnenglanz lag unser Schiff, und hinter ihm dehnte sich bis an
+den Horizont tiefblau die Nordsee&#160;...</p>
+
+<p>Schon liefen wir in die Bahnhofshalle von Kuxhaven ein. Ich faßte mein
+Handgepäck. Blaugekleidete Stewards mit goldenen Knöpfen und weißen
+Handschuhen sprangen uns gar artig bis auf den Bahnsteig entgegen
+und nahmen uns das Handgepäck ab. Ich hielt aber in übertriebener
+Vorsicht das meine ziemlich fest in der Hand und schleppte es lieber
+im Schweiße meines Angesichts und meines Reisemantels am warmen
+Hochsommersonntagmorgen selbst bis zum Schiff hinauf. Einige Schritte
+ging es noch durch die langen Zollhallen, dann von der Halle bis
+an die Kaimauer ... zuletzt an einer Reihe Schutzleute vorüber die
+Schiffstreppe hinauf: für die Landratte ein eigenartiger Moment! Weil
+alle es so machten, machte man es auch so. Noch einmal wurde der
+Fahrschein kontrolliert ... oben an der Schiffstreppe standen die
+Schiffsoffiziere in weißen Handschuhen, die Hand grüßend an der Mütze.
+Von der Kommandobrücke sah der Kapitän, eine Menge goldener Streifen
+um den Arm, prüfend herab ... Hinter einem Seile auf dem Vorderdeck
+wie Vieh eingesponnen und zusammengedrängt standen die Zwischendecker,
+darunter Physiognomien wie aus einer Verbrecherkolonie, Russen, Polen,
+Italiener, Griechen, Juden aller Herren Länder ... Sie waren mit dem
+Gepäck schon in Hamburg eingeschifft worden.</p>
+
+<p>Durch merkwürdig schmale Gänge wurde man auf dem Schiffe selbst in
+die Kabine gewiesen. Unser Kabinensteward war ein freundlicher,
+hilfsbereiter junger Mensch. Die Kabine fand ich recht geräumig;
+sie enthielt je vier Betten, zwei übereinander, und einen hübschen
+Waschtisch mit zwei Becken. Man legte schnell ab. Ein Mitpassagier,
+ein wohlbeleibter Schauspieler aus Philadelphia, Deutscher von Geburt,
+wurde zunächst mein Berater. Als dritter Kabinengenosse gesellte sich
+ein stockamerikanischer „Coiffeur“ aus Chikago hinzu, der kein Wort
+Deutsch verstand. Der vierte war, wie sich nachher zeigte, ein alter
+Wiener Jude, der seine Tochter, eine Sängerin, in „Neffiorck“, wie er
+aussprach, besuchen wollte. Um etwaigen üblen Explosionen vorzubeugen,<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span>
+wählte ich ein oberes Bett, das auf einer kleinen Leiter zu ersteigen
+war.</p>
+
+<p>Wir gingen schnell, nachdem wir abgelegt, wieder nach oben, um ja den
+reizvollen Augenblick der Abfahrt nicht zu versäumen. Mehr und mehr
+sammelten sich die Passagiere auf dem Promenadendeck, um sich noch von
+oben mit ihren Angehörigen auf dem Kai, soweit sie bis nach Kuxhaven
+mitgekommen waren, möglichst lange zu unterhalten. Jetzt wurde in
+gewaltigen Netzen unser Gepäck vom Land aufs Schiff balanciert. Dann
+lief der zweite Sonderzug von Hamburg mit den Passagieren der ersten
+Kajüte ein. (Vornehme Leute kommen bekanntlich in der Welt immer
+zuletzt oder sogar, wenn sie besonders vornehm sind, zu spät!) Auch
+diese dreihundert waren, schnell von hilfreichen Stewards geleitet, an
+Bord gebracht. Mittlerweile war es ¾12 Uhr geworden!</p>
+
+<p>Immer strahlender schien die Sonne wie mit Festglanz vom Himmel
+herab. Tiefblau war Himmel und Meer. Nun ertönte ein Kommando; die
+Haltetaue wurden losgewunden. Die Musik setzte ein: „Muß i denn, muß
+i denn zum Städtle hinaus“ ... Langsam drehte das gewaltige Schiff
+ein wenig vom Kai ab. Die am Ufer begannen zu winken, Taschentücher
+flatterten bald hundertfältig oben und unten, herüber und hinüber
+... einige Damen schluchzten auf ... da und dort sah man rotgeweinte
+Augen ... auch ich biß ein wenig die Zähne zusammen, aber das Fehlen
+von Angehörigen machte den Abschied mir nicht so schwer. Auch war
+meine Brust geschwellt von all dem Neuen, was da kommen sollte. Immer
+breiter wurde schon der Wassergraben zwischen Kai und Schiff. Die
+Schraube arbeitete spürbar, der ganze Schiffsrumpf erbebte unter ihren
+Drehungen, die Maschinen stampften, durch den ganzen Schiffskörper ging
+ein leises Zittern ... So löste sich das Schiff langsam vom Lande ...
+Zehn ... zwanzig Meter rückte es vom Ufer ab ... Alles rief, schrie,
+winkte, weinte ...! Dann wurden es fünfzig, hundert Meter! Die Menschen
+wurden immer kleiner ... Kreischend umflogen uns Schwärme von Möwen ...
+Zuletzt waren Kuxhavens Türme klein wie Spielzeug. Die Musik<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> hatte
+aufgehört zu spielen ... Alles strömte in die Speisesäle, um sich vom
+Obersteward einen Tischplatz anweisen zu lassen&#160;...</p>
+
+<p>Ich wählte lieber den „zweiten Tisch“, wie mir der spätaufstehende
+Schauspieler aus Philadelphia riet, und mußte nun zwölf Tage lang
+zweimal täglich anderthalb Stunden zusehen, wie bereits der „erste
+Tisch“ fröhlich speiste. (Bei voller Belegung des Schiffes reichen
+nämlich die Speisesäle nicht zugleich für sämtliche Passagiere.) Das
+war bei dem besonderen Appetit auf See und der Langeweile, die am
+schönsten von den Mahlzeiten unterbrochen wird, jedesmal eine Leistung.
+Auch sonst war mein wohlbeleibter Berater wie ein böser Dämon neben
+mir, der für die Rührung der Abschiedsszenen nur Spott hatte und auch
+schon am ersten Tage mir von Amerika und den Amerikanern fortgesetzt
+nur Ungünstiges zu erzählen wußte: „Dollarjagd und Bigotterie sei
+drüben alles. Der Freiheitsstatue hätte man lieber eine Dollarnote
+statt einer Fackel in die Hand geben sollen u.&#8239;ä.“, während ich in
+vollstem Jugendidealismus wie ein kleiner Kolumbus mir eine neue ideale
+Welt erobern wollte&#160;...</p>
+
+<p>Als man endlich aus den Speisesälen und Schiffsgängen wieder hinaufkam
+— schon prägte man sich etwas die Topographie des Ganzen ein — da
+schwammen wir bereits mitten auf der weiten, klaren, blauen Nordsee.
+Von Land war nirgends mehr eine Spur. Aber eine breitaufgewühlte Furche
+zog das Schiff wie eine Wasserlandstraße hinter sich her, die den
+zurückgelegten Weg deutlich und lange anzeigte ... Immer noch folgten
+uns kreischende Möwenschwärme tauchend und elegant die zugeworfenen
+Brocken auffangend&#160;...</p>
+
+<p>Das Essen mit seinen vielen und reichlichen Gängen mundete stets
+vorzüglich. Die frische Seeluft tat das ihrige dazu. Vom Schwanken des
+Schiffs war keine Spur zu merken, obwohl am Nachmittag eine frische
+Brise eingesetzt hatte und der Wellengang stärker wurde. Gemütlich
+lag man auf Deck auf seinem gemieteten Deckstuhl wie auf der Veranda
+eines aussichtsreichen komfortablen Hotels und sah auf die nie
+ermüdende unendliche Wasserfläche hinaus und fühlte sich glücklich als
+Weltpassagier&#160;...</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Auf_dem_Atlantischen_Ozean">Auf dem Atlantischen Ozean.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Es begann das regelmäßige Leben an Bord.</p>
+
+<p>Am Mittag war das Meer tiefblau, am Abend nach Sonnenuntergang
+aber wurde es tiefgrün. Der aufkommende Wind rüttelte an Tauen und
+Segeltüchern. Purpurrot war die Sonne im Westen versunken&#160;...</p>
+
+<p>Silberne Streifen warf bald der Mond über das Wasser. Rings ein
+chaotisches Wasserrund. Welche Fluten erfüllen doch die Erde! Von fern
+her blitzten die Leuchtfeuer von den deutschen Inseln&#160;...</p>
+
+<p>Wir waren jetzt etwa auf der Höhe von Borkum. Helgoland war zu weit ab
+und nicht sichtbar. Das Schiff ging noch immer sicher und ruhig, obwohl
+ringsum schon weiße Kämme aufspritzten. Viele, die bereits mehrmals
+herüber und hinüber gefahren waren, rühmten unsern „alten Kasten“ sehr,
+er fahre zwar nicht so rasch wie die großen Schnelldampfer, aber dafür
+ruhiger und sicherer, zumal wenn er wie diesmal voll und schwer geladen
+sei&#160;...</p>
+
+<p>Es trompetete zum Abendessen. Nach der salzigen Seeluft schmeckte
+das Essen jedesmal vorzüglich. Die Stewardbordkapelle spielte dazu
+flotte Weisen im Speisesaal. Die Stewards erwiesen sich überhaupt
+als recht vielseitige Burschen. Erst traten sie als galante Pagen
+und Kofferträger auf, dann waren sie Zimmermädel in Hosen und
+servierende Kellner, für jeden Wunsch und jede Laune dienstfertig
+bereit, und zuletzt talentvolle Musikanten. Alle Achtung vor solcher
+Vielseitigkeit! Aber welche Versuchung zur Unzufriedenheit für sie,
+während ihrer Arbeit um sich ständig nur nichtstuende, schmausende,
+scherzende, geldverzehrende und vergnügungssüchtige Menschen zu sehen!
+Denn daß wir Passagiere vor und nach unsrer Seefahrt auch etwas
+Rechtschaffenes arbeiteten, das sahen sie ja nicht, und vielleicht
+glaubten sie es auch nicht. In ihren Augen waren wir alle „reiche“ und
+nichtstuende Leute.</p>
+
+<p>Als man vom Abendkonzert vor Schlafengehen noch einmal auf Deck kam,
+rauschte rings um uns ein tiefschwarzes Meer. Man hatte<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> in den
+erleuchteten Gängen und Sälen fast vergessen, daß man auf dem weiten
+Meere schwamm&#160;...</p>
+
+<p>Es kam die erste Nacht. Ich konnte mich gar nicht genug wundern, wie
+seelenruhig man sich in sein Bett legte. Freilich sah man einmal der
+Ordnung wegen nach, wo die Rettungsgurten lagen. Ganz Ängstliche
+haben sie wohl auch einmal heimlich, wenn sonst niemand in der Kabine
+war, „für alle Fälle“ anprobiert. Der schreckliche Untergang der
+„Titanik“ oder die Torpedierung der „Lusitania“ mit ihren etwa 1500
+im Wasser versinkenden Menschen hat uns Bilder genug des Schreckens
+vor Augen gemalt! Ich wußte mich auch aus meiner Kindheit eines
+schweren Zusammenstoßes eines Bremer Lloyddampfers mit einem englischen
+Kohlendampfer im Nebel des Kanals sehr wohl zu entsinnen. Der Engländer
+hatte von der Seite kommend und mit Kurs nach Frankreich den im Kanal
+längsfahrenden Lloyddampfer mitten entzweigeschnitten. Eine einzige
+Dame, eine Bremerin, dazu noch eine gute Bekannte unsrer Familie, war
+damals gerettet worden.</p>
+
+<p>Rechtzeitig pflegte ich immer mein Oberbett zu erklimmen, denn das
+lange Spielen, Trinken und Rauchen der Herren liebte ich gar nicht.
+Mit mir ging gewöhnlich der kleine ältliche Wiener schlafen, der
+ja seine Tochter besuchen wollte und der nachher noch sehr unter
+der Seekrankheit litt. Er pflegte sich aus Vorsicht gar nicht ganz
+auszukleiden. Gut, daß er unten und ich oben schlief, denn die See
+hatte es ihm bald angetan! Der Chikagoer, der kein Deutsch verstand,
+sondern nur „<span class="antiqua">good morning</span>“ und „<span class="antiqua">good night</span>“ sagte,
+kam gewöhnlich erst ein oder zwei Stunden später herein, und zu
+allerletzt und oft wohlgeladen wie unser getreues Schiff, aber doch
+nicht so ruhigen Kurses wie es, kam der deutsche Philadelphier, der
+glücklicherweise nicht nach oben zu klimmen hatte. Er hatte seine
+Wahl recht getroffen. Mit einem mächtigen Plumps fiel er auf seine
+Lagerstatt. So schlief man nicht eher ein, bis alle Mann an Bord der
+Kabine waren. Zudem leuchtete über der offenen Türluke der helle Schein
+der Ganglampen herein, so daß es in der Kabine nie recht finster
+wurde. Außerdem lag neben unsrer Kabine, die freilich mittschiffs
+nicht weit vom Maschinenraum<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> am wenigsten die Bewegungen des Schiffs
+verspüren ließ, einer der Schlafräume der Stewards, die abends nach
+ihrem Dienst und früh vor ihrem Aufstehen einen Heidenlärm machten. Da
+wurde gelacht, getanzt, gescherzt, Mundharmonika gespielt und fröhlich
+gesungen. Ich gönnte ihnen ihre Lustigkeit und Munterkeit von Herzen
+und wollte mich auch nicht griesgrämig beschweren; nur beförderte ihr
+Treiben gerade den ersehnten Schlaf nicht. So lag ich oft noch manche
+Stunde wach und sah gleichsam zum Lohn dadurch auf einmal, wie — ich
+traute meinen Augen nicht — gemächlich vom Gang herein oben durch die
+breite Türluke eine große, feiste Ratte in unsre Kabine hereinspaziert
+kam, an den Holzleisten der Wandverschalung gemächlich entlanglief
+und dann auf demselben Wege wieder verschwand. Nach andern Nächten
+fand ich sogar ihre Grüße und Spuren auf meiner weißen Bettdecke,
+die ihr vielleicht bei leerer Kabine als Ruheplatz diente. Sie hatte
+also, nach den Spuren zu schließen, während wir von den Wellen gewiegt
+selig schliefen, uns sehr nahe Besuche abgestattet. Nach dieser
+Entdeckung hielt ich es für ratsam, abends beim Emporklimmen in die
+„<span class="antiqua">upper berth</span>“ wenigstens einen Pantoffel mitzunehmen und ihn als
+schußbereite Waffe in der Hand haltend einzuschlummern und hatte so
+das sichere Gefühl, gegen etwaige noch nähere Besuche der nächtlichen
+Freundin notdürftig gewappnet zu sein. Als ich meine Entdeckung
+erstaunt am andern Morgen dem Kammersteward mitteilte, meinte er
+lakonisch: „Ratten gibt’s auf jedem Schiff.“ Und erfahrene Seereisende
+trösteten mich mit der Weisheit: „Nur ein sinkendes Schiff verlassen
+die Ratten.“ Zum runden Kammerfenster aber wehte die ganze Nacht
+erfrischend luftiger Nordwest herein, so daß man immer Seeluft genoß.
+Mußten freilich die Luken wegen hohen Wellengangs einmal geschlossen
+werden, dann entwickelte sich bald eine recht dumpfe Atmosphäre,
+untermischt mit allerlei Küchen- und andern Dünsten.</p>
+
+<p>Früh halb sechs verließ ich meist als erster schon unsre Kabine, oft
+drei bis vier Stunden vor dem gutgeladenen Philadelphier. Kam man
+aufs Deck hinauf, so war da oben gewöhnlich noch groß Reinemachen.<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span>
+Das Schiff schwamm nicht bloß von unten her, sondern auch in Strömen
+von oben. Matrosen barfuß, in hochgekrempelten Hosen, spritzten und
+gossen mit Eimern und Schläuchen, wuschen und scheuerten, daß es nur
+so eine Art hatte ... Sie sahen es auch gar nicht gern, wenn man gar
+zu früh schon ihre Arbeit inspizierte. Aber gerade die Morgenstunden
+waren besonders schön auf Deck. Die Sonne und das Meer glänzten noch
+heller und frischer als sonst. Frei und unbehindert durch die vielen
+Mitreisenden konnte man sich überall ergehen vom Hinterdeck an, wo
+gelotet wurde, wieviel Faden wir liefen, bis zum Bug, wo man wie auf
+scharfkantiger Bastion das hochaufspritzende Wasser durchschnitt, das
+unwillig dem hochbordigen Schiff sich entgegenwarf.</p>
+
+<p>Wir fuhren jetzt in Höhe von Holland. Der Wellengang hatte zugenommen.
+Das Schiff stieg hinten und vorn recht erheblich auf und nieder. Schon
+fehlten einige der Bekannten am Frühstückstisch; andere schlichen mit
+ängstlichen und bleichen Gesichtern umher, drückten sich möglichst in
+der Nähe der Schornsteine auf ihrem Deckstuhl in die Ecke oder eilten
+ein ums andre Mal verstohlen an die Reeling, um Poseidon zu opfern
+... Wir andern machten tapfer unsre Runde, zwanzig Deckrunden, um —
+wie ein munteres Fräulein neben mir spottete — „uns die Seekrankheit
+auszulaufen“.</p>
+
+<p>In der Tat läßt sich, glaube ich, mit ein bißchen festem Willen viel
+gegen die Seekrankheit machen. Viele werden zweifellos bloß aus Angst
+oder vom Sehen seekrank. Es ist wohl auch ein Stück Anlage, ob man ihr
+leicht erliegt oder nicht. Es soll ja sogar alte Kapitäne geben, die
+sie bei jeder halbwegs unruhigen Fahrt immer wieder packt. Gar spaßig
+waren die weisen Unterhaltungen und mancherlei Ratschläge darüber
+zu hören. So rieten die einen: „Immer tüchtig essen, aber ja nichts
+trinken!“ Die andern mit scheinbar einfacher Logik: „Den Magen ganz
+leer lassen, dann hat er kein Material zum ...!“ Wieder andere mit
+medizinischer Kennermiene: „Nur einen Kognak trinken, aber sonst nichts
+genießen!“ Die vierten meinten besonders ängstlichen Damen gegenüber:
+„Ruhig hinlegen und die Augen fest schließen und an etwas Schönes
+denken, das hilft!“ Wieder andere: „Hinlegen,<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> aber die Augen gen
+<em class="gesperrt">Himmel</em> richten und nur nicht aufs Wasser sehen!“ Auch ein Rat
+aus der Praxis! Die sechsten aber mahnten zum Gegenteil: „Immer tüchtig
+herumlaufen, viel lachen und spielen!“ Die siebenten ergänzten gar
+dazu: „Nur nicht hinuntergehen in die dumpfe Kabinenluft, da kriegt man
+es gleich!“ Und noch andere: „Recht lange im Bett liegen bleiben, da
+spürt man das Stampfen und Rollen nicht so sehr!“ Endlich die letzten
+orakelten: „Man muß einfach weder davon reden noch daran denken“ — und
+doch sprachen bald alle davon, von dem einen Thema, die einen offen,
+die andern verstohlen. Und wer nicht davon sprach, der dachte daran.</p>
+
+<p>Jeder versah sich auf seine Weise „für alle Fälle“ mit einem guten
+Rat. So spotteten die einen und lachten, die andern verkrochen und
+fürchteten sich. Ich selbst philosophierte über die Möglichkeit einer
+seekranklosen Lage und fand sie in einer kardanisch, d.&#8239;h. von oben
+zentral wie eine Hängelampe aufgehängten Hängematte, die sofort vermöge
+des Gewichts des darin liegenden Menschen alle Schwankungen des Schiffs
+korrigierte und darum stets in der richtigen, zum Erdmittelpunkt
+zentripetalen Lage bleibt! Leider bin ich nur bis heute noch nicht zur
+Patentierung meiner Erfindung gekommen ... Möchte auch jeden Leser vor
+ihrer vorzeitigen Ausbeutung warnen!</p>
+
+<p>Gegen 11 Uhr fuhren wir auf der Höhe von Dover. Deutlich zeichneten
+sich rechter Hand die weißen Kreidefelsen der englischen Küste ab.
+Wer noch ungebrochener Gesundheit war, schrieb eifrig im Speisesaal,
+Rauchsalon oder Spielzimmer Briefe und Karten an die Lieben daheim,
+denn in Boulogne-sur-mer wurde von einem französischen Tender Post
+abgenommen. Ich konnte noch immer unter anderem stolz berichten: „Nicht
+seekrank!“ Und ich habe mit festem Willen und einer ungeänderten
+Lebensweise bis zuletzt auch gut „durchgehalten.“</p>
+
+<p>So näherten wir uns langsam von Albions stolzer Küste hinüber dem Land
+der uns so sehr liebenden Franzosen. Bald erkannte man durchs Glas
+Wiesen und weidende Rinderherden ...! Eine eigentümliche Sehnsucht nach
+Land entstand in mir. Die reichlich vierundzwanzig<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> Stunden, die wir
+jetzt unterwegs waren, dünkten mich wegen der vielen neuen Eindrücke
+ebensoviel Tage zu sein.</p>
+
+<p>Um Mittag hielten wir weit draußen auf der Reede von Boulogne. Unsre
+Sirenen heulten mehrmals laut hinüber, daß wir da wären. Still stand
+der weithin sichtbare Leuchtturm auf seiner stolzen Höhe, aber der
+Tender mit den Parisern ließ noch eine ganze Weile auf sich warten.
+Fast zwei Stunden zu früh waren wir angekommen. So rasch war unser
+alter Kasten gefahren! Während wir still lagen, ließ sich drüben
+der französische Strand mit seinen großen Hotels, seinen vielen
+Strandkarren und die Kuppel der katholischen Kathedrale gut durchs
+Glas erkennen. Endlich kam auch tüchtig auf und nieder tanzend der
+französische Tender herübergedampft.</p>
+
+<p>Es war ein kleines Kunststück, die Passagiere heil zu übernehmen. „Halb
+zog sie ihn, halb sank er hin.“ Nach dieser Weise kamen sie alle zu
+uns herauf. Die Matrosen hatten dabei allerlei Arbeit. Zuletzt wurden
+wiederum die Koffer im Krannetz hoch über dem freien Wasser schaukelnd
+herüberbalanciert. Dann flogen unsre Postsäcke hinüber — und der
+Franzose drehte wieder um&#160;...</p>
+
+<p>Es war 4 Uhr nachmittags geworden, als wir uns wieder der englischen
+Küste näherten. Abends winkten uns die langen Lichterreihen von
+Southampton, der paradiesischen Insel Wight und dem Kriegshafen
+Plymouth, der so groß ist, daß er die ganze englische Kriegsflotte
+in sich aufnehmen kann. Wie „fliegende Holländer“ glitten im Dunkel
+bald näher, bald ferner kleinere Küstendampfer mit grünen und roten
+Signallichtern an uns vorüber. Am Himmel aber standen ruhig und
+feierlich die blitzenden Sterne&#160;...</p>
+
+<p>Mit Anbruch des nächsten Tages passierten wir den letzten Punkt
+Europas, die felsigen Szillyinseln. Der Leuchtturm Eddystone, an dem
+hoch die schäumende Gischt emporbrandete, entbot den allerletzten
+Scheidegruß Europas. Nun würden wir kein Land mehr sehen bis zur Küste
+der Neuen Welt. Wir fuhren jetzt erst in den offenen Atlantik hinein.</p>
+
+<p>Länger und höher wurden die Wellenzüge. Bis zur halben Schiffslänge<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span>
+tauchte unser Schiff in die Wellentäler, um dann gehorsam vom nächsten
+Wellenberg wieder aufzusteigen. Ein ewiger, erhabener Rhythmus. Wir
+hatten unsre Deckstühle ziemlich weit hinten und sausten dabei manchmal
+recht tüchtig und plötzlich mit ihnen in die Tiefe. Das Rundengehen
+war aufgegeben, denn man mußte zu oft einhalten und sich festklammern.
+Man lag lieber und las, so gut es ging. Das muntere spottende Fräulein
+lag dicht neben mir. Nicht lange — so entpuppte sie sich als Kusine
+einer meiner liebsten Studienfreunde, als eine muntere Badenserin
+aus dem schönen Freiburg im Breisgau. In Neuyork wollte sie ihren
+unverheirateten Onkel aufsuchen, ihm den Haushalt führen und, wenn
+möglich, sich drüben gut verheiraten. Gewiß hat sie es inzwischen auch
+getan.</p>
+
+<p>Wir haben auf der ganzen Reise zusammen viel Spaß gehabt. Sie gab mir
+ihre Bücher zum Lesen und ich ihr die meinigen. Dann tauschten wir
+unsre Urteile ungehemmt aus. Vielleicht hat unser gegenseitiges helles
+Lachen und Fröhlichsein auch als Medizin gegen die <span class="antiqua">seasickness</span>
+gewirkt, der immer mehr Passagiere erlagen. Immer leerer wurden die
+Decks und Speisesäle, immer lauter das Seufzen der Seekranken. Auch uns
+hob es manchmal so ganz eigentümlich von unten herauf ... Ich las jetzt
+mit viel Interesse aus der Schiffsbibliothek die trefflichen Werke von
+Professor Hötzsch, Lamprecht und Münsterberg über „Amerika und die
+Amerikaner“ und wurde so auf meine Studienfahrt durch die Union aufs
+beste und zugleich geistvollste vorbereitet.</p>
+
+<p>Mehr und mehr Schiffsreisende hatte man kennengelernt. Alle Schichten
+waren dabei vertreten: Farmer, Schauspieler, Sänger, Zirkusleute,
+Familien mit Kind und Kegel, die schon lange drüben waren und nur
+vom Verwandtenbesuchen heimkehrten, und einzelne, die zum erstenmal
+hinüberwollten, wie meine Partnerin, Deutsche und Stockamerikaner
+bunt durcheinander. Ebenso sprachlich gemischt war am Tisch meist die
+Unterhaltung, aber das Deutsche herrschte doch noch entschieden vor.</p>
+
+<p>Jeden Tag war das Meer anders. Bald bewegt, bald glatt wie ein<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span>
+Spiegel, aus dem lustig Delphine in hohem Bogen emporsprangen. Manche
+wünschten sich prahlerisch „mal so einen richtigen Sturm“ zu erleben!
+Aber es kam keiner. Dazu war es noch zu sommerlich in der Jahreszeit.</p>
+
+<p>Eines Morgens ½7 überholte uns eins der schönsten deutschen Schiffe,
+die „Kronprinzessin Cecilie“. Rauschend wie eine Königin fuhr sie an
+uns vorüber, eine mächtige Schleppe quirlender Wasser hinter sich
+lassend. War das ein Grüßen, Winken, Rufen und Jubeln hinüber und
+herüber! Aber so schnell wie sie gekommen, war sie auch wieder vor
+uns verschwunden. Mehr als doppelt so groß wie wir war sie und auch
+fast doppelt so schnell fuhr sie. Später rückte von rückwärts her
+die „Adriatic“ von der White-Star-Linie an unsre Seite, um geraume
+Zeit vor uns in Neuyork einzutreffen. Aber uns kümmerte das nicht. Im
+Gegenteil, je länger auf dem Meer, desto schöner. Ich hatte ja nichts
+zu versäumen. Allerlei Spiele — solange man nicht aß, lief, las,
+lag oder saß — vertrieben schnell die Zeit. Auf Deck spielten sie
+„<span class="antiqua">shuffle-board</span>“, eine Art Deckkegelspiel, Ringwerfen, richtigen
+Nachlauf und „Kriegen“. Eine Gruppe handfester norddeutscher Burschen
+übte sogar „Schinkenkloppen“ zur größten Heiterkeit aller eifrig
+Spalier bildenden deutschen und amerikanischen Dämchen. Je tüchtiger es
+auf den gestrammten Hosen klappte und je seltener einer den Missetäter
+herausfand, desto lauter wurde das Vergnügen. Im Rauchzimmer saßen die
+ganz unentwegten Skatdrescher, von denen einer kurz vor der Ankunft in
+Neuyork mit den bezeichnenden Worten aufs Deck trat: „Jetzt muß ich mir
+schnell noch einmal das Meer ansehen.“ Tabaksqualm und ein Schoppen
+frisch Angestecktes ging doch über alles&#160;...</p>
+
+<p>Zweimal war auch abends Bordfest. Die Decks waren mit Segeltüchern
+geschützt und alles mit Glühbirnen, Wimpeln und Flaggen umzogen. Und
+zu den fröhlichen Weisen der Bordkapelle drehten sich bis Mitternacht
+tanzlustig die Paare&#160;...</p>
+
+<p>Keinen Tag fehlte auch die Bordzeitung, die täglich neu in der
+Borddruckerei mit den neuesten drahtlosen Depeschen aus aller Welt<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span>
+gedruckt wurde. Die Bordzeitung brachte auch Bilder und einen
+fortlaufenden Roman! Großes Interesse erregte auch jedesmal die
+Bekanntgabe der täglich zurückgelegten Meilenzahl, die gewöhnlich nach
+dem Mittagessen erfolgte: Meist liefen wir pro Tag zwischen 320 und
+340 Seemeilen, legten also etwa eine Entfernung wie von Dresden nach
+Hamburg täglich zurück, die freilich der Schnellzug in einem Drittel
+der Zeit meisterte. In künftigen Zeiten wird man mit dem Zeppelin etwa
+vier- bis fünfmal so schnell nach Amerika fliegen, als unser alter
+Kasten lief. Aber Kolumbus hätte schon unsre 11 Tage Überfahrt als
+unerhörten Rekord empfunden. Es ist ja alles in der Welt nur relativ!</p>
+
+<p>Ehe die Bouillon zum zweiten Frühstück auf Deck gereicht wurde,
+pflegten der Kapitän, der Erste Offizier und der Schiffsarzt ihre Runde
+zu machen und mit jedem Passagier ein kurzes freundliches Wort zu
+wechseln&#160;...</p>
+
+<p>Sonst passierte nichts von Bedeutung. Nur einem Unglücksraben unter
+den Mitreisenden wurde seine gesamte Barschaft von elfhundert Mark
+gestohlen. Tags zuvor hatte er erzählt, daß er davon drüben eine kleine
+Farm kaufen wolle. Wie sollte man den Dieb ausfindig machen? Was wurde
+nun aus dem Armen und seinen Plänen?</p>
+
+<p>Regelmäßig verlief unser Leben. Aus Abend und Morgen wurde stets ein
+andrer Tag geboren. Die Tage hatten ihre Stunden, unter denen die
+Mahlzeiten immer die wichtigsten und frohbegrüßten festen Punkte waren.
+Mit Essen, Schlafen, Spielen, Lesen und Unterhalten ging die Zeit hin.
+Aber das Meer selbst wurde man nie müde:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Der Sturm singt mir das Schlummerlied,</div>
+ <div class="verse indent0">Die Woge wiegt mich ein;</div>
+ <div class="verse indent0">Das Schiff sanft seine Bahnen zieht</div>
+ <div class="verse indent0">Im Ozean allein.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wie braust der Wind in Mast und Tau,</div>
+ <div class="verse indent0">Wie rauscht es in den Wänden!</div>
+ <div class="verse indent0">Und droben ruht des Himmels Blau</div>
+ <div class="verse indent0">In friedlichen Geländen.</div><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Weiß spritzt die Gischt und quirlt und schäumt,</div>
+ <div class="verse indent0">Ein rollend wallend Brüllen; —</div>
+ <div class="verse indent0">Das Aug’ in Weltenferne träumt,</div>
+ <div class="verse indent0">Wo Nebel Zukunft hüllen ...</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Der Ozean mit seiner unergründlichen Weite und unbezwinglichen Majestät
+regte immer zu neuen und großen Gedanken an. Aber dazu mußte man auf
+ihm auch Stunden allein verbringen können, nicht wie die Skatdrescher
+und Schinkenklopper. Gegen Abend, wenn die Sonne in die Goldbronze des
+Meers tauchte, dann wurde es mir immer besonders feierlich zumute.
+Noch glühte der Abendhimmel wie von einem Weltbrand erleuchtet. Auf
+den Wellen spielte Silber und Gold, eine märchenhafte Pracht. Jede
+Woge war wie ein heranrollendes Gebirge, jeder Wellenberg wie eine
+Farbensymphonie. Aus dem langsam blauschwarz verdunkelnden Himmel aber
+blitzten die ersten Sterne auf. Rötlich stieg langsam der Mars empor
+und warf eine matte Lichtstraße über das Wasser. Zuletzt leuchtete das
+Siebengestirn des großen Wagens in voller Majestät. Welche Abendpracht
+über der Wasserwüste!</p>
+
+<p>Eine wahrhaft grandiose Einsamkeit sprach zu einem, wie man sie ähnlich
+nur auf den Schneehäuptern des Hochgebirges erleben kann. Wie dort
+hoch oben über den letzten Hütten der Menschen und weit fort von den
+tiefeingeschnittenen, in Schatten getauchten Tälern, so war man hier
+Tage entfernt von der Alten und Tage von der Neuen Welt.</p>
+
+<p>Wasser, Wasser, so weit man sah, Wasser und Himmel — und die ewigen
+Sterne! Noch heute rast hier das Chaos, noch heute blitzt hier Jupiter
+und zürnt Poseidon. Und Kastor und Pollux geleiten freundlich den
+Schiffer, der ihnen vertraut.</p>
+
+<p>Graus und Schrecken war das Meer einst, Dienst und Treue ist es heute.
+Aber drunten liegen die bleichenden Gebeine vieler mutiger Helden und
+die Masten ihrer geborstenen Schiffe. Wer war es, der den <em class="gesperrt">ersten</em>
+Baumstamm höhlte und <em class="gesperrt">zuerst</em> sich aufs Meer wagte? Welcher
+Held schnitzte das erste Ruder und spannte das erste Segel<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> auf? Wer
+strandete in all den Jahrtausenden auf der Sandbank und zerschellte am
+Riff, wo heute Feuerschiffe und Leuchttürme warnen?</p>
+
+<p>Sie alle lebten, sannen, kämpften, wagten und unterlagen für uns heute,
+damit wir heute in schwimmenden Palästen sicher durch alle Ozeane
+gleiten. Wo am wildumhertreibenden Mast sich einst der Schiffbrüchige
+angstvoll klammerte, sind wir heute bei Spiel und Tanz festlich in
+hellerleuchteten Sälen versammelt. Salons erstrahlen in Lichterfülle,
+ausgesuchteste Mahlzeiten sind bereitet&#160;...</p>
+
+<p>Aber in welch unmeßbaren Zeitläuften wurde solche „Kultur“ errungen!
+Welche Zeitperioden schritten auch über das Meer! In welchen gewaltigen
+Zeitstufen wurde die Gegenwart der Schiffahrt errungen: Das Kanoe, die
+Galeere, der Schoner, der Schraubendampfer! Wie lang dauerte jedesmal
+ihre Herrschaft! Fischfang, Seeraub, Kolonialzeit, Weltverkehr lösten
+einander ab. Jahrhunderte tauschten über den Ozean ihre Güter von den
+Glasperlen der Neger und den Pelzen der Eskimos bis zu unsern Maschinen
+und Büchern. Aber wie schnell vergessen wir, was wir vergangenen
+Geschlechtern verdankten!</p>
+
+<p>Und wie schließen wir auch auf dem uns bedräuenden Meer uns in Kasten
+voneinander ab! Droben in den glänzenden Salons Ball und Konzert bei
+strahlenden Toiletten und einem Meer von Licht, blitzende Edelsteine
+und rauschende Seide. Drunten im Zwischendeck abgearbeitete Männer
+in zerschlissenem Rock und abgezehrte Mütter, die kaum mit dem
+Lebensnotwendigsten versehen mühselig eine neue Heimat suchen. Und
+doch werden die da drunten Wälder roden, Kohlen schaufeln und Farmen
+gründen, Erze fördern, ohne die da droben nicht handeln, spekulieren,
+verdienen und leben können. Den Kaffee und Reis auf unserm Tisch werden
+<em class="gesperrt">sie</em> pflanzen, den Mastbaum haben <em class="gesperrt">ihre</em> Väter gefällt,
+unser Fleisch stammt aus <em class="gesperrt">ihren</em> Herden und von ihrer Schafe Wolle
+unsre Kleider. Und was bieten wir ihnen? Auch eine Meerfahrt kann uns
+zu sozialem Denken erziehen!</p>
+
+<p>Sicher und unentwegt zog derweilen unser gutes Schiff seine Bahn. Das
+Abendlicht verglomm. Schwarze Nacht war es geworden. Venus strahlte
+hell voran. Westwärts ging unser Kurs. Westwärts geht überhaupt<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span>
+der Kurs der Menschheit, von Indien nach Babylon, von Babylon nach
+Griechenland und Rom, von Rom nach Deutschland, Holland und England.
+Von England nach Amerika ... Und von da wieder zum fernen Osten zurück.
+Dann ist der Kreis der Erde ausgemessen.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Abendlich purpurnes Heer,</div>
+ <div class="verse indent0">Goldbronzenes Weltenmeer, —</div>
+ <div class="verse indent0">Dort, wo die Wolke steht,</div>
+ <div class="verse indent0">Dort, wo der Wind herweht,</div>
+ <div class="verse indent4">Dorthin mein Weg!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">So zogen Völker aus,</div>
+ <div class="verse indent0">Hinweg von Hof und Haus</div>
+ <div class="verse indent0">Kühn auf dem schwanken Schiff,</div>
+ <div class="verse indent0">Scheuten nicht Sand noch Riff,</div>
+ <div class="verse indent4">Noch Sturmesnot.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Leuchte, mein Abendstern,</div>
+ <div class="verse indent0">Westwärts, dir folg’ ich gern, —</div>
+ <div class="verse indent0">Stampfe voran, mein Bug,</div>
+ <div class="verse indent0">Voran der Möwen Flug!</div>
+ <div class="verse indent4">Schau rechter Hand: Land!</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Die Kunde verbreitete sich geschwind: „Morgen, Donnerstag, den 9.
+September, einen Tag früher als erwartet, kommen wir an.“ Alles geriet
+in Unruhe. Die schönen genußreichen Tage, da man sich so recht und
+behaglich hatte „ausfaulenzen“ können, gingen zu Ende. Die Fähnchen auf
+der ausgehängten Seekarte waren dem amerikanischen Festland bedrohlich
+nahegerückt.</p>
+
+<p>Es war auch immer wärmer geworden, je mehr wir uns „drüben“ näherten.
+Der Reisemantel war längst abgelegt. Der wohlbeleibte Philadelphier
+hatte wenigstens mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen recht
+behalten: Entweder Sturm im Kanal oder Nebel bei den Neufundlandinseln.
+Richtig, es kam noch anderthalb Tage lang ganz dicker Nebel, daß man
+auf dem Schiff von hinten nicht bis nach vorne sah. Höchst unheimlich!
+Das Schiff wurde wegen etwaiger Zusammenstöße auf halbe Fahrt
+gesetzt. In regelmäßigen Abständen heulte unaufhörlich das Nebelhorn
+und lauschte auf Antwort. Aber<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> es kam keine. Auch nachts — noch
+schauriger — ertönte dasselbe Tuten; noch im Traum vernahm man es,
+bis der Nebel wich und im Sonnenglanz bald wieder eine spiegelglatte
+See vor uns lag. Drüben rechts sah man schon die ersten amerikanischen
+Feuerschiffe&#160;...</p>
+
+<p>Am letzten Morgen, an dem wir noch in der Frühe landen sollten, war
+alles unerwartet zeitig auf den Beinen, und zwar die meisten in sehr
+verändertem Habit. Die Reisemützen der Herren waren verschwunden —
+meine schwamm ja sowieso in der Nordsee oder im Golfstrom — weiche
+oder steife Filzhüte für die Weiterreise zu Lande waren an ihre Stelle
+getreten. Die Schiffsanzüge waren von Straßenkostümen verdrängt, und
+manchen der Reisegenossen kannte man zuerst in dem ungewohnten Gewand
+kaum wieder.</p>
+
+<p>Währenddem glitten wir in der Morgendämmerung schon an der
+hellbeleuchteten Küstenlinie von Long Island entlang — wir waren also
+dicht vor dem Ziel! Amerika! Seltsames Gefühl!</p>
+
+<p>Das Lotsenboot nahte und brachte den Lotsen an Bord, der nun das Schiff
+durch die „Narrows“<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a> und die Neuyork-Bai in den Hudson steuern
+sollte. Links blitzten die Leuchtfeuer von Sandy Hook übers Wasser. Bis
+hierher gerechnet sind es von Southampton 3100 Seemeilen, von Hamburg
+3500.</p>
+
+<p>Der Morgen graute. Der Morgennebel nahm zu, aber doch so, daß man
+etliche Schiffslängen bequem voraus sehen konnte. Aber leider verhüllte
+er uns doch den bezaubernden Gesamteindruck der Hafeneinfahrt von
+Neuyork.</p>
+
+<p>Wir fuhren jetzt sehr langsam. Bald glitten wir sacht vorwärts, bald
+stoppten wir ganz. Rechts zeichneten sich die Umrisse des weltberühmten
+Vergnügungsortes bei Neuyork, Coney Island, ab, links näherten wir
+uns dem reizend frisch grünen mit Landhäusern und Villen der Reichen
+übersäeten Staten Island, auf das die <span class="antiqua">ferry boats</span>,<a id="FNAnker_2" href="#Fussnote_2" class="fnanchor">[2]</a> die
+heulend wie ungetüme Wassertanks aus dem Nebel tauchten, die Neuyorker
+in 20 Minuten bringen&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
+
+<p>Der Nebel wich etwas. Die Sonne machte Anstrengungen, aus dem Dunst
+emporzutauchen. Das letzte Frühstück wurde gereicht ... Wir lagen jetzt
+vor Staten Island und erwarteten „den Doktor“ auf dem Quarantäneboot,
+den allmächtigen Mann, der bei 12500 Dollar Jahresgehalt entscheidet,
+wer in das gelobte Land Amerika hereindarf und wer postwendend auf
+Kosten der Schiffahrtsgesellschaft, die ihn herüberbrachte, wieder
+heimgeschickt wird! Vor uns lag die „Adriatik“, die uns kürzlich
+überholt hatte und wurde gerade „bedoktert“, dann legte sich uns ein
+Regierungsdampfer längsseit.</p>
+
+<p>Alles hatte sich an Deck gedrängt. Die Koffer waren zu Bergen
+geschichtet. Die ganze Nacht hatte es gerollt, gedröhnt und gerasselt,
+bis alles Gepäck oben war&#160;...</p>
+
+<p>Wir fuhren wieder ein Stück. Der Nebel nahm wieder zu. Wir glitten
+jetzt nach Passieren der „Narrows“, die mit ihren schweren
+Befestigungen leicht den Eingang nach Neuyork sperren können, in
+die innere Bucht, die sog. „Upper-Bay“, hinein. Links erschienen
+die Umrisse eines riesigen Kolosses auf einer kleinen Insel. Es war
+die berühmte „Freiheitsstatue“, die mit ihrer Fackel in der Hand
+die Welt mit der „Freiheit“ erleuchtet, ein Geschenk Frankreichs
+an die älteste republikanische Schwester. Jedenfalls ein recht
+imponierendes Denkmal an einer einzigartigen Stelle der Welt, denn fast
+alles, was nach Amerika hereinwill, passiert hier die „<span class="antiqua">statue of
+liberty</span>“. Rechts tauchten auch schon die Umrisse der andern ebenso
+berühmten Wahrzeichen Neuyorks auf, der „Wolkenkratzer“. Wirklich
+von märchenhafter Größe und Gewalt trotz der riesigen Breite des
+Hudsonflusses, der in die Upper-Bay mündet, und im Morgennebel von fast
+trutzigem Aussehen&#160;...</p>
+
+<p>Es war gegen halb acht Uhr geworden. Wir dampften langsam noch ein
+kleines Stück den breiten, meeresarmartigen Hudson hinauf, um dann
+links auf der Neujerseyer Seite in Hoboken anzulegen. Nun waren wir
+also wirklich „drüben“! Immer noch unfaßlich! Wirklich in der Neuen
+Welt! Und ein Ozean trennte mich von der Heimat!</p>
+
+<p>Heulend schossen vollbesetzte, schwere, breite Ferryboote vor uns<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> und
+hinter uns vorüber. Links stieg der Turm der Pennsylvania-Railroad
+auf. Nicht weit davon liegen die deutschen Piers (Landebrücken). Von
+den Anlegebrücken winkten schon viele Tücher. Vom Balkon desselben
+aus dirigierte ein Beamter der Hapag die Landung. Ein ganz winziger
+Dampfer, wie ein Knirps anzusehen, zog die Riesenschwester in das Dock
+hinein.</p>
+
+<p>Alles, was auf der Landebrücke und an Bord stand, rief, schrie, winkte,
+lachte und weinte vor Freuden des Wiedersehens und der glücklichen
+Ankunft. Ich suchte auch meinerseits, wie alle ihre Verwandten, meinen
+Onkel, der mich abholen wollte und hielt eine ganze Weile einen älteren
+weißhaarigen Herrn dafür, bis ich auf einmal mit großer Enttäuschung
+meines Fehlschlusses gewahr wurde. Wie, wenn nun niemand da war —?
+Die Musik spielte, wie wir in Kuxhaven abfuhren. Mit Tauen wurde jetzt
+das große Schiff festgemacht. Nun schlugen sie auch die große Brücke
+hinunter. Die zweite Klasse durfte an Land gehen ... Ich war unter den
+Ersten.</p>
+
+<p>Eben wollte ich den Fuß auf amerikanischen Boden in die große Zollhalle
+setzen, als ich auch schon angehalten und zurückgeschickt wurde!! O
+weh, was hatte ich denn verbrochen? Ich war mir gar keiner Schuld
+bewußt! Sollte ich etwa wieder unverrichteter Sache heimgeschickt
+werden? Das wäre ja furchtbar gewesen! Diese Blamage daheim, wenn
+ich überall gefragt wurde, wie es in Amerika war und wie es mir
+dort gefallen hätte!! Oder sollte ich etwa vier Wochen mit den
+Zwischendeckern und Einwanderern nach dem berüchtigten Ellis Island
+geschickt werden? Ich war doch weder krank noch ein Verbrecher! Mein
+Onkel war ein unbescholtener <span class="antiqua">American citizen</span>, ich selbst ein
+wißbegieriger Weltreisender und ein mehrmals akademisch geprüfter
+Deutscher, vor dem die Amerikaner doch sonst einige Achtung zu haben
+pflegen! Meine Papiere waren in Ordnung. Ich hatte weder mit dem
+Kapitän einen Zusammenstoß gehabt noch war ich etwa der Dieb des
+unglücklichen Mitreisenden. Ich kam auch nicht ganz mittellos, wenn
+auch gar nicht vermögend. Mein Reisebillett war auch richtig bezahlt
+... Was es nur war? So schossen mir blitzschnell hundert<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> Möglichkeiten
+durchs Hirn, und schon war ich im Begriff, dem kaltherzigen Beamten
+eine lange Rede zu halten und zu bedeuten, wen er vor sich habe.
+Freilich, ob mein Englisch in diesem Fall der inneren Aufregung schon
+zugereicht hätte? Da hörte ich seine Erklärung: Ich sei weder vor dem
+Doktor noch vor dem Regierungskommissar gewesen, deren Stempel auf
+meiner Karte fehlten!!</p>
+
+<p>Tausend und Doria, wahrhaftig, ich hatte von Deck aus so genau alle
+Einzelheiten der Landung und der Einfahrt beobachtet — damit mir für
+mein Reisetagebuch ja nichts entgehe — daß ich es ganz übersehen
+und überhört haben muß, wann und wo man sich den beiden hohen Herren
+vorzustellen hatte. Und aus Deutschland hätte ich doch wahrhaftig an
+Ordnung und Gehorsam gegen die hohe Obrigkeit gewöhnt sein können!
+Wirklich, die Neue Welt hatte auch ihre Gesetze und Rechte und ließ sie
+nicht ungestraft übertreten!</p>
+
+<p>So mußte ich zurück — und wäre doch so gern der erste bei der Landung
+gewesen! — durch Gänge und Treppen, davon viele jetzt verschlossen
+waren, wo man sonst ein- und ausging, bis ich endlich den Arzt und den
+Regierungsbeamten im Speisesaal fand, noch von einer dichten Menge
+Passagiere umlagert. Erst wurde hier vom „Doktor“ jedem in die Augen
+geschaut, ob man auch gesund war. Gottlob, ich war es! Dann fragte die
+Einwanderungskommission nach Name, Stand, Herkunft, Reiseziel, sogar
+wieviel Geld man bei sich führe und dergleichen. Wer nicht wenigstens
+25 Dollar bar vorzuzeigen hatte — die Verpflegung für die ersten Tage
+— wurde gar nicht ins Land hereingelassen, ebensowenig wer etwa mit
+einer Frauensperson reiste, die weder seine nahe Verwandte noch seine
+Frau war. Auch alleinreisende Mädchen kamen nur nach Amerika herein,
+wenn sie drüben Verwandte besaßen. Glücklicherweise konnte ich auf
+alle Fragen der Kommission eine befriedigende Antwort geben — ich
+radebrechte zum erstenmal kühn auf englisch drauflos — ich war weder
+ein alleinreisendes Mädchen noch hatte ich kranke Augen. Ich hatte
+auch ein bestimmtes Reiseziel, besaß mehrere <span class="antiqua">American citizens</span>
+als Verwandte und konnte sogar den letzten Trumpf ausspielen, daß ich
+25 Dollars in bar vorzuweisen<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> vermochte. Andernfalls hätte ich wohl
+noch einige Tage auf Ellis Island sitzen und über die Nützlichkeit und
+gerechte Weisheit der amerikanischen Einwanderungsgesetze nachdenken
+können, die unangenehme Gäste aus der Alten Welt und insonderheit aus
+Osteuropa dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten am liebsten jetzt
+ganz fernhalten wollen. Kurz, ich kam heil aus dem Fegfeuer, kriegte
+den ersehnten Stempel und durfte die ersehnte Brücke zum Festland
+überschreiten und den Boden des gelobten Landes — zunächst in Gestalt
+riesiger Zollhallen — betreten!</p>
+
+<p>Vor den Preis haben die Götter nun einmal den Schweiß — und auch die
+Geduld gesetzt. Ich, der ich am liebsten gleich über den Hudson nach
+Neuyork hineingestürmt wäre, sah von Amerika in den Zollhallen zunächst
+noch gar nichts weiter als Berge von Koffern meiner Mitreisenden,
+Hunderte von wartenden Menschen und einige völlig rasierte gum-kauende
+amerikanische Zollbeamte in Zivil. Am Strohhut die Regierungskokarde
+war ihr einziges Abzeichen! Jeder Ankömmling hatte sich zunächst bei
+seinem Buchstaben aufzustellen, die in Riesengröße von den Wänden
+hingen und dort auf das Heranbringen seiner Koffer geduldig zu warten.
+Waren sie alle angelangt, so hatte man sich zur „<span class="antiqua">office</span>“ zu
+begeben, sich in sehr langer Polonäse daselbst anzustellen und zu
+warten, bis man seinen Zollzettel und seinen Zollbeamten kriegte. Der
+nahm dann genau und gemächlich die Revision vor. Alles, was daheim
+mit soviel Liebe und Akuratesse zusammengepackt war, flog jetzt
+gleichgültig durcheinander, die Hemden aus den Falten, die Anzüge zum
+Teil in den Staub des Hallenfußbodens. Auch war es nachher eine wahre
+Kunst, alles wieder einigermaßen richtig hineinzupacken und den Deckel
+wieder richtig zuzukriegen. Zu Hause war das mit vereinten Kräften
+und in Ruhe erfolgt. Hier mußte alles schnell und allein geschehen.
+Wie mancher sah sich da hilfesuchend nach mitleidigen Seelen um!
+Zollpflichtiges wurde bei mir nicht gefunden, ich hatte weder Seide
+noch Perlen noch Zigarren.</p>
+
+<p>Aber was nun? Manche weinten schon, weil ihre Angehörigen aus
+Chikago oder wo sonst her noch nicht da waren und sie kein Wort der<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span>
+fremden Sprache verstanden! Wir waren ja einen ganzen Tag zu früh
+eingetroffen!! Und die Freude darüber verkehrte sich bei vielen jetzt
+schnell in weinende Wehmut. Als ich gerade darüber nachdachte, was ich
+nun wohl in dem fremden Erdteil mutterseelenallein in einer mir völlig
+fremden Sechsmillionenstadt zuerst anfangen würde, entdeckte ich am
+Eingang einen liebenswürdigen alten Herrn mit goldener Brille, der
+jemand eifrig zu suchen schien. Ich hätte ihm gleich vor allen Leuten
+um den Hals fallen mögen. Es war ja Onkel, mein Retter!</p>
+
+<p>Jetzt brauchte ich nicht mehr alle meine englischen Vokabeln und
+Phrasen zusammenzukramen — ich konnte erst noch einmal ein paar
+Tage meinem Herzen auf deutsch Luft machen und alle meine Eindrücke
+deutsch verstauen und verdauen. Mein Onkel hatte mich auch erst am
+nächsten Tag abholen wollen — da las aber zufällig sein Enkel diesen
+Morgen in der Zeitung, unser Schiff werde wahrscheinlich schon diesen
+Vormittag docken, läuft zum Onkel, teilt es ihm mit; der stürzt zum
+„<span class="antiqua">subway</span>“ (Untergrundbahn) und versucht mich noch in Hoboken zu
+erwischen. Und er kam noch gerade recht.</p>
+
+<p>Wir schüttelten uns herzlich und lange die Hände. Die Fremde war mit
+einem Schlag Heimat geworden! Wie gut, daß ich so lange bei dem Doktor,
+bei den Koffern und beim Zoll warten mußte, sonst hätte mich Onkel in
+Hoboken gesucht und ich ihn derweilen in Neuyork! Man sieht wieder,
+„wozu das Mißgeschick gut war“!</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> Engen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_2" href="#FNAnker_2" class="label">[2]</a> Fähren.</p>
+
+</div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Neuyork">Neuyork.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Das erste, was mir, als wir nun endlich nach Übergabe meines
+Gepäckscheins an eine „<span class="antiqua">Transfer-Company</span>“<a id="FNAnker_3" href="#Fussnote_3" class="fnanchor">[3]</a> die Tore der
+Zollhalle verlassen konnten, auf dem amerikanischen Pflaster Hobokens
+auffiel, war — ein Neger. Bald sah ich sie überall, die man bei uns
+vielleicht nur einmal in Zoologischen Gärten bestaunt, als Portiers,
+Gepäckträger, Droschkenkutscher, Handwerker, Hilfsschaffner und
+dergleichen. Und eine der großen Nationalfragen der Union tauchte schon
+am Zolltor<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Hobokens vor mir auf: die Negerfrage. Mitten durch die
+demokratische Union zieht sich wie ein Riß die Farbenlinie zwischen
+Schwarz und Weiß. 14 Millionen Schwarze und Farbige gibt es heute in
+der Union, im Süden noch weit mehr als im Norden. Der große Bürgerkrieg
+in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war um ihretwillen
+entbrannt. Ich sah auch bald, wie sich Weiße und „<span class="antiqua">colored
+people</span>“ ängstlich scheiden, wie die Schwarzen vielfach ihre eigenen
+Bahnabteile, Restaurants, Theater, Varietés — ja Kirchen haben! ...
+Und ich sah sie bald, vom Negerbaby mit seinem reizenden schwarzen
+Stumpfnäschen in seinen blendend weißen Kißchen bis zur behäbigen
+schwarzen Amme oder dem ergrauten niederen Handwerker, vom tiefsten
+Tintenschwarz, aus dem nur die Zähne und die Augen hervorleuchten, bis
+zum häßlichsten hellen Braungelb, je nach der Blutmischung. Ich gedenke
+aber heute auch noch gern zweier persönlicher Negerfreunde. Der eine
+war unser getreuer „Jack“ in der großen Universitätsspeisehalle in
+Cambridge, der uns alle unsere Lieblingsgerichte auf besonderen Wunsch
+in doppelten Portionen brachte — die gute Seele! — und der andere war
+ein strebsamer Negerstudent, mit dem ich mich manchmal an den Ufern des
+Charles River in Boston in freien Stunden erging ... Nur ihr Rassenduft
+war manchmal nicht gerade erwünschteste Beigabe&#160;...</p>
+
+<p class="center s5a mtop2">Mamas kleine schwarze
+Rose.<a id="FNAnker_4" href="#Fussnote_4" class="fnanchor">[4]</a></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Eines Tages weinte ein kleiner Schwarzer in Tennessee,</div>
+ <div class="verse indent0">Sein kleines Herz schluchzte,</div>
+ <div class="verse indent0">Weil er nicht weiß war.</div>
+ <div class="verse indent0">Da küßte ihn seine liebe alte</div>
+ <div class="verse indent0">Mutter und sagte,</div>
+ <div class="verse indent0">Und sagte zu ihm: Weine nicht, Kind,</div>
+ <div class="verse indent0">Weine nicht, mein kleines Kind,</div>
+ <div class="verse indent0">Und sie sang ihm ein Schlummerlied:</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Trockne deine Tränen, meine kleine schwarze Rose, und weine nicht,</div>
+ <div class="verse indent0">Schlaf ein und schließe die Lider.</div>
+ <div class="verse indent0">Weine nicht, weil du schwarz bist.</div>
+<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span>
+ <div class="verse indent0">Du bist eine Wolke mit silbernem Futter,</div>
+ <div class="verse indent0">Wie jeder alte Rabe glaubt, sein Kind sei weiß wie Schnee,</div>
+ <div class="verse indent0">So gut weiß deine alte Mutter, daß du eine Rose bist.</div>
+ <div class="verse indent0">Und als die Engel dir diese schönen Locken gaben,</div>
+ <div class="verse indent0">Mischten sie einen Strahl von Sonne mit hinein.</div>
+ <div class="verse indent0">Deshalb, glaube ich, bist du schwarz,</div>
+ <div class="verse indent0">Und dein Herz, Liebling, so weiß.</div>
+ <div class="verse indent0">Also seufze nicht, weine nicht,</div>
+ <div class="verse indent0">Du bist Mamas kleine schwarze Rose.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Nach diesem Empfang umtoste mich nun der Lärm der Weltvorstadt: Autos,
+Omnibusse, Straßenbahnen, Droschken, Agenten, Schutzleute, Reisende
+... alles lief, sprach, klingelte, schrie ... ein sinnverwirrendes
+Durcheinander. Der gute Onkel geleitete mich sicher zum Tunnel der
+Untergrundbahn, und mit ihr fuhren wir dröhnend und rasselnd in
+prächtigen, hellerleuchteten, strohgepolsterten <span class="antiqua">D</span>-Zug-ähnlichen
+Wagen unter dem breiten Hudsonfluß nach dem eigentlichen Neuyork auf
+die langgestreckte Insel Manhattan hinüber. Als wir drüben wieder ans
+Tageslicht stiegen, waren wir mitten auf der Hauptgeschäftsstraße
+Neuyorks, dem berühmten „Broadway“.</p>
+
+<p>Ich mußte unwillkürlich an die Häuserwand treten, um erst einmal
+einen ruhigen Standpunkt zu gewinnen. Da waren sie ja nun wirklich
+dicht vor mir die Wolkenkratzer und erhoben sich mit ihren 24, 30, 40
+usw. Stockwerken bis 100, 150 und mehr Meter Höhe! Der an sich breite
+Broadway wand sich wie eine enge Schlucht zwischen ihnen hindurch.
+Auf dem Asphalt aber ein unübersehbares Gewühl von Lastwagen, Autos,
+Straßenbahnen, Hochbahnen auf mächtigen eisernen Gerüsten, und unter
+uns in der Tiefe raste der „Subway“<a id="FNAnker_5" href="#Fussnote_5" class="fnanchor">[5]</a>. Auf den Gangbahnen aber eilten
+die Menschen geschäftig und unablässig wie in Berlin und Hamburg
+hin und her. Die Herren waren alle rasiert. Nirgends sah ich einen
+Schnurr- oder gar Vollbart! Die Gesichter schienen mir etwas eigenartig
+Scharfkantiges, ja fast etwas Rechteckiges an den Kieferknochen zu
+haben; auch ihr Blick schien mir<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> starrer und fester als bei uns.
+Es prägte sich deutlich auf diesen Gesichtern eine noch größere
+Arbeitsunrast als bei uns aus, ja wie eine Unfähigkeit zum gesunden
+Genießen: „Taylorsystem!“ Bummelnde Amerikaner habe ich überhaupt
+nicht gesehen. Selbst im Schaukelstuhl daheim schaukelt man wenigstens
+noch, um nicht ganz untätig zu sein, und in der Straßenbahn kaut man
+zur Unterhaltung und Beschäftigung „<span class="antiqua">Chewing gum</span>“. Infolgedessen
+ringsherum auf dem Pflaster ein ständiges unappetitliches Ausspucken.
+Das Pflaster der Gangbahnen des Broadway war von Hunderten kleiner
+Spuckpfützchen übersät!!</p>
+
+<p>Nach wenigen Schritten standen wir vor einem riesigen turmartigen
+Gebäude der Metropolitan-Lebensversicherung und ihrem 48 Stockwerk
+(über 200 Meter, höher als die höchsten Dome Europas!) hohen
+„Metropolitan Tower“, den eine vergoldete Kuppel krönte. Den mußte ich
+bald besteigen und von oben auf das Riesenbabel niederschauen! Das
+stand mir jetzt schon fest. Aber das hatte noch ein bißchen Zeit. Ihn
+überragt heute noch das 58 Stockwerk (228 Meter) hohe <span class="antiqua">Woolworth
+building</span>, dessen Platz allein 4½ Millionen Dollars kostete, wo also
+jeder Quadratmeter etwa hunderttausend Mark wert war. Daneben ist der
+Eiffelturm kein Riese mehr! Aber zunächst erst einmal heim zur Tante,
+die uns gewiß sehnlichst erwartete&#160;...</p>
+
+<p>Wir saßen im <span class="antiqua">Broadway subway</span>, in dem es in der Tiefe ab und zu
+einmal furchtbare Unglücksfälle gibt; in dem stets aber eine wie im
+Bergwerk atembeklemmende Luft herrscht! Er hat vier Schienenstränge,
+in der Mitte für „Schnellzüge“, an den Seiten für „Personenzüge“.
+Neuyork ist auf der Insel Manhattan an 19 Meilen lang. Zu Fuß
+würde man 4½ Stunden zum Durchschreiten seiner Länge brauchen. Die
+Untergrundschnellbahn aber, die nur ein paarmal hält, durchfährt die
+ganze Strecke in etwa 25 Minuten! Man steigt unterwegs um in den
+„Personenzug“, um am richtigen Straßenblock aussteigen zu können.
+Ähnlich dem Betrieb in der Horizontalrichtung in der Stadt ist der
+in der Vertikalrichtung in den höchsten Wolkenkratzern! Auch hier
+fährt man erst mit einem Schnellaufzug, der nur jeden 5. Stock hält,
+etwa bis zum 35., um von da noch mit dem „Personenzug“<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> etwa bis
+zum gewünschten 39. Der „Expreß“ aber fährt meist gleich ganz in zwei
+Minuten bis zum Aussichtsbalkon durch&#160;...</p>
+
+<p>An der 137. Straße stiegen wir aus. Querstraßen in den amerikanischen
+Städten sind einfach (zwar praktisch, aber höchst prosaisch!) meist
+nach Nummern benannt, die Längsstraßen werden vielfach als Avenuen
+u.&#8239;dgl. gezählt. Daher hat auch die berühmte „<span class="antiqua">Fifth avenue</span>“
+der Multimillionäre in Neuyork ihren Namen. Die Straßen laufen
+meist zueinander rechtwinklig, so daß jede große Stadt wie ein
+Riesenschachbrett erscheint.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe35" id="illu_050">
+ <img class="w100" src="images/illu_050.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NEW YORK<br>
+ The West-Street-Building, rechts der Turm des Singer-Gebäudes
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_050_gross.jpg"
+ id="illu_050_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe35" id="illu_051">
+ <img class="w100" src="images/illu_051.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NEW YORK<br>
+ Trinity-Church, gegenüber Wall-Street
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_051_gross.jpg"
+ id="illu_051_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Tante empfing mich trotz ihrer vorgerückten Jahre, und obwohl wir uns
+bis dahin im Leben erst einmal gesehen hatten, überaus herzlich und
+hatte allerlei amerikanische und mir noch nicht geläufige Genüsse zur
+Erquickung bereitgestellt: <span class="antiqua">Grape fruit</span>, <span class="antiqua">ice-cream-soda</span>,
+Bananen in Sahne und Zucker aufgeschnitten u.&#8239;dgl. In der „Halle“
+des Hauses unten empfing uns der Hausmann, ein Neger, und fuhr uns
+im Aufzug ins „flat“ (Wohnung) nach oben. Zeitweilig hielt sich
+Tante auch ein Negerdienstmädchen, aber .. sie hat es bald aus den
+erwähnten Gründen wieder abgeschafft. Die Jalousien über den großen
+Schiebfenstern, die man von unten nach oben öffnet, waren überall
+sorglich heruntergelassen, denn Neuyork litt trotz der Septembermitte
+noch unter einer sehr großen lästigen feuchtschwülen Hitze. Die
+Männer gingen daher ohne Weste und Jacke, meist bloß im Faltenhemd
+mit Gürtel. Tantes Wohnung glich wie die meisten der amerikanischen
+Damen einem kleinen Museum oder einer großen niedlichen Puppenstube,
+als sei sie stets nur zum Ansehen gewesen. Altbremische Sauberkeit
+und amerikanische Freude an schönen Sachen hatten hier einen Bund
+geschlossen.</p>
+
+<p>Welch eine Erquickung war es, sich nun des Abends wieder in ein
+richtiges Bett legen zu dürfen und nicht nur in ein Oberbett der
+Kabine. Es erscholl kein in Angst versetzendes Nebelhorn mehr, noch
+stieg die Kabine in den Wänden ächzend langsam auf und nieder oder
+rollte von einer Seite auf die andere. Und auch am Tisch saß man wieder
+ganz fest und sicher ... Und nun ging’s ans Erzählen&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span></p>
+
+<p>Lange litt es mich nicht im Hause. Anderen Tag schon begann ich meine
+Wanderungen durch <span class="antiqua">New York</span>, nur mit Reiseführer, Karte und
+meinen bescheidenen englischen Kenntnissen ausgerüstet. Ich fuhr
+zuerst mit der Straßenbahn und der Hochbahn, die vor dem Subway den
+Vorzug der mannigfaltigen Aussicht hatten, wenn sie auch dem Subway
+sehr an Schnelligkeit nachstehen, zurück ins Stadtinnere, also
+„<span class="antiqua">downtown!</span>“, wie der Neuyorker sagt. An der <em class="gesperrt">City Hall</em>,
+dem alten Rathaus Neuyorks, stieg ich zuerst aus. Äußerst bescheiden
+und klein unter den Riesen steht das Rathaus dieser Riesenstadt mit
+seinem feinen, weißen Marmor am City Hall Park, einer anmutigen grünen
+Oase mitten in dem tollen Geschäftstrubel, ein geschichtliches Denkmal
+dafür, wie es in Neuyork noch im Beginn des 19. Jahrhunderts aussah,
+als der heute verschwindend kleine zierliche Rathausturm alle anderen
+Häuser noch stolz überragte und keine Dollarburg ihm das Sonnenlicht
+verdunkelte. Als Napoleon I. nach Rußland zog, wurde City Hall
+eingeweiht. Im Empfangssaal des Governors steht noch das Pult, auf
+welchem Washington einst seine erste Botschaft an den damals in Neuyork
+tagenden Kongreß geschrieben hat, und auch der Stuhl, der George
+Washington bei seiner Inauguration zum ersten Präsidenten als Sitz
+gedient hat ..! Heute wirkt das alles wie ein schlichtvornehmer Gruß
+aus längst vergangenen Zeiten.</p>
+
+<p>Von der City Hall wanderte ich den Broadway, die einzigartige
+asphaltierte Wolkenkratzerschlucht, zu Fuß weiter hinunter bis
+zur Südspitze der Insel Manhattan, also an den südlichsten
+weitvorgeschobensten Punkt der Stadt, bis zur sog. „<em class="gesperrt">Battery</em>“.
+Mich zog es zum geliebten Meer hin. Ich mußte einmal wieder Seeluft in
+die Nase ziehen. Dabei kam ich an der alten und ehrwürdigen Trinity
+Church vorüber, die auf ihrem alten Kirchhof mitten zwischen den
+höchsten Wolkenkratzern steht und zwischen ihnen trotz ihres über 80
+Meter hohen Turmes heute völlig verschwindet! Ein höchst instruktives
+Bild der Stadtentwicklung. <span class="antiqua">Trinity church</span> stammt mit ihrer
+Parochie noch aus der holländischen Zeit der Stadt vor über zweihundert
+Jahren.<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> Die erste Kirche der zweitältesten und reichsten Gemeinde der
+Stadt wurde hier schon 1697 errichtet! Sie ist also „<span class="antiqua">old, old, very
+old</span>“! Einst gehörte ihr fast das gesamte Areal des umliegenden
+Hauptgeschäftsviertels! Welche unausdenkbaren Werte! Auf dem Kirchhof
+— merkwürdigerweise genau gegenüber dem Eingang zu Wallstreet, als
+wollte er symbolisch andeuten, daß auch alle Goldjagd zuletzt der
+Tod endet! — sind noch Grabdenkmäler zu sehen, die bis ins 17.
+Jahrhundert zurückreichen! Das will in Amerika sehr viel besagen, denn
+dort ist schon sehr „alt“, was aus der Zeit Washingtons vor hundert
+Jahren stammt. Die Union hat ja kaum 1½ Jahrhundert Geschichte hinter
+sich, und jedes Jahr<em class="gesperrt">zehnt</em> drüben bedeutet bald soviel wie ein
+Jahr<em class="gesperrt">hundert</em> in Europa, was die Schnelligkeit der durchlaufenen
+Entwicklungsstufen angeht.</p>
+
+<p>An der Battery — der Name stammt noch von den ersten holländischen
+Befestigungswerken aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts — und ihren
+„Batterien“ steht man sowohl auf einem historisch als auch geographisch
+einzigartigen Grunde. Einst war hier an dieser Stelle in der Zeit der
+englischen Herrschaft vor den Freiheitskämpfen der Mittelpunkt des
+Neuyorker geschäftlichen Lebens! Heute liegt der weite Platz fast
+völlig still. Wie haben sich die Zeiten gewandelt! Anfang des 17.
+Jahrhunderts fuhr hier ein Henry Hudson, der Entdecker des Neuyorker
+Hafens, im Auftrag der holländischen Ostindienkompagnie auf seinem
+kleinen Boot dem „Halve Maan“ (Halbmond) unter holländischer Flagge
+den Hudson hinauf, um die sog. „nordwestliche Durchfahrt“ zu finden.
+Aber unverrichteter Sache mußte er umkehren. Drei Jahre später
+wurden hier auf dem Südende von Manhattan die ersten holländischen
+Blockhütten errichtet und Handel mit den damals noch umwohnenden
+Mohawkindianern begonnen. Die <em class="gesperrt">ganze Manhattaninsel</em>, die heute
+Neuyork mit 2½ Millionen Einwohnern trägt, wurde zu jener Zeit den
+Indianern für Glasperlen und Knöpfe, im Werte von etwa 60 Gulden
+(!!) abgekauft und danach noch gratis ein furchtbares Gemetzel unter
+ihnen veranstaltet! Die neue Siedlung erhielt alsdann zuerst den
+Namen „Neu-<em class="gesperrt">Amsterdam</em>“. Noch am<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> Ende des 30jährigen Krieges
+wohnten hier nicht mehr als 100 Weiße! Erst 1667 wurde die Halbinsel
+von den Holländern an England abgetreten und erhielt jetzt den Namen
+<em class="gesperrt">Neuyork</em>. Am 9. Juli 1776 wurde wiederum die Herrschaft Englands
+abgeschüttelt und als Zeichen dafür die Reiterstatue Königs Georgs VII.
+von England von den „Söhnen der Freiheit“ in Neuyork niedergerissen.
+Am 25. November 1783 mußten die Engländer endgültig Neuyork verlassen.
+Der erste amerikanische Kongreß trat in der Stadt zusammen und wählte
+General Washington zu seinem Präsidenten. An der Battery steht noch
+heute ein hoher Flaggenmast an der Stelle, da die Engländer vor ihrem
+Abzug zum letztenmal ihre Flagge hißten. Den Fahnenmast schmierten sie
+dabei so ein, daß es den „Söhnen der Freiheit“ nicht leicht werden
+sollte, sie herunterzuholen, was auch nur mit sehr großer Mühe gelang.
+Und so wird heute noch immer zur Erinnerung daran am 25. November hier
+feierlich das Sternenbanner gehißt. So hat auch die Neue Welt ihre
+Geschichte! Nur wissen wir meist sehr wenig von ihr.</p>
+
+<p>Noch großartiger als die eigentümlichen geschichtlichen Erinnerungen
+an dieser Stelle ist von hier der Blick über die gesamte <span class="antiqua">upper
+bay</span>. Hoch reckt draußen die Freiheitsstatue im Hafen ihre Fackel
+empor, einer Welt entgegen. <span class="antiqua">Ferry-boats</span> eilen heulend draußen
+hin und her und speien alle Augenblicke Hunderte von Menschen samt
+Wagen und Autos auf einmal an Land oder verschlucken sie wie nichts in
+ihren doppelstockwerkigen, gewaltigen Leib. Hinter der Freiheitsstatue,
+die übrigens etwas an die Figur der Germania auf dem Niederwald oder
+die Bavaria in München erinnert, dehnen sich in der Ferne die grünen
+villenübersäten Hügelreihen von Staten Island, und weiter hinaus bis an
+den Horizont glitzert der offene weite Atlantische Ozean&#160;...</p>
+
+<p>Ich begab mich nach diesem wohltuenden und wunderbar erhebenden Blick
+auf das Wasser und die <span class="antiqua">upper bay</span> weiter in das Gewühl der Stadt
+zurück. Geschäftshaus an Geschäftshaus, Bank an Bank, Wolkenkratzer
+an Wolkenkratzer! Rasselnd sausten die Hochbahnen ihre hochgelegenen
+Schienenwege entlang. Lustig flatterten aus ihren Fenstern die
+gelesenen Zeitungen der Fahrgäste auf die Straße hernieder,<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> die viele
+einfach aus dem Straßenbahnfenster werfen! Die amerikanischen Straßen
+sind überhaupt im allgemeinen schmutziger und ungepflegter als bei
+uns. Papierabfälle liegen überall umher. Aber schon durcheilten neue
+Zeitungsboys, die neuesten Ereignisse laut ausschreiend, mit neuen
+„<span class="antiqua">papers</span>“, die die Hauptereignisse mit wahren Riesenlettern an
+der Stirn tragen — u.&#8239;U. als wichtigstes auch den Sieg einer berühmten
+Fußballmannschaft samt ihren Bildnissen! — durch die Straßen. Man
+abonniert die Zeitungen nicht, sondern kauft sie einzeln auf der
+Straße. Die Zeitung selbst erscheint dem ruhigen Europäer wie ein
+wildes und fast kindliches Durcheinander und buntes Allerlei einzelner
+außen- und innenpolitischer, sportlicher und privater Einzelnotizen
+in der marktschreieristischen Aufmachung und mit Augenblicksbildern
+übersät. Das Format ist riesengroß, großmäulig wie alles drüben,
+voller Interviews der Tagesgrößen auf allen Gebieten in direkter und
+persönlicher Rede und Gegenwart, alles auf den Augenblick und zu
+augenblicklichem starken Eindruck berechnet, denn binnen fünf Minuten
+wirbelt sie erledigt schon wieder aufs Straßenpflaster. Auch die
+Zeitung spiegelt die allgemeine Hast, Aufgeregtheit und Reklamesucht
+des amerikanischen Lebens. Reklame und wieder Reklame, wohin man
+sieht: Auf allen Dächern blitzt es abends in unerhörter Lichtfülle und
+Buntheit auf und erlischt, in allen Bahnwagen und an allen Haltestellen
+schreit dich dasselbe Ding, Fleischextrakt oder Mundwasser oder Keks
+tausendfach an, so daß zuweilen kaum der Stationsname für den Fremden
+noch zu entdecken ist. An jedem freien Flecke einer großen Hauswand
+steht es wieder in Riesenlettern, was du kaufen, essen, sehen, wie du
+kochen, schlafen, reisen sollst.</p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Lichtreklame<a id="FNAnker_6" href="#Fussnote_6" class="fnanchor">[6]</a>.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Hört!</div>
+ <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Ich bin Amerika.</em></div>
+ <div class="verse indent0">Ich komme durch die Nacht.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich brenne und jage die Dunkelheit fort.</div><span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span>
+ <div class="verse indent0">Elektrizität bin ich,</div>
+ <div class="verse indent0">Wie Blitze die Himmel,</div>
+ <div class="verse indent0">Setz ich die Straßen in Feuer.</div>
+ <div class="verse indent0">Ob ihr wollt oder nicht,</div>
+ <div class="verse indent0">Ihr müßt mich sehn. —</div>
+ <div class="verse indent0">Volk kommt in Scharen zu mir,</div>
+ <div class="verse indent0">Reichste und Ärmste — fröhliche Verbrüderung.</div>
+ <div class="verse indent0">Um mich stößt sich die Menge,</div>
+ <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Ich bin Broadway</em>.</div>
+ <div class="verse indent0">Ob ihr es braucht oder nicht,</div>
+ <div class="verse indent0">Ihr müßt von mir kaufen.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich verkaufe meinem Lande alle Produkte,</div>
+ <div class="verse indent0">Vielformige, zahlreiche, fein erfundene Dinge;</div>
+ <div class="verse indent0">Aus meiner Erde, meinen Gebirgen,</div>
+ <div class="verse indent0">Aus meinen Seen, meinen Flüssen,</div>
+ <div class="verse indent0">Von meinen Sternen, meinen Himmeln.</div>
+ <div class="verse indent0">Mein Nachbar dort verkauft dasselbe,</div>
+ <div class="verse indent0">Das Beste auf dem Globus — nach meinem.</div>
+ <div class="verse indent0">Rivalen sind wir derselben Ader</div>
+ <div class="verse indent0">Pulsenden Lebens.</div>
+ <div class="verse indent0">Geboren bin ich in Amerika —</div>
+ <div class="verse indent0">Gemacht ward ich in Amerika —</div>
+ <div class="verse indent0">Und werfe mich in die Schutthaufen Amerikas</div>
+ <div class="verse indent0">Platz zu machen einem größern Amerikaner.</div>
+ <div class="verse indent0">Prahle ich?</div>
+ <div class="verse indent0">Sensitiver, kultivierter, höflicher Fremder,</div>
+ <div class="verse indent0">Warum sollte ich nicht? —</div>
+ <div class="verse indent0">Ich bin das Ich der „Neuen Welt“,</div>
+ <div class="verse indent0">Afrika — Asien — Europa —</div>
+ <div class="verse indent0">Die Alte Welt ist tot, ich bin die Neue!</div>
+ <div class="verse indent0">Hört, hört,</div>
+ <div class="verse indent0">Ich komme durchs Dunkel —</div>
+ <div class="verse indent0">Zweifelnder Fremder, horch meiner Prahlerei —</div>
+ <div class="verse indent0">Gestern ist schon Geschichte —</div>
+ <div class="verse indent0">Eine neue Seite schlagt auf:</div>
+ <div class="verse indent0">Morgen sieht mich Europa.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">Alfred Kreymborg.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Auf den Straßen überfällt einen die Menge der Obstverkäufer, der
+Jungen, die dir, ob man will oder nicht, die Schuhe putzen und dir<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span>
+dazu einfach den Fuß festhalten! Jedermann läßt sich die Schuhe stets
+auf der Straße oder in einem Laden putzen, wie man bei uns etwa
+täglich rasieren geht. Billig ißt man in den „<span class="antiqua">lunchrooms</span>“
+(Frühstücksräumen) und „<span class="antiqua">dairies</span>“ (Milchwirtschaften), in
+den Restaurants zum Selbstbedienen mit und ohne Musik u.&#8239;dgl. In
+„Wallstreet“<a id="FNAnker_7" href="#Fussnote_7" class="fnanchor">[7]</a> war um zwölf Uhr vor der Baumwollbörse eine riesige
+Menschenmenge angestaut. In den offenen Fenstern der großen Firmen
+saßen die Handelsvertreter und tauschten heftig gestikulierend die
+neuen Kurse aus. Börse wird hier zum Teil noch offen auf der Straße
+gemacht!</p>
+
+<p>Als ich mich etwas mehr auf die Ostseite der Stadt begab, kam ich
+in die ärmeren Viertel, wo mehr Italiener als in Mailand, mehr
+ostgalizische Juden als in Lemberg und sogar haufenweise Chinesen
+wohnen. Da hausen zuweilen zwei kinderreiche Familien in einem einzigen
+Zimmer! Auf den eisernen Balkons hängt die Wäsche, liegen die roten,
+unüberzogenen Betten aus. Hier wohnen die Armen, die in der schwülen
+Sommerhitze es vorziehen, lieber am Strand oder in Parks zu nächtigen
+als in jenen menschenüberfüllten Straßen, von denen die eine genau
+aussieht wie die andere. Dazwischen finden sich auch noch unbebaute
+Plätze, wo gehämmert und geklopft wird, wo auf mächtigen Gerüsten sich
+gewaltige Krane drehen. Aber wie Felsen in der Brandung stehen mitten
+im größten Gewühl und Verkehr die stattlichen „<span class="antiqua">police-men</span>“
+meist irischer Herkunft, mit einem tropenartigen Helm, den starken,
+weißbehandschuhten Händen und dem praktischen Gummiknüppel. Sonst
+Häuser an Häuser, Blocks an Blocks, Straße an Straße, ein höllisches
+Straßen- und Menschenschachbrett ... Mir brummte der Schädel und
+brannten die Füße, als ich nach dem ersten erlebnisreichen Tage
+heimkam, und noch abends, als ich Schlaf suchte, flimmerten mir
+Menschen und Häuser vor der erregten Phantasie .....</p>
+
+<p>Am zweiten Tag regnete es und zwang mich wohltätig, daheimzubleiben.
+Am dritten begann ich meine Stadtwanderungen aufs<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> neue. Der Subway
+brachte mich zunächst zum Washingtonsquare (Washingtonplatz). Der
+in römischem Stil erbaute Washingtonbogen auf dem Platz trägt die
+Inschrift: „<span class="antiqua">Let us raise a standard to which the wise and honest
+man can repair. The event is in the hand of God</span>“. Praktisch und
+fromm zugleich! Die englisch-amerikanische Frömmigkeit versteckt sich
+nicht und ist immer aufs praktische Handeln gerichtet, daher weniger
+spekulativ wie die deutsche. Ein rechtes Leben steht dem Amerikaner
+über dem frömmsten Glauben. An dem Bogen konstatierte ich auch, wie
+doch die klassischen Bauformen bis nach Amerika gedrungen sind! Gerade
+die Zeit der Gründung und des ersten Ausbaus der amerikanischen Union
+war die Hochblüte klassizistischer Baukunst. Oder zog es auch die junge
+Republik bewußt zu den Formen des Vorbildes aller Republiken, dem alten
+Rom? So ist auch General Grants imposantes Totenmal im „Riverside-Park“
+am Hudson eine getreue Nachbildung der römischen Kaisergräber, erinnert
+an die Engelsburg und die Rotunde der Caecilia Metella in Rom an der
+Appischen Straße&#160;...</p>
+
+<p>Dann fuhr ich — einer Sehnsucht seit Tagen — zum Metropolitan
+Tower hinauf, um einen vollen Überblick über die Stadt in Ruhe von
+oben zu genießen. Es war ein blendend schöner Nachmittag, als ich
+da oben als im Augenblick einziger Besuch eine unvergeßliche Stunde
+erlebte. Wohl in zwei Minuten war ich bis zum Aussichtsbalkon im 45.
+Stockwerk(!) emporgefahren und trat nun, etwa 200 Meter hoch über
+dem Straßenniveau, hinaus auf den Balkon dicht unter den Uhrglocken
+und der vergoldeten Kuppel. Man stand damit so hoch, daß man sich
+dem Verkehr der Riesenstadt vollständig entrückt fühlte, als ginge
+einen das da unten gar nichts mehr an. Auch recht hohe Häuser
+wie das bekannte spitzwinklige, einem „Bügeleisen“ gleichsehende
+„<span class="antiqua">flat-iron-building</span>“ erschienen von hier oben nur klein.</p>
+
+<p>Ein ungeheures Häusermeer, bald hoch, bald niedriger, ohne Stil und
+Plan, erstreckte sich gen Nord und Süd. Im Süden stieg die Hauptmasse
+der Wolkenkratzer drohend und rauchend auf, mit dem Singergebäude
+ungefähr in seiner Mitte wie einem Festungsturm.<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> Dahinter glitzerte
+die <span class="antiqua">upper bay</span> mit der Freiheitsstatue. Drüben im Osten reckten
+sich die gewaltigen Brücken über den Meeresarm des „East River“ nach
+der dunstigen Millionenstadt Brooklyn hinüber. Das offene Meer sah man
+dort nicht deutlich, aber hell beleuchtet lag Long Island mit seinen
+einladenden Siedlungen da. Im Norden verschwamm das Stadtbild am Ende
+des Zentralparks in der Gegend der St. Johns Kathedrale. Im Westen
+säumte der breite Hudson, von vielen kleinen Dampfern belebt, das
+grandiose Stadtbild. Aus seinen vielen Piers an seinen Ufern schauten
+die Schornsteine der Ozeandampfer aller Herren Länder hervor. Ganz
+drüben lag in Rauch und Dunst gehüllt Hoboken, weiter nördlich grün und
+felsig die sog. „Palisaden“ am Hudsonfluß.</p>
+
+<p>Aus der Vogelschau dehnte sich die Sechsmillionenstadt so tief zu
+meinen Füßen, als wenn Ameisen in ihr umherliefen. Kaum drang ein
+deutlicher Laut herauf, sondern nur ein allgemeines Summen, Surren,
+Klingeln, Hämmern, Pochen und Tuten. Welch ein Millionengetriebe da
+unten! Was haben doch Menschen in hundert Jahren da unten alles gebaut!
+Wie alle diese Menschenhirne da unten täglich sinnen, planen, hoffen,
+sorgen, grübeln, arbeiten. Für was? Um das bißchen täglich Brot auf
+Erden! Nirgends regiert so das Geld und die Arbeitshetze die Welt wie
+da unten! Ein paar hundert Menschen werden da unten täglich geboren
+oder sterben. Wer weiß es oder kümmert sich viel darum? In gut einem
+halben Jahrhundert ist von all den Millionen Menschenameisen da unten,
+die jetzt um Verdienst täglich rennen, kaum einer noch da! Aber das
+gefräßige Ungeheuer selbst, die Millionenstadt, wird weiter rauchen und
+fauchen und schaffen, sich recken und dehnen ruhelos Tag und Nacht!</p>
+
+<p>Welch eine Unsumme menschlicher Arbeitskraft, menschlichen
+Arbeitswillens und -fleißes ist da unten aufgehäuft, aber auch
+ebenso sehr Schmutz, Not, Krankheit, Schande und zerbrochenes Glück
+...! Wer das mit einem Male alles sehen könnte! Ob er es ertrüge?
+Und doch hat alles seinen Gang, seinen Weg und seine Ordnung. Jeder
+weiß, wohin er gehört und wo sein Platz ist, was er will und was er
+zu erreichen<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> gedenkt! Man möchte sich hier oben angesichts dieses
+Menschenmillionenhaufens die Posaune eines Erzengels wünschen,
+um einmal in das Geldbabel die Botschaft vom Wert der geistigen
+Menschenseele hineinzurufen. Wie viele würden sie hören und verstehen?
+... Können Menschen in solcher Atmosphäre wie da unten je eine andere
+Lebensanschauung gewinnen als die, daß Geld und Verdienen einziges Ziel
+und Bestimmung unseres Lebens ist?</p>
+
+<p>Ich habe auf manchem hohen Turm in Deutschland gestanden und bin auf
+manchen hohen Berg gestiegen, aber selten hat mich die Frage nach dem
+Sinne des großstädtischen Menschenlebens der Gegenwart so gepackt
+wie in der einsamen Stunde an jenem sonnigen Septembernachmittag
+allein zweihundert Meter über Neuyork, der Metropole des gesamten
+amerikanischen Kontinentes.</p>
+
+<p>Dann trieb es mich aus dieser grotesken Einsamkeit mitten unter und
+über Millionen Menschen über der Stadt in eine ganz andere idyllische
+Einsamkeit mitten <em class="gesperrt">in</em> ihr. Im Zentrum Neuyorks liegt, ähnlich wie
+in der Sechsmillionenstadt London der Hydepark, der lang hingestreckte
+„Zentralpark“, eine prachtvolle, stundenweit ausgedehnte riesige
+grüne Oase, ein Eldorado von alten Bäumen, feinen Spazierwegen,
+wohlgepflegten Rasenflächen, gleichsam mitten aus dem tosenden Verkehr
+herausgeschnitten, von entzückenden und erquickenden kleinen Teichen
+und ihren leise hingleitenden Booten unterbrochen. Wir kennen solche
+ausgesucht schönen Parke auch im Berliner Tiergarten, dem Dresdner
+Großen Garten und etwa auch dem Bremer Bürgerpark, aber mitten in
+Neuyork empfindet man den Zentralpark doppelt und dreifach wie ein
+Paradies, weil man plötzlich aus dem Weltverkehr ruhig auf einer
+stillen Bank sitzend die Eindrücke sammeln und seine Nerven erholen
+kann. Hätten mich nicht die einfachen Inschriften auf englisch,
+deutsch, italienisch und hebräisch (!)<a id="FNAnker_8" href="#Fussnote_8" class="fnanchor">[8]</a> daran erinnert, ich hätte
+unter den alten Eichen vergessen können, in Neuyork zu sein.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p>
+
+<p>Auch die geistigen Schätze der Weltstadt ließ ich mir nicht
+entgehen. Hat zwar die Union bis heute noch keine eigentlich
+bodenständige geistige Kultur hervorgebracht, sondern noch immer
+im wesentlichen von den geistigen Brocken gelebt, die von Europas
+überreichem Tisch fielen, besonders in Malerei und Musik, so ist
+doch das Amerikanisch-Geschichtliche und -Geographische trefflich
+zusammengefaßt im „<span class="antiqua">Museum of natural history</span>“, und Teile der
+Schätze Europas, bald als Original, bald als Nachbildungen, finden
+sich neben einzelnem amerikanischen Gut im „<span class="antiqua">Museum of art</span>“.
+In dem Mittelraum des letzteren standen die Hauptwerke aus Italien
+und Nürnberg in Nachbildungen eigenartig durcheinander: Notre Dame,
+Parthenon, das Sebaldusgrab, der Gattamelata, alles einträchtig
+nebeneinander. Im Obergeschoß fesselten mich neuere amerikanische
+Gemälde. Heiße Sehnsucht erweckte in mir, wie ich mich noch deutlich
+entsinne, ein großes Gemälde aus dem Felsengebirge mit Schneegipfeln
+bis in die Wolken und im Tal Indianerzelte! Wer dahin könnte! Und ich
+sollte noch hingelangen! Imponierend fand ich auch das Kolossalgemälde
+von Washingtons entscheidendem Übergang über den Delaware, dessen
+Darstellung ein wenig an den Blüchers bei Kaub erinnert. Ebenso
+fesselte mich wegen seines historischen Inhalts das Bild: Kolumbus’
+Landung; Schwert und Kreuz zum Himmel erhoben setzen Kolumbus und
+seine Mannschaft ihren Fuß auf das Land des Urwaldes und der Indianer.
+Aber auch gute echte Niederländer waren da, und wie manche Schätze
+sind erst seit der Inflationszeit hinübergewandert! Dazu war die ganze
+griechische Kunst im Abguß vorhanden, allerlei feine Vasen und Steine,
+Musikinstrumente, Gold- und Silberarbeiten u.&#8239;dgl.</p>
+
+<p>In dem fast noch interessanteren, weit originelleren „<span class="antiqua">Museum
+of natural history</span>“ war die gesamte amerikanische Baum- und
+Tierwelt zu schauen samt der Eskimo- und Indianerkultur. Und das
+alles ausgezeichnet praktisch und höchst geschmackvoll und anziehend
+zusammengestellt und angeordnet und durch ausführliche Karten und
+Beschreibungen erklärt. Da sah man gewaltige Mammutgerippe,<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> Wale,
+Eisbären und ausgestopfte Elche, springende Delphine in den Wellen,
+Eskimos und Indianer am Herde im Zelte, bei ihrer Arbeit, samt ihren
+Waffen und Booten. Frappiert hat mich dabei manche Indianermaske mit
+ihrer scharfen Nase und dem charaktervoll geschnittenen Kinn, die
+mich stark an den echt amerikanischen, früher beschriebenen Typ im
+Straßenbild erinnerten.</p>
+
+<p>Welche Geschichte hat sich doch auf diesem Kontinent abgespielt! Von
+den Sauriern und den 30 Meter im Umfange messenden Urwaldriesen, durch
+die bequem ein Wagen hindurchfahren könnte und die sechs Männer nicht
+zu umspannen vermögen, bis zu Henry Fords Autos und den Subways in
+Neuyork! Welches Völkergemisch ist hier zusammengekommen und geht
+in der Riesenretorte des amerikanischen Bürgertums fast restlos
+auf: Holländer, Engländer, Deutsche, Franzosen, Iren, Schweden,
+Italiener, Polen, Juden, Armenier und nicht zuletzt die Neger. Seit
+zwei Jahrhunderten hat sich die abendländische Kultur hier Eingang
+verschafft, hat alles Quantitative maßlos gesteigert, und von der Art
+der Pioniere hat das Angesicht Amerikas das Kühne, Vorwärtsdrängende,
+Schaffensfrohe übernommen. Freilich, der rote Mann ist dabei fast
+ganz der Raublust und Profitgier, dem Betrug und dem Mordgeist
+der Waldläufer und Goldsucher zum Opfer gefallen, und was von ihm
+übrigblieb, ist der geistigen Überlegenheit der abendländischen
+Einwanderer vollständig erlegen, aber aus der Retorte der Völker,
+Rassen und Religionen ist hier — mit Ausnahme der Neger — doch ein
+neuer, eigenartig geschlossener Menschentypus emporgestiegen, der
+„Amerikaner“ .....</p>
+
+<p>Nach dem Besuche der Museen bin ich in den nächsten Tagen einmal aus
+der Stadt hinausgefahren, um Neuyork auch an seinen äußeren Punkten
+kennenzulernen. So ging und fuhr ich zunächst über die mehr als
+kilometerlange riesige Brooklynbrücke, die ein deutscher Ingenieur
+(John A. Roebling) erdacht hat<a id="FNAnker_9" href="#Fussnote_9" class="fnanchor">[9]</a> und die so hoch (etwa 40 Meter) den
+Meeresarm des East River überspannt, daß die höchsten<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Masten darunter
+hinwegfahren können. Dann ging es durch das etwas düstere, dunstige
+Brooklyn, das für sich allein über eine Million Menschen beherbergt.
+Einzigartig ist von der Brücke der Blick rückwärts auf das dampfende
+Wolkenkratzerviertel. Sonst ist Brooklyn und das anschließende
+Williamsburg mit seinem wimmelnden Menschen- und Geschäftsverkehr das
+getreue Abbild der größeren Mutter. Weiter hinaus geht es auch in
+stille Wohn- und Villenviertel über, bis man endlich auf langen Alleen
+zuletzt den tollen Vergnügungspark „<em class="gesperrt">Coney Island</em>“ am Strande des
+Atlantischen Ozeans erreicht.</p>
+
+<p>Man denke sich alle Jahrmärkte, Juxplätze, Vogelwiesen, Oktoberfeste
+usw. bei uns auf <em class="gesperrt">einem</em> Haufen samt all ihren Achterbahnen,
+Kinos, Singspielhallen, Berg- und Rutschbahnen, Geheimkabinetten,
+Schaukeln und Karussells, kleinen Theatern, Musikkapellen, Drehorgeln
+und Varietés samt all der dazugehörigen, aber noch verzehnfachten
+ohrenbetäubenden Musik in allen Tonarten und das noch einmal vielfach
+vergrößert durcheinander, dazwischen aber auch noch allen Auswurf,
+Mob, Hefe, Faulenzer und Tage- und andere Diebe Neuyorks in einem
+Haufen zusammen — dann hat man „Coney Island“, das Paradies unzähliger
+vergnügungslüsterner Neuyorker! Coney Island ekelte mich bald an; ich
+vermochte kaum noch eine halbe Stunde dort zu verweilen, dann zog es
+mich wieder an das geliebte rauschende Meer. Ein frischer Wind fegte
+über leicht schäumende Wellen, die weißkämmig zum Strande heranrollten.
+Einige Badeschönen, die hier in echt amerikanischer Prüderie in
+vollständigem Badekostüm, d.&#8239;h. mit mehreren (!) Baderöcken, -blusen,
+-strümpfen, -schuhen und Badesonnenschirmen sich ergingen, störten
+freilich das Bild. Dort feiert der Abschaum des Unrats, hier der
+Gegenpol der prüden Unnatur seine Triumphe! Da lobe ich mir doch lieber
+unsere nordgermanischen Vettern und ihre unbekümmerte und unberührte
+und ungeschminkte volle Natürlichkeit.</p>
+
+<p>Auch dem Süden der Stadt stattete ich einen Ausflug ab. Für 5 Cent
+fährt man von der Battery mit dem Ferry in einer halben<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Stunde nach
+dem grünen „Staten Island“ hinüber und ist auch hier Neuyork auf eine
+Weile völlig entrückt. Dicht an der Freiheitsstatue fährt man vorbei,
+die immer aufs neue stolz und imponierend ihre Fackel hochschwingt.
+Mit Recht hat sie unser wackerer <span class="antiqua">Z III</span> bei seiner ruhmvollen
+Erstlingsfahrt gebührend gegrüßt und umflogen. Sie verkörpert weithin
+sichtbar alle amerikanischen Ideale und Aspirationen. Mit dem
+Sockel ist das Denkmal etwa 100 Meter hoch! Im Innern der bronzenen
+Figur führt eine Treppe bis in den Kopf wie bei der Bavaria in
+München. Aus ihren Augen kann man heraussehen. Bei Nacht ist die
+Fackel, die die Freiheitsfigur in der Hand hält, weithin strahlend
+elektrisch erleuchtet. Die Figur selbst hat einst dem sie schenkenden
+Frankreich eine Million Franks gekostet. Links liegen blieb Ellis
+Island, die Wehmutsinsel der Auswanderer. Rechts passierten wir eine
+Reihe englischer Schulschiffe, die gerade in der <span class="antiqua">upper bay</span>
+festgemacht hatten. Wie Möwen saßen die Seekadetten in ihren weißen
+Anzügen aufgereiht in den Raen der Masten und sahen nach Neuyork
+hinüber. Diesen Weg fuhr einst auch unser wackeres Handelsunterseeboot
+„Deutschland“ mit Kapitän König herein, dem die Engländer bei seiner
+kühnen Wiederausfahrt vergeblich auflauerten. Auf Staten Island
+angekommen stieg ich zur Anhöhe hinauf und genoß von dort oben wieder
+einen einzigartig bezaubernden Blick über Bucht, Hafen und Stadt&#160;...</p>
+
+<p>Dann flog ich ein andermal über den Hudson westwärts aus. Ich hatte
+ja beim Abschied vom Dampfer dem munteren Badenser Fräulein, das zu
+seinem Onkel fahren und ihm die Wirtschaft führen wollte, versprochen,
+es einmal in Hoboken zu besuchen. Das Versprechen mußte ich dem
+lieben Geschöpfchen doch auch einlösen, das gewiß schon auf meine
+Ankunft sehnlichst wartete. Ich meldete mich wohlweislich nicht an.
+Vermutlich war dann der Onkel nicht zu Hause! Denn der interessierte
+mich weniger. So riskierte ich einen unerwarteten Besuch. Aber Strafe
+folgt der Missetat oft auf dem Fuße! Ich verfehlte zwar „sie“ nicht,
+aber gründlich zunächst die Palisade Avenue in Hoboken, wo sie wohnte.
+Als ich nämlich glücklich über dem Hudson<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> drüben war, fuhr ich mit
+der „<span class="antiqua">car</span>“<a id="FNAnker_10" href="#Fussnote_10" class="fnanchor">[10]</a> fröhlich nördlich fast eine Stunde gen Englewood
+ins frische grüne Land hinaus statt südwärts nach Hoboken, bis ich auf
+einmal Verdacht schöpfte und mich erkundigte. Da mußte ich zu meinem
+Schrecken hören, daß ich von meinem Ziel etwa zwölf Meilen entfernt
+war, aber derselben Avenue in Englewood recht nahe. So mußte ich den
+ganzen langen Weg wieder rückwärts nach Hoboken reisen, und kostbare
+Stunden des Nachmittags waren verstrichen. Aber es schadete nichts;
+ich hatte eine schöne Fahrt gemacht, an reizenden Landsitzen und
+leuchtenden Sommervillen hatte ich ein Stück „<span class="antiqua">country</span>“ gesehen.
+Wenn „sie“ nur da war! Und sie war es!</p>
+
+<p>Ich traf sie sehr hausfraulich in der Küche. Allein! Ihr Onkel hatte
+ihr zwar streng verboten, einen Fremden hereinzulassen. War ich ein
+Fremder? Sie bereitete dem gestrengen Herrn Onkel das Dinner, wenn er
+von der City mit dem „<span class="antiqua">ferry</span>“ heimkäme. Das mußte allerdings
+bald sein. Aber er kam glücklicherweise noch nicht so bald. Arglos und
+fröhlich, wie es ihre Art war, zeigte sie mir unterdessen die ganze
+Villa des Onkels von außen und von innen, von oben und von unten,
+während ich stets ein bißchen ängstlich lauschte, ob man schon die
+Tritte des Herrn Onkels höre. Als wir nach der Hausbesichtigung wieder
+in der Küche angelangt waren — schon damit auch der Braten ja nicht
+anbrenne — und noch eine gute Weile geplaudert hatten, hielt ich
+es für diesmal geraten, mich zu entfernen. Wer konnte wissen, wann
+der Herr Onkel erschien und was er sagen würde, und würde nicht auch
+<em class="gesperrt">meine</em> Tante zürnen, wenn <em class="gesperrt">ich</em> zu spät zum Essen zu ihr
+kam? Und mit ihr durfte ich es doch, solange ich in Neuyork weilte,
+keinesfalls verderben. Als ich schied, brachte sie mich bis ans
+Gartenpförtchen. Wollte sie sehen, ob der Onkel schon kam? Oder ...
+Das gute Geschöpf hatte von Neuyork noch gar nichts zu sehen bekommen,
+und wie hatte sie aufhorchend meinen Schilderungen und Erlebnissen
+gelauscht! Aber der Onkel hatte gesagt, Neuyork wäre<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> nichts für junge
+Mädchen! Sie sah mir lange nach. Ich glaube gar, ein kleines Tränchen
+hing in ihrem Auge ... Sie sollte sich ja in Amerika gut verheiraten,
+hatte ihre Mutter gesagt. Gewiß hat sie einen viel besseren als mich
+bekommen!&#160;—</p>
+
+<p>Auch den Norden der Stadt durchwanderte ich in der Richtung nach Bronx,
+an den Harlem River und auf seine Höhen. Der Harlem River verbindet
+den East River mit dem Hudson, so daß strenggenommen der Hauptteil
+Neuyorks auf einer langgestreckten Insel liegt. Ganz im Norden fand ich
+noch Reste ursprünglichen Waldgebietes mit einer geradezu subtropisch
+üppigen Vegetation. Man darf ja nicht übersehen, daß Neuyork auf der
+geographischen Breite von Neapel (!) liegt, wenn auch sein Klima
+im ganzen kühler ist als das Süditaliens. Am Fort George, das ich
+nach mehrstündiger Fußwanderung erreichte, war ich erstaunt über die
+sonnigen dichtbewachsenen grünen Hügelreihen, die trotz des zu Ende
+gehenden September noch viel üppigeres und frischeres Laub zeigten
+als bei uns in der gleichen Jahreszeit. Von den „Washington Heights“
+hatte man einen geradezu herrlichen Blick auf die „Palisaden“, d.&#8239;h.
+die felsigen Ufer des waldumsäumten breiten Hudsonflusses, der an
+manchen Stellen mit unserem Rhein an Schönheit wohl wetteifern kann.
+Freilich fehlen ihm die malerischen Burgruinen und des Rheins ganze
+romantisch-geschichtliche Vergangenheit.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_068">
+ <img class="w100" src="images/illu_068.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NEW YORK<br>
+ Das „Palisaden“-Ufer am Hudsonfluß
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_068_gross.jpg"
+ id="illu_068_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_069">
+ <img class="w100" src="images/illu_069.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NEW YORK<br>
+ City hall (Rathaus)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_069_gross.jpg"
+ id="illu_069_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Neben der Natur zog mich auch immer der Stadt volles Leben an, so auch
+die Theater! Ich sah den „Parsifal“ im <span class="antiqua">Metropolitan opera house</span>
+deutsch. Ich saß in Kinos und kleinen Theatern der Italiener und Juden.
+Höchst volkstümlich und derb! Wieviel wäre zu erzählen vom Sport,
+von städtischer Verwaltung und Verfassung, vom Militär, zu dessen
+Eintritt auf vielen verlockenden Plakaten ständig geworben wird, von
+der Polizei, von der berühmten Neuyorker Feuerwehr, von den Schulen,
+den glänzend ausgestatteten, öffentlichen Bibliotheken und den 1100
+(!) Kirchen der verschiedensten Denominationen in der Riesenstadt, den
+Hospitälern und Friedhöfen. Aber ich bin kein wandelnder Reiseführer.
+So habe ich auch keineswegs alle die einzelnen großen Banken und
+Börsen, alle die staatlichen Ämter, die großen<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> Plätze und Denkmäler
+aufgesucht, noch will ich sie alle beschreiben. Ich habe nicht die
+Absicht, mit meinem persönlichen Reisetagebuch Bädeker, Führer und
+Karten überflüssig zu machen. Einiges davon hole ich bei anderer
+Gelegenheit nach.</p>
+
+<p>Aber ehe ich von Neuyork weiterreiste, erlebte ich noch den Anfang
+einer phänomenalen Jahrhundertfeier in Erinnerung an Hudsons und
+Fultons erste Fahrten. Alle Bekannten und Verwandten in Neuyork hatten
+mich schon immer beschworen, die müsse ich unbedingt noch mitmachen,
+sie sei das „Ereignis“ dieses Jahres. Also war ich aufs äußerste
+gespannt und lief sogar Gefahr, das andere „phänomenale Ereignis“
+in Boston zu versäumen, das ich auch unbedingt mitmachen mußte,
+nämlich die feierliche Einführung des auf Lebenszeit neugewählten
+Universitätspräsidenten von Harvard, eine Feier, der man in manchen
+Kreisen mehr Bedeutung beimaß als dem Einsatz des Unionspräsidenten in
+Washington! So war ich auch darauf aufs äußerste gespannt, denn mein
+akademisches Fühlen war trotz meiner fortgeschrittenen Semester noch
+sehr lebendig.</p>
+
+<p>Am letzten Sonnabend des September begannen die
+Jahrhundertfestlichkeiten und dauerten vierzehn Tage bis in den
+Oktober. Alles zur Erinnerung der beiden großen Seehelden, des Henrik
+Hudson, der vor 300 Jahren den Hudson auf seinem „<span class="antiqua">Half-moon</span>“<a id="FNAnker_11" href="#Fussnote_11" class="fnanchor">[11]</a>
+entdeckte, und des Robert Fulton, der ihn mit dem ersten
+<em class="gesperrt">Dampfschiff</em> „Clermont“ befuhr. Vorgesehen waren Gottesdienste —
+die in Amerika bei öffentlichen Feiern nie fehlen! —, Flottenparaden
+aller Länder, Riesenfeuerwerk, fünf Denkmalsenthüllungen,
+Opernvorstellungen, Parkeröffnungen, große Sportveranstaltungen,
+glänzende Bankette, Truppenparaden, Kinderfeste, wetturnerische
+Vorführungen, „Karnival“ genannt (!), Massenausflüge den Hudson hinauf
+u.&#8239;dgl. Also ein Heidenrummel!</p>
+
+<p>Tatsächlich strömte schon am ersten Festsonntag eine wahrhaft
+ungeheure, nach Hunderttausenden zählende Menschenmenge auf dem<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span>
+Riverside-Drive am Hudsonufer zusammen. Herrlicher blendender
+Sonnenschein lag auf Stadt und Strom. Tausende von Ansichtskarten-,
+Album-, Bild- und Fähnchenhändlern bearbeiteten das Publikum ständig
+mit allen Mitteln ihrer Rhetorik. Nur <em class="gesperrt">zwei</em> Worte schwirrten
+noch in tausendfacher Variation an allen Orten, in allen Tonlagen und
+Stimmungen, anpreisend, schreiend, rufend, schnarrend ans Ohr bei drei-
+bis vierstündigem Stehen auf einem Fleck, zwischen Menschenmauern
+eingekeilt: „Hudson-Fulton, Hudson-Fulton, Hudson-Fulton“!</p>
+
+<p>Alle Nationen der Welt hatten Kriegsschiffe zur Feier abgeordnet.
+Auf dem Hudson lagen sie in langer Reihe friedlich nebeneinander,
+die braunschwarzen Dreadnoughts und Kreuzer Englands, Frankreichs,
+Deutschlands, Italiens, Japans usw. Wie Lämmer bei Löwen und
+Tigern. Was sind doch alle internationalen Höflichkeitsbesuche
+und Vereinigungen anders als Schein und Heuchelei? Zwischen den
+großen schossen kleine Boote hin und her, die Ferries heulten und
+tuteten unablässig. Von halb elf Uhr ab — um elf Uhr sollten die
+Feierlichkeiten beginnen — hatte ich wartend und völlig eingekeilt
+mit hungrigem Magen bis halb vier Uhr nachmittags auf demselben Fleck
+gestanden, ohne mich auch nur einen Fußbreit vor-, rück- oder seitwärts
+bewegen zu können. Endlich um drei Uhr nachmittags begann der Auftakt
+der Flottenparade. Ich dachte, nun würde sich wohl die ganze stolze
+internationale Kriegsflotte rauchend und fauchend in Bewegung setzen
+und allerlei erstaunliche Manöverbewegungen auf dem Hudson ausführen,
+aber sie blieben alle unbeweglich und wie angenagelt auf ihrem Flecke
+liegen und fingen nur alle miteinander an, greulich zu schießen und zu
+donnern, daß man jedesmal nur so zusammenfuhr, wenn ein Feuerstrom, den
+man zuerst sah, aus ihren Mündungen gerade auf uns herüber zuschoß ...
+Dann hallte der Donner lange nach. Schließlich erschien aus Rauch und
+ohrenbetäubendem Gedröhn eine nicht sehr imponierende Festflottille
+von kleineren und einigen größeren Booten, die die neuerbauten
+Nachahmungstypen des alten Hudsonseglers „Halfmoon“ mit seinen hohen
+Schnäbeln und das noch kleinere Fultondampfschiff „Clermont“ mit
+seinen hohen Schaufelrädern und seiner wie ein<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Gänsehals hohen und
+unförmigen Esse feierlich geleiteten. Die Hunderttausende am Ufer
+brachen in einen nicht endenwollenden Jubel aus, als die rührend
+kleinen und reichlich unbeholfenen Schiffchen an den dröhnenden und
+feuerspeienden Riesen der fremden Kriegsschiffe vorüberglitten ... In
+der Tat, in einem Jahrhundert welche Entwicklung seit Fulton bis zu
+den modernen Ozeandampfern von 55&#8239;000 Tonnen und gar bis zum <span class="antiqua">Z. R.
+III</span> und seinem Siegesflug! Und seit Hudson, der mit den Indianern
+über den Kauf Manhattans verhandelte, welche Geschichte in diesem
+Lande! Als die Schiffchen vorübergeglitten waren, verlief sich die
+nach Hunderttausenden zählende Menge, denn wohl nicht nur mein Magen
+und meine Füße revoltierten energisch. Man war richtig steckesteif
+geworden. Gehen war ein Genuß.</p>
+
+<p>Abends wurde dann noch ein riesiges Feuerwerk abgebrannt. Von
+den Palisaden herüber warfen mächtige Scheinwerfer ihre riesigen
+Lichtstrahlen über die Stadt. Und nach einem Kanonenschuß erglühten
+die Konturen sämtlicher Kriegsschiffe auf dem Hudson bis an die Masten
+und Schornsteine mit Tausenden von elektrischen Birnen — wirklich ein
+märchenhafter Anblick. Aber das Abendrot des nächsten Sonnenunterganges
+dünkte mich doch noch großartiger ... Das war mein Abschied von der
+Riesenweltstadt&#160;.....</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_3" href="#FNAnker_3" class="label">[3]</a> Transportgesellschaft.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_4" href="#FNAnker_4" class="label">[4]</a> Aus: Die Neue Welt, eine Anthologie jüngster
+amerikanischer Lyrik, herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag,
+Berlin. 1921. S. 75.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_5" href="#FNAnker_5" class="label">[5]</a> Untergrundbahn.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_6" href="#FNAnker_6" class="label">[6]</a> Aus: Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer
+Lyrik. Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921,
+S. 30.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_7" href="#FNAnker_7" class="label">[7]</a> Sie hat wohl ihren Namen daher, daß einst nur bis dahin
+von der Battery sich die Stadt erstreckte, ¹⁄₁₀₀ ihrer heutigen Länge!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_8" href="#FNAnker_8" class="label">[8]</a> Neuyork zählt ja auch mehrere Hunderttausende Juden!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_9" href="#FNAnker_9" class="label">[9]</a> Erbaut 1870-83.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_10" href="#FNAnker_10" class="label">[10]</a> Straßenbahn.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_11" href="#FNAnker_11" class="label">[11]</a> Halbmond.</p>
+
+</div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Boston">Boston.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Am nächsten Morgen schon führte mich vom „Grand-Zentral-Depot“ der
+Expreß nach Nordosten. Aber vorher gab es erst noch einen kleinen
+Anstand, denn das Reisen, erst recht in fremden Ländern, hat nun
+einmal seine Tücken. Obwohl 14 Tage seit meiner Landung in Hoboken
+vergangen waren, hatte die Transfer-Company, der ich vertrauensvoll
+meinen Gepäckschein übergeben hatte, mir noch immer nicht meinen großen
+grünen Koffer, der doch mit soviel gelehrten Büchern vollgeladen war
+und in den Gepäckhallen der Hapag in Hamburg mich so kameradschaftlich
+getröstet hatte, von Hoboken herübergebracht. So blieb mir nichts
+anderes übrig, als das schwer fortbewegliche und vollgefüllte und immer
+mit Zerfall und schnellem Abgang drohende Ungetüm<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> selbst zu holen.
+Vielleicht wartete es auf diesen Freundschaftsdienst. Was das nach
+Gewicht und bei entsprechender Sommerhitze aber für mich bedeutete,
+mag sich der Leser selbst etwas ausmalen. Aber „selbst ist der Mann!“
+ist ja gerade echt amerikanischer Grundsatz. Danach handelte ich
+entschlossen&#160;...</p>
+
+<p>Um acht Uhr früh ging mein Zug. In äußerst praktischer Weise
+bevorzugen nämlich die amerikanischen Bahnen fast stets glatte, runde
+Abgangszeiten, also 8, 8³⁰, 9, 9¹⁵ Uhr usw. Krumme und ungerade
+Minutenzahlen trifft man selten. Auf der Bahn machte ich wieder
+allerlei neue Beobachtungen. Die Bahnhöfe sind praktisch, aber nicht
+immer groß. Eigentliche große Warteräume mit Restaurationsbetrieb
+existieren fast gar nicht, sondern nur offene Wartehallen mit einem
+besonders abgeschlossenen „<span class="antiqua">ladies-</span>“ und „<span class="antiqua">smoking-room</span>“,
+der recht primitiv sein kann. Die Bahnsteige sind schmal, die
+Fahrkarten oft winzig, meist ohne Angabe des Fahrpreises! Der
+Einfachheit halber steckt man die Karte in das Hutband an den Hut,
+von wo sie der den Zug kontrollierende Schaffner abnimmt und während
+der Fahrt mehrfach kupiert. Bahnsteigsperre gibt es nicht. Der
+Bahnkilometer ist drüben wie vieles teurer als bei uns, er kostet etwa
+7½ Pfennig! Fast nach jedem größeren Haltepunkte geht der Schaffner
+aufs neue durch die <span class="antiqua">D</span>-Wagen und knipst <em class="gesperrt">sämtliche</em>
+Fahrkarten, so daß sie zuletzt mehr Löcher als Papier haben!</p>
+
+<p>Demokratisch wie die Straßenbahn ist auch die Eisenbahn; sie kennt
+nur <em class="gesperrt">eine</em> (gepolsterte) Klasse in <span class="antiqua">D</span>-Zugform, aber ohne
+Abteileinteilung. Der Ausstattung nach ist sie etwa wie bei uns II.
+Klasse, aber oft ebenso schmutzig wie es die Bahn noch bis vor kurzem
+in Italien war. Papier, Obstschalen, Zeitungen wird alles einfach
+wie aus der Hochbahn an den Boden geworfen! Die Bahnen sind sämtlich
+Privatbesitz und machen sich gegenseitig tüchtig Konkurrenz. Oft fahren
+zwei Linien, die von verschiedenen Gesellschaften gebaut sind und
+betrieben werden, dicht nebeneinander vom selben Ort zum selben Ziel!
+Sie suchen sich gegenseitig durch größere oder mindere Schnelligkeit
+und Zugsicherheit (aber ohne kostspielige Bahnwärter<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> und Schranken!),
+Ausstattung der Wagen u.&#8239;ä. den Rang abzulaufen. Der sich entwickelnde
+Ruß und die umherfliegende Asche der Lokomotiven ist höchst unangenehm.
+Die Wagenfenster sind daher kaum zu öffnen. An Wegkreuzungen ertönen
+Signale der Maschine. Die Landstraße hat nur ein Warnungsschild:
+„<span class="antiqua">Look out for the engine!</span>“<a id="FNAnker_12" href="#Fussnote_12" class="fnanchor">[12]</a> Jeder hat also auf sich selbst
+aufzupassen, daß er nicht überfahren wird; niemand wird sein Leben
+garantiert. Die Schnelligkeit ist im allgemeinen gut, die Wagen sind
+sehr fest aus Eisen gebaut und auf Zusammenstöße eingerichtet, aber
+der Unglücksfälle sind es wegen mangelnder Aufsicht und beschränktem
+Personal auch dreimal soviele als bei uns! Was macht das? Leben gilt
+nichts. Ohne Umstand fährt der Zug ein und aus nach dem Rufe: „<span class="antiqua">All
+aboard!</span>“ Jeder hat selbst dafür zu sorgen, daß er richtig in den
+Zug hineinkommt und das Abfahren nicht verpaßt, sintemal das Trittbrett
+sehr hoch ist. Schilder ihrer Bestimmung tragen die Wagen nicht.
+Glücklicherweise saß ich nicht in einem Wagen, der unterwegs abgehängt
+wurde ...!</p>
+
+<p>Also fuhr ich zum ersten Male in einem amerikanischen Eisenbahnzug.</p>
+
+<p>Lange noch ging es durch die Häuserblocks Neuyorks. Noch einmal
+hielten wir an der 125. Straße, dann erschienen rechts die Wälder
+des Bronxparkes über dem Harlem River. Reizende Blicke öffneten sich
+rechts nach dem Long-Island-Sund mit seinen blauen Linien des Ozeans
+am Horizont. Das Land war rings übersät von zierlichen, luftigen
+Holzvillen der amerikanischen Bauart, dazwischen gab es aber auch
+wüste, unangebaute Strecken, kleine schlechte Fahrwege, viel Unordnung.
+Das Land erscheint, wie Lamprecht bemerkt hat, immer noch reichlich
+unfertig. Alles erweckt den Eindruck schneller und planloser Bebauung
+ohne Überblick und Zusammenhang. Hier baute sich eben jeder an, wo es
+ihm gerade beliebte, und rodete soviel als er vermochte. Das andere
+blieb, wie es war. Wie würde es erst im Westen aussehen, wenn schon der
+kultivierte Osten so ungeordnet und wild aussah?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span></p>
+
+<p>Am Long-Island-Sund liegen große Industrieorte, wie Bridgeport
+und Newhaven. Im letzteren ist der Sitz der altberühmten
+„Yale-Universität“, der alten gefeierten Konkurrentin Harvards. Golden
+strahlte aus der Stadt die Kuppel des Stadtkapitols, da alle an Größe
+und Stil gern mit dem großen „Kapitol“ in Washington eifern möchten.</p>
+
+<p>Von Newhaven ging es nordwärts nach dem rauchigen Hartford.
+Obwohl wir hier durch dichtbesiedelte Gegenden fuhren, reicht die
+Bevölkerungsdichte auch nicht entfernt an die unserer europäischen
+Industriebezirke an der Ruhr, in Belgien, um Chemnitz oder Manchester
+heran. Nach den beiden letzten Städten nennt sich die Eisenbahnlinie,
+mit der ich fuhr: „<span class="antiqua">New York, New Haven and Hartford Railroad</span>.“</p>
+
+<p>Hinter Hartford lenkten wir östlich in die prächtige hügelige und
+romantische Landschaft Connecticuts: Wälder, Berge, Sümpfe, kleine
+Teiche, pfadloses Gestrüpp, wohin man sah. Hier wäre ich gern einmal
+ausgestiegen und planlos gewandert. Aber der Zug fuhr unentwegt weiter
+und hatte für solche unnützen Landbummler keine Haltestelle. Das
+Wandern durch die Natur und das Steigen auf die Berge ist überhaupt in
+Amerika noch wenig üblich. Dazu sind die Entfernungen auch meist zu
+groß, der Wege zu wenig, die Sonntage zu heilig und ein Rucksack drüben
+— zu lächerlich! Die Farmen Connecticuts, an denen wir vorbeisausten,
+waren eingebettet in den prächtigsten Herbstschmuck. Hin und wieder sah
+ich äußerst anheimelnde Landhäuser und gemütvoll weidende Rinderherden.
+Sonst nur weglose und ungepflegte Wälder. Üppig und ungehemmt schießt
+und sprießt es überall aus dem noch nie gepflügten oder gerodeten
+Boden. Wie kahl und arm sind dagegen oft unsere allzu wohlgeordneten
+Waldungen.</p>
+
+<p>Einige Male hielten wir auf kleineren Stationen (Willimantic, Pomfret,
+Putnam) in fast unbewohnter Gegend. Seit Hartford hatte sich überdies
+unser Zug recht geleert. So saß man gemütlich auf den Polstern, und
+es ermüdete mich nicht im geringsten, stundenlang unverwandt das Land
+des neuen Erdteiles in mich aufzunehmen. Und<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> hätte man Langweile
+gehabt, so hätte sie einem der <span class="antiqua">boy</span> vertrieben, der ständig in
+jedem Zug alle möglichen und die unmöglichsten Dinge anzubieten pflegt:
+Glacéhandschuhe, Bilder, Karten, Schokolade, Reiseführer, Zeitungen,
+Bücher u.&#8239;dgl.</p>
+
+<p>Gegen zwei Uhr nachmittags nach fast sechsstündiger Schnellzugsfahrt
+(man vergleiche aber die kurze Entfernung auf einer Karte der ganzen
+Union!) näherten wir uns Boston, dem altenglischen Kulturzentrum,
+der Stadt, in der die geistig feinsten und aristokratischsten Leute
+Amerikas wohnen, wie man allgemein in Amerika zugesteht. Boston ist der
+Sitz der feinen Bildung und Sitte. Sogar die Aussprache ist dort nicht
+ganz so dumpf wie sonst, sondern sucht sich der helltönenderen der
+Engländer anzupassen.</p>
+
+<p>Seit Blackstone rasten wir ungehemmt durch die Ebene. Dann ging es
+durch die Vorstädte Bostons. „Black Bay Station“ — und nach wenigen
+Minuten waren wir in der breiten rußigen „South Union Station“. Trotz
+ihrer 16 Einfahrtsgleise hatte sie nichts Imponierendes.</p>
+
+<p>Es regnete!&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Boston erscheint trotz seiner über eine halbe Million zählenden
+Einwohner klein, wenn man aus Neuyork kommt. Ende des 18. Jahrhunderts,
+zur Zeit der Unabhängigkeitskämpfe, war Boston die volkreichste
+und auch die politisch führende Stadt der Union. Schon 1630 hatten
+sich hier die ersten englischen Kolonisten im benachbarten kleinen
+Salem angesiedelt, während Neuyork noch „Neu-Amsterdam“ hieß und
+kaum 100 Holländer beherbergte (s. <a href="#Seite_51">S. 51</a>)! 1770 begannen hier die
+Freiheitskämpfe mit dem sog. „Bostoner Blutbad“, in dem einige Bostoner
+von britischen Soldaten, die sie herausgefordert hatten, getötet
+wurden. Das war bei dem noch heute stehenden „Old State House“ mit
+dem noch heute dort befindlichen britischen Löwen und Einhorn auf dem
+Dach. 1773 warfen Bostoner, als Indianer verkleidet, eine englische
+Teeladung, die trotz der „Nichteinfuhrakte“ importiert werden sollte,
+kurzerhand ins Meer, nachdem man sich in der Old South Church, die
+ebenfalls noch steht, versammelt hatte! Die Stelle dieser berühmten
+„<span class="antiqua">Tea-party</span>“ ist am Kai bezeichnet. Britische Truppen<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> besetzten
+nun nach dieser Auflehnung die Stadt, aber General Washington
+überschritt bald den Charles River, der an Boston breit wie ein
+Meeresarm vorbeifließt, und befreite die Stadt 1776 aus den englischen
+Händen. Diese ganze Gründungsgeschichte der Union hat sich hier in
+Boston abgespielt! So ist es der historischste Boden des ganzen Landes
+und so erinnert es mit seinen alten efeuumsponnenen Kirchen in der City
+und der ehrwürdigen „Faneuil Hall“ und seinen krummen, engen Straßen in
+der inneren Stadt noch am ehesten an Europa.</p>
+
+<p>Boston ist aber auch das amerikanische „Athen“. Nicht weit von Boston,
+in <em class="gesperrt">Concord</em> und Cambridge, lebten und wirkten ein Hawthorne,
+Emerson, Longfellow, Lowell und Agassiz. Auch ein Benjamin Franklin,
+der Erfinder des Blitzableiters, ist in Boston geboren und begraben.
+Und dicht vor Bostons Toren, in Cambridge, liegt noch heute die älteste
+und tüchtigste Universität Amerikas, das Harvard College. Bostons
+Mittelpunkt ist der „Common“, ein zentral gelegener, sympathisch
+wirkender, nicht allzu großer Stadtpark, der stattlich zum Hügel des
+State House (Kapitol) mit seiner weithin leuchtenden vergoldeten
+Kuppel emporsteigt. Das State House (Regierungsgebäude) enthält
+prächtige Innenräume, vornehme Hallen, die in großen Wandgemälden die
+geschichtlich wichtigen Augenblicke aus dem letzten Drittel des 18.
+Jahrhunderts festhalten.</p>
+
+<p>Der unstreitig prächtigste Platz der Stadt aber ist der dem
+Charles River nahegelegene sog. „Copley Square“, den nicht weniger
+als vier ansehnliche und bedeutsame Gebäude zieren: zwei der
+schönsten und stilvollsten Kirchen des Landes, die romanische
+„Trinity Church“ der englischen Hochkirche und die in stilvoller
+italienischer Frührenaissance erbaute „New Old South Church“ der
+Kongregationalisten. Weiter säumt den Platz das <span class="antiqua">Museum of fine
+arts</span>, in der Hauptsache eine Gemäldegalerie. In ihr fand
+eine eigenartige Ausstellung statt, die dartun sollte, was für
+Kultur- und Sozialprojekte in 5 Jahren in der Welt und in Amerika
+im besonderen verwirklicht sein würden! Nur vergaß die damalige
+rührige und prophetische Ausstellungsleitung zu weissagen, daß die
+Welt vor allem das Kulturprojekt des Krieges<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> aller gegen alle
+verwirklichte und gerade das kulturfortschrittliche Amerika zuletzt
+in diesem kulturfördernden Reigen sogar den Ausschlag geben würde!
+Endlich steht dort am Copley Square, wie sie sich rühmt, die größte
+Volksbibliothek der Welt, „<span class="antiqua">the public library</span>“, in weißem Marmor
+mit unübertrefflich prächtigen Lesesälen — auch einer besonders
+für Kinder! — und überraschenden Einrichtungen für schnellste
+Herbeischaffung jedes gewünschten Buches binnen wenigen Minuten! Ich
+habe dort allerdings den Eindruck gewonnen, daß der einfache Amerikaner
+bildungs- und lesehungriger ist als der gleichgestellte Deutsche. So
+ist auch die Zahl der trefflichen „<span class="antiqua">magazines</span>“, d.&#8239;h. der guten
+illustrierten Wochen- und Monatszeitschriften, die vielmehr als die auf
+den Augenblick berechneten Tageszeitungen den Leser wissenschaftlich
+über alle wichtigen Dinge verständlich auf dem laufenden halten,
+unübersehbar groß und reich.</p>
+
+<p>Um die Innenstadt Bostons mit ihren belebten und — verglichen mit
+Neuyork — zum Teil engen Geschäftsstraßen legen sich die feinen
+Wohnviertel, so die „Commonwealth Avenue“ und „Boylston Street“ und
+weiter hinaus umfangreiche Vorstädte, die sich zuletzt in reizende
+Landhauskolonien auflösen. Weite Parkgebiete sind überall dazwischen
+von der Bebauung freigelassen. In weitem Bogen umsäumen liebliche
+und aussichtsreiche Hügelreihen die Stadt in der Ferne wie die „Blue
+hills“, die „Arlington Heights“ u.&#8239;a.</p>
+
+<p>Am Bostoner Hafen ist’s freilich wie überall in Amerika düster und
+schmutzig. Reizvolle Städtefronten am Wasser anzulegen, versteht der
+Amerikaner offenbar noch nicht. Dazu ist der Sinn all die Jahrzehnte
+hindurch viel zu sehr aufs rein Praktische und Kommerzielle gerichtet
+gewesen. Wenn das Land auch, wie ich es einmal in einem Vortrag des
+greisen Harvardpräsidenten <span class="antiqua">Dr.</span> Eliot treffend ausführen hörte,
+über „politische Sicherheit, materiellen Reichtum und moralischen
+Fortschritt“ verfügt, so aber nicht über den Sinn für Beschaulichkeit
+und ästhetische Lebensgestaltung. Hier war noch nicht Kulturgeschichte,
+hier will sie erst werden. Hier war bis jetzt, die Neuenglandstaaten
+ausgenommen, im allgemeinen nur Geschichte des Handels und des
+politischen<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Aufschwungs. Freilich fiel das Riesenland der einst jungen
+und kleinen Union, die zuerst über nicht viel mehr als die schmalen
+Randstaaten des Ostens am Atlantischen Ozean verfügte, ziemlich
+mühelos in den Schoß, und unerschöpflich sind heute das Land, seine
+Bodenschätze, seine Hilfsquellen und Entwicklungsmöglichkeiten.&#160;—</p>
+
+<p>Da ich mich lange in Boston und dem nahen Cambridge aufgehalten habe,
+hatte ich Muße genug, mich, soweit möglich, auch um das <em class="gesperrt">geistige
+Leben</em> und die geistigen Fragen zu kümmern. So ging ich nach und
+nach fast auch zu allen wichtigeren <em class="gesperrt">kirchlichen</em> Denominationen
+und <em class="gesperrt">religiösen</em> Gemeinschaften, denn sie spielen in Amerika
+eine sehr ausschlaggebende Rolle. Es sind ihrer wohl an 200, deren
+jede frei ihrer Überzeugung lebt und ihr Bestes zu geben sucht.
+Vollkommene religiöse Toleranz hat zuerst Amerika in der Welt praktisch
+durchgeführt! Alle Religionsverfolgten Europas, von den englischen
+Puritanern angefangen, die 1620 mit der „Mayflower“ hinüberkamen,
+fanden hier eine gastliche Freistatt. Von Anfang an war hier Staat und
+Kirche getrennt. Die Kirchen verwalteten als freie religiöse Vereine
+und Genossenschaften sich stets vollkommen selbständig und hatten auch
+für ihre Existenz und ihre Bedürfnisse allein aufzukommen. So lernte
+der Amerikaner von Anfang an andere Überzeugungen achten und für die
+eigenen opfern.</p>
+
+<p>Ein <em class="gesperrt">Sonntag</em> in Amerika verläuft anders als bei uns. Am
+Sonntagmorgen liegt über der großen, werktags so rastlosen Stadt mit
+ihren Hochbahnen, Straßen- und Untergrundbahnen eine ungewohnte Stille.
+Nur das nie ruhende Meer wirft seinen weißen Schaum wie immer an die
+Uferdämme. Die wohlverankerten Boote schaukeln ein wenig hin und her,
+aber die Kais sind menschenleer. Die Straßenbahnen fahren selten. Nur
+die Schuhputzer haben wie immer zu tun. Hoch auf den Stiefelthronen
+sitzt heute auch der einfachste Kunde, und der Italiener oder Grieche
+fährt mit wohlgeübten Handgriffen mit mehreren Bürsten zugleich
+über die Schuhe, bis sie blank sind, daß man sich fast darin sehen
+kann. Alle großen Geschäfte, die menschenwimmelnden Warenhäuser, die
+Banken, alle Theater und die meisten<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> Restaurants, in denen in der
+Woche Hunderte ihren Lunch einnehmen, sind geschlossen. Die großen
+Geschäftsstraßen, in denen gestern Abend noch Tausende im Schimmer
+der aufblitzenden und wieder erlöschenden Reklameschilder hin und her
+eilten, sind wie ausgestorben. Es ist der „Sabbat des Herrn“, der Tag
+absoluter Ruhe, an dem sogar auf manchen Eisenbahnstrecken kein Zug
+fährt und manche Bahnhöfe einfach verschlossen sind!</p>
+
+<p>Der Vormittag schreitet voran. Etwa um halb elf Uhr ertönen die ersten
+Glockenschläge, leise, fein und melodisch in rhythmischen Pausen. Kein
+weithin schallendes, ehern schwingendes Geläute ist es wie bei uns. Die
+meisten Gottesdienste in den Kirchen beginnen erst um elf Uhr. Da und
+dort sieht man Menschen den Kirchen zustreben, die meist weit kleiner
+als bei uns sind, versteckt und efeuumsponnen mit zierlichem Turm sich
+wenig oder gar nicht über die hohen, Geschäfts-, Wohn- und Logierhäuser
+hervorheben, ja manchmal wie Old Trinity in Neuyork ganz zwischen
+ihnen verschwinden. Wir studieren den sehr reichhaltigen und überaus
+mannigfaltigen Kirchenzettel der großen Zeitungen, reichhaltig durch
+die Unmenge der Denominationen, mannigfaltig auch durch die seltsamen
+Anzeigen der Predigtthemen und der im Gottesdienst stattfindenden
+Musikdarbietungen! Beides soll im besonderen Maße Hörer und Besucher
+anlocken und etwa andere „Konkurrenz“-Kirchen ausstechen. Liest man die
+lange Reihe durch: „Baptisten, Kongregationalisten, Christian Science,
+Episkopalisten, Quäker, bischöfliche Methodisten, Swedenborgianer,
+Spiritualisten, Presbyterianer, Unitarier, <span class="antiqua">New thought</span>,
+Theosophen, ‚<span class="antiqua">church of higher life</span>‘, Universalisten, Lutheraner,
+Heilsarmee,“ so hat man die Wahl. Sie alle sind geschichtlich
+begründet, manche, wie Christian Science, New thought u.&#8239;a., sind
+erst jüngeren und jüngsten Datums. Bald waren es Unterschiede der
+Verfassung (Bischöfliche oder Episkopalisten, Presbyterianer oder
+mit Ältestenverfassung, Kongregationalisten oder solche, die auf
+Souveränität und Selbständigkeit der Einzelgemeinde pochen), bald waren
+es solche des Glaubens: Der Baptismus verwirft die Kindertaufe, der
+Methodismus fordert persönliche Bekehrung, die<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> Quäker verwerfen ein
+berufsmäßiges Predigtamt. Die Lutheraner sind meist Deutsche, Schweden,
+Dänen oder Finnen. Die <span class="antiqua">episcopal church</span> ist der Rest der einst
+hier herrschenden englischen Staatskirche, noch heute die Kirche der
+vornehmen und vornehm sein wollenden Leute. Die „Unitarier“ sind im
+Anfang des 19. Jahrhunderts als Protest gegen die Dreieinigkeitslehre
+des Christentums entstanden. Die „<span class="antiqua">Christian Science</span>“ ist auch
+in Deutschland als Sekte der „Gesundbeter“ bekannt geworden. Die
+Swedenborgianer sind Anhänger des schwedischen mystisch-religiösen
+Philosophen Emmanuel Swedenborg. Führend im religiösen Volksleben
+scheinen im allgemeinen die Methodisten und Baptisten zu sein, in
+Neu-England mehr die Kongregationalisten, dazu kommt die englische
+Hochkirche unter den Reichen und unter den Deutschamerikanern die
+Lutheraner. Aber auch die meisten von ihnen teilen sich wieder in
+die verschiedensten Teilkirchen; auch die Baptisten und Methodisten
+sind mehrfach gespalten. Doch geht im ganzen durch das amerikanische
+Kirchenwesen heute durchaus ein Zug zur Einigung, vor allem auf
+sozialem und sittlichem Gebiete. So haben die Kirchen erst jüngst den
+Feldzug gegen den Alkohol gewonnen, wie sie einst ihr gewichtiges Wort
+gegen die Sklaven erhoben haben. Den praktisch-ethischen Fragen des
+Volkslebens mißt man drüben ein ganz anderes Gewicht in der Kirche bei
+als bei uns, während in Deutschland in der Vergangenheit sich alles
+in Glaubenskämpfen zerfleischte. Neben all diesen protestantischen
+Denominationen steht und wächst dank der jüngsten romanischen und
+östlichen Einwanderung immer machtvoller auch die römisch-katholische
+Kirche. Ein Kardinal ist ein Amerikaner. Die katholische Kirche
+übertrifft die größten protestantischen Kirchen noch an Bekennerzahl.
+Und sie ist, wie überall, ganz einheitlich.</p>
+
+<p>Welchen Gottesdienst man aber auch besucht, die äußere Art desselben
+ist fast überall, abgesehen von den liturgisch reicheren Episkopalen
+und Lutheranern, sehr ähnlich oder gleich, selbst Swedenborgianer,
+Christian Science und Spiritualisten haben im allgemeinen denselben
+gottesdienstlichen Rahmen mit Lied, Gebet, Ansprache usw.<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> übernommen.
+Außen an der Kirche gibt meist schon ein großes Plakat deutlich
+Auskunft über Name und Art der Gemeinde, über ihre Veranstaltungen,
+über Wohnung und Sprechstunden des Predigers u.&#8239;dgl. In der Vorhalle
+findet man oft eine kleine Auslage von Büchern und Schriften, von
+denen die meisten unentgeltlich zur Verfügung stehen. Beim Eingang
+empfängt uns einer der Ältesten oder ein sog. „<span class="antiqua">usher</span>“, ein
+jüngerer Herr mit weißer Nelke im Knopfloch, der uns zu einem
+freien Sitzplatz geleitet. Die Kirchenbänke sind mit Polstern
+belegt, aus bequemen und wohlgeformten Holzwerk — nicht wie unsere
+jahrhundertalten steifen, harten Dorfkirchenbänke, von denen man oft
+mit Rückgrat- und Kreuzschmerzen aufsteht. In der Bank findet man
+Gesangbuch, Gebetbuch, ein Neues Testament, Schriften, ja wohl gar
+Fächer für die Damen bereitliegen! Also man liebt auch in der Kirche
+den Komfort und die Bequemlichkeit. Der Geistliche pflegt in einfachem
+schwarzen Rock ohne Talar an ein Sprechpult zu treten. Eigentliche
+Kanzeln haben nur die Katholiken, die Hochkirche und die Lutheraner.
+Auch ein Altar ist nur dort vorhanden. An dem Pulte wird gelesen,
+gebetet, gepredigt. Meist leitet guter Chorgesang den Gottesdienst
+ein. Dann spricht der Geistliche ein freies, längeres Gebet. An das
+Gebet schließt sich gewöhnlich eine Psalmenlesung, bei der Prediger
+und Gemeinde abwechselnd laut vorlesen. Ja, es kommt auch vor, daß
+ein Ältester oder sonst ein Laie die Schriftlesung hält. Danach erst
+setzt der Gemeindegesang ein, zu dem sich die Singenden von den Sitzen
+erheben! Frisch und rhythmisch, selten getragen, klingen die Choräle.
+Das <em class="gesperrt">ganze</em> Lied wird abgesungen, nicht nur etwa drei langatmige
+und langsam gespielte Strophen. Die Liedstrophen sind selbst kurz und
+knapp und entstammen <em class="gesperrt">neueren</em> religiösen Dichtern. Dem Liede
+folgt eine Solomusik und — nicht zu vergessen — das Kirchenopfer,
+das auf <em class="gesperrt">offenen</em> Tellern eingesammelt und zur Danksagung nach
+vorn an den Altartisch getragen wird. Ich sah auf den Opfertellern
+meist nur Silberstücke oder Dollarscheine! Von den Kollekten und
+Mitgliedsbeiträgen lebt ja die Gemeinde. Man weiß also rechnerisch,
+was man zu geben hat. Das Auftreten der Solosängerinnen<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> auf offener
+Predigttribüne im Angesicht der Gemeinde wirkt allerdings theatralisch
+und reichlich reklamehaft. Die kirchliche Predigt behandelt zeitgemäße
+Themata. Man liest sie in der Zeitung oft absichtlich eigenartig
+formuliert angezeigt: „Gott am Totenbett eines Sperlings.“ „Nach dem
+Tode — was dann?“ „Allein mit der Erinnerung.“ „Wie ein Mensch denkt.“
+„Das Leben mit Flügeln.“ „Die Augen des Arztes.“ „Die Bergvision.“
+„Christus und der Arbeiter.“ „Darwin und die Religion.“ „Das Göttliche
+der Selbstüberwindung“ usw. Die Prediger bevorzugen eine lebendige
+Sprechweise, anschauliche, aus dem Leben geschöpfte Darstellung voller
+Beispiele und praktischer Anwendung. Der amerikanische Prediger will in
+der Predigt packen, fesseln, werben und zur Tat veranlassen, weniger
+belehren, denn der Amerikaner bleibt Realist auch im Gottesdienst
+und läßt nie das wirkliche Leben aus dem Auge. So nehmen auch die
+Predigten Stellung zu allen Tagesfragen, den sozialen, politischen,
+gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ja sportlichen Ereignissen.
+Kein Thema ist verpönt. Gewandte Prediger genießen auch ein großes
+Ansehen. Teile ihrer Predigten drucken die Tageszeitungen ab und
+bringen — echt amerikanisch — ihr Bild dazu! Wenn auch nicht alle
+Amerikaner zu einer Kirche gehören, so doch alle, die irgendwie
+etwas gelten wollen und etwas sind. Es scheint mir drüben weniger
+Indifferenz und Abkehr von der Religion zu sein als in Europa trotz
+der starken wirtschaftlichen Interessen. Öffentliche Gebäude tragen
+sehr oft Bibelworte an der Stirnseite; keine öffentliche Feier beginnt
+ohne Gebet! Von der kirchlichen Regsamkeit mögen folgende Zahlen ein
+Bild geben: In Neuyork z.&#8239;B. sind die Baptisten allein mit 51, die
+Lutheraner mit 45, die Methodisten mit 63, die Presbyterianer mit 57,
+die Hochkirche mit 93 (!), die katholische mit über 100, die jüdische
+Religion mit 26 Synagogen vertreten, die kleineren Denominationen
+ungerechnet. Man zählt in der Union etwa 200&#8239;000 Kirchgemeinden mit
+etwa 150&#8239;000 Kirchen und etwa 50 Millionen Sitzen. Es könnte also jeder
+Amerikaner einmal jeden Sonntag — entweder morgens oder abends —
+einen Sitz in einer Kirche finden! Deutsche Großstadtgemeinden<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> haben
+oft 20-30 mal soviel Mitglieder als sie Kirchenplätze haben! Und doch
+sind die amerikanischen Kirchen eher besser besucht im Durchschnitt
+als die deutschen. Etwa 160&#8239;000 Geistliche — zehnmal mehr als das
+zwei Drittel so große Deutschland — unterhalten die amerikanischen
+Gemeinden nebst 200 eigenen theologischen Seminaren. Da die Kirchen
+keine Verbindung mit dem Staate haben, so gibt es in den Schulen
+keinen Religionsunterricht. Nach welcher Glaubensart sollte er auch
+erteilt werden? Nur Andachten mit Gebet und Bibellektion <em class="gesperrt">ohne</em>
+Erklärung durch den Schulleiter sind daselbst gestattet. Den Ersatz
+des Religionsunterrichts bilden die überaus rührigen amerikanischen
+Sonntagsschulen, die über elf Millionen Kinder durch über eine Million
+freiwillige Hilfslehrkräfte unterrichten! Ist der Gottesdienst aus,
+so sieht man am Ausgang, in der Vorhalle, in den Gemeinderäumen die
+Gemeindeglieder noch länger verweilen, sich begrüßen und wie eine
+große Familie zusammenstehen und ihre Gedanken austauschen. An dem
+allgemeinen „<span class="antiqua">shake-hands</span>“ beteiligt sich auch der Geistliche.
+Wie oft ist nach einem Gottesdienst, den ich besuchte, der Prediger
+auch auf mich zugeeilt, weil er in mir den Neuling erkannte und für
+<em class="gesperrt">seine</em> Gemeinde zu gewinnen hoffte! Das kirchliche Gemeindeleben
+ist allerorts mit seiner Geselligkeit und seinen Vortragsabenden,
+Vereinen und Veranstaltungen sehr rege und vielseitig entwickelt. Es
+kommt vor, daß Gemeinden eigene Turnhallen und Speiseräume, Lesezimmer,
+ja Schwimmbäder für ihre Jugend besitzen!</p>
+
+<p>Der Sonntagnachmittag verläuft ebenso still auch an den
+schönsten Sommernachmittagen wie der Vormittag. Der ganze
+deutsche Vergnügungsrummel samt Ausflugsverkehr, Tanzboden und
+Im-Gasthaus-sitzen ist drüben unbekannt. Auch Fußball, Tennis,
+<span class="antiqua">base-ball</span>, die sonst so leidenschaftlich gespielt werden, ruhen
+am Sonntag. Die Theater spielen nicht; es herrscht „Sonntagsheiligung“
+wie bei uns kaum an Karfreitag oder Totensonntag. Fußwanderungen
+unternimmt man auch nicht, höchstens ein <span class="antiqua">auto-car-ride</span>. Man
+besucht sich, schaukelt im Schaukelstuhl, liest die umfängliche
+Sonntagszeitung oder in den <span class="antiqua">magazines</span> und geht womöglich des
+Abends nach dem <span class="antiqua">supper</span><span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> um sieben, halb acht oder acht Uhr noch
+einmal zum Gottesdienst oder zu einem kirchlichen Vortrag.</p>
+
+<p>Des Nachmittags findet man aber auch die Redner, religiöse und
+politische, in den großen öffentlichen Parks am Werke. So erinnere
+ich mich eines Novembernachmittags in Boston. Der Common lag
+kalt und herbstlich mit seinen entlaubten Bäumen da. Das stolze
+Freiheitsmonument schaute über den grünen Rasen. Es bildeten sich
+einige Menschengruppen in dem Parke. Auf einer Bank stand ein
+Sozialist; dreißig, vierzig Arbeiter um ihn herum. Mit volkstümlich
+packenden Worten suchte er seine Hörer für die bald fälligen
+Staatswahlen in Massachusetts zu gewinnen. „<span class="antiqua">Higher conditions,
+better wages!</span>“<a id="FNAnker_13" href="#Fussnote_13" class="fnanchor">[13]</a> war seine Parole. Hier und da warf ihm einer
+der Umstehenden eine Frage dazwischen. Der Redner wußte immer witzig
+und treffend zu antworten. Ich ging zur nächsten Gruppe. Sie war
+kleiner. Ein Heilsarmeesoldat stand dort in der Mitte, vor Kälte waren
+ihm Hände und Nase rot. Er sang aus einem zerflederten Liederbuche
+den Umstehenden vor, einige Gleichgesinnte begleiteten ihn, und zwar
+eine alte verschrumpelte Negerfrau, drei bleiche Männer in armseliger
+Kleidung, ein hungriger, an einer <span class="antiqua">sweetpotato</span> (Süßkartoffel)
+kauender Junge und eine schwarzgekleidete feinere Dame, während
+ringsumher andere lachten, rauchten und schwatzten. Die frommen Sänger
+taten mir leid. Nun trat ein weißhaariger Herr auf und erzählte
+von seiner „Bekehrung“ und seinem erfahrenen seelischen Glück. Man
+lauschte. Die Heilsarmeeleute bekräftigten seine Worte ständig mit
+„Amen“ und „Hallelujah“! Nach einem weiteren dünngesungenen Liede trat
+ein dritter, bleicher, untersetzter Mann auf und hielt die zweite
+geistliche Ansprache. Das Publikum, das sich angesammelt hatte,
+wandte sich zum Teil schon wieder zum Gehen. Aber der kleine Bleiche
+schrie unentwegt aus Leibeskräften: „Das Geld macht nicht selig;
+die Rockefeller und Vanderbilt fahren alle zur Hölle, wenn sie sich
+nicht bekehren.“ Seine Augen funkelten dabei, aber man nahm ihn nicht
+ernst. Als er geendet hatte, knieten die Heilsarmeeleute<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> — ein
+peinlicher Anblick — vor den Umstehenden nieder und beteten laut
+für das Seelenheil aller Anwesenden, der Soldat mit dem zerflederten
+Liederbuch, das alte verschrumpelte Negerweib, der hungrige kauende
+Junge, die feine schwarze Dame, der weißhaarige geistliche Redner
+und die drei bleichen arbeitslosen Männer. Unwillig wandten sich die
+letzten weg; einige junge Burschen aber warfen sogar von hinten ihre
+ausgerauchten Zigarettenstummel auf die Betenden! Nur zwei Damen traten
+heran und drückten den vom Gebet Aufstehenden dankbar und anerkennend
+die Hand und beteiligten sich an dem Schlußgesang. Ich ging fort. So
+geht es der Religion auf der Straße. Mehr Achtung und Anerkennung
+verdient schon das soziale Wirken der Heilsarmee.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe44" id="illu_086">
+ <img class="w100" src="images/illu_086.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">BOSTON<br>
+ Washington-Street — Old South Church
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_086_gross.jpg"
+ id="illu_086_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe44" id="illu_087">
+ <img class="w100" src="images/illu_087.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">BOSTON<br>
+ Regierungspalast (State house)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_087_gross.jpg"
+ id="illu_087_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Es war schwer, am Sonntag um Mittag eine „<span class="antiqua">dairy</span>“ oder
+einen geöffneten „<span class="antiqua">lunchroom</span>“ zur Erquickung zu entdecken.
+In den Familien saß man jetzt am offenen Kaminfeuer beim
+traulichen Mittagstisch. Und als ich gar am Nachmittag den Versuch
+machte, in Ermangelung von Fußwegen auf der Landstraße einen
+Nachmittagsspaziergang aufs Land hinaus zu unternehmen, überschütteten
+mich die Autos dermaßen mit Straßenstaub, daß ich grau und weiß wie
+ein Müllerbursche mit meinen guten dunklen Sonntagskleidern wieder
+heimkam! Einmal, sagte ich mir, und nie wieder! Für was mich wohl die
+Insassen der Autos gehalten haben mögen? Gewiß für einen „armen dummen
+Deutschen“!</p>
+
+<p>Boston mit seinen mancherlei geistigen und philosophisch-religiösen
+Bewegungen ist auch der Ursprung für die in der Welt so viel von
+sich reden machende Christian Science (christliche Wissenschaft),
+die am schnellsten von allen Sekten gewachsen ist. So war ich denn
+gespannt, auch sie in ihrer Heimat und am Orte ihrer Entstehung
+kennenzulernen. An einem der nächsten Sonntage besuchte ich ihren
+„Tempel“. Er ist unstreitig eine der schönsten und großartigsten
+Kirchengebäude in Amerika. Im Unterschied von den meisten anderen
+Kirchen ist es eine mächtige, imponierende, etwas an den Berliner
+Dom erinnernde Kuppelkirche im Barockstil, die an 3000-4000 Menschen
+faßt. Weißer<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Marmor verleiht dem Innern großartige Feierlichkeit.
+Dreifache balkonartige Galerien, wie wir sie in unseren Opern gewöhnt
+sind, laufen an drei Seiten der Rundung um. Die vierte Seite wird von
+einer gewaltigen Orgel eingenommen, deren Marmorseiten in mächtigen
+Lettern an der einen die Bibelstelle von dem Geist als dem Tröster und
+an der anderen ein entsprechendes Wort der Gründerin der Sekte tragen.
+Christus und die Gründerin der Sekte, Mrs. Mary Baker-Eddy, stehen in
+gleichem kanonischen Ansehen, so wie aus der Bibel und dem von ihr
+herausgegebenen „Textbuch“ stets unmittelbar neben- und nacheinander im
+Gottesdienst vorgelesen wird.</p>
+
+<p>Bereits einige Zeit vor Beginn füllte sich die mächtige Halle. Im
+ganzen vorherrschend „die oberen Zehntausend“. Zylinderhut und
+rauschende Seidentoiletten herrschten durchaus vor. Draußen fuhr
+ununterbrochen ein Auto nach dem anderen und eine Equipage nach der
+anderen vor, wie vor kaum einer anderen Kirche der Vornehmen. Als
+schüchterner Fußgänger ging ich zwischen den Parfümduftenden und
+Glacébehandschuhten auch hinein. In geräumigen Wandelhallen war
+Gelegenheit, unentgeltlich wie im Konzertsaal oder im Theater die
+Garderobe abzulegen. Innen führten feingekleidete Herren mit der
+wie überall obligaten weißen Nelke im Knopfloch die Besucher zu den
+mit bequemen Polstern belegten Sitzreihen. (Merkwürdig, daß man
+ausgerechnet in den freien Kirchen des freien Amerika nirgends sich
+seinen Sitzplatz selbst wählen darf!) Ich kam so links von einem der
+Mittelgänge halbwegs nach vorn zu sitzen, von wo ich alles sehr gut
+übersehen und hören konnte. Während die Orgel machtvoll einsetzte,
+schritten der erste und zweite Vorleser, ein Herr und eine Dame (!) die
+goldgeschnittenen Bücher (Bibel und „Textbuch“) feierlich unter dem
+Arm, zu ihren Predigersesseln im Angesicht der Gemeinde auf einer sehr
+geräumigen erhöhten Marmorbühne unter der Orgel. Auch eine Sängerin in
+großer Toilette mit prachtvollem Blumenbukett in der Hand nahm dort
+Platz. Die Feier begann dann mit gemeinsamem Gesang aus dem eigenen
+Liederbuch der Christian Science, zu dem auch Mrs. Eddy selbst eine
+Anzahl Gesänge beigesteuert hat. Dem<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> gemeinsamen Gesange folgte,
+wie überall, gemeinsames Gebet, dem sich das gemeinsam gesprochene
+Vaterunser <em class="gesperrt">in szientistischer Umbildung</em> anschloß. Dieselbe
+lautet in deutscher Übersetzung folgendermaßen:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Unser Vater-Mutter Gott, <em class="gesperrt">allharmonisch</em></div>
+ <div class="verse indent2">Und allein anbetungswürdig,</div>
+ <div class="verse indent0">Dein Reich ist gekommen,</div>
+ <div class="verse indent2">Gott ist allgegenwärtig und allmächtig.</div>
+ <div class="verse indent0">Mach uns fähig zu erkennen — wie im Himmel so auf Erden:</div>
+ <div class="verse indent2">Gott ist alles in allem!</div>
+ <div class="verse indent0">Gib uns auch heute deine <em class="gesperrt">Gnade</em>,</div>
+ <div class="verse indent2">zu nähren die hungernden Triebe.</div>
+ <div class="verse indent0">Und göttliche Liebe strahlt zurück in Liebe.</div>
+ <div class="verse indent0">Und Liebe läßt uns nicht in Versuchung</div>
+ <div class="verse indent2">sondern befreit uns vom <em class="gesperrt">Übel</em>: <em class="gesperrt">Sünde, Krankheit und Tod</em>.</div>
+ <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Denn Gott ist alle Substanz der Welt</em>, Verstand,</div>
+ <div class="verse indent2">Leben, Wahrheit und Liebe.“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Ich setze dies Gebet hierher, weil aus ihm recht deutlich die
+Grundanschauungen der Christian Science erkennbar sind. Der Schwerpunkt
+liegt in dem Schluß: Weil Gottes geistiges und vollkommenes Wesen alles
+in allem ist, die alleserfüllende Weltsubstanz, so ist Sünde, Krankheit
+und Tod nur <em class="gesperrt">Schein</em>. Wer mit Gottes Liebe verbunden ist, wird
+von allen Übeln <em class="gesperrt">wirklich befreit</em>. So legen die Szientisten
+auch in der Betrachtung des Lebens Christi weit größeren Nachdruck
+auf seine <em class="gesperrt">Heilungen</em> als auf seine <em class="gesperrt">Verkündigung</em>, z.&#8239;B.
+Worte wie Matth. 10, 8: „Machet die Kranken gesund, reiniget die
+Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus“ sind für
+sie geradezu ausschlaggebend. Aber merkwürdig halten sie es nicht mit
+der unmittelbaren Fortsetzung: „Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst
+gebet es auch. Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Erz in euren
+Gürteln haben.“ Wie man hört, lassen sich die Heiler ihre Kunst gut
+bezahlen, auch das „Textbuch“ ist recht teuer! Von der Allmacht des
+geistigen Prinzips in der Welt und im Menschen wird alles Heil, vor
+allem auch die körperliche Heilung von allen Leiden ohne Anwendung
+medizinischer<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> Mittel erwartet. Darin ähnelt die Christian Science den
+in jüngster Zeit in Amerika zahlreich erwachsenen Bewegungen der sog.
+„<span class="antiqua">mind-cure</span>“ (Gemütskur), deren auch in Deutschland bekanntester
+Prophet Ralph Waldo Trine ist. Nach der wechselweisen Vorlesung aus
+Bibel und „Textbuch“ erhob sich die Sängerin in großer Toilette und
+sang mit mächtiger Stimme, von den Tausenden bestaunt, in den weiten
+Dom hinein. Darauf kam, wie überall, die „Predigt“, die aber nicht
+aus der freien Rede eines religiösen Redners über ein selbstgewähltes
+Thema, sondern wiederum nur aus einer etwa halbstündigen, auf den
+Fremden und Nichtgläubigen eintönig wirkenden Vorlesung aus Bibel und
+„Textbuch“, Vorlesungen, die für alle szientistischen Gemeinden der
+Welt autoritativ ausgewählt sind, bestand. Sie sollen der Höhepunkt
+der Versenkung in das alles Übel heilende geistige Weltprinzip sein.
+Die Lektionen sind nach Themen geordnet und werden quartalweise im
+voraus publiziert, z.&#8239;B. 1. „Nichtwirklichkeit“. 2. „Sind Sünde,
+Krankheit, Tod wirklich?“ 3. „Die Lehre von der Versöhnung“. 4. „Ewige
+Verdammnis?“ 5. „Adam und der gefallene Mensch“. 6. „Die Prüfung nach
+dem Tode“. 7. „Sterbliche und Unsterbliche“. 8. „Seele und Leib“. 9.
+„Gott, die einzige Ursache und der alleinige Schöpfer“. 10. „Ist das
+All atomistisch entstanden?“ usw. Alle diese Themen spiegeln eine
+durchaus optimistische und idealistisch-religiöse Weltanschauung.
+Nach dieser „Predigt“ wurde auch hier die Kollekte gesammelt.
+Schweigend wurden die offenen Teller durch die Reihen gereicht, und
+ganze Bündel von Dollarscheinen sah ich darauf niedergelegt! Dann
+strebten die Tellerträger mit ihnen zur Marmorbühne, wo sie als
+„Opfer“ niedergesetzt wurden. Nach den Schlußworten geriet die ganze
+große vornehme Menge wieder in Bewegung, die Galerien leerten sich,
+die Treppen und Wandelhallen füllten sich; aus den Sonntagsschulsälen
+strömten die jungen Leute. Draußen tuteten die Automobile, und feine
+Equipagen fuhren mit Pferdegetrappel wieder die Asphaltstraßen davon.
+Und das Sonntag für Sonntag mit erstaunlicher Anziehungskraft!</p>
+
+<p>Neben dieser Sonntagsfeier im Christian-Science-Tempel finden<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> jeden
+Mittwoch Abend sog. „<span class="antiqua">test-meetings</span>“ (Zeugnisversammlungen)
+statt, in denen anstatt der Vorlesungen Gelegenheit zu offener
+Aussprache über <em class="gesperrt">erfahrene Heilungen</em> gegeben wird. Schon in
+Neuyork hatte ich eine solche Zeugnisversammlung besucht. Es war ein
+strahlend erleuchteter prunkvoller Kirchensaal, der viele Hunderte
+faßte und bis auf den letzten Platz gefüllt war, wiederum im besten
+Teil der Stadt gelegen und von vornehmsten Kreisen besucht. Gesang,
+Gebet und Vorlesung eröffneten auch hier den Abend. Dann folgten die
+„<span class="antiqua">tests</span>“, auf die ich besonders gespannt war. Zuerst erstaunte
+mich der Freimut der Damen, mit dem sie hier zumeist — wie überhaupt
+auch sonst im amerikanischen Leben — das große Wort führten, ohne
+Zögern aufstanden und einige Minuten fließend und überzeugend vor
+Hunderten von ihren Erfahrungen sprachen, etwa zehn bis zwanzig
+Personen. Solche „Zeugnisse“ von erlebten Heilungen ohne Anwendung
+medizinischer Mittel, nur durch Glaube und Gebet, wie sie hier
+gegeben wurden, können in jeder Nummer des Christian-Science-Journals
+nachgelesen werden. Viel eindrucksvoller ist natürlich ihre
+<em class="gesperrt">persönliche</em> Wiedergabe in <em class="gesperrt">öffentlicher</em> Versammlung.
+Der Nachdruck lag, wie ich feststellen konnte, bei den meisten auf
+geheilten Gemütsstörungen und nervösen Leiden, über die schon unser
+alter weiser Kant geschrieben hat: „Von der Macht des Gemüts, seiner
+krankhaften Gefühle Meister zu werden“<a id="FNAnker_14" href="#Fussnote_14" class="fnanchor">[14]</a>. Aber immer wird auch von
+der Besserung und Heilung <em class="gesperrt">akuter</em> und <em class="gesperrt">organischer Leiden</em>
+erzählt! Für reine Illusionen tritt gewiß niemand öffentlich auf,
+mag auch noch soviel Suggestion und Selbsttäuschung manchmal dabei
+die Hand im Spiele haben. In diesen persönlichen Zeugnissen liegt
+jedenfalls eine ungewöhnliche Werbekraft. Freilich sind auch Fälle
+erwiesen — mir ist selbst ein solcher persönlich bekannt —, wo
+das überspannte Verschmähen der berufsärztlichen Kunst den Tod
+herbeigeführt oder mindestens beschleunigt hat. Da der Mensch von genug
+Krankheiten und Übeln geplagt ist, die Gesundheit jedem über alles
+geht und schon<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> mancher auch umsonst viel Geld zum Doktor und in die
+Apotheke getragen hat, so wirkt begreiflicherweise diese Verheißung
+von geistiger Heilung wie ein unübertroffenes Evangelium. Zweifellos
+sind auch Erfolge da. Besonders bemerkenswert war mir, in wie vielen
+„<span class="antiqua">tests</span>“ betont wurde, daß die Sprecher erst durch die Christian
+Science auch ein neues <em class="gesperrt">inneres</em> Glück, echte Lebensfreude, ja
+Kraft, Daseinslust und eine neue inhaltvolle Lebensansicht gewonnen
+hätten. Das sind gewiß noch die echtesten Zeugnisse früher religiös
+unbefriedigter oder unangeregter Menschen. Viele suchten hier Heilung
+des Körpers und fanden Frieden der Seele. Mit solchen Zeugnissen und
+Erfolgen glaubt die Christian Science ihre spezielle Lehre gleichsam
+experimentell bewiesen zu haben. Darum ist nach ihrer Ansicht allein
+ihre religiöse Lehre „Wissenschaft“ (<em class="gesperrt">science</em>). Krankheit,
+Sünde und Tod sind Irrtum und Schein. Aber hat sie schon je vom Tode
+geheilt? Ist nicht auch die hochbetagte Gründerin Mrs. Eddy schließlich
+gestorben? Merkwürdigerweise hat die Sekte den Tod der Stifterin leicht
+überstanden. So zählt sie heute etwa 1200 Gemeinden in Nordamerika,
+England und Deutschland. Das „Textbuch“ hat seit seinem Erscheinen im
+Jahre 1875 an die 200&#8239;000 <em class="gesperrt">Auflagen</em> (!) erlebt. Die Gemeinden
+sind straff organisiert und zentralisiert. Bis zu ihrem Tode hatte
+die gewandte und energische Mrs. Eddy alle Zügel allein in der Hand.
+Sie ist die Verfasserin des nicht allzu geistvollen „Textbuches“;
+ein amerikanischer Geistlicher namens Quimby hat es entscheidend
+redigiert. Es ist etwa so umfangreich wie ein Neues Testament. Seine
+Ausführungen wiederholen sich endlos. Die Kapitelüberschriften (es
+ist nur in englischer Ausgabe vorhanden!) lauten in Übersetzung: 1.
+Wissenschaft, Theologie und Medizin; 2. Physiologie; 3. Fußstapfen
+der Wahrheit; 4. Schöpfung; 5. Wissenschaft des Seins; 6. Christian
+Science und der Spiritualismus; 7. Ehe; 8. Tierischer Magnetismus; 9.
+Beantwortung einiger Einwürfe; 10. Gebet; 11. Versöhnung und Abendmahl;
+12. Christian-Science-Praxis; 13. Das Lehren der Christian Science;
+14. Zusammenfassung. Anhangsweise folgt noch ein „Schlüssel zur hl.
+Schrift“, d.&#8239;h. bezeichnenderweise<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> nur zu dem mystisch-mythologisch
+erklärten <em class="gesperrt">ersten</em> und <em class="gesperrt">letzten</em> Buch der Bibel!</p>
+
+<p>So ist der Amerikaner zwar äußerlich kirchlich in eine Unzahl von
+Kirchengemeinschaften und Sekten geschieden, aber praktisch in den
+Lebenszielen unendlich viel einheitlicher. Mögen sie Baptisten,
+Methodisten, Hochkirchliche, Heilsarmee, Quäker oder Presbyterianer
+heißen, sie wollen alle <em class="gesperrt">dasselbe sittlich-geistige Ideal</em> in
+das amerikanische Volk pflanzen. Sie predigen weder Dogmen noch
+ethische Prinzipien, sondern gründeten lieber Liga auf Liga zur
+Bekämpfung <em class="gesperrt">sozialen</em> Elends oder der Trunksucht, zur Förderung
+der Sonntagsheiligung, der Ausbildung der Masse, der Ausbreitung der
+Sonntagsschulen, der Einbürgerung der Fremdlinge aus dem fernsten Osten
+ins amerikanische Volk, der Ausbreitung der Mission nach Afrika, China
+und Japan u.&#8239;ä. Und zwar genügen dem Amerikaner dabei nicht Vereine
+mit wohlausgedachten Statuten und einem Häuflein Mitglieder, sondern
+jedesmal muß es ein „<span class="antiqua">movement</span>“ werden, eine Bewegung, die
+riesenschnell wächst, gleich den Wolkenkratzern ihr Haupt gigantisch
+in die Höhe reckt und binnen kurzem Millionen Dollars an freiwilligen
+Spenden flüssig macht. Die Tätigkeit der Gemeinden und Geistlichen
+ist daher vielfach maßlos. Jeder Tag ist erfüllt mit Geselligkeiten,
+Vereinigungen, Zusammenkünften und Klubs aller möglichen Altersgruppen.
+Man ist immer tätig und immer beschäftigt, um des Sonntags auch desto
+strenger zu feiern und zu ruhen. Über die Möglichkeit der Durchführung
+solcher Bestrebungen wird auch nicht lange gegrübelt, sondern frisch
+<em class="gesperrt">probiert</em>. Glückt es, so ist die Sache „gut“ und in ihrer
+Wahrheit „erwiesen“. Das und nichts anderes ist zugleich der Kern
+der modernen, so echt amerikanischen Philosophie des „Pragmatismus“.
+Freilich ist die Kehrseite dieser Art eine Verschwendung von Kräften.
+Jeder kann eine Kirche bauen und eine Gemeinde gründen und einen Pastor
+berufen. Es kann vorkommen, daß ein Städtchen von 1700 Einwohnern sage
+und schreibe neun(!) verschiedene Gemeinden beherbergt und ernährt, daß
+an allen vier Straßenecken je eine Kirche einer anderen Denomination
+steht, so daß<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> schon 50-100 Familien eine „Gemeinde“ bilden und zu
+ihrer Erhaltung unendliche Opfer bringen müssen, aber auch bringen.
+Dafür sind sie aber auch Sonntags womöglich zweimal in „<em class="gesperrt">ihrer</em>“
+Kirche. Die Konkurrenz blüht, stachelt, treibt vorwärts und zerreibt
+zugleich. Der Staat ist nicht berechtigt, irgend jemand nach seinem
+religiösen Bekenntnis zu fragen. Die öffentliche Statistik ist auf
+die Angaben der Kirchen selber angewiesen, obwohl auch kein Kongreß
+oder Senat ohne Gebet eröffnet wird. Ein Spötter könnte kein wichtiges
+öffentliches Amt bekleiden, so wenig wie in England.</p>
+
+<p>So rastlos der Amerikaner arbeitet und Geschäfte treibt, so ernst
+nimmt er es mit seiner Religion. Die Opferwilligkeit ist erstaunlich
+groß, die Unzahl der Kirchen, Gemeinden und Pastoren kostet viel
+Geld, wenn die Kirchen auch meist kleiner und schlichter gebaut sind
+als die unseren, und der Missionseifer auch unter den Gebildeten ist
+gleich groß wie auch in England. Nichts wäre unrechter, als einfach
+von amerikanisch-religiöser „Heuchelei“ zu sprechen, jedenfalls ganz
+unrecht von <em class="gesperrt">bewußter</em> Heuchelei. Die Moral des Geschäfts und
+der Frömmigkeit gehen in der anglo-amerikanischen Welt nebeneinander
+her und ineinander über. Der Anglo-Amerikaner empfindet nicht die
+Schwierigkeiten, die für uns hier verborgen liegen. Er theoretisiert
+nicht, wie wir es tun. Er ist praktischer Geschäftsmann und ebenso
+praktisch tätig in seiner Religion.</p>
+
+<p>Hier können wir uns gegenseitig um unserer verschiedenen Wesensart
+willen schwer verstehen. Ebenso wie uns die allzu rastlose
+Betriebsamkeit und Überemsigkeit auf kirchlichem Gebiete schließlich
+auf die Nerven fällt und uns zur Stille und Keuschheit wahrer
+Frömmigkeit schlecht zu passen scheint, ist das Drängen auf
+praktisches kirchlich-religiöses Handeln doch auch vorbildlich; und
+doch mögen wir es nicht etwa für den Preis tiefgründigen deutschen
+Weltanschauungsdenkens erkaufen. Daß die Kirche auf sozialem Gebiet oft
+viel lauter als bisher bei uns in der Öffentlichkeit ihre Stimme hätte
+erheben sollen, könnten wir von drüben lernen.</p>
+
+<p>So ist es nicht ganz leicht, ein Wort über das innerste Wesen<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span>
+amerikanischer und deutscher Frömmigkeit zu sagen. Der Amerikaner
+ist froher, heller, tatenreicher. Ist er weniger ernst? Der
+Erweckungsversammlungen und Gebetsallianzen sind viele, Missionsstudium
+und Bibelkurse blühen. Und doch will es manchmal scheinen, als reiche
+amerikanisch-englische Frömmigkeit nicht an den tiefer gehaltenen
+Ernst derjenigen eines Martin Luther heran. Das Wesen der Frömmigkeit
+ist schwer zu erlauschen. Die amerikanischen kirchlichen Lieder sind
+frisch und heiter auch in der Melodie. Aber die ernstesten Gedanken
+werden dadurch leicht auch zu Spiel und religiöser Unterhaltung. Wie
+ich es einmal fand, daß man die Choräle mit Händeklatschen begleitete!
+Das Gemisch von religiöser Erbauung und Geselligkeit im Kirchenleben
+hat seine Gefahren. Religion gedeiht doch besser in alten Domen und
+ehrwürdigen gotischen Kirchen als bei Limonade, Schwimmbassins,
+Turnhallen, Empfangsräumen, Salons u.&#8239;dgl. Die stets freien Gebete
+wirken leicht unkeusch; der Bekehrungseifer stößt ab, die Predigten
+sind oft zu sehr effekthaschend, wenn jedes größere Sportfest u.&#8239;a.
+auch sofort seine Resonanz in der Predigt findet.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Ende November stand mir in Boston ein weiteres wichtiges geistiges
+Erlebnis bevor. Der bekannte und große <em class="gesperrt">Neger</em>führer Booker T.
+Washington, der noch lebte, sollte in Boston sprechen. Den mußte ich
+natürlich sehen und hören. Mit den gedrückten und ausgestoßenen Negern
+hatte ich gleich bei meiner Ankunft in Hoboken Sympathie empfunden.
+Diese geheime Freundschaft wollte ich ihnen auch bewahren.</p>
+
+<p>Um acht Uhr abends sollte die Versammlung — bezeichnend! — in New
+Old South <em class="gesperrt">Church</em> beginnen. Als ich um sieben Uhr auf dem Copley
+Square ankam, war die weite Kirche schon gefüllt. Ganz hinten erwischte
+ich gerade noch ein Stehplätzchen. Als die Versammlung begann,
+geleiteten der Rektor der Kirche D. Gordon und Präsident Lowell von der
+Harvard-Universität den großen Negerführer auf das Podium. Präsident
+Lowell — eine hohe Auszeichnung für den Negerredner — führte Mr. B.
+T. Washington, einen breitschulterigen, etwas ergrauten gelblichdunkeln
+älteren Neger mit einem breiten untersetzten<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Kopf, der üblichen
+unschönen Nase und den wulstigen Lippen, mit den Worten ein: „Der große
+Erzieher, Rasseführer und Bürger!“ Echt amerikanisch! Einst war der
+bedeutende Mann im Winkel geboren als Sohn eines unbekannten weißen
+Mannes und einer verführten Negersklavin, Sklave unter Sklaven, nun war
+er Führer einer ganzen Rasse, Volksbildner, Redner und Schriftsteller,
+um den das ganze amerikanische Volk sich drängte, wenn er sprach. Ich
+konnte gerade zwischen zwei riesigen Damenhüten, deren Träger sich mit
+mir Schulter an Schulter hineingeschoben hatten, noch auf Booker T.
+Washington hindurchsehen, wenn ich mich auf die Zehen stellte. Rings um
+mich Kopf an Kopf, meist Weiße, aber auch Schwarze, die nicht in allen
+Kirchen bei den Weißen gelitten sind. Hinter mir stand noch weiter Mann
+an Mann bis auf die Straße hinaus.</p>
+
+<p>Atemlose Stille herrschte, als B. T. Washington mit etwas heiserer,
+aber starker Stimme begann, mit seinem trockenen Humor ein Redner von
+Gottes Gnaden. Eine volle Stunde verbreitete er sich über die Erfolge
+des von ihm geleiteten Negerbildungsinstitutes in Tuskegee, seiner
+eigensten Schöpfung, die 1500 Studenten unter 167 „Instruktoren“
+(Lehrern) zählt. Während er, der Neger, zu dem weißen gebildeten
+Publikum der besterzogenen Stadt der Union redete, sprach seine ganze
+Lebensgeschichte unbewußt mit, und die Zukunft einer ganzen Rasse
+schien wie eine Siegeswolke um ihn zu lagern.</p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Der Sklave.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sie setzten den Sklaven in Freiheit,</div>
+ <div class="verse indent0">Streiften seine Ketten ab ...</div>
+ <div class="verse indent0">Da war er noch ebenso sklavisch wie vorher.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Er war noch gekettet an Kriecherei,</div>
+ <div class="verse indent0">Er war noch gefesselt an Unwissenheit und Faulheit,</div>
+ <div class="verse indent0">Er war noch gebunden an Furcht und Aberglaube,</div>
+ <div class="verse indent0">Durch Dummheit, Mißtrauen und Wildheit ...</div>
+ <div class="verse indent0">Seine Sklaverei lag nicht in den Ketten,</div>
+ <div class="verse indent0">War in ihm selbst ...</div><span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Man kann nur Freie in Freiheit setzen ...</div>
+ <div class="verse indent0">Und das ist nicht nötig:</div>
+ <div class="verse indent0">Freie Menschen machen sich selber frei.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">James Oppenheim.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0 s5a">Aus „Neue Welt“. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 50.</p>
+
+</div>
+
+<p>Einige Tage zuvor hatte ich B. T. Washingtons „Autobiographie“ und sein
+Buch über die „Zukunft des amerikanischen Negers“ gelesen und war voll
+Bewunderung und Enthusiasmus. Jetzt, da ich ihn selbst sah, tauchten
+alle die anschaulichen Bilder wieder empor, die er gezeichnet hat.
+Welches Elend hatte ihn doch noch in seiner Jugend in der Sklavenhütte
+umgeben, welche harte Arbeit nach der Sklavenfreiheitsproklamation in
+der Salzmine und der Kohlenzeche. Und wie hatte er sich ergreifend
+danach gesehnt, eine Schule besuchen zu dürfen! Welch ein Reichtum
+dünkte ihm die erste Mütze, die ihm seine Mutter aus einigen Fetzen
+zusammennähte, oder das erste Büchergestell, das er sich aus einer
+Kiste zimmerte! Und als er als kleiner Junge ein neues Hemd bekam, trug
+es sein älterer Bruder für ihn erst eine Zeitlang, denn es war aus so
+grobem Stoff, daß es seine zarte Haut wund gerieben hätte. Und als
+er sich dann nach Jahren mit 50 Cents in der Tasche aufmachte, nach
+Hampton zu gehen und die von General Armstrong geleitete Negerschule
+zu besuchen, und auf der Straße schlafen mußte, weil das Hotel ihn als
+Schwarzen nicht aufnahm, Schiffe ausladen half, um sich ein Frühstück
+zu verdienen, und sein Schulgeld im Institut damit verdiente, daß
+er Kohlen trug und die Zimmer fegte, in den Ferien seinen Mantel
+verkaufte, um sich das Reisegeld nach Hause zu verschaffen und seine
+Mutter wiederzusehen, da begann langsam die Zeit seines Emporsteigens
+zu dämmern. General Armstrong schätzte ihn bald sehr hoch und empfahl
+ihn nach seinen Prüfungen als Lehrer an eine Negerschule und dann
+später das Negerinstitut in Tuskegee selbst einzurichten, eine Art
+technische Hochschule für Farbige.</p>
+
+<p>Inzwischen hatte Booker T. Washington seine Ideen zu entfalten<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span>
+begonnen. Nur ein Wunsch beseelte ihn, seiner Rasse aufzuhelfen. Die
+Tage der Sklaverei wären vergangen, die Freiheit sei da. Die Freiheit
+aber stelle ungeahnte Aufgaben. Viele Neger betrachteten die Freiheit
+nur als Erlaubnis zu tun, was sie wollten. Andere suchten es sofort den
+Weißen in Wissenschaft und Technik gleichzutun, was meist mißlänge.
+Die meisten seien nach dem Norden ausgewandert und suchten sich eine
+einträgliche Stellung als Kellner, Portier, Chauffeur, Straßenkehrer
+oder niederer Arbeiter und Handwerker zu verschaffen. Was sollte
+geschehen? Booker T. Washington faßte den klugen und volksphilosophisch
+richtigen Gedanken: Unsere Rasse ist jung und unentwickelt, mittellos
+und wenig geachtet trotz ihrer Freiheit. Sie muß sich ihre Achtung
+erst verdienen, sie muß sich ihre materielle Unabhängigkeit dadurch
+erkämpfen, daß sie sich Eigentum und Handfertigkeit erwirbt, die den
+Weißen in ihre relative Abhängigkeit bringt, m.&#8239;a.&#8239;W. sie muß anfangen,
+den Weißen im Handwerk und in den technischen Berufen zu überflügeln.
+Der Neger solle den Weißen nicht nur in der Krawatte und dem Schnitt
+des Anzuges, den gelben Schuhen und dem steifen Kragen nachahmen,
+sondern in seiner Tüchtigkeit. Washingtons Absehen ging deshalb allein
+darauf, den Neger technisch zu trainieren und ihn in den Stand zu
+setzen, sich vor allem eine ökonomisch und politisch geachtete Stellung
+zu erwerben. Nie ist Washington — ein besonders schöner Zug — ein
+Wort der Anklage gegen den Weißen entflohen, der lange genug den
+Schwarzen als Sklaven auf seinen Pflanzungen in den elendesten, aller
+Kultur und Bildung baren Verhältnissen gelassen hat. Er wollte allein
+seine Rasse aufrufen, ihre Zukunft in ihre Hand zu nehmen, um sich
+Achtung und Geltung selbst in der Welt zu erobern.</p>
+
+<p>Augenblicklich liegen die Verhältnisse in dieser Hinsicht drüben noch
+recht kompliziert; anders im Süden als im Norden. Der Norden, der Neger
+nur in der Minderzahl enthält, hat die Sklavenbefreiung veranlaßt, er
+liebt die Freiheit der Rasse, aber trotzdem gelingt es dem einzelnen
+Neger selten, eine sozial wirklich geachtete Stellung einzunehmen.
+Der Süden, der an Neger<em class="gesperrt">über</em>völkerung leidet, hat eine<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> völlig
+soziale Trennung der Weißen und Schwarzen durchgeführt bzw. seit der
+Negeremanzipation beibehalten. Der Neger hat dort seine besonderen
+Straßenbahnwagen und besondere Eisenbahnabteils. Kein „weißes“ Hotel
+nimmt einen Farbigen auf, sogar die Parks sind unter die Rassen
+geteilt! Die untergeordneten beruflichen Stellungen, die der Neger
+durchweg innehat, fördern das Gefühl und die Stimmung der Weißen,
+eine Herrenrasse zu sein, und der Neger muß sich auf Grund seiner
+ökonomischen und geistigen Abhängigkeit durchaus als Mensch zweiter
+Klasse fühlen. Um sein Stimmrecht wird er im Süden meist betrogen;
+politischer Einfluß ist für ihn ausgeschlossen. So sieht die Zukunft
+trübe aus für beide Teile. Der Neger bleibt im amerikanischen Volke
+ein Fremdkörper. Niemand sieht eine klare, glatte Lösung. Rückkehr
+der Neger nach Afrika ist unmöglich; Absorption in die weiße Rasse
+ist absolut nicht erwünscht und immer ein Unglück. So leben die 14
+Millionen Neger wie ein unverdaulicher Fremdstoff unter den achtzig
+Millionen Weißen in den Vereinigten Staaten.</p>
+
+<p>Die Schuld der Sklaverei rächt sich heute. Keine geschichtliche Tat
+geschieht ohne Sold. Und doch: Sollte die weiße Rasse nicht berufen
+sein, Lehrmeister ihrer schwarzen Schwester, die sie solange mißhandelt
+hat, zu sein? Keine günstigere Bedingung für die Neger, als in ein
+vollkommen kultiviertes Land gesetzt zu sein, wo der tägliche Anblick
+der Technik und aller entwickelten Lebensverhältnisse, einschließlich
+der sittlichen und sozialen, ihr ständig das höhere Kulturziel
+vor Augen hält, das sie erreichen soll. Sollte es wirklich eine
+Menschenrasse auf Erden geben, die grundsätzlich für alle Zeit auf
+einem niedrigen Niveau zu leben verdammt wäre? Und wenn man noch so
+oft darauf hinzuweisen pflegt, daß die schwarze Rasse bis jetzt noch
+nicht <em class="gesperrt">einen</em> bedeutenden Menschen, noch nicht <em class="gesperrt">einen</em>
+Shakespeare oder Goethe hervorgebracht hat, so ist das dieselbe Art
+der Argumentation, als wenn etwa Tacitus die Germanen ein Volk zweiten
+Grades hätte schelten wollen, weil sie damals noch keinen Phidias oder
+Sophokles zu seiner Zeit hervorgebracht hätten! Die Negerrasse hat noch
+keine „Geschichte“<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> gehabt. Sie fängt eben an, die ersten Schritte
+in der Kultur zu tun, warten wir, und wenn es auch Jahrhunderte oder
+Jahrtausende dauern sollte! Der eine Booker T. Washington ist ein
+Gegenzeuge, und seine Tuskegeezöglinge und die auf den fünf anderen
+höheren Negerschulen samt den wenigen Negerstudenten sind schon ein
+Gegenbeweis. Gleich Josephs Brüdern verkauften die Weißen den Neger in
+die Sklaverei. Aber eben sein Gefängnis ist vielleicht dazu bestimmt,
+der Ausgangspunkt einer neuen glänzenderen Zukunft für ihn zu werden.
+Mir aber war es eine stille Freude, einen solchen Mann gesehen und
+gehört zu haben, der große Linien der Geschichte prophetisch schaut,
+mit kühnem Optimismus in die Zukunft seiner Rasse blickt und sein Leben
+dafür eingesetzt hat, daran mitzuhelfen, sie zu ermöglichen.</p>
+
+<p>Als Probe von B. T. Washingtons praktischen Gedanken und seiner
+einfachen und anschaulichen Ausdrucksweise setze ich ein Stück aus
+seinem trefflichen Buche: „Charakterbildung, Sonntagsansprachen an
+die Zöglinge der Normal- und Gewerbeschule von Tuskegee, Berlin 1910“
+hierher, und zwar das Kapitel: „Die Methode im häuslichen Leben“ (S.
+65-69):</p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Der Wert der Methoden im häuslichen Leben.</p>
+
+<p class="p0 s5a mtop1">„Die meisten von euch werden früher oder später von Tuskegee
+ausgehen, um ihren Einfluß auf das häusliche Leben unseres Volkes
+geltend zu machen. Dieser Einfluß wird sich erstrecken auf euer
+eigenes <em class="gesperrt">Heim</em>, auf das Hauswesen eurer Mütter und Väter oder
+auf dasjenige eurer Verwandten. Wo ihr auch hingeht, in jedem Hause
+werdet ihr einen guten oder einen schlechten Einfluß ausüben. Wie
+man es anfängt, um die größte Summe von Glück in diese Heimstätten
+hineinzutragen, das ist eine Frage, die einen jeden unter euch
+angeht. Ich sage euch das, damit ihr euch klar macht, daß jeder
+einzelne von euch berufen ist, auf andere einzuwirken. Versäumt ihr
+es, diesen Einfluß zum besten anderer auszuüben, so habt ihr den
+Zweck verfehlt, den diese Anstalt verfolgt.</p>
+
+<p class="s5a">Vor allen Dingen müßt ihr euren Einfluß auf den Gebieten geltend
+machen, welche den besten <em class="gesperrt">Erfolg</em> versprechen; unter diesen ist
+es wichtig, unserem Volk ein möglichst hohes <em class="gesperrt">Ideal des häuslichen
+Lebens</em> vor Augen zu stellen. Sehr oft mache ich die Beobachtung
+— und zwar um so mehr, je länger ich unter unserem Volk umherreise
+— daß viele Personen sich vorstellen, sie könnten kein behagliches<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span>
+Heim haben, ohne sehr reich zu sein. Nun sind einige der fröhlichsten
+und behaglichsten Häuser, die ich kenne, solche von Leuten, die
+durchaus nicht wohlhabend sind, ja, die man geradezu arm nennen
+könnte. Aber es waltet darin ein Geist der Ordnung und Behaglichkeit,
+der macht, daß man sich darin so wohl fühlt, als ob man sich in dem
+Hause sehr reicher Leute befände.</p>
+
+<p class="s5a">Ich will mich deutlicher erklären. In erster Linie muß in allen
+Dingen, die das Hauswesen angehen, <em class="gesperrt">Pünktlichkeit</em> herrschen.
+Beispielsweise <em class="gesperrt">bei den Mahlzeiten</em>. Es ist unmöglich einen
+Hausstand ordentlich zu führen, wenn nicht eine bestimmte Zeit für
+jede Mahlzeit angesetzt ist und auch streng eingehalten wird. Es gibt
+Häuser, in denen einmal um sechs, einmal um acht, einmal vielleicht
+gar um neun Uhr gefrühstückt wird; das Mittagsbrot findet bald um
+zwölf, bald um eins oder zwei statt und das Abendbrot um fünf, sechs
+oder sieben; selbst dann fehlt oft die Hälfte der Familie, wenn das
+Essen angerichtet ist. Auf diese Weise vergeudet man Zeit und Kraft
+und macht sich überflüssige Mühe. Dagegen spart man Zeit und sehr
+viel Arbeit, wenn man ein für allemal eine bestimmte Stunde für die
+Mahlzeiten festsetzt und alle Familienmitglieder dazu angehalten
+werden, um diese Zeit zu erscheinen. Durch dieses Mittel wird der
+Familie viel Verdruß erspart und man gewinnt kostbare Zeit, um zu
+lesen oder sonst etwas Nützliches vorzunehmen.</p>
+
+<p class="s5a">Was nun ferner die Methode anbelangt; gleichviel wie ärmlich ein
+Hausstand ist, gleichviel wie wenig Geld im Hause ist, es ist immer
+möglich, die häuslichen Verrichtungen methodisch zu ordnen. Wie
+viele Hausfrauen gibt es wohl, die in dunkelster Nacht in ihre
+Wohnung kommen und ohne Mühe ein <em class="gesperrt">Streichholz finden können</em>?
+Daran erkennt man die gute Hausfrau. Kann sie es nicht, so geht Zeit
+verloren. Man spart Zeit und auch Mühe, wenn man die Streichhölzer
+an einem bestimmten Ort aufbewahrt und alle Familienmitglieder
+daran gewöhnt, sie stets wieder dort hinzulegen. Oft findet man die
+Streichhölzer auf dem Tisch oder auf einem Wandbrett in der Ecke. In
+vielen Häusern gehen täglich fünf bis zehn Minuten verloren, nur weil
+die Hausfrau diesen einen kleinen Punkt vernachlässigt.</p>
+
+<p class="s5a">Das gleiche gilt vom <em class="gesperrt">Wischtuch</em>. Das Wischtuch soll einen
+bestimmten Platz haben und täglich wieder dorthin gelegt werden.
+Wer keinen bestimmten Platz hat, um seine Sachen aufzubewahren, der
+muß alle fünf bis zehn Minuten, sobald er einen Gegenstand braucht,
+bald in, bald außer dem Hause auf die Suche gehen. Beständig muß er
+fragen: ‚Hans‘, oder ‚Liese, wo ist dies oder jenes? Wo hast du es
+zuletzt gehabt?‘ usw.</p>
+
+<p class="s5a">Ebenso verhält es sich mit dem <em class="gesperrt">Besen</em>. Vor allen Dingen darf
+in einem methodisch geordneten Hause der Besen nicht verkehrt
+aufgestellt werden. Hoffentlich wißt ihr alle, welches das richtige
+Ende eines Besens ist. In einem solchen Hause<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> steht der Besen
+niemals verkehrt und immer an seinem Platz. Wenn ein Gegenstand
+verlegt ist und man danach suchen muß, so verbraucht man nicht bloß
+Zeit, sondern auch Kraft, die nützlicher angewendet werden könnte.
+Man muß einen <em class="gesperrt">bestimmten</em> Platz haben für seinen Mantel, für
+seinen Hut, <em class="gesperrt">kurz, für jedes Ding im Hause</em>.</p>
+
+<p class="s5a">Diejenigen Menschen, die für jedes Ding einen Platz haben, das sind
+die Menschen, denen es nie an Zeit gebricht, zu lesen oder auch sich
+zu erholen. Ihr wundert euch manchmal, daß die Leute in Neu-England
+so viel Zeit übrig haben, um Bücher und Zeitungen zu lesen und doch
+genug verdienen, um unserer Anstalt so viel Geld zuzuwenden, wie dies
+geschieht. Diese Leute haben hinreichend Muße, sich geistig zu bilden
+und mit allem, was in der Welt vorgeht, Fühlung zu behalten, weil in
+ihren Häusern <em class="gesperrt">alles so methodisch geordnet</em> ist, daß sie die
+Zeit erübrigen, die wir damit verlieren, uns mit Dingen abzugeben,
+die wir eigentlich ganz genau wissen sollten.</p>
+
+<p class="s5a">Ich bin selten in eine von Schwarzen gehaltene Pension gekommen, wo
+die <em class="gesperrt">Lampe</em> an ihrem Platze stand. Wenn man in ein solches Haus
+kommt, muß nur zu häufig erst nach der Lampe gesucht werden; ist sie
+schließlich gefunden, so ist sie leer; man hat vergessen, morgens
+Petroleum aufzufüllen; dann fehlt es an einem Docht oder es muß ein
+Zylinder geholt werden. Hat man endlich alles beisammen, so sind die
+Streichhölzer verlegt!</p>
+
+<p class="s5a mbot2">Ich möchte wissen, wieviel Mädchen hier anwesend sind, die es
+verstehen, ein Zimmer so herzurichten, daß ein Mensch darin
+übernachten kann — das heißt, es mit der richtigen Anzahl von
+Handtüchern, mit Seife und Streichhölzern zu versehen und alles,
+was ein Mensch zu seiner Bequemlichkeit braucht, zu beschaffen und
+an seinen richtigen Platz zu stellen. Einige unter euch möchte ich
+lieber nicht auf die Probe stellen. Diese Dinge müßt ihr lernen,
+ehe ihr die Anstalt verlaßt, damit ihr anderen und euch selbst zum
+Nutzen gereicht. Könnt ihr dies nicht, so bereitet ihr uns eine
+Enttäuschung.“</p>
+
+<p>Weit interessanter und packender ist B. T. Washingtons
+Lebensbeschreibung, von ihm selbst verfaßt: „Vom Sklaven empor“ (<span class="antiqua">Up
+from slavery</span>), eine der erschütterndsten und lebenswahrsten
+Biographien, die existieren.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Hatte ich in dem berühmten Neger einen lebendigen Roman vor mir
+gesehen, so bin ich ganz unvermutet und ungewollt in Boston eines Tages
+zur Abwechslung Mittelpunkt eines Romans geworden.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe44" id="illu_104">
+ <img class="w100" src="images/illu_104.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">BOSTON<br>
+ Harvard-Brücke über den Charles-River
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_104_gross.jpg"
+ id="illu_104_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe44" id="illu_105">
+ <img class="w100" src="images/illu_105.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">BOSTON<br>
+ Christian Science-Tempel<br>
+ <span class="s5a">(Im Vordergrund die ältere kleinere Kirche)</span>
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_105_gross.jpg"
+ id="illu_105_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ich wurde nämlich eines Tages wie ein Medium zum Wiedervereiniger
+zweier sich seit Jahrzehnten suchender Brüder nicht allzu lange<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> vor
+ihrem Lebensabend! Ich erzähle dies persönliche Erlebnis an dieser
+Stelle, weil es anschaulich zeigen kann, was alles in Amerika möglich
+ist. Eines Tages besucht mich in Cambridge, der Vorstadt Bostons, einer
+meiner Vettern aus Neuyork. Sein Vater forsche schon jahrelang nach
+einem Halbbruder, der einst mit 14 Jahren aus Bremen fortgelaufen,
+vermutlich in die weite Welt gewandert sei und von dem man niemals
+wieder etwas gehört habe. Er vermute aber stark, daß derselbe, wenn
+er überhaupt noch lebe, sich wahrscheinlich in der Union aufhalte.
+Nun habe er aber schon so manches amerikanische Adreßbuch nach seinem
+Namen durchgesehen, aber nicht gefunden. Aber hier — so berichtete
+der Vetter aus Neuyork — in Boston habe er heute im Adreßbuch ihren
+nicht häufigen Familiennamen — den Namen eines Arztes in einer der
+feinsten Villenstraßen — entdeckt. Da der Name in der Union sehr
+selten sei, bestehe stark die Möglichkeit, daß er am Ende wirklich
+der gesuchte Onkel sei! Nun getraue er sich aber nicht recht, den
+völlig fremden Herrn allein aufzusuchen. Wenn zwei gingen, so sei das
+schon besser. Die ganze Sache kam mir recht mystisch, abenteuerlich
+und nach europäischen Begriffen zwecklos vor. Und nun sollte ich,
+der ich selbst erst Ankömmling war, einem reichen Bostoner Arzt ins
+Haus fallen und ihn kurzerhand fragen, ob er etwa mein Onkel sei und
+vor etwa einem halben Jahrhundert aus Bremen fortgelaufen sei?! Nach
+europäischen Begriffen stellte ich mir die Wirkung solchen Fragens
+vor: Er würde uns wohl sofort aus dem Hause weisen. Dafür war es ja
+gut, daß wir dann wenigstens zwei waren. Trotz aller Bedenken ließ ich
+mich bewegen mitzugehen, denn ein bißchen Abenteuer zu erleben lockte
+mich. War nicht meine ganze Amerikareise auch ein bißchen Abenteuer?
+Und wo es etwas ganz Neues zu erleben gab, da war ich gern dabei. Also
+gingen bzw. fuhren wir mit der Elektrischen nach Boston. Wer aber
+sollte reden? Das war noch nicht entschieden. Natürlich mein Vetter,
+denn er sprach als langjähriger Amerikaner fließend englisch. Ich war
+also Zeus, und er machte den Merkur. Höchst gespannt war ich, ob wir
+überhaupt vorgelassen wurden! Was sollten wir denn eigentlich an der
+Tür<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> sagen, wenn geöffnet wurde, weshalb wir kämen? Nun, bei einem Arzt
+mußte man ja vorgelassen werden. Aber nun war es Sonntag nachmittag,
+da kamen doch wohl in der Regel keine Patienten. Immerhin konnten wir
+zuerst so tun, als ob wir es wären&#160;...</p>
+
+<p>Wir standen vor dem Haus, einer stattlichen zweistöckigen Villa im
+vornehmen Viertel Bostons, und zogen die Klingel. Richtig stand der
+Name da: <span class="antiqua">Dr. med. N.</span>, gleich dem Namen meines Neuyorker Onkels.
+Der Name sah sehr heimatlich und familiär aus. Was für ein Geheimnis
+mochte sich hinter ihm verbergen? Aber vor dem Familiennamen stand
+noch ein Zwischenname, den es so leicht wohl in der ganzen Union nicht
+wieder gab. Er hatte französischen Klang. Diesen Namen gab es gewiß in
+unserer ganzen Verwandtschaft nirgends. So sank uns wieder der Mut und
+die Hoffnung, eine freudige Entdeckung zu machen. Indessen hatte auf
+unser Klingelzeichen ein Neger geöffnet. Wir stockten. Was sollten wir
+sagen? Wir standen da wie zwei dumme Jungen, die einen dummen Streich
+vorhatten. Wir sagten gar nichts. Und das war noch das Beste. So führte
+uns der Neger die Treppe in der Vorhalle hinauf und einfach gleich
+in das Wartezimmer und bat uns, Platz zu nehmen. Was wir taten. Das
+Wartezimmer bewährte seinen Namen auch an uns. Es duftete nach Medizin,
+und wir warteten geduldig etwa zwanzig Minuten und hatten alle Bilder
+an den Wänden schon mehrmals besichtigt und reichlich in ausliegenden
+Magazines geblättert. Man hörte, wie mit Teegeschirr geklappert
+wurde. Dann ging die Tür auf; es kam der Doktor und Hausherr, ein
+kleiner, untersetzter, schwarzer Herr mit goldenem Kneifer, der uns
+gewohnheitsmäßig, ohne uns genau anzusehen, in sein etwas dunkles
+Studierzimmer nötigte. Wir folgten und sahen uns beide an, und große
+Enttäuschung und innere Heiterkeit malte sich auf unseren Gesichtern,
+als wollten wir uns gegenseitig zu verstehen geben: Das soll unser
+Onkel sein? Ausgeschlossen! Erstens keine Spur von Ähnlichkeit. Und
+zweitens war der Mann vor uns wohl ein Mann Ende der Fünfzig, mein
+Onkel in Neuyork aber bereits hoch in den Sechzig.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p>
+
+<p>„<span class="antiqua">What can I do for you?</span>“ fragte der Hausherr uns höflich
+forschend, wer wohl der Patient wäre, als wir immer noch nichts sagten
+und doch beide offenbar recht gesund aussahen. Ja, was machten und
+sagten wir nun? Mein Vetter faßte sich ein Herz und bat zunächst um
+Entschuldigung, er sein kein Patient, er komme in einer persönlichen
+Angelegenheit. Der kleine Doktor machte ein Gesicht, als wollte er
+sagen: „Ich verstehe schon. Ihr wollt mich anpumpen, aber ich gebe
+nichts!“ Aber mein Vetter fuhr, ohne sich beirren zu lassen, fort:
+„Er selbst heiße auch wie der Herr Doktor, und ob der Herr Doktor
+vielleicht einen Bruder gleichen Namens habe?“ „Nein!“ kam es sofort
+prompt und bestimmt und recht erstaunt ob der persönlichen Anfrage
+zurück. Da erhoben wir uns auch sofort und verabschiedeten uns
+höflichst unter wiederholten Entschuldigungen, nicht ohne daß ich auch
+meinen Namen noch und Wohnsitz nannte, mein Vetter desgleichen. „Ach,
+ich dachte zuerst,“ sagte der Doktor, „die Herren wären vielleicht
+Matrosen in Zivil, von denen ich manchmal Sonntag nachmittags
+aufgesucht werde!“ Er verbeugte sich und schloß hinter uns die Tür. Der
+Neger geleitete uns dienstfertig hinaus. „Wir — Matrosen?“ Es war ja
+zum Lachen.</p>
+
+<p>Es war also nichts! Wir waren wieder draußen. Ich fuhr zuerst gegen
+meinen Vetter los: „Auch keine Spur von Ähnlichkeit!“ Und mein Vetter:
+„Und er hat ja gar keinen Bruder!“ Also war die Sache klar. Mein Vetter
+überlegte, ob er noch heute wieder abreisen sollte, um seinem Vater
+in Neuyork das erneute Mißgeschick mitzuteilen, um eine Enttäuschung
+reicher. Armer Onkel! Aber wir beschlossen, den Abend doch noch
+gemeinsam zu verbringen, und erst anderntags um Mittag wollte mein
+Vetter nach Neuyork zurückfahren.</p>
+
+<p>Als ich an diesem Abend schließlich in mein Logis zurückkomme, heißt
+es, ein Fräulein aus Boston sei dagewesen von einem Herrn <span class="antiqua">Dr. med.
+N.</span> und habe nach mir gefragt, sei aber, da ich nicht da war,
+unverrichteter Sache wieder gegangen! Nach einer halben Stunde klingelt
+auch schon das Telephon: Herr K. <span class="antiqua">N.</span> aus Boston! Er läßt die
+beiden Herren bitten, wenn möglich, morgen Vormittag doch noch einmal
+bei ihm vorzusprechen! — Donnerwetter!<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> Also doch etwa ein Onkel? Aber
+es war ja unmöglich! Er hatte ja keinen Bruder! Und es war doch auch
+keine Spur von Ähnlichkeit zu sehen .... Oder wollte er uns nur noch
+einmal sprechen, da unsre Unterhaltung etwas reichlich kurz und schnell
+gewesen war?</p>
+
+<p>Ich konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dann fuhren wir wieder
+hin, klingelten und wurden diesmal gleich in den Familiensalon geführt.
+Das war sonderbar! Herr <span class="antiqua">Dr. N.</span> erschien, trat sofort auf mich zu
+und sagte wörtlich: Mein lieber Herr B., Ihr Vater hieß mit Vornamen
+soundso, ist im Jahre 18.. geboren, lebte in Bremen und hatte zwei
+Schwestern, die hießen B. und A... Ich war sprachlos vor Staunen, als
+hätte mich ein Donnerschlag gerührt. „Woher wissen Sie das?“ rief ich,
+„sind Sie ein Wahrsager und Hellseher oder haben Sie telepathische
+Fähigkeiten?“ „Nichts von alledem,“ gab der Doktor zurück, „aber als
+Sie gestern aus meinem Hause gingen, sah ich Ihnen hinter den Gardinen
+nach. Sie drehten sich noch einmal um. Ich sah jetzt erst deutlich
+Ihr Gesicht. Ihr Gesicht, Ihr Gang, Ihre Art zusammen mit Ihrem Namen
+stellten mir auf einmal wie eine Vision deutlich Ihren Vater vor bald
+fünfzig Jahren in Bremen wieder vor Augen, der damals wohl etwa in
+Ihrem Alter war und Ihnen auf ein Haar glich, und damit tauchten auf
+einmal Welten der Erinnerung in mir auf, die längst in mir versunken
+waren. Ich werde Ihnen das alles noch erklären. Erst lassen Sie mich
+aber meine Frau hereinrufen.“ Er ging ins Nebenzimmer. Wir wußten
+uns vor Staunen gar nicht zu fassen. Also, er war unser Onkel!! Dann
+trat Frau <span class="antiqua">Dr. N.</span> herein, der wir uns vorstellten und die mit
+einem etwas auffallenden Akzent englisch sprach — deutsch war es
+jedenfalls nicht — und ihre „lieben Neffen“ herzlich begrüßte. Dann
+fuhr Doktor <span class="antiqua">N.</span>, sich an meinen Vetter wendend, fort: „Ihr Vater
+— mein Bruder — heißt wohl mit Vornamen B .... Ich bin in der Tat der
+verschollen gewesene Bruder, ich bin wirklich Ihr Onkel, den Sie noch
+nie gesehen haben und von dessen Dasein Sie nichts wissen konnten, und
+Sie sind meine Neffen. Seien Sie uns herzlich willkommen!“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
+
+<p>Wir wußten beide noch immer nicht, ob wir träumten, im Kino saßen,
+einen unglaublichen Roman hörten, in der Hypnose, Trance oder sonst was
+lebten, oder ob es alles Wirklichkeit war. Aber er wußte ja die Namen
+genau und die Daten. Es konnte gar kein Zweifel an der Echtheit des
+Onkels sein. Glücklicher Onkel in Neuyork! Wenn er das erfuhr! Aber
+wie war das alles nur möglich? Nun erzählte der neue Onkel weiter. Wir
+hatten uns alle indessen am offenen Feuerplatz des Kamins in bequemen
+Sesseln gemütlich niedergelassen und lauschten der unerhörten Mär:
+„Ich bin in der Not vor beinahe fünfzig Jahren,“ begann der Doktor,
+„aus Bremen fort aufs Schiff gegangen. Wir waren sehr viele Kinder.
+Vater hatte nicht für uns alle Platz. Und eine Schuldummheit kostete
+mir den weiteren Aufstieg. Ich schämte mich; Vater verstand mich auch
+nicht recht, da kam die Weltsehnsucht und Abenteurerlust über mich,
+wie es schon manchen Bremer und Hamburger Jungen gepackt hat. So ging
+auch ich fort in die Welt mit dem Entschluß, nicht eher etwas von mir
+hören zu lassen, bis ich etwas geworden wäre. Die Welt ist weit. Ich
+landete nach manchen Irrfahrten in Le Havre in Frankreich. Von dort
+kam ich nach Paris und trat als Schreiber bei einem Rechtsanwalt in
+die Lehre. Dem guckte ich allerlei Juristerei ab, lernte des Abends
+fleißig aus Büchern und faßte den Plan, wenn möglich, noch Jura zu
+studieren. Aber woher dazu das Geld nehmen? Da war der Suezkanal neu
+eröffnet. Das ist meine Chance, dachte ich, und ging nach Ägypten! Aber
+dort packte mich bald das gelbe Fieber, wochenlang lag ich bewußtlos
+zwischen Leben und Tod. Als ich wieder genas, kannte ich selbst mich
+kaum wieder. Alle Erinnerung war in mir wie ausgelöscht. Ich kehrte
+nach Frankreich zurück, trat wiederum bei einem Notar ein und wurde
+nach einigen wohlgelungenen Arbeiten sein Bureauchef, ja Assozié. An
+der Sorbonne legte ich juristische Prüfungen ab, heiratete meines
+Chefs einzige Tochter, meine liebe Frau — ich sah zu meiner neuen
+Tante, die lächelte, hinüber, also eine Französin! — und übernahm
+nach seinem Tod seine Praxis. Aber nach dem 70er Krieg war es für
+einen Deutschgeborenen schwer in Frankreich<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> voran zu kommen. Ich
+siedelte deshalb nach Amerika über. Von dem Erlös der verkauften Praxis
+studierte ich hier in Boston an der Medical School Medizin und ließ
+mich schon vor über zwanzig Jahren in Boston als Arzt nieder. Unser
+Haus haben wir seit fünfzehn Jahren. Gestern, als ich Ihr Gesicht sah
+und in Ihnen — er meinte mich — wieder Ihren Vater wie einst vor mir
+sah, tauchte nach langer Zeit meine ganze Jugend wieder empor.“ Er
+schwieg. Auch niemand von uns wagte zu sprechen. Wunderbare Lebensläufe
+und Menschenschicksale! Tote schienen lebendig zu werden ...!</p>
+
+<p>Nun wurden die Kinder hereingerufen, darunter ein artiges Fräulein trat
+ein — sie war es, die mich gestern in Cambridge zu treffen suchte
+— aber keiner von uns wußte zuerst, ob wir uns nun wirklich gleich
+als Vetter und Base betrachten sollten. Und bald flogen Telegramme
+nach Neuyork und nach Deutschland, und in wenigen Tagen lagen sich
+totgeglaubte und verschollene Brüder wieder in den Armen! Und ich
+mußte der Mittelsmann sein, von dem aus der Funke des Erkennens und
+Wiederfindens übergesprungen war! Mit diesem einen Ereignis hatte sich
+eigentlich schon meine ganze Amerikareise gerechtfertigt und gelohnt.
+Wie rund ist die Welt und wie klein!</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_12" href="#FNAnker_12" class="label">[12]</a> Gib acht auf die Maschine!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_13" href="#FNAnker_13" class="label">[13]</a> Bessere Lage, größerer Lohn!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_14" href="#FNAnker_14" class="label">[14]</a> Man vgl. auch Feuchtersleben, Diätetik der Seele.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="An_der_Harvard-Universitaet">An der Harvard-Universität.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Eine meiner Hauptabsichten meiner Reise war, nicht einen verschollenen
+Onkel wieder zu entdecken, sondern u.&#8239;a. auch das amerikanische
+Universitätsleben näher kennenzulernen und den damals noch lebenden
+Professor William James zu einer deutschen Doktordissertation zu
+„verarbeiten“.</p>
+
+<p>So war ich also bald nach meiner Ankunft in Boston mit der
+„Cambridge-car“ die prächtige Harvardbrücke über den breiten
+Charles River hinüber nach der beinahe 100&#8239;000 Einwohner zählenden
+Universitätsvorstadt Cambridge gefahren, die in ihrem Mittelpunkt das
+in der ganzen Union hoch angesehene, schon aus dem 17. Jahrhundert, der
+Puritanerzeit, stammende Harvard College mit seinen Hochschulen birgt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
+
+<p>Cambridge<a id="FNAnker_15" href="#Fussnote_15" class="fnanchor">[15]</a> selbst machte zuerst keinen allzu erhebenden Eindruck.
+Erstlich regnete es fürchterlich bei meiner Ankunft, und überall
+starrte mir Schmutz entgegen. Aber auch an trockenen Tagen pflegten
+wahre Wolken von Staub die Hauptverkehrsstraßen entlang zu fegen.
+Auch schien die Stadt mir unansehnlich und recht unregelmäßig gebaut.
+Boston selbst wirkte dreimal vornehmer. Aber je weiter man nach
+Cambridge hinein kam, desto anziehender wurde es. Und als ich durch
+die „Quincy Street“ in den prachtvollen Ulmenpark des Universitätshofs
+eintrat, fand ich es geradezu reizend und anheimelnd. Eine angenehme
+Stille lag über den vielen und zum Teil recht zerstreut liegenden
+Universitätsgebäuden mit ihren Vorlesungshäusern, Instituten,
+Seminaren, Speisehallen, Wohngebäuden der Studenten, die alle in den
+sog. „<span class="antiqua">dormitories</span>“, einer Art freien Studentenpensionaten (aber
+ohne Verpflegung) zusammenwohnen und auch in großen z.&#8239;T. vornehm
+ausgestatteten Speisehallen zusammenessen, ausgebreitet. In einer sehr
+stillen Allee in einer der kleineren, älteren, aber äußerst traulichen,
+efeuumsponnenen <span class="antiqua">halls</span>, in der schon Emerson gelehrt hat, fand
+ich meinen Wohnsitz. Der Hausmann (<span class="antiqua">janitor</span>) empfing mich auch
+als „German“ sehr freundlich und geleitete mich zu meinem „<span class="antiqua">furnished
+room</span>“ (möbl. Zimmer). Auch ein älterer hilfsbereiter Student, der
+mir später ein lieber Freund wurde, Mr. Arthur E. W., instruierte mich
+über alles zunächst für mich Notwendige. Gottlob aber, daß ich Englisch
+verstand und sprach!</p>
+
+<p>In meinem „<span class="antiqua">furnished room</span>“ fand ich alles zum Leben Notwendige
+beisammen, einen großen behaglichen Kamin, den ich aber selbst zu
+heizen hatte! In Amerika gilt ja überall: „Selbst ist der Mann! Da
+tritt kein andrer für ihn ein, auf sich selber steht er da ganz
+allein!“ Ich habe das Heizen des offenen Kamins auch redlich oft drei-
+bis viermal versucht, die aufgeschichteten Holz- und Kohlenstöße
+kunstgerecht zu entfachen und dann hübsch in Brand zu halten, aber der
+ungewohnte amerikanische Kamin hatte seine Tücken und wollte sich<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span>
+wahrscheinlich auch von so einem „<span class="antiqua">damned German</span>“ nicht ohne
+weiteres anheizen lassen. Aber auch in der deutschen Universitätsstadt
+Tübingen ging es zu meiner Zeit einem sehr gescheiten Stiftler
+ebenso, so daß er schließlich dem dortigen Hausmann verzweifelt
+sein Leid klagte. Der kam und sagte lakonisch: „Wenn i das Fujer’
+wär’, i ging au aus!“ So kam auch hier schließlich ein rettender
+Engel und half dem unpraktischen Deutschen aus der kalten Hölle.
+Aber noch öfters saß ich ungeheizt, natürlich gerade dann, wenn etwa
+einer der Herren Professoren mir seinen liebenswürdigen Gegenbesuch
+machte, so daß mir noch heute der alte weißhaarige, in Samaria eifrig
+ausgrabende Professor Lyon leid tut, der so fröstelnd in meinem hohen
+strohgepolsterten Lehnstuhl saß und sicher mit wissenschaftlicher
+Schärfe im Stillen die Ursache der Kälte in der sonst warmen Hall
+zu ergründen suchte. Bei mir lagen eben die mächtigen Holzklötze,
+die sonst in den offenen Kaminen schwelen, meist nur angekohlt und
+fröhlich rauchend, aber ohne zu wärmen hinter ihrem Gitter, obwohl
+ich nachher so ziemlich die höchste Rechnung für Heizmaterial am Ende
+des Semesters zu begleichen hatte!! Wenn nicht in dem Januarblizzard,
+der einen meterhohen Schneefall brachte und -20° <span class="antiqua">R</span> ein anderer
+weit herumgekommener amerikanischer Freund, Mr. Moore, der besonders
+für Konstantinopel, die Türken und die Griechen schwärmte, sich meiner
+erbarmt oder mein japanischer Freund Mr. Ashida, heute in Kyoto
+Dekan der Doshisha-Hochschule, mich in sein wohlgewärmtes trauliches
+japanisches Zimmer mit hinübergenommen hätte, wäre ich wohl eines Tages
+eines seligen Kältetodes gestorben&#160;...</p>
+
+<p>Weiter enthielt mein „<span class="antiqua">furnished room</span>“ einen sehr schönen
+Schreibtisch mit jenem obenerwähnten strohgepolsterten Lehnstuhl, einem
+Schaukelstuhl, zugleich Ehrensitz für hohen Besuch, zwei Bücherregale,
+ein paar einfache Stühle und einen kleinen Alkoven, in dem das Bett
+stand, und von dem aus ich den schönsten Blick in die malerischen
+und träumerischen Universitätsanlagen hatte. Hier sah ich das letzte
+goldene Herbstlaub des „<span class="antiqua">indian summer</span>“ zu Boden wirbeln, hier
+sah ich den feuchten Novembernebel um die Bäume rieseln, hier sah ich
+den<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> Schnee in wilden Massen niederwirbeln und auf leisen Sohlen den
+amerikanischen Frühling sich nahen&#160;...</p>
+
+<p>Mein großer grüner Koffer war zuerst noch nicht da. So legte ich
+mich die ersten Nächte im Mantel zu Bett. Meine Photographien von
+den Lieben und Freunden daheim stellte ich auf das Kamingesims mit
+der merkwürdigen Empfindung, an 4000 Meilen von ihnen entfernt zu
+sein. Einige deutsche Kunstwartbilder hing ich mir als Schmuck
+an die Wand. Drüben und neben mir zogen in ähnlicher Weise meine
+studentischen Nachbarn ein. Es entwickelte sich bald zwischen uns ein
+recht freundschaftlicher Verkehr. So war ich wieder einmal Student.
+An Semestern war ich wahrscheinlich der älteste im Hause, wenn auch
+nicht an Jahren. Denn die amerikanischen Studenten haben oft schon
+merkwürdige Lebensläufe hinter sich, ehe sie zu studieren anfangen.</p>
+
+<p>Nach meiner Ankunft in Cambridge machte ich sogleich meinen schuldigen
+Antrittsbesuch beim Herrn Dekan der Fakultät („<span class="antiqua">School</span>“),
+einem äußerst liebenswürdigen älteren Herrn mit weißem englischen
+Schnurrbärtchen, der mein zum Teil noch sehr fehlerhaftes Englisch
+„<span class="antiqua">marvellous</span>“ nannte und bedankte mich für die gütige Einladung
+nach Harvard. Überall fand ich eine sehr große Liebenswürdigkeit,
+Höflichkeit, Gastfreundschaft und ein unbeschränktes Entgegenkommen,
+obwohl ich selbst mit Kritik und recht freimütiger Beurteilung
+amerikanischer Verhältnisse gar nicht zurückhielt, aber überall stieß
+ich auch auf einen höchst ausgeprägten Nationalstolz. Davon könnten
+wir mehr haben! Man war stets in allen Dingen moralisch, technisch,
+politisch, wirtschaftlich wie selbstverständlich überzeugt, das
+Beste und Größte „in der Welt“ zu besitzen. An <em class="gesperrt">Quantität</em>
+aller Verhältnisse überragt ja auch in der Tat die Union alle Länder
+der Welt. Vor Deutschlands Wissenschaft neigte sich drüben alles in
+Ehrfurcht!</p>
+
+<p>Am anderen Tag begab ich mich zu den Mahlzeiten zum ersten Male nach
+einer der gemeinsamen Universitätsspeisehallen. Studenten als Kellner
+weiß gekleidet — in Amerika gar nichts Ungewöhnliches! —<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> bedienten
+selbst, nahmen die „<span class="antiqua">down-stairs-orders</span>“<a id="FNAnker_16" href="#Fussnote_16" class="fnanchor">[16]</a> entgegen, die man
+auf kleine Kärtchen schrieb, und brachten binnen wenigen Minuten von
+unten herauf alles Gewünschte. Längst vor dem Krieg war in Amerika
+der „Werkstudent“ schon fast die Regel. Auch für den wohlhabenden
+Studenten galt es schon immer drüben als unvornehm, sein Studiengeld
+vom Vater zu fordern statt selbst zu beschaffen! So arbeitete in
+der Universitätsdruckerei nachts als Setzer ein Millionärssohn! Die
+meisten „arbeiteten“ in den langen akademischen Sommerferien, die
+drüben etwa ein volles Vierteljahr umspannen, als Kellner in den großen
+Sommerhotels auf dem Lande, oder als Sprachlehrer, Bankangestellter,
+Straßenbahner, Organist, Hotelportier u.&#8239;dgl. Ich kannte einen
+Studenten, der tagsüber Vorlesungen hörte und nachts als Nachtpförtner
+in seinem Bostoner Hotel seine griechische Grammatik lernte! So
+wurde auch ich öfters gefragt, ob ich nicht einen „<span class="antiqua">job</span>“
+(Arbeitsstelle) anzunehmen wünsche. Ich habe mir dann auch neben meiner
+Universitätsarbeit mit deutschen Stunden u.&#8239;a. noch etwas Taschengeld
+verdient, bis einer der „<span class="antiqua">freshmen</span>“ (unterster Jahrgang
+im „College“), den ich unterrichtete, mir eines Tages erklärte,
+„mein Deutsch sei nicht richtig; was ich ihn gelehrt, habe ihm der
+amerikanische Professor als Fehler angestrichen“!! Da habe ich diesem
+„Frechmän“ beinahe eine ... — erklärt, daß er nicht wiederzukommen
+brauche! Und verzichtete auf solchen „<span class="antiqua">job</span>“!</p>
+
+<p>Am gemütlichsten und besten aß man in der prächtigen, gotischen
+„Memorial Hall“, die mit ihrem hohen Glockenturm wie eine große Kirche
+alle anderen Universitätsgebäude überragte. Dafür hielt ich sie zuerst
+auch, bis ich über ihre wahre Bedeutung aufgeklärt wurde. Man saß
+hier an kleinen Klubtischen zu vieren oder sechsen — gegen tausend
+Studenten aßen hier täglich! — und konnte nach Herzenslust für einen
+festen Wochenpreis von nur 5 Dollar bestellen und essen, besonders
+wenn man sich mit dem Neger gut stellte (das war hier unser alter
+guter Jackson), was und wieviel man begehrte. Und ich<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> stellte mich
+daher immer besonders gut mit ihm! Da reichte mir seine braungelbe
+Hand unermüdlich hin, wonach das Herz verlangte. Was für fröhliche
+Stunden haben wir in Memorial Hall verlebt! Mittags um zwölf Uhr zum
+„<span class="antiqua">lunch</span>“ und abends fünf oder halb sechs zum „<span class="antiqua">dinner</span>“,
+der Hauptmahlzeit. Da fand sich an unserem Tisch ein deutscher Student
+der Philologie aus Heidelberg ein, von dem man rühmte, daß seine
+englische Aussprache besser sei als die der Eingeborenen! Mit dem Grad
+eines <span class="antiqua">A. M.</span> (<span class="antiqua">Master of arts</span>) kehrte er in die Heimat
+zurück. Weiter verkehrte bei uns ein Privatdozent der Chemie aus Prag,
+der heute ordentlicher Professor in München ist, dazu drei bis vier
+junge smarte Amerikaner, ein Pflanzerssohn aus dem Südstaat Carolina,
+dessen Devise war: „Wenn dir einer dumm kommt, box ihn nieder!“;
+ferner der gereifte Bruder eines angesehenen Baptistenpredigers in
+Boston und endlich ein dritter Schmächtiger auch aus dem Süden, der
+ungeheuer viel Pfeffer auf seine Speisen warf und dazu unbändig
+rauchte und dessen Losung war: „Was sich dir in den Weg stellt, schieß
+nieder!“ Typisch für die aus den Pflanzer- und Südstaaten! Alle
+meine Bekehrungsversuche, seine Sitten und Anschauungen zu mildern,
+scheiterten. Unsere Sprache untereinander war nur englisch. Und das
+war gut. Nur der Prager Chemiker — ein echter Deutschösterreicher —
+konnte es nicht lassen, wenn er den Heidelberger und mich einmal allein
+am Tisch traf, doch mit seinem urgemütlichen wienerischen Dialekt
+herauszurücken, was dort drüben doppelt heimatlich klang ... Auch
+fand er, die amerikanischen Girls, auf die er manchmal ein Auge warf,
+„fräßen einem richtig aus den Händen“&#160;...</p>
+
+<p>Ich gewöhnte mich schnell an die amerikanisch-akademische
+Tageseinteilung. Früh acht Uhr besuchte ich gern der Sitte gemäß
+die „<span class="antiqua">morning prayers</span>“ in Appleton Chapel, der traulichen
+Universitätskapelle. Hier gab es — echt amerikanisch —
+„<span class="antiqua">five-minutes-addresses</span>“! (Ob wir Deutsche das auch fertig
+brächten?) Dann sang ein kleiner melodischer Studentenchor. Von da
+ging man zum Frühstück, das in Amerika mit Früchten beginnt und mit
+Koteletts endigt. Von neun bis zwölf<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> hörte man Vorlesungen. Punkt
+zwölf erschien man wolfshungrig zum „<span class="antiqua">lunch</span>“, daran schloß
+sich ein kleiner Spaziergang am Ufer des Charles River oder ein
+Tennisspiel. Von zwei bis fünf Uhr war man wieder entweder im Colleg
+oder Seminar, übte oder las in der Bibliothek, falls man nicht einen
+Klubvortrag besuchte. Ehe man zum <span class="antiqua">dinner</span> ging, ging es in die
+akademische Turnhalle<a id="FNAnker_17" href="#Fussnote_17" class="fnanchor">[17]</a>, um rasch einige „<span class="antiqua">physical exercises</span>“
+in der ganz vorzüglich mit den raffiniertesten Geräten ausgestatteten
+Universitätsturnhalle vorzunehmen. Danach nahm man allgemein ein
+sehr ungeniertes Bad, das dem lateinischen Namen der Turnhalle voll
+entsprach. Nach solchen wohlberechneten Vorbereitungen schmeckte das
+<span class="antiqua">dinner</span> in Memorial Hall einzigartig prächtig. Um sieben Uhr rief
+die Hausglocke der <span class="antiqua">hall</span> zum „<span class="antiqua">evening-prayer</span>“ und danach
+war noch etwa drei bis vier Stunden stille Arbeitszeit, um Bücher
+zu lesen, Referate anzufertigen u.&#8239;dgl. Ich bekam vor der Quantität
+geistiger Arbeit der amerikanischen Studenten allen Respekt!</p>
+
+<p>Gleich zu Anfang des Semesters fanden die großen offiziellen
+Feierlichkeiten der <em class="gesperrt">Einführung des neuen Universitätspräsidenten</em>
+statt. Die „Registration“ (bei uns „Immatrikulation“) war hingegen
+sehr einfach und unformell. Man wurde schnell mit seinen Personalien
+in ein Buch geschrieben. Das war alles. Aber die Inauguration des
+Präsidenten war höchst feierlich und großartig. Vierzig Jahre lang
+hatte der ehrwürdige, wohl über achtzigjährige <span class="antiqua">Dr.</span> Eliot
+das Universitätszepter geführt. (Die Universitätsrektoren amtieren
+drüben auf Lebenszeit!) Nun galt es seinen Nachfolger auf Lebenszeit
+einzuführen, <span class="antiqua">Dr.</span> Lowell. Über 200 Professoren aus dem ganzen
+Land waren dazu zusammengeströmt, Harvard zu Ehren. Vor der Haupthalle
+der Universität, einem schlichten hellen Gebäude im Universitätspark,
+war ein Podium aufgeschlagen, auf dem alle die Ehrengäste und der
+eigene Lehrkörper in ihren feierlichen Doktortalaren unter freiem
+Himmel Platz nahmen. Über der ganzen Feier lag blendender Sonnenschein,
+und zu vielen Hunderten füllte die<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> akademische Jugend vom jüngsten
+„<span class="antiqua">freshman</span>“ bis zu den gereiften „<span class="antiqua">graduates</span>“ den weiten
+Park. Unter den Gästen wurde besonders der neuangekommene deutsche
+Austauschprofessor, ein berühmter Berliner Historiker, geradezu
+überschwänglich begrüßt als „<span class="antiqua">not surpassed by living men</span>“<a id="FNAnker_18" href="#Fussnote_18" class="fnanchor">[18]</a>.
+Der neue Präsident hielt eine lange Ansprache über Aufgaben und Ziele
+der amerikanischen Universitätsbildung und trat ein für freiere Wahl
+der Vorlesungen und bessere Vorbildung der Studenten nach — deutschem
+Muster!</p>
+
+<p>Denn der amerikanische Lehrbetrieb ist in vielen Stücken ein sehr
+anderer als bei uns. Im selben Alter, in dem wir in Deutschland in die
+Schule eintreten, tritt zwar auch der Amerikaner in die Schule ein, und
+zwar jeder, so will es die jegliche Klassenunterschiede verabscheuende
+Demokratie, die auch in der Eisenbahn nur eine Klasse erlaubt, in die
+Volksschule (<span class="antiqua">public</span> oder <span class="antiqua">grammar school</span>), die gewöhnlich
+sechs Jahrgänge umfaßt. Freilich erlaubt es das amerikanische System
+den Begabteren und Fleißigen, Klassen zu überspringen und so in wenigen
+Jahren das Ziel zu erreichen, das zur nächsthöheren Schulgattung, der
+Oberschule (<span class="antiqua">high school</span>), die etwa unserer Realschule oder den
+mittleren Klassen des Gymnasiums entspricht, hinführt. Erst im Alter
+von dreizehn, vierzehn Jahren beginnt der Amerikaner Sprachen zu
+lernen. Bereits die <span class="antiqua">High school</span>-Kurse sind „wahlfrei“, und so
+steht die Wahl zwischen Deutsch, Französisch, Latein oder Griechisch
+oder mehreren von diesen zusammen offen. Nach vierjährigem <span class="antiqua">High
+school</span>-Besuch wird der Amerikaner reif, die Aufnahmeprüfung zum
+„<span class="antiqua">college</span>“ zu bestehen. Das <span class="antiqua">college</span> bildet den Grundstock
+der Universität und kann eigentlich mit keiner deutschen Einrichtung
+verglichen werden. Das „<span class="antiqua">college</span>“, englischen Ursprungs, dient
+keineswegs dazu, auf die sogenannten „akademischen“ Berufe, wie wir
+sagen, vorzubereiten, sondern den Amerikaner zum „Gebildeten“ und
+„<span class="antiqua">gentleman</span>“ in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht
+heranzubilden. Die Lehrgegenstände des <span class="antiqua">college</span> sind völlig
+wahlfrei<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> und entsprechen ihrem Gehalt nach ungefähr dem, was wir
+in den Oberklassen des Gymnasiums und in den ersten Semestern auf
+der Universität lernen. Nur darf nie vergessen werden, daß nirgends
+in Amerika genau der gleiche Maßstab, dieselben Anforderungen und
+die gleiche Güte vorherrscht. Die Teile des Riesenlandes sind so
+ungeheuer voneinander verschieden, vor allem der Westen und Süden
+vom Osten, den alten Neuenglandstaaten mit dem geistigen Zentrum
+Boston und der Harvard-Universität, daß die qualitative Gleichheit
+der Schulen und <span class="antiqua">colleges</span> ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Ein
+kleines <span class="antiqua">college</span> des Westens lehrt vielleicht nicht mehr, als
+was bei uns ein Tertianer oder Untersekundaner lernt, während der
+<span class="antiqua">college</span>-Student in Harvard Zutritt zu Kursen hat, die keiner
+deutschen Universität Schande machten. Der <span class="antiqua">college</span>-Student,
+der im gleichen Alter das <span class="antiqua">college</span> bezieht, wie wir etwa die
+Universität, obwohl er noch nicht dieselbe wissenschaftliche Höhe
+erreicht hat, kann, weil er völlig freie Hand in der Wahl seiner
+Vorlesungen hat, schon auf dem <span class="antiqua">college</span> spezialisieren, wenn er
+später in eine Fachschule (<span class="antiqua">Graduate school</span>), die am ehesten
+unseren Fakultäten entspricht, einzutreten gedenkt. Die meisten
+aber halten sich nur im <span class="antiqua">college</span> auf, um eine „<span class="antiqua">liberal
+education</span>“ zu gewinnen, um ihre Allgemeinbildung zu vollenden,
+d.&#8239;h. sie haben kein spezielles wissenschaftliches Interesse, hören
+Literatur, Geschichte, Philosophie und suchen nach vierjährigem
+Lehrgang den Grad eines <span class="antiqua">B. A.</span> (<span class="antiqua">Bachelor of arts</span>) zu
+erhalten, der für eine bestimmte Anzahl (17 oder 18 dreistündiger)
+tüchtig durchgearbeiteter Vorlesungen verliehen wird. Diejenigen,
+die den <span class="antiqua">A. B.</span> haben, sind die „Gebildeten“, in welchem Beruf,
+Geschäft, Technik oder wo sonst sie sich auch später befinden mögen.
+Diejenigen, die Rechte, Philologie, Theologie und Medizin, Mathematik
+und Naturwissenschaft eingehend studieren wollen, um Richter, Prediger,
+Professor u.&#8239;dgl. zu werden, treten in die „<span class="antiqua">graduate school</span>“
+ein, die allein denen, die den <span class="antiqua">degree</span> des <span class="antiqua">B. A.</span> besitzen,
+offen steht. In der <span class="antiqua">graduate school</span> (<span class="antiqua">Law School</span>,
+<span class="antiqua">Medical and Divinity School</span> und <span class="antiqua">Faculty of Arts and
+Sciences</span>), die unseren mittleren und letzten Semestern entspricht,<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span>
+wird etwa drei bis vier Jahre gearbeitet und der Doktorgrad erreicht.
+Aber das Studentenbild in der <span class="antiqua">graduate school</span> ist von dem
+unseren auch wieder recht verschieden. Der <span class="antiqua">college</span>-Student
+ist zwar in dem Alter unserer Studenten, es fehlt ihm aber manchmal
+an dem eigentlichen „wissenschaftlichen“ Interesse, dafür ist sein
+ganzes Gehaben vielleicht ein ganz Teil jugendlicher als das unserer
+Studenten. Der <span class="antiqua">graduate</span>-Student aber in der <span class="antiqua">graduate
+school</span> übertrifft meistens unser Studentenalter beträchtlich;
+denn durchaus nicht alle treten sofort nach Vollendung ihres
+<span class="antiqua">college</span>-Studiums in eine Fakultät ein, sondern viele arbeiten
+zuerst eine Zeitlang in einem praktischen Berufe und verdienen sich
+das teure Studiengeld erst selber. So kann das für uns merkwürdige
+Verhältnis eintreten, daß z.&#8239;B. einer bereits eine eigene Pfarrstelle
+auf dem Lande inne hat, die ihm mit der sonntäglichen Predigt den
+Unterhalt für sein theologisches Studium gibt, das er jetzt erst
+eigentlich beginnt (!!). Andere sind in einem Geschäft gewesen oder
+haben an einer Schule bereits einige Zeit <em class="gesperrt">gelehrt</em>; andere
+sind während ihres Studiums noch in allerlei Nebenberufen tätig. Ein
+„Instruktor“ in Nationalökonomie spielte gar in einem Professorenhause
+den Hausmeister, versorgte morgens um sechs Uhr im Winter die
+Dampfheizung des Hauses mit Kohlen; wieder ein anderer war Organist in
+einer Kirche!</p>
+
+<p>Es existierte nie Klassengeist; der Student bildete nie eine
+soziale Sonderschicht. „Arbeit“ war drüben immer ein allgemeiner
+sittlich-demokratischer Begriff, der für den Studenten sich
+keineswegs auf wissenschaftliche allein beschränkte. Andererseits
+ist auch die wissenschaftliche Arbeit nicht höher eingeschätzt als
+andere. Jede Arbeit ist „<span class="antiqua">work</span>“, gleichgültig, was für eine;
+ausgenommen vielleicht Stiefelputzen, das für den Amerikaner einen
+antidemokratischen Geruch mit sich führt. Nur der, der arbeitet, ist
+geachtet. Die Achtung bezieht sich aber fast allein auf die Quantität
+der geleisteten Arbeit und die mit ihr verbundenen Einnahme, nicht so
+sehr auf ihre qualitative Eigenart! Die Art des Studiums ist daher
+von der unseren recht verschieden. Während wir kein höheres Ideal
+als das der „akademischen Freiheit“<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> kennen, d.&#8239;h. der völligen
+Selbstbestimmung in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht,
+ist dieser Begriff der amerikanischen Universität, mit Ausnahme der
+Wahlfreiheit der einzelnen Fächer, völlig fremd. Das <span class="antiqua">college</span> und
+die <span class="antiqua">graduate school</span> ist eine höhere und höchste Art „Schule“,
+nichts anderes. So hat der einzelne Student seinen vorgeschriebenen
+(!) Platz im Kolleg, er hat seine genau bis auf Stunde und Seite
+„vorgeschriebene“ Lektüre zu jeder Vorlesung aufzuarbeiten; er hat
+oft wöchentliche, monatliche oder mindestens halbjährliche Prüfungen
+zu bestehen, wöchentliche oder monatliche schriftliche Referate
+und Aufsätze oder größere Arbeiten einzuliefern, die vom Professor
+korrigiert und zensiert werden! Fernbleiben vom Kolleg ist völlig
+unbekannt, Bummeln ausgeschlossen. Der Student sucht nicht seinen
+eigenen Weg in der Wahl seiner Lektüre, in seiner Privatarbeit und in
+seinen Spezialstudien, die ihn vielleicht dieses Semester dahin und
+das nächste dorthin führen, sondern mit der Wahl eines Kollegs ist
+sein Weg Schritt für Schritt genau vorgezeichnet. Eine solche Fülle
+der Lektüre und Aufsätze überschüttet ihn, daß kaum ein Quentchen Zeit
+für eigene Wege übrig bleibt. So rechnet man konsequent sehr genau
+mit der Seitenzahl (!) der Lektüre, die in diesem und jenem Kolleg
+vorgeschrieben ist; die Aufsätze werden nach der Vielstelligkeit der
+Zahl ihrer Worte von den Studenten taxiert und mit Mindestforderungen
+der Zahl der Seiten und Worte abgegrenzt(!); das Interesse richtet
+sich auf die <em class="gesperrt">Anzahl</em> der dreistündigen Vorlesungen, die einer
+bewältigt, die <em class="gesperrt">Zensuren</em>, die er für seine „<span class="antiqua">papers</span>“
+davonträgt, und den „<span class="antiqua">degree</span>“ (akademischen Grad), den er
+zu bestimmter Zeit mit der Aufarbeitung einer <em class="gesperrt">Anzahl</em> von
+Vorlesungen erlangen kann, und <span class="antiqua">last not least</span> — das Einkommen
+der Stelle, die er mit einem <span class="antiqua">Harvard-degree</span> zu erlangen hofft!
+Ich will nicht zu schwarz malen. Aber dasselbe quantitative Urteil,
+das hier von jedem neuen Gebäude oder kostbaren Gemälde vor allen
+Dingen den Preis zu nennen weiß, das jede neue gute Institution mit
+dem Titel „<span class="antiqua">the best and highest in the world</span>“ belegt, breitet
+seine unheilvollen Schwingen auch über die Wissenschaft. Es war für
+mich<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> ein sehr eigentümlicher Eindruck, als ich zum erstenmal in
+den Lesesaal der Universitätsbibliothek trat und die langen Reihen
+Bücher sah, — genau bezeichnet für jeden Kurs, keins weniger und
+mehr als vorgeschrieben (!) — und eine Fülle lesender Studenten —
+aber nur in „vorgeschriebener“ Lektüre von Seite soundsoviel bis
+Seite soundsoviel, kein Wort mehr oder weniger — da ist der Geist
+freier, ungebundener, eigener kritischer Wissenschaft erstickt im
+Staub pedantischen Schulgeistes, der rechnet, statt wägt, ißt, aber
+nicht selbst verdaut, „lernt“, aber nicht „studiert“, eine Menge
+Bücher kennt und doch kein Forschungsfeld überschaut, der nichts ahnt
+von der unendlichen Weite und Tiefe wirklich eigener selbständiger,
+kritischer, wissenschaftlicher Arbeit; der nie recht wissenschaftlich
+arbeiten lernt trotz mehrjährigen täglichen zehn- oder zwölfstündigen
+Fleißes! Der ganze amerikanische Universitätsgeist leidet an seiner
+Schulmäßigkeit: Auch die Dozenten müssen fast soviel Stunden in der
+Woche wie unsere Schullehrer geben. Der Universitätsprofessor ist mehr
+Lehrer als Gelehrter. Auch seine Bezahlung steht nicht im Verhältnis
+zu dem Reichtum des Dollarlandes, und sein Ansehen ist nicht mit dem
+eines deutschen akademischen Professors zu vergleichen. Alles dies soll
+keineswegs in Abrede stellen, daß auch Amerika sehr tüchtige Gelehrte
+und kritisch begabte Studenten hervorbringt, aber mehr trotz als
+infolge seines Systems. Und doch ist es auffällig, in welcher Überfülle
+die Übersetzungen deutscher wissenschaftlicher Bücher in Gebrauch sind,
+und geradezu rührend ist es zu beobachten und zu hören, mit welch
+aufrichtiger und uneingeschränkter Bewunderung der gebildete Amerikaner
+immer wieder zu dem Land der Dichter und Denker hinaufschaut.</p>
+
+<p>So hatte also auch ich meine liebe Not, genügend freie Zeit für
+meine eigenen Studien zu behalten, Land und Leute kennenzulernen
+u.&#8239;dgl., wenn auch ich mit einem „<span class="antiqua">degree</span>“ geschmückt Harvard
+wieder verlassen wollte. Und ohne <span class="antiqua">degree</span> gilt man ja drüben in
+akademischen Kreisen gar nichts. Und ohne <span class="antiqua">degree</span> zu scheiden,
+hätte mich in amerikanischen Augen als Faulpelz gekennzeichnet&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
+
+<p>Die Inaugurationsfeier schloß mit dem üblichen Gebet, Musikchören
+und dem Jubel der „<span class="antiqua">college-men</span>“. Anderntags war noch einmal
+große Vorstellung aller fremden Gäste in der Repräsentationshalle
+der Universität, in „Sanders Theatre“, das seinen Namen von seiner
+theaterähnlichen Rundung hat. Der neue Universitätspräsident, vom
+Stab seiner Dekane begleitet, begrüßte feierlich jeden fremden Gast,
+indem er ihn mit allen seinen Titeln und Verdiensten ausführlich
+der Studentenschaft vorstellte. Jedesmal antwortete wüstes
+Beifallsgeschrei. Es waren auch zwei weibliche Professoren und die
+Spitzen von Heer und Marine unter ihnen, die von den Studenten
+besonders brüllend bejubelt wurden. Alle anderen wurden laut und immer
+lauter beklatscht beinahe zwei Stunden lang. Langsam defilierten sie
+auf dem Podium vorüber, zum Teil ehrwürdige Gestalten und noch junge
+Doktoren aus der Nähe und der Ferne, ja sogar auch aus Kalifornien und
+Texas, die geistige Elite der Union.</p>
+
+<p>Abends brachten die „<span class="antiqua">fresh-men</span>“ dem neuen Präsidenten einen
+Fackelzug im „Stadium“ dar. Das Stadium ist ein ungeheurer, etwa 40&#8239;000
+Personen fassender, elliptischer offen amphitheatralischer römischer
+Zirkusbau, der den großen Universitätsfußballspielen dient. Heute lag
+er im Dunkeln. Nach dem Einlaß kletterte alles affenähnlich über die
+weiten und hohen Betonsitzreihen, die stumm dalagen und sich hell vom
+klaren Nachthimmel abhoben, bis das schier unermeßliche Rund doch nur
+zum kleinsten Teil mit Menschen gefüllt war. Dann nahten in langem
+feierlichen Zug die <span class="antiqua">fresh-men</span> mit ihren Fackeln, d.&#8239;h. sie
+trugen auf Stangen kleine Töpfe mit brennendem Öl, an 1200 Mann zu
+je zweien nebeneinander, ein wirkungsvoller Zug. Im Stadium führten
+sie allerlei Reigen und Freiübungen aus, die sich mit den Lichtern im
+Dunkeln außerordentlich eindrucksvoll ausnahmen. Den Schluß machte ein
+Buntfeuerwerk, das zu allerletzt die Namen des Präsidenten und des
+<span class="antiqua">college</span> zeigte. Der also gefeierte Präsident hielt eine kurze
+Dankesansprache, die in dem großen Rund ausgezeichnet zu verstehen
+war. Mit einem an Indianergeheul erinnernden vieltausendstimmigen
+„Ra-Ra-Ra-Ra ...“,<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> dem traditionellen studentischen Ruf, endete die
+Feier. Die Zeitungen waren noch Tage und Spalten lang voll davon&#160;...</p>
+
+<p>„<span class="antiqua">Vivat academia, vivant professores</span>“ heißt es in dem alten
+deutschen Studentenlied. So kommen nun nach der <span class="antiqua">academia</span> die
+Professoren daran, mit denen ich drüben zusammen sein konnte. Ihr
+allzeit so sehr gefälliges Entgegenkommen habe ich schon gerühmt und
+verdient auch hier eigenen Dank. „<span class="antiqua">What can I do for you?</span>“ war
+die ständige Redensart der höflichen Menschen drüben. Der erste,
+der mich freundlich empfing, war der auch in Deutschland als erster
+Austauschprofessor und durch seine Schriften bekanntgewordene
+Sozialethiker Francis G. Peabody, ein Typus des hochgebildeten und
+vornehmen Neuengländers. Er hatte ein prachtvolles und nach jeder Seite
+hin ausgezeichnetes sozialethisches Seminar eingerichtet, wie drüben
+überhaupt alle Seminare, Bibliotheken, Laboratorien an Reichtum der
+Mittel dank der großen Stiftungen der Millionäre die unseren oft weit
+überragen. So findet man drüben in den Bibliotheken nicht bloß die
+gesamte amerikanische und englische Fachliteratur, sondern auch die
+deutsche, französische und italienische, so daß ich meinen schweren
+grünen Koffer mit den vielen Büchern hätte ruhig zu Hause lassen können
+und mir manche Kosten und Ärger ersparen. Freilich Peabodys Vorlesung
+enttäuschte mich. Gewiß ließ der Vorlesungsraum nichts zu wünschen
+übrig. Auf was für vorsintflutlichen Bänken hatte man einst im Tübinger
+Stift gesessen. Hier feine bequeme Subsellien, aufklappbare Halbtische,
+so daß man bequem die Beine beim Schreiben noch übereinanderschlagen
+konnte, wie es der Amerikaner liebt. Nur Gelegenheit, Hüte usw.
+aufzuhängen, sah ich nicht. Die Studenten steckten ihre Mützen in die
+Tasche oder brachten gar keine mit. Freilich die Beine <em class="gesperrt">auf</em> den
+Tisch legte im Kollegraum niemand, wie ich das in den Klubzimmern
+täglich und reichlich zu sehen Gelegenheit hatte. Als der Professor
+eintrat, erhob sich niemand; niemand trampelte oder gab sonst ein
+Zeichen studentischer Begrüßung, vielmehr wurde lustig weitergeschwatzt
+und gelacht! Die erste Stunde bestand fast nur in Ankündigungen des
+Semesterpensums, Aufgabe der „vorgeschriebenen“<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> Lektüre, Verteilung
+von gedruckten Dispositionen, zwar alles klar und praktisch — aber
+eben auch reichlich schulmäßig. Ich empfand gar nicht, auf einer
+Universität zu sein.</p>
+
+<p>Mit dem deutschen Austauschprofessor trafen wir im „<em class="gesperrt"><span class="antiqua">cosmopolitan
+club</span></em>“ zusammen, einer interessanten Vereinigung von etwa
+hundert Studenten aus aller Herren Länder, Griechen, Siamesen,
+Chinesen, Japanern, Brasilianern usf., denn Harvard hat Weltruf. Der
+Professor nahm aber merkwürdigerweise von uns Deutschen recht wenig
+Notiz! Er sprach fließend englisch, wenn auch mit deutschem Akzent,
+an jenem Nachmittag ein für amerikanische Ohren wenig glückliches
+Thema, nämlich über „deutsche — Trinksitten“! Damals schon war
+Amerika zu zwei Dritteln „trockengelegt“. Heute ist es es ganz.
+Cambridge war schon immer eine völlig „abstinente“ Universitätsstadt.
+Der Erfolg der Ansprache war, daß ulkige Studenten dem berühmten
+Gelehrten beim Abschied zwei leere — Bierflaschen in seine Rocktaschen
+praktizierten!! Bei Professor <em class="gesperrt">William James</em>, dem berühmten
+Psychologen, einem Sohn eines swedenborgischen Predigers in Neuyork und
+dem Bruder des bekannten Novellisten Henry James, durfte ich öfters
+weilen. Bald konnte ich formlos mit ihm über seine neue pragmatistische
+Philosophie plaudern, über die damals eifrigst diskutiert wurde, bald
+durfte ich an seinem Tisch den „<span class="antiqua">Thanksgiving-turkey</span>“, d.&#8239;h.
+den traditionellen Truthahn an dem nationalen Danksagungstag am 27.
+November mitverzehren. Er war der Meinung, daß Wahrheit nur in der
+<em class="gesperrt">Praxis</em> des Lebens selbst <em class="gesperrt">erlebt</em>, aber nicht im voraus
+von uns theoretisch festgestellt werden kann. Das, was sich bewährt,
+das, was „stimmt“, was uns weiterführt, was Erfolg verheißt, ist wahr.
+M.&#8239;a.&#8239;W. die Wahrheit „bewahrheitet“, realisiert sich selbst. James
+war immer ein Mensch von seltener Liebenswürdigkeit und Herzensgüte,
+vornehmer Schlichtheit und einem feinen Humor. Nichts war ihm mehr
+verhaßt als Fertig- und Abgeschlossensein. Er selbst blieb immer ein
+Lernender. Auch war er für alles interessiert, denn alles war ihm ein
+Stück Wirklichkeit in diesem großen wunderbaren Universum, zu dem
+wir selbst, wie er<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> von seinem voluntaristischen und aktivistischen
+Standpunkt aus meinte, vielleicht den allerwichtigsten Beitrag
+liefern. Dies Universum ist, meinte er, nicht fertig, sondern es wird
+noch ständig; es wird vornehmlich zu dem, wozu wir es machen. Und
+gute geheimnisvolle Mächte stehen uns dabei hilfreich zur Seite. So
+interessierte er sich auch besonders zeitlebens für den Spiritismus
+und Okkultismus als psychologisch-metaphysisches Problem und schloß
+doch zuletzt ehrlich und behutsam mit einem <span class="antiqua">non liquet</span>. Er soll
+vor seinem Tode seiner Familie versprochen haben, sich, wenn möglich,
+mit ihr aus der jenseitigen Welt zu verständigen, um ihr von ihr einen
+Wirklichkeitsbeweis zu geben. Und seine Familie behauptete wohl auch
+nach seinem Tode, von ihm Botschaften empfangen zu haben (!). Für James
+war nichts zu bizarr und zu ungewöhnlich, daß er als Psycholog es nicht
+untersucht hätte. So war er der Psycholog, der auch allem Wunderlichen
+und Pathologischen nachspürte. Die Haupttypen der religiösen Menschen
+führte er auf ihre verschiedene Nervenanlage zurück. Nach ihm gibt es
+zartbesaitete (religiöse) und grobkörnige (unreligiöse) Menschen. Die
+religiöse Seelenanlage im Menschen entbindet s.&#8239;E. die wertvollsten
+sittlichen Mächte im Menschen. Aber wir müssen im Leben abwechseln
+zwischen der Haltung des sich selbst verleugnenden Frommen, wie
+es Buddhismus und Christentum fordern, und dem Nietzschetypus des
+sich selbst behauptenden und sich durchsetzenden Menschen. Diese
+Jamessche Philosophie ist durch und durch amerikanisch, praktisch,
+wirklichkeitsnah, systemlos, dem Willen und Handeln entsprechend,
+tatenfroh und lehnt doch keine übersinnliche Wahrheit, wenn sie sich
+bewährt, ab. Welches Glück, den bedeutenden Mann noch kennenlernen zu
+dürfen!</p>
+
+<p>Auch mit dem Universitätspräsidenten selbst traf ich bei einer
+„<span class="antiqua">reception</span>“, einem Empfangsabend, bei unserem Dekan zusammen.
+Diese Empfänge hatten freilich etwas sehr Förmliches und Steifes.
+Zuerst stand man wortlos herum, unterhielt sich krampfhaft mit allen
+möglichen fremden und unbekannten Gästen, eine Tasse Tee in der einen
+und einem Gebäck in der anderen Hand (aber Vorsicht war<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> nötig, die
+Tasse nicht auf die feinen Teppiche oder das Parkett zu verschütten!),
+bis man vom Mittelpunkt des Abends, dem Präsidenten, auch einmal
+ins Gespräch gezogen wurde, der uns allen ein paar Minuten die Hand
+schüttelte. Äußerst geschickt lenkte der Präsident bei mir, dem
+Deutschen, das Gespräch sofort über auf 1870, die deutschen Gegensätze
+von 1866 und auf das bismarckische Deutschland — aber stets mit
+vornehmer Achtung, ja Bewunderung. Lebhaft und sprühend waren dabei
+im Gespräch seine sonst etwas in der Ferne scheinbar ausdruckslosen
+Augen. Welche Aufgabe aber für diesen Mann, täglich zu repräsentieren,
+Ansprache über Ansprache zu halten, auch für den Fremdesten sofort
+ein Thema zu finden ... An Gewandtheit stand ihm nicht nach Prof.
+<em class="gesperrt">E. C. Moore</em>, der selbst lange in Deutschland studiert hatte und
+auf dessen Studiertisch ich eine Menge deutscher wissenschaftlicher
+Zeitschriften sah. Ich war zum Abendessen geladen. Bei uns ist man
+bei Einladungen größere Portionen gewöhnt als in Amerika. Und das
+Getränk war — echt amerikanisch — ein Glas frisches Wasser mit einem
+Stückchen Eis zur Kühlung! Glücklicherweise hatte auch Freund R. mich
+noch rechtzeitig ermahnt, „<span class="antiqua">full dress</span>“ anzulegen.</p>
+
+<p>Sehr oft waren wir Deutsche auch bei dem deutschen, aber
+amerikanisierten Professor der Psychologie <em class="gesperrt">Münsterberg</em>
+eingeladen. Mit seinen trefflichen Büchern über „Amerika und die
+Amerikaner“ hat er den ersten völlig sachgemäßen Vermittlerdienst
+zwischen Deutschland und Amerika geleistet. Auch dort war
+„<span class="antiqua">reception</span>“, bei der allerlei bedeutende Leute auftauchten:
+Eduard Meyer, Präsident Eliots ehrwürdige greise Gestalt ... währenddem
+reichten Diener in großer Livree Eiskream und Limonade herum. Eine
+der Töchter des Hausherrn wurde von meinem Heidelberger Freund stark
+umworben ... Ein andermal war es bloß „offener Nachmittag“ bei Frau
+Professor M., die sachgemäß hinter einem riesigen Teekessel thronte,
+aber immer gastlich und fürsorglich. Bei Professor F. stellte sich
+heraus, daß seine Frau eine nahe Verwandte einer mir sehr bekannten
+Frankfurter Familie de Neufville war. Wie die Welt rund und klein ist
+...!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p>
+
+<p>Nach den Professoren ein Wort über die <em class="gesperrt">Studenten</em> und ihr
+geselliges Leben: Sehr viel Anregung bot mir der schon erwähnte
+„<span class="antiqua">cosmopolitan Club</span>“. Ich verkenne nicht den Wert und das Erbgut
+der Nation und habe mich erst recht drüben mit Stolz als Deutscher
+gefühlt und Deutschlands Wert trotz allem in der Welt erfahren, aber
+doch habe ich immer auch einen starken Zug in die Welt verspürt,
+mich auch als „Mensch“ denn nur als Angehöriger einer festumgrenzten
+Volksindividualität zu fühlen und mich mit Angehörigen auch einer
+recht fernen Rasse in allem Menschlichen einig empfunden, ob es der
+Negerstudent Mac Sterling war, der mich auch in sein Logis lud, oder
+Freund Ashida, mein japanischer Studiengenosse, oder etliche Griechen,
+Armenier oder Siamesen und was sonst alles in Harvard auftauchte.
+Mehr Berührung mit einzelnen Angehörigen fremder Völker und die Lust
+zu neuen furchtbaren Kriegen wird in der Menschheit sich mindern! Im
+<span class="antiqua">cosmopolitan Club</span> sprachen die interessantesten Redner: Erst
+der deutsche Historiker, dann war Präsident Eliot angezeigt, danach
+ein belgischer Konsul über den Kongostaat und seine „rechtmäßige“
+Erwerbung, danach ein Spanier von Geburt, Professor Santyana über
+die zwei Hauptweltströmungen, die klerikal-monarchisch-konservative
+und sozialistisch-freimaurerisch-revolutionäre. Darauf „talkte“ ein
+juristischer Harvardprofessor, der damals so etwas wie Justizminister
+des Königs von Siam war, über seinen gütigen Herrscher, dessen
+Bild im Klubraum hing, schließlich der bekannte Franzose Professor
+Boutroux, Präsident des „<span class="antiqua">institute de France</span>“ über den
+Philosophen Pascal, und zuletzt fand eine Vorlesung eines japanischen
+Universitätspräsidenten der kaiserlichen Universität in Kyoto statt.
+Er erschien mit all seinen japanischen Orden. Also wahrhaftig eine
+respektable Galerie seltener Köpfe! Andere Redner sprachen über
+die herrliche Hawai-Inselgruppe mit Lichtbildern, ein zweiter über
+Wanderungen und Bärjagden in Alaska, so daß mein wanderlustiges Herz im
+Anblick dieser herrlichen, einsamen, fast noch nie betretenen Gegenden
+fast zersprang. Daß auch ich bald noch recht weit fortreisen mußte,
+das stand mir seit jenem<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> Abend ganz fest! Gletscher, Schneewanderung,
+Zeltleben mit Eskimos und Indianern, Fahrten in der einsamen Bai,
+Bärschießen und -abhäuten, Kahnbau und Pelzfabrizieren — da wäre ich
+gern einmal dabei gewesen! Freund Moore stellte mir an jenem Abend noch
+allerlei Griechen vor, und sie nahmen mich mit in ein echt griechisches
+Restaurant in Boston, ein sogenanntes „Xenodocheion“. Ein andermal war
+sogenannter „<span class="antiqua">ladies tea</span>“, den Mrs. M. in hohem lila wallenden
+Federhut präsidierte, danach ein sogenannter „Nationalitätenabend“.
+Bei dem ersteren wurden uns allerlei graziöse Bostoner Schönheiten
+vorgestellt, darunter eine Ms. St., Freund R.s ganzer Schwarm,
+gekleidet, gepflegt und in Haltung wie eine tadellose Schaufensterpuppe
+in wundervollem Kostüm, dessen Farbe ich über ihren kirschroten Lippen,
+ihren wohlgepflegten blendendweißen Zähnen und ihren schmalen feinen
+Händen, die gewiß noch nie Kochtopf oder Scheuerlappen angefaßt hatten,
+nicht behalten habe. Aber ob ich sie hätte haben mögen? Die Amerikaner
+lieben es zwar, an Frau und Gattin nur eine Schönheit, ein Spielzeug,
+eine heitere und lebensgewandte plaudernde Gesellschafterin zu haben,
+— man sehe sich die entspr. Typen in den <span class="antiqua">magazines</span> an! — die
+keine Kinder bekommt und ihre Hausfrauenpflichten anderen überläßt,
+galante „<span class="antiqua">receptions</span>“ hält, das Auto lenkt, öffentlich redet und
+angestaunt wird. Da war mir aber doch die kleine schlichte Hobokenerin
+aus Baden bei ihrem Onkel am Küchenherd tausendmal lieber ... An dem
+anderen, dem „Nationalitätenabend“, war der Klubraum mit den Flaggen
+aller Völker sinnvoll und malerisch drapiert. Brüderlich hing die
+unsere neben der Trikolore, dem Union Jack und dem Sternenbanner. Jede
+Nationalität hatte nun einen Toast in ihrer Landessprache auszubringen
+und eine nationale Eigenheit ernst oder humorvoll den Anwesenden
+vorzuführen. Germany wurde zuerst aufgerufen! Es sprach für Deutschland
+ein ehemaliger deutscher Korpsstudent mit tüchtigen Schmissen auf der
+Backe — so recht etwas für amerikanische Herzen! — und sang die
+„Wacht am Rhein“, die viele Amerikaner begeistert mitsangen! Dann
+kamen<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> Frankreich, Spanien, Brasilien, Griechenland, Indien, China,
+Japan und Rußland an die Reihe. Welch ein interessantes Ragout gab es
+da zu hören und zu sehen: Japanische Tänze, chinesische Lieder in einer
+für unser Ohr merkwürdig unmusikalischen Art, russische Bauerngesänge,
+ein <span class="antiqua">Hindu-farewell</span>-Lied und ein japanisches Gaukelspiel. Ein
+spanischer Student führte zuletzt naturgetreu eine Prügelstrafe aus
+einer spanischen Dorfschule vor zum großen Gelächter der Amerikaner,
+die körperliche Strafen im Schulleben nicht kennen!</p>
+
+<p>Auch ein „deutscher Abend“ des „Deutschen Vereins“ fand statt.
+In dem geräumigen Festsaal der Harvard-Union war eine große
+Hufeisentafel aufgestellt — in Amerika kennt man sonst nur Klubtische
+oder Einzelsitze — um eine deutsch-studentische „Kneiptafel“
+vorzuführen. Rings an den Wänden lagen in großen Glasschränken die
+siegreichen Fußbälle aufbewahrt, mit Datum versehen, mit denen die
+Universitätsmannschaften in großen Wettkämpfen im Stadium gesiegt
+hatten. Wie Totenschädel lagen sie da in Reih und Glied und schauten
+verwundert auf das, was im Saale nun anhub. Nun wurde — in dem
+„trockenen“ Cambridge — ein Faß deutsches Bier aufgelegt und
+angesteckt, Neger servierten dabei, und die deutsche „Kneipe“ begann!
+Auf diese Weise wurde wieder einmal in den amerikanischen Studenten die
+Überzeugung befestigt, daß Deutscher und Biertrinker ungefähr dasselbe
+ist. Wie oft bin ich selbst drüben gefragt worden, ob ich denn nicht
+„mein Bier“ vermißte, während mir die in Memorialhall zu Lunch und
+Dinner allgemein viel getrunkene Milch viel besser bekam und mundete.</p>
+
+<p>Aber auch mancher <em class="gesperrt">einzelne Student</em> ist mir in der
+liebenswürdigsten Weise nahegetreten. Wie oft hat mich mein Freund
+Arthur E. W. zum schönen „<span class="antiqua">fresh-pond</span>“ begleitet, einem äußerst
+idyllisch gelegenen Teich mit reizendem Ausblick auf die Landstädtchen
+Arlington und Waverly. Wie manchmal saßen wir dort unter den dunkelen
+Bäumen, während ein leichter Wind die Wellen des kleinen Sees
+kräuselte, freundschaftlich auf einer Bank zusammen. Er lehrte<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> mich
+Miltons „<span class="antiqua">paradise lost</span>“<a id="FNAnker_19" href="#Fussnote_19" class="fnanchor">[19]</a> verstehen, ich dolmetschte ihm
+Goethes Faust, so gut es ging. Wie schwer war es, dieses urdeutsche
+Ideenwerk englisch verständlich zu machen! Wie mütterlich nahm sich
+meiner das Studentenehepaar M. an. Er <em class="gesperrt">und</em> sie studierten, und
+zwar <em class="gesperrt">beide</em> auf den philosophischen Doktor hin. Aber sie war
+noch klüger als er! Er kam schon aus praktischer Arbeit und wollte
+sich nur auf der Universität noch weiterbilden. Echt amerikanisch, da
+man eine Weile arbeitet und verdient und dann wieder studiert. Ebenso
+echt amerikanisch, daß die Frau mit dem Mann studierte! Daneben aber
+versorgte Frau M. noch ausgezeichnet ihre kleine Küche in dem kleinen
+sauberen Logis, das sie bewohnten, und wußte dann und wann noch mit
+einem freundlichen Mahl mir aufzuwarten. Manchmal dachte ich es mir
+freilich ein bißchen peinlich für den Mann, wenn die Frau bessere
+Abschlußzensuren heimbringt als er selbst! Aber der Amerikaner ist
+an die Superiorität der Frau gewöhnt. Wie gastfreundlich wurde ich
+in jenem kleinen und reizend gelegenen Landstädtchen Littleton in
+Massachusetts aufgenommen, da mich einer der Mitbewohner unserer Hall,
+Mr. Joseph H., einführte auf den Landsitz seiner Mutter und seiner
+Brüder! Wie vornehm und weitläufig war dort alles! Park, Tennisplätze,
+Veranden — und dazu die köstliche Landluft! Welch eine Stille hier
+nach dem immer noch recht belebten Boston und Cambridge. Freund H.
+war damals gerade der Vater, Inhaber einer größeren Gestühlfabrik,
+gestorben. Sofort brach der Sohn pietätvoll sein Studium ab und
+erfüllte den letzten Wunsch des Heimgegangenen, das väterliche Geschäft
+zu übernehmen. Bei dem ebenfalls verheirateten Mr. C. und seiner
+liebenswürdigen Gattin sah ich mich zum ersten Male genötigt, mit einem
+sechsjährigen Kinde englisch zu reden, das sich nicht denken konnte,
+daß es Leute gebe, die nicht von Geburt an englisch redeten! Ob ich
+immer die Worte für das wußte, wofür es sich gerade interessierte, das
+kümmerte es nicht. Es fühlte sich auf meinem Schoße trotzdem<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> wohl.
+Ein sonst delikates Huhn reichte hier nach amerikanischer Einteilung
+für — sieben Personen! Zur Erledigung dieser Portionen war ich, da es
+eine Abendmahlzeit war, ahnungslos im Frack erschienen. Aber wieder
+einmal falsch, denn es sollte ein ganz informelles studentisches Essen
+sein; und ich hatte die Gastgeberin ehren wollen, und saß nun als
+einziger den ganzen Abend in steifster Toilette! Was mag die Hausfrau
+— übrigens auch Studentin — für einen Schrecken bekommen haben, als
+sie mich in meinem <span class="antiqua">dinner-dress</span> erblickte!</p>
+
+<p>Ja überhaupt dieser „<span class="antiqua">full dress</span>“ — bis man das richtig heraus
+hatte, wo er angebracht war und wo nicht! Ich hatte schon einmal vor,
+eine Humoreske zu verfassen, betitelt „Die Geschichte meines Fracks“.
+Lieber Leser, höre, ich habe es fast immer falsch gemacht! Nur vor
+den allergrößten Dummheiten <span class="antiqua">in puncto</span> „Frack“ haben mich
+wohlmeinende Freunde glücklich bewahrt. Bei Professor L. war ich z.&#8239;B.
+Sonntags mittags eingeladen gewesen — und kam natürlich <em class="gesperrt">abends</em>
+sechs Uhr, weil ich annahm, jedes <span class="antiqua">dinner</span> sei abends sechs Uhr;
+aber Sonntags ißt man es gerade mittags! Dazu erschien ich natürlich
+abends im Frack, während man Sonntags gerade im Gehrock kommt, da man
+annimmt, daß man am Vormittag den Gottesdienst besucht hat. Schwarzer
+Rock ist aber der Kirchenrock, dazu gehört graugestreifte Hose und
+hoher Hut mit etwa braunen Glacés. So hatte ich es einmal bei Professor
+James Sonntags mittags gefunden und gedacht: Sieh, wie unformell
+benimmt sich der wahrhaft große Mann! Da sieht man es, dachte ich,
+wie sich der Philosoph über Sitte und Mode hinwegsetzt; und dabei
+hatte er sie gerade peinlichst eingehalten! Und ich war es, der es
+wieder falsch gemacht! Also merke, lieber Leser: Wochentags vor 6
+Uhr macht man Besuche im „<span class="antiqua">Prince-Albert</span>“, nach sechs Uhr nur
+in „<span class="antiqua">full dress</span>“ oder, wenn inoffiziell, im „<span class="antiqua">smoking</span>“.
+Sonntags aber ist es ganz anders. Da ist das <span class="antiqua">dinner</span> um 2 Uhr
+und der Anzug Gehrock. Bei dem Dekan machte ich am ersten Tage gar
+Besuch im Kollegröcklein, wie mir mein Freund W. geraten — und
+sicher war das als offizieller Antrittsbesuch auch<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> wieder falsch
+gewesen. Auch fiel mir auf, daß ich bei den amerikanischen Damen wenig
+Eroberungen zu machen schien — nur die Ende 60er stehende Gattin
+des trefflichen Predigers Rev. G. bemühte sich sehr um mich! Mein
+in solchen Dingen äußerst bewanderter Freund R., der Philologe und
+Anwärter des <span class="antiqua">A. M.</span>, hat es mir erklärt: Herren mit Schnurr- oder
+gar einem Vollbart seien bei Amerikanerinnen von vornherein unmöglich!
+Zu spät sah ich tiefbetrübt ein, was ich mir hatte entgehen lassen!
+Gar manches Brieflein von ehemaligen amerikanischen Studienfreunden
+erreichte mich später noch, doch nie ein rosa Billetchen von zarter
+Hand! Nur die Sekretärin der Fakultät, der ich durch meinen erworbenen
+Universitätsgrad angehörte, sendet mir unentwegt alle Prospekte und
+Einladungen zu Harvard-Banketts und Vorträgen — meist, wenn sie schon
+vorüber sind. Aber so will es ihre <em class="gesperrt">amtliche</em> Pflicht!</p>
+
+<p>Unter den vielen Einladenden war eines Tages auch der brave Hausmann
+unserer Hall, Mr. M. Ich stieg an dem betreffenden Abend freundlich
+zu ihm in seine Souterrainwohnung hinab. Denn ich war immer sozial
+gesinnt. Amerikanische Arbeiter verdienen im allgemeinen mehr und
+leben besser als die deutschen. Schon vor dem Krieg unterschied sich
+der Arbeiter drüben in Kleidung und äußerem Gebaren fast in nichts von
+dem bessergestellten Bürger. Und siehe, bei Mr. M. war es auch recht
+gemütlich. Hübsche Möbel, dazu ein Schrank voller Bücher! Das gehörte
+notwendig zum Inventar eines Universitätshausmanns. Seine Frau war
+übrigens eine geborene Schwedin aus Stockholm! Auch bei ihm gab es
+Früchte, Cakes und Tee und <span class="antiqua">ice-cream</span> wie bei einer offiziellen
+„Rezeption“, wenn auch ohne Diener und weiße Handschuhe.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>In wie schöner Erinnerung stehen mir <em class="gesperrt">die Ausflüge</em> mit den
+amerikanischen Freunden an so manchem sonnigverträumten Tag des
+„<span class="antiqua">indian summer</span>“. Es war immer aufs neue reizend, an den
+ländlichen Seen zu sitzen. Die Möwen wiegten sich auf dem blauen See.
+Im Sonnendunst grüßten die <span class="antiqua">Arlington Heights</span> herüber&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wie wiegen die Möwen sich leicht auf der Flut</div>
+ <div class="verse indent0">Und tauchen und netzen den Flügel!</div>
+ <div class="verse indent0">Wie ein mildes himmlisches Auge ruht</div>
+ <div class="verse indent0">Der blaue See unterm Hügel.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Warm scheint die Sonne aufs südliche Feld —</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Traumduft webt durch die Lande!</div>
+ <div class="verse indent0">Vielleicht stand einst hier Indianergezelt</div>
+ <div class="verse indent0">An schimmerndem Wasserrande.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Hier fischt’ er und rudert’ im leichten Boot</div>
+ <div class="verse indent0">Die wellende Flut zum Gestade;</div>
+ <div class="verse indent0">Hier labt’ er die Glieder so braun und rot</div>
+ <div class="verse indent0">Im freien, erquickenden Bade.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Hier hallte einst Kriegsruf und Mördergeschrei,</div>
+ <div class="verse indent0">Als die Weißen kamen und siegten,</div>
+ <div class="verse indent0">Jetzt ruht der Himmel friedlich und frei,</div>
+ <div class="verse indent0">Wo seit alters die Möwen sich wiegten ...</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Wie oft pilgerte ich auch allein die Massachussets-Avenue nach
+<em class="gesperrt">Arlington</em> hinaus. Nach über einstündiger Wanderung auf der
+Landstraße stieg ich links die Höhen hinauf. Pfad- und weglos —
+Amerika kennt kaum Fußwege — strich ich über die mit hübschen
+Landhäusern übersäten Hügel. Von oben ergoß sich ein herrlicher
+Blick über die parkartigen und waldigen Höhen und Talgründe mit
+ihren vielen kleinen blauen Teichen. In der Ferne lag das rauchende
+Boston mit seiner weithin leuchtenden vergoldeten Kapitolskuppel.
+Oder ich stieg rechts empor und war bald — nur eine Stunde weg von
+der Millionenstadt! — zwischen Steinen, Dornen, zerfallenen Bäumen
+und verlassenen Feldern in einem wahren Urwalde, wo vor Gestrüpp
+und Buschwerk fast gar nicht weiterzukommen war, und hatte Mühe,
+wieder einen Weg durch das prächtige Herbstlaub an den Farmhäusern
+einfacher Leute vorüber, wo Kühe weideten und Kinder spielten, nach der
+Landstraße zu finden&#160;...</p>
+
+<p>Fast noch prächtiger aber war es weiter nördlich in den sog.
+<span class="antiqua">Middlesex fells</span>, einem herrlichen Naturpark mit wundervollem
+Aussichtsturm<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> jenseits Medford und des Mystic River. Ich hatte wohl
+noch nie in meinem Leben solch prächtige Herbstfärbungen gesehen. Dazu
+das tiefe, glühende Rot des Laubes im Unterholz! Welcher Blick bot sich
+von oben bis nach dem Dichtersitz Concord, nach Cambridge und zum Meer!
+Und allerwärts eine Fülle der malerischen Landhäuser. Auch Amerikaner
+haben Natursinn! Nur ist nicht jedem vergönnt, hier draußen zu wohnen.
+Im ganzen scheint mir drüben der Wohlstand und der Wohnungskomfort
+höher zu sein als bei uns. Auch der kleine Mann hat hier sein eigen
+Häuschen und Garten und vor allem seinen „<span class="antiqua">bathroom</span>“<a id="FNAnker_20" href="#Fussnote_20" class="fnanchor">[20]</a>, denn
+Waschtische sind in den Schlafräumen unbekannt. Die <span class="antiqua">bathrooms</span>
+haben nur den Nachteil, daß ein Familienmitglied beim Ankleiden
+auf das andere oft recht lange warten muß. Bei Damen kann das eine
+Stunde währen, bis der <span class="antiqua">bathroom</span> wieder frei wird! Und da er
+zugleich auch noch anderen Zwecken dient, ist die Polonäse vor dem
+<span class="antiqua">bathroom</span> oft recht ergötzlich bzw. hochpeinlich ...!</p>
+
+<p>Je mehr ich Bostons und Cambridges Umgebung kennenlernte, um so mehr
+erschien sie mir wie eine ungeheure, wenn auch regellose Villenkolonie.
+Welch ein Kulturfortschritt! Heil den Glücklichen, die da draußen
+wohnen dürfen! Wie voll sind aber auch die Abendzüge dort hinaus! Wie
+stehen, hängen, hocken sie in fröhlicher Seelengeduld, sich stets ins
+Unvermeidliche schickend, auf Plattformen und Trittbrettern, Zustände,
+bei denen es dem biederen Deutschen graute oder er nur zu schimpfen
+wüßte. Auf den vollbesetzten Straßenbahnen sah ich die Fahrgäste
+manchmal nur noch mit zwei Fingern an einer Längsstange angeklammert,
+in vollbesetzten Lokalzügen womöglich vorn auf der Lokomotive hängen
+oder stehen!</p>
+
+<p>Auch längs der Ozeanküste und der weiträumigen Bostonbai dehnten wir
+unsere Exkursionen aus. So ging es einmal mit der Beachbahn nach dem
+alten Salem und nach dem romantischen Marblehead hinaus. <em class="gesperrt">Salem</em>
+ist eine der ältesten Ansiedlungen noch aus der Zeit der Puritaner
+(1630), heute eine kleine stille Stadt mit einigen wenigen ganz<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> alten
+Häusern an der Massachussets-Bai. Aber nach Lamprechts begeisterter
+Schilderung erwartete ich viel mehr dort. Marblehead ist Seebad der
+Bostoner. Es war schön, wieder einmal voll dem rauschenden Ozean ins
+Angesicht sehen zu können. Dumpf dröhnend spritzte der Gischt am
+steinigen Strand auf. Auf der einsamen Felseninsel Nahant kletterten
+wir in den öden, zerrissenen Felsen umher, bis uns der Schaum der in
+der Flut heranstürzenden Wogen zurücktrieb. Tausende von angeschwemmten
+Muscheln lagen umher, deren ich mir eine Sammlung mit nach Hause nahm.
+Lange noch zierten die schönsten Stücke mein Kamingesims. Und welche
+Abendstimmung erlebte ich hier draußen! Purpurrot tauchte die Sonne
+die fernen Fabrikschornsteine Bostons wie in Feuerglut, die weißen
+Villen am Strand erglühten wie Bergspitzen in den Alpen, das Meerwasser
+ward erst bronzen, dann silbern, bis am Strande die Lichterreihen der
+Straßen kleiner Städte und Vororte aufblitzten&#160;...</p>
+
+<p>Auch den historischen „<em class="gesperrt">Bunker Hill</em>“ habe ich erstiegen in der
+Vorstadt Charleston, die an sich düster und rauchig ist. Auf Bunker
+Hill hielt zum erstenmal in den Unabhängigkeitskämpfen die junge
+amerikanische Miliz den englischen Truppen tapfer stand (am 17. Juni
+1775). Im Anfang des 19. Jahrhunderts wurde zur Erinnerung daran ein 62
+<span class="antiqua">m</span> hoher sehr aussichtsreicher Obelisk errichtet, der weithin mit
+seiner weißen Steinspitzsäule die Vorstädte Bostons überragt&#160;...</p>
+
+<p>Ebenso flogen wir gern nach Osten und Süden aus: Die interessanteste,
+etwas weiter abgelegene Stadt war unstreitig „Concord“, das
+amerikanische Weimar, der Wohnsitz Emersons, Hawthorns, Thoreaus u.&#8239;a.
+Poeten und Dichterphilosophen. Ringsum schönes, stilles hügeliges
+Farmland mit Wäldern und Viehherden. Concord ist wirklich ein Idyll,
+dazu vom Hauch großer geistesgeschichtlicher Vergangenheit umweht.
+Die Geister der Großen gehen hier noch um wie bei uns in Weimar.
+Wie schlicht und anheimelnd, wie das Goethehäuschen an der Ilm,
+sind ihre Landsitze! Dazwischen überall Denksteine in Erinnerung an
+die Unabhängigkeitskämpfe, die um Concord und Lexington begannen.
+In Concord steht auch das bekannte ansprechende<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> Denkmal des
+„<span class="antiqua">minute-man</span>“, der „jede Minute“ bereit den ersten Schuß im
+Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer abfeuerte, „den man in der
+ganzen Welt hörte“.</p>
+
+<p>In Waltham fuhren wir auf den kleinen Seen des Charles River mit
+echten <span class="antiqua">canoes</span> umher. Ganz entzückend ziehen sich die Seen unter
+tiefbelaubten Bäumen hin. Wie leicht und sanft glitt das spitze,
+schwanke Boot übers Wasser! Zwei amerikanische Freunde ruderten,
+während ich bequem in den Kissen des Damensitzes liegen durfte und
+das Steuern besorgen sollte. Ein junger Nationalökonom führte mich
+eines Nachmittags in das idyllische Waverly, ein äußerst malerisches
+Ineinander von Hügeln, Parks, Villen und Teichen. Er war sehr
+beschlagen in Deutschlands politischer Geschichte, so daß ich ihm nicht
+immer auf alle seine Fragen eine präzise Auskunft geben konnte&#160;...</p>
+
+<p>Dieselben ausgedehnten Parkanlagen fand ich am Südrande Bostons
+in „Jamaica plain“, und von den Blue Hills, die wir mit
+eineinhalbstündiger Fahrt auf der Elektrischen erreichten, bot sich von
+Süden eine ähnlich herrliche Aussicht wie von den Middlesex-fells im
+Norden. Der Aussichtsturm ließ uns über die Wälder der Blue Hills, den
+Ozean und die ferne Stadt samt einem gut Teil des Staates Massachusetts
+schauen! Mächtig kam es mir oben zum Bewußtsein: Es ist ein Stück
+schönsten amerikanischen Landes, das du hier oben überschauen darfst.
+Könnte ich jetzt noch einmal dort stehen! So haben wir studiert und
+innen und außen uns umgeschaut&#160;...</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_15" href="#FNAnker_15" class="label">[15]</a> Nicht zu verwechseln mit dem <em class="gesperrt">englischen</em> Cambridge!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_16" href="#FNAnker_16" class="label">[16]</a> Im Keller befand sich die Küche!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_17" href="#FNAnker_17" class="label">[17]</a> „Gymnasium“.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_18" href="#FNAnker_18" class="label">[18]</a> Unerreicht von den Lebenden!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_19" href="#FNAnker_19" class="label">[19]</a> „Das verlorene Paradies“.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_20" href="#FNAnker_20" class="label">[20]</a> Badezimmer mit Wasserklosett und warmem Wasserzufluß.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Ein_Fussballspiel_Weihnachten_drueben">Ein Fußballspiel. Weihnachten „drüben“.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Jedes Volk hat seine Heiligtümer. Auch das amerikanische. Zu seinen
+Heiligtümern zählt die Bundesverfassung, sein Freiheits- und
+Selbständigkeitsgefühl, sein Weltbewußtsein, gleich England eine Art
+auserwähltes Volk zu sein, und endlich der — Fußball. An den großen
+Fußballspielen nehmen viele Zehntausende teil. Extrazüge fahren aus
+allen Richtungen. Die Zeitungen geben wie bei den Wahlen sofort an
+der Stirnleiste das Ergebnis bekannt. Und so erwartete ich mit großer
+Spannung das große Wettspiel zwischen den beiden alten Universitäten<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span>
+Harvard und Yale. Es gibt Jahre, wo in der Union an die dreißig junge
+Leute in den heißen Fußballkämpfen ihr Leben einbüßen!</p>
+
+<p>Noch summt mir das wilde, tosende Rufen der Harvard- und
+Yale-„undergraduates“ in den Ohren, noch flimmern mir die
+vierzigtausend wogenden Köpfe in dem gewaltigen Rund des
+Harvard-Stadiums vor den Augen ... wie ein brausendes, tobendes Meer.</p>
+
+<p>Es war ein Tag, so heiß wie eine Schlacht und mit einer Spannung
+erwartet und verfolgt wie eine Schlacht. Weit vom Norden und Süden
+und vom mittleren Westen waren sie zusammengeströmt mit Automobil und
+im Sonderzug, die vierzigtausend, das Harvard-Yale-game zu sehen, das
+die Fußballsaison abschließende Spiel zwischen den beiden größten,
+ältesten und bedeutendsten Universitäten in den Vereinigten Staaten
+von Amerika. Jedes <span class="antiqua">college</span>, ja jede <span class="antiqua">high school</span> hat
+ihr <span class="antiqua">Footballteam</span> und ihr „Stadium“. Im Herbst jedes Jahres
+messen sie einander. Schon hatte dieses Jahr Yale über Wesleyan,
+Syracuse, Springfield, Holy Croß, West Point, Colgate, Amherst und
+Princeton gesiegt und Harvard über Bates, Williams, Maine, West Point,
+Cornel und Dartmouth; und nun sah alle Welt, die neunzig Millionen
+der Vereinigten Staaten, auf das letzte große Spiel zwischen den
+ehrwürdigen Meisteruniversitäten Yale und Harvard. Welche ungeheure
+Bedeutung dieses Spiel einnimmt, das zeigt wohl am besten der Umstand,
+daß für zwei Tickets in letzter Stunde 60, 80, 100, ja 200 Dollars
+an Spekulanten gezahlt worden sind, während Zehntausende keins
+mehr bekommen konnten; daß ferner während des Spiels Tausende die
+Redaktionen der großen Zeitungen in Boston umlagerten und die Anschläge
+der Drahtnachrichten und so aus der Ferne das heiße Spiel Zug um
+Zug verfolgten; daß in den Theatern des Landes in den Zwischenakten
+die Punkte der streitenden Parteien als Transparente erscheinen und
+natürlich Extrablätter von allen Zeitungen verausgabt werden. Der
+Sport ist in den Vereinigten Staaten eine öffentliche, nationale
+Angelegenheit. Ein Blick in die Zeitungen genügt, um das in aller
+Deutlichkeit zu erkennen. Jede Zeitungsnummer bringt täglich spalten-
+und seitenlange Einzelberichte über die großen Teams des Landes, über
+die Spieler<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> im einzelnen, über ihre Herkunft, ihren Lebenslauf, ihr
+Alter, ihre Geschicklichkeit, ihre Größe, ja ihr Gewicht, ihre besten
+Kicks, Abbildungen der einzelnen Züge und wichtigsten Momente des
+Spiels usw. Diese Sportsnachrichten nehmen oft mehr Raum ein als die
+politischen Artikel; an Umfang können sich höchstens mit ihnen noch die
+Ehescheidungsberichte, Automobilunfälle und Theatergrößen messen ...!</p>
+
+<p>Nun war also der große Tag herangekommen. Man mochte ein eisigkaltes
+Wetter erwarten. Tags zuvor blies es bitterkalt vom Norden her. Aber
+merkwürdig, der 20. November war fast lau und mild, und doch mußte
+sich jeder wohl vorsehen, in dieser Jahreszeit zwei oder drei Stunden
+im Freien auf kalten Steinen zu sitzen. Bereits zwischen 12 und 1 Uhr
+mittags nach dem Lunch wälzten sich Hunderte vom „Harvard Square“ in
+Cambridge die Bolystonstreet hinunter hinaus aufs „Soldiers field“ zum
+„Stadium“. Jeder bekannte sich durch ein entsprechendes Abzeichen als
+Harvard- oder Yaleman: hochrote und tiefblaue Kravatten, Armbinden,
+Fähnchen, Federn bis zu den blauen und roten Hüten und Jacketts der
+Damen. Hie rot und Harvard — hie blau und Yale! Heiser priesen die
+Verkäufer ihre Harvard-Yale-Ansichtskarten und die Bilder der Spieler
+an. Von der entgegengesetzten Seite rollten unaufhörlich die Automobile
+heran, eins hinter dem andern, tutend, heulend, surrend, schnaubend,
+rasselnd. Die Straßenbahnen fuhren Wagen hinter Wagen, bis auf die
+Trittbretter besetzt, auf denen noch fast ebenso viele Plätze fanden
+wie im Wagen; hier hing einer nur noch mit <em class="gesperrt">einem</em> Fuß auf dem
+Trittbrett, dort klammerte sich ein anderer nur noch mit den Fingern
+an eine Längsstange; die Mäntel flogen im Wind, die Hüte drohten
+fortgerissen zu werden.</p>
+
+<p>Am Stadium, dem gewaltigen, imposanten, elliptischen, halboffenen
+Amphitheater aus weißgrauem Beton, das nahezu vierzigtausend Personen
+faßt, stauen sich die Massen und schwellen an zu einem wirren
+Menschengewoge; aber niemand drängt und drückt oder schilt und
+schimpft, jeder wartet und ist geduldig, selbstlos und demokratisch.
+Bald war die eine breite Straße, die von Cambridge über eine alte,
+schlechte Holzbrücke über den Charles River zum Soldiers field<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> führt,
+nur noch ein Menschenknäuel mit viel tausend Köpfen. Ringsumher auf
+den Zufahrtsstraßen und am Charles River entlang sammelten sich die
+Automobile zu ganzen Wagenparks. Wohl noch keine Automobilausstellung
+der Welt hat deren eine solche Menge und Verschiedenheit der Marken
+zusammengebracht. Wer nicht zu Automobil kommt, kommt mit einem der
+vielen Eisenbahnsonderzüge, die aus allen Richtungen an diesem Tage
+Boston zustreben.</p>
+
+<p>Das weite Rund des Stadiums mit seinen vieltausend Steinsitzen, seinen
+gewaltigen Substruktionen und seinen schönen Kolonnaden über den
+höchsten Sitzreihen lag still und gemessen da und wartete der Menge,
+die sich von allen Seiten über seine Treppen und Steingänge ergoß und
+es trotz ihrer ungeheuren Zahl nur langsam zu füllen vermochte. Ich
+hatte einen Sitz hoch oben über den Kolonnaden bekommen, wo sich nicht
+nur ein ausgezeichneter Überblick hinunter in die gewaltige halboffene
+Ellipse auf das Spielfeld bot, sondern auch hinaus ins offene Land. Ich
+fühlte mich fast nach Rom in das gleich gewaltige Kolosseum versetzt.
+Gleich dem Tiber wand sich hier der breite Charles River an Cambridge
+hin; mäßige Hügel säumten gleich Rom auch hier rings den Horizont;
+in der Ferne schimmerte die goldene Kuppel des Kapitols von Boston
+auf dem Beacon hill, der schöne Frührenaissanceturm der New old South
+Church grüßte aus dem feinen blauen Herbstdunst herüber, der über
+der großen Stadt lagerte. Wie hier das Menschengewimmel, so mochte
+es einst vor zwei Jahrtausenden zu Zeiten des Titus und Domitian im
+römischen Amphitheater ausgesehen haben, wenn die vierzigtausend das
+Spiel erwarteten. Nur statt der glattrasierten Römer hier glattrasierte
+Amerikaner, statt der Toga und Tunika Automobilpelz und Wintermantel,
+schwarze steife Hüte und graue Reisemützen, statt der Löwen und
+Gladiatoren harmlose Fußbälle und junge Studenten&#160;...</p>
+
+<p>Wie Ameisen krabbelten die Menschen auf den Steinsitzen hin und her
+und suchten ihre Plätze. Schwärzer und schwärzer wurden die runden
+Steinreihen. Bald bewegten sich da unten vierzigtausend Köpfe hin
+und her, vierzigtausend schwarze Männerhüte und graue<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> Reisemützen
+und rote und blaue Damenhüte; dazwischen flatterten lustig die
+hochroten Harvard- und die tiefblauen Yalefähnchen mit dem stolzen
+H. und Y. Harvard war recht siegesgewiß. Sein Captain Fish, einer
+der trefflichsten Fußballspieler, hatte zwar im letzten Spiel gegen
+Dartmouth eine Verletzung davongetragen, aber er war wieder munter
+und war fest entschlossen mitzuspielen und hatte, wie die Zeitungen
+berichteten, geäußert, nur der Tod allein könne ihn von diesem Spiel
+abhalten. Captain Coy von Yale aber war ein ebensowenig zu verachtender
+Gegner, ein weitgefürchteter „Kicker“. Freilich hatte Harvard in den
+letzten zwei Jahrzehnten nur viermal Yale besiegt, aber der Sieg des
+letzten Jahres über Yale und Captain Fish machte Harvard im voraus
+siegesgewiß.</p>
+
+<p>So ward es zwei Uhr. Auf ein Zeichen sprang eine Schar junger Menschen
+mit weiten flatternden roten Tüchern, fast wie Stierkämpfer gekleidet,
+in das Stadium, von tosendem Beifall begrüßt, Captain Fish und die
+Harvardspieler. Bald darauf stürmte ein zweiter Haufe in wehenden
+blauen Tüchern herein — die Yalespieler. Die Tücher wurden abgeworfen,
+ein schwarzes Überwams ausgezogen — dann standen die roten und
+blauen Kämpen einander gegenüber. Jeder angetan wie ein Fechter,
+wohlgepolstert an Schultern und Knien und teilweise mit Kopfhauben
+gegen Fußtritte und Schädelbrüche geschützt, in weiten zerschlissenen
+dunkelgelben Hosen und rotem oder blauem Wams. Schon erhoben die
+Harvard- und Yale-„undergraduates“, die auf je einem Haufen auf beiden
+Seiten dicht zusammensaßen, ihr Schlachtgeschrei, und aus vielhundert
+Kehlen, den Schalltrichter vor dem Munde, schallte es: „Har—vard,
+Har—vard, Har—vard, ra—ra—ra—ra—ra—ra, ra ra ra ra ...“ Und von
+drüben antwortete es ebenso siegesgewiß und drohend: „Yale—Yale—Yale,
+ra—ra—ra—ra—ra—ra, ra ra ra ...“ Jede Partei suchte die andere
+mit Schreien und Lärmen zu überbieten. Das Schreien ging fort
+und wuchs, von Vormännern ganz methodisch und systematisch unter
+Kommando und gewaltigen Armbewegungen dirigiert: „eins—zwei—drei:
+ra—ra—ra—ra—ra—ra, ra ra ra ...“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p>
+
+<p>Indessen ertönte ein Pfeifchen. Die Spieler traten an die Mittellinie
+des Feldes, das in viele weiße Karrees geteilt war, ähnlich einem
+großen Tennisplan, gebückt mit den Händen am Boden, den Kopf tief
+gesenkt, zum Fang und Sprung bereit. Harvard begann. Hoch und weit
+wirbelte der Ball, von einem Harvardman gewaltig emporgekickt durch
+die Luft ... ein Yaleman fängt ihn auf, die Harvardleute fallen über
+ihn her ... der Yaleman stürzt rücklings auf den Hinterkopf zu Boden,
+... ein wilder Knäuel um ihn, zweiundzwanzig Menschen wälzen sich
+übereinander und raufen sich um den Ball, ... indessen sehe ich andere
+mit Wasser und Tüchern herbeispringen. Ein Yaleman ist schwer verletzt,
+halb bewußtlos liegt er am Boden; einen Augenblick stoppt das Spiel.
+Der Verletzte wird zur Seite getragen, ein anderer tritt für ihn ein —
+und das Spiel geht weiter. Jedes Jahr sind es ja mehrere, die nicht nur
+Arm oder Bein, sondern das Leben auf dem Fußballspielplatz lassen.</p>
+
+<p>Hin und her wirbelt der Ball, bald ist Harvard einige Yards voraus,
+bald Yale; hier und da stürzen die Spieler übereinander, wälzen sich
+als Knäuel am Boden ... dazwischen Rufen und Jauchzen und Klatschen und
+Winken der Zuschauer, immer lauter und frohlockender, bald Harvard,
+bald Yale. Wie ein Meer toben die Vierzigtausend da unten. Bald wirbeln
+die blauen Yalefähnchen durch die Luft, bald die roten Harvardflaggen,
+bald erheben sich hier auf der Seite Tausende in der Erregung von den
+Sitzen und beugen sich vor, um besser zu sehen, bald dort: Fortwährende
+Rufe und Schreie. Dazwischen das laute Zählen der Spielführer, die
+Pfeifchen der Spielmeister und das wilde „ra—ra—ra—ra“ der Harvard-
+und Yaleundergraduates, wohl kommandiert und dirigiert. So wogt das
+Spiel bei zwei Stunden hin und her.</p>
+
+<p>Währenddessen eilen die Photographen mit ihren Apparaten und Stativen
+unablässig von einem Ende des Spielfeldes zum andern, um ja keinen
+Zug zu verpassen, die Reporter registrieren genau jede Wendung,
+und Punkt für Punkt wird augenblicklich in alle Windrichtungen
+telegraphiert. Als es Yale zweimal gelingt, den Ball über<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> die letzte
+Harvardlinie hinauszuschleudern, und so der Sieg für Yale immer mehr
+an Wahrscheinlichkeit gewinnt, da kann ein ganzer Haufen Yalestudenten
+nicht mehr an sich halten; im Enthusiasmus springen sie von den Sitzen
+und aus den Reihen aufs Spielfeld hinaus, werfen Hüte, Mützen und
+Mäntel in die Luft, umarmen sich und tanzen vor Freude, und einige
+Schutzleute haben Mühe, sie zurückzudrängen, damit die Bahn für das
+Spiel frei bleibt. Indessen notiert das Bulletinboard am inneren Ende
+des Stadiums für die Zuschauer Zug um Zug, Punkt für Punkt und Linie um
+Linie. Draußen am Charles River stehen viele Hunderte, die kein Ticket
+haben erlangen können, die aber wenigstens mit dem Glas die Zahlen am
+Bulletinboard von ferne zu erhaschen suchen. Mehr und mehr neigt sich
+das Glück Yale zu. Die Yalegirls werden immer enthusiastischer, immer
+schneller wirbeln die blauen Fähnchen in den Händen der Girls durch
+die Luft. Das fortwährende kommandierte heisere „ra—ra—ra—ra“ der
+Harvardmen hilft ihren Kampfgenossen nicht auf.</p>
+
+<p>Ja, in der Tat, das Unerwartete geschieht. Yale gewinnt! Es ist vier
+Uhr. „Yale 8 Punkte, Harvard 0.“ Wilder Siegestaumel ergreift die
+Yalestudenten. Sie stürzen wieder von den Sitzreihen ins Feld herunter,
+gruppieren sich geschwind hinter ihrer blauen Musikkapelle, — und
+nun geht es in wilden Sprüngen und wildem Tanzen unter Siegessang und
+Freudengeschrei im Feld des Stadiums hin und her. Mächtig schallen
+die Yalelieder durch das Rund. Hüte und Mützen fliegen vor Vergnügen
+aufs neue hoch in die Luft und werden beim Umzug über die Balken der
+siegreichen Goals geschleudert. Kläglich und wütend schreien die
+Harvardmen ihr „ra—ra—ra—rarara“ dazwischen. Yale hat gesiegt. Die
+heiße Schlacht ist aus&#160;...</p>
+
+<p>Die Massen der Tausende auf dem Steinrund sind wieder in Bewegung.
+Der gewaltige Automobilpark löst sich auf. Die Straßen beginnen sich
+wieder zu füllen; die Straßenbahnen fahren wieder davon, eine hinter
+der anderen mit den vielen auf den Trittbrettern hängenden Menschen.
+Nur der Charles River fließt ruhig und gemessen im weiten Bogen nach
+dem dunstigen Boston hinunter und<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> wundert sich über die Tausende,
+die seine alte Holzbrücke passieren, voll Jubel, Enthusiasmus und —
+Enttäuschung. Über den Hügeln von Newton und Brookline taucht die Sonne
+purpurrot unter, und ihr glutroter Schein spiegelt sich in den Fenstern
+Cambridges. Ruhig und verlassen liegen unter den blätterlosen alten
+Ulmen die Dormitories und die Collegehalls der Harvarduniversität.
+Memorialhall reckt seinen charakteristischen Vierungsturm empor und
+öffnet sein Tor den vielen fremden Yalemenschen, die sich jetzt in
+seiner weiten gastlichen Halle, wo die großen Ahnen Harvards ehrwürdig
+von den Wänden schauen, zum Dinner niederlassen. Über dem sich
+leerenden, weiß im Abendlicht schimmernden Stadium aber schwebt wie ein
+Aeroplan gemächlich und still eine riesige Flagge: — „Ponds Extrakt“!
+Es gibt in Amerika keinen schönen und berühmten oder poetischen Ort,
+den die Reklame nicht meinte noch verschönern zu müssen. Wie eine
+Siegesfahne winkt sie hinüber zur goldenen Kuppel des Kapitols in
+Boston im Abenddunst&#160;...</p>
+
+<p>Kaum haben wir unseren Fuß aus dem Stadium gesetzt, da laufen uns
+schon die Zeitungsboys entgegen mit den Extrablättern, die in riesigen
+Lettern verkünden: „Yale Wins. Final score: Yale 8, Harvard 0“, während
+der Draht längst den Sieg Yales in alle Lande trägt. Der siegreiche
+Fußball aber wandert in den „<span class="antiqua">trophee-room</span>“ der Yaleuniversität,
+wo ihn die kommenden Geschlechter mit Ehrfurcht und Staunen hinter
+Schrein und Glas beschauen, wie wir wohl vor den Schädeln der Großen
+und Heiligen in der Geschichte mit Ehrfurcht stehen ... Der Ruhm
+der Yalespieler aber ist gesichert für alle Zeiten, weit mehr denn
+eines berühmten Yaleprofessors, der dicke Bände geschrieben und die
+amerikanische Wissenschaft ein gut Stück weitergebracht hat&#160;...</p>
+
+<p>Griechenland hatte seine Amphitheater und Tragödien, Rom seine
+Kollosseen und Gladiatoren, das Mittelalter seine Turniere und
+Ritterspiele, Spanien seine Stiergefechte, die moderne Gesellschaft in
+Deutschland hat ihre Pferderennen und ihre Mensuren, Amerika hat sein
+Fußballspiel ... Kraft und Jugendheldenmut sucht sein Feld; glücklich<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span>
+die Nation, die sich am Heroischen begeistert wie ein Mann. Aber ist
+nicht ein Unterschied, wo wir das Heroische suchen ...?&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Nach diesem Kennenlernen der akademischen Fußballjugend trieb es
+mich ein andermal die in der englisch-amerikanischen Welt großartig
+in der sog. <span class="antiqua">Young men’s christian association</span> weltumspannend
+organisierte Jugend kennenzulernen. Ich begnügte mich, einer Einladung
+des Zweigvereins, des sog. Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A. in Cambridge, zu folgen.</p>
+
+<p>Es war ein geräumiges Vereinshaus, natürlich ein eigenes, an der
+Hauptgeschäftsstraße, der Massachusetts Avenue in Cambridge, in das
+ich eintrat. Als ich die schöne Freitreppe hinanstieg, gelangte ich
+auf dem ersten Stock zu dem Bureau, wo der Sekretär den Fremden
+freundlich empfängt, dann in einen weiten offenen Empfangsraum mit
+feinen Teppichen, elektrischem Licht wohl ausgestattet, und zu den
+anschließenden gemütlichen Lesesälen, wo etwa 30 Zeitungen, die besten
+Tageszeitungen, Wochenschriften aller Art, religiösen, belehrenden
+und künstlerischen Inhalts, auflagen. Auch ein Billard und andere
+Geselligkeitsspiele fehlten nicht und werden allabendlich eifrig
+benutzt. Die Treppen führten mich weiter empor zu den mannigfachsten
+Klubräumen in den verschiedensten Größen für kleinere und größere
+Zusammenkünfte der Jugendlichen. Der Verein in der Großstadt umfaßt
+meist mehrere hundert Mitglieder, die an Einzelbestrebungen und Alter
+so verschieden und zahlreich wie möglich sind, so daß sie geteilt
+sich in kleinen Zirkeln zusammenfinden. Und hier herrscht nun die
+bunteste Mannigfaltigkeit, zunächst was das Alter betrifft: Ich sah
+kleine Knirpse, die wohl kaum zehn Jahre alt sein mochten, die noch die
+Volksschule besuchen, aber eifrig schon „im Verein“ verkehrten. Das
+amerikanische Leben drängt im ganzen ja weit mehr und weit früher auf
+die Öffentlichkeit hin als das unsere. So ist auch das Clubleben weit
+mehr ausgebildet. In jeder Schule von den Kleinsten angefangen bestehen
+oft schon Schülerklubs, die sich selbst regieren, ihre Präsidenten
+und Beamten wählen und so im kleinen die große Demokratie des ganzen
+Volkes abbilden und auf das politische Leben, an dem jeder Bürger
+Anteil nehmen soll, vorbereiten. Neben diesen<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Kleinen gab es genug
+derer in den Zwanzigern und Dreißigern. Neben den Volksschülern die
+Männer, Arbeiter und Angestellten <em class="gesperrt">aller</em> Berufszweige! Dazwischen
+Realschüler von fünfzehn und sechzehn, Lehrlinge, junge Kaufleute und
+Handwerker von noch nicht zwanzig. Jedes Alter und jeder Berufszweig
+bildete einen eigenen Kreis und eine eigene „Klasse“.</p>
+
+<p>Ebenso bunt wie das Alter waren die Bestrebungen, die sich da
+zusammenfinden. Der Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A. in Cambridge bietet neben den
+Bibelstunden, die alle als Grundlage vereinen, Unterricht in Sprachen,
+Mathematik, Zeichnen, Singen, Buchhaltung, Schreibmaschinenschreiben,
+Stenographie — und vor allem Turnen und Sport. Dazu kennzeichnen noch
+zwei Dinge jedes amerikanische Klubleben: Gymnastik und politische
+Debatten. Jedermann vom Schuljungen bis zum Studenten und verheirateten
+Mann übt täglich seine Spiele, es sei Fußball, Base-ball, Basket-ball,
+Tennis oder Laufen, Springen und Geräteturnen ... So muß jedes
+Vereinshaus des Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A. vor allem eine eigene vollständig mit allen
+modernsten Geräten und Spielen wohlausgerüstete Turnhalle besitzen.
+An ihrer Größe und Ausstattung kann man das Florieren des Vereins
+kontrollieren. Aber nicht nur das, ein amerikanisches Vereinshaus, das
+auf der Höhe sein will, muß möglichst auch ein eigenes Schwimmbassin
+haben oder allerwenigstens, wenn es nicht als veraltet und rückständig
+gelten will, einen eigenen großen Baderaum mit vielen Brausen und
+Duschen. Was gibt es auch schöneres als Spiel und Sport, erst zu
+turnen und zu springen und zu schwingen und zu schwitzen und dann zu
+baden und zu duschen, zu spritzen und im Wasser zu planschen! Das
+hatte ich selbst in der akademischen Turnhalle öfters ausprobiert. Der
+Verein muß sogar Gelegenheit geben, sich von einem zuständigen Arzt
+auf körperliche Gesundheit und Tauglichkeit untersuchen zu lassen!
+Und wie oft kontrolliert der junge Amerikaner mit Stolz zunehmendes
+Maß, Gewicht und Stärke ... So ist denn auch der professionelle,
+wohlgelernte, mit gutem Gehalt angestellte Turnmeister eine der
+wichtigsten Personen unter allen Vereinsbeamten. Und mit welcher<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span>
+prächtigen Grazie und Gewandtheit weiß er alle Übungen vorzumachen!</p>
+
+<p>Dazu tritt das andere, was jedem Amerikaner über alles geht, Reden
+(<span class="antiqua">addresses</span>) hören und debattieren. Man kann jeden Abend zwei,
+drei und mehr Redner hören. Man ist einfach für alles interessiert, für
+den Nordpol, den Mars, für Luftschiffe, für babylonische Ausgrabungen,
+neueste elektrische Erfindungen ... jeder Redner und jeder
+„<span class="antiqua">speech</span>“ ist willkommen. Es muß möglichst jeden Abend oder jede
+Woche einmal etwas Großes im Verein „los“ sein. Und wie offen erfolgt
+die Aussprache! Da werden Fragen gestellt, der Redner unterbrochen;
+keiner fürchtet sich, den Mund aufzutun. In Amerika findet man immer
+und überall fragende, lernbegierige, empfängliche und für geistige
+Darbietungen dankbare Menschen. Selten wird kritisiert, immer bewundert
+und gelobt!</p>
+
+<p>In den obersten Stockwerken des Vereinshauses — ich kletterte mit
+meinem Führer bis aufs Dach hinauf, wo man den Turm der City Hall
+gerade vor sich hatte und durch die Nacht bis zu dem lichtschimmernden
+Boston hinüberblicken konnte — fand ich auch Zimmer zum Logieren für
+durchreisende Mitglieder von Zweigvereinen, für den Sekretär und die
+ständig fungierenden bezahlten Beamten des Vereins.</p>
+
+<p>An jenem Abend, an dem ich im Verein weilte, hatte ich Gelegenheit,
+einem Schauturnen beiwohnen zu können, das drüben den seltsamen Namen
+„Karnival“ trägt. Ich wurde erst durch die Baderäume geführt, wo sich
+Kleine und Große in hellen Haufen tummelten und ihre Turnkleidung
+anlegten. Dann bekam ich das „Gymnasium“ (die Turnhalle) zu sehen, mit
+der kaum die besten unserer Turnhallen es hätten aufnehmen können.
+Eine große Zuschauerschaft war schon versammelt, Eltern, Väter und
+Mütter, Brüder und Schwestern. Alles wartete gespannt auf das Öffnen
+der Flügeltüren und das Einmarschieren der Turner. Und dann kamen sie,
+nacheinander, die Riegen der kleinen Knirpse, die so wohl über den
+Bock zu springen und allerlei lustige Purzelbäume zu schlagen wußten,
+dann die älteren Schüler mit ihren exakten Stab- und Hantelübungen,
+und endlich die<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> in den Zwanzigern, meist sehnige, straffe, frische
+junge Menschen mit ihren geschwellten Armmuskeln und strammen Waden.
+Neu waren für mich eine ganze Reihe wohl ausgeführter Reigentänze, die
+mit ihren wilden und doch taktmäßigen Sprüngen mich an Indianer- und
+Negertänze erinnerten. Eine Riege erschien als „Farmer und Trapper“
+verkleidet, eine andere mit brennenden Holzkeulen, die im Dunkeln
+geschwungen einen faszinierenden Eindruck hinterließen. Mancher der
+Turner hatte ein großes „C“<a id="FNAnker_21" href="#Fussnote_21" class="fnanchor">[21]</a> auf dem Rücken als Ehrenzeichen, daß
+er eine Reihe vorgeschriebener ausgesucht schwerer Übungen vollendet
+ausführen kann. Auch einige farbige junge Männer waren als Turner
+darunter, was mich besonders freute.</p>
+
+<p>In den Vereinigten Staaten bestehen etwa 2000 solcher
+Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A.-Vereine, die 681 eigene Häuser haben mit einer
+Gesamtmitgliederzahl von über 450&#8239;000 Personen und einem Gesamtvermögen
+von ungefähr 50 Millionen Dollars! Und wieviel wird für sie gegeben!
+Der Bostoner Verein, dessen Haus kürzlich in der Nacht in Flammen
+aufging, sammelte binnen 14 Tagen 500&#8239;000 Dollars für ein neues
+größeres! Der Cambridger Verein plant, seine Mitgliederzahl von
+200 auf 2000 zu erhöhen und man wird das in einer „Kampagne“ auch
+fertigbringen. Die Stadt wird gleichsam für wenige Wochen bestürmt und
+erobert: Energie, Zielbewußtsein, Begeisterung, „Rekord“ — die leben
+nirgends mehr denn in Amerika. Die Tätigkeit der Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A.-Vereine
+ist im ganzen Land von jedermann anerkannt, vom Präsidenten, der sie
+öffentlich gelobt hat, angefangen. Sie schaffen anerkanntermaßen
+Charaktere, treffliche gebildete Bürger, gesunde frische Menschen,
+allem Gemeinen, Trägen und Genußsüchtigen abhold.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Mittlerweile war langsam Weihnachten herangekommen. Wie würde es
+mir im fremden Erdteil am Heiligen Abend ergehen und zumute sein?
+Hatte ich bis jetzt unter den vielen neuen Eindrücken, deren Kette
+für mich gar nicht abriß, nie an Heimweh auch nur gedacht,<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> sondern
+lebte fortgesetzt in einer Art Erobererstimmung, ein ganzes Land in
+seiner eigenen neuen Art, seiner Sitten, Anschauungen und Gebräuchen
+mir geistig zu eigen zu machen, so würden mich vielleicht die stillen
+Weihnachtstage doch auf einmal „kleinkriegen“! Das fürchtete ich&#160;...</p>
+
+<p>Man feiert Weihnachten drüben doch recht anders als bei uns. Die
+zentrale Stellung, die das Weihnachtsfest im deutschen Volks- und
+Gemütsleben hat, hat es drüben lange nicht, ja wohl in keinem Volk
+sonst. Schon das Sinnbild des deutschen Weihnachten fehlt, der
+Christbaum, wenn auch nicht überall&#160;...</p>
+
+<p>Weihnachten voraus geht in Amerika der nationale „<span class="antiqua">Thanksgiving
+day</span>“ am 27. November. Zwei nationale Feiertage hat die Union, an
+denen sich das ganze Volk ohne Unterschied zusammenfindet, das ist
+der „<span class="antiqua">Fourth of July</span>“ (4. Juli), der Verfassungstag, der mit
+allem Pomp und Aufsehen und höchstem Stolz vom ganzen Volk von der
+Küste des Atlantik bis zum Stillen Ozean und von den großen Seen bis
+zum Golf von Mexiko begangen wird; man halte dagegen den Streit und
+die Zerrissenheit unseres Volkes in Sachen eines Verfassungstags!
+Und daneben religiöser betont als der 4. Juli der „Danksagungstag“,
+wenn die ersten Schneestürme die nördlicheren Staaten durchfegen
+und man sich um den traditionellen Truthahn sammelt, wie wir um die
+Martins- oder Weihnachtsgans. An diesem Tage gedenkt das amerikanische
+Volk in allen Kirchen aller Denominationen mit Dank des Reichtums,
+der Sicherheit, des Fortschritts, des Glücks und Ansehens, das es
+in der Welt genießt und auch des Sieges, den es im Weltkrieg „der
+Gnade des Höchsten“ zu verdanken hatte. Und es läßt sich gern die
+Verpflichtung vorhalten, nun auch seinerseits sein Wort und seinen
+Willen kräftiger als bisher zur Beglückung und Befriedung der Völker
+trotz der Monroedoktrin in die Wagschale der Welt zu werfen, Kriege
+in der Welt zu verhüten (!), daß jedem, auch dem kleinsten Volk in
+der Welt — darum auch Tschechen, Polen, Südslawen und Serben, Juden
+— ihr Selbstbestimmungsrecht werde, besonders allen Unterdrückten
+wie einst dem<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> amerikanischen Volk selbst, als es „der Herr aus
+seinem Diensthause führte“. Zu diesem feierlichen <span class="antiqua">Thanksgivings
+day</span> hatte ich nicht weniger als fünf Einladungen erhalten zu drei
+Professoren, zu dem befreundeten liebenswürdigen Studentenehepaar
+und zu den Eltern meines Freundes Arthur E. W. Leider konnte ich
+nur <em class="gesperrt">einen</em> Truthahn verspeisen, da der Thanksgiving leider
+nicht fünf Tage hintereinander gefeiert wird. Ich nahm des letzteren
+freundliche Einladung an, da sie zuerst gekommen war, und mußte die
+anderen nicht leichten Herzens ausschlagen. W.s Eltern wohnten in
+der freundlichen und schöngebauten Vorstadt Bostons Dorchester. Ich
+hatte dort Gelegenheit, auch einmal in amerikanisches Familienleben
+des kaufmännischen Mittelstandes hineinzuschauen. Der Familienvater
+war zwar ertaubt, aber um so intensiver belesen in aller schönen
+Weltliteratur. Und kein Laut der Klage kam wegen seines Leidens über
+seine Lippen ...!</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>So kam Weihnachten näher.</p>
+
+<p>Dienstag vor Heiligabend las der Rhetor der Universität in „Appleton
+Chapel“ aus den „Christmas Carols“ von Dickens. Dazwischen wurden
+englische Weihnachtslieder mit frischer Melodie gesungen, darunter
+auch das Lied von der „heiligen Nacht“ in Übersetzung. Wie seltsam das
+in Amerika berührte! Denn kein Lied ist deutscher als dieses. Ebenso
+seltsam klang mir immer die Übersetzung unseres Lutherliedes: „Ein
+feste Burg ...“ als englischer Choral in den Ohren:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza antiqua">
+ <div class="verse indent0">„A mighty fortress is our God,</div>
+ <div class="verse indent0">A bulwark never failing,</div>
+ <div class="verse indent0">Our helper he amid the flood</div>
+ <div class="verse indent0">Of mortals ills prevailing.</div>
+ <div class="verse indent2">For still our ancient foe</div>
+ <div class="verse indent2">Doth seek to work us woe,</div>
+ <div class="verse indent2">His craft and power are great</div>
+ <div class="verse indent2">And armed with eternal hate;</div>
+ <div class="verse indent0">On earth is not his equal usw.“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p>
+
+<p>Dann schlossen die Vorlesungen auf zehn Tage. Zehn goldene Tage
+war ich einmal die vorgeschriebene Zwangslektüre los und konnte im
+Lande der „Freiheit“ einmal wieder meiner geistigen Selbstbestimmung
+leben! Freitag war heiliger Abend. Aber ich sah in Cambridge keinen
+Christbaum, noch weniger einen Weihnachtsjahrmarkt. In Neuengland
+herrschen noch ganz die alten <em class="gesperrt">englischen</em> Weihnachtssitten. An
+den Fenstern der Läden und Häuser hingen einige grüne Kränze — das war
+alles. Nicht einmal rechte Weihnachtsgottesdienste, wie wir sie gewöhnt
+sind, gab es, nichts von Metten und Vespern. Das Fest wird auch bloß
+mit <em class="gesperrt">einem</em> Feiertag begangen!</p>
+
+<p>So hatte ich mir selbst am heiligen Abend — den sie übrigens drüben
+auch gar nicht feiern! — einen kleinen Weihnachtstisch zurechtgebaut
+und schenkte mir selbst ein paar blitzende amerikanische Schlittschuhe,
+zündete mir einige Kerzen auf dem Kamin an, steckte hinter meine
+Bilder ein paar Tannenreiser, schichtete ein paar rotwangige Äpfel
+auf und feierte so still für mich heiligen Abend in der neuen Welt.
+Als ich die Kerzen angezündet und ihr Schein auf die paar mageren
+Zweiglein fiel, fiel, glaube ich, auch ein kleines, warmes Tränlein
+mit darauf. Jetzt wäre ich doch fürs Leben gern die zehn Ferientage
+einmal schnell zu Hause gewesen und hätte soviel zu erzählen gehabt
+— aber das Weltmeer mit seinen 4000 Meilen lag dazwischen! Ich fing
+nun manchmal schon heimlich die Wochen an zu zählen, wann es wieder
+heimgehen würde. Bei Wachsduft und Kerzenschein kamen auf einmal alle
+die Weihnachtsfeste der Kindheit leise zu mir in mein amerikanisches
+Studierzimmer hereingeschritten, frohe und ernste, und stellten sich
+wie unsichtbare Engel an den Wänden meines „<span class="antiqua">furnished room</span>“ auf
+und hatten wohl alle auch ein kleines, warmes Tränlein an den Wimpern
+... Damit mir es nun aber in meinem Zimmer nicht gar zu einsam werde,
+holte ich mir einige Kameraden aus unserer Hall herein, von denen die
+meisten aus dem eigenen Lande auch nicht heimfahren konnten, weil viele
+weither aus dem Süden oder dem „mittleren Westen“ waren. So kam zu
+meiner „Weihnachtsfeier“ mein lieber japanischer Freund<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> Ashida, Mr.
+Moore und der Heidelberger Philologe. Wir lasen deutsche und englische
+Weihnachtsgedichte zusammen und sangen dann alle miteinander auf
+<em class="gesperrt">deutsch</em> „Stille Nacht, heilige Nacht“, bis die Kerzen langsam
+herabbrannten. Der Japaner, der Amerikaner und wir zwei Deutschen!</p>
+
+<p>Als sie wieder gegangen waren, packte ich die heimatlichen
+Weihnachtspakete aus, die vor einigen Tagen angelangt waren; das wollte
+ich gern ganz allein tun. Da kamen noch allerlei — aber jetzt echte
+deutsche — Tannenzweiglein und duftende rotwangige deutsche Äpfel,
+Weihnachtskerzen, warme Sachen und vor allem Weihnachtsbrieflein zum
+Vorschein. Und wie war das alles mit soviel Liebe und weiser Berechnung
+zeitig aus der Heimat abgegangen ...! Und wie wirkte das alles hier so
+traulich und wehmütig zugleich!&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Der Abend schloß für mich nicht so ganz still und die Nacht nicht so
+ganz heilig insofern, als sich — wohl nach einer zugezogenen Erkältung
+— in der Nacht Fieber einstellte und ich das Bett hüten und nicht mehr
+zu Präsident Lowell gehen konnte, der alle Harvardstudenten, die nicht
+heimfahren konnten, zu einem offenen Weihnachtsabend zu sich eingeladen
+hatte. Das war schön von ihm! Ich lag derweilen allein fiebrig in der
+Weihnachtsnacht ... In derselben Nacht gab es auch noch einen riesigen
+Wasserröhrenbruch in der Stadt, so daß das Wasser in hellen Strömen
+durch alle Straßen schoß. Da man ein böses Einfrieren befürchten mußte,
+griffen noch in derselben Nacht die Studenten mit zu, als sie gerade
+vom Präsidenten kamen, um noch größeres Unglück zu verhüten.</p>
+
+<p>Andern Tags hatte mich Freund W. wieder zu seinen Eltern zusammen
+mit seinem Stubengenossen R. nach Dorchester zum „Christmas-Dinner“
+eingeladen. Wir hatten daselbst wieder „<span class="antiqua">a very good time</span>“ (viel
+Spaß), wie man drüben sagt, und sangen allerlei wehmütige Negergesänge,
+die ich einige Tage zuvor in einer baptistischen Negerkirche gehört
+und gelernt hatte. Dort war, als ich eintrat, alles ganz „schwarz“
+gewesen, nur die weißen Zähne und Augen ließen erkennen, daß Menschen
+anwesend waren!! Süßlich-sentimental erklangen<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> die Lieder, aber der
+Prediger fuchtelte dafür um so gewaltiger mit seinen Armen auf dem
+Pult. Ein laut schreiendes Kind und ein bellender Hund begleiteten in
+dieser Negerkirche die Predigt auf ihre Weise! Und überall duftete es
+eigentümlich&#160;...</p>
+
+<p>Gegen Abend machte mein Freund mit uns noch einen Weihnachtsbesuch in
+einem sehr reichen Hause im Franklinpark, wo eine sehr wohlhabende
+Dame, die einst mit ihm — glückliches Land der Koedukation! — in die
+„<span class="antiqua">high School</span>“ in Dorchester gegangen war, auf ihrem ländlichen
+Schlosse wohnte. Wir schritten die tiefverschneiten Parkwege entlang
+und traten ein. Ein riesiger prächtiger Christbaum stand hier auf
+spiegelblankem Parkett in der Empfangshalle. Er reichte vom Fußboden
+bis an die Decke und war über und über mit Hunderten von Kerzen
+besteckt. So sah ich doch noch einen Christbaum! Feine Herren und Damen
+verteilten unter ihm an eine Anzahl von all der strahlenden Pracht wie
+geblendet dastehende arme Kinder der Vorstadtviertel Weihnachtsgaben.
+Die Dame des Hauses selbst sang am glänzend polierten Flügel allerlei
+süßtönende Lieder ... Aber trotz allem, dies Weihnachten gefiel mir
+auch nicht recht. Es war mir zu fein.</p>
+
+<p>Dieselbe Nacht noch vom ersten zum zweiten Feiertag wütete in ganz
+Neuengland ein furchtbarer Schneesturm, wie man ihn lange nicht
+erlebt hatte. Die schwersten Äste der alten Harvardulmen lagen am
+Morgen zerschmettert am Boden. Die Vorstadt Chelsea stand infolge der
+Sturmflut unter Wasser; viele Schiffe waren gestrandet, Neger wurden
+erfroren in den Straßen aufgefunden, denen es immer noch schwer fällt,
+den nördlichen Winter durchzumachen; Seeleute wurden zahlreich vermißt.
+Auch das kein schönes „Weihnachten“! Und am Morgen lagen, als man
+erwachte, Schneemassen in den Straßen Cambridges, daß niemand von den
+Studenten, die früh zu ihrem „<span class="antiqua">job</span>“ als Organist oder Prediger
+aufs Land hinauswollten, auch nur vor die Tür kam!</p>
+
+<figure class="figcenter illowe46" id="illu_154">
+ <img class="w100" src="images/illu_154.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">BOSTON<br>
+ Ralph Waldo Emerson’s Haus in Concord (Mass.)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_154_gross.jpg"
+ id="illu_154_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe35" id="illu_155">
+ <img class="w100" src="images/illu_155.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NIAGARAFÄLLE<br>
+ Links: Der amerikanische Fall<br>
+ Rechts: Der kanadische (Hufeisen-)Fall
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_155_gross.jpg"
+ id="illu_155_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Als guter deutscher Tourist zog ich trotzalledem nachmittags dicke
+feste Stiefel an, hing einen tüchtigen deutschen Lodenmantel um und<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span>
+stapfte nach Mount Auburn hinaus, besah mir die einzigartig schöne
+Winterlandschaft und arbeitete mich bei blendendem Sonnenschein vier
+Stunden durch den hohen weichen Schnee von Concord nach Belmont durch
+und fühlte mich bei dieser Wanderung wie in den Schwarzwald oder auf
+den hohen Westerwald versetzt. Ja, ich hatte Lust, in diesen Tagen nach
+Kanada zu reisen, wo der Winter meist noch dreimal so dick ist als in
+Neuengland, aber ich ließ glücklicherweise den Plan einstweilen wieder
+fallen, denn wer weiß, wo ich in Schnee und Eis stecken geblieben wäre
+...</p>
+
+<p>Am letzten Abend des Jahres hatte ich noch Gelegenheit, noch einen
+Weihnachtsunterhaltungsabend in einem „<em class="gesperrt"><span class="antiqua">settlement-house</span></em>“
+in Boston mitzumachen. In den sogenannten „Settlements“ werden Knaben
+und Mädchen der ärmsten Viertel von sozialgesinnten Studenten zu Klubs,
+Spiel, Sport und Vorträgen gesammelt, um geistiges Leben in ihnen zu
+wecken, Sinn für Anstand, Sitte und charaktervolles Leben in ihnen zu
+pflegen, ja ihnen nach Möglichkeit alles das zu ersetzen, was sie in
+ihren elenden und traurigen Verhältnissen daheim entbehren müssen.
+Also eine Arbeit ähnlich der in den Hamburger Volksheimen, die sich
+die <span class="antiqua">settlement</span>-Bewegung in England und Amerika in der Tat zum
+Vorbild genommen haben. Die <span class="antiqua">settlement</span>-Arbeiter oder „Siedler“
+wohnen meist — ein großes Opfer ihres Lebens! — selbst im Klubhaus
+mitten in der übelsten Umgebung (dem sogenannten „<span class="antiqua">slum</span>“), um
+daselbst als Salz und Licht ihrer Umgebung zu wirken. Reiche Freunde
+unterstützen die Arbeit und erstatten den Unterhalt der Siedlung. Nach
+einer feudalen Schlittenfahrt im „Franklinpark“ dinierten wir mit
+den feinen Damen der Bostoner Gesellschaft, soweit sie zum Vorstand
+des Settlements gehörten, und dann ging es — ein mir nicht gerade
+angenehmer Kontrast! — zu den Vorführungen des armen Jugendklubs. Die
+Knaben und Mädchen boten allerlei hübsche theatralische Aufführungen in
+niedlichen, selbstgefertigten Kostümen; zum anderen Teil unterhielt die
+Kinder ein professioneller Komiker, der sprechend allerlei Tiere und
+Maschinengeräusche nachzuahmen wußte und zuletzt noch<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> als Bauchredner
+auftrat. Nicht endenwollender Beifall der Kinder lohnte ihn. Zum
+Schluß gab es das in Amerika immer unvermeidliche „<span class="antiqua">ice-cream</span>“
+mit Cakes! Ein derber Junge konnte es sich aber nicht versagen — der
+Komiker hatte es ihm wohl angetan! — einem anderen eine Portion des
+schönen „<span class="antiqua">ice-cream</span>“ in den Nacken zu gießen. Mein Freund setzte
+ihn dafür flugs und energisch an die Luft. Meist waren es Kinder armer
+eingewanderter Italiener, Iren, Juden und Slawen.</p>
+
+<p>So ging das alte Jahr für mich drüben zu Ende. Am Silvesterabend
+zündete ich noch einmal meine Kerzen auf dem Kaminsims an und machte
+schon Pläne zu meiner baldigen großen Fahrt durch die Union, die mich
+bis zum Stillen Ozean führen sollte&#160;...</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_21" href="#FNAnker_21" class="label">[21]</a> = Cambridge!</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="UEber_den_Niagara_nach_Chikago">Über den Niagara nach Chikago.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Aber wie zum Stillen Ozean gelangen? Ein reicher Allerweltsreiseonkel
+war ich ja nicht. Mein mir verliehenes amerikanisches Stipendium
+reichte kaum für das Studienjahr. Und einen wirklich einträglichen
+„<span class="antiqua">job</span>“ hatte ich nicht, seit jener „Freshman“ behauptete, mein
+Deutsch striche sein Professor als Fehler an! Da kam eine ernst-frohe
+Nachricht für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es bewahrheitete
+sich wieder einmal: Was dem einen sein Tod ist, ist dem andern sein
+Brot. Hatte ich hier in Amerika einem Onkel das Leben wiedergegeben,
+so starb derweilen mir eine liebe, gute, ferne Tante im Schwabenland,
+die mich einst als Tübinger Studenten freundlich beherbergt und an
+mir beifällig zu rühmen wußte, daß ich trotz all meiner ernsthaften
+Neigungen mit Recht „auch e bissele weltlich“ geblieben sei. Sie
+hatte mir nun — dafür sei ihr im Grab noch gedankt! — eine kleine
+Erbschaft hinterlassen, die zu einer Fahrt, wenn man es wohl einteilte,
+an den Stillen Ozean hin und her reichen mochte! So stand ich vor dem
+Entweder-Oder: Entweder das Geld zu den Wechslern zu tragen und dann
+mein Pfund einst mit Zinsen wieder heimzunehmen, oder es auf sehr
+ehrenwerte und anständige Weise hier im Lande Amerika durchzubringen,
+d.&#8239;h. die<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> Erbschaft in Geist und unwiedereinbringliche Erlebnisse zu
+verwandeln. Ich wählte das letztere und habe es noch nie bereut. Wer
+weiß, ob sie nicht sonst die Inflation verschlungen hätte. So beschloß
+ich, die Erbschaft zu „verreisen“. Ohne dich, liebe gute Tante, hätte
+ich wohl nie den Stillen Ozean und das Felsengebirge gesehen!</p>
+
+<p>Nun fing ich alle Tage zu rechnen an, — aber es wollte nicht recht
+reichen! Denn die Fahrkarte allein nach San Franzisko und zurück
+kostete wohl bald dreimal so viel wie die von Hamburg zur See nach
+Neuyork! Denn von Boston nach San Franzisko <em class="gesperrt">und zurück</em> ist
+ungefähr so weit wie von Berlin in gerader Linie bis nach Kapstadt
+oder beinahe bis nach Wladiwostock!! Ja, ich überlegte schon, ob es
+am Ende nicht gar gescheiter sei, von San Franzisko gleich über den
+Stillen Ozean, durch Japan und auf der sibirischen Bahn heimzufahren.
+Aber diese Route wäre noch um zwei Drittel Weg weiter gewesen. Freilich
+hätte ich dann einen „<span class="antiqua">trip round the world</span>“ vollendet und auch
+von dem Felsengebirge, dem Niagara und dem Grand Canyon erzählen können.</p>
+
+<p>Mit diesen rechnerischen Gedanken gehe ich eines Tages durch die
+„Washingtonstreet“ in Boston und sehe in einem Reisebureau günstige
+Fahrgelegenheiten für Auswanderer nach Kalifornien in Gestalt von
+ermäßigten Rundreisescheinen „Chikago-Los Angeles-Frisko-Chikago“
+aushängen — zum halben Preis! Das war etwas für mich! Ich war ja nun
+zwar kein Auswanderer, aber vielleicht konnte auch ich ein solches
+Billett kriegen. Dazu kam noch die 20stündige Reise Boston-Chikago
+und wieder zurück. Aber die konnte allein auch kein Vermögen kosten.
+So war es. Ich behielt dabei immer noch die Hälfte meines Erbes für
+den Tagesunterhalt. Lebte ich recht sparsam, so mochte es wohl bis
+nach San Franzisko reichen. Wieviel konnte ich sehen, wenn ich so
+die ganze Union in ihrer vollen Breite <em class="gesperrt">zweimal</em> durchfuhr!
+Leuchtend stieg die große Reise vor meiner Phantasie auf! Fuhr ich
+öfters des Nachts, so blieben die Tage um so freier zu Besichtigungen.
+Vor meinem geistigen Auge tauchten schon die Niagarafälle, Chikago,
+die Indianerprärien, der Mississippi, das Felsengebirge,<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> die Wüsten
+Arizonas und Nevadas, der Grand Cañon des Koloradoflusses, von dem ich
+schon geradezu faszinierende Bilder gesehen hatte, das paradiesische
+Kalifornien, der Pazifik, das vom Erdbeben zerstörte San Franzisko
+selbst, die Mormonenstadt, der Große Salzsee und wer weiß was alles
+auf! Ohne Zögern schritt ich tapfer in das Reisebureau hinein
+und erstand das preiswerte „Auswandererbillett“, einen richtigen
+übermeterlangen Fahrschein mit allen möglichen und unmöglichen
+Bahnstationen darauf und der Berechtigung auf etwa 12&#8239;000 <span class="antiqua">km</span>
+Eisenbahnfahrt! Mein Herz hüpfte und zersprang fast vor Freuden: Einen
+ganzen Erdteil sollte ich zweimal durchfahren! Wie viele in der Welt
+kamen mir gleich? In Harvard staunten sie über meinen kühnen Entschluß.
+Denn es gab nicht viele Amerikaner in Neuengland, die schon einmal bis
+nach Kalifornien gekommen waren! Denn wer von uns Deutschen war am
+Kaukasus oder am oberen Nil?</p>
+
+<p>Mittlerweile war es langsam Frühling geworden. Vom Eise und Schnee
+befreit waren Ströme und Bäche, als ich zur „Northstation“ in Boston
+hinausfuhr in Richtung „Buffalo“! Der weitgereiste Freund Moore hatte
+mir noch viele gute Ratschläge gegeben, Adressen und Reiserouten
+empfohlen, mein japanischer Freund Mr. Ashida hatte noch einmal in
+Boston mit mir zu Abend gegessen und gab mir das Geleit bis an den
+Zug, dann war ich allein, ganz allein und fuhr dem „wilden Westen“ zu!
+Beide Freunde konnten sich wohl am ehesten in meine Seelenverfassung
+hineinversetzen, der eine durch seine weiten Fahrten als Dolmetscher
+und Führer mit Cook bis nach Italien, Griechenland und Konstantinopel,
+der andere kannte selbst den weiten Weg von Japan über den Stillen
+Ozean, das Felsengebirge und die Mississippiebene nach Boston herüber
+...</p>
+
+<p>Als wir fuhren, schaute ich mich zunächst in dem fürstlich
+ausgestatteten Pullmannwagen um. Die Decke war wie in einem Salon.
+Plüsch auf den Sitzen, auf die man zum Ausruhen die Beine legte (soweit
+hatte ich mich auch schon amerikanisiert!). Hinter jedem Sitz brannte
+zum bequemen Lesen eine besondere Glühbirne. Der Zug<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> war gar nicht
+besetzt. Wenige gelangweilte Zeitungsleser saßen auf einigen anderen
+Plätzen in den Ecken und ließen bald ihre „<span class="antiqua">papers</span>“ zu Boden
+gleiten, um selig zu entschlummern, Kaufleute, Geschäftsreisende, die
+gewiß wie oft schon diese Strecke gefahren waren. Was ahnten die, was
+in meiner Brust alles vorging und wie mir das Herz klopfte: „Nun hast
+du die große Fahrt an den Stillen Ozean angetreten ...!“ An der Tür
+stand, jedes Winks gewärtig, der Negerschaffner zur Bedienung. Ab und
+zu kam der „<span class="antiqua">trainboy</span>“ und bot seine Postkarten, ein Dollaralbum
+für einen halben Dollar an, Handschuhe, Süßigkeiten, Zeitschriften wie
+immer. Langweilig konnte es mir auch ohne ihn nicht werden. Mir war
+alles interessant, was ich sah; ich schaute gespannt hinaus, solange
+noch etwas von der Landschaft zu erkennen war&#160;...</p>
+
+<p>Langsam senkte sich die Abenddämmerung nieder. Es war ein Nachtzug.
+Wir fuhren durch historische Gefilde. Im Rauch der Großstadt und
+ihrem unübersehbaren Häusermeer versank der schöne Frühlingstag.
+Wir überquerten den Charles River und rasten zwischen dem langen
+straßenreichen Sommerville, mit seinen unzähligen freundlichblickenden
+weißgestrichenen Holzhäusern und ihren offenen Vorhallen und Veranden
+dahin. Über die Dächer grüßte Fort Prospect Hill mit seinen steinernen
+Zinnen und seinem wehenden Sternenbanner, ein stolzes Wahrzeichen aus
+dem Unabhängigkeitskrieg. Der hohe weiße Obelisk auf Bunker Hill, wo
+einst General Warren und Oberst Prescott vor anderthalbhundert Jahren
+sich so lange siegreich gegen die Engländer behauptet hatten, blieb
+zurück. Wir jagten an Arlington, den Arlington Heights und der Gegend
+von Concord in seiner poetischen Einsamkeit vorüber. Sie waren mir
+von meinen Fußreisen wohl bekannt. Im Rauch der Fabriken, Schiffe und
+Bahnen der Boston-Bucht war inzwischen die Sonne hinabgesunken&#160;...</p>
+
+<p>Wir waren über Bostons nächste Umgebung hinaus. Hügel, Wälder und
+Felder mit Obstbäumen, an denen sich schon das erste Grün hervorwagte,
+wechselten miteinander. Aber so rechten Mut, hervorzukommen,<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> hatte
+das Grün an den Bäumen noch nicht. Denn wie oft bricht im April noch
+Sturm und Schnee aus Kanada über Knospen und Blüten herein, die ebenso
+schnell ein plötzlicher Sommer ablöst. Wie das Klima drüben die größten
+Gegensätze aufweist, so sind auch die Menschen voller Kontraste. Das
+hartwechselnde Klima hat sie rauh, aber auch energisch gemacht. Auch
+hier machte das Land, wie einst zwischen Neuyork und Boston, vielfach
+den Eindruck des Unfertigen. Wohlangebaute und wohlausgenutzte Felder
+in unserem Sinn sah man selten. Wälder wechselten mit öder Steppe. Hier
+und da tauchten Farmen auf, manchmal auch verlassene, wo die Ausbeute
+sich nicht mehr lohnte. Aber man muß gerecht bleiben: Was in Europa
+in einem Jahrtausend erreicht worden ist, dazu war ja hier nur ein
+Jahrhundert Zeit zu Besiedlung und Urbarmachung eines Kontinents! So
+sehen wir Europäer, die wir nur an kleine, wohlgeordnete Landschaften
+gewöhnt sind, wo jeder Fußbreit jemandem gehört und seit Urväterzeiten
+umgepflügt worden ist, leicht Unordnung, Schmutz, wüstliegendes Land,
+Steine, verkohlte Baumstämme, unrationell abgeholzte Wälder, an deren
+Wiederaufforstung man kaum denkt, und übersehen die vollbrachte
+Leistung. Hier lag eine Mühle und da eine Faktorei, dort eine einzelne
+Farm und drüben ein abgelegenes Landstädtchen. Der Zug hielt selten,
+kaum alle dreiviertel Stunden oder alle Stunden einmal, manchmal noch
+viel länger auch gar nicht&#160;...</p>
+
+<p>Wir fuhren mit etwa 50 Meilen Geschwindigkeit. Die Wagen sind so fest
+und gutfedernd gebaut, daß man selbst bei langen Fahrten kaum etwas
+vom Fahren merkt. Nur ein leichtes Rollen und ein leises Ächzen der
+Wände verrät es. Das ist alles. Die Stationen enthalten zum Teil
+allerlei Merkwürdiges. Namen: Amsterdam, Utica, Rome, Syrakuse, Genf,
+Batavia! Alle diese Orte liegen im Staate „Neuyork“! An wundervollen
+Gebirgsgegenden fuhren wir vorüber, Caatskill-Mountains und Berkshire
+hills. Ach wer da überall wandern, die Aussichten sehen oder dort ein
+Zelt für ein paar Wochen aufschlagen könnte! Aber dazu reichte meine
+Zeit lange nicht. Da wären noch Pumas, schwarze Bären, Wildkatzen,
+Rotwild, Füchse, Dachse,<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> Adler, Wildenten, Reiher und Haselhühner zu
+erlegen! Es ist die Gegend, wo einst die Mohawkindianer und Irokesen
+dem vordringenden Trapper, der mühsam seinen schweren Karren mit seinen
+Tieren durch die Täler trieb, hemmte, überfiel und erschlug, was ihm
+der Weiße reichlich vergalt. Aber heute ist weder von Mohawks noch
+Irokesen etwas zu sehen ... Nur einförmige Rauchwolken lagen über dem
+Schienenstrang&#160;...</p>
+
+<p>Etwa um zehn Uhr fing der Schlafwagenschaffner, der Neger, in sehr
+großer Gemächlichkeit und Seelenruhe an, unseren D-Wagen (die keine
+Abteile haben, um etwaigen Überfällen leichter begegnen zu können!) in
+einen Schlafwagen zu verwandeln. In äußerst praktischer Weise werden
+dazu von oben und unten Betten heruntergeklappt und hervorgezogen, und
+es wird Raum zum Schlaf für 32 Passagiere! Große grüne Vorhänge werden
+vor die Betten gehängt, hinter denen man sich — Männlein und Weiblein
+— ungeniert entkleidet. Ich klomm wie in der Schiffskabine mittels
+einer kleinen Leiter wieder in eins der <em class="gesperrt">oberen</em> Betten empor.
+Denn man hat da viel mehr Raum zum Auskleiden, was einem oben sogar
+im Aufrechtsitzen gelingt. Unten dagegen geht es ohne Kopfanstoßen,
+vergebliches Hüpfen, Lupfen, Ziehen und Zerren nicht ab. Auch glaubte
+ich mich oben gegen etwaiges Bestohlenwerden im Schlafe sicherer. Die
+Wertsachen, Uhr und Scheckbuch, barg ich unter meinem Kopfkissen oder
+am Fenster ... und legte mich dann ruhig aufs Ohr schlafen.</p>
+
+<p>Bald verrieten rings überall regelmäßige Atemzüge, daß die meisten
+schon entschlummert waren. Die Glühlampen waren bis auf wenige
+ausgelöscht ... Einsam rollte unser Zug aufwärts durch die Nacht. Nur
+hier und dort blinkte ein Lichtlein ... mit Dampf und Gekeuch ging es
+das Mohawktal hinauf. Mit ziemlicher Gewalt trommelte dabei die aus
+der schwer arbeitenden Lokomotive geschleuderte körnige Asche auf das
+Wagendach und ließ noch nicht so bald ruhigen Schlaf aufkommen ... Ich
+hörte, wie wir in der Hauptstadt des <em class="gesperrt">Staates</em> Neuyork, in Albany,
+hielten am oberen einzig schönen Hudson. Auch hier mußte ich es mir
+versagen, auszusteigen. Immerfort ging es in<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> die Nacht hinaus! Wie
+verschieden die Menschen doch zu Zeiten gereist sind! Zu Fuß, zu Pferd,
+auf dem Esel, in der Sänfte, in der alten rumpelnden Postkutsche, auf
+dem Segel- und Dampfschiff, und nun im Schlafwagen oder im eigenen
+Ford-Auto. Es war schön, so ruhend und schlafend durch eine fremde Welt
+gerollt zu werden! Es war ein eigenartiges Bewußtsein für mich: Da
+draußen kennt dich kein Mensch, und du da drinnen kennst auch keinen!
+Wie anders reist der Spekulant, der Geschäftsmann, der Landaufkäufer,
+der Farmer, der Hochstapler, der Tourist, der Novellist, der Student!
+Wie schön, mit frohem Gewissen und geschwellter Brust und klopfendem
+Herzen zu reisen, immer neuer Eindrücke gewärtig ... Um Mitternacht
+fielen mir endlich doch die Augen zu&#160;...</p>
+
+<p>Als ich wieder erwachte, war es schon heller schöner Morgen. Ich hatte
+ganz gut eine Reihe von Stunden geschlafen. Nebel wallten im Mohawktal.
+Wir fuhren jetzt abwärts. Ringsum frühlinghaftes Land und Sonnenschein.
+Aber im Schlafwagen hatte sich eine recht stickige Luft gesammelt.
+Einige erhoben sich schon und wandelten mit struppigem Haar oder —
+je nachdem — in langen Zöpfen halb angekleidet zu den Waschräumen am
+Ende des Wagens, wo einer nach dem anderen recht ungeniert im fahrenden
+Zug Toilette machte, ähnlich den Polonäsen vor den <span class="antiqua">bath-rooms</span>.
+Dörfer flogen währenddem draußen vorüber, aber meist wahllos,
+ordnungslos gebaut. Man sah Holzhäuser, nirgends Backsteinbauten. Auch
+die Schienen liefen über feste Holzbohlen. Was mußten hier die Wälder
+einmal alles hergegeben haben! Dürftige Holzgatter hielten das Vieh
+zusammen. Kleine Tümpel, Wäldchen; kleine äußerst einfache Holzkirchen
+mit goldenem Kreuz oder Knauf. Häßliche Reklameschilder an den Scheunen
+...!</p>
+
+<p>Wir näherten uns Buffalo am Lake Erie, einem jener großen Seen oder
+besser Binnenmeere, die unserer Ostsee gleichen. 440 Meilen, also
+etwa die Entfernung Frankfurt-Hamburg, hatte ich schon in der Nacht
+durchfahren. Gegen acht Uhr früh dampften wir langsam über eine Brücke,
+deren Einsturz bald erwartet wurde! Die Bahn ist versichert<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> — das
+genügte der Bahngesellschaft! Früher hat man Brücken über Schluchten
+zuweilen einfach auf gekappte Bäume gebaut, solange sie hielten&#160;...</p>
+
+<p>Ich war in der „Büffelstadt“, in der 1901 Präsident McKinley ermordet
+wurde. Viele Deutsche wohnen in ihr. Nicht ganz ausgeruht, aber froh
+der allmählich unerträglichen Luft des Schlafwagens entronnen zu sein,
+verließ ich den Pullmann und reckte die steifen Glieder&#160;...</p>
+
+<p>Buffalo machte auf den ersten Anblick einen etwas düsteren Eindruck.
+Ich entdeckte nichts Besonderes in ihm. Wer aus dem lärmenden Neuyork
+und dem gebildeten Boston mit seinem „<span class="antiqua">fascinating</span>“ Harvard
+College, wie mir eine alte weißhaarige Dame, die Mutter eines
+Privatdozenten in Harvard, begeistert rühmte, kommt, dem haben mittlere
+Großstädte, wie Buffalo, die reine Geschäftsstädte sind, nicht viel zu
+sagen.</p>
+
+<p>Kühn kann man behaupten, man mag einen unversehens in eine
+Geschäftsstraße in Neuyork, Chikago, San Franzisko, Buffalo oder St.
+Louis stellen — und er wird kaum zu sagen wissen, wo er sich befindet.
+Eine ungeheure Gleichförmigkeit liegt über allen amerikanischen
+Großstädten. Völlig gerade und geradlinig einander schneidende, oft für
+den Fußgänger schier endlose Straßen, gleich abgezirkelte Häuserblocks
+mit ihren Warenhäusern und Wolkenkratzern, deren wenigstens ein
+paar sich in jeder großen Stadt finden, machen jedes Stadtbild zum
+Schema. Man findet keine individuellen Straßennamen, das macht die
+Charakterlosigkeit des Städteeindrucks vollkommen. In der Mitte der
+Stadt liegt stets irgendwo die „City Hall“, das Rathaus, oder auf einer
+Anhöhe das Staatskapitol mit einer meist stattlichen Kuppel; dazu
+irgendwo ein größerer Park; in der Stadt selbst sind außer wenigen
+„Squares“ meist keine größeren öffentlichen Plätze vorhanden, die die
+Architektur der öffentlichen Gebäude zu voller Wirkung kommen ließen.
+Die Theater sehen von außen auch oft wenig imponierend aus und sind
+wie die meisten Kirchen in die Häuserfronten hineingebaut, damit das
+Riesenschachbrett<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> der Häuserblocks ja nicht irgendeine malerische
+Unterbrechung erfährt. Fast in allen Hauptstraßen fahren wie bei uns
+elektrische Straßenbahnen, deren Wagen aber meist länger und schwerer
+sind als bei uns; irgendwo rasselt auch eine Hochbahn ohrenbetäubend
+auf ihren Eisengerüsten daher und nimmt das letzte Licht, das die
+Wolkenkratzer noch in den Straßen gelassen haben, hinweg, oder in
+unterirdischen Tunneln braust ein <span class="antiqua">subway</span>, der hier und da wie
+ein geheimnisvoller Maulwurf seine Hügel in den Straßen in Gestalt
+kleiner gläserner Eintrittshallen zu den unterirdischen Stationen
+aufgeworfen hat. Zeitungsjungen laufen die Straßen entlang und schreien
+ihre <span class="antiqua">papers</span> aus, die in riesigen roten Lettern irgendeinen
+Streik, ein Schiffsunglück oder einen Mordprozeß ankündigen, meist mit
+viel Übertreibung. Sind irgendwo ein paar Arbeiter ausständig, so heißt
+es in der Zeitung „<span class="antiqua">big strike and riot</span>“. Ehescheidungsprozesse,
+Sensationen, Brände, Gesellschaften der Society-Leute,
+Gerichtsverhandlungen und Sportnachrichten nehmen fast allen Raum ein.
+Das Politische kommt oft recht zu kurz oder ist in kleine persönliche
+Geschichtchen zerstückelt. Automobile tuten an allen Ecken, Schutzleute
+mit Pfeifchen dirigieren den Verkehr an den Straßenkreuzungen. Das ist
+so der äußere Eindruck der amerikanischen Großstadt, auch Buffalos.</p>
+
+<p>Darüber hinaus weiß ich von Buffalo nicht viel Individuelles zu
+erzählen. Alles Historische fehlt ja in Amerika, zumal wenn man
+den Osten verläßt. Dann steht man überall auf allerjüngstem Boden.
+Man kann in Amerika nirgends nach alten Schlössern und malerischen
+Stadtumwallungen, nach zackigen Türmen oder gotischen Kathedralen,
+nach historischen Gebäuden und alten Rathäusern, selbst nicht überall
+nach Kunstgalerien und weltberühmten Museen forschen. Alles das
+fehlt! All der historische und geistig kulturelle Zauber, wie ihn
+eine tausendjährige Geschichte über die Städte Europas gebreitet hat,
+fehlt: Hier ist weder ein Florenz noch Rom, weder Straßburg noch
+Nürnberg, weder Paris noch London. Eins ist hier allbeherrschend, das
+ist der „<span class="antiqua">Busineß</span>-Geist“. Hier ist Pionierland und immer noch
+quantitative<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Anfangskultur. Die amerikanischen Großstädte, vielleicht
+eine einzige, Washington ausgenommen, sind Geschäftsstädte.</p>
+
+<p>So war in Buffalo selbst nicht viel, was mich anzog. Ungeheuer
+schnell ist es in wenigen Jahrzehnten emporgewachsen. Vor dreißig
+Jahren sind noch viele Deutsche hier eingewandert. McKinley wurde,
+wie gesagt, hier ermordet, und ein Indianerhäuptling hat hier ein
+Denkmal in einem Friedhof der Stadt. Das ist seine Geschichte. Ich
+nahm deshalb am Bahnhof sofort die Straßenbahn, um hinaus zu den
+<em class="gesperrt">Niagarafällen</em> zu fahren. Einkehr hielt ich nahe den Fällen in
+einem schlichten deutschen Pastorat, wo deutsche Familiengemütlichkeit
+mich wundersam in der amerikanischen Umgebung umfing. All das Unruhige
+der reklameschreierischen Großstadt, alle die Läden und Banken,
+Trust-Compagnies und Warenhäuser samt den Alleen der Vorstädte und
+ihren oft hübschen Wohnsitzen blieben hinter mir, und ich suchte
+meine Zuflucht für einige Stunden wieder einmal auf einem Fleckchen
+Deutschland, wo ein deutscher Professorensohn und eine deutsche
+Professorentochter als deutscher Pfarrer und Pfarrfrau neben ihrer
+netten, aber doch bescheidenen Holzkirche hausten&#160;...</p>
+
+<p>Die beiden Pfarrersleute sind auf eine merkwürdige Weise dahingekommen.
+Er hatte nie in Deutschland richtig sein Abitur gemacht, sondern
+war nach seiner Ausbildung auf einem Seminar (um zuerst Missionar
+zu werden) „hinüber“ gegangen samt seiner Braut, der einzigen
+Tochter eines bekannten Nationalökonomen in einer Universitätsstadt
+Mitteldeutschlands, so wie er auch der Sohn eines bekannten
+Universitätstheologen derselben Stadt war. Sie hatten von Jugend auf in
+derselben Straße miteinander gespielt und sich früh kennen und lieben
+gelernt. Die Eltern wollten die Verbindung beider erst nicht recht
+zugeben. Auch daß der Heidenmissionar zum smarten Amerikaner wurde,
+paßte ihnen gar nicht. Aber allemal ist der Wille der Kinder ja stärker
+als der der Eltern. So fuhren sie ohne große Mittel und ohne zu wissen,
+wohin und wo bleiben, übers große Wasser und fanden wie alle drüben
+ihren Platz. Erst wurde er Pastor einer deutschen Gemeinde in Illinois,
+dann in Iowa mit nur etwa 250 Dollar<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Jahresgehalt. Und nun hier am
+Niagarafall. Eine solche kleinere Gemeinde setzt echt amerikanisch
+voraus, daß ihr trotz seiner kleinen Gemeinde viel beschäftigter Pastor
+noch allerlei Nebenerwerb betreibt, mit dem er das Fehlende seines
+Gehalts selbst dazu verdient, wobei kein Arbeitszweig schändet.</p>
+
+<p>Traulich war es wieder einmal an einem deutschen Familientisch zu
+sitzen und wieder einmal deutsch zu reden. Freilich die in Amerika
+geborenen Kinder des Pastors empfanden ganz amerikanisch und sprachen
+untereinander nur englisch; nur den Eltern antworteten sie noch aus
+schuldiger Rücksicht deutsch. Aber auch der Hausfrau entschlüpften dann
+und wann in ihrer deutschen Unterhaltung die englischen Fachausdrücke:
+„Bitte, kommen Sie in den <span class="antiqua">parlor</span>!“ (Empfangszimmer). —
+„Hier hat uns der Maler die Stube gepaintet“ (<span class="antiqua">paint</span> malen).
+— „Wünschen Sie noch etwas <span class="antiqua">jam</span>?“ (Gelee). — „Nicht wahr,
+in Buffalo ist auf den Straßen immer ein mächtiges <span class="antiqua">crowd</span>?“
+(Gedränge). In diesem Stil ging es fort. Aber wie erfreut waren
+sie doch, daß ich, obwohl so ganz unangemeldet, zu ihnen kam! Ich
+kannte des Hausherrn Schriften und konnte ihm erzählen, daß ich noch
+bei seinem Vater an der Universität Vorlesungen gehört hatte! Dann
+tauschten wir gemeinsame Erinnerungen an Saalefahrten, deutsche
+Studentenverbindungen, und über Deutschland im allgemeinen aus. Er
+wußte nicht genug die Treue und Anhänglichkeit seiner Gemeindeglieder,
+die alle aus einfachem Stande waren, deutsche Holzarbeiter,
+Zimmerleute, Straßenbahner usw., zu rühmen, etwa 150 Familien, die
+die ganze Kirche samt Pastor unterhielten. So hatte ich auch in
+dem Schaffner der Straßenbahn, die mich hinausführte, einen alten
+Württemberger entdeckt. Aber keiner von ihnen allen wollte wieder in
+die alte Heimat zurückkehren!</p>
+
+<p>Als ich mit dem deutschen Pastor in seiner kleinen hölzernen Kirche
+stand, wie rührend überkam mich da die Schlichtheit, die mich umfing!
+Die einfachen Bänke und die Kanzel und der Sonntagsschulsaal und
+die bescheidenen Gemeinderäume ...! Sogar eine große Küche war
+hinten angebaut, wo allmonatlich eines Abends für<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> Arme eine eigene
+„patentierte“ dicke Suppe gekocht wurde, die außen an der Kirche
+durch ein aushängendes Schild der Gemeinde und den Umwohnenden
+angezeigt wurde. Sie war außerordentlich beliebt und wurde gern
+gegessen und gekauft. Aus diesem Suppenabend sprang dann meist noch
+ein beträchtlicher Gewinn für die Gemeindekasse heraus! Die Gemeinden
+drüben fühlen sich viel mehr als Familie als bei uns. Man kennt
+einander genau. Man pflegt aber auch öfter die Kirche zu wechseln.
+Die Kirche ist oft der einzige Zusammenschluß, den man hat; sie
+vertritt die Gesellschaft. Nun ist aber die Erhaltung speziell der
+deutschen Kirchen ein großes Problem. Die zweite und dritte Generation
+ist ja fast immer schon völlig amerikanisiert und versteht oft kaum
+noch Deutsch. Die „deutschen“ Kirchen können auf die Dauer daher nur
+als Missions- und Übergangskirchen für die Einwandernden angesehen
+werden. Denn alle Nationalitäten amerikanisieren sich hier über kurz
+oder lang völlig. Der deutsche Charakter, Gemüt und Tüchtigkeit mag
+sich auch unter der englischen Zunge erhalten oder ein Ferment in dem
+sich bildenden amerikanischen Nationaltypus sein. Aber ausgeprägtes
+Deutschtum als solches und als Bestandteil für sich hat auf die Dauer
+im amerikanischen Volkskörper wenig Zukunft. Nicht anders ergeht es dem
+Irischen, Italienischen oder Griechischen drüben.</p>
+
+<p>Am Nachmittag machte mein Gastgeber sich mit mir auf den Weg, mir
+eines der imposantesten Naturschauspiele der Erde zu zeigen, die es
+gibt, den <em class="gesperrt">Niagarafall</em>. Der Niagara selbst ist ein breiter, nur
+einige Meilen langer Flußkanal, der den Eriesee mit dem Ontariosee
+verbindet. Auf halbem Wege stürzt dabei der imposante Fluß über eine
+fast anderthalb Kilometer breite und 50-60 Meter hohe Felsenwand hinab
+in zwei durch eine breite Insel geschiedenen nebeneinanderliegenden
+Fällen. Seit meiner Jugend klang mir das alte indianische Wort
+„Niagara“ wie ein Zauber im Ohr. „Niagara“, Donner der Gewässer, ist
+nicht das einzige indianische Wort, das sich erhalten hat.</p>
+
+<p>Wie würde der Niagara wohl aussehen? Ich erinnere mich wohl, Bilder
+von ihm in früheren Jahren gesehen zu haben, aber sie waren mir doch
+nicht mehr ganz deutlich in Erinnerung. Nun sollte ich ihn<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> selbst in
+Wirklichkeit sehen. Sagenumwoben sind seine „donnernden Gewässer“;
+jährlich verschlingen sie zwei Opfer nach der indianischen Sage, und
+jährlich muß nach altem Glauben ein reines Mädchen im gebrechlichen
+Kanoe den Fall hinuntergesandt werden, aus dem sie nimmer lebend
+entrinnt, um die Geister des Stromes günstig zu stimmen! Jährlich
+— aber das ist die rauhe Wirklichkeit — verschlingt der Niagara
+mehrere Menschen, die in ihm verzweifelt den Tod suchen und von seiner
+schauerlichen Macht magisch sich angezogen fühlen. Die Geliebte eines
+modernen deutschen Dichters und Dramatikers stand am Rand des Falls
+und war so in seine brausende Gewalt versunken, daß man sie mit Gewalt
+davor bewahren mußte, sich nicht auf der Stelle in ihm den Tod zu
+geben. Andere fühlten sich zu den tollsten Wagnissen gereizt; auf
+Drahtseilen haben Seiltänzer die Fälle überschritten, in einem Faß hat
+sich einer die Stromschnellen hinabtreiben lassen und ist mit dem Leben
+davongekommen, und hat fortan seinen Lebensunterhalt damit verdient,
+daß er sich mit seinem Faß für Geld sehen ließ!</p>
+
+<p>Wir hatten uns erst durch die Stadt „Niagara Falls“, die sich dicht
+an den Fällen angebaut hat, samt all ihren Hotels, Basaren, Ständen,
+Droschken, Autos, Führern und Händlern durchzuwinden, — ach, daß in
+aller Welt Händler und Marktleute die gewaltigen Naturschönheiten
+gerade als ihren besonderen Raub betrachten und, während man sich von
+dem „Donner der Gewässer“ betäuben lassen möchte, einem unaufhörlich
+mit Donnerstimme ihre oft unschönen Ansichtskarten anpreisen und einem
+als Führer fast den Weg versperren! — bis wir auf einmal wunderbar
+frische Luft atmeten, ein feiner Wasserstaub herübersprühte, ein
+ungeheures Donnern, das mit jedem Schritt zunahm, sich hörbar machte,
+— wir waren in den Anlagen dicht an den Fällen! Noch ein paar
+Schritte, und links bot sich der erste Blick auf den amerikanischen
+kleineren Fall. Von oben gesehen übt er nicht seine volle Wirkung.
+Geht man aber tief bis auf das Niveau seines unteren Endes hinunter,
+so spürt man erst die erdrückende Gewalt der herniederdonnernden
+Wassermassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span></p>
+
+<p>Nun bot sich uns bei unserem Besuch noch ein besonders eigenartiges
+Schauspiel. Es war Anfang April. Die Sonne schien freundlich warm.
+Rings sproßte es in tiefem, frischem Grün an Baum und Strauch: Weite
+Wiesenflächen zwischen Baumgruppen in entzückendem Grün — aber im
+Niagarastrom war noch Eis und Schnee. Wie ein mächtiger Gletscher
+türmten sich die Schnee- und Eisschollen vom noch weithin zugefrorenen
+Flußbett den donnernden, schäumenden Wassern entgegen. Man konnte sich
+auf dem Eis am Ufer ein Stück weit auf den Fluß hinauswagen und trotz
+der warmen Frühlingssonne eine Schnee- und Gletscherpartie unternehmen,
+Schneehügel emporklimmen und sich von den Wolken voll Wasserstaub
+überschütten lassen und von unten hinaufsehen zu den unablässig
+herniederstürzenden und wieder aufschäumenden Wogen. Es gibt viele
+großartige Wasserfälle in der Welt, in der Schweiz und in Italien; aber
+der Niagara übertrifft sie doch alle weit mit der ungeheuren Masse
+seines Wassers. Den überwältigendsten Eindruck macht der kanadische
+Fall, der noch dreimal so breit als der amerikanische und von ihm durch
+die breite Felseninsel völlig geschieden ist.</p>
+
+<p>Aus der Gletscherregion stiegen wir wieder empor in die
+Frühlingssonnenwärme und zu den frischen grünen Wiesen hinan — ein
+Kontrast, wie man ihn nur an einzelnen Punkten in den Alpen erleben
+kann, wo ziemlich plötzlich der letzte Schnee den grünen Matten Platz
+macht. Wir nahmen unseren Weg nun hinüber auf die breite, waldige,
+jetzt wohlgepflegte Insel „Goat Island“, die die beiden Fälle
+voneinander scheidet. Auf sanften Wegen kann man hier sich jetzt zu Fuß
+und Wagen ergehen. Aber wie muß es einst hier gewesen sein! Als noch
+keine Eisenbahnbrücke den Strom überspannte, noch keine Geschäftsstadt
+sich am Fall angebaut hatte, noch keine Fabriken ihre rauchigen
+Schornsteine über die Felsen reckten, gierig, die unausschöpfbaren
+Urkräfte zu nutzen, als dichter, schier undurchdringlicher Urwald die
+Ufer und diese Insel säumte, die wohl vermutlich nie ein menschlicher
+Fuß betrat, als nur hin und wieder ein Indianer scheu das Dickicht
+durchbrach und mit Entsetzen diese donnernden Gewässer erschaute<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> und
+zitternd die Kunde ins Dorf und zu dem Stamm brachte und man dann in
+Haufen aufbrach, die Wunder der Götter und Geister zu schauen und
+den Donner ihrer Stimme zu vernehmen, und der Häuptling, am Fluß
+angekommen, in vollem Schmuck die Zweige auseinanderbog und der
+Majestät der Natur ins Auge schaute&#160;...</p>
+
+<p>Das obere Ende dieser „Ziegeninsel“, der vier kleine Felsinselchen
+vorgelagert sind mit den poetischen Namen „<span class="antiqua">Three Sisters and little
+Brother</span>“, eröffnet einen ganz unerwarteten Blick auf den riesig
+breiten Niagarafluß oberhalb der Fälle, wo er mehrere Kilometer breit
+mit seinen schäumenden, rauschenden Stromschnellen und seinen darüber
+kreisenden Möwen fast den Eindruck eines wogenden Meeres macht. Rollend
+und brausend rauscht der gewaltige Strom, mit Eisschollen bedeckt, die
+in den Fällen an den Felsen zerschellen, daher, ein tobendes Gewässer.
+Nur noch wenige hundert Meter — und die Wasser neigen sich über die
+Felskanten hinab im tosenden Fall&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe47" id="illu_172">
+ <img class="w100" src="images/illu_172.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">NIAGARA<br>
+ Der amerikanische Fall, vereist
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_172_gross.jpg"
+ id="illu_172_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_173">
+ <img class="w100" src="images/illu_173.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">CHICAGO<br>
+ Chicago’s Wasserfront am Michigansee
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_173_gross.jpg"
+ id="illu_173_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Den Niagarafluß, oder besser gesagt die Niagaraschlucht, unterhalb
+der Fälle entlang hat man auf beiden Seiten eine elektrische Ringbahn
+gebaut, die auf gefährlichem Pfad, dicht zwischen dem tosenden Fluß
+und den steil abstürzenden Felsrändern hinführt und den besten Blick
+auf die Stromschnellen unterhalb der Fälle gewährt. Der oben mehrere
+Kilometer breite Strom wird unterhalb der Fälle in eine enge, noch
+nicht hundert Meter breite Felsschlucht zusammengezwängt, in der
+er eine furchtbare Tiefe annimmt und in der sich die Wasser mit
+unablässigem Schäumen und vielen mächtigen wilden Strudeln fast konvex
+zusammentürmen und -zwängen, bis sie in einen fast kreisrunden Teich
+gelangen, den sogenannten „Whirlpool“, wo sie ans Land spülen, was
+sie in ihrer tollen Fahrt über die Fälle mit heruntergerissen haben,
+es seien Baumstämme oder Menschenkörper. Auf leichtbeschwingter
+Brücke — es führen deren einige in mehr oder weniger vollendeter
+Eisenkonstruktion über die Felsschlucht — setzt die Gürtelbahn über
+den Strom und führt durch schöne Haine von hohen Lebensbäumen, aus
+denen sich ein entzückender Rückblick auf den sich wieder in sanfterem
+Hügelland verbreiternden Fluß und die in duftigem<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> Dunst leise sich
+andeutenden Uferlinien des Ontariosees ergibt, hinauf zu der stolzen
+Denksäule des im amerikanischen Krieg 1812 gefallenen englischen
+Generals Brockes. Auf der wohlangelegten, von der amerikanischen
+wohl abstechenden kanadischen Seite geht es dann durch gut gepflegte
+Parkanlagen, die noch manchen reizvollen Blick hinunter auf die
+Stromstrudel und hinüber auf die amerikanischen Felsen mit ihren wie
+Hephästus’ Werkstätten rauchenden und feuerspeienden Eisenwerken
+bietet, zurück zum kanadischen Fall. Je näher ich ihm wieder kam,
+bis ich seine ganze ungeheure, an einen Kilometer fast fassende
+Breitseite, die mit immer neu aufsteigenden, fast undurchdringlichen
+Wasserstaubwolken geheimnisvoll verhüllt ist, vor mir hatte — da war
+ich von der Macht der brausenden, mit ihrem verhaltenen gebrochenen,
+wie von Bergsprengungen herrührenden Donner doch überwältigt. Was
+ich beim amerikanischen Fall noch vermißte, das fand ich hier alles.
+Diese ungeheuren Gewalten, die sich hier entfalten, lassen sich nicht
+beschreiben. Unausstehlich war nur das Gehämmer der Bohrarbeiter in
+der Nähe an den Felsen herum, ihre schrillen Pfiffe, das Surren der
+Maschinenräder, fortgesetztes Hämmern und Klopfen. Aber was bedeutet
+all dies menschliche Kratzen und Pochen an dem Urgestein gegenüber der
+Macht, die da drüben seit Jahrtausenden täglich sich frei auswirkt?</p>
+
+<p>Man kann auch in die Felshöhlen unter dem amerikanischen Fall mit
+Führer auf schwankenden Treppen und Stegen gelangen, wobei die
+Teilnehmer ganz in Gummi gehüllt sich — soweit schwindelfrei — an den
+Händen fassen. Aber erstens war zu meiner Zeit noch alles vereist, und
+zweitens hätte ich mir doch überlegt, ob ich meine Nerven riskieren
+soll.&#160;—</p>
+
+<p>So fuhren wir wieder heim ins Pastorat. Auf der Elektrischen traf ich
+am Bahnhof einen Westpreußen aus Elbing. Er fragte mich, wie mir die
+Fälle gefallen hätten? Aber diese Frage war immer noch verständiger
+als die andere, ob man in Deutschland auch schon Dampfheizung oder
+elektrisches Licht und Straßenbahnen und Automobile habe, ob auch hohe
+Häuser und große Läden da seien, und wie schnell<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> die Bahnen führen, ob
+sie so gut und bequem seien wie in Amerika, und ob man im Winter auch
+wirklich warme Zimmer habe! Die ausgewanderten Deutschen kennen oft nur
+noch ihr Deutschland von vor fünfzig Jahren, da man bald noch mit der
+Post fuhr und Petroleumlampen brannte, und nun meinen sie, das gelobte
+Land Amerika allein besitze Technik und Kultur in der Welt!</p>
+
+<p>Die nächste Nacht schlief ich wieder einmal in einem weißüberzogenen
+Bett bei den gastfreien gütigen Landsleuten. Mit dem Frühesten
+ging es wieder nach Buffalo hinein, wo gegen acht Uhr der Zug
+nach Chikago abging, der über Detroit dort abends um elf Uhr (!)
+eintreffen sollte! Diesmal bestieg ich nicht den Pullmann, wo man Bad,
+Schreibtisch, Telephon, Barbiersalon usw. benutzen kann, sondern einen
+Auswandererzug der billigeren Wabashlinie, deren große D-Wagen mit
+auszieh- und drehbaren plüschbezogenen Lehnstühlen auch noch bequem
+genug ausgestattet waren. Auch in ihm konnte man nach Belieben sitzen,
+liegen, essen und schlummern. Die Fahrt war dementsprechend billiger,
+zwar auch dafür ein klein wenig langsamer. Aber ich hatte ja Zeit.
+Also in fünfzehn Stunden von Buffalo nach Chikago! Die Mitreisenden
+waren aus einfacheren aber mir interessanten Ständen: Einige handfeste
+Schweden mit Familien saßen im Wagen. Den großen starken Menschen
+hing zwar — wenig amerikanisch! — hinten das Blusenhemd aus dem
+Hosengürtel. Das kümmerte mich aber wenig. Neben mir aßen sie
+faustdicke Brotscheiben mit fingerdickem Käse darauf. Das kümmerte
+mich schon ein wenig mehr! Obwohl Amerika vom schönsten Obst förmlich
+birst, kosteten doch zwei Äpfel im Zuge beim <span class="antiqua">trainboy</span> 10 Cent
+(50 Pf.)! An jeder Wegkreuzung prustete die Lokomotive keuchhustenartig
+ihr Warnungssignal in die Ferne. Auch dieser Zug hielt selten, die
+Stationsbahnhöfe — natürlich Detroit ausgenommen — waren merkwürdig
+primitiv.</p>
+
+<p>Die donnernden Gewässer des Niagara lagen hinter mir. Langsam rollten
+wir über die lange Brücke, die den Strom überspannt, ins englische
+Kanada hinein. Von einer Zollrevision merkte man fast nichts. Dann
+gings durch unendliche Ebenen, die sich nun ohne Unterbrechung<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span>
+Tausende von Meilen weit bis an die Rocky Mountains erstrecken. Diese
+unendlichen Ebenen des Mississippistromgebietes sind die Quellen
+von Amerikas Reichtum. An den Seen gibt es Kohle, Eisen, Kupfer und
+Blei, in den „Weizenstaaten“ vermag soviel Korn zu wachsen, um die
+ganze Menschheit zu ernähren. Farmland an Farmland. Hier besitzt man
+nicht zwei, drei Äcker, sondern 500 bis 1000 „<span class="antiqua">acres</span>“, deren
+jeder einen halben Hektar ausmacht. Wie muß sich hier der deutsche
+Bauer fühlen, der aus den engen Grenzen seiner alten Heimat kommt!
+Eins ist es hier vor allem, das jeden Fremdling in Erstaunen setzt,
+die Ungeheuerlichkeit des Landes; wohl an zwanzig Deutschland gehen
+ja auf den Flächenraum der Vereinigten Staaten, die eher mit einem
+Kontinent denn mit einem einzigen Land verglichen werden müssen. Der
+Staat Texas allein übertrifft unser Deutsches Reich an Größe, und viele
+der großen westlichen Staaten kommen ihm an Größe fast gleich. Reist
+man bei uns Stunden, um das halbe Land zu durchqueren, so hier Tage.
+Und doch zählt die Union erst hundert Millionen Einwohner. Welche
+Zukunft und welches Bevölkerungswachstum mag ihr noch bevorstehen! So
+wächst hier der Unternehmungsgeist und die Energie ins Fabelhafte.
+Ungeahnte Möglichkeiten und Chancen tun sich überall auf. Alles das
+ist faszinierend für den Auswanderer, der sich hier ein neues Leben
+und sein Glück sucht. Die alten Brücken zur Heimat werden zunächst
+abgebrochen. Der Anfang ist zwar schwer, bis man sich in die neuen
+Verhältnisse und die neue fremde Sprache eingelebt hat, aber dann, nach
+fünf, zehn Jahren beginnt man Boden unter den Füßen zu fühlen. Stolz
+sucht man jetzt von dem Erfolg in die Heimat zu berichten, die alten
+Fäden wieder anzuknüpfen. Bald geht man ein-, zweimal selbst wieder
+übers Meer, die alten Verwandten wieder zu sehen, und ihre eisernen
+Öfen, die harten Holzbänke in der langsamen Eisenbahn und das Fehlen
+des Badezimmers mit warmem und kaltem Wasser zu verspotten und sich
+zu freuen, wenn man wieder in den blauen Hafen Neuyorks einfährt, die
+Wolkenkratzer ihre Konturen am Himmel abzeichnen, die Freiheitsstatue
+ihre Fackel<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> über die Bai reckt und man den Fuß wieder in das gelobte
+Land des Dollars setzen kann.</p>
+
+<p>Das amerikanische Leben ist ja auch ungeheuer beweglich. Der Vater war
+vielleicht noch deutsch und ein rechter Bauer, der Sohn geht schon
+aufs Kollege, ist Amerikaner und siedelt sich in der Großstadt an oder
+geht weiter westwärts. Typisch ist dieser Zug für Amerika „westwärts“
+zu gehen. Von Anbeginn ging man „westwärts“, erst den Hudson hinauf,
+dann über die Berge an die Seen, dann bis Chikago, dann schritt man
+über den Mississippi, und dann wagte man sich in die Rockies, und
+schließlich faßte man Fuß in Kalifornien. Scherzweise hat man gesagt,
+der Amerikaner will in keinen Himmel kommen, wo man nicht weiter
+„westwärts“ gehen kann. Das 18. Jahrhundert lebte im wesentlichen
+noch im Osten in den dreizehn alten Staaten, das neunzehnte faßte
+Fuß in den ungeheuren Mississippiebenen, das zwanzigste wird den
+Westen kultivieren. In Ägypten schauen vergangene Jahrtausende
+von den Pyramiden auf ein starres Land herab, in Amerika schauen
+<em class="gesperrt">kommende</em> Jahrtausende von den Wolkenkratzern auf ein ungeheuer
+bewegliches und vielgestaltiges Leben. Hier ist alles anders als in den
+alten Ländern. Hier genoß kein König und Kaiser Ehrerbietung, hier war
+keine Kirche, die vom Staat ihre Steuern eintreiben läßt, hier waren
+keine Stände mit besonderen Vorrechten, keine Orden, die den Beamten
+schmücken. Frei war das Volk, frei der Mann in seiner Selbstachtung
+und der Achtung anderer, völlig auf sich selbst und seine Arbeit
+angewiesen und darauf, wieviel er selbst aus sich machen kann ohne
+Pension und Altersversorgung. Daher auch die Jagd nach dem Geld. Selbst
+die Politik und die öffentlichen Ämter sind oft ein Spielball in der
+Hand derer, die möglichst viel für die eigene Tasche herauszuschlagen
+suchen. Ungeheurer Reichtum überall. Schnellste Lebenskarrieren, vom
+Straßenjungen, der Zeitungen verkauft, auf zum Inhaber der größten
+Zeitung in einer Großstadt, vom Farmerkind zum Professor in Harvard.
+War nicht Roosevelts Karriere eine der typischsten? Kaum vom Kollege
+graduiert, ist er schon Magistrat in Neuyork; wenige Jahre<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> später
+ohne jede militärische Laufbahn Reiteroberst und Sekretär der Marine
+und bald darauf Präsident des Landes! Man wechselt und wandert, wie
+es die Gelegenheit gibt, heute Student, morgen Professor, heute
+<span class="antiqua">clerk</span> und morgen <span class="antiqua">trustee</span>, bald im Osten, bald im Westen.
+So hat sich in den Vereinigten Staaten kein Provinzialismus und
+wenig Gauindividualität entwickeln können, und Dialektunterschiede
+existieren fast nicht oder sind wenigstens mit den ausgeprägten in den
+europäischen Ländern gar nicht zu vergleichen. Die ganze Union spricht
+<em class="gesperrt">eine</em> Sprache.</p>
+
+<p>Indessen fuhren wir durch die sich überall ungeheuer gleichenden
+Ebenen Stunden für Stunden. Eine Abwechslung bot nur der kleinere Lake
+St. Clair mit seinen gelbbraunen, sich ins Uferlose erstreckenden
+Wasserflächen, über denen schwere Regenwolken hingen. Ein paar
+Fischerhütten am Strand, eine kleine Steinkirche zeigte sich; unter
+grünen Pappeln ein steinernes Häuschen. Am Strand ein altes Kanoe und
+ein paar Männer, die ihre Netze ausgeworfen hatten. Auf dem Flurland
+dicht neben der Bahn ein Farmer mit seinem Pflug. Die Pferde bäumten
+sich wild auf, als der Zug vorbeibrauste. Indessen turnte der schwarze
+Kellner aus dem Speisewagen den Mittelgang der Wagen entlang und rief
+monoton sein <span class="antiqua">first call for „luncheon“</span> aus. So kamen wir um
+Mittag nach Detroit. Die amerikanischen Zolloffiziere gingen durch den
+Zug. Auf einem Trajekt setzten wir über den Endzipfel des Sees. Dann
+ging es wieder weiter durch endlose Strecken Michigans und Indianas gen
+Chikago, wieder auf amerikanischem Boden.</p>
+
+<p>Hie und da lag eine einsame Station, alle halbe oder ganze Stunden.
+Überall war fruchtbares Ackerland, das wohlgepflegter aussah, als um
+Buffalo. Es wohnen hier viele Deutsche. Hie und da an der schlechten
+Landstraße, die neben der Bahn herlief, ein Blechpostkasten einer
+entfernten Farm, der als Briefablage und -aufgabe zugleich dient.
+Kleine Haine, übel zugerichtet. Hier existiert ja keine Forstpolizei,
+und erst neuerdings gibt es Staatsschutz für den Wald.</p>
+
+<p>So wurde es Mittag und Nachmittag und Abend, und noch immer<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> dieselbe
+Landschaft. Fast alles noch braun und dürr, weil es noch früh in der
+Jahreszeit war. Hie und da ein blühendes Bäumchen auf der Flur wie
+ein Kuß Gottes auf die Frühlingserde. So wurde es Abend und Nacht. Am
+Himmel standen hell und klar die Sterne, dieselben Sterne, die jetzt
+auch über Deutschland standen. Im Wagen schliefen schon die meisten;
+die bequemen Chairs gestatten es, sich weit zurückzulehnen. Und als
+wir uns endlich nach fünfzehnstündiger Fahrt Chikago näherten, war es
+fast Mitternacht geworden. Viele hellerleuchtete Vororte flogen an
+uns vorüber. Elektrische Lampen erhellten die Bahnhöfe, Straßen und
+Fabrikviertel — und ein brennendes Haus, in das die Feuerspritzen ihre
+Wasserstrahlen sandten, leuchtete wie eine Riesenfackel schaurig durch
+die Nacht. So tüchtig und ausgezeichnet die amerikanischen Feuerwehren
+sind, so oft brennt es hier; manchmal sind schon halbe Städte einer
+Feuersbrunst zum Opfer gefallen, so Chikago 1872.</p>
+
+<p>Und nun kam ich wirklich in die Stadt, deren Namen eine so eigenartige
+Nuance des typischsten unbegrenztmöglichen Amerikanertums für unser Ohr
+bekommen hat. Chikago zählte 1831 noch hundert Einwohner! Einst war es
+ein Fort gegen die Indianer, und heute ist es mit bald vier Millionen
+die viertgrößte Stadt der Welt, an Flächenraum viermal größer als
+Berlin, mit einer Wasserfront von 35 Kilometern Länge am See Michigan,
+der uferlos wie das Meer aussieht. 40 Sprachen werden in Chikago
+gesprochen. Etwa 600&#8239;000 Deutsche leben in der Stadt, und vielleicht nur
+ein Zehntel ist in Chikago selbst geboren.</p>
+
+<p>Ich war in Chikago! Wachte oder träumte ich? Auf dem Schiff hatten
+sie manchmal begeistert ein Lied Chikagos zu Ehren im Chor gesungen,
+das ich aber damals nicht recht behalten habe. Zum Schluß jeder
+Strophe kam immer wieder als Refrain von wildem Beifallsgetrampel und
+-händeklatschen begleitet: „O Chikago, o Chikago ...!“ Und dann ging es
+so weiter, daß ihm in der Welt nichts gleich sei! Ich war in Chikago,
+der Stadt mit den meisten einlaufenden Eisenbahnzügen, wo zirka 500
+Personen im Jahr durch Autos ihr Leben<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> verlieren, wo 40&#8239;000 Schutzleute
+den Verkehr dirigieren, wo in einem einzigen der großen Warenhäuser
+¼ Million Kunden ein- und ausgehen, wo neben 10&#8239;000 Angestellten
+allein über 500 Feuerwehrleute ständig Wachtdienst tun, wo täglich
+Hunderttausende Stück Vieh ihr Leben lassen und zu Konservenfleisch und
+Wurst verarbeitet werden, wo man einen ganzen Fluß, den Chikago-River,
+gezwungen hat, in seinem Lauf wieder umzukehren und seine verdorbenen
+Wasser statt in den See zu ergießen, dem Mississippi zuzuführen und so
+Typhus und Cholera fast verbannt hat! Nun kam ich wirklich in diese
+merkwürdige Stadt&#160;...</p>
+
+<p>Einer meiner beiden Chikagovettern empfing mich liebenswürdig in der
+„Illinois Central Station“ mit ihrem verwirrenden ohrenbetäubenden
+Getriebe. Ach, wie reckte ich die Glieder nach der fünfzehnstündigen
+ununterbrochenen Bahnfahrt, die mich trotz des bequemen „<span class="antiqua">reclining
+chair</span>“ recht steif gemacht hatte. Immerhin war es eine gute
+Vorübung für die noch dreimal längeren Bahnfahrten, die mir hinter
+Chikago bevorstanden!</p>
+
+<p>Jetzt war ich in Chikago bereits 1000 <span class="antiqua">km</span> vom Atlantischen Ozean
+entfernt, aber immer noch 3000 <span class="antiqua">km</span> vom Stillen! Wie angenehm
+empfand man das freundliche Empfangenwerden durch liebe Verwandte
+zumal in so später Nachtstunde in der riesigen Weltstadt, freilich
+durch Verwandte, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, die ich nur
+vom Hörensagen kannte. Sie alle hatten ihren typisch-amerikanischen
+Entwicklungsgang durchgemacht, aber sich alle auch zu angesehenen
+Stellungen selbst emporgearbeitet. War es in Neuyork die Musik,
+in Boston die Medizin, so waren es in Chikago Juwelen und das
+unvermeidliche Auto, das ihnen Wohlstand und Brot gegeben.</p>
+
+<p>So fuhr ich denn mit meinem neugefundenen Vetter zunächst mit der
+Hochbahn aus der City und ihrem Trubel, ihrer blendenden Lichtreklame,
+durch dunkle, schmutzige Viertel, an zahlreichen Wolkenkratzern
+vorüber — die freilich noch nicht die wahnsinnige Höhe der Neuyorker
+erreichten — schöne Alleen hinaus in den freundlichen Villenvorort
+Oakpark, wo mein Vetter mit seiner Familie ein gutausgestattetes<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span>
+Landhaus bewohnte mit dem typisch-amerikanischen Meublement, das stets
+das gleiche ist, ob man in Neuyork einkehrt oder in San Franzisko,
+in Chikago oder St. Louis. Amerika bleibt eben überall das gleiche
+Amerika. Die alles nivellierende Fabrikware hat hier ihren völligen
+Sieg erfochten.</p>
+
+<p>Bald hatte ich die Ehre und Freude, auch wieder eine neue Cousine
+kennenzulernen, eine geborene Amerikanerin, die kaum ein Wort Deutsch
+verstand&#160;...</p>
+
+<p>Andern Tages ging es gleich wieder an meine „Arbeit“ des Besichtigens,
+in möglichst kurzer Frist viele wichtige Eindrücke in mich aufzunehmen.
+Also fuhr ich andern Tags sogleich nach dem Frühstück, mit Reiseführer
+und Karte in der Hand, mit der „<span class="antiqua">elevated</span>“ hinein in Chikagos
+Großstadtgewühl! Und es übertrifft an manchen Stellen noch dasjenige
+Neuyorks! Über, unter, neben dem Kopf rollt, rast, saust, klingelt,
+tutet, pfeift es überall. Alles ein ununterbrochenes Gelaufe und
+Gerenne! Es dampfen die Wolkenkratzer. Die Warenhäuser speien ständig
+Hunderte und Tausende von Menschen aus, um andere ebensoviele
+wieder einzusaugen. Die Amerikaner kommen aus dem Felsengebirge,
+ja aus Seattle in Alaska und aus San Franzisko, um in Chikago bei
+„Siegel u. Cooper“ oder „Marshall Field u. Co.“ einzukaufen! Dies
+„<span class="antiqua">shopping</span>“ ist ein Hauptvergnügen amerikanischer Damen.</p>
+
+<p>Welchen Eindruck machte Chikago auf mich, das Neuyork des mittleren
+Westens? Eine ungeheure, etwas düstere Großstadt mit Hochbahngerassel
+und Automobilgetute, Wolkenkratzern, die die Geschäftsstraßen
+zu Schluchten verengen, mit Bank an Bank, Geschäft an Geschäft,
+<span class="antiqua">lunchroom</span> an <span class="antiqua">lunchroom</span>, „<span class="antiqua">moving pictures</span>“ an
+„<span class="antiqua">moving pictures</span>“. Das ist die City. Auch hier wie überall. Bei
+Tage ein ungeheuer lebendiges Treiben von den höchsten Stockwerken
+der „<span class="antiqua">office-buildings</span>“, zu denen sieben bis zehn Aufzüge
+gleichzeitig auf- und niederfahren, bis herunter auf die Straße und ihr
+Gewimmel. Nachts und Sonntags ist die City eine ausgestorbene Stadt, in
+der kein Kirchturm offen emporragt, und nur Nachtwächter und Schließer<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span>
+ihr Logis haben. Die Geschäftsleute wohnen draußen in den Vorstädten,
+die man mit einstündiger Fahrt mit der Hochbahn erreicht, draußen bei
+den großen Parks, die sich um die Stadt ziehen. Zwischen der City aber
+und den Parkvorstädten liegen die unabsehbaren Viertel der kleinen
+Leute, voll Italiener und Neger, dazwischen noch vielfach unbebaute
+Strecken, auf denen Knaben ihren Baseball spielen. Hier weiß niemand
+vom anderen. Hier sind Städte in einer Stadt, und Stunden dauert es, um
+vom Norden nach dem Süden oder zum Westen zu kommen.</p>
+
+<p>Ich stand auf dem Turm des „Auditoriums“, eines großen Theaters, und
+sah über die rauchenden Wolkenkratzer und in die <span class="antiqua">offices</span> hinein
+mit ihren Bureaus, wo Tausende von jungen Mädchen ihren Beruf darin
+gefunden haben, von morgens bis abends auf der Schreibmaschine zu
+klappern und sich dabei ungeheuer frei und selbständig vorkommen. Ich
+sah über die Riesenwarenhäuser von „Siegel u. Cooper“ und „Marshall
+Field u. Co.“, wo einfach alles in der Welt zu haben ist, Warenhäuser,
+die ganze Straßenblocks einnehmen. Mit Staunen schreitet man durch
+die Säulenhallen, sieht die Aufzüge in allen Ecken mit Menschen auf-
+und niedersausen und schaut die Schätze aller Erdteile vor sich
+ausgebreitet. Die Boys an den Eingangstüren führen umfangreiche
+Kataloge bei sich, um den Käufer sofort zu der richtigen Abteilung
+leiten zu können. Weiter blickte ich über den weiten Michigansee,
+der die lange Front der Stadt bespült und im Sturm seine gelbbraunen
+Wogen gischtschäumend ans Ufer peitscht, Handelsschiffe als Wrack ans
+Land wirft, ein Binnenmeer Nordamerikas; weiter über die wunderschöne
+Hauptpost, die leider zwischen die Blocks so eingekeilt ist, daß sie
+unmöglich ihre architektonische Schönheit entfalten kann, und über die
+ganz flache, niedrige, im Renaissancestil gebaute Kunstgalerie, die wie
+ein kleines Kind unter Riesen steht&#160;...</p>
+
+<p>Um Mittag warf ich einen Blick hinein in die „First Nationalbank“
+mit ihren prachtvollen Marmorvestibülen und in die Börse, wo ein
+wilder Tumult herrschte. In drei Haufen standen die Makler zusammen
+und schrien gegeneinander. Nur mit Fingerzeichen verständigten<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> sie
+sich. Von den Bureaus flogen die Telegramme hin und her, an den
+Bulletinboards notierten die Schreiber mit Kreide die Kurse, die ihnen
+klappernde Telegraphen zuraunten, alles in allem ein wildes Geschrei,
+dessen Sinn ich kaum verstand.</p>
+
+<p>An einem der Nachmittage in Chikago ging ich ins „Kolosseum“, einen
+der amerikanischen Riesenzirkusse, der wohl 10&#8239;000 Menschen zu fassen
+vermag, gleich jenem von Barnum und Bailey, der zuweilen mit seinem
+Riesenzelt in Deutschland von Stadt zu Stadt zog. Übrigens entdeckte
+ich ihn als guten Bekannten wenigstens an den Reklameanschlägen auch
+dort. Es war, soviel ich mich erinnere, ein Montag nachmittag um zwei
+Uhr. Und doch war der Zirkus gut gefüllt. Ich mußte mich fragen, wo
+alle diese hier sonst so arbeitseifrigen Menschen die Zeit hernehmen,
+an einem lichten Montagnachmittag drei Stunden im Zirkus zu sitzen!
+Aber der Amerikaner wie sein antiker demokratischer römischer Vetter
+liebt die Spiele über alles. Ich habe selbst in Italien nicht soviel
+Kinematographentheater gesehen, die alle besetzt sind, wie hier. Die
+Vorstellungen im Zirkus gingen auf fünf Podien <em class="gesperrt">zugleich</em> vor
+sich! Der Amerikaner mißt auch das Vergnügen nach der Quantität. Auf
+dem einen Podium wurde Schule geritten, auf einem anderen tanzten
+Bären, Affen und Hunde, auf einem dritten turnten Akrobaten, auf einem
+vierten wurden Gewichte bis 300 und 500 Pfund gehoben, auf einem
+fünften produzierten sich Seiltänzer und Springer, dazu einer, der alle
+Glieder seines Leibes in die schauderhaftesten Verrenkungen bringen
+konnte; rings herum noch ein Heer von Clowns, die ihre Witze rissen und
+in ihren abgeschmackten Kostümen sich balgten. Eine der Glanznummern
+war ein Pferd, das an einem Luftballon in die Höhe fuhr, und zuletzt
+ein tolles römisches Wagenrennen um die Arena. Alt und jung, Männer und
+Frauen, Schwarze und Weiße füllten als Zuschauer die weiten Galerien!</p>
+
+<p>Im Auto fuhr mich mein Vetter nach der Universität hinaus, die
+Rockefeller, der Petroleumkönig, nachdem sie eine Zeitlang eingegangen
+war, mit vielen Millionen wieder neu ausgestattet hatte, so daß sie
+heute überaus schöne, dem englischen Universitätsstil nachgebildete,<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span>
+sehr weitläufige und zahlreiche Gebäude zu den ihren zählt. Sie
+hat eine gute Lage weit draußen im Jacksonpark am See, am Südende
+der Stadt. Ehrwürdig schauen ihre Kapellen im englischen gotischen
+Stil, ihre Bibliothek, ihre „Dormitories“ und Kolleggebäude über die
+weiten grünen Parkrasenflächen, wo Studenten in leuchtenden weißen
+Sportshemden und -hosen Tennis und Golf spielen. Die täglichen
+körperlichen Übungen, die Lust zu Sport und Spiel können wir Deutschen
+gar nicht genug von Engländern und Amerikanern lernen. Die Tüchtigkeit
+unserer höheren Schüler und die deutsche Wissenschaft in allen
+Ehren, aber im ganzen sind wir Deutschen doch lange Stubenhocker
+und Stammtischphilister geblieben. Nur eins haben wir, das Wandern.
+Im übrigen hatten wir in unseren Schulen viel zu wenig Turnstunden
+die Woche und nur <em class="gesperrt">einen</em> Nachmittag für „Turnspiele“. Der
+amerikanische Student spielt <em class="gesperrt">täglich</em> schon in der Volksschule,
+als Boy in der <span class="antiqua">high school</span>, <em class="gesperrt">täglich</em> im Kollege, als
+<span class="antiqua">graduate</span> und noch als erwachsener Mann. Das Jahr ist geradezu
+in verschiedene Spieljahreszeiten eingeteilt: Im Frühjahr spielt man
+Baseball, im Herbst Fußball, sonst Tennis und Golf, solange es das
+Wetter nur irgend erlaubt.</p>
+
+<p>Draußen am Jacksonpark, wo der frische Seewind durch die Anlagen
+streicht, war einst auch der Platz für die berühmte Weltausstellung
+1893 zum vierhundertjährigen Gedenken an die Entdeckung Amerikas, zu
+der an zwanzig Millionen Menschen zusammenströmten. Was war doch gegen
+diese Menschenmassen die Völkerwanderung, von der wir in der Geschichte
+so viel Wesens machen? Noch sind einige Reste von der „<span class="antiqua">world
+fare</span>“ übriggeblieben. Die Nachbildungen der drei Schiffe des
+Kolumbus liegen noch in einer kleinen Bucht, hochbugige kurze Galeeren,
+mit denen sich heute keiner mehr auch nur für eine Woche über den Ozean
+wagen würde — und Kolumbus fuhr vier Monate! Ferner stand noch das
+Kunstmuseum und das türmereiche „Deutsche Haus“, das erst kürzlich
+einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen ist, und endlich wie auf einem
+felsigen Kap ein weißgestrichenes Franziskanerkloster. Aber wie wenig
+passen doch diese mittelalterlichen Häuser in diese Umgebung!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p>
+
+<p>Einer meiner Besuche galt auch dem „Hull House“, einem der ältesten
+und bedeutendsten „<span class="antiqua">settlements</span>“ in Amerika. Das Hull House,
+von einem Mr. Ch. J. Hull 1889 in Immigrantenvierteln Chikagos
+gegründet, umfaßt heute dreizehn Gebäude, Turnhalle, Schulräume,
+Läden, Klubzimmer, ein Restaurant, Musikräume, Tanz- und Theatersaal,
+Handwerksstätten, Lesesäle usw. Etwa 9000 junge Menschen verkehren
+wöchentlich in diesen Räumen, suchen hier ihre gesellige, körperliche
+und geistige Erholung! 50 sich selbst unterhaltende freiwillige Leiter
+wohnen im Hause und bilden untereinander einen korporativen Klub.
+Daneben sind über 200 andere freiwillige „Settlement-Worker“ als
+Klubleiter tätig. Die Knabenklubs treiben alle Art Handwerk bis hinauf
+zu künstlerischer Malerei — ich sah Bilder, die keiner Ausstellung
+Schande machten — und lernen eifrig Sprachen; die meisten sind junge
+Italiener, Griechen und Russen. Auch Musik ist wohlgelitten und
+natürlich vor allem der Sport. Die Bäder sind offen für das Publikum
+und ebenso das Restaurant. Bäder wurden im letzten Jahre 30&#8239;000
+genommen, und das Restaurant besuchen täglich 500 Personen. Das sind
+auch fast die einzigen Einnahmen des Hauses. Im Sommer wird auf dem
+Land ein „<span class="antiqua">camp</span>“, ein Lager, bezogen, das den Klubmitgliedern für
+eine Woche frei zur Verfügung steht. Welcher kulturelle Segen muß von
+einem einzigen dieser Settlements auf ein ganzes Stadtviertel ausgehen!
+Hier herrscht Ordnung, Sauberkeit, Geselligkeit, Kameradschaft,
+Freundschaft, Zucht, Sitte, Kunst und die Anfänge wissenschaftlicher
+Bildung und technischen Könnens. Mein letzter Blick galt der
+Kleinkinderschule und der Krippe, die mit dem Hull House verbunden
+ist. Ich vergesse nie all die Kleinen an ihren winzigen Tischchen und
+mit ihren kleinen Tassen und Löffeln, die Babies in ihren Bettchen und
+endlich die schwindsüchtigen Kinder auf dem Dach, wo sie in freien
+Hallen unterrichtet werden. Auf dem Dach in einer Großstadt! Besser
+wenigstens als in den finsteren Löchern ihrer Wohnungen. Aber warum
+nicht hinaus aufs Land, wo kein Schornstein und kein Wolkenkratzer
+droht und die Luft beengt? Welches Elend! Zugleich welche Hilfe! Wenn
+man diese warme Sonne<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> der Liebe überall scheinen fühlt, dann vermag
+man fast das Elend, das diesen Armen aus den Augen schaut, zu vergessen
+...</p>
+
+<p>Das war Chikago. Universität und Settlement, Zirkus und Wolkenkratzer,
+am See und in den Schluchten der Geschäftsstraßen, in den Parks und
+Fremdenvierteln, im <span class="antiqua">lunchroom</span>, wo man sich selbst bedient,
+und in der <span class="antiqua">office</span> 20 Stock hoch, wo der Ausläuferboy im
+zerschlissenen Anzug mit seinen acht Dollars die Woche, auf Aufträge
+wartend, gelangweilt die Zeitung liest — aber wer weiß, was er
+noch für eine Zukunft hat! Wie hieß es doch in jenem amerikanischen
+Stück „Die City“? Nicht die City vernichtet den Mann, sondern sie
+erfordert einen, der ihr gewachsen ist. Nicht die City macht den Mann,
+sondern der Mann die City. Ja die City! Ihre Geschichte läßt sich nie
+ausschreiben.</p>
+
+<p>Durch meinen Vetter wurde ich auch in Kreise eingeführt, die
+sich für alle möglichen philosophischen und metaphysischen Dinge
+interessierten. Mein Vetter selbst schrieb, obwohl vollkommen Laie,
+Artikel über ethische Probleme trotz Kontor- und Geschäftsaufgaben.
+Immerhin eine Leistung! Er stellte mich einem Herrn vor, der mir —
+echt amerikanisch — bekannte, nacheinander Methodist, Materialist,
+Buddhist, Naturphilosoph und Spiritualist (Spiritist) geworden zu sein.
+Echt amerikanisch! So wurde ich darauf aufmerksam, wie stark z.&#8239;B.
+neben dem Anwachsen der Christian Science auch die Beschäftigung mit
+dem <em class="gesperrt">Spiritismus</em> in Amerika ist. Ich hatte Gelegenheit — auch
+schon in Neuyork — an „spiritualistischen“ Vortragsveranstaltungen,
+Sitzungen u.&#8239;dgl. teilzunehmen. Aber rechten Geschmack konnte ich
+den Dingen nicht abgewinnen, vor allem konnte ich mich nicht von der
+Wahrheit und Wirklichkeit der behaupteten Erscheinungen überzeugen.
+So geschäftstüchtig und wirklichkeitsnah der Amerikaner ist, so
+unkritisch und leichtgläubig scheint er mir in übersinnlichen Fragen.
+Hier fehlt jede kritische deutsche Gründlichkeit. Der Amerikaner hält
+von vornherein viel mehr für möglich und wahrscheinlich als wir, die
+wir von unseren großen kritischen Philosophen geschult sind. Jedenfalls
+ist er dafür, daß alles einmal probiert und versucht werde. Probieren<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span>
+geht vor allem in Amerika über Studieren: Die Wahrheit wird sich schon
+selbst bewähren! denkt man drüben. Erweist sie sich nicht selbst in der
+neuen Richtung, so wird die Sache auch von selbst wieder eingehen und
+verschwinden. So argumentiert amerikanisches Denken. Während wir meist
+von der Theorie zur Praxis schreiten, macht man es drüben umgekehrt.</p>
+
+<p>Ich war also recht gespannt auf das, was ich zu sehen bekäme. In jeder
+der amerikanischen Großstädte gibt es sogar mehrere Gemeinden von
+„Spiritualisten“, deren „Gottesdienste“ äußerlich ähnlich denen der
+Kirchen verlaufen.</p>
+
+<p>Ich will ganz einfach erzählen, was ich in spiritualistischen
+Versammlungen gehört und gesehen habe. Vier Arten von
+<em class="gesperrt">spiritistischen</em> Versammlungen habe ich besucht, „Gottesdienste“,
+sog. „<span class="antiqua">test-meetings</span>“, eine Sitzung mit voller „Materialisation“
+der Geister und endlich eine Wochenversammlung, wo Gelegenheit zu Frage
+und Antwort über den Spiritualismus gegeben war.</p>
+
+<p>Die „Gottesdienste“ finden Sonntags zu den üblichen Stunden statt.
+Einmal des Morgens war es in einem Konzertsaale. Rednerpult, Lehnstühle
+für Älteste, Gesang, Gebet (zu Gott als „Prinzip“!) Schriftvorlesungen,
+offene Tellerkollekte, Predigt und Segen war wie in jedem
+amerikanischen Gottesdienst. Die Gesänge waren frisch und lyrisch, die
+Melodien voll Innigkeit. Ich setze den Schlußvers des Liedes, das ich
+in Neuyork mitgesungen habe, hierher:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza antiqua">
+ <div class="verse indent0">We shall sleep, but not forever in the lowe and silent grave,</div>
+ <div class="verse indent0">Blessed be the Lord, that taketh, Blessed be the Lord, that gave;</div>
+ <div class="verse indent0">In the bright eternal city, Death can never, never come</div>
+ <div class="verse indent0">In his own good time He’ll call us from our rest to home, sweet home;</div>
+ <div class="verse indent0">Refrain:</div>
+ <div class="verse indent0">We shall sleep but not forever, There will be a glorious dawn.</div>
+ <div class="verse indent0">We shall meet to part, no, never, on the resurrection morn.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Aus dieser einzigen Strophe geht der religiöse Grundcharakter
+zweifellos hervor, das starke und einzige Betonen des Glaubens an ein
+Weiterleben der Toten. Für diesen Glauben sucht man Beweise;<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> mit Augen
+will man die Geister der Gestorbenen sehen und mit Ohren Botschaften
+von ihnen vernehmen. So heißt es in einem Flugblatt, das mir schon
+in Newyork gegeben wurde, ausdrücklich „nicht zu zerstören, sondern
+den Glauben, wie er in den hauptsächlichen Lehren aller Religionen
+enthalten ist, zu bestärken und zu begründen, ist der Spiritualismus
+bestrebt“. Und er allein rühmt sich, die Lehren „aller großen Lehrer
+von Konfuzius bis Mohammed und von Moses bis Jesus durch psychische
+Phänomene <em class="gesperrt">demonstrieren</em> zu können und uns so einen klareren
+Einblick in Ethik und Philosophie zu eröffnen“. Aber die Predigtrede
+im sogenannten „<span class="antiqua">Trance</span>“zustand enttäuschte mich sehr. Das
+Lesepult ward zur Seite gerückt. Der Redner saß für einige Minuten
+in seinem Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schien in
+„<span class="antiqua">Trance</span>“ zu verfallen. Er zuckte einige Male heftig, dann erhob
+er sich mit unsicheren Schritten, um mit geschlossenen Augen eine
+mehr als halbstündige äußerlich formgewandte Rede zu halten. Neben
+einigen guten Gedanken, allerlei krauses, ungeschichtliches Zeug über
+Christi Reisen, die er in seiner Jugend im Alter zwischen 12 und 30
+Jahren nach Babylon, Indien und Ägypten unternommen habe, wo er zu den
+Füßen der alten Weisheitslehrer gesessen und von ihren Lippen seine
+Lehre empfangen habe! Ich bin nicht psychologisch bewandert genug, die
+Frage zu entscheiden, ob jemand im <span class="antiqua">Trance</span>-zustand eine solche
+halbstündige Predigt, formgewandt und logisch konsequent, zu halten
+vermag, und ob es überhaupt möglich ist, gleichsam auf Kommando und auf
+eigene Initiative hin, selbst in Trance zu fallen und aus ihr wieder zu
+erwachen. Ist aber die Trance simuliert, liegt also bewußte Täuschung
+vor, so erregt der ganze „Gottesdienst“ trotz ansprechender Gebete
+und Lieder Abscheu. Jedenfalls aber soll die Trance die Predigt als
+„inspiriert“ legitimieren und den Eindruck erwecken, Geister sprechen
+durch den Prediger; der Redner selbst ist bewußtloses und willenloses
+Werkzeug der „Inspiration“! In der Tat kündigt die spiritualistische
+Gemeinde für jeden Sonntag zwei andere „Geister“ an, die durch den
+Prediger sprechen sollen, so einmal — niemand<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> anders als William
+Shakespeare (!) und Darwin. Damit auch die Komik nicht fehlt, sollte am
+Morgen desselben Tages der Geist eines der Bauleute am salomonischen
+Tempel sprechen!!</p>
+
+<p>Der spiritualistische „Gottesdienst“ war recht spärlich besucht, aber
+es sollte Gottesdienst sein, nichts von Klopfgeistern und Tischrücken.
+Der Spiritualismus ist eben drüben mehr als das, was man gewöhnlich
+von ihm weiß, eine organisierte und anerkannte religiöse Sekte. Auch
+die „Sonntagsschule“ fehlt dabei nicht. Als Lesegegenstand wurde
+bekanntgegeben: Eine Geschichte unseres Planeten und des Mars seit
+ihrem 68&#8239;000- bzw. 25&#8239;000jährigen Bestehen!! Weiter wurde in diesem
+Zusammenhang erzählt, daß ein berühmter Astronom im Westen der
+Vereinigten Staaten dieses Buch über den Mars zu seinen Berechnungen
+benutze (!). Ich mußte auch über die umfangreiche spiritualistische
+Bibliothek staunen, die ich im Bibliothekzimmer zu sehen bekam; sie gab
+mir einen Eindruck davon, wie viele Menschen hier ihre geistigen Kräfte
+an den Spiritismus und seine Lehren gewandt haben müssen.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_190">
+ <img class="w100" src="images/illu_190.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">CHICAGO<br>
+ Das Leichenbegräbnis Mc Kinley’s in der State-Street
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_190_gross.jpg"
+ id="illu_190_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_191">
+ <img class="w100" src="images/illu_191.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">CHICAGO<br>
+ Blick in die Union Stock Yards (Großschlächtereien)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_191_gross.jpg"
+ id="illu_191_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ein andermal ging ich zu einem sogenannten „<span class="antiqua">test-meeting</span>“,
+d.&#8239;h. zu einer Versammlung, in der Geister durch ein Medium
+Botschaften an ihre lebenden Verwandten ausrichten und so die
+übersinnliche Welt und ihr Wirken durch weissagende Zeugnisse, die
+das Medium kraft der Inspiration einzelnen ausstellt, beweisen. Diese
+Versammlung hat in einem prunkvoll ausgestatteten Saal einer Loge
+stattgefunden. Es mögen wohl 100 Personen anwesend gewesen sein,
+darunter besonders viele weißhaarige Damen. Es war Sonntag nachmittag.
+Wieder ein „gottesdienstlicher“ Rahmen. An Stelle der Predigt kamen
+die „Geisterbotschaften“. Das Medium, eine Dame in den mittleren
+Jahren, von imponierender Erscheinung, saß für einige Minuten, ganz
+wie jener Prediger, von dem ich oben berichtete, die Augen mit der
+Hand geschützt, in ihrem hohen Stuhl und schien in „<span class="antiqua">Trance</span>“
+zu fallen. Ringsum feierliches Schweigen und gespannte Erwartung:
+Was werden die Geister zu sagen haben? Wem wird sie eine Botschaft
+ausrichten? Dann erhebt sich die Dame — ich<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> vermochte, obwohl ich
+in der ersten Reihe saß, durchaus keine psychische Veränderung an ihr
+wahrzunehmen — mit offenen Augen und sicherem Schritt. Sie tritt zu
+einem Tischchen, wo vor Beginn des Gottesdienstes die „Gläubigen“
+allerlei Andenken an ihre Verstorbenen, Ringe, Armbänder, Bilder,
+sogar eine Bibel, verhüllt niedergelegt haben. Sie greift eines der
+Objekte heraus; und nun beginnt der „Geist“ des Verstorbenen, der sie
+leitet und auf den sich das Objekt bezieht, ihr eine Botschaft an den
+Lebenden aufzutragen und durch sie als Medium dem Lebenden sich durch
+Mitteilung seines vergangenen und zukünftigen Lebens als wirklich zu
+erweisen, d.&#8239;h. das Medium begann in ganz <em class="gesperrt">allgemeinen</em> Ausdrücken
+zu weissagen, auf wen sich das Objekt bezieht, etwa so: „Ich sehe
+eine Gestalt neben mir in weißem Haar, eine Frau, alt, sorgenvoll und
+doch mit treuem Auge ...“ Dann bricht sie ab, hält den Ring empor,
+den sie ergriffen, und fragt: „Wem gehört dies?“ Ein älterer Mann
+in Trauerkleidung steht auf. Sie fährt fort: „Ich sehe Ihre Frau
+neben mir, und sie sagt mir, sie begleite Sie auf allen Ihren Wegen
+und sie schütze Sie vor Unglück und freue sich, Sie bald im Himmel
+wiederzusehen. Doch zuvor müssen Sie durch Leid und schwere Sorgen
+hindurch ... usw.“ In ähnlichen ganz allgemeinen Phrasen bewegen sich
+die „<span class="antiqua">tests</span>“. Manchmal scheint es nicht recht zu stimmen, was die
+Prophetin von der verstorbenen Person weissagt. Der Gläubige denkt hin
+und her und kombiniert und überlegt und entdeckt hier und da einen Sinn
+und ein Zusammentreffen und tröstet sich und die übrigen damit, daß
+die Geister nicht alles enthüllen und Prophetien immer dunkel zu sein
+pflegen. Aber einige Male scheint die Kunst der Prophetin auffallend
+das Richtige getroffen zu haben, die betreffende Person erhebt sich
+und bekennt: „Es stimmt ganz genau“, und ein allgemeiner Beifallssturm
+lohnt die Prophetin, die enthusiastisch ausruft: „<span class="antiqua">Friends, the world
+moves on ...!</span>“ So ging es fort für eine ganze Stunde; wohl 20
+Personen bekamen ihre „<span class="antiqua">tests</span>“.</p>
+
+<p>Über was soll man sich mehr wundern, über die Gläubigkeit dieser
+„Gläubigen“ oder die psychologische Kunst des „Mediums“? Wenn<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> doch
+die „Geister“ einmal wirklich neue Offenbarungen senden wollten und
+nicht nur Gemeinplätze und zweideutige Phrasen! Aber hat denn nicht
+manchmal das „<span class="antiqua">test</span>“ genau gestimmt? Ja, es scheint so. Aber es
+ist erstens nicht zu vergessen, daß das Medium meist seine Leute kennt,
+dieselben kommen ja fast sonntäglich; viele begrüßte sie mit Namen und
+Handschlag nach der Versammlung. Vieler Lebensgeschichte mag sie in
+einigen Umrissen kennen oder erschließen aus ihrer Person, ihrem Alter
+und ihrer Kleidung (es fiel mir auf, daß sie sich fast ausschließlich
+an Personen in Trauerkleidung wandte!), aus ihrer Haltung und ihrem
+Gesichtsausdruck. Je nachdem, was sich während ihres Weissagens auf
+den Gesichtern der Angeredeten ausprägt, ob Zustimmung, Befremden,
+Freude, Schmerz, Erstaunen, fährt sie in ihrem Spruch fort, ändert ihre
+Worte oder hält ein. Viele der Angeredeten, die „glauben“, sind zudem
+natürlicherweise im Augenblick der „<span class="antiqua">tests</span>“ erregt, verwirrt, sie
+kombinieren und phantasieren, sehen mehr Zusammenhänge, als da sind,
+und hören mehr und deuten mehr aus den Worten des Mediums heraus kraft
+ihrer eigenen wirklichen Kenntnis ihres Lebens und ihrer Verstorbenen,
+als was das Medium in seiner allgemeinen Zweideutigkeit hat wirklich
+verlauten lassen. Interessant wäre es auch zu wissen, wieweit
+dieses Medium sich eines <em class="gesperrt">Betruges</em> und seiner psychologisch
+kombinierenden Kunst selbst <em class="gesperrt">bewußt</em> ist oder wieweit es an seine
+Geistesinspiration selbst glaubt(?).</p>
+
+<p>Die dritte Art Versammlung, die ich besuchte, sollte eine Sitzung
+mit <em class="gesperrt">voller Materialisation</em> von Geistern sein! Sie fand abends
+acht Uhr statt. Wieder mögen es etwa 100 Personen gewesen sein.
+Fremde wurden nur auf den hinteren Reihen zugelassen! Fürchtete man
+vielleicht eine plötzliche Störung und Entlarvung durch Unberufene?
+Der Leiter der Versammlung erklärte die Maßnahme damit, daß alle rohe
+Selbstsucht von ungläubigen Personen, die in der ersten Reihe sitzen,
+dem Eintritt der Materialisation hinderlich sei(!). Damit auch hier
+die Komik nicht fehlte, bat er am Schluß seiner einleitenden Worte
+den Diener, ein Fenster zu öffnen, da<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> frische Luft den Geistern sehr
+zur Verkörperlichung helfe!! Der Raum wurde alsbald verdunkelt —
+merkwürdig, daß Geister immer nur im Dunkeln erscheinen! Das Medium,
+eine Frau in mittleren Jahren, setzte sich hinter einen roten Vorhang
+... (warum immer noch hinter einen Vorhang?). Ein Klopfen ließ sich
+hören, der Vorhang öffnete sich ein wenig und eine weiße Gestalt
+huschte vorbei. So mehrere Male. Dann begann die weiße Gestalt — die
+merkwürdigerweise weder Größe noch Gestalt, noch Gewand, noch Stimme,
+noch ihren Platz wechselte! — <em class="gesperrt">Namen</em> zu nennen, undeutlich
+flüsternd, so daß man bald diesen, bald jenen herauslesen konnte. Der
+Leiter gab dann den Namen laut bekannt und fragte, ob jemand den Geist
+erkenne. War jemand desselben Namens im Saal, so fragte derselbe etwa
+den Geist: „Bist du’s, Mutter?“ Der Geist antwortete dann: „Ja, meine
+Tochter.“ Freudig rief die Gläubige dann: „Ich freue mich, dich zu
+sehen, komm bald wieder!“ Und der Geist verschwand. Das war die ganze
+„geistreiche“ Unterhaltung der Geister aus der anderen Welt, die sich
+aber nie auf eine lange Unterhaltung einließen. Wohl nicht weniger als
+50 solcher Geister erschienen binnen einer Stunde an diesem Abend, hier
+und da auch ein Mann mit schwarzem Bart und schwarzem Rock ... aber
+dann dauerte es gewöhnlich etwas länger, bis er kam. (Nahm der Geist
+sich erst Zeit, das weiße Gewand mit dem schwarzen zu vertauschen?)</p>
+
+<p>Dies war die eindrucksloseste, albernste Versammlung und der
+offensichtlichste und plumpste Betrug, den ich je erlebt habe.
+Man muß sich nur über die Leichtgläubigkeit der Menschen wundern,
+die in dunklem Raume eine Frau in weißem Laken für einen Geist
+halten. Den Alten verzeihen wir es, wenn sie körperliche Geister
+sahen, aber in unserer kritischen und naturwissenschaftlichen Zeit
+scheint es unverständlich. Ich will nicht vergessen zu sagen, daß
+eine Dame vor der Materialisation ein stimmungsvolles Lied sang und
+während der „Geistererscheinungen“ eine simple Spieldose ihre Weisen
+klimperte, vielleicht um „Sphärenmusik“ zu imitieren! Einige in der
+Versammlung konnten sich des Lachens nicht enthalten, wurden aber<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span>
+von einer „gläubigen“ Dame, die sich umdrehte, in barschen Worten
+zurechtgewiesen. Lachte man mehr, lief man Gefahr, ganz hinausgewiesen
+zu werden.</p>
+
+<p>Endlich die vierte Art spiritistischer Versammlung, der ich beiwohnte,
+war eine Wochenversammlung, wo man Fragen stellen konnte und Antwort
+über spiritistische Lehren erhielt. Hier kam das allerkonfuseste
+Zeug zutage, z.&#8239;B. Frage: „Was ist Gott?“ Antwort: „Natur“. — „Wer
+war Jesus?“ Antwort: „Geboren in einer Vegetarierfamilie, deshalb
+mit so starkem und wundertätigem Körper und Geist begabt!“ — Die
+Geister leben in verschiedenen Vibrationssphären und scheinen eine
+Art ethischer Läuterung durchzumachen. Für täglichen Spaziergang und
+körperliche Bewegung als gesundheitsfördernd wurde stark eingetreten!
+Ein Bild eines Geistes in Gips wurde vorgezeigt, das vor vielen 1000
+Jahren bei einer Materialisation abgenommen sein soll! David und Saul
+wurden als spiritistische Rivalen(!) geschildert. Die Propheten der
+Bibel waren natürlich samt und sonders Spiritisten. Auch die „Hexe von
+Endor“ (1. Sam. 28) durfte natürlich nicht unerwähnt bleiben. Kurz,
+ein wahrer Hexentanz von geschichtlicher Unkenntnis und phantastischer
+Metaphysik, vermischt mit ethisch-asketischen Tendenzen, ja schließlich
+ein bißchen Vegetarianismus. Ein trüber Strom, der sich unbekannt und
+unbeachtet in obskurer Literatur von den Zeiten der hellenistischen
+Religionsmischung an durch das hexengläubige Mittelalter und die
+krausen Spekulationen phantastischer Philosophen herabergießt bis auf
+unsere Tage, neu aufgefrischt und aufgetischt mit Geistererscheinungen
+und spiritistischen Sitzungen.</p>
+
+<p>Das waren meine Abschiedseindrücke von Chikago. Wirr und kraus wie die
+Stadt im ganzen, schien mir auch ihre geistige Verfassung zu sein. Was
+mag sich an Geldjagd, Lebensnot, Glaube, Schande und Aberglaube alles
+in ihr bergen! Und das alles emporgeschossen in noch nicht 100 Jahren!
+1831 ja noch ein Indianerdorf am „Zwiebelfluß“, 1925 die viertgrößte
+Stadt der Welt! Und es wird nicht ruhen, bis es noch eines Tages
+Neuyork überflügelt hat!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span></p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Chikago.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Schweinemetzger der Welt,</div>
+ <div class="verse indent0">Werkzeugfabrikanten, Weizenschieber,</div>
+ <div class="verse indent0">Spieler mit Eisenbahnen, Warenhändler der Nation,</div>
+ <div class="verse indent0">Stürmisch, rauh, lärmend,</div>
+ <div class="verse indent0">Stadt der breiten Schultern.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">
+
+<hr class="tb"></div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sie sagen, du seist versumpft, und ich glaube ihnen; denn ich sah</div>
+ <div class="verse indent0">Deine gemalten Frauen unter den Gaslaternen die Farmboys ködern.</div>
+ <div class="verse indent0">Und sie sagen, du seist ungerecht, und ich sage: Ja, es ist wahr,</div>
+ <div class="verse indent0">Ich sah den Apachen morden und frei herumgehn, um weiter zu morden.</div>
+ <div class="verse indent0">Und sie sagen, du seist roh, und ich antworte: Auf den Gesichtern</div>
+ <div class="verse indent0">Der Frauen und Kinder sah ich Zeichen lüsternen Hungers.</div>
+ <div class="verse indent0">Und so antwortend, wend’ ich mich ihnen zu, den Spöttern über meine Stadt</div>
+ <div class="verse indent0">Und gebe ihnen den Spott zurück und sage:</div>
+ <div class="verse indent0">Kommt und zeigt mir eine andre Stadt, singend,</div>
+ <div class="verse indent0">Erhobenen Hauptes, so stolz zu leben, grob zu sein und stark und schlau.</div>
+ <div class="verse indent0">Während der Arbeit</div>
+ <div class="verse indent0">Magnetische Flüche schleudernd,</div>
+ <div class="verse indent0">Ein großer, kühner Raufbold, der sich lebhaft auflehnt gegen die kleinen sanften Städte.</div>
+ <div class="verse indent0">Wild, wie ein Hund, mit der Zunge lechzt er nach Tat,</div>
+ <div class="verse indent0">Listig wie ein Wilder, kämpft er gegen die Wildnis,</div>
+ <div class="verse indent0">Barhaupt,</div>
+ <div class="verse indent0">Beiseiteschiebend,</div>
+ <div class="verse indent0">Zertrümmernd,</div>
+ <div class="verse indent0">Platzmachend,</div>
+ <div class="verse indent0">Bauend, niederreißend, wieder aufbauend,</div>
+ <div class="verse indent0">Unter dem Rauch, Staub um den Mund, mit weißen Zähnen lachend,</div>
+ <div class="verse indent0">Unter der schrecklichen Last des Schicksals lacht er, wie ein junger Mann lacht,</div>
+ <div class="verse indent0">Lacht, wie ein unwissender Kämpfer lacht, der nie eine Schlacht verlor,</div>
+ <div class="verse indent0">Prahlend und lachend, daß der Puls klopft unter dem Handgelenk</div>
+ <div class="verse indent0">Und unter den Rippen das Herz des Volkes.</div>
+ <div class="verse indent0">Lachend!</div>
+ <div class="verse indent0">Lachend das stürmische, heisere, lärmende Lachen der Jugend. Halbnackt, schwitzend.</div>
+ <div class="verse indent0">Stolz darauf, Schweinemetzger, Werkzeugmacher, Weizenschieber, Spieler mit</div>
+ <div class="verse indent0">Eisenbahnen und Warenhändler der Nation zu sein!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">Carl Sandburg.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0 s5a">Aus: Neue Welt, eine Anthologie amerikanischer moderner Lyrik, S.
+Fischer Verlag, Berlin.</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="UEber_den_Mississippi_ins_Felsengebirge">Über den Mississippi ins Felsengebirge.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Ich hatte genug von dem mystischen Spuk der Spiritisten und ebenso von
+dem Geschäftstrubel Chikagos; ich freute mich daher ordentlich auf die
+Einsamkeit im — Eisenbahnwagen, dem ich mich nun wieder für etwa 40
+Eisenbahnstunden anvertrauen wollte und ebenso auf die Einsamkeit der
+ungeheuren Mississippiebenen.</p>
+
+<p>Dankbar verabschiedete ich mich von meinen freundlichen Gastgebern,
+die mir soviel gezeigt und soviel zugänglich gemacht hatten. Aber
+immer hätte ich um keinen Preis in Chikago wohnen und weilen mögen
+ebensowenig wie in Neuyork. Ich könnte weder der täglichen Ermordung
+der Zehntausende von Hammeln und Ochsen zusehen, wie das lebende Vieh,
+das frühmorgens eingeliefert, am Abend als fertige Wurst die „<span class="antiqua">Union
+stock Yards</span>“ verläßt, noch möchte ich täglich bei Marshall Field u.
+Co. aus- und eingehen oder als Türboy Hunderttausenden täglich die Tür
+öffnen. Eher noch würde ich auf den weiten Wassern des Lake Michigan
+herumfahren oder in den grünen Parks baseball spielen wollen. Aber so
+gnädig erweist sich ja das Leben den wenigsten unter den Menschen.</p>
+
+<p>So verzichtete ich auch nicht allzuschweren Herzens auf den Besuch
+der deutschesten Stadt Amerikas, Milwaukee, in der allein auch
+sozialistische Stimmen sich maßgebend geltend zu machen pflegen! Wie
+anders in Deutschland, dem Mutterland des Marxismus! Der Amerikaner ist
+viel zu sehr Individualist, als daß er in Massen je dem marxistischen
+Sozialismus anheimfallen könnte. Er hat zu sehr auf Schritt und Tritt
+in seinem Lande erprobt, was persönliche ungehemmte Energie und
+Eigenart des einzelnen vermag, ja daß die Union der Entschlußkraft und
+Unabhängigkeit des wagenden Individuums alles verdankt, als daß er
+überzeugter Marxist werden könnte. Die Deutschen kommen im Urteil des
+Stockamerikaners nicht immer gut weg. Wie die Stimmung über sie ist,
+zeigt folgendes moderne Gedicht:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span></p>
+
+<p class="s5a center mtop2">„Deutsche Nachkommen.“</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Riesen von 48,</div>
+ <div class="verse indent0">O Märzwind!</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Nachgeborene</div>
+ <div class="verse indent0">Mit dem schwarzen Stigma</div>
+ <div class="verse indent0">Der Niederlage.</div>
+ <div class="verse indent0">Flucht, Angst der Träume,</div>
+ <div class="verse indent0">In der Ferne Verlorene —</div>
+ <div class="verse indent0">Unstolze Ruhe,</div>
+ <div class="verse indent0">Schlaf und Dunkel ...</div>
+ <div class="verse indent0">Exil!</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Jenseits des Flusses</div>
+ <div class="verse indent0">Graue Wölbung des Viadukts,</div>
+ <div class="verse indent0">Tal der Fabriken.</div>
+ <div class="verse indent0">Die ganze Stadt gehört ihnen,</div>
+ <div class="verse indent0">Ihre Stadt — Deutschland.</div>
+ <div class="verse indent0">Der glatte Boulevard</div>
+ <div class="verse indent0">Gürtelt die schmächtigen Straßen,</div>
+ <div class="verse indent4">Hügel und See.</div>
+ <div class="verse indent4">Rasenbeet —</div>
+ <div class="verse indent4">Kohlbeet —</div>
+ <div class="verse indent0">Kleines Glück der Mittelmäßigkeit</div>
+ <div class="verse indent0">Zwischen evangelischen Türmen</div>
+ <div class="verse indent0">Und den Kaminen der Brauereien,</div>
+ <div class="verse indent0">Ganzes Glück der Mittelmäßigkeit.</div>
+ <div class="verse indent0">In großen gotischen Lettern</div>
+ <div class="verse indent0">Über Laden und Buden</div>
+ <div class="verse indent0">Zwischen Gurken und Kraut</div>
+ <div class="verse indent0">Und den irisierenden Saucen des Herings.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Qualmende Küchen</div>
+ <div class="verse indent0">Mit ihrem Wäsche- und Backduft ...</div>
+ <div class="verse indent0">Schweigen ... Katze und Uhr ...</div>
+ <div class="verse indent0">Schwerer Griff trägt zierlichen Römer,</div>
+ <div class="verse indent0">Breiter Lehnstuhl für das Abendblatt.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sonne und Sonntagsstaub</div>
+ <div class="verse indent0">Bespritzt die Kastanienbäume</div>
+ <div class="verse indent0">Und die gemalten Tische</div><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span>
+ <div class="verse indent0">Mit den überschäumenden Bechern —</div>
+ <div class="verse indent0">Starker Männerchor,</div>
+ <div class="verse indent0">Rhythmus und schwarz-rosa Schweiß</div>
+ <div class="verse indent0">Der Turnvereine ...</div>
+ <div class="verse indent0">Fahnen, Schnurrbart und Kreuz —</div>
+ <div class="verse indent0">Hoch!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Er war Bäcker, Brauer,</div>
+ <div class="verse indent0">Gewann auf der Börse — bescheiden,</div>
+ <div class="verse indent0">Und dann das weiße Palais auf dem Boulevard.</div>
+ <div class="verse indent0">Und Madame, eifersüchtig</div>
+ <div class="verse indent0">Auf die Künste der Köchin</div>
+ <div class="verse indent0">Strickt mit den Lappen der alten Kleider</div>
+ <div class="verse indent0">Unzählige Teppiche ...</div>
+ <div class="verse indent0">Und die Töchter nähen, kochen</div>
+ <div class="verse indent0">Und gehen in Scharen zum Kollege.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Alles solide und fest!</div>
+ <div class="verse indent0">Ein wenig Musik aus Tradition.</div>
+ <div class="verse indent0">Weniger Kunst</div>
+ <div class="verse indent0">(diese Maler sind zu modern),</div>
+ <div class="verse indent0">Nur das Alte ist gut.</div>
+ <div class="verse indent0">Alte Möbel,</div>
+ <div class="verse indent0">Alte Sitten,</div>
+ <div class="verse indent0">Alte Dichter</div>
+ <div class="verse indent0">Und alte Tugend,</div>
+ <div class="verse indent0">Das alte Land dort drüben</div>
+ <div class="verse indent0">Über alles — — —!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Solides, starkes Volk,</div>
+ <div class="verse indent0">Bewahre dein reines Blut,</div>
+ <div class="verse indent0">Baue für dich!</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Reichtum heirate unsren Reichtum.</div>
+ <div class="verse indent0">Die Kinder gehören uns</div>
+ <div class="verse indent4">Uns</div>
+ <div class="verse indent0">Dem auserwählten Volk.“</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent4">Unsre Stadt —</div>
+ <div class="verse indent4">Deutschland.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">Francis Treat.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0 s5a mbot2">Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 66.</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p>
+
+<p>Ebensowenig weinte ich den großen Pullmann-Werkstätten nahe Chikago
+in Pullmann eine Träne nach, daß ich sie nicht in Augenschein nahm.
+Nur fort aus dem Menschenameisenhaufen Chikago! Das war jetzt mein
+sehnlichster Wunsch.</p>
+
+<p>Bald nach der Abfahrt, als die letzten Fabriken wichen, taten sich
+ungeheure Ebenen im Staate Illinois auf mit herrlichen Fluren, von
+denen viele deutschen Farmern gehören. Ein wenig hügelig war das
+Gelände, aber nicht lange. Die ersten Frühlingsknospen waren an
+den Bäumen. Das Land sah etwa so aus, daß es auch in der Provinz
+Sachsen in Mitteldeutschland hätte liegen können. Wir näherten uns
+dem Illinoisriver, demselben, in dessen Oberlauf man den Chikagofluß
+zurückzufließen zwang, damit er nicht länger mit seinen schädlichen
+Abwässern den trinkwasserspendenden Lake Michigan verunreinige. Langsam
+zog eben auf ihm eine Barke dahin, die ein großes Segel aufgespannt
+hatte. Die einzige Unterbrechung des Flußbildes. Hier und dort dehnte
+sich Sumpfland. Ab und zu sah man eine alleingelegene Farm, Rinder-
+und Pferdeherden. Alles ein ganz anderes Bild als die geschlossenen
+deutschen Dörfer mit ihrer engen, wohlabgezirkelten Gemarkung!</p>
+
+<p>In unserem Zug — ich fuhr wieder in der „<span class="antiqua">chaircar</span>“, nicht im
+Pullmann — saßen allerlei Leute meist einfacheren Standes mit ihren
+Kindern. Sie hatten ihre Decken, ihre eigenen Eßkörbe mitgebracht,
+aus denen sie die üppigsten Mahlzeiten hervorzogen — auch der Wein
+und das Tischtuch fehlte nicht. Für drei Tage und Nächte Fahrt nach
+Kalifornien hatten sie sich häuslich eingerichtet, so wie man es
+sich auf Deck und in der Kabine des Schiffes gemütlich macht. Sie
+spielten, lachten, lasen, rauchten, aßen, schliefen, wie es paßte.
+Die Kinder benutzten bald den langen Mittelgang als ihre Rennbahn und
+die langen Liege- und Drehstühle als Verstecke, spielten Hasch und
+Sichkriegen. Der Boden des Wagens verwandelte sich daher allmählich in
+ein Stilleben von Obstschalen, Orangen- und Brotresten, Papier aller
+Sorten, leeren Schachteln usw. Eine ästhetisch veranlagte Dame vor mir
+hatte sich an den Plüsch des Sitzes ihr<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> gegenüber eine dunkelrote
+Rose gesteckt, um ihre Umgebung zu verschönern. Aber in der allmählich
+sich verschlechternden Luft — die Fenster sind wegen des stets sehr
+reichlichen Ascheflugs aus der Lokomotive nicht zu öffnen — welkte
+sie, und ein rotes Blatt nach dem andern fiel langsam mit einem leisen
+„Hsch“ zu Boden. Neben mir saß ein junger Eisenbahner von vielleicht
+22 Jahren, der in Kalifornien Stellung suchte und in mir das gleiche
+vermutete. Er empfahl mir, in den <span class="antiqua">Y.&#8239;M.&#8239;C.&#8239;A.</span><a id="FNAnker_22" href="#Fussnote_22" class="fnanchor">[22]</a> einzutreten.
+Das sei überall in der Welt eine gute Sache. Ihr könne man angehören.
+Er pries mir alle die äußeren und inneren Vorzüge derselben, aber das
+hinderte ihn doch nicht, nachher in einer Ecke des Wagens lustig mit
+zwei kecken Chikagogirls ein wenig zu flirten. Im Wagen wurden wie
+immer Karten, Schokolade, Handschuhe und Obst angeboten. Nur daß sich
+das Obst, je weiter wir uns von Chikago entfernten und je seltener wir
+hielten, ständig verteuerte.</p>
+
+<p>So etwa je nach ein bis zwei Stunden gab es eine Haltestelle.
+Dazwischen war nichts. Die Bahnhöfe verdienen kaum diesen Namen! Und
+ein Namensschild derselben war selten deutlich zu entdecken. Die
+Siedlungen lagen alle immens weit auseinander. Jeder ist hier König
+in seinem eigenen Reich und auf seiner schier unbegrenzten Scholle.
+Wie anders in den Riesenstädten, wo sich die Menschheit zu Millionen
+zusammenballt! Wer nicht einmal durch diese endlosen Ebenen gefahren
+ist, kennt Amerika nicht! Neuyork und Chikago allein sind noch nicht
+die Union! Aber nirgends war auch etwa eine alte Dorfkirche, wie in
+Franken oder Schwaben, zu entdecken. Die Besiedlung ist hier ja erst
+vor 50 bis 70 Jahren vor sich gegangen. Es ist hier immer noch Anbau-
+und Gründungszeit, wie es etwa bei uns unter Karl dem Großen war. Bei
+einer Gruppe von etwa 20 Wohnhäusern steht schon eine kleine hölzerne,
+höchst primitive Farmerkirche. Sie fehlt nirgends, oft sind es gar
+zwei oder drei verschiedener Denominationen! Alles ist in diesem
+Lande ungeheuer,<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> die Ebene, die Ströme, die Seen, die Städte, die
+Bodenschätze, die Fruchtbarkeit, der Reichtum. Während bei uns ein
+Bauer bei allem Fleiß im allgemeinen aus dem Boden — die künstliche
+Düngung nicht gerechnet — nicht viel mehr ziehen kann als sein Vater
+und Großvater vor 40 und 60 Jahren zog, erntet ein Ansiedler, der mit
+nichts nach Amerika kommt, oft schon nach sechs, sieben Jahren so viel,
+daß er sich ein eigenes wohlmöbliertes Landhaus bauen und ein Automobil
+kaufen kann! Wie müssen die Ebenen hier erst bei voller Ernte strahlen,
+wenn Korn und Mais übermannshoch steht und die großen Mäh-, Dresch- und
+Säemaschinen auf den Feldern fauchen!&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Je südwestlicher wir kamen, desto wärmer wurde es! Man sah schon
+Landleute auf den Feldern mit vereinzelten Strohhüten gehen. Sonst
+ist erst der 15. Mai drüben der offizielle Termin, den Strohhut
+auf- und nicht mehr abzusetzen bis in den indian summer hinein! Um
+Mittag hatten wir den Mississippi erreicht. Glitzernd wälzte er
+seine blauen, bis 1 <span class="antiqua">km</span> breiten Fluten träge und gemächlich —
+wie etwa die Elbe unterhalb Hamburgs — durch die ungeheuren Ebenen
+des mittleren Westens. Seine Länge ist dreimal die unseres Rheins.
+Ich war am Mississippi! War es möglich? Wovon man als Kind nur in
+Indianergeschichten geträumt und gelesen hatte! Es war mir in den
+Augenblicken, da unser Zug bei Fort Madison gravitätisch über die lange
+eingleisige Mississippibrücke rollte, unbeschreiblich seltsam zumute,
+daß ich es mir immer wieder sagen mußte: Jetzt fährst du über den
+Mississippi! Zwei kleine, alte, vorsintflutliche Dampfer kreuzten den
+von bewaldeten Inseln eingenommenen mächtigen Strom. Fort Madison lag
+gänzlich einsam, nur von wenigen Häusern umgeben. Welchen Feind will
+es hier abwehren? Stritt es einst gegen die Franzosen oder Engländer
+oder Mexikaner oder die Indianer? Von rechts her winkten grüne Wälder.
+Alles glänzte in blendendem Frühlingssonnenschein. Zur Feier der
+Überfahrt über den Mississippi verzehrte ich die letzte Apfelsine, die
+mir die liebe Cousine in Chikago mit eingepackt hatte. Dann fuhren
+wir wieder und fuhren und fuhren ... Von den 38 Stunden bis Neumexiko
+waren erst die<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> wenigsten herum. Wie hatte doch bei Florenz einmal mir
+gegenüber eine deutsche Dame, als sie in vier Stunden von Bologna kam,
+schon ungeduldig ihren Mann gefragt: „Ach, Artur, wann sind wir denn
+<em class="gesperrt">endlich</em> da?“ Hier lernte man in Geduld sitzen und fahren.</p>
+
+<p>Jenseits des Mississippi, im Staate Missouri, den wir jetzt
+durcheilten, liegt das alte Prärieland, da man einst mit dem
+Lasso die Büffel jagte und Indianer durchs übermannshohe Gras
+ritten. Das Flußtal begleiteten sanfte Hügelreihen, eine angenehme
+Unterbrechung der endlosen Ebenen, sanfte Bachtäler, Wiesenhänge,
+auf denen zahlreiche Kühe weideten. Wie bald werden sie nach
+Chikago in die <span class="antiqua">Union stock yards</span> wandern? Gefallene Bäume
+liegen da, um die sich niemand kümmerte. Aber nirgends waren hier
+umfangreichere Wälder. Einst war es romantischer, mit der Büchse
+durch die Wildnis zu reiten, als mit der Bahn hindurchzufahren,
+aber wieviel ungezählten Millionen wächst hier jetzt das Brot,
+während früher die Indianer wohl nur einige Hunderttausend gezählt
+haben. Die sanftgewellten Hügelreihen am glitzernden Mississippi
+hatten mit ihren Büschen, Bächen und Pferdeherden ihren eigenen
+Reiz. O wie hätte ich all den Schreibmaschinenfräuleins und den
+blassen Angestellten in dem wimmelnden und dampfenden Chikago, wo
+man in den Wolkenkratzerschluchten kaum den Himmel und vor all der
+Lichtreklame kaum noch die Sterne sieht, einmal hier auf einige Wochen
+herauszukommen, um sich ohne Zeitungsgeschrei und Dollarjagd in Licht,
+Luft und Sonne gesund zu baden, gegönnt! So wie die Pferde und Rinder
+heute hier weideten, weideten sie auch einst vor Jahrtausenden am Nil,
+am Euphrat oder am Eurotas. Aber kein Expreß dampfte an ihnen vorüber,
+daß sie erschreckt zur Seite sprangen, kein Auto tutete in ihre
+Wildnis, kein Wolkenkratzer reckte sich gen Himmel! Wie die Kulturen
+im Kern einander gleich bleiben und doch verschiedenes Antlitz tragen!
+So wie die Menschen am Ganges braun, am Nil schwarz, am Jangtsekiang
+gelb, am Rhein weiß und am Mississippi rot sind und doch die gleichen
+Bedürfnisse und Gedanken haben. Wie ist hier Macht vor Recht gegangen
+und hat dem roten<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> Mann, der selbst vielleicht einst vor Jahrtausenden
+als ein Bruder des Gelben aus Nordasien hier hereingekommen ist, Land
+und Grund genommen, ihn mit Pistole und Branntwein ausgerottet und sich
+an seine Stelle gesetzt! Und lag nicht doch in der vorwärtsdrängenden
+Kulturmacht des Weißen ein höheres Recht, so daß Macht auch ein
+Recht in sich birgt? Ich muß im Grunde allen fremden Völkern und
+Rassen wohlgesinnt sein — dazu erziehen uns Weltreisen —, aber ich
+muß doch auch in der Geschichte der Kriege und Kolonisationen Sinn
+finden. Heute haben hier die Indianer in den meisten der Staaten
+des mittleren und fernen Westens nur noch ihre „Reservationen“, am
+größten in Oklahoma. Es gibt eine Reihe Amerikaner, die mit Stolz
+Indianerblut in sich tragen, während Negerblut völlig verachtet ist!
+Es gibt genug Indianer, die als Amerikaner gekleidet fast unerkennbar
+in amerikanischen Diensten stehen. So lernte ich einen indianischen
+Studenten und Lokomotivführer kennen! Aber es gibt vielleicht auch noch
+eine Viertelmillion Vollblutindianer, die abgelegen in ihren Dörfern
+(<span class="antiqua">pueblos</span>) leben und sich von Töpferei oder Teppichweberei
+kümmerlich nähren und in ihrer Liebe zu den wilden Bergen und einsamen
+Felsschluchten nicht lassen können&#160;...</p>
+
+<p>Am Flußufer standen einige Fischer mit ihren Angeln und schauten
+stundenlang in das Blau des Himmels und in die Weite. Vor seinem
+Haus in der offenen Halle saß ein behäbiger Farmer in weißem Bart
+und schaute unserem Zug nach, dem einzigen Ereignis, das am Tag sein
+Einerlei unterbricht. Auf einem grünen Anger spielten barfüßige Knaben
+— die man in Amerika selten sieht — ihren <span class="antiqua">baseball</span>. Bei einem
+kleinen Ort stand eine Holzkirche armselig wie eine Scheune. Nur die
+Fenster mit ihren gotischen Holzladenfenstern und einem eisernen Kreuz
+am First ließen sie als solche erkennen. Am Abend sah man die Landleute
+in Ermangelung von Wegen und Straßen einfach auf den Bahnschienen ihren
+Wohnungen zustreben! Das ist der ebenste und kürzeste Weg drüben. Die
+Lokomotive pfeift, und man tritt einen Augenblick zur Seite! Wer dabei
+überfahren wird, hat es sich selbst zuzuschreiben. Polizeistrafen gibt
+es dafür nicht!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>Purpurrot begann die Sonne im Westen zu sinken. Immer weiter westwärts
+ging unsere Fahrt ... Zwei barmherzige Schwestern fuhren allein in
+einem äußerst primitiven Reisewägelchen draußen durch den Abend.
+Der Wagen suchte sich selbst die beste Fahrgelegenheit durch den
+Sand und das Gras. In einigen erleuchteten Zelten saßen Bahnarbeiter
+um ihr Abendbrot ... Mit Dunkelheit kamen wir nach Kansas City im
+Staate Kansas und überschritten hier den mit seiner gewaltigen Breite
+fast an den Mississippi erinnernden Missouri, der von hier nach St.
+Louis zum Einfluß in seinen größeren, aber bis dahin kürzeren Bruder
+strömt. Kansas hat etwa 200&#8239;000 Einwohner und ist die größte Stadt des
+gleichnamigen Staates. Sie liegt am Einfluß des Kansasflusses in den
+Missouri. Sie ist wie alle amerikanischen Städte rasch gewachsen. 1860
+hatte sie noch nicht 5000 Einwohner! Jetzt hat sie ihr stattliches
+„Kapitol“, ihre prächtigen Parks usw., wie es einer ordentlichen
+großen Stadt zukommt. Einer der Einwohner unserer Hall in Cambridge
+war aus Kansas, Freund R., er hatte also 38 Bahnstunden in seine
+Universitätsstadt zu fahren! Wer macht ihm das in Deutschland nach?</p>
+
+<p>Mit einem Trinkgeld brachte ich unseren besonders trägen und lässigen
+Neger auf die Beine, daß er mir im Schlafwagen noch ein Bett
+verschaffte. Denn die ganze Nacht mit den Kleidern in der Ecke sitzen,
+wenn auch der „<span class="antiqua">reclining chair</span>“ erlaubte, ihn lang wie einen
+Liegestuhl auszuziehen, erschien mir doch nicht gerade das Ideal zu
+sein, zumal mir <em class="gesperrt">noch</em> ein ganzer Tag Eisenbahnfahrt bis nach
+Neumexiko hinein bevorstand. Der Neger, wohlbeleibt und mit breiter
+Nase, hatte mir grinsend und schmunzelnd zugesagt, eine „<span class="antiqua">upper
+berth</span>“, wie das meine Gewohnheit war, zu verschaffen. So geschah
+es auch. Ich stieg in dem mit seinen grünen Vorhängen wohlverhängten,
+besagten Schlafwagen als einer der letzten auf der kleinen Leiter in
+mein hochgelegenes Reich und kleidete mich oben aus, barg alles wohl
+in einer Ecke und sah noch nach, ob auch Uhr, Scheckbuch und Börse
+wohl in ihren Taschen waren. Dann legte ich mich ruhig aufs Ohr.
+Die meisten anderen im Wagen schliefen schon den<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> süßen Schlaf des
+Gerechten und fuhren mit mir im Staate Kansas in die Nacht hinein ...
+„Rumrumrum ... rumrumrum“ rüttelte der Zug dahin. Bald war man nach dem
+vielen Sehen und der schon etwa 15stündigen Fahrt wohl in den Schlaf
+gewiegt. Kein Laut noch Kindergeschrei störte hier die Stille. Die
+Auswandererfamilien mit ihren Kindern waren der größeren Billigkeit
+halber in der „<span class="antiqua">tourist-car</span>“ zurückgeblieben und hatten zwischen
+den ausgezogenen Stühlen ihre Kissen und Decken ausgebreitet. Es war
+dort das reinste „Nachtlager von Granada“. Ich hoffte wohlgestärkt am
+Morgen in einem neuen Staate, Kolorado, von denen jeder allein etwa ein
+Drittel so groß ist wie das Deutsche Reich, wieder aufzuwachen&#160;...</p>
+
+<p>Plötzlich, als ich wohl ein bis zwei Stunden geschlafen hatte, hält
+mir mitten in der Nacht jemand eine Blendlaterne vors Gesicht, rüttelt
+mich am Arm und zieht mir auch schon die Bettdecke weg — eine recht
+eigenartige Situation. War es ein Überfall? War der Zug von Räubern
+angefallen? Nein. Der Neger bedeutete mir, ich müsse schleunigst aus
+dem Bett heraus ... es sei noch ein Fahrgast eingestiegen, der auf
+das Bett Anspruch habe! Wachte oder träumte ich? Es war leider kein
+Zweifel an der betrübenden Wirklichkeit: Der Schlafwagenneger stand
+grinsend mit seinem breiten, braunen Gesicht vor mir und packte schon,
+ohne meine Antwort abzuwarten, meine Kleider über den Arm und schleppte
+sie davon in die Ecke des Wagens und warf sie dort auf ein anderes
+oberes Bett, das anscheinend noch frei war. Warum er mir das nicht von
+Anfang an gegeben hatte? Ich ergriff die letzten Utensilien hinter ihm
+drein, kaum daß ich Zeit hatte, wenigstens die Unaussprechlichen noch
+anzuziehen. Aber es schlief ja alles im Wagen und sah meinen höchst
+eigenartigen Umzug nicht. Nur der Neger und der neu eingestiegene
+Fahrgast, der schon auf mein wohlgewärmtes Bett wartete! (Übrigens
+pflegen echte Amerikaner nachts einen Schlafanzug anzuziehen, so daß
+für sie ein solch plötzlicher Umzug nicht allzu genierend ausfällt.
+Bei mir als echtem Deutschen war das anders.) Ich war so schlaftrunken
+— der<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> erste Schlaf ist ja wohl immer der beste — daß ich kaum
+nachzusehen und nachzuzählen vermochte, ob der Neger auch alles richtig
+herüberbugsiert hatte. Kurz, ich schlief bald wieder ein. Und der
+Zug hielt ja wohl auch in der Nacht nicht mehr ... „Rumrumrum ...
+rumrumrum“ hörte ich es wieder wie im Traum&#160;...</p>
+
+<p>Morgens wachte ich auf bei blendendem Sonnenschein. Ungeheure gelbe
+kahle Ebenen dehnten sich zu beiden Seiten! Der Schlafwagen ward
+lebendig; Männlein und Weiblein strebten nach den Waschtoiletten ...
+Man kleidete sich an. Ich zählte: Alle meine Kleidungsstücke waren
+vorhanden. Die Uhr knöpfte ich in die Weste — da fühle ich zufällig in
+die innere Rocktasche: wo war mein Scheckbuch? Nun war das Scheckbuch
+weg! Das ganze Erbe der lieben Tante aus Schwaben! Und im Portemonnaie
+waren nur einige Halbdollarstücke und einige Cents. Das reichte
+vielleicht noch einen Tag! Und dann saß ich in Neumexiko, im Herzen
+des nordamerikanischen Kontinents — 40 Bahnstunden von den nächsten
+Menschen, die mich kannten. Aber auch wenn ich sie telegraphisch um
+Geld zur Rückkehr anging — sollte nun die ganze Fahrt zu Wasser
+werden? Wie furchtbar! Mir saß der Schreck in allen Gliedern. Wie doch
+der Mensch ahnungslos aus allen Himmeln stürzen kann!</p>
+
+<p>Was tun? Sollte ich mich einem der mir völlig unbekannten Reisenden
+anvertrauen? Keiner würde mir Geld geben! „Selbst“ ist in Amerika
+der Mann! „Steig aus und nimm irgendeine Arbeit an!“ hätte man mir
+vielleicht auf amerikanisch geantwortet. Aber ich mußte ja doch auch
+nach Harvard zurück! Hier konnte ich keinesfalls bleiben. Und wenn
+nun gar jemand mein Scheckbuch gefunden und auf meinen Namen, der mit
+Unterschrift vorne drin stand, mein ganzes Geld abhob! Wie gewonnen,
+so zerronnen! Liegt auf geerbtem Geld kein Segen? „Was du ererbt von
+deinen Vätern hast, <em class="gesperrt">erwirb</em> es, um es zu besitzen.“ Darüber
+hatten wir einmal einen Aufsatz machen müssen. Galt das jetzt mir? So
+schossen mir die Gedanken hin und her durch den Kopf. Ach, wenn ich
+doch sonst was verloren hätte, nur nicht die Reisekasse selbst! Ich
+verwünschte schon den Niagara und den Mississippi,<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> daß sie mich
+überhaupt zu dieser Reise verleitet hatten! Hätte ich doch nie in der
+Washingtonstreet in Boston das Auswandererbillett gesehen! Was nutzte
+mir all das jetzt? Und dabei fuhren wir immer weiter, immer weiter
+fort, für mich ins Verderben ... immer tiefer in die Wildnis eines
+Erdteils ohne Geld! Wenn der Zug doch bloß einmal zu ruhigem Überlegen
+gehalten hätte! „Rumrumrum ... rumrumrum“, so schien mich der Zug
+selbst mit seinem endlosen und monotonen Rhythmus zu verhöhnen.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe32" id="illu_208">
+ <img class="w100" src="images/illu_208.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">CHICAGO<br>
+ Lincoln, der Sklavenbefreier
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_208_gross.jpg"
+ id="illu_208_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_209">
+ <img class="w100" src="images/illu_209.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">CHICAGO<br>
+ Das große Chicago-Fußballspiel (30&#8239;000 Zuschauer)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_209_gross.jpg"
+ id="illu_209_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ich erkundigte mich, nichts verratend, nach der nächsten Station.
+„Um halb acht Uhr sei Frühstück in Syrakuse, an der Grenze von
+Kolorado“, hieß es. Also da hielt der Zug 25 Minuten, und im Wartesaal
+war Gelegenheit, für 75 Cents warm und reichlich zu frühstücken:
+Hammelkotelette, Huhn und andere schöne Sachen. Was scherte mich jetzt
+das Frühstück? Ich mußte mein Scheckbuch haben. Wenn nur der Zug
+endlich einmal halten wollte und ich Schritte tun konnte! Fuhr er bis
+ans Ende der Welt? Aber wenn ich ausstieg, sollte ich vielleicht dann
+da bleiben, in einem weltverlorenen Städtchen nur noch 200 <span class="antiqua">km</span>
+vom Felsengebirge entfernt? Nein, mir kam ein besserer Gedanke: Bleiben
+kostete Geld, was ich ja nicht hatte, Fahren kostete mich im Augenblick
+kein Geld, denn mein Rundreisebillett, was bis Chikago zurücklautete
+— freilich über Kalifornien! — war ja bezahlt und steckte in meiner
+Tasche. Also weiterfahren und sehen, was dann kommt! Mein Plan war
+gefaßt: In Syrakuse nur aussteigen, um in der Frühstückspause „Schritte
+zu tun“! Ich wußte glücklicherweise die Nummern meiner Schecks genau;
+die hatte ich mir vorsichtig mit Bleistift notiert. Und das Notizbuch
+hatte ich noch! Also auf dem Bahnhof sofort an die Bankzentrale
+depeschiert und die betreffenden Nummern sperren lassen! So war
+vielleicht doch noch mein Erbe gerettet.</p>
+
+<p>Als der Zug endlich hielt, handelte ich kurz entschlossen. Denn
+gestohlen war das Scheckbuch auf jeden Fall! Ich depeschierte. Dann
+trat ich nach Aufgabe meines Banktelegramms nach Boston an den
+diensttuenden <span class="antiqua">police-man</span> auf dem Bahnsteig und forderte ihn
+energisch<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> auf, sämtliche Reisenden sofort zu durchsuchen oder etwa
+den Schlafwagenschaffner einfach zu verhaften, bis heraus sei, wer
+mein Scheckbuch gestohlen habe. Der <span class="antiqua">police-man</span>, ein Hüne von
+Gestalt und wohl Ire von Geburt, sah mich sehr groß an und an mir
+herunter — und rührte sich nicht von der Stelle! Erwartete er erst
+einmal ein großes Trinkgeld? Das hatte ich ja nicht. Oder bedurfte er
+dazu höheren Befehls? Wie sollte ich den in der Eile erwirken? Ich
+mußte doch weiterfahren. Enttäuscht und niedergeschlagen wandte ich
+mich in den Wartesaal, gab mein Scheckbuch verloren und setzte mich
+verzweifelt an die „Frühstücks“tafel — es waren noch 15 Minuten Zeit.
+Hunger hatte ich, mechanisch schlang ich Hammelkotelette und etwas vom
+Huhn hinunter. Aber was half’s? Meine Barschaft schmolz nur um so mehr.
+Sie würde wohl kaum noch diesen Tag überleben. Was dann? So wollte ich
+wenigstens noch einmal gut und vorsorgend gegessen haben. Sollte ich
+mich dann in Los Angeles als Kuli verdingen? Wenn wir nur erst dort
+wären! Bis dahin waren aber noch 48 Stunden mit der Bahn zu fahren!
+Reichte die letzte Mahlzeit bis dorthin?</p>
+
+<p>Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte — ich hatte mich nicht
+entschließen können, in dem weltverlorenen Syrakuse zu bleiben; und
+das war gut! — stieg ich wieder ein, wie üblich, von dem kleinen
+bereitgestellten Schemel hinauf auf das sehr hohe Trittbrett und
+meldete jetzt dem Schlafwagenneger meinen Verlust. Grinsend hörte er
+mich an. Ich bedeutete ihm, ich sei der Fahrgast, den er heute Nacht
+aus dem Schlaf geweckt und in das andere Bett gewiesen. Er nickte.
+Durch seine Schuld sei also das Scheckbuch verlorengegangen. Er
+schüttelte. „No, Sir“ war seine Antwort, und er verschwand. Er suchte
+offenbar den Schlafwagen ab, klappte die Betten zusammen — und fand
+natürlich nichts! Mir war längst alles gänzlich vergällt. Sah ich
+sonst mit begeistertem Interesse stets in die Landschaft hinaus, so
+interessierte mich jetzt nichts mehr. Stumm sah ich vor mich hin und
+brütete. Die letzte Hoffnung war dahin. Im Schlafwagen nahmen auf den
+Sesseln die Reisenden wieder Platz. Ich teilte jetzt<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> auch anderen
+meinen Verlust mit und wurde allgemein bemitleidet. Ich erwartete
+bloß noch, daß sie für mich eine freiwillige mildtätige Sammlung
+veranstalteten, daß ich bis Los Angeles zu leben hätte. Aber selbst
+das geschah nicht. Sah ich dazu zu wohlgekleidet aus? Ging sie der
+„<span class="antiqua">German</span>“ nichts an? Dachten sie: „Mag er sich’s doch wieder
+verdienen, jung genug ist er“? Ich weiß es nicht. Und wenn wir jetzt
+über die romantischen Pässe des Felsengebirges gefahren wären, ich
+hätte keine Notiz von ihnen genommen&#160;...</p>
+
+<p>So mochten wohl wieder dreiviertel Stunden vergangen sein, da kommt
+der Neger grinsend wieder herein, tritt auf mich zu und hält in der
+Hand triumphierend — mein Scheckbuch!! Beinahe hätte ich es ihm aus
+der Hand gerissen. Ich wußte nicht, sollte ich ihm um den Hals fallen
+oder gar als vermeintlichem heuchlerischen Dieb eins auswischen. Ich
+unterließ aber lieber beides. An Kraft war er mir sicher überlegen.
+Er hielt das Buch wohlweislich sehr fest. „Ob das meins wäre?“ — Nun
+natürlich, wie konnte er nur fragen; ich nannte ihm genau die Nummern
+aus dem Notizbuch. Da hielt er es mir näher, immer breiter grinsend
+hin, aber gab es noch nicht frei! Ich griff instinktiv in die Tasche
+und schüttete ihm meine noch übrige Barschaft in die braune Hand. Da
+auf einmal wurde sein breiter Mund schmäler und — er gab es mir! Wie
+ein Paradiesesstrom floß es durch meine Seele! „<span class="antiqua">Well, Sir!</span>“
+— „Ja, <span class="antiqua">well, Sir</span>, aber wo war es denn?“ Er behauptete: Eben
+hätten es ihm zwei spielende Knaben aus dem Schlafwagen gebracht, die
+zum Versteckspielen unter die Sitze gekrochen wären! Das war möglich;
+dann war es also schon des Abends bei dem nächtlichen Umzug aus der
+Tasche gefallen oder genommen und unter die Sitze gestoßen worden....!
+<span class="antiqua">Well, Sir</span>, alles möglich! Oder ob der gute Neger nicht alles so
+beabsichtigt hatte? Ob er so ein gutes Trinkgeld verdienen wollte? Oder
+ob er gar erst bare Dollarnoten darin vermutet hatte? Mir war’s gleich.
+Wie interessant war sofort draußen wieder die Landschaft! An der
+nächsten Station war ich der erste, der aus dem Zug sprang und wieder
+an die Bank in Boston telegraphierte:<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> „Scheckbuch gefunden, Sperre
+aufheben!“ Sie war wohl noch nicht ergangen&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Unsere Fahrt ging durch Land wie durch die Wüste Gobi. Zum zweiten Male
+mußte die Uhr eine Stunde, jetzt auf „Mountain-Time“ (Gebirgszeit)
+zurückgestellt werden, wie in Detroit auf „Zentralzeit“. Der
+geographische Mittelpunkt der Union war überschritten. Die Vereinigten
+Staaten haben nämlich wegen ihrer Ausdehnung eine vierfache Zeit: In
+Neuyork ist <span class="antiqua">Atlantic time</span>, in Chikago <span class="antiqua">Central time</span>, im
+Gebirge <span class="antiqua">Mountain time</span> und in Kalifornien „<span class="antiqua">Pacific time</span>“,
+denn dort geht die Sonne vier Stunden später auf und unter als an der
+Küste des Atlantik. Auf dem Meer hatten wir täglich die Uhr nur um
+20 Minuten zurückstellen müssen und auf der Rückfahrt später wieder
+vor! Da der Bahnzug etwa dreimal so schnell fährt als das Schiff, so
+macht es zu Lande beinahe jeden Tag eine Stunde aus, wenn man ständig
+westwärts fährt.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Im Wagen herrschte jetzt wüstes Kindergeschrei, die Babys brüllten,
+die Boys haschten einander. Alles das störte mich in meiner
+Paradiesesfreude nicht. Der Boden des Wagens glich jetzt schon nicht
+mehr einer menschlichen Wohnung, denn jeden Tag mehrten sich der Abfall
+und die Speisereste beträchtlich. Mir gegenüber sog ein Kindchen an
+der Mutterbrust ... es ahnte nicht, wo es ist und wem es entgegenfuhr.
+Welch Pionier wird einmal aus ihm werden? Bei mir saß ein früherer
+Seemann, der schon Australien, die Türkei und England befahren hatte.
+Neben ihm und seinen Schilderungen kam ich mir sehr klein vor ... Staub
+und Rauch nahmen auch ständig zu, dazu die Wärme, denn wir fuhren jetzt
+bereits unter dem 37. Breitengrad, auf dem in Europa — oder vielmehr
+Afrika! — die Nordküste von Tunis und Algier liegt.</p>
+
+<p>Vor dem heranbrausenden Zug rasten etliche Pferdeherden in die Steppe
+hinein. Alles war draußen gelb und baumlos. Man sah Zelte wie ein
+Zigeunerlager aufgestellt. Neben der Bahn strich ein schlechter Fahrweg
+mit dünnen und krummen Telephonstangen hin. So fest, gerade und glatt
+wie bei uns sind sie drüben nur in kultivierten<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Gegenden. Hier und da
+lag ein einsames Lehmblockhaus. Wir traten allmählich in ursprünglich
+spanisches Kulturland und indianisches Siedlungsgebiet ein. Man sah
+einige strohgedeckte Holzhütten. Die Leute ritten auf Maultieren durchs
+Land wie die alten Trapper. Auf den weiten kahlen Steppendünen in der
+Ferne einige dunkle Punkte, die man durchs Glas als weidendes Vieh
+erkennt. Wenn nicht die Bahn die Blutader für diese Einsamkeiten wäre,
+wären sie alle, Mensch und Vieh, hier von aller Welt abgeschlossen. Die
+großen Pazifiklinien haben erst den Westen Amerikas erschlossen. Hier
+war zuerst die Bahn, dann kamen die Menschen der Bahn nachgezogen. Bei
+uns in Europa waren erst jahrhundertelang die Menschen und ihre Städte
+da, dann erst verband sie die Bahn miteinander&#160;...</p>
+
+<p>Wo kriegen die Leute hier nur ihr Wasser her? fragte ich mich. Die
+Wasserläufe schienen alle ausgetrocknet zu sein. Gelbe Wüste reiht
+sich an die salzhaltige Steppe. Regen fällt hier ganz selten, höre
+ich. Wie heiß mag es erst im Sommer sein? Wie grün und fruchtbar war
+es dagegen im Mississippital! Die unentgeltlichen Wasserfässer am
+Ende des Eisenbahnwagens finden immer stärkeren Zuspruch. Eine dünne
+spinnewebfeine Eisenbahnbrücke führt uns über einen sandigen Fluß. In
+Chikago Tausende von Kunstbauten; hier erweckt ein einziger von ihnen
+großes Interesse in all seiner Dürftigkeit. Unter einem dürren Baum
+liegen drei Rinder im Schatten. Im Fluß stehen andere, wie die Kühe im
+Nil zu Pharaos Zeiten. Was könnte hier alles noch werden und wachsen,
+wenn das Land einmal systematisch berieselt und besiedelt sein wird!</p>
+
+<p>Nach Stunden wieder einmal eine weltverlorene Station. Drüben erheben
+sich jetzt mäßig hohe felsige Hügelreihen. Verblichene Baumstämme
+liegen umher und ein paar faulende Knochen. Ich schaue gespannt nach
+dem Felsengebirge aus, aber sehe es immer noch nicht. Die Stationsnamen
+werden immer spanischer. An der Bahnstrecke arbeiten Neger in hohen
+spitzen Strohhüten wie bei uns die Pferde im heißen Sommer. Zwischen
+den Schienen liegen Haufen Sand wie verwehte Dünen&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p>
+
+<p>In La Junta, einem wichtigen Bahnkreuzungspunkt, ist <span class="antiqua">lunch</span>.
+Alles stürzt hungrig hinaus. Da mein Bargeld am Ende ist und ich hier
+keinen Scheck eingewechselt bekomme, nehme ich ein billiges Mittagessen
+in einem Arbeiter-<span class="antiqua">saloon</span> dicht beim Bahnhof. Warum soll ich
+nicht einmal da essen, wo Arbeiter, Neger, Spanier oder Mexikaner
+essen? Das Besteck und Tischtuch ist freilich nicht allzu appetitlich
+... aber es schmeckt auch ... Freilich sehen sie mich alle recht
+erstaunt an&#160;...</p>
+
+<p>Nach 25 Minuten dampfen wir weiter in nun fast genau südlicher Richtung
+durch den Südostzipfel des Staates Kolorado. Hügeliges Tafelland
+beginnt. So denke ich mir etwa Südafrika. Wilde Wasserfurchen zeichnen
+sich im Sand ab. Ein wenig Föhrengestrüpp ist das einzige, was hier
+wächst. Hier muß es, wenn es regnet, sehr heftig regnen. Man sieht es
+an den verhärteten Furchen. Die Bahn steigt ständig. Wir sind schon
+1000 <span class="antiqua">m</span> hoch! In der Richtung aufs Gebirge ist es leider wolkig
+und umzogen, sonst sähe man jetzt das Felsengebirge. Man erblickt die
+Kette der Rockies bei klarer Sicht über 250 Meilen weit! Meine Erregung
+steigert sich. Wann werde ich die Berge zuerst wahrnehmen? Ich bin
+gespannt wie einst, als wir als Studenten das erste Mal in die Alpen
+fuhren&#160;...</p>
+
+<p>Mit einem Male sind wir auf eine weite hohe Ebene hinaufgeklommen, an
+deren hinterem Rande jetzt stattliche hohe blaue Bergketten sichtbar
+werden; hinter ihnen noch höhere, die aber nicht deutlich zu sehen
+sind. Ein paar Pferdeherden im Vordergrund bilden die einzige Staffage
+zu diesem grandiosen Bild. Sonst rings kein Baum und Strauch. Das
+müssen die Ketten des Felsengebirges sein. Sie sind es! Ziemlich links
+erhebt sich die Koloradokette mit etwas Schnee auf den Berghäuptern,
+tiefblau, bis über 4000 <span class="antiqua">m</span> hoch. Man sieht jetzt die Bahnlinie
+eine weite Strecke vorwärts an den langen Zeilen der Telephonstangen,
+die wie eine Streichholzpallisade in der Erde stecken. Stracks fahren
+wir auf die Berge zu. Es wird immer öder. Rechts drüben erhebt sich
+gigantisch der berühmte Pikes Peak bei Denver, einer der höchsten
+und am weitesten in die Mississippiebene vorgeschobenen Gipfel (4300
+<span class="antiqua">m</span>).</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span></p>
+
+<p>Wie leicht rollt der Zug über die Riesenebene! Wieder mächtige wilde
+Wasserrinnen! Wie mag hier der Regen hausen! Aber mitten in der
+einsamen Wüste auch ein — Reklameschild an der Bahn: „Star-Tobacco!“
+Die ersten Indianerpueblos<a id="FNAnker_23" href="#Fussnote_23" class="fnanchor">[23]</a> tauchen auf mit ihren fast fensterlosen
+niedrigen Lehmhütten. Braune und schwarzhaarige Kinder spielen
+davor. Ein Güterzug kommt uns auf der eingleisigen Strecke entgegen.
+Die Züge verständigen sich schon aus der Ferne durch gegenseitiges
+lautes Pfeifen darüber, wo man sich ausweicht. Jener hält lange an
+der Ausweichstelle und wartet auf uns, bis wir vorüber sind. Aber
+wie machen sie es im Nebel und bei Nacht? Der Güterzug rollt die
+Schätze Kaliforniens nach Chikago. Die „Straße“ neben der Bahnlinie
+ist jetzt nur noch eine einzige feine Räderfurche im Sand. Ruhig,
+stolz und tiefblau schauen die Berge zu uns herüber. Wir halten an
+Station Trinidad, 1800 <span class="antiqua">m</span> über dem Meere, einem altmexikanischen
+Städtchen unter einer hohen Bergspitze, fast schon an der Grenze von
+Neumexiko. Die kleinen Orte sind hier meist nicht viel mehr als ein
+Haufen Lehmhütten wie im primitivsten Italien oder im Orient. Die
+mexikanischen Häuser sind sehr niedrig, die Straßen breit. Alles hat
+einen vollkommen südlichen Charakter. Die Männer (Mexikaner) tragen
+einen breitrandigen Schlapphut, den Italienern ähnlich, und haben
+feurige schwarze Augen.</p>
+
+<p>Die Bahn steigt weiter steil an wie über den Apennin. Alles ringsumher
+bleibt kahl und steinig. Kein grünes Hälmchen ist zu sehen. Alle
+Frühlingspracht Missouris ist verschwunden. Wir fahren durch ein
+schmales höchst malerisches Felsental, dann durch einen Tunnel auf
+einer Paßhöhe von fast 2400 <span class="antiqua">m</span>! (Die Gotthardbahn erreicht bei
+Göschenen nur 1100 <span class="antiqua">m</span>!) Jenseits des Tunnels senkt sich die
+Trasse wieder beträchtlich. In Station Ratton stehen Sattelpferde an
+der Bahn, ankommende Reisende abzuholen. Wir sind mitten im Gebirge.
+Ringsum ist der Blick durch hohe malerische Bergketten eingeschränkt.
+Aber alles ist noch viel weitläufiger und riesiger als in den Alpen.<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span>
+Inzwischen umziehen sich die Berge, Wolken hüllen uns ein. Regenschauer
+prasseln nieder. Aber draußen herrscht wunderbar frische, würzige
+Bergluft, drinnen im Wagen aber ist die Luft zum Umkommen&#160;...</p>
+
+<p>Wir fahren wieder aufs neue über mächtige Hochebenen in beinahe 2000
+<span class="antiqua">m</span> Höhe, die von hohen bewaldeten Bergketten eingesäumt sind.
+Noch einmal taucht die Abendsonne nach dem Regen über dem Schnee der
+Berge empor, dann versinkt sie. Das Felsengebirge ist, wie ich jetzt
+schon bemerkte, kein geschlossenes Gebirge wie die Alpen, sondern eine
+Sammlung von hohen Randgebirgen, die in sich ungeheuerliche Hochebenen
+einschließen. Das Gestein leuchtet bald rötlich, bald grünlich. Wem
+gehört all dies Land? Auf drei Bahnstunden keine menschliche Wohnung!
+Neumexiko hat bei einer Größe von 317&#8239;000 <span class="antiqua">qkm</span> eine Bevölkerung
+von nur 200&#8239;000 Einwohnern, also eine Dichte von 0,6 auf 1 <span class="antiqua">qkm</span>.
+Auf eine Entfernung Frankfurt a. M.-Karlsruhe oder Dresden-Leipzig
+keine nennenswerte Siedlung!</p>
+
+<p>Während die Abenddämmerung einbricht, tauchen neue schneebedeckte
+Bergketten unter den Wolken auf. Geheimnisvoll! Sind alle diese Berge
+schon bestiegen? Wie lange Jahrtausende hausten hier die Indianer
+allein? Beinahe um zehn Uhr Sonnabend abends bei stockdunkler Nacht
+bin ich in Lamy Junction. Ich verlasse mit noch zwei Personen den Zug,
+um nach Santa Fé, Neumexikos Hauptstadt, umzusteigen. Seit Freitag
+früh hatte mich der Zug beherbergt. Er war einem wie zu einer Heimat
+geworden. Ohne Unfall hatte er mich von den großen Seen des Nordens
+quer durch die ganze Mississippiebene bis ins Herz des Felsengebirges
+gefahren. Man empfand so etwas wie Dankbarkeit ihm gegenüber, als
+man ihn verließ und er in die stockdunkle Nacht wieder auf- und
+davondampfte.</p>
+
+<p>Nun saß ich nachts zehn Uhr mit zwei anderen wildfremden Menschen,
+einem Mann und einer Frau, auf dem kleinen Bahnhof dieses winzigen und
+herzlich unbedeutenden Nestes, Lamy genannt, noch 1200 <span class="antiqua">km</span> vom
+Stillen Ozean, beinahe 3000 <span class="antiqua">km</span> von Neuyork, über 6000 <span class="antiqua">km</span>
+von der Heimat oder vier Monate Fußwanderung<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> entfernt! Es dauerte eine
+volle Stunde, bis der kleine Zug nach Santa Fé weiterging, der uns drei
+Menschen beförderte. Rings war rabenschwarze Nacht. Kein Lichtsignal,
+kein Anzeichen von menschlichen Wohnungen! Nach 18 Meilen Bahnfahrt
+waren wir etwa um Mitternacht in Santa Fé, der etwa 5000 Einwohner
+zählenden kleinen altmexikanischen Hauptstadt des jüngsten Staates
+der Union, Neumexiko, beinahe unter dem 35. Breitengrad, also in Höhe
+Maltas, Kretas und Zyperns gelegen. Aber von all seiner Schönheit und
+Altertümlichkeit war in der stockfinstern Nacht vorerst gar nichts zu
+sehen. Der Bahnhof lag ein wenig draußen. Ich sah mich um. Kein Mensch
+war weit und breit. Ich ging wie die anderen beiden eine völlig dunkle
+Straße stadtwärts, beziehungsweise in der Richtung, wo man sie etwa
+vermuten konnte. Am kleinen Bahnhof wurden die Lichter ausgelöscht. Nun
+war aber auch alles stockfinster. Meine Reisegenossen gingen einige
+Schritte vor mir. Sie kannten anscheinend ihr Ziel.</p>
+
+<p>Da kam uns ein einfacher Mann entgegen, soweit man erkennen konnte. Er
+wechselte mit den beiden vor mir ein paar Worte. Die Frau ging weiter.
+Der Mitreisende aber blieb stehen, mit einer einfachen Ledertasche in
+der Hand. Jetzt kam der Fremde auch auf mich zu. Was wollte er? War
+es Freund oder Feind? „Ob ich schon Nachtquartier hätte? Ich könnte
+bei ihm billig schlafen.“ Da der andere schon zugesagt hatte, willigte
+auch ich ein. Mitgegangen, mitgehangen! Ich wundere mich noch heute,
+wie ich damals um Mitternacht in Santa Fé in völliger Finsternis einem
+mir völlig unbekannten Mexikaner mit einem anderen, der mir ebenso
+unbekannt war, in sein Haus folgen konnte. Wenn man mich hier etwa in
+der Nacht aufgehoben hätte, so hätte wohl kaum jemand je erfahren, wo
+und wie ich eigentlich von der Welt verschwunden wäre. Aber an diesem
+Buche sieht der Leser, daß ich am Leben blieb. Ich wollte auch zunächst
+die Schlafgelegenheit erst einmal „besichtigen“. „Es sollte nah sein,“
+sagte der Fremde, „aber in die Stadt noch weit.“ So wollte ich einmal
+das Abenteuer probieren. Hatte ich in einem sehr feinen Haus in
+Neuyork<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> unter <span class="antiqua">bed-bugs</span><a id="FNAnker_24" href="#Fussnote_24" class="fnanchor">[24]</a>
+ leiden müssen, so brauchte ich mich
+gewiß hier im Felsengebirge nicht über sie zu beklagen; aber vielleicht
+ging es sogar ohne sie ab.</p>
+
+<p>Wir kamen nach ein paar Minuten an einem kleinen Haus an. Alle Läden an
+ihm waren geschlossen. Insofern machte es einen mystischen Eindruck.
+Der Mexikaner öffnete und führte uns eine Treppe hinauf. Eine alte
+Frau steckte in Nachtkleidung den Kopf aus einer halbgeöffneten Tür.
+Er murmelte zu ihr ein paar mir unverständliche Worte auf spanisch;
+darauf verschwand sie und erschien nachher notdürftig angekleidet
+mit einer kleinen Wasserkanne und einem Ding, das wohl ein Handtuch
+vorstellen sollte. Mein Begleiter bekam rechts ein Gemach, ich links.
+Das meine war noch etwas vornehmer und größer, enthielt außer dem Bett
+sogar eine Kommode und einen kleinen Waschtisch. Ich akzeptierte, der
+andere auch. Was sollte ich jetzt in Santa Fé nach Mitternacht nach
+39stündiger Bahnfahrt noch lange nach einem Zimmer herumlaufen? Eine
+Räuberhöhle oder Verbrecherfalle schien es ja nun auch nicht gerade
+zu sein. Schließlich sind auch die Mexikaner Menschen wie wir, dachte
+ich, und der andere war ja auch noch zur etwaigen Hilfeleistung und
+Verteidigung da. Beim Schein einer Kerze, die ich dankend angenommen
+hatte, schaute ich zuerst, als ich allein gelassen war, in meiner
+Kammer unters Bett, ob keiner etwa drunter läge, der nachher, wenn
+ich schlief, hervorkäme und mich vielleicht beraubte. Schließlich
+verrammelte ich noch zur Sicherheit die Türen mit der Kommode und dem
+Waschtisch. Sollte also ein nächtlicher Angriff von dorther geplant
+sein, so würden mich mindestens die umstürzenden Möbel noch rechtzeitig
+aus dem Schlaf wecken. Das Fenster schloß ich, erstens von wegen
+des Einsteigens — was sich ja sogar einmal ein Bonsels geleistet
+hat! — zweitens von wegen der auf 2100 <span class="antiqua">m</span> Höhe trotz des 35.
+Breitengrades empfindlichen Nachtkühle. Dann untersuchte ich das Bett
+auf kleine Schlafgenossen hin, fand aber nichts Bedenkliches und legte
+mich zuletzt sorglos hinein ... um<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> nach prachtvollem Schlaf — die 39
+Bahnstunden saßen mir doch recht in den Gliedern — am anderen Morgen,
+einem Sonntag, um sieben Uhr bei strahlendem Sonnenschein wohlgestärkt
+zu erwachen&#160;...</p>
+
+<p>Ich sah mich in dem hellen Zimmer um. Es war alles bescheiden und
+einfach, aber ganz ordentlich. Das Fenster war noch geschlossen, es war
+also niemand des Nachts eingestiegen. Die Kommode stand noch geduldig
+hinter der Tür, also auch von dort hatte sich kein Feind genaht.
+Scheckbuch und Uhr waren auch noch vorhanden! Was wollte ich mehr? Ich
+sah aus dem Fenster und ließ die herrliche Morgenluft hereinströmen und
+sagte zu mir selbst: Nun bist du wirklich in Neumexiko, und die Berge
+dort drüben sind ein Stück Felsengebirge. Alles war wie ein
+Traum!&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Ich kleidete mich rasch an, um die Stadt zu besehen und möglichst auch
+noch heute in die Berge zu kommen. Denn durchs Felsengebirge zweimal
+quer hindurchzufahren und auf keinen Berg zu kommen, dünkte mir ein
+Ding der Unmöglichkeit. Ich pilgerte bald in das Städtchen und fand
+es nicht so weit vom Bahnhof, als ich vermutet hatte. Bald stand ich
+auf seinem Marktplatz. Während man sonst in amerikanischen Städten
+durch „Wolkenkratzerkañons“ zum Zentrum kommt, war man hier wie in
+einer völlig anderen Welt. Eine belaubte und schattige, rechteckige
+nicht allzugroße stille „<span class="antiqua">plaza</span>“ wie in einem süditalienischen
+oder spanischen Landstädtchen öffnete sich als der Mittelpunkt des
+„Verkehrs“. Ihn bestritten einige in der Sonne sitzende kleine
+schwarzhaarige Mexikaner in ihren breiten Schlapphüten und hier und
+da ein echtsüdlicher zweirädriger Eselskarren. Die eine Längsseite
+der <span class="antiqua">plaza</span> säumte der alte dreihundertjährige „<span class="antiqua">governors
+palace</span>“, ein einstöckiges flachgedecktes, etwas verfallen
+aussehendes langgestrecktes Gebäude, das heute ein Museum birgt. Fast
+vornehm wie eine versunkene Pracht wirkten seine Säulenkolonnaden.
+Einst war es die „Residenz“ spanischer, mexikanischer und auch noch
+amerikanischer Gouverneure. General Lewis Wallace, der 1879-82
+Gouverneur von Neumexiko war, schrieb hier seinen vielgelesenen Roman
+„Ben Hur“! Wahrhaftig, hier herum hatte er auch das<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> passendste
+Milieu dazu, denn Neumexiko steht an Vegetation, Bergwelt, Bauweise
+und Klima in nichts dem heiligen Lande nach. Still und ehrwürdig
+klangen die Glockenschläge der nahen zweitürmigen, aber im ganzen
+einfachen romanischen „Kathedrale“ des heiligen Franziskus, die zur
+Morgenmesse riefen und auf die Mexikaner und katholische Indianer
+aus den umliegenden Siedlungen zustrebten. Es war Sonntag. Auf
+altspanischem Boden herrscht noch heute der Katholizismus. Santa Fé
+ist für amerikanische Zeitverhältnisse uralt. Schon 1542 fanden hier
+die Spanier ein großes Indianerpueblo vor, als selbst Neuengland
+noch kein Weißer betreten. Und noch heute wohnen zahlreiche Indianer
+auch in der Stadt. Die Sträßchen um die <span class="antiqua">plaza</span> lagen still und
+verlassen. Die schlichtesten Lehmbauten, die Läden vor der schon
+am frühen Morgen recht warm scheinenden Sonne herabgelassen, waren
+hier aneinandergereiht. Man hätte auch in Assisi oder sonst wo in
+Mittelitalien in einem verlorenen Bergstädtchen sein können!</p>
+
+<p>Welch wohltuende Ruhe in diesem alten Städtchen! Hier einmal dem
+Weltverkehr mit seinem Expreß, seinen Autos, Wolkenkratzern und
+Millionenstädten vollständig entronnen zu sein, war ein Labsal! Hier
+hätte ich am liebsten gleich vier Wochen zugebracht! Aber mich zog
+es noch weiter in die Bergwelt, die ringsumher ihr Haupt hob ...
+Freilich bis auf die Schneegipfel würde ich wohl nicht kommen, das
+war mir klar. Aber vielleicht auf die in mittlerer Höhe vor ihnen?
+Santa Fé selbst liegt schon 2147 <span class="antiqua">m</span> hoch. Die Gipfel, die seine
+mächtige Hochebene säumen, mögen wohl 4000 <span class="antiqua">m</span> hoch sein, und das
+„Mittelgebirge“ vor ihnen vielleicht gegen 3000 <span class="antiqua">m</span>. Das war also
+mein Ziel.</p>
+
+<p>Ich nahm gleich den nächsten Berg aufs Korn. Hinter der Stadt stiegen
+einige wegähnliche Gebilde durch die Felder und Weinberge bergan.
+Da mußte es emporgehen. Es war mir gleich wohin. Die Richtung nach
+Santa Fé zurück würde ich schon immer wieder finden. Im letzten Laden
+der Stadt verproviantierte ich mich ein wenig mit Brot, Konserven
+und eingemachten Früchten. Das sollte oben mein Mittagessen sein.
+Dann stieg ich wacker bergan ... Die Sonne schien<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> heiß, obwohl es
+noch zeitig am Morgen war. Immer noch kamen mir einzelne Mexikaner,
+den ausgezogenen Rock den Italienern gleich frei über eine Schulter
+gehängt, aus den umliegenden Orten, und auch vereinzelte Indianer in
+bunten Decken, einen holzbeladenen Esel vor sich hertreibend, den
+Hohlweg herab. Jedem von ihnen schaute ich nach und bestaunte sie:
+Leibhaftige Mexikaner und Indianer! So klein, braun und schwarz wie
+etwa bei uns die Zigeuner, mit denen sie als ursprüngliche Mongolen (?)
+vielleicht auch rassemäßig zusammen gehören.</p>
+
+<p>Von einer roten Farbe sah ich allerdings keine Spur. Vielleicht waren
+die roten Indianer weiter im Norden und Osten. In schwarzen langen
+Strähnen hing ihnen das Haar in den Nacken; es kamen nur Männer. Frauen
+und Kinder blieben wohl daheim in ihren „<span class="antiqua">pueblos</span>“, den fast
+fensterlosen und nur mit Leitern zu ersteigenden flachen Lehmhäusern.
+Bald aber kam niemand mehr. Was sie wohl von mir dachten? Hier und
+da sah einer dem Fremden nach. Ob schon je einer hier heraufstieg?
+Wenn nun ein paar vielleicht von ihnen heimlich umkehrten und mir
+etwa auflauerten? Mein kleines Taschenmesser wäre meine einzige Waffe
+gewesen, aber auf wie lange? Mit Revolver und Büchse war ich noch nie
+in die Wildnis gezogen ... In solche Rolle hätte ich mich auch nicht so
+leicht finden können.</p>
+
+<p>So stieg ich wohlgemut auf Schusters Rappen höher und höher. Den
+Hohlweg hatte ich verlassen, der schien mir zu weit ab und zu wenig in
+die Höhe zu führen. Rechts hinauf war noch eine Zeitlang so etwas wie
+ein Jäger- oder Wildpfad, der zwischen dem fast mannshohen stachlichten
+Gesträuch hinaufführte. Dann hörte auch der auf. Einige Fliegen folgten
+mir summend, sonst war es völlig still. Die Sonne meinte es sehr gut.
+Kein schattenspendender Baum war ringsum. Ein Wiesel huschte vor mir
+über den Weg und verschwand scheu. Im Gebüsch raschelte es manchmal
+wenig anheimelnd. Waren es Schlangen? Gar giftige? Ich mochte nicht
+erst untersuchen, sondern setzte meinen Anstieg, der immer steiler
+wurde, unentwegt fort. Hier lag ein gebleichter Ziegenschädel. Der Balg
+des Tieres war verschwunden.<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Und dort ein zerzauster Vogel. Hatten
+hier Kämpfe stattgefunden? Waren hier Raubtiere (Pumas?) in weidende
+Herden auf den Bergen eingebrochen? Gab es hier sonst noch Gefahren?
+Ich wußte es nicht und stieg bergan.</p>
+
+<p>Kein Mensch war weit und breit. Santa Fé lag schon eine sehr gute
+Strecke unter mir. Seine wohlgeformte Kapitolskuppel leuchtete in
+der Sonne, sonst schrumpfte alles andere des Städtchens auf einen
+ziemlich engen Raum zusammen. Ein Ruf wäre nicht mehr hinabgedrungen.
+Gab es auch hier oben Indianer? Friedliche oder räuberische? Karl
+Mays Indianergeschichten, einst in der Jugend verschlungen, tauchten
+in meiner Erinnerung wieder auf. Ich sah rauchende warme Skalpe
+am Gürtel hängen. Passierte das heute noch? Ich hatte noch nichts
+dergleichen in den Zeitungen gelesen. Zugüberfälle und Lynchjustiz an
+Negern, die weiße Mädchen überfielen, pflegten vorzukommen, aber auch
+Pistolenschießereien und Eifersuchtsszenen in den Südstaaten, wo das
+alte heiße und stolze Kreolenblut noch in den Adern rollt. Sollte ich
+lieber umkehren, um nicht etwas zu riskieren? Aber wozu? Vielleicht war
+ich hier oben sicherer als mitten in Chikago oder Neuyork. Sollte ich
+mich nachher vor mir selber schämen? Ich stieg weiter empor&#160;...</p>
+
+<p>Nach einer Weile hielt ich eine kleine Rast und schnitt eine Büchse
+mit in der Hitze besonders lieblich schmeckenden Aprikosen auf und aß
+von meinem Brote. Dann stieg ich höher. Nur Stechpalmen und Kakteen
+begleiteten mich noch. Vom Weg war schon lange keine Spur mehr. Nicht
+einmal Tritte waren zu sehen. Jeder Schritt mußte jetzt erobert werden.
+Dicht und dichter wurde das stachelichte Gebüsch. Aber die Schneegipfel
+ringsum hoben sich auch immer höher und unersteiglicher. Ich nahm
+mir einen Bergabsatz als Ziel, der mir noch erreichbar schien. Die
+Sonne stieg auf Mittaghöhe und leuchtete unbarmherzig vom wolkenlosen
+strahlend blauen Himmel. Endlich unter viel Schweißtropfen nach viel
+Klettern und Kriechen war das Ziel erreicht. Meine Hände waren blutig
+gerissen. Noch immer sah man Santa Fé, aber wie in einer tiefen Ebene
+gelegen. Wie hoch mochte<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> ich jetzt sein? Die Aussicht war überaus
+großartig. Wie stumme Helden umlagerte mich die Kette der Schneegipfel.
+Wie weltverloren zitterte dünn und fern der Pfiff einer Lokomotive
+herauf. Durch die weite Hochebene wand sich eine winzig kleine schwarze
+rauchende Schlange — der Sonntagszug. Als ich die Reste meines
+Proviants verzehrt hatte, schlief ich, ohne es zu merken und zu wollen,
+hier oben müde von dem dornigen, steilen und heißen Anstieg ein. Auch
+lag mir wohl noch die 39stündige Bahnfahrt von Chikago her in den
+Gliedern&#160;...</p>
+
+<p>Als ich wieder gestärkt von der herrlichen Bergluft erwachte, schaute
+ich mich verwundert um. Wo war ich? Ich merkte, daß ich geschlafen
+haben mußte. Ach, da unten lag ja Santa Fé. Ich war in Neumexiko, und
+diese Berge sind ja ein Stück Felsengebirge! Das ganz unbeschreiblich
+Eigentümliche meiner weltverlassenen Situation wurde mir wieder klar.
+Schlangen waren nicht gekommen, auch keine räuberischen Indianer
+hatten mich angefallen. Keine Moskitos hatten mich gestochen ... Ich
+zog die Uhr. Mittag war vorüber! Es war Zeit, schleunigst umzukehren,
+wieder unter Menschen zu gehen, wenn ich noch mehr sehen wollte. Wie
+gerne wäre ich weiter hinaus in die Bergwelt gestiegen, bis hin zu
+den Indianerpueblos und -reservationen, aber ohne jede Begleitung und
+besondere Ausrüstung war es doch wohl zu gewagt. Dazu gehörte vor allem
+Reittier und Führer&#160;...</p>
+
+<p>Der Abstieg ging natürlich viel rascher vonstatten als der Anstieg.
+In über einer guten Stunde war ich wieder in der Nähe der Stadt auf
+Wegen. Ich hatte einen kleinen Bachkañon mit Maultierspuren gefunden,
+wirkliche echte „Indianerpfade“, denen ich folgte. Denn alle Begriffe
+von Wegweiser, Farbzeichen, gebauten Wegen und etwa gar Ruhebänken
+wären im Felsengebirge eine bare Lächerlichkeit ...!</p>
+
+<p>Als ich wieder auf die „<span class="antiqua">plaza</span>“ kam, saß da jetzt die ganze Stadt
+unter den belaubten Bäumen versammelt. Wie bunt waren die Kleider der
+Mexikanerinnen! Bei den Weisen einer konzertierenden Kapelle saß man,
+plauderte, rauchte und sah in die Sonne ... ein genügsames Völkchen!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p>
+
+<p>Trotz ungewöhnlicher Wärme — es war noch Anfang April — ging ich
+am Nachmittag noch in anderer Richtung hinaus vor die Stadt, eine
+<em class="gesperrt">Indianerschule</em> zu besuchen, die der Staat zur Ausbildung
+und Erziehung tüchtiger indianischer Bürger eingerichtet hat. Die
+Schule war eine Art Internat und großes Pensionat, ein umfänglicher
+Gebäudekomplex mit Kapelle, Wirtschaftsgebäuden, Werkstätten, Wohn-,
+Lehr- und Schlafräumen und großen Spielplätzen. Als ich die Schule
+betrat, strömten die Indianerbuben, große und kleine, gerade aus
+der Kapelle aus der Sonntagsschule, alle in blauen Uniformen mit
+blanken Knöpfen, ihrer Schulkleidung. Dann stürmte alles hinaus aufs
+<span class="antiqua">camp</span> zum Spiel. Ich ließ mich zunächst beim Schulleiter, dem
+sogenannten „Superintendent“, melden und bat um die Erlaubnis der
+Besichtigung, was mir auch freundlichst gewährt wurde. Freilich auf
+eine lange Unterhaltung mit mir ließ sich der Herr „Superintendent“
+jetzt an seinem freien Sonntagnachmittag nicht ein, denn er war
+gerade mit seinem Freund, dem Arzt der Stadt, übrigens einem Herrn
+<em class="gesperrt">deutscher</em> Abstammung aus Michigan, beim Schachspiel. Das
+mochte er offenbar nicht unterbrechen. Er war zwar gemütlich und
+entgegenkommend, aber ein wenig unhöflich, indem er vom Schachtisch
+nicht einmal aufstand, um mir nur die Hand zu schütteln. Aber ich war
+es ja vielleicht auch, unangemeldet Sonntag nachmittag um halb vier Uhr
+ihm ins Haus zu fallen. Er fragte, ob ich nicht morgen wiederkommen
+könnte. Da wollte ich schon in die 1000 <span class="antiqua">m</span> tiefe Schlucht des
+Grand Cañon sehen ... Also das ging nicht.</p>
+
+<p>Der Schulsuperintendent klingelte seinem Adjutanten, einem der
+Lehrer der Anstalt, einem Mr. G. Der erhielt den Auftrag, mich zu
+führen. Was er auch in der allerausführlichsten Weise tat. Mr. G.
+war selbst Indianer(!), freilich in europäischer Kleidung wie alle
+die Indianerjungen. Schade! Wieviel romantischer hätten sie in ihrer
+Nationaltracht ausgesehen! Aber das nennt sich ja „Kultur“, alles
+Bodenständige, Individuelle und Originelle möglichst auszurotten
+und alles grau in grau zu nivellieren. So werden auch bald die
+zivilisierten Indianerjünglinge ihr höchstes Ideal darin sehen,<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span>
+Strohhut, Kravatte, Blusenhemd, Gürtel und Hosenfalten genau nach
+Neuyorker Vorschrift zu tragen ... Mr. G. führte mich durch die weiten
+Schlafsäle, in denen die Betten ebenso sauber und ordentlich in Reih
+und Glied standen wie in einem deutschen Schulinternat, dann in die
+Baderäume mit ihren Duschen. Waschgeschirr im Schlafzimmer kennt ja der
+Amerikaner nicht. Hier muß es ein unterhaltendes Schauspiel sein, die
+200 munteren braunen kleinen Kerle planschen und spritzen zu sehen.
+Dann gingen wir durch die Schulzimmer, wo sie an einzelnen Tischchen
+und auf Schemeln sitzen, in die Werkstätten, wo jeder irgendein
+Handwerk lernt, in die Anstaltsgärten mit ihren wohlgepflegten Feldern
+und Obstplantagen — welche Freude, diesen südlichen Reichtum zu sehen!
+— und endlich zuletzt in die katholische Kapelle, wo Franziskanerinnen
+die Sonntagsschule halten. Der „<span class="antiqua">disciplinarian</span>“ — das war
+Mr. G.s offizieller Titel — machte mich auch aufmerksam auf die
+Unterschiede an den Uniformen der Knaben, wer Kapitän, Adjutant,
+Leutnant u.&#8239;dgl. sei. Die Anstalt ist also nach dem Prinzip des
+amerikanischen <span class="antiqua">self governement</span> der Schüler ein sich selbst
+regierender Schulstaat, der der Jugend viel Spaß bereitet und mit
+großem Ernst von ihr bis zum Schulgerichtshof gehandhabt wird. Zu
+allerletzt führte mich Mr. G. in seine eigene Wohnung und stellte mich
+seiner Frau vor — einer geborenen Mecklenburgerin! Diese Landsmännin
+war in Santa Fé, Neumexiko, schon 18 Jahre mit einem Indianer
+verheiratet!&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_226">
+ <img class="w100" src="images/illu_226.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">DIE SAN FRANCISCO-BERGE IN ARIZONA
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_226_gross.jpg"
+ id="illu_226_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ich verabschiedete mich mit großem Dank von dem
+„<span class="antiqua">disciplinarian</span>“, ließ mich dem Herrn Superintendenten
+empfehlen und begab mich noch hinaus zu dem 20 Minuten abliegenden
+Spielplatz, wo die Indianerbuben jetzt ihren Sonntagnachmittagsbaseball
+spielten. Von fern sahen sie in ihren blanken Uniformen fast aus wie
+preußische Kadetten. Aber nun konnte ich sie auch recht in der Nähe
+betrachten. Von 10-16 Jahren waren alle Altersklassen vorhanden. Lauter
+braune stämmige Bürschchen und Burschen mit starken Backenknochen,
+langem schwarzglänzenden strähnigen Haar und einem leichten Anflug
+von Kupferröte auf den braunen Backen! Wie merkwürdig! Da<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> lernen
+nun die Kinder von „Adlerfeder“ und „Falkenauge“ usw., einst der
+Schrecken der Weißen, Englisch, Geographie und Geschichte, um einmal
+als Normalamerikaner in Denver oder Chikago oder wo sonst eine
+kaufmännische oder staatliche Stelle zu bekleiden und im Amerikanismus
+aufzugehen. Der Stammverband löst sich, ihre Religionen sind gestorben,
+die Götzenbilder wandern in die Museen, und der Medizinmann findet
+keinen Glauben mehr. Der Sinn für Krieg und Jagd ist dahin; sie sollen
+„<span class="antiqua">good citizens</span>“ werden. Reklameindianer bieten in ihren bunten
+Trachten auf den Bahnhöfen der Santa Fé-Eisenbahn ihre Erzeugnisse,
+bunte Teppiche und Töpfe, feil oder führen Nationaltänze in den Bars
+der großen Hotels auf. So endet die alte Geschichte der Indianer in
+der Neuzeit! Freilich die alten runzligen Weiber in ihren Perlschnüren
+und die am Feuer kauernden Männer in ihren bunten Decken sind kein
+dauerndes Menschheitsideal. Aber wehmütig war mir es doch, diese
+Indianerjungen beim Baseball statt beim Pfeilschießen und Pferdereiten
+zu sehen ... Im Garten der Anstalt saßen einige ihrer Väter mit
+braunen runzligen Gesichtern, fransenbesetzten Lederhosen und einem
+turbanartigen Tuch um das glänzend schwarze, langgeschorene Haar. Ein
+bißchen heroischer hätte ich sie mir allerdings vorgestellt ...!</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Am Abend zog nach dem heißen Aprilsonntag ein Gewitter auf. Stahlblau
+sammelten sich die Wolken an den Bergen. Über den Schneehäuptern
+zuckten gelbe Blitze. Sie spiegelten sich in den blendenden Fenstern
+des adligen Kapitols, dessen Kuppel aus seinen üppigen Gärten mich zum
+Abschied grüßte. Ich erreichte gerade noch vor dem Gewitterregen den
+Bahnhof und bestieg wieder den Zug nach Lamy, wo sich heute am Sonntag
+Abend am Bahnhof ganze Haufen von Indianern in voller Tracht tummelten.
+Es war immer derselbe Eindruck: Tiefbraune Gestalten, schwarze,
+langsträhnige Haare, bunte Umschlagetücher und befranste Hosen ... So
+erwarteten sie den Kaliforniaexpreß und boten während des Aufenthalts
+ihre ohne Tonscheibe geformten und mit der Hand schön bemalten Tonwaren
+an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<p>Es war schon dunkel geworden, und ich war wieder im Schlafwagen. Leider
+durchfuhren wir gerade jetzt in dieser Nacht eine sehr interessante
+Gegend am breiten und reißenden Rio Grande entlang, der fast doppelt so
+lang als der Rhein schließlich sich in den Golf von Mexiko ergießt. Wir
+passierten Albuquerque, wo sich die Eisenbahn nach dem Zentrum Mexikos
+abzweigt, nach El Paso, Chihuahua und Mexiko ... freilich eine Reise
+von hier etwa noch zwei Tage weit. Dürr, eintönig und wenig bewässert
+ist rings das Land. Yuccapalmen, oft vielemannshohe Kakteen und
+Wermutsträucher sind die einzigen Steppenpflanzen, die hier fortkommen.
+An den Berghängen gedeihen Föhren und Zedern&#160;...</p>
+
+<p>Als ich am Morgen erwachte, dehnten sich rechts und links der Bahn
+wieder ungeheure Hochwüsten, kahle Felsen warfen scharfe Schatten; die
+Luft war ganz trocken und rein. Sonniges Himmelblau spannte sich über
+einem rötlich schimmernden Lehmboden. Hier und da sah man halbwilde
+Rinderherden, die von Cowboys zu Pferde umstellt und umkreist,
+eingefangen und zur Tränke oder zum Transport getrieben wurden.
+Herden oft von mehreren hundert bis tausend Stück, ein wimmelndes,
+buntbewegtes Schauspiel&#160;...</p>
+
+<p>In Winslow — wir sind noch immer 1470 <span class="antiqua">m</span> hoch — war
+„Frühstücksstation“. Ja, wie das wohltut, einmal wieder aus dem
+ewigfahrenden Eisenbahnwagen auf 25 Minuten aussteigen zu dürfen,
+wieder nach einer durchfahrenen Nacht als Mensch auf dem Erdboden
+sich in freier Luft und Sonne zu ergehen und die steifen Beine wieder
+bewegen zu können! Alles stürmte aus dem wieder zur Heimat gewordenen
+Wagen in den „Speisesaal“ der Station. Zum ersten Male bedienten hier
+chinesische Kellner, ein Zeichen, daß wir uns Kalifornien näherten, das
+sein Angesicht schon gen Asien wendet. Was man also in Amerika alles
+antrifft! Das Bild wurde immer bunter: Neger, Indianer, Chinesen, dazu
+die ganze Völkerkarte Europas&#160;...</p>
+
+<p>Wohlgestärkt fahren wir wieder ab. Mit zehn Pullmanns und zwei
+Maschinen fauchen wir über die Hochebene. Nach etwa zweistündiger Fahrt
+stoppt der Zug auf ein Flaggensignal mitten in der Wüste.<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> Was ist los?
+Ein Unglück? Sind wir an einer Station? Bahnwärter oder Bahnbeamte
+u.&#8239;dgl. sind nirgends sichtbar. Ein paar braune Gestalten kauern unter
+einem Schuppen. Ein einziger Passagier „steigt“ tatsächlich „aus“,
+d.&#8239;h. er springt mit einem mächtigen Satz von dem sehr hohen Trittbrett
+auf das freie Feld der Wüste. Sein Gepäck wirft man ihm kurzerhand
+nach! Er dankt und winkt. Der Zug fährt weiter. Ob die braunen
+Gestalten ihn erwartet haben? So sehen also zum Teil „Stationen“ des
+Kaliforniaexpreß auf der Grenze von Neumexiko und Arizona aus! Hier
+kann man sich denken, wie leicht es unter Umständen sein muß, Schienen
+aufzureißen und Züge zum Halten zu bringen&#160;...</p>
+
+<p>Auf über 60 <span class="antiqua">m</span> hoher Brücke setzen wir über den berüchtigten
+„Diablo Cañon“. Hier haben sich einst blutige Kämpfe mit den
+Apachen-Indianern abgespielt. Am Horizont tauchen aufs neue hohe
+dunkelblaue Bergketten auf. Heiß steht die Halbmittagssonne über den
+sandigen Hügeln. Die kupfernen Drähte längs der Bahn blinken im hellen
+Sonnenlicht. In der Ferne erheben sich die kraterartigen Gipfel höher
+und höher; es sind die sogenannten „San Franzisko Mountains“, die aber
+von der gleichnamigen Stadt noch über 1000 <span class="antiqua">km</span> Luftlinie entfernt
+sind! Welch einen malerischen Kontrast bilden die gelbe unfruchtbare
+Wüste und das Tiefblau der Berge! Die Wasserscheide zum Stillen Ozean
+haben wir überschritten. Der Rio Grande war der letzte Fluß, der noch
+den Atlantischen Ozean im mexikanischen Golf erreicht. Inzwischen
+sind wir politisch auch schon in den Staat „Arizona“ eingetreten, der
+halb so groß wie das Deutsche Reich, doch nur wenig mehr als 100&#8239;000
+Einwohner zählt. Denn gut ein Drittel von ihm ist Wüste und ein Drittel
+Hochgebirge. Gemütlich liege ich im <span class="antiqua">reclining-chair</span> und schaue
+mir unverwandt auch diese neue Welt rings um mich an. Es war schön, so
+gemächlich durch Wüste, Wildnis und Hochgebirge gefahren zu werden.
+Man kann auch einmal auf ein Halbstündchen die Augen schließen und ein
+Schläfchen halten — und versäumt dabei doch nichts Wichtiges. Denn die
+Szenerie ändert sich sehr langsam, manchmal auf einen halben Tag nicht.
+Jetzt sieht<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> man draußen eine Zeitlang nur mächtige wilde Lebensbäume
+als das einzige, das die großartige Monotonie der Hochsteppe
+unterbricht. Das Leben im Zug ist inzwischen wieder wie das einer
+Familie geworden. Man kennt sich allmählich gut. Kinder tollen in den
+Gängen. Man tauscht Leid und Freud miteinander aus. Ab und zu tut man
+mehr aus Langeweile als aus Bedürfnis einen Gang zu dem Eiswasserfaß
+am Ende des Wagens. Schließlich wird man auch dazu zu träge. Der
+„<span class="antiqua">trainboy</span>“ bietet unaufhörlich Postkarten und Obst an. Es ist
+alles im Zuge vorhanden. Nur neueste Zeitungen fehlen; denn die aus
+Los Angeles oder Denver sind schon zu alt und ausgelesen. Aber etwa,
+während man durch Arizona fährt — vielleicht nie wieder im Leben! —
+irgendwelche Romane, es sei denn der berühmte Indianerroman „Ramona“,
+oder sonst wissenbereichernde <span class="antiqua">magazines</span> zu lesen, hielte ich in
+solcher Umgebung für ein Reiseverbrechen.</p>
+
+<p>Auf einmal setzte wieder dichterer Baumbestand ein, je mehr wir uns den
+majestätischen San Franzisko-Mountains nähern. Aber wie hat man auch
+hier mit den Baumbeständen gewüstet! Man gab sich in Amerika ja nicht
+immer die Mühe, regelrecht zu fällen und zu roden. Man brannte die
+Wälder einfach nieder, um anbaufähiges Land zu gewinnen, ein Verfahren,
+das vielleicht bei uns in und nach der Zeit der Völkerwanderung geübt
+wurde. Ganze Reihen halbverkohlter, an- und ausgebrannter Baumstümpfe
+bleiben einfach stehen und liegen, so daß die Wälder schauerlichen
+Ruinenstätten gleichen. Teilweise aber sind die Baumruinen auch
+furchtbare Zeugen ungeheurer Waldbrände, deren es in der Union
+an 300&#8239;000 im Jahre geben soll. Zu ihrer Auffindung verwendet man
+neuerdings staatliche Forstbeamte mit Flugzeugen, die eine Beobachtung
+auf große Entfernungen gestatten. Nun möchte man dem völligen Untergang
+der riesigen Waldungen des riesigen Landes doch nach Kräften wehren&#160;...</p>
+
+<p>„Flagstaff“! Nach etwa 100 <span class="antiqua">km</span> Fahrt von Winslow halten wir
+wieder einmal. Es ist halb zwölf Uhr mittags. Die herrlichste kühle
+Bergluft strömt zu den geöffneten Fenstern herein. Wir sind jetzt
+dicht<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> unter den imposanten, mit Neuschnee halb herunter bedeckten
+San Franzisko-Bergen. Die herrlichste Alpenlandschaft wie ein Berner
+Oberland breitet sich vor uns aus! Indianer hocken um ein Feuer
+gruppenweise in der Nähe der Station auf dem Waldboden. Einige weidende
+Pferde um sie herum. Auf dem Bahnsteig treffe ich auch einen deutschen
+Schlächter. Seine Eltern wohnen in Neuyork. Er ging „nach Westen“. Die
+erste Frage, die übrigens der Biedermann an mich, den Stammesgenossen,
+richtete, war: „Ob in Deutschland die Züge auch so schnell fahren und
+so fein sind?“ Ich habe gleich Ja gesagt. Da schaute er mich spöttisch
+und verächtlich an. Denn auch ihm ging schon nichts über Amerika. Es
+war gut, daß man wieder einsteigen mußte. An den hohen Bergketten
+selbst bauten sich reizende Holzhäuser im Stil der Schweizerhäuschen
+empor. Wie kühl, frisch, rein war hier alles! Von den Bergen, auf deren
+einem sich das Lowell-Observatorium befindet, wehte frische Schneeluft
+herab. Hier müßte man bleiben können! Eine idealere „Sommerfrische“ als
+hier, Tausende von Kilometern von aller Kultur entfernt, könnte ich mir
+kaum denken. Indianer als Bahnarbeiter schleppten mächtige Balken zum
+Verladen herbei. Der Holzhandel blüht&#160;...</p>
+
+<p>Nach weiteren 35 Meilen Fahrt sind wir am frühen Nachmittag in
+„Williams“, der Umsteigestation nach dem „<em class="gesperrt">Großen Cañon des
+Colorado River</em>“, meinem nächsten Ziel, das an Großartigkeit noch
+die Niagarafälle übertreffen sollte. Williams ist ein kleiner Ort,
+dessen Bedeutung der Viehtransport und -handel ebenso ausmacht wie
+der Transport der Reisenden nach dem einzigartigen Naturschauspiel
+Amerikas ... Von Williams aber hatten wir nach der Grand-Cañon-Station
+noch einmal beinahe drei Stunden auf einer Nebenlinie zu fahren,
+obwohl es nur als ein „kleiner Abstecher“ von der Hauptlinie angesehen
+wird. Täglich geht ein Zug im Anschluß an den Kaliforniaexpreß hin
+und her. Die Kleinbahn fuhr langsamer als der Expreß über das weite
+Koloradohochplateau, aber auch sie war recht komfortabel eingerichtet.
+Drei Stunden lang durchfuhren wir dieselbe Gegend! Die San
+Franzisko-Berge, durch die man früher<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> den Weg zum Grand Cañon nahm,
+blieben hinter uns. Kahle grasige Hochebene war jetzt das einzige.
+Echte Gebirgssteppe rechts und links, bevölkert hier und da nur von
+nach Tausenden zählenden Schafherden. Ein wenig war sie unserer wenn
+auch tiefgelegenen Lüneburger Heide vergleichbar, aber im ganzen viel
+öder, einsamer und unbewohnter.</p>
+
+<p>Unterwegs an Station Willaha halten wir länger, damit die Reisenden in
+der Nähe sich die gerade statthabende Schafschur, die hier maschinell
+im Großbetrieb erfolgt, ansehen können. Etwa 5000 Schafe sind im
+Pferch. Eins nach dem anderen wird wenig sanft gepackt, zu Boden
+gedrückt, zwischen die Beine eines starken Mannes geklemmt und die
+Schermaschine rasch über seinen Pelz weggeführt. Abgezogen wie eine
+Rübe oder Kartoffel und oft aus vielen Schnittwunden blutend wird das
+Tier dann nach wenigen Sekunden entlassen, um anderen Platz zu machen.
+Aber mit der sprichwörtlichen Lammesgeduld, ohne auch nur einen Laut
+von sich zu geben, ließen die Tiere alles über sich ergehen&#160;...</p>
+
+<p>Ein andermal halten wir bei einem kleinen, auf einem Stab angebrachten
+Blechbriefkasten. „<span class="antiqua">U.&#8239;S. mail</span>“ steht da. Sonst ist nichts weit
+und breit zu sehen. Alles schaut aus dem Fenster dem interessanten
+Schauspiel zu, das hier in der Wüste als wichtige Unterbrechung der
+Fahrt vor sich geht. Die kleine Postblechbüchse wird nämlich geöffnet
+und „geleert“! Und aus dem Zug werden einem herbeisprengenden Reiter
+zwei Postkarten und einige Zeitungen übergeben. Mit diesen sprengt er
+auf seinem dürren Gaul und in seinen schafpelzigen Hosen in die Steppe
+zurück und verschwindet im Busch. Post für die Cowboys! Ich denke an
+den Postverkehr der Millionenstädte. Welche ungeheuerlichen Gegensätze
+in demselben Lande!</p>
+
+<p>Draußen liegen einige trockene, wurzellos vom Sturm geknickte Föhren.
+Sie faulen und verwittern. Vor Jahrtausenden sind sie versteinert und
+heute zum Teil noch in allen Farben schillernd nach Form und Gestalt
+erhalten. Ganze Wälder von Lebensbäumen treten auf. Die Vegetation
+belebt sich. Ach könnte man bei den Cowboys einmal im Zelt schlafen
+und mit ihnen reiten oder auf die San Franzisko-Berge<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> steigen bis
+an den Schnee! Im Zug preist der Hotelportier der großen Cañonhotels
+immer aufdringlicher ihre unvergleichliche Unterkunft an, Wagenfahrten,
+Reittiere, Indianertänze, Zeltreisen und wer weiß nicht was ... Wir
+nähern uns also unserem Ziel.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Wir halten! „Grand Cañon-Station!“ Nur wenige Schritte, und wie beim
+Niagara wird eins der größten Naturwunder der Erde sich vor mir auftun
+...! Zuvor aber bestelle ich mir im Hotel „<span class="antiqua">Bright angel</span>“ ein
+Zimmer und lege mein Gepäck ab. Dann will ich in aller Muße und Ruhe
+das grandiose Naturschauspiel von hier oben genießen. Der Hotelportier
+ist zur Abwechslung — ein Schweizer! Ein prächtiger, urwüchsiger,
+unverdorbener Bursche, der seinen volksechten Dialekt unter den
+englischen Brocken noch nicht verlernt hat. Der Wirt war leider ein
+etwas allzutypischer, sehr wohlbeleibter, damals oft dem Gläschen
+am Büfett zusprechender Deutscher, der hier schon recht treffliche
+Geschäfte gemacht hat. Freilich ist der „<span class="antiqua">Bright angel</span>“ nicht der
+einzige, aber älteste und verhältnismäßig preiswerteste Gasthof, was
+bei mir neben den Naturschönheiten immer etwas mit ins Gewicht fiel&#160;...</p>
+
+<p>Und dann trat ich an den Rand des Cañon! Er übertraf wirklich
+alle Erwartungen! Man stand einen Augenblick wie starr vor dieser
+märchenhaft-titanischen Naturszenerie, die sich da auftat. Ich war
+noch nie von einem Naturschauspiel so wahrhaft im buchstäblichen
+Sinne überwältigt wie hier. Selbst der Niagara — unvergleichlich
+in seiner Art — tauchte daneben auf eine Weile in den Schatten der
+Erinnerungen. Ich war in den Alpen gewesen, im Berner Oberland vor der
+Jungfrau, im Allgäu, in Tirol, im Stubaier, im Ortlergebiet. Aber hier
+übertrafen die Ausmaße und die grandiose Wucht des Ganzen alles bisher
+Geschaute. Das konnten gleichsam nur götterhafte Riesen der Vorzeit
+aufeinandergetürmt haben. So empfand man. Ich stand und schaute ... Wie
+klein war man dieser Urwelt gegenüber! ... Was ist der Mensch, diese
+Eintagsfliege auf seinem uralten und urmächtigen Planeten ...?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
+
+<p>Eine wahrhaft ungeheuerliche mit Felstürmen, Plattformen, Nebencañons
+in allen Farben vom Violett und vollem Rot bis zum satten Dunkelgrün,
+Gelb und Weiß des Jurakalks schimmernde, unfaßlich weite, nach unten
+in gewaltigen Terrassen sich stark verengende Riesenschlucht tat sich
+auf. Mehr einem steinernen Zaubergarten, in dem sich heimlich Riesen
+ergehen, oder verwunschenen Riesenschlössern vorweltlicher Titanen und
+Götter mit Zacken, Zinnen und Türmen vergleichbar denn einem Felsental
+eines einzigen Stromes, das er in Jahrhunderttausenden ausgewaschen und
+eingefurcht hat.</p>
+
+<p>Oben steht man auf einem völlig flachen und platten, etwa 2000 <span class="antiqua">m</span>
+über Seehöhe befindlichen Steppenplateau, nur von winddurchwehten,
+niedrigen, knorrigen Föhren bewachsen, die sich da und dort zu Wäldern
+verdichten, und dann stürzt es dicht vor einem hinunter in wahrhaft
+gigantischen Stockwerken von jedesmal mehreren 100 <span class="antiqua">m</span> bis zur
+Fußsohle, die wieder in einer besonders scharf eingeschnittenen
+Felsenschlucht anderthalbtausend Meter unsichtbar unter dem Beschauer
+in der Tiefe des Cañons liegt. Gerade weil der Urheber des Cañons,
+der Koloradofluß, der in den kalifornischen Golf sich ergießt, völlig
+unsichtbar bleibt und doch wie Hephästus ständig in der Tiefe arbeitet,
+rauscht und braust, schafft und weiter sich einfrißt und an der
+Schlucht in alle Ewigkeit bohrt; wirkt das Ganze noch mystischer und
+unfaßlicher ... Mitten aber in den steinernen gigantischen Felsenöden
+erblickt man auf einmal bei schärferem Zusehen etwa 800 <span class="antiqua">m</span> tief
+unten eine kleine grüne Oase mit einem menschlichen Haus — eine
+zerbrechliche Menschenhütte in der Welt der Titanen! — das sogenannte
+„<span class="antiqua">halfway-house</span>“ (Halbweg-Haus) in der Hälfte des Abstiegs zum
+Koloradofluß. Man kann zu Fuß und auf Maultieren auf sehr steilem
+steinigen Zickzackpfad in die schaurige Tiefe hinabgelangen&#160;...</p>
+
+<p>Ich konnte mich von diesem riesenhaften Anblick nicht so bald trennen.
+Ich liebe es immer, auf hohen Bergen, an besonders großartigen Punkten
+der Natur auf Erden stundenlang allein zu weilen, um die großen,
+erhabenen Eindrücke und das feierliche Schweigen der immer grandiosen
+Natur in mich recht hineinzusaugen. Das ist mir dann Lohn<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> genug für
+alle Anstrengungen, Mühen und Ausgaben der Fahrt. So lag ich schon
+als Vierzehn- und Fünfzehnjähriger stundenlang auf den Höhen des
+Schwarzwaldes, etwa dem Hochfirst über dem Titisee oder dem Feldberg
+über dem Feldsee oder auf dem Sulzer Belchen oder Donon in den Vogesen,
+als noch niemand daran dachte, sie könnten je wieder französisch
+werden, und sog die ungeheuren Ausblicke über die Rheinebene, die
+Gipfelwelt des Wasgaus, den Anblick der vielen kleinen Dörfer und
+Städte in mich hinein. Wie in einem Tempel geweiht trat man dann den
+Abstieg und Heimweg an. Es war die Seele gleichsam auf Jahre hinaus
+geweitet. Alles menschliche Gezänke und Gejage erschien da oben so
+erbärmlich! Man war eigentlich grundsätzlich von ihm erlöst. Streit
+um Mode und Meinung, um Richtung und Partei zerfloß vor solchen
+Erlebnissen wie eine Lächerlichkeit. Es war etwas vom Geiste des
+Universums in das Individuum geströmt und hatte es frei gemacht. Wie
+kindisch erschienen nach solchen Eindrücken auf hohen Bergen die
+Menschen in den großen Städten, die den Hals so lang recken und den
+Kopf so hoch tragen, da einer auf den anderen herabsieht, weil der eine
+einen anderen Rock trägt als der andere oder dieser einen geringeren
+Beruf hat als jener. O über die erbärmlichen und kleinlichen Menschen!</p>
+
+<p>Stunden der inneren Erlösung werden am Rande des Cañon geschenkt —
+wenn nur nicht zwei Minuten hinter mir sich schon die „Kultur“ in
+Gestalt der Gasthöfe erhoben hätte samt den typischen Reisenden mit
+ihrem unnützen Geplauder und Gewäsche. Auf den Bänken am Rande des
+Cañon müßte etwa angeschrieben stehen: „Alles laute und oberflächliche
+Schwatzen und Lachen ist angesichts der großen Natur strengstens
+untersagt.“ Ich saß da, bis es dunkelte, und konnte mich nicht satt
+sehen. O das wunderbare Rot! Dieses strahlende Feuer des Gesteins um
+die Zeit des Sonnenuntergangs! Diese Riesenbauten, immer aufs neue
+großartig in ihrer schweigsamen Pracht! Letzte Sonnenstrahlen ließen
+jede Wand, jeden Sandfleck noch einmal rot, blau, violett, tiefgelb
+erstrahlen. Das Farbenspiel an den Wänden des Cañon war fast ebenso
+wundersam wie seine<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> Größe. Dazu der Kontrast der obersten weißen
+Juraformation mit den roten und braunen Gesteinsbändern. Hier versagen
+alle Beschreibungen. Wie ein aufgeschlagenes lebendiges Museum hat
+hier die Erdoberfläche alle ihre geologischen Geheimnisse enthüllt und
+ihr Inneres offen und furchtlos aufgedeckt. Man sah wie die letzten
+Sonnenstrahlen langsam aufwärts glitten. Was für Gründe und Schlünde!
+Wände wie flüssiges Feuer! Jetzt wurde die rote Schlucht von der
+Abendsonne nicht mehr erreicht. Aber der gelblichweiße Kalk leuchtete
+noch lange! Langsam erstarben auch diese Lichter. Der Abend kam. Die
+kühnen Riesenschlösser verdunkelten&#160;...</p>
+
+<p>Aus dem nahen Föhrenwald ritt eine Gruppe Indianer heraus. Eine
+bessere Staffage konnte ich mir zuletzt gar nicht wünschen. Unter
+ihnen ein Bursche mit zwei feuerroten Pferden, als seien sie dem Cañon
+entstiegen. Jetzt halten sie am Rande der Riesenschlucht. Auch für sie
+scheint er, obwohl gewohnt, ein immer neues unfaßliches Schauspiel.</p>
+
+<p class="p0 s5a center mtop2">Grabgesang für den indianischen Häuptling
+Schwarz-Amsel<br>
+(Aufrecht begraben auf einem lebenden Pferd am Felsenufer über dem
+Missouri.)</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Er ist tot,</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Häuptling,</div>
+ <div class="verse indent0">Ai! Ai! Ai! Ai!</div>
+ <div class="verse indent0">Krankheit überfiel ihn,</div>
+ <div class="verse indent0">Ihn, unsren Führer,</div>
+ <div class="verse indent0">Schmerzlich starb er dahin.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Zu seinen Füßen sind wir Krieger,</div>
+ <div class="verse indent0">Seine Kinder versammelt.</div>
+ <div class="verse indent0">Zerschnitten haben wir unser Fleisch</div>
+ <div class="verse indent0">Vor seinem Leib.</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Blut tropft auf die Weiden,</div>
+ <div class="verse indent0">Mit denen wir unsre Arme durchbohrten.</div>
+ <div class="verse indent0">Wir schlagen uns mit Weiden,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir betrauern unsren Bruder, unsren Vater,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir singen langsame Lieder</div>
+ <div class="verse indent0">Dem lauschenden Geist des großen Häuptlings</div>
+ <div class="verse indent0">Schwarz-Amsel.</div><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Gestern</div>
+ <div class="verse indent0">Unterm roten Himmel,</div>
+ <div class="verse indent0">Durch den die Sonne stürzte,</div>
+ <div class="verse indent0">Riefen sie dich,</div>
+ <div class="verse indent0">Deine Vorfahren</div>
+ <div class="verse indent0">Aus der Mitte des Himmels,</div>
+ <div class="verse indent0">Aus der dich umkreisenden Wolke</div>
+ <div class="verse indent0">Riefen sie deinen Namen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Er ist tot</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Führer</div>
+ <div class="verse indent0">Ai! Ai! Ai! Ai!</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Häuptling Schwarz-Amsel!</div>
+ <div class="verse indent0">Schlagt euch mit Weiden,</div>
+ <div class="verse indent0">Laßt tropfen euer Blut für ihn!</div>
+ <div class="verse indent0">Ihr habt den Todesgesang</div>
+ <div class="verse indent0">Euren Freunden gesungen,</div>
+ <div class="verse indent0">Den Gräsern der Prärie,</div>
+ <div class="verse indent0">dem Fluß,</div>
+ <div class="verse indent0">Der die Prärie</div>
+ <div class="verse indent0">Wie der Mond den Himmel schneidet.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sieh, wir richten dich auf.</div>
+ <div class="verse indent0">Das Blut unsrer Weidenwunden</div>
+ <div class="verse indent0">Tropft auf dich.</div>
+ <div class="verse indent0">Wir kleiden dich in dein Hemd aus weißem Bocksfell,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir knüpfen deine Gamaschen aus Bergziegenfell,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir legen um deine Schultern</div>
+ <div class="verse indent0">Dein Kleid aus dem Fell des jungen Büffelstiers,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir haken dein Halsband aus grauen Bärenklauen</div>
+ <div class="verse indent0">Um deinen Hals</div>
+ <div class="verse indent0">Und setzen auf dein Haupt</div>
+ <div class="verse indent0">Deinen Kriegshelm aus Adlerfedern.</div>
+ <div class="verse indent0">So hast du es befohlen.</div>
+ <div class="verse indent0">Ai! Ai! Ai! Ai!</div>
+ <div class="verse indent0">Schlagt euch mit Weidenruten!</div>
+ <div class="verse indent0">Du fährst fort von uns,</div>
+ <div class="verse indent0">Es ist Zeit für dich fortzufahren,</div>
+ <div class="verse indent0">Du trittst die lange Reise an.</div><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Hinauf auf die hohe Klippe</div>
+ <div class="verse indent0">Tragen wir dich.</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Blut tropft auf die Erde,</div>
+ <div class="verse indent0">Und dein Pferd,</div>
+ <div class="verse indent0">Dein weißes Pferd</div>
+ <div class="verse indent0">Geht mit dir,</div>
+ <div class="verse indent0">Es folgt dir nach,</div>
+ <div class="verse indent0">Sanft leiten wir es</div>
+ <div class="verse indent0">Deinem Körper nach,</div>
+ <div class="verse indent0">Deinem nicht mehr schweren Körper,</div>
+ <div class="verse indent0">Den der Tod zerschrumpft.</div>
+ <div class="verse indent0">Der Habicht fliegt</div>
+ <div class="verse indent0">Halbwegs zum Himmel,</div>
+ <div class="verse indent0">So wirst du halb über der Erde schweben.</div>
+ <div class="verse indent0">Auf hohem Ufer wirst du stehen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn wir dich aufstellen,</div>
+ <div class="verse indent0">Zittert die Erde.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Du bist tot,</div>
+ <div class="verse indent0">Doch du hörst unsren Gesang,</div>
+ <div class="verse indent0">Du bist tot,</div>
+ <div class="verse indent0">Doch wir heben dich auf dein weißes Wieselroß.</div>
+ <div class="verse indent0">Es zittert wie die Erde,</div>
+ <div class="verse indent0">Sein Fell zuckt</div>
+ <div class="verse indent0">Bei der leisen Berührung mit deinen Knien,</div>
+ <div class="verse indent0">Unser Blut schreit zu dir,</div>
+ <div class="verse indent0">Da es über die Blätter der Weiden tropft.</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Du leuchtest wie Sonne zwischen Bäumen,</div>
+ <div class="verse indent0">Du blendest wie Sonne,</div>
+ <div class="verse indent0">Die über Präriegras rinnt.</div>
+ <div class="verse indent0">Du durchbohrst unsre Augen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn die Donnerwolke sich empört gegen den Wind.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wer sollte das sein,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn nicht er, unser Häuptling?</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Ai! Ai! Ai! Ai!</div>
+ <div class="verse indent0">Stolz reitet er sein weißes Pferd,</div>
+ <div class="verse indent0">Seine Hauptfedern rauschen leis’ im Wind.</div><span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span>
+ <div class="verse indent0">Großer Häuptling,</div>
+ <div class="verse indent0">Vater des Volks,</div>
+ <div class="verse indent0">Der du schaust auf den kluftigen Hügel</div>
+ <div class="verse indent0">Und den langen beweglichen Fluß.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Der du gefaßt erwartest den Saum der Nacht</div>
+ <div class="verse indent0">Und das Kommen der Sterne,</div>
+ <div class="verse indent0">Bereit zu springen</div>
+ <div class="verse indent0">Den Sternweg mit der mächtigen Kraft</div>
+ <div class="verse indent0">Deines wundervollen Pferdes,</div>
+ <div class="verse indent0">Die Wolfsspur aufzunehmen,</div>
+ <div class="verse indent0">Mit dem Schrei des Erfahrenen</div>
+ <div class="verse indent0">Aufwärts zu reiten über den großen Himmel.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wir bewachen dich,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir begeistern dich,</div>
+ <div class="verse indent0">Wir schreien dir Beifall mit unsrem Jagdruf,</div>
+ <div class="verse indent0">Unsrem Schlachtlied.</div>
+ <div class="verse indent0">Zum Klatschen unsrer Weiden sollst du reiten,</div>
+ <div class="verse indent0">Und dein weißes Roß</div>
+ <div class="verse indent0">Soll dich hinter die Wolken tragen</div>
+ <div class="verse indent0">Hinter die unbeweglichen Sterne.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wenn die Wasser ruhen</div>
+ <div class="verse indent0">Und Nebel steigen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wirst du <em class="gesperrt">wieder erscheinen</em>?</div>
+ <div class="verse indent0">Dann werden deine Brüder, die Ottern,</div>
+ <div class="verse indent0">Aus den Wassern tauchen,</div>
+ <div class="verse indent0">Unter dem hohen Hügel</div>
+ <div class="verse indent0">Wird deiner Stimme starkes Echo tönen.</div>
+ <div class="verse indent0">Wie Metall wird deine Stimme</div>
+ <div class="verse indent0">Durch die Himmel dringen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Deine Kriegskeule wird durch die Räume hallen</div>
+ <div class="verse indent0">Wie deine Brüder, du Adler,</div>
+ <div class="verse indent0">Wird deine Stimme zu uns niederfallen</div>
+ <div class="verse indent0">Durch die Böschungen des Winds.</div>
+ <div class="verse indent0">Du wirst rund um die Welt gehen,</div>
+ <div class="verse indent0">Du wirst über und unter die Welt gehen,</div>
+ <div class="verse indent0">Du wirst zum Geisterplatz kommen.</div><span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Ai! Ai! Ai! Ai!</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn Regen kommt</div>
+ <div class="verse indent0">Auf den Schwingen der Krähen,</div>
+ <div class="verse indent0">Im Frühling</div>
+ <div class="verse indent0">Müssen wir die Stimme der Eule fürchten</div>
+ <div class="verse indent0">Allein in unsren Hütten,</div>
+ <div class="verse indent0">Nun, da du von uns gegangen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wie groß ist die <em class="gesperrt">Zahl deiner Schlachten</em>!</div>
+ <div class="verse indent0">Zur Nacht,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn die Hunde schweigen,</div>
+ <div class="verse indent0">Gehst du leise</div>
+ <div class="verse indent0">Über die Dörfer der Feinde, sie zu zerstören.</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ <div class="verse indent0">Tod bringe ich!</div>
+ <div class="verse indent0">Ich tanze auf denen, die ich töte!</div>
+ <div class="verse indent0">Ich skalpiere die, die ich töte,</div>
+ <div class="verse indent0">Ich lache über die, die ich töte,</div>
+ <div class="verse indent0">Heh — heh!</div>
+ <div class="verse indent0">Rot waren deine Pfeile wie des Grashüpfers Flügel,</div>
+ <div class="verse indent0">Hoch in der Sonne.</div>
+ <div class="verse indent0">Denn Feinde schämten sich vor dir,</div>
+ <div class="verse indent0">Bis du ihnen die Köpfe abschnittst</div>
+ <div class="verse indent0">Und ihren Skalp an deinen Zügel bandest.</div>
+ <div class="verse indent0">Nun reisest du allein,</div>
+ <div class="verse indent0">Reise die Wolfsfährte entlang,</div>
+ <div class="verse indent0">Müde zu den kleinen Sternen!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent4">Amerikanische Nachdichtung von Amy Lowell.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Die braunen Burschen mit Federn und Bogen, gestickten Mokassins und
+prachtvollen warmen, weichen Decken — angenehm jetzt in der wehenden
+Abendkühle — verschwanden in einigen nahen Lehmbauten, wo sie — man
+sieht es durch die offene Tür — ein Feuer entzündeten. Malerisch
+säumten ihre bunten Kopfbinden das langsträhnige glänzend schwarze Haar
+...</p>
+
+<p>Geschminkte und gepuderte reisende Damen kamen jetzt daher und
+richteten ihre Lorgnette auf die Söhne der Natur. Da wünschte ich<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> mir
+eine Geißel ...! Drinnen aber im <span class="antiqua">Hopi-house</span>, der Lehmhütte der
+angekommenen Hopi-Indianer, schaukelte friedlich ein Baby auf einem von
+der Decke an zwei Stricken hängenden Brett. Ein Älterer der Rothäute
+trat jetzt mit einer blitzenden Axt vor die Hütte, um Holz zu spalten
+und das Feuer zu entfachen. Diente nicht diese Axt wilderem Zweck? Am
+liebsten wäre ich zu der um das Feuer in der Hütte hockenden Gruppe
+gegangen und hätte mich unter sie gesetzt und mit aus ihrem Napf
+gegessen. Und Karl May war nie solcher Anblick vergönnt!&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Nach dem Abendessen im „<span class="antiqua">Bright angel</span>“ trat ich noch einmal an
+den Rand des Cañon. Der Mond übergoß jetzt mit blendendweißem Licht die
+grellbleichen Kalkfelsen, die da in den schauerlichen Grund abstürzten.
+Welch eigentümliches Licht! Aber auch hier fehlte die Komik der Kultur
+nicht. Elektrische Bogenlampen erhellten frech und frank rings die
+Nacht um das Hotel! ... Fledermäuse umschwirrten sie. Glühlämpchen am
+Cañon! Welche Stillosigkeit! Auf den Bänken saßen einige Hotelburschen,
+deren Arbeit zu Ende war, und sangen süßmelancholische Negerlieder aus
+Kentucky und Tennessee! Vor dem Hopi-house aber tanzte — verhülle
+dein Haupt — für ihnen auf den Boden zugeworfene Kupfermünzen
+die Gruppe der Hopi-Indianer indianische Volkstänze. Sieben bis
+acht Männer, Frauen und Kinder waren es. Es war ein merkwürdiges
+rhythmisches Stampfen und heiseres Schreien, das durch eine Rassel
+in der Hand unschön unterstützt wurde. Die Frauen tanzten barfuß mit
+Blumensträußchen in den Händen, bald neben-, bald hintereinander
+zierlich und rhythmisch sich wiegend, die Männer in ihren Mokassins.
+Indianertänze im bleichen Mondschein vor der Indianerhütte am Rande des
+Cañons waren also der letzte Eindruck dieses Tages! Den nahm ich mit in
+meine Träume der Nacht&#160;...&#160;—</p>
+
+<p>Für den anderen Tag hatte ich mir vorgenommen, den Abstieg auf dem
+schwierigen und sehr mühevollen „<span class="antiqua">bright-angel-trail</span>“ in den
+Cañon zu wagen. Aber nicht mit Maultier und Esel, Führer und Pferden,
+Zelten und Proviant, mit geputzten Herren und gepuderten<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> Damen,
+Dienern und Troß, sondern allein zu Fuß und mit ein paar Brotscheiben
+in der Tasche ... Allein, Auge in Auge, wollte ich der Nacktheit der
+Natur und den titanenhaften Schroffen des Kolorado gegenübertreten.
+Hoffentlich störte mich heute kein Menschenschwarm und -geschwirr,
+keine schwatzenden, beschleierten und lorgnettierenden Damen oder
+politisierenden Männer&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_244">
+ <img class="w100" src="images/illu_244.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SANTA CATALINA IM STILLEN OZEAN
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_244_gross.jpg"
+ id="illu_244_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ich nahm also einstweilen Abschied von der bewohnten Oberfläche der
+Erde, um mich in die Eingeweide ihrer Unterwelt zu begeben. So kam es
+mir vor. Oben blieb die Menschheit zurück, und ich stieg der Tiefe zu,
+wie der Bergmann in den Schacht fährt und der Taucher in den Ozean
+sinkt. Fast so war es mir zumute. Hoffentlich gab mich der Cañon heil
+der oberen Erde wieder. Je weiter ich stieg — jeder Tritt war mit
+Vorsicht zu wählen, und jeder Schritt eine kleine Leistung — desto
+ungeheuerlicher wurden die Ausmaße der Abstürze. Und so tief man auch
+hinabstieg, immer neue Felsenabstürze gähnten unter mir, immer ferner
+rückte die Randhöhe des Plateaus oben, immer weiter wurde die Spanne
+von Rand zu Rand der Riesenschlucht. Welche Entfernungen, welche
+Tiefe, welche Steilheit des Felsenpfads! Welch schauerliche Felsöden!
+Man kam sich vor wie in einem Riesengefängnis, das kein Schließer zu
+verschließen braucht. Drüben aber die in der Morgensonne leuchtenden
+roten Zacken, Zinnen, Türme und Wände, die noch kein menschlicher Fuß
+betrat.</p>
+
+<p>Etwa zwei bis drei Stunden bin ich mühsam allein hinabgestiegen. Kein
+Laut störte die Einsamkeit. Kein Vogel kreiste über den unfruchtbaren
+Felsmassen. Nur da und dort rollte ein Steinchen, das unter dem Tritt
+sich löste, springend, hüpfend mit ein wenig Geklirr in größere Tiefen.
+Es hallte der eigene Schritt wieder von den nächsten Felswänden.
+Ein paar niedrige Kakteen wuchsen zwischen den Steinen und ein paar
+blühende Anemonen&#160;...</p>
+
+<p>Ich landete auf einem Plateau, halbstündig im Geviert. Eine kleine
+grüne Steppeninsel inmitten der Felsmassen lag vor mir, von etwas
+quellendem Wasser berieselt. Das „<span class="antiqua">half-way-house</span>“, der Rastort
+der Touristenkarawanen, war erreicht. Ich kletterte noch vor bis<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> an
+den Rand des eigentlichen engeren Flußcañons, wo es schwarz und steil
+in die Tiefe geht. Aber weiter wage ich mich nicht. Ich hätte gerne
+dort unten meine Hand in den Kolorado gesteckt ... Aber jeder Schritt
+tiefer kostete zwei mühsame Schritte nachher wieder herauf. Und hinauf
+war es weit länger und anstrengender als hinab. Würde auch das Wetter
+halten? Der Himmel hatte sich dunkel umzogen&#160;...</p>
+
+<p>Ich mochte eine halbe Stunde am Rand des letzten Absturzes gelegen
+haben, wie Jakob das Haupt auf einen harten Stein gebettet, und hatte
+in die Felseinsamkeit und den Himmel gestarrt. Vom Kambrium bis zum
+Tertiär lagen wohlabgezeichnet alle Schichten von unten nach oben
+übereinander, rote Granite, dunkelbraune Gneise, mattgrüner Schiefer,
+dunkelroter Kalkstein, rot und weißgebänderte Sandsteinformationen und
+zuoberst hellgrauer Kalk. Von Rand zu Rand spannt die Riesenschlucht
+oben etwa 15 <span class="antiqua">km</span>, bis 1½ <span class="antiqua">km</span> ist sie tief, und der Fuß
+auf der Sohle ist noch an 100 <span class="antiqua">m</span> breit. Bei Hochwasser kann
+der Kolorado bis um 70 <span class="antiqua">m</span> steigen! Wie mag der erste Weiße,
+der Goldsucher Garcia Lopez de Cardenas im Jahre 1542 gestaunt und
+gebebt haben, als er diese teuflische Schlucht, die bis 350 <span class="antiqua">km</span>
+(also etwa von Berlin bis über Prag hinaus) lang ist, zum ersten
+Male erblickte! Was besagen diesen Maßen gegenüber alle die Klamms
+Oberbayerns oder selbst die Elbrinne unserer sächsischen Schweiz? 1869
+unternahm es zuerst der kühne Major J. W. Powell, den Koloradofluß
+durch den Cañon hindurch im ganzen 1600 <span class="antiqua">km</span> weit
+zu befahren!&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Ich hatte mich erhoben, um wieder anzusteigen. Und ich tat gut daran.
+Wolken und Nebel fuhren dichter über die Felszinnen. Ängstlich huschten
+die Eidechsen in ihre Steinritzen. Als ich eine kleine Stunde mühsam
+bergangeklommen war, brach um mich ein Schneesturm los! Im Nu tanzten
+wilde Flocken und hüllten mich ein. Kein Mensch war weit und breit.
+Orkanartig brauste es die Wände entlang. Verschwunden war mit einem
+Male der Zaubergarten samt allen seinen Farben. Im Schneesturm, in
+Nebel und Wind mutterseelenallein an eine Felswand gedrückt, wartete
+ich das Wetter ab. Der<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> Steilpfad war zwar kaum zu verfehlen. Ein
+Verlorengehen war nicht gut möglich. Und ein Tornado oder eine
+Windhose, die mich am Ende nach dem anderen Rande des Cañons entführte,
+würde ja hoffentlich nicht gerade kommen.</p>
+
+<p>Vorgestern noch in Santa Fé ein Sommergewitter und heute in derselben
+Höhe und Breite ein Schneesturm im April unter 36 Grad Breite! Welche
+Kontraste doch dieser Kontinent barg!</p>
+
+<p>Vom anstrengenden, steinigen, steilen und eiligen Steigen klopfte mir
+das Herz bis zum Halse hinauf. Eine Zeitlang barg ich mich in der
+schützenden Nische an der Felswand. Die Hände waren mir eiskalt, aber
+am Rücken troff mir der Schweiß! Das Schneegestöber nahm zu. Ich war
+früh aufgebrochen. Die reitenden Karawanen hatten es vorgezogen, oben
+zu bleiben oder waren auf dem Viertel Weg wieder umgekehrt. Als ich
+endlich nach viel Mühe, durchnäßt und durchfroren wieder oben war, lag
+der Schnee auf den Hoteldächern und der Terrasse! ... Man glaubte sich
+in eine Winterlandschaft des Riesen- oder hohen Erzgebirgs versetzt und
+wärmte sich gern am behaglichen Kamin mit seinen mächtigen glimmenden
+Holzklötzen&#160;...</p>
+
+<p>Die Nacht erquickte die vom Ab- und Anstieg ausgereckten Glieder
+wunderbar. Es war die zweite Nacht am Rande des Cañons. Wie würde
+morgen das Wetter sein?</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_22" href="#FNAnker_22" class="label">[22]</a> <span class="antiqua">Young men’s christian association.</span></p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_23" href="#FNAnker_23" class="label">[23]</a> Indianerdörfer.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_24" href="#FNAnker_24" class="label">[24]</a> Wanzen.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Nach_Kalifornien">Nach Kalifornien.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Am anderen Morgen war auch noch Nebel und Schnee. Die Tiefen des Cañons
+waren dicht verhüllt. So konnte ich also nicht einmal rechten Abschied
+von ihm nehmen. Wir fuhren erst wieder unsere drei Stunden bis an
+die Hauptlinie nach Williams: Pußta, Prärie, Heide — immer dieselbe
+Großartigkeit! In Williams ging es wieder — weniger angenehm nach
+der herrlichen Berg- und reinen Steppenluft — in die seit drei Tagen
+nicht gelüftete „<span class="antiqua">chair-car</span>“ des Chikago-Los Angeles Expreß, mit
+dem ich vor zwei Tagen hier angelangt war. Viele Auswanderer saßen
+wieder drin mit Kind und Kegel. Kalifornien ist seit dem Goldfieber
+von 1848 noch immer das Land der Sehnsucht aller<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> Auswanderer.
+Unaufhörlich geleiten die Pazifikbahnen den fremden Menschenstrom in
+das gelobte Land am Stillen Ozean ... Die Bahn senkt sich. Der Nebel
+streicht über die Föhren wie über irgendeine deutsche Heide. Weite
+blaue Bergländer tun sich in der durchbrechenden Mittagssonne auf.
+Wir halten in Ash-Fork, einer Bahnkreuzung. Aber es ist nicht mehr
+als ein Dorf, dessen Straßen aus Holzplanken bestehen! Die Häuser
+sind buchstäblich auf den Sand gebaut. Aber bald wird auch hier eine
+„<span class="antiqua">main-street</span>“ (Hauptstraße), ein paar <span class="antiqua">lunchrooms</span>, eine
+<span class="antiqua">general merchandise</span> sein, und wohl auch ein oder zwei kleine
+Holzkirchen stehen. Links und rechts erheben sich mächtige Kraterhügel,
+wie unvermittelt auf das Plateau aufgesetzt. Schnaubend zieht die Bahn,
+nach der Durchschreitung des felsigen Johnsons Cañon, wieder in die
+Höhe. Neue Aussichten über weite, wellige Hochländer öffnen sich. In
+gewaltigen Kurven dampfen wir das Grasland hinan. Und weit und blau
+spannt sich der Himmel über dem ungeheuren Lande. Wem gehört hier dies
+alles? Niemand? Die Dämme sehen alle noch recht frisch und unbewachsen
+aus. Einige armselige „<span class="antiqua">fences</span>“ (Hürden) zeigen einige private
+Besitzer an.</p>
+
+<p>In „<em class="gesperrt">Seligman</em>“ wird die Uhr zum viertenmal seit Boston um
+eine volle Stunde nachgestellt: Nun ist „<span class="antiqua">Pacific time</span>“! (Die
+Union ist ja etwa 17mal so groß als das Deutsche Reich, also rund
+viermal so lang und so breit. Darum kommen wir in Deutschland mit ein
+und derselben Görlitzer Zeit aus, d.&#8239;h. die Sonnenzeit in Köln und
+Königsberg differiert nur etwa um eine Stunde und die Görlitz-Berliner
+Zeit hält das Mittel inne.) Wir setzen auf wohlvollendeter Brücke
+über einen völlig wasserlosen Cañon. Dann dehnen sich wieder
+endlose gelbgraue menschenleere Steppen, blendend im Sonnenschein
+mit scharfabgezeichneten Schatten auf dem sandigen Boden säumender
+Bergreihen. Wie rein und klar ist hier die Luft und wie sonnig! Wenn
+ich jetzt alle die durchfahrenen Distanzen überdenke: Eine volle
+Nacht von Boston bis Buffalo! 15 Stunden von Buffalo nach Chikago.
+Und von Chikago bis zum Pazifik waren es vier Tage und drei Nächte!
+Bädeker hat recht mit seinem lakonischen Satz im Vorwort: „In<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Amerika
+lasse man alle engen Vorstellungen zurück.“ Wer Freude an einer
+wochenlangen, fortgesetzt wechselnden Bahnfahrt haben will, hat bloß
+zwei Möglichkeiten dazu, entweder mit der sibirischen oder einer
+amerikanischen Pazifikbahn zu fahren.</p>
+
+<p>Was für Zukünfte schlummern noch in diesem ungeheuren Land der Rassen
+und Schätze an Eisen und Kohle, Weizen, Mais und Baumwolle, Vieh, Gold,
+Quecksilber und Petroleum! Davon ahnen die kleinen Italienerkinder noch
+nichts, die im Mittelgang unseres Wagens einander fröhlich haschen.
+Die Geschwindigkeit läßt etwas nach. Kleine Steppenkolonien tun sich
+auf, deren Häuser wie kleine Badehütten an einer Düne stehen. Ein paar
+völlig weltverlorene Stationen, wo nichts weiter als ein Stationsschild
+mit Aufschrift die Haltestelle bezeichnet und ein paar Schuppen
+für Hirten stehen. Die einzigen Tiere, die man zu Gesicht bekommt,
+sind hier merkwürdig kleine, dünnbeinige, aber wahrscheinlich sehr
+ausdauernde Steppenpferdchen&#160;...</p>
+
+<p>Weiße Wölkchen stehen sonnendurchschienen am blauen Himmel. Im Wagen
+spielen die Männer gelangweilt Karten, essen, schlafen, schmökern
+aus Zeitungen, trinken Eiswasser und träumen von der Zukunft. Wer
+rauchen will, muß für eine Zeit den am Ende des Zugs befindlichen
+allgemein zugänglichen, aber engen <span class="antiqua">smoking-room</span> aufsuchen. Recht
+nachahmenswert!</p>
+
+<p>Ein Kolonistendörfchen mit etwa 15 Hütten zeigt sich unter ein paar
+grünen Bäumen. Ob nicht in zehn Jahren hier eine Stadt sein wird? Dann
+wird die Landschaft wieder steiniger, als es auch in der arabischen
+Wüste kaum sein könnte. Aber die Menschen erscheinen hier viel ruhiger
+und gelassener als im Osten. Es jagt sie keine „City“ mit ihren
+Untergrundbahnen und Autos. Die Natur ist auch zu groß hier für Hast
+und Hitze. Selbst die typischen kleinen Kirchen sieht man hier kaum
+noch. Sind die Menschen hier darum gottloser? Ich kann mir das in
+dieser Naturszenerie gar nicht vorstellen.</p>
+
+<p>Gegen Abend — wir nähern uns jetzt der Grenze des Staates Kalifornien
+— werden die Randgebirge wieder höher. Stundenlang geht es durch
+dieselbe eintönige Wüste. Leben hier wilde Tiere? Und<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> was für
+welche? Kein Wölkchen trübt mehr den purpurroten Abendhimmel.
+Unter einigen Kakteen, Yuccabäumen und Palmen hocken ein paar
+runzlige Indianerfrauen. Station Kingman. Das Gelände ist jetzt
+von ganz südlichem Charakter. Was wir daheim in Treibhäusern und
+Palmenhäusern bestaunen, wächst hier wild. 100 Meilen wieder seit
+Seligman! Dazwischen haben wir nicht <em class="gesperrt">ein</em>mal gehalten! Wozu
+auch? In den namenlosen Bergen und Felscañons? Rötlich schimmern die
+einsamen Bergketten im Abendlicht. Arizona trägt seinen Beinamen
+„das Land der schönen Sonnenuntergänge“ nicht umsonst. Sand um Sand,
+purpurschimmernde Kraterhügel wie von Riesenmaulwürfen aufgeworfen. Wie
+mit der Schere ausgeschnittene Bergketten, die sich scharf vom blanken
+Himmel abzeichnen.</p>
+
+<p>Hier könnte man sich, da die Stationen 100 Meilen auseinanderliegen,
+bei Nacht einen Zugüberfall sehr gut vorstellen. Tatsächlich fand
+einer gerade in dieser Gegend zwei Tage später, als ich schon in San
+Franzisko war, in der üblichen Weise statt, über die sich niemand in
+Amerika mehr aufregt: Schienenaufreißen, falsche Signale, Aufspringen
+auf die Lokomotive, Überwältigen von Lokomotivführer und -heizer,
+Durchsuchen des Packwagens, Einschüchterung der schlafenden Reisenden
+mit vorgehaltenen Revolvern ... Dann geht es wieder weiter. Man rührt
+sich nicht, und ohne Blutvergießen geht es vorüber! Aber was machen
+sie hier in den Fällen von Maschinendefekt und ähnlichem? Das mag eine
+hübsche Zeit dauern, bis hierher eine Reservemaschine kommt!</p>
+
+<p>In dem nahen Flußbett sieht man Wagenspuren. Wüsten um Wüsten. So
+hätte ich mir Arizona nicht vorgestellt, so einsam und verlassen. Wie
+völlig anders waren dagegen die Staaten am Atlantik! Und was soll hier
+wachsen? Endlose purpurn erglühende Bergzüge. Wie Goldkronen liegen die
+letzten Sonnenküsse auf den rückwärtsliegenden Felsbergen&#160;...</p>
+
+<p>Wir setzen über einen sehr breiten Strom. Es ist der Kolorado River,
+der den Cañon durchströmt; eine Ebene öffnet sich am Fluß. „Needles“
+ist erreicht am Eingang zum Goldland Kalifornien, genannt nach
+den<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> in der Ferne wie spitze „Nadeln“ aufsteigenden Porphyrketten.
+Die Bahnlinie hat sich wieder mächtig gesenkt. Die Hochebenen sind
+verlassen. In eiliger Fahrt war es in mannigfachen Windungen hinab
+dem Koloradofluß zugegangen, der hier kaum noch 200-300 <span class="antiqua">m</span> über
+Seehöhe aus den Bergschluchten tritt! Hier ist alles subtropisch, ja
+fast tropisch. Kaum aber daß ein bißchen Naß das Land besprengt, da
+sprießt es auch schon in ungeahnter Üppigkeit. Man sieht die Männer
+hier auch abends im Frühling nur in Hemdsärmeln.</p>
+
+<p>Es ist Zeit, das Abendessen einzunehmen. Wie ausgehungert eilt alles
+zu den Fleischtöpfen ... Geradezu mystisch schön sind die Tinten an
+dem unbeschreiblich kristallklaren Abendhimmel ... Dann geht es nach
+25 Minuten Aufenthalt wieder in die Nacht hinein. Die Mondsichel tritt
+klar und scharf heraus. Wir fahren durch die Mojawewüste. Ich wache
+in der Nacht einmal auf, als wir in Dudlow halten. Funkelnd steht der
+Orion am Himmel. Laut zirpen Tausende von Grillen durch die milde
+südliche Nacht. Von den San Bernhardinobergen sehe ich freilich nichts,
+auch nichts von den erloschenen Vulkanen und ausgetrockneten Salzseen
+der Mojawewüste&#160;...</p>
+
+<p>Aber wie verwandelt ist das Bild am Morgen! So wie wenn man durch den
+Gotthard fährt und auf der anderen Seite des Tunnels, nachdem die
+Wasserscheide der Alpen durchschritten ist, eine andere Welt findet.
+So wachen wir in der Frühe, als wir von den San Bernardinobergen (3500
+<span class="antiqua">m</span>!) in die Ebene in sausender Fahrt herunterfahren, bei feuchten
+Morgennebeln auf, die schon vom Stillen Ozean herandringen; das Berg-,
+Steppen- und Wüstenklima Arizonas ist völlig verschwunden. Es herrscht
+nebliges Seeklima. Um sechs Uhr rüttelt mich der Neger an der Schulter:
+Noch 40 Minuten bis Los Angeles! Aufstehen!</p>
+
+<p>Nun, da war es ja Zeit, sich zu erheben und wie immer auf dem
+Oberbett sitzend anzukleiden und sich fertigzumachen. Für die
+meisten Mitreisenden bedeutete die Ankunft in Los Angeles viel mehr
+als für mich! Die meisten kamen jetzt an ihr Lebensziel, in ihre
+neue Heimat, sowie wir etwa damals in Neuyork nach über 3000 Meilen
+Seefahrt<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> landeten, so „landeten“ sie jetzt nach einer Bahnfahrt von
+4000 <span class="antiqua">km</span> von Neuyork oder 3000 <span class="antiqua">km</span> von Chikago — also
+fast ebenso großen Entfernungen wie von Europa! — an der Küste des
+Stillen Ozeans. Als ich zum Wagenfenster hinausschaute, bot sich ein
+völlig veränderter, fast märchenhafter Anblick dar. Tagelang waren
+wir durch grasige Steppen und einsame Hochebenen, über sandige Wüsten
+und durch felsige Cañons gefahren, und jetzt fuhren wir auf einmal
+durch die ausgedehntesten prächtigsten Weingärten, vorüber an ganzen
+Alleen von Pfeffer- und Orangenbäumen, vorbei an den herrlichsten mit
+hohen Palmen bepflanzten Straßen und den saubersten, malerischsten,
+von den üppigsten Pflanzungen grünumrankten und unter Blütenpracht
+förmlich begrabenen Landhäusern und Landstädtchen. Zitronen und
+Eukalyptus, Orangen, Palmen und Wein, Akazien und Agaven, welche
+ein märchenhaftes Paradies, noch viel üppiger und blühender als das
+fruchtbare Oberitalien! Und Los Angeles’ Umgebung ist vielleicht wieder
+die Krone des ganzen herrlichen Landes. Aber, lieber Leser, sage das
+nicht laut in San Franzisko! Du könntest auf offener Straße dafür
+niedergeschlagen werden. Und jedermann würde es recht finden! Denn es
+gibt auf Gottes Erdenrund kaum zwei aufeinander eifersüchtigeren Städte
+als San Franzisko und Los Angeles, die beiden ehrgeizigen Königinnen
+Kaliforniens ... Wir halten. Ich steige aus. Am Ziel! Eine Welt von
+Bildern und Eindrücken, was mit zum Großartigsten der Welt gehört, war
+an mir vorübergezogen.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Los Angeles</em> hat einen schönen und stolzen Namen. Als spanische
+Gründung 1781 wurde es „<span class="antiqua">La Puebla de Nuestra Señora La Reina de
+Los Angeles</span>“ („Stadt unserer Herrin der Königin der Engel“)
+genannt. Erst seit 1846 ist es bei nur 1600 Einwohnern (!) amerikanisch
+geworden. Noch 1880 hatte es noch immer kaum 50&#8239;000 Einwohner, heute
+bald eine halbe Million. Als ich aus dem Bahnhof trat, sah ich zunächst
+noch nichts von seiner paradiesischen Herrlichkeit, noch von seinen
+130 Kirchen, eher konnte ich an seine 2000 Fabriken glauben. Schmutzig
+und düster erschien die nächste Umgebung. Der erste Kampf ging wieder
+einmal darum, mit heiler Haut aus dem<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> Geschrei der Kofferträger,
+Transferagenten, Hotelportiers, Autos und Kutscher herauszukommen.
+Lastwagen wirbelten auf den zum Bahnhof führenden Straßen genug Staub
+auf ... Ich sah japanische, chinesische Anschriften, den Fremden
+einladende Herbergen der Heilsarmee ... dann schlug ich mich durch bis
+zur Innen- und Geschäftsstadt. Banken, Läden, Warenhäuser wie überall.
+Es hielt mich diesmal auch nicht lange in der Stadt. Geschichtliches
+bietet sie gar nichts. Ich strebte so schnell wie möglich nach dem
+Stillen Ozean, von dem „die Stadt der Engel“ noch immer 35 <span class="antiqua">km</span>
+entfernt liegt!</p>
+
+<p>Möglichst rasch und entschlossen ging ich zu dem Bahnhof der
+ausgezeichneten elektrischen Lokalschnellbahnen, die nach jeder
+Richtung von Los Angeles in die Umgebung streben. Ich bestieg sofort
+einen Zug, der geradewegs nach San Pedro am Pazifik fuhr.</p>
+
+<p>Mit Schnellzugsgeschwindigkeit waren wir in 40 Minuten dort ... Noch
+war es wolkig, und Morgennebel lag über den Feldern. Erst ging es
+eine Weile durch weniger reizvolle Vorstädte, Chinesenviertel und
+Arbeiterquartiere und an allerlei Schuppen und Lagerhäusern vorbei.
+Dann kam ein Geländestreifen mit reizenden Landhäuschen, tief in das
+üppigste südliche blühende Grün eingebettet: Palmen, Gummibäume,
+Eukalyptus, Orangen, Rosen, Geranien, Yuccas und Granatbäume in
+paradiesischem Wechsel. Danach wieder lange unangebaute grasige
+Steppen. Die Gegend glich in manchem der zwischen Rom und Ostia in
+Italien. Zuletzt erhoben sich rechter Hand die San Pedroberge. Und
+vor uns dehnte sich gewaltig — der Stille Ozean! Wir hielten in der
+kleinen Hafenstadt San Pedro an der San Pedrobai.</p>
+
+<p>Grau und etwas wolkig mit mäßigem Wellenschlag lag der Stille Ozean
+da. Er schien seinem Namen Ehre machen zu wollen! Nun war mir an
+seiner Küste das Angesicht Asiens, Japans und Chinas zugewendet! Im
+Hafen lag ein großer Dampfer, der „President“, der gerade nach San
+Franzisko in See stechen wollte. Ein Stück weiter links schaukelte
+sich ein kleineres Dampfboot von nur 600 Tonnen, nicht viel größer als
+unsere Rheinschiffe, zur Abfahrt bereit nach der<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> sonnigen Insel Santa
+Catalina im Stillen Ozean. Sie ist 25 Meilen von der Küste entfernt,
+also etwa zwei Drittel soweit wie Helgoland von Cuxhaven. War ich
+einmal am Stillen Ozean, so wollte ich auch <em class="gesperrt">auf</em> den Stillen
+Ozean! Also schnell ein Billett gelöst und auf der Ozeannußschale, dem
+„Cobrillo“, eingeschifft!</p>
+
+<p>Nach kaum 20 Minuten stach er mit Menschen wohlgefüllt in See! Er
+fährt täglich einmal am Vormittag hinüber und am Nachmittag wieder
+zurück. Ich hatte es gut getroffen. Bald nach der Abfahrt hellte
+sich der Himmel langsam auf. Nach einer Stunde Fahrt verschwand die
+kalifornische Küste hinter uns. Man sah nur noch das Wasserrund des
+Ozeans. Nicht lange danach tauchten vor uns matte Linien ziemlich
+stattlicher Berge auf, die ersten Wahrzeichen des einsamen Eilandes
+draußen&#160;...</p>
+
+<p>Die Meerfärbung war noch eintönig grau. Mehrmals hielt ich die
+Dunst- und Nebelgrenze auf dem Wasser schon für die Küstenlinie,
+aber so schnell waren wir nicht dort! Die Dünung der See war mäßig,
+aber für das kleine Boot schon beträchtlich. Wir waren kaum zum
+Wellenbrecher hinaus, da erbleichten auch schon die meisten Gesichter
+der mitfahrenden Damen. Der kleine Kasten stieg tüchtig auf und nieder
+oder rollte rhythmisch von einer Seite auf die andere. Einige Frauen
+sanken blaß ihren Männern in die Arme, andere stürzten gleich mit dem
+Deckstuhl um ... Möwen folgten uns noch lange&#160;...</p>
+
+<p>Je näher wir dem Eiland kamen, desto deutlicher wurden seine Umrisse.
+Jetzt erkannte man auch schon Felsabhänge und kahle und grasige
+bis zu 600 <span class="antiqua">m</span> aus dem Meer ansteigende Bergabhänge auf ihm.
+Wie ein Blinklicht glänzte das helle Dach eines Sommertheaters uns
+entgegen. Solange wir auf See waren, war es fast kühl. Als wir nach
+zweieinhalbstündiger Fahrt in die Bucht von Avalon einfuhren, brach
+die Sonne leuchtend hervor, und eine wohlige Wärme empfing uns auf der
+basaltischen Insel&#160;...</p>
+
+<p>Recht spaßig war die Landung. Während wir in die Bucht hineindampften,
+empfing uns eine ganze Menge kleiner Ruderboote, aus<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> denen uns die
+Bootsführer schon auf ziemlich beträchtliche Entfernung ihre Hotels,
+Pensionen, Bars, <span class="antiqua">lunchrooms</span>, Wagen, Boote usw. durch das
+Sprachrohr anpriesen, mit echt südländischer Lebhaftigkeit einer den
+anderen überschreiend. In gleicher Weise wurden wir einst auf der
+ähnlich gelegenen und ähnlich anmutenden Insel Capri empfangen. Die
+meiste Reklame machte ein Boot mit einem „gläsernen Boden“, unter dem
+ständig ein nackter, brauner Schwimmer einherschwamm, um des Bootes und
+des Wassers Durchsichtigkeit zu zeigen! Auch ein Sport! Wieder andere
+tauchten unaufhörlich nach ins Wasser geworfenen Fünfcentstücken, deren
+sie in wenigen Minuten mehrere schwimmend und tauchend heraufholten und
+triumphierend und wie Seehunde triefend auf die nasse Ruderbank ihres
+Bootes zum Beweis und als Lohn niederlegten. Als wir endlich auch noch
+die prüfenden hämischen Blicke der Badegäste am Landungssteg passiert
+hatten, hielten wieder die <span class="antiqua">porters</span>, Agenten und Hotelburschen
+uns mit Geschrei und Anpreisungen auf; eine resolute Wirtsfrau aber
+übertönte sie alle, indem sie mit einer mächtigen Klingel in der Hand
+laut schellend vor ihrem <span class="antiqua">lunchroom</span> auf- und ablief, bis sie ihn
+voll Ankömmlinge hatte. Und Appetit hatte die Seefahrt ja gemacht&#160;...</p>
+
+<p>Dann erging man sich in den wundervollen sattgrünen und sonnigen
+Anlagen am Strande des Seebades, wo sich Hotel an Hotel und Villa
+an Villa reihte. Weit ins Innere begab ich mich nicht. Ich fand es
+am schönsten, mich an einer etwas abgelegenen und einsamen Stelle
+am Strande zu lagern und als freies Kind der Natur dem Spiel der
+ankommenden sich brechenden Wellen zuzuschauen und dem heiseren Bellen
+der plumpen Seelöwen zu lauschen, die nicht weit vom Strand auf
+wasserumspülten Klippen ihr lustiges Spiel trieben, bald mit ihrem
+glatten, geschmeidigen Körper ins Wasser gleitend, bald triefend wieder
+aufs Trockene emportauchend.</p>
+
+<p>Wie warm schien die Sonne auf Sand und Steine! Einige Möwen kreisten zu
+meinen Häupten. Ein ganz milder Wind wehte von der See herein: Leicht
+und klar umplätscherte mich das Wasser des Ozeans.<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Die Wiese herab
+blühten unzählige weiß und lila leuchtende Blümlein. Es waren einzige
+Stunden der Erholung und des Unberührtseins von Welt und Menschen.
+Nach einer Stunde kam den Weg an den Felsen entlang als einziger
+Mensch eine alte weißhaarige Dame geschritten, die ihren üblichen
+Nachmittagsspaziergang machte. Eine schwarze Dienerin trug und hielt
+ihr den Sonnenschirm über den Kopf. Wie sie mich plötzlich von ferne
+am Wasser im warmen Sand ruhend erblickte, kehrt sie erschreckt um.
+Die Taucher und der Glasbodenschwimmer lagen derweilen auch in ihren
+Bademänteln, auf neue „Arbeit“ wartend, am Strand unter den Hotels.
+Der „Cobrillo“ rauchte friedlich aus seinem Kamin in der Bucht.
+Die Seelöwen bellten immer noch, und die resolute Wirtin hatte ihr
+lautes Schellen eingestellt. Welche paradiesische Ruhe hier! Welche
+nervenstärkende Stille und wohlige Wärme an diesem glücklichen Strande!
+Und wie lockend mußte es sein, diese paradiesische Insel wie ein
+Robinson nach allen Richtungen zu durchstreifen&#160;...</p>
+
+<p>Um dreieinhalb Uhr rief der Cobrillo mit seiner Sirene wieder seine
+Fahrgäste zusammen, auf daß man noch zum <span class="antiqua">dinner</span> abends nach
+Los Angeles kommt. Vier Stunden Aufenthalt waren mir wie ein Tag auf
+diesem paradiesischen Eiland vorgekommen. Die See war jetzt ganz
+ruhig geworden. Die ersten Fahrgäste überschritten schon wieder den
+schwankenden Landungssteg und suchten sich gewitzigt von der ersten
+Fahrt die Mittelplätze beim Schornstein aus. Die Taucher gingen wieder
+an ihre „Arbeit“. Der nackte, braune Glasbodenschwimmer ruderte sein
+Boot hinaus. Da mußte auch ich meinen Strandwinkel verlassen und warf
+mich wieder in die Tracht des wohlbekleideten Kulturmenschen. Ach, daß
+das Schönste immer am schnellsten vorübergeht! Und es bleibt allein die
+Erinnerung&#160;...</p>
+
+<p>Bei völlig ruhiger See und vollem Sonnenschein stachen wir wieder auf
+dem kleinen Dampfer in See, dem Kontinent entgegen. Die Berge hoben
+sich in unserem Rücken wieder höher und höher. Eine alte spanische
+Missionskirche über dem Hotel Metropole und Grand View winkte uns den
+Abschied zu. Die Möwen flogen auch wieder<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> mit uns heimwärts. Und die
+Hochzeitspärchen an Bord hatten bei der Rückfahrt keine ungewollten
+Umarmungen mehr zu befürchten&#160;...</p>
+
+<p>Um sechs Uhr liefen wir wieder in San Pedro ein. In der Abenddämmerung
+rasten wir die 23 Meilen nach Los Angeles mit der elektrischen
+Schnellbahn in 40 Minuten zurück. Und als ich wieder nach diesem
+eindrucksvollen Ausflug die „Main Street“ durchschritt, brannten
+bereits die vornehm wirkenden Glaskandelaber in den Hauptstraßen
+von Los Angeles und machten sie zu wahren Wandelgängen unter freiem
+südlichem Himmel. Alles Volk, besonders die flirtende Jugend,
+zog die Hauptstraße unter den brennenden Kandelabern auf und ab,
+eine allgemeine südliche Mode wie in den Hauptstädten Italiens
+und Spaniens, wo man sich erst abends recht aus den Häusern
+wagt. Mein Abendessen nahm ich bescheiden in einem sogenannten
+„<span class="antiqua">help-yourself</span>“-Restaurant. Da tritt man zu den langen
+Büfettreihen selbst mit einem Tablett in der Hand, nimmt sich Teller,
+Messer, Löffel, Gabel und stellt sich selbst aufs Tablett an Speisen,
+die ständig am Büfett bereitstehen, was man begehrt. Bei dem letzten
+Büfettfräulein erhält man dann einen Zettel, auf dem sie alles
+blitzschnell addierend, angibt, was das selbstgewählte <span class="antiqua">Menu</span>
+kostet. Der Preis wird beim Ausgang an einer Kasse entrichtet.
+Äußerst praktisch wie alles in Amerika und zugleich auch recht
+appetitanreizend! Außerdem spart man die Ausgabe für Getränke und
+Bedienung, die ja bei uns oft noch ein Drittel Aufschlag bedeuten. Man
+ist auch schneller fertig, macht anderen Platz, wischt den Mund, stellt
+das abgegessene Geschirr zur Seite, bezahlt und geht, denn „<span class="antiqua">time is
+money</span>“. Ja hier gab es sogar noch Abendmusik gratis dazu!</p>
+
+<p>Dann ging ich auch einmal in ein „<span class="antiqua">show</span>“, ein einfaches Theater,
+um den Abend nützlich zu verbringen. Es hatte drei Ränge, die an fast
+gefängniskahlen Wänden umliefen. Der Vorhang war, ehe er aufging —
+echt amerikanisch! — mit Reklamen bedeckt! Das Theater saß ziemlich
+voll junger Leute, Weiße und auch Chinesen! Der Eintrittspreis war
+nicht gering. Das Spiel dauerte zweieinhalb Stunden. Aber es wurde
+dabei geraucht; andere aßen Orangen und Bananen.<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Die Schalen warf man
+einfach unter die Sitze! Erst kamen allerlei recht üppige Balletts,
+die anscheinend besonders den anwesenden Halbwüchsigen gefielen,
+dann trat eine tauchende Dame in schwarzem Trikot auf, zuletzt kam
+ein amerikanisches Drama: „Die City“, in dem die Gefahren und die
+schließliche Verzweiflung eines von der City Zermalmten geschildert
+wurden. Die Taucherin sprang und hüpfte und schwamm wie ein Aal; behend
+und schlank war sie wie ein Reh. In dem Drama wurde eine wohlhabende
+Bankierfamilie einer Landstadt geschildert: Sohn und Tochter streben
+nach Neuyork. Der konservative Vater warnt vergeblich. Ein natürlicher
+Sohn desselben fordert Geld von ihm und droht ihm im Weigerungsfall
+mit Erschießen. Das erregt den Alten so, daß er darüber stirbt, nicht
+ohne seinem rechten Sohn den Grund offenbart zu haben. Zehn Jahre
+später steht dieser vor seiner Wahl zum Gouverneur in Neuyork. Seinen
+Halbbruder hat er zu seinem Sekretär gemacht. Seine Schwester will
+sich von ihrem trunksüchtigen Mann scheiden lassen, weil sie ihren
+Halbbruder liebt, ohne um sein Geheimnis zu wissen. Ihr echter Bruder
+offenbart ihr, daß ihre mit ihm bereits heimlich geschlossene Ehe
+nichtig ist. Daraufhin erschießt verzweifelt der Halbbruder die Gattin,
+die seine Schwester ist. Er wird verhaftet und dem Gericht übergeben.
+Die Sünde der Väter rächt sich an den Kindern! Der Held des Stückes
+schließt: „Nicht die City verdirbt den Menschen, sondern der Mensch die
+City. Die City offenbart nur, wer sich in ihr zu behaupten vermag und
+wer nicht.“ Man ging ergriffen. Draußen umwogte einen die wirkliche
+„City“ mit ihrer Dollarjagd und ihren Versuchungen. Welch erschütternde
+Bekenntnisse hatten mir Freunde anvertraut! Es menschelt überall sehr
+und immer in gleicher Weise in der Welt, aber im ganzen scheint man in
+Amerika schamhafter und „moralischer“ zu sein, wenn auch oft prüder.
+Die Witzblätter dürfen nicht so offen geil wie zuweilen bei uns sein.
+Die Prohibition hat sicher auch hier ihre unschätzbaren Verdienste&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Am anderen Tag hoffte ich, Kalifornien, das allein so groß ist wie<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span>
+unser jetziges Deutsches Reich, zu durchqueren. Die Luftlinie von
+Los Angeles bis Frisko mißt etwa 600 <span class="antiqua">km</span>! Die Gesamtlänge des
+amerikanischen Kaliforniens beträgt aber etwa 1500 <span class="antiqua">km</span> oder
+die Entfernung von Memel bis Basel! Freilich beträgt die Breite
+durchschnittlich nur 300-400 <span class="antiqua">km</span>. Danach kann man sich ungefähr
+von seiner Größe eine Vorstellung machen. Die Einwohnerzahl beträgt
+freilich noch nicht zwei Millionen, von denen die reichliche Hälfte in
+den beiden wetteifernden Großstädten wohnt! Man fährt von Los Angeles
+15-16 Stunden mit dem Expreß nach San Franzisko. Ich teilte mir deshalb
+diese Strecke lieber, um unterwegs noch allerlei mitzunehmen.</p>
+
+<p>Volles sonniges, warmes Wetter begünstigte die Fahrt. Man bedauerte
+es fast, wieder in den Pullmann steigen zu müssen. Draußen lagen die
+pinienbewachsenen Berge im hellsten Sonnenschein; ihnen zu Füßen
+reifende Getreidefelder im April! Viermal wird hier im Jahr Gras
+geschnitten und Heu gemacht!</p>
+
+<p>Von der Fruchtbarkeit und Üppigkeit Kaliforniens machen wir uns
+in Deutschland ebensowenig eine zureichende Vorstellung wie von
+der Wüstenhaftigkeit des Felsengebirges und der Unendlichkeit
+der Mississippiebenen. Ich fuhr mit der „<span class="antiqua">Line of the thousand
+wonders</span>“ (Linie der 1000 Wunder) und war auf die „Wunder“ wirklich
+gespannt. Wie in Italien schimmerten von allen Höhen weißgestrichene
+Häuschen. Durch die Felder zogen Pflüge, von acht Maultieren gezogen.
+Rechts grüßten die Berge, links dehnten sich die strotzenden Felder,
+ganz leicht blau drüben lockte die Linie des Ozeans! Ganze Haine voller
+Oliven, als ob es graue Weiden wären, flogen vorüber.</p>
+
+<p>Neben mir sitzt, wie ich bald herausbekomme, ein alter
+Schleswig-Holsteiner, der als Junge in den fünfziger Jahren des
+19. Jahrhunderts schon herübergekommen war. Jetzt war er gut ein
+Fünfundsiebziger geworden! Er war nicht zurückgekehrt, weil er Preußen
+haßte und nicht beim Militär dienen wollte. Da ich ständig mit
+Notizbuch und Bleistift in der Hand zum Wagenfenster hinausstarrte,
+fragte er mich, ob ich Land kaufen wollte. Daß man bloß zum Vergnügen<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span>
+und zum Studium durch die ganze Union reisen könne, begriff er nicht,
+am allerwenigsten aber, daß ich wieder in die alte Heimat zurückwollte.
+Spöttisch fragte er mich — die typische Frage alter verbissener
+Deutschamerikaner — ob es jetzt in Deutschland auch Straßenbahnen,
+elektrisches Licht und Dampfheizung gebe, oder ob wir noch
+Petroleumlampen brennten und mit der Postkutsche führen? Er war nie
+wieder, verbittert wie er war, in die Heimat zurückgekehrt und konnte
+sich kaum vorstellen, daß auch bei uns jetzt modernes Leben herrschte.
+Vielleicht überzeugt ihn unser Zeppelin <span class="antiqua">Z III</span>, falls er ihn noch
+erlebte, wenn er als „Los Angeles“ die „Stadt der Engel“ besucht.</p>
+
+<p>Bald trat die Bahnlinie ganz dicht und höchst malerisch an den Ozean
+heran. Die felsigen Berge ließen nun kaum noch Raum für ihre Trasse.
+160 <span class="antiqua">km</span> lang fuhren wir an der kalifornischen „Riviera“ hin, die
+in der Tat der italienischen und französischen nichts nachgibt. Drüben
+über dem St. Barbara-Kanal sah man die felsige Insel Santa Cruz, die
+Hänge der Berge über und über mit Blumen übersät, als herrsche hier
+ewiger Frühling. Schäumend brachen sich die anrollenden Wogen des
+Ozeans an der Steilküste wie in Rapallo oder Nervi. Auf hoher See zog
+ein Dampfer mit langer Rauchfahne. War es der „President“ von gestern
+aus San Pedro? Wo sich das Land wieder ein wenig öffnete, zeigten
+sich goldgelbe Senffelder, in denen braune Spanier arbeiteten. Von
+ihnen stammt die Landbevölkerung vielfach besonders um die alten Sitze
+der spanisch-mexikanischen Missionen herum ab. Dann sah man wieder
+Gummibäume, Eichen, Oliven und weite Weidetriften. Und so oft die Bahn
+stieg, weiteste Aussicht über den blauen Ozean! Man wurde die Illusion
+nicht los, als ob man etwa zwischen Pisa und Genua fahre. Gelb und
+blau sind die Meeresabhänge in unbeschreiblich prächtigem Blumenflor.
+Es waren wirklich die „<span class="antiqua">thousand wonders</span>“ keine Phrase! Dann
+drängten uns mächtige Dünen vom Meer ab. Asphalt- und Petroleumquellen
+an und in demselben mit den die Landschaft entsprechend verunzierenden
+Essen und Fördertürmen tauchten auf&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_262">
+ <img class="w100" src="images/illu_262.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SANTA BARBARA<br>
+ Alte spanische Franziskaner-Mission
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_262_gross.jpg"
+ id="illu_262_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>Wir hielten in Santa Barbara, 100 Meilen von Los Angeles, dem
+amerikanischen „Mentone“, einem der Glanzpunkte der kalifornischen
+Riviera, zugleich einem der mildesten und geschütztesten
+Winterkurorte der Union, wo man keinen Winter kennt und auch keinen
+unerträglich heißen Sommer, eingebettet in Rosen und überragt von
+der alten historischen und höchst malerischen 1786 gegründeten
+Franziskanermission des berühmten Padre Junipero Serra. Die Bilder
+des Klostergartens mit seinem Kreuzgang, dem Refektorium, der
+weißgestrichenen Kirche und den braunen Kutten der Franziskaner
+zauberten ein volles Stück Mittelalter mitten in das modernste Land der
+Erde. Noch hatte kein Erdbeben es verwüstet.</p>
+
+<p>Weiter geht es an der Riviera entlang in 100 Meilen nach San Luis
+Obispo in einem weiten Wiesental. Es wird allmählich warm. In einem
+von der Mittagssonne blendenden Steinbruch arbeiten halbnackte,
+braunschwarz gebrannte Arbeiter. Denken wir im Anblick der Kapitols,
+<span class="antiqua">state-houses</span> und <span class="antiqua">skyscrapers</span> immer daran, wer ihre weißen
+Blöcke gebrochen und ihre Quadern behauen hat? Wieviel Menschenschweiß
+klebt doch an jedem Stein der Großstadt! Die Bahn steigt in mächtigen
+Kehren vom Ozean ab über das Gebirge der Luciaberge 400 <span class="antiqua">m</span>
+hoch durch sieben mit Holzplanken gestützte und ausgebaute Tunnels
+hinüber in das Salinastal, wo in weiten wegelosen Eichenhainen
+halbwilde Rinderherden fröhlich ihr Leben genießen. Ab und zu tutet die
+Lokomotive mächtig in die Welt hinaus, um Gegenzüge zu warnen, oder
+klingelt, um Wanderer von dem Schienenweg zu scheuchen. Die weitesten
+Strecken liegen hier noch unangebaut! Der alte Schleswig-Holsteiner
+hatte nicht so unrecht. Hier könnte man gut nach Land ausschauen. Was
+könnte hier aus den Weidetriften noch für ein Etschtal werden!</p>
+
+<p>Wie aus einem Kinderspielzeugkasten tauchten weißgestrichene Landhäuser
+zwischen dunklem Grün auf. Kleine, schwarze, scheinbar unansehnliche
+Schweine, halb verwildert, tummeln sich an einem kleinen Sumpf. In
+Salinas steige ich aus, um Monterey, die älteste Stadt Kaliforniens,
+einst vor San Franzisko und Los Angeles des Landes<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> Hauptstadt,
+aufzusuchen. Heute ist Monterey ein ganz stilles Landstädtchen von kaum
+2000 Einwohnern an der entzückenden, paradiesischen Montereybucht. Ein
+Wagen bringt uns auf herrlicher Straße zu einem der komfortabelsten und
+prächtigsten Hotels der Welt, Hotel del Monte. Seine Gärten und Parks
+sind weltberühmt, sie bergen in sich alle Pflanzenwunder Arizonas und
+Kaliforniens zugleich. Man wandelt unter Palmen und riesigen Kakteen,
+in Alleen von Rosen und Eukalyptus, unter immergrünen Steineichen,
+Pinien und Zypressen. Es dunkelte schon, als wir aus der Heide
+wieder ans Meer kamen. Geheimnisvoll tauchte wieder der Ozean, unser
+Begleiter, auf. Einsame Vögel kreisten am Abendhimmel. Schwarz zogen
+sich im Dunkel die Dünen am Strande hin. Letzte Lichter tanzten auf dem
+Wasser&#160;...</p>
+
+<p>Im kleinen Städtchen mit seinen alten, krummen und primitiven Straßen,
+deren Häuser meist nur ein- oder zweistöckig sind wie in Santa
+Fé, fühlt man sich bald nach Mexiko und bald nach China versetzt.
+Chinesischen Wäschern und Fischern begegnet man dort ebenso zahlreich
+wie den spitzhütigen Mexikanern. Und das Bild wird noch bunter durch
+die Uniformen der zahlreichen Soldaten des „<span class="antiqua">presidio</span>“. Abends
+promenierten sie alle durcheinander an den wenigen Läden, den einfachen
+<span class="antiqua">dairies</span>, <span class="antiqua">drug-stores</span> und <span class="antiqua">bars</span> entlang, die aber
+nicht viel mehr als erleuchtete hölzerne Buden waren. Besonders viele
+Aushängeschilder, mit denen zum Eintritt in das Heer aufgefordert
+wurde, sah man hier:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0">„<span class="antiqua">U.&#8239;S. Army. Young men wanted! Good pay! No
+expenses! Unusual opportunity for travel, education and
+advancement!</span>“<a id="FNAnker_25" href="#Fussnote_25" class="fnanchor">[25]</a></p>
+
+</div>
+
+<p>Nach einem Abendimbiß trete ich in ein Lokal der „Bethlehem-Mission“,
+in der gerade eine „Erweckungsversammlung“ stattfindet.<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> Sie verläuft
+ganz heilsarmeemäßig. Zwar ist sie nur halbgefüllt mit einfachen Frauen
+und Männern; auch Soldaten sind da. Eine Prediger<em class="gesperrt">in</em>, eine
+verhältnismäßig noch junge Dame, steht am Pult und redet unter Singen
+und Händeklatschen, wozu sie auch bei Haupt- und Kraftstellen die
+Anwesenden animiert, von der Notwendigkeit der sofortigen Bekehrung.
+Die Soldaten hörten ganz andächtig zu. Zur Bußbank kam freilich
+keiner. Da ich es nicht über mich brachte, meine religiösen Gefühle
+rhythmisch mit anderen zusammenzusprechen und unter Händeklatschen
+den Takt angebend zu begleiten, entfernte ich mich recht bald wieder.
+Die geistige Kultur, auch die religiöse, erschien mir zuweilen drüben
+noch recht primitiv! Vielleicht hätte die Predigerin auf Neger und
+Navajo-Indianer mehr Eindruck gemacht als auf mich. Freilich war ihr
+Eifer und sittlicher Ernst höchst anerkennenswert. Man stelle es sich
+etwa so vor: „<span class="antiqua">God is love</span>“ (klatsch, klatsch!) — „halleluja,
+halleluja, halleluja!“ (klatsch, klatsch!) usw. Das lag mir noch lange,
+aber nicht gerade angenehm im Ohr. Hier wirkt mehr das Exerzitium, die
+Routine und die Suggestion als freie Überzeugung. So preßt und knetet
+man Seelen, aber gewinnt sie nicht.</p>
+
+<p>Ein herrlicher Morgen brach anderen Tags an, wie es der vorige
+war am Santa Barbara-Kanal und der kalifornischen Riviera.
+Strahlendes Blau spannte sich über dem blendend weißgelben Strand
+und den sanft anrollenden Wogen mit ihrem ewigen Anprallen und
+Zurückschlürfen. Die chinesischen Fischer wuschen schon ihre Netze,
+als ich mich auf die Wanderung begab, den herrlichen und berühmten
+<span class="antiqua">seventeen-miles-drive</span><a id="FNAnker_26" href="#Fussnote_26" class="fnanchor">[26]</a> entlang zu gehen. Bei Pazifik Grove
+nahm mich ein kühler schattenspendender Fichtenwald auf, in Amerika
+eine Seltenheit. Mir gingen Schillers Zeilen im Kopfe um:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Und in Poseidons Fichtenhain,</div>
+ <div class="verse indent0">Tret’ ich mit frommem Schauder ein ...“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Immer üppiger wurde der Forst. Auch hier hätten Räuber kommen können
+und den deutschen Götterfreund erschlagen. Ob mich auch<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> Kraniche
+oder die Möwen der Monterey-Bucht gerächt hätten? Ich bin die
+komfortable Straße nicht ganz entlang gewandert, denn 17 Meilen wäre
+eine Tagesleistung gewesen, und ich wollte den Nachmittag noch nach
+San Franzisko. So strebte ich aus dem Waldesdickicht nach einiger
+Zeit wieder heraus und quer hinüber nach dem Strand des Pazifik. Denn
+der Ozean hatte es mir nun einmal angetan, so oft ich seiner habhaft
+wurde, ob es auf Coney Island oder an der Battery in Neuyork, in
+Shirley Point bei Boston oder an der Wasserfront in Chikago, in San
+Pedro oder auf Santa Catalina war. Das Meer übt seine magische Gewalt
+über den Menschen. Fast noch mehr als das Hochgebirge hat es etwas
+Feierlich-Erhabenes und Grenzenloses. Damit wird es zum Auslöser der
+größten Sehnsucht in uns. Am Meer umspannen wir mit der Phantasie
+gleichsam das Ganze der Welt: Was liegt da drüben hinter der letzten
+Wasserlinie? Es zieht uns mit seinen ewig gleichen Wellen weiter und
+weiter in die Welt hinaus. So lockte es alle Seehelden, daß sie Leben
+und Wohlfahrt in die Schanze schlugen und sich auf gebrechlichem
+Fahrzeug der ungewissen Weite anvertrauten, um neues Land zu erobern.
+Aber das Meer übt auch eine wunderbar gemütheilende Wirkung. Nicht bloß
+seine reine salzige Luft, sondern ebenso seine Weite und Größe. Sie
+macht alles Kleine unseres Lebens klein und alles Große groß:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Im Grenzenlosen sich zu finden</div>
+ <div class="verse indent0">Wird gern das einzelne verschwinden,</div>
+ <div class="verse indent0">Da löst sich aller Überdruß.</div>
+ <div class="verse indent0">Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,</div>
+ <div class="verse indent0">Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen,</div>
+ <div class="verse indent0">Sich aufzugeben ist Genuß.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Diese Goetheworte durchlebte ich, als ich wieder am Strande lag, mich
+ganz der großen Natur hinzugeben. Ich wollte ja auch nicht einen Rekord
+des Rasens durch einen Kontinent aufstellen, sondern zugleich mitten in
+allem Schauen und Lernen mich noch ein wenig selbst finden. Freilich
+war weder Boston noch Buffalo, weder Chikago oder sonst eine große
+Stadt erholsam, aber um so mehr der Tag am Grand<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> Cañon, die Stunden
+auf Santa Catalina und nun an der prachtvollen Bucht des für Amerika
+uralten Städtchens Monterey in Kalifornien. Schon 1602 waren hier
+die Spanier gelandet, als es noch kein Neuyork noch Boston gab, und
+nannten die Siedlung, die sie schufen, nach dem damaligen Vizekönig von
+Mexiko, dem Grafen von „Monte Rey“. Und so blieb „Monterey“ Hauptstadt
+des Landes bis zur amerikanischen Besitzergreifung 1846, zweieinhalb
+Jahrhunderte lang, denn lange gab es weder ein San Franzisko noch
+ein Los Angeles! Dann aber mit dem plötzlichen fabelhaft schnellen
+Aufschwung dieser beiden Handels- und Hafenstädte versank Monterey in
+seinen Dornröschenschlaf, aus dem es wohl nie wieder erwachen wird. Nur
+die „Kurgäste“ und Globetrotter, die die Bucht, das Hotel del Monte und
+Pazifik Grove besuchen wollen und den „<span class="antiqua">seventeen-miles-drive</span>“
+unter viel Getute und Benzingestank entlang kutschieren, bringen etwas
+Leben und Geld in den stillen malerischen Erdenwinkel, der noch immer
+mit seinem alten Zollhaus, seinen alten Forts und seiner katholischen
+Missionskirche ungefähr ein Bild der Zustände vor zwei, ja fast drei
+Jahrhunderten zu bieten vermag.</p>
+
+<p>Da wo ich mich in den feinen weißen Sand der Bucht, noch fast zwei
+Stunden vom Städtchen, einwühlte, war niemand als die goldene Sonne,
+die so warm und wohlig die in Tropfen blinkende Haut entlang rieselte
+und so sanft trocknete. Einige dicke Algen lagen angespült neben mir
+am Strand, so dick und hart wie Schiffstaue oder Gummischläuche;
+von den Seelöwenfelsen hörte man das heisere Bellen der spielenden
+glatten Tiere. Nautische Signalglocken erklangen melodisch unter
+Wasser, die bei Nebel den Schiffer vor den Klippen warnen sollen;
+Pinguine watschelten behäbig mit ihren leuchtenden weißen Westen auf
+den Felsenkanten und erhoben ein mörderisches Geschrei, als ich ihnen
+ähnlich froh und frei in die sacht anrollenden Wogen entgegenschritt.
+Gibt es einen herrlicheren Naturgenuß, als wenn die goldene Sonne
+uns auf Brust und Schulter küßt, wenn die reine Ozeanwoge spritzend
+uns umspült und wenn nur blauer Himmel Dach unserer Zelle ist? Warum
+wird uns solch Glück so selten zuteil?<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> Warum hüllen wir törichten
+Kulturmenschen uns auch im heißesten Sommer in so viel unnütze
+Kulturhäute? Wer vermag schneller und voller zu heilen als Licht, Luft
+und Sonne?</p>
+
+<p>Aber auch diese goldenen Stunden verrannen nur zu schnell. Ein paar
+Ruderboote nahten mit ächzenden Schlägen und scheuchten mich aus meinem
+sonnigen Bade. Auf der Düne lag das verlassene Wrack eines Segelbootes.
+Ein großer Dampfer zog am Horizont mit langer Rauchfahne vorüber. Kam
+er von Frisko und fuhr nach Los Angeles? Als ich mich angekleidet
+und wieder nach Monterey zurückkehrte, kam ich wieder an allerlei
+Fischerdörfern vorüber, wo die Chinamen ihren Fang sortierten, ihre
+Netze wuschen und mir recht erstaunt nachsahen. Auf einem Sandplatz
+übten die Soldaten&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Damit mußte ich der schönen Bucht von Monterey Lebewohl sagen. Ein
+Eilpersonenzug führte mich am Nachmittag nach San Franzisko. Mein
+meterlanges Rundreisebillett war nun allmählich schon recht klein
+geworden.</p>
+
+<p>Wieder ging es durch blühendes Obst- und Weingelände. Das scherte
+einige Gemütsmenschen im Wagen nicht, den Handkoffer auf den Knien
+als Tisch benutzend Skat zu spielen! Von der Kreuzung Pajaro ging es
+hinüber an den Santa Cruz-Bergen vorbei, die man auch in der Bucht von
+Monterey sich erheben sieht, in das Tal des Guadeloupe River. Wieder
+welch ein breites, schönes, wohlangebautes Tal! Etschtalerinnerungen!
+Die üblichen weißen Holzdörfchen mit ihren weiß angestrichenen
+Kirchlein erschienen.</p>
+
+<p>Golden stand die Abendsonne im Westen. Der <span class="antiqua">brakeman</span>, d.&#8239;h. der
+farbige Bremser oder Hilfsschaffner, schreit mechanisch die Stationen
+aus. Es steigen nur immer Leute zu, die „<span class="antiqua">to the city</span>“, nach
+„Frisko“ wollen. Es ist, obwohl April, so warm wie bei uns im Juli!
+Bei Santa Cruz, am anderen Ende der Montereybucht, steht noch ein Rest
+vollkommen vorgeschichtlicher Urwälder, ein Hain von 20 Riesenbäumen
+der sogenannten „<span class="antiqua">big trees</span>“, die zum Teil einen Umfang von 21
+<span class="antiqua">m</span> und einen Durchmesser von 7 <span class="antiqua">m</span> erreichen! Kaum sechs
+Männer<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> können sie umspannen! Ihre Höhe mißt 100 <span class="antiqua">m</span> und darüber!
+Ihr Alter wird zum Teil bis auf 3000 Jahre geschätzt! Manche sind so
+mächtig, daß Wagen bequem durch sie hindurchfahren oder 12 bis 14
+Personen auf ihrem Stumpf Platz haben können!</p>
+
+<p>Unser Zug eilte das Guadeloupetal hinab gen San José, an die Südspitze
+der 35 Meilen langen San Franzisko-Bai. Rechts hoch oben zeigte sich
+im Abendlicht scharf vom Himmel abhebend auf dem Mount Hamilton,
+der mit seinen 1354 <span class="antiqua">m</span> über der Bucht bald wie der Rigi über
+dem Vierwaldstätter See ragt, die berühmte Lick-Sternwarte wie ein
+weißer Punkt, eine der größten Sternwarten der Welt. Der Bürger James
+Lick hinterließ nämlich bei seinem Tode 1876 in San Franzisko ein
+Vermächtnis von 700&#8239;000 Dollars zur Begründung einer Sternwarte. So
+wurde sie eine der ersten und bestausgestatteten der Welt. Die Linse
+des großen Refraktors hat heute einen Durchmesser von 100 <span class="antiqua">cm</span>!
+James Lick selbst hat sich — höchst originell — im Fundament des
+Fernrohrs beisetzen lassen, so daß man also buchstäblich auf seinen
+Schultern stehend den Himmel beobachtet! Die Aussicht soll, wie sich
+denken läßt, überaus großartig sein, nicht weniger großartig als einer
+der unvergleichlichen Blicke durch das Rohr selbst.</p>
+
+<p>Bald tauchte auch links eine Merkwürdigkeit auf. Wieder eine
+echt amerikanische hochherzige Stiftung! So wie Rockefeller die
+gesamte Universität Chikago, eine der besten und großartigsten der
+Union, gestiftet und Carnegie fast jeder amerikanischen Stadt eine
+Volksbibliothek geschenkt hat, so hat nicht weit von der Station
+„Palo alto“, wiederum nach einem mächtigen Rotholzbaum so benannt,
+das Ehepaar Leland Stanford aus San Franzisko zum Gedächtnis an
+ihren einzigen früh verunglückten Sohn eine Universität mit einem
+Grundkapital von nicht weniger als 30 Millionen Dollars gestiftet; sie
+heißt daher „Leland-Stanford-Junior-Universität“. Man kann vor diesen
+großzügigen amerikanischen Stiftungen nicht Achtung genug haben. 1891
+wurde die Hochschule in prächtigster Umgebung und mit den prächtigsten
+und stilvollsten Gebäuden eröffnet. Man fühlt sich in ihren herrlichen
+Hallen und Gängen nach Athen zu Platos und Sokrates’<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> Zeiten versetzt.
+Das Gelände selbst gehörte einst dem Stifter und war ein über 3000
+<span class="antiqua">ha</span> großes Gestüt. Heute ergehen sich dort an 2000 Studenten,
+darunter Hunderte studierender Damen!</p>
+
+<p>Während unserer Weiterfahrt nahmen die Reklamen und die Besiedlung
+ständig zu, ein Beweis, daß wir uns einer Großstadt näherten ...
+Um acht Uhr mit Einbruch der Dunkelheit waren wir nach 137 Meilen
+Fahrt in San Franzisko, der „Stadt des Erdbebens“! Das war fast das
+einzige Konkrete, was ich von Frisko bis dahin wußte, und daß es
+der amerikanische Überfahrtshafen nach Japan ist, auch daß es am
+sogenannten „Goldenen Tor“ liegt.</p>
+
+<p>Ich trat aus dem Bahnhof. Das erste, was mir im Schein der Bogenlampen
+in der Stadt auffiel, war noch stark unebenes Pflaster und allerlei
+Unebenheiten in der Fahrbahn. Ja, manchmal waren ganze Buckel auf
+dem Bürgersteig, da und dort nur notdürftig mit Brettern und Steinen
+Löcher im Fahrdamm zugeflickt. Das waren die Spuren des Erdbebens! Zum
+ersten Male im Leben sah ich mit eigenen Augen seine Wirkungen und
+Verwüstungen. Aber sie waren doch noch viel größer als ich geahnt hatte
+...</p>
+
+<p>Nachdem unschöne Viertel mit allerlei <span class="antiqua">bars</span> und <span class="antiqua">shows</span>
+durchschritten waren, wo des Abends hier ein Heilsarmeesoldat und dort
+eine Negerfrau und hier sogar ein Chinese auf der Straße predigte
+— ausgerechnet in der einstigen Stadt der Goldsucher, Abenteurer,
+Verbrecher und der schlimmsten Korruption — bog ich in die glänzend
+erleuchtete und von Menschen nur so wimmelnde Market Street ein, wo
+sich alles erging wie in Los Angeles unter den erleuchteten Kandelabern
+der Mainstreet. Mächtige Geschäftshäuser, Banken und Hotels erhoben
+sich da. Nach der Stille der Monterybucht und dem Idyll auf Santa
+Catalina, den Santa Cruz-Bergen und dem Tal des Guadeloupe River
+umlärmte mich hier wieder die typische Großstadt, ja Weltstadt.
+Wenn auch San Franzisko Neuyork an Größe noch weit nachsteht — es
+hat nur ein Zehntel seiner Einwohner — so ist es doch mit seinem
+weltmännischen Gebaren das Neuyork des Westens. Schaut man von Neuyork
+nach Europa, so schaut man<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> von hier nach China und Japan. Der Blick
+ist beide Male gleich groß und weit übers Weltmeer gerichtet. Freilich
+trennt von Yokohama beinahe die doppelte Zeit und Strecke als wie von
+Southampton&#160;...</p>
+
+<p>Aus dem Bezirk der blendenden Lichtreklame, der <span class="antiqua">shows</span> und
+<span class="antiqua">moving pictures</span> strebte ich quartiersuchend in stillere Straßen.
+Bald stand ich fast völlig im Dunkeln, wo es nur noch bergauf und
+bergab ging. Rollende Drahtseilbahnen strebten zu steilen Hügeln
+hinauf, auf denen San Franzisko gebaut ist. Mein getreuer Bädeker, der
+noch im Jahre des Erdbebens erschienen war, ließ mich jetzt ziemlich
+grausam im Stich! Teils waren die Straßen, die ich suchte, vom Erdboden
+verschwunden, teils waren sie neu- oder anders angelegt. An ganzen
+Vierteln kam ich vorbei, wo Block an Block noch eine Wüstenei war. Den
+vollen Umfang der fast unvorstellbaren Katastrophe aber übersah ich
+erst im Hellen am anderen Tage. Und doch hatte die Energie und die
+Tatkraft der Amerikaner schon so viel wieder aufgebaut. Aber stärker
+noch als das Erdbeben hatte wie immer das ausgebrochene Feuer gewütet,
+das nicht zu löschen war, weil mit den entzündeten Gasrohren auch
+die Wasserleitungsrohre zerborsten waren und kein Wasser zum Löschen
+hergaben. Die Einwohnerschaft war in die Parks geflüchtet und mußte
+Häuser und Besitz ihrem furchtbaren Schicksal überlassen&#160;...</p>
+
+<p>Als ich schließlich in einem sehr sauberen und ordentlichen Privatlogis
+im Bett lag, konnte ich noch lange keinen Schlaf finden. Immer
+war mir’s, als bewege sich der Fußboden und das Bett wanke, denn
+zu unheimlich war der erste Eindruck all der Bodenerhebungen und
+geflickten Straßenstellen und der zerstörten Stadtviertel im Dunkeln
+auf mich als Fremdling gewesen&#160;...</p>
+
+<p>Anderen Tages, als die Sonne schien, war es mir fast wie eine
+Beruhigung. Das Haus stand noch fest, auch die Stadt lag noch
+ruhig wie tags zuvor. Ich bestieg einen der echt amerikanischen
+„<span class="antiqua">observation-cars</span>“, der Stadtbesichtigungsautomobile, die ja
+auch zu uns herübergekommen sind, und ließ mich mit einer ganzen
+Schar auf den amphitheatralisch angeordneten Sitzen durch die Stadt
+fahren. Vorn<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> stand der Ausrufer mit dem Schalltrichter, der uns genau
+erklärte, wo und wie das Feuer ausbrach, und zeigte, wie weit es um
+sich gegriffen hatte. Man sah noch immer deutlich die Feuerlinie
+und die Stellen, wo es zum Stillstand gekommen war. Gerade das
+Zentrum der Stadt war heimgesucht worden; die äußeren Wohnviertel
+blieben verschont. Aber keineswegs waren alle Wolkenkratzer zuerst
+eingestürzt. Im Gegenteil, manche hatten gerade dank ihrer festen
+Konstruktion aus Eisen und Beton standgehalten. Aber das Stadthaus,
+die prunkvolle kuppelgeschmückte <span class="antiqua">city-hall</span> war trotz ihrer
+sechs Millionen Dollar Baukosten in 20 Sekunden ein Opfer ihrer zum
+Teil betrügerischen Konstruktion geworden. Denn sie stammte noch aus
+der Zeit der Korruptionswirtschaft. Nach dem „Feuer“ — davon spricht
+man in der Stadt selbst viel mehr als von dem „Erdbeben“, wovon man
+Stöße wohl öfter verspürt, ohne sie sonderlich zu achten — baute
+man das Geschäftszentrum zuerst in eingeschossigen Baracken und
+Holzgeschäftsbuden notdürftig wieder auf und es hieß: „<span class="antiqua">business as
+usual</span>“. Aber bald begann die Periode des völligen Wiederaufbaus&#160;...</p>
+
+<p>Geradezu ungeheuer war der Ausblick auf die Zerstörung im ganzen. So
+furchtbar hatte ich es mir nicht gedacht!<a id="FNAnker_27" href="#Fussnote_27" class="fnanchor">[27]</a></p>
+
+<p>Allmählich fuhr uns das Besichtigungsauto aus der Stadt heraus
+— die wie immer die amerikanischen Großstädte außer Hotels und
+Geschäftshäusern sonst wenig Originelles und Bemerkenswertes bietet
+— zu dem berühmten Goldengatepark, der zwischen der Stadt und der
+Steilküste des offenen Ozeans liegt. Die Stadt selbst ist nicht
+unmittelbar am offenen Pazifik gebaut, sondern an der Bucht, die
+sich durch die etwa 1½ <span class="antiqua">km</span> breite Öffnung des „Goldenen Tors“
+einzigartig 10 <span class="antiqua">km</span> breit und bis 85 <span class="antiqua">km</span> lang ins Land
+hinein erstreckt. Sie erinnert an Konstantinopel und den Bosporus.
+Im Norden wird sie malerisch von dem fast 900 <span class="antiqua">m</span> hohen Mount
+Tamalpais und im Osten von der Schneekette der Sierra Nevada (über 4000
+<span class="antiqua">m</span>!) überragt.<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> Von Süden schaut auf sie der Mount Hamilton mit
+der Lick-Sternwarte von fern hernieder. Ein herrliches Landschaftsbild,
+groß und glänzend in seinen Ausmaßen!</p>
+
+<p>Hatte der Ausrufer uns bisher unter anderem „<span class="antiqua">the largest
+apartement-store <em class="gesperrt">in the world</em></span>“ gezeigt, so hieß es jetzt
+„<span class="antiqua">the most beautiful park in the <em class="gesperrt">world</em></span>, <span class="antiqua">the prettiest
+and largest tennis-lawns in the <em class="gesperrt">world</em></span>“. Am Golden Gate
+selbst wartete auf uns gar „<span class="antiqua">the largest salt-water-bath-house <em class="gesperrt">in
+the world</em></span>“. Je weiter man in Amerika nach Westen kommt, desto
+voller wird der Mund genommen und desto überzeugter ist man, das Größte
+und Beste von allem „<em class="gesperrt">in der Welt</em>“ zu besitzen. Höchst spaßhaft
+war es für mich als Deutschen, als wir im Goldengatepark an einer
+Nachbildung von Rauchs Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal vorbeifuhren
+und der Ausrufer durch den Trichter uns anbrüllte: „<span class="antiqua">Mister Gois änd
+Mister Skill</span> (so ausgesprochen!!), <span class="antiqua">two German poets!</span>“. Die
+anderen Amerikaner, Japaner, Engländer und was sonst da oben saß, nahm
+auch davon wohlgefällig Kenntnis wie von einem <span class="antiqua">drug-store</span> oder
+einem neuen Hotel.</p>
+
+<p>An den Felsen des einstigen stolzen „<span class="antiqua">Cliff-house</span>“, eines höchst
+komfortablen und aussichtsreichen, aber kürzlich auch durch Feuer
+zerstörten Strandhotels rollte der offene pazifische Ozean an. Ein
+dumpfes Brausen, in das sich wieder das heisere Bellen großer Scharen
+mächtiger Seelöwen mischte, die drüben auf den „<span class="antiqua">seal-rocks</span>“
+ihr Wesen hatten. Leider war es etwas unsichtiges Wetter; aber um so
+geheimnisvoller rollten aus dem Nebel die mächtigen Wogen heran. Am
+Strande lagen viele einfache Familien mit Kind und Kegel und genossen
+hier ein billiges Sonntagvormittagsvergnügen. Nur flogen zu hunderten
+und tausenden ihre Butterbrotpapiere höchst malerisch am Strande
+herum! Einige Sandplastiker formten berühmte Köpfe wie Washington,
+Lincoln, Grant, Garfield, auch so mancher eine von der See mit ihrem
+Kind ans Land gespülte ertrunkene Frau, ja den berühmten Löwen aus dem
+Gletschergarten von Luzern höchst treffsicher und eigenartig aus dem
+Sand ... Aber der immer stärker einsetzende kühle und feuchte Nebel
+lud heute nicht zu allzulangem<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> Verweilen ein. Merkwürdig, über dem
+Park und der Stadt schien die Sonne, aber vom Ozean heran kroch der
+Nebel, über dem das Haupt des Mount Tamalpais wie eine sagenhafte Insel
+schwamm&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Am Nachmittag setzte ich mit einer der großen und trefflichen Ferrys
+über die weite seeähnliche Fläche der blauen Bai hinüber nach Oakland,
+dem Brooklyn San Franziskos, der Stadt der schönen „Eichen“alleen,
+von denen die Stadt den Namen hat, um Berkeley, den Sitz der
+prachtvollen staatlichen Berkeley-Universität, zu besichtigen. Auf
+einem Gartenpavillon wehte eine deutsche Flagge — wie das anheimelte!
+— und auf der Straße hörte ich einen Mann ganz unverfälscht schwäbeln.
+Gern hätte ich auch den Mount Tamalpais bestiegen, aber in Berkeley
+hatte ich es übernommen, Verwandte meines guten Harvardfreundes W. zu
+besuchen. Ich hatte den Besuch auch nicht zu bereuen, denn die Tochter
+des Hauses, selbst Studentin, führte mich in der wundervoll in Parks
+und Gärten gelegenen Berkeley-Universität überall kundig umher. Durch
+die märchenhaftesten südlichen Haine von Sykomoren, Oliven, Palmen
+und Kakteen wandelten wir in sinnende wissenschaftliche Gespräche
+vertieft zu dem prächtigen, in griechischem Stil erbauten „Theater“,
+in dessen offenem Halbrund ein ausgezeichnetes auch überall sehr gut
+wahrnehmbares Sonntagskonzert gegeben wurde. Von den Parkhügeln aber
+ergoß sich ein bezaubernder Rückblick auf die weite blaue Bucht und
+die ferne Stadt ... Freund W.s Verwandte hätten mich gern gleich da
+behalten, und ich hätte gleich von Oakland die Weiterreise fortsetzen
+können, aber einmal hatte ich mein Gepäck nicht da, und dann gab
+es in Frisko noch manches andere zu sehen. Auch wollte ich die
+Gastfreundschaft völlig Unbekannter doch nicht zu sehr in Anspruch
+nehmen und fuhr noch vor Abend mit dem Fährboot wieder herüber.
+Schon die Fahrt lohnte sich! Mit voller Glut sank die Sonne über dem
+Goldenen Tor, es wahrhaft vergoldend, während sie früh über den hohen
+Schneehäuptern der Sierra Nevada heraufzusteigen pflegt. An den Molen
+und Bahnlinien blitzten die ersten Lichter auf&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
+
+<p>Ich wollte von Frisko nicht abfahren, ohne daß ich auch seiner
+<span class="antiqua">chinatown</span> einen Besuch abgestattet hätte. Den Abend pilgerte
+ich daher ein wenig in das Chinesenviertel der Stadt, das von etwa
+10&#8239;000 Gelben bewohnt wird. (Mit dem Einwanderungsverbot hat ihre Zahl
+stark abgenommen. Sie war früher viel höher.) Man soll zwar abends
+nicht ohne Geheimpolizist sich dorthin begeben! Aber so wie ich mich
+in Santa Fé arglos ohne Weg und Steg auf einen Berg der Rockies begab,
+so bummelte ich auch hier des Abends gemächlich <span class="antiqua">tutti solo</span>
+in die <span class="antiqua">chinatown</span> hinein. Was für ein enges und wimmelndes
+Leben herrschte da mit eigenen chinesischen Läden, Restaurants,
+Teestuben und kleinen primitiven Theatern! Die meisten der Gelben
+saßen allerdings mit ihren weiten schwarzen Blusen und Hosen, ihren
+Schlitzaugen, dem glattrasierten Schädel feiernd und pfeiferauchend
+auf Stühlchen in Pantoffeln vor ihren Häusern. Man sah in die offenen
+Läden, in die sonderbaren Apotheken und Werkstätten hinein. Frauen
+und Mädchen bügelten Wäsche; Schreiber schrieben Briefe ... alle aber
+blickten mir verwundert nach. In einem kleinen Basar kaufte ich mir
+ein paar chinesische Deckchen zum Andenken. Aber nirgends hatte ich
+den Eindruck, daß man hier einen eindringenden Europäer etwa umbringen
+wollte. Auch die Chinesen schienen mir im Grunde ein gutmütiges
+Völkchen zu sein wie die Neger und Indianer. Ja, sind nicht alle
+Menschen im Grunde gutmütig, wenn man sie nicht gerade reizt oder
+aufhetzt? In der <span class="antiqua">chinatown</span> traf ich aber auch Araber im weißen
+Turban und braune Hindus, auch massenhaft Japaner. In Frisko landen
+Schiffe aus aller Herren Länder; es ist wirklich eine Weltstadt. Der
+seltsamste Anblick aber war wohl ein Chinese — in Heilsarmeeuniform!
+Man sieht, wie weltumspannend diese seltsame, aber so rührige und
+soziale „<span class="antiqua">army of salvation</span>“ ist!</p>
+
+<p>Anderen Tages früh stieg ich in der Stadt zum sogenannten
+„Telegraphenhügel“ hinauf, eine der höchsten und aussichtsreichsten
+Anhöhen Friskos. Von oben lag die erhaltene und zerstörte Stadt wie ein
+Riesenschachbrett vor mir, auf dem ein unartiges Riesenbaby sich ein<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span>
+Vergnügen daraus gemacht zu haben schien, Häuser umzustürzen. Von der
+Stadt schweifte der Blick zur immer aufs neue schönen blauen Bucht und
+zu dem Durchlaß des „Goldenen Tors“ mit dem Tamalpais im Hintergrund.
+Ich hätte ihn gar zu gern doch noch bestiegen — aber woher zu allem
+die Zeit nehmen? So bin ich auch nicht mehr in den „versteinerten
+Forst“ bei Calistoga gekommen. Aber ist es nicht auch ratsam, sich
+auch noch etwas für den — zweiten Besuch aufzusparen? Sonst fehlte ja
+jeglicher Anreiz und jede logische Begründung für ihn?!</p>
+
+<p>Dicht beim Telegraphenhügel war eine Negerkleinkinderschule, wo die
+putzigen kleinen Negermädchen und -knaben mit ihren breiten Stumpfnasen
+und schwarzkrausigen Wollköpfen wie andere Kinder sangen, spielten
+und lernten ... Nicht sehr weit davon stieß ich auf eine kleine
+protestantisch-italienische Kirche. Auf was man in amerikanischen
+Städten nicht alles stößt! Auch die alte spanische Missionskirche
+„<span class="antiqua">San Francisco de Dolores</span>“, 1776 erbaut, steht noch, die den
+Anfang des mexikanischen San Franzisko bildete, das noch 1850 nur 500
+Einwohner hatte! 1847 wurde es von einem amerikanischen Kriegsschiff
+für die Union in Besitz genommen. So wurde der ferne Westen eher
+amerikanisch als die Territorien im Felsengebirge.</p>
+
+<p>Die den steilen Hügel hinabführende Kabelbahn brachte mich wieder
+hinab zum Hafen. Ein wimmelnder Obstmarkt hatte sich aufgetan! Was für
+Unmassen Orangen, Bananen, Spargeln wurden hier zu Bahn und Schiff
+verfrachtet! Dazu die Ausfuhr des feurigen kalifornischen Weins, den
+auch zuerst spanische Missionare aus Europa einführten. In der neueren
+Zeit pflanzten Deutsche dazu rheinischen Weißwein. Aus französischen
+Reben zog man bald auch den vorzüglichsten Bordeaux, Medoc, Portwein
+und Sherry. Die letzteren freilich südlicher um St. Barbara und Los
+Angeles.</p>
+
+<p>Frisko ist eine eigene Stadt! Viel Kirchtürme sieht man nicht, aber
+hier konnte einer, wie mir erzählt wurde, vom „<span class="antiqua">newsboy</span>“,
+einem armen auf der Straße Zeitungen verkaufenden Jungen bis zum
+Inhaber einer der größten Blätter sich emporschwingen. Freilich diese
+Hoch-Zeit der Gründungen ist längst vorüber; das Goldfieber ist<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> längst
+erloschen. Und der Friscoman steht an Überlegsamkeit heute in nichts
+dem Neuyorker nach, ja er fühlt sich als sein westliches Gegenstück.
+Und Los Angeles ist geschlagen! Aber sage es ja nicht in <em class="gesperrt">seinen</em>
+Straßen!</p>
+
+<p>Nachmittags unternahm ich noch einmal eine aussichtsreiche Überfahrt
+mit dem Fährboot an den Fuß des Tamalpais am Rande des „Goldenen
+Tors“ nach dem ganz italienisch anmutenden Sausalito. Weißschimmernd
+leuchteten Oakland und Berkeley mit der Kalifornia-Universität herüber.
+Rings umher steile Felsenufer. In südlicher Vegetation versteckt baut
+sich das Villenstädtchen das felsige Ufer hinauf wie nur die alten
+Städtchen an den oberitalienischen Seen.</p>
+
+<p>Das Wetter war stets bei allem angenehm sommerlich warm, aber nie
+heiß, obwohl San Franzisko auf der geographischen Breite Palermos
+liegt! Doch nirgends fand ich trotz all der Naturschönheiten einen
+rechten Ruheplatz. Der Amerikaner braucht kein Ausruhen. Es fehlen
+die Bänke oft sogar in den Parks und an Aussichtspunkten. Man kennt
+kein stillsinnendes Naturgenießen. Auf den Bahnhöfen umbranden einen
+die Agenten, Schuhputzer und Kofferträger. Die <span class="antiqua">bars</span> und
+<span class="antiqua">lunchrooms</span> sind nicht immer offen, Gartenwirtschaften gibt es
+in der ganzen Union nicht. Als Fremder ist man daher drüben richtig
+auf die Straße gesetzt. Ganz anders der Chinese — den ich auch diesen
+Abend zum Abschied noch einmal aufsuchte; denn wann würde ich wohl
+einmal nach China kommen, zumal seit mein einziger treuer Studienfreund
+<span class="antiqua">Dr.</span> Moses Chiu, den ich noch von Halle her kannte, zu früh in
+seiner Heimat in Amoy hatte sterben müssen.</p>
+
+<p>Wie seelengemütlich saßen die gelben Zopfträger jetzt wieder vor und
+in ihren Häusern! Warum? Weil sie mit wenigem zufrieden und weil sie
+Kinder einer jahrtausendalten Kultur und Schulung sind. Ihr gerades
+Gegenteil ist der Yankee. Nie zufrieden mit dem Erreichten, ein steter
+rastloser Vorwärtser und ein Sohn der reinen Gegenwart. Wie behäbig,
+wie beleibt, wie runzelig neben ihm mancher Chinese, aber auch wie
+gutmütig aus den Augen schauend, so ungefähr wie eine blinzelnde Katze
+im Sonnenschein&#160;...&#160;—</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p>
+
+<p>Nun hieß es allmählich das noch immer halbmeterlange Zettelbillett
+<em class="gesperrt">zur Rückfahrt</em> stempeln lassen und Abschied nehmen vom Stillen
+Ozean. Es war mir ein bißchen weh ums Herz. Aber selbst ein Alexander
+der Große mußte aus Indien umkehren! Mit ihm konnte ich mich trösten,
+daß es jetzt für mich nicht gleich noch eine Erdhälfte zu durchqueren
+gab! Ich hätte ja fürs Leben gern jetzt einen der unter Dampf liegenden
+Japansteamer bestiegen und wäre über Yokohama, Hongkong, Kalkutta
+oder Wladiwostok, Moskau heimgereist, aber was hätten sie in Harvard
+gesagt, so ohne Abschied auf und davon zu gehen! Und auch auf der
+Rückfahrt durch die Union würde es ja noch manches zu sehen geben: Die
+Salzseestadt, die Wüsten Nevadas, den Pikes Peak bei Denver, Pittsburg,
+Washington, Baltimore, Philadelphia&#160;...</p>
+
+<p>So setzte ich zum dritten Male abends neun Uhr über die weite Bai.
+Die Lichter der Stadt funkelten im Wasser. In Oakland stieg ich zehn
+Uhr abends in den bereitstehenden Chikagoexpreß. Der Schlafwagen
+war international überfüllt: Auch Japaner, auch Damen ... Aber ich
+hatte mein Oberbett fest und zeitig bestellt und ließ es mir auch
+nicht wieder rauben, obwohl nicht alle unterkamen. Wir setzten uns in
+Bewegung. Bald lag man wieder oben und rollte durch die
+Nacht.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Um Mitternacht passierten wir Sacramento, die eigentliche
+Regierungshauptstadt des ganzen Staates Kalifornien mit einem
+gebieterisch ausschauenden Staatskapitol inmitten herrlichster Anlagen,
+nach fast 90 Meilen Fahrt und dem Überqueren ausgedehnter Sumpfgegenden
+und erneutem Übersetzen über einen Buchtarm. Die Bahnlinie
+überschreitet darauf den Sacramentofluß und sein breites Tal und keucht
+dann in mächtigen Windungen stundenlang zu den Pässen der Sierra
+Nevada hinauf. Es wurde nun eine richtige Alpenfahrt wie über den St.
+Gotthard, nur doppelt so hoch! Schade, daß das nächtliche Dunkel uns
+die zauberischsten Rückblicke auf die San Franziskobucht verwehrte&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe44" id="illu_280">
+ <img class="w100" src="images/illu_280.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SAN FRANCISCO<br>
+ Das Geschäftsviertel nach dem Erdbeben
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_280_gross.jpg"
+ id="illu_280_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe34" id="illu_281">
+ <img class="w100" src="images/illu_281.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SAN FRANCISCO<br>
+ Abbruch nach dem Erdbeben
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_281_gross.jpg"
+ id="illu_281_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_25" href="#FNAnker_25" class="label">[25]</a> Amerikanische Armee. Junge Leute gesucht. Gute Bezahlung!
+Keine Ausgaben! Ungewöhnliche günstige Gelegenheit für Reisen,
+Ausbildung und Beförderung!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_26" href="#FNAnker_26" class="label">[26]</a> 17 Meilen-Fahrweg.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_27" href="#FNAnker_27" class="label">[27]</a> Der Leser kann sich die Zerstörung gar nicht groß genug
+vorstellen, sie ist nur mit der Niederlegung und Beschießung ganzer
+Städte im Weltkrieg annähernd zu vergleichen.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Am_Gro_en_Salzsee_und_in_Kolorado">Am Großen Salzsee
+und in Kolorado.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Am Abend waren wir von der subtropischen Küste des Stillen Ozeans
+weggefahren, am Morgen wachten wir nach völliger Verwandlung in
+Höhe von 2000 <span class="antiqua">m</span> in prächtigster Alpenschneelandschaft der
+Sierra Nevada wieder auf. Die Sierra Nevada ist ein etwa über 700
+<span class="antiqua">km</span> langer bis über 4000 <span class="antiqua">m</span> ansteigender schneebedeckter
+Alpengebirgszug des Felsengebirges, der Kalifornien von der Union so
+stark trennt, daß diesseits und jenseits des Gebirges völlig anderes
+Klima herrscht. Die kühlen und feuchten Seewinde dringen nicht bis in
+die unfruchtbaren heißen Wüsten Nevadas, und das milde gleiche Klima
+Kaliforniens kennt nicht den stürmischen Wechsel auf den Hochflächen
+des Felsengebirges und in der nördlichen Mississippiebene.</p>
+
+<p>Erstaunt sah man aus dem Fenster. Auch zwischen den Schienen lag
+wirklich Schnee! Und noch tags zuvor hatte ich mich wohlig in
+dem durchsonnten Sand des Ozeans gebräunt. Die Paßhöhe war eben
+überschritten. In vielen Windungen an steilen Felshängen entlang in
+schwindelnder Höhe über tiefeingeschnittenen Tälern mit herrlichem
+dunklen Fichtenbestand, aus dem blinkende Bergseen wie in der Schweiz
+und dem Schwarzwald heraufschauten, eilte unser Zug, der den stolzen
+Namen: „<span class="antiqua">China and Japan fast-mail</span>“ trug, auf der ältesten seit
+1869 eröffneten Pazifiklinie in eiligem Tempo wieder abwärts.</p>
+
+<p>Viele hundert Meter lange künstliche Holztunnels sicherten die Bahn
+gegen Schneeverwehungen. Aber aus den Aussichtslöchern boten sich
+köstliche Blicke in die Bergwelt&#160;...</p>
+
+<p>Im Wagen machte gerade alles Morgentoilette. Und einige der alten
+Damen packten schon aus ihren Reisekörben ein leckeres Frühstück
+aus, das in mir so etwas wie Appetit weckte. Auf sauberem Tafeltuch
+stellten sie Tassen zurecht; dann folgte ein Gang dem andern: Belegte
+Brötchen, Käse, Obst, kaltes Geflügel, Sardinen, kalter Braten und
+zuletzt Rotwein! Wer hätte da nicht mittun wollen? Sie hatten sich<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span>
+gut vorgesehen, weil sie wußten, was ihnen bis Chikago bevorstand! Ich
+aber hatte übersehen, daß zwar unser „<span class="antiqua">China and Japan fast mail</span>“
+„<span class="antiqua">the best dining-car-service of the world</span>“ besaß, aber dafür
+auch keine Frühstücks- und Lunchstationen innehielt wie der Santa Fé-
+und Los Angeles-Expreß. Und da nun der „beste Speisewagendienst der
+Welt“ auch offenbar die „besten Preise der Welt“ hatte — z.&#8239;B. ein
+Beefsteak einen Dollar! — so war ich diesmal ziemlich aufs Hungern
+angewiesen, denn meine Reisekasse schmolz und mein Speisevorrat
+bestand aus — drei Apfelsinen, von denen ich alle drei Stunden eine
+zu verzehren beschloß, dann würde es gerade noch bis zur Mormonenstadt
+reichen, wo man wieder zivilen Boden und menschliche Preise unter die
+Füße bekam. Nachts brauchte man ja glücklicherweise keine Nahrung. So
+mußte ich mich also diesen Tag mit dem Anschauen der interessanten
+Gegenden „sättigen“ und mein Getränk dem unentgeltlichen Eiswasserfaß
+am Wagenende entnehmen. Das tat ich ebenso oft wie jene Kinder, die
+ein paar Sitze weiter plötzlich in unverfälschtem Dialekt ihren Vater
+laut fragten: „Du, Pape, ist do’ Wasser in de’ Pump?“, was der Vater
+mit einem beifälligen lauten Gähnen quittierte. Man war also nie
+allein, immer wieder unter „Landsleuten“, auch wo man es gar nicht
+vermutete. Auf der Straßenbahn in Buffalo ebenso wie auf dem Bahnsteig
+in Flagstaff am Fuße der schneebedeckten himmelaufragenden San
+Franziskoberge, in Oakland so gut wie in dem Expreß auf 2000 <span class="antiqua">m</span>
+Höhe in der Sierra Nevada. Also war man nicht nur unter Japanern, die
+jetzt mir gegenüber in einem blaueingebundenen Buch mit wunderlichen
+Schriftzeichen lasen — war das eine buddhistische oder taoistische
+Morgenandacht? — und nicht nur unter Chinesen, die sichtlich als nicht
+ganz vollwertig von den übrigen Mitreisenden gemieden wurden (Neger
+wagten sich schon gar nicht in den Wagen) und den breitgesichtigen,
+stets wohlrasierten Amerikanern. Leid tat mir eine Lady, die in der
+Nacht, wie ich vor Syrakuse mein Scheckbuch, so jetzt ihr meterlanges
+Zettelbillett bis Neuyork eingebüßt hatte! Ich kann auch nicht sagen,
+ob sie es wiedergefunden hat oder noch an ihr Ziel<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> gekommen ist.
+Helfen konnte ich ihr auch nicht — als allein mit innigem Mitgefühl.</p>
+
+<p>Im Waschraum schwamm es indes förmlich bei so ausgiebiger Benutzung
+und so völliger Besetzung des Wagens! Es war auch nicht ohne
+Interesse, daselbst die verschiedenen Rassen und Nationalitäten
+bei der Eigenart ihrer Morgentoilette und halb im Naturzustande zu
+beobachten ...! Aber ich hätte einen Dollar geopfert, wenn ich dafür
+den nachtdurchschlafenen Wagen, der sich nun wieder in einen fahrenden
+„Salon“ verwandelte, gründlich hätte durchlüften können, eher als für
+ein Dollarbeefsteak im Speisewagen&#160;...</p>
+
+<p>Es war wieder ein ganz wundervoller Morgen geworden. Warm und
+freundlich grüßend schien die helle Sonne vom blauen Himmel auf den
+frischen weißen Schnee herab. Rauschend brausten in der Tiefe der
+Täler die Gebirgsbäche und schäumten donnernd über die Felsbänke. Die
+Szenerie glich durchaus der von Göschenen vor dem Gotthardtunnel. Dann
+und wann schauten Hochgipfel aus den Seitentälern. In unzählig vielen
+Windungen ging es rollend und bremsend im ganzen etwa 800 <span class="antiqua">m</span>
+Gefälle abwärts, also ungefähr so viel wie vom Gotthardtunnel hinab
+zum Vierwaldstätter See, durch zahllose Tunnels mit ihren langen
+Holzdächern bis zur „Hauptstadt“ des Staates Nevada, <em class="gesperrt">Reno</em>, mit
+seinen 5000 Einwohnern!</p>
+
+<p>Reno liegt ganz an der Grenze des Wüstenstaates Nevada, der bei 300&#8239;000
+<span class="antiqua">qkm</span> (Größe Preußens!) nur 50&#8239;000 Einwohner zählt, also erst auf
+6 <span class="antiqua">qkm</span> einen Menschen! Reno hat zwei Merkwürdigkeiten. Erstens
+ist es Sitz einer „Staatsuniversität“, die aber so geringwertig ist,
+daß man <em class="gesperrt">nach</em> ihrer Absolvierung kaum fähig wird, in Harvard
+ins Kollege aufgenommen zu werden, d.&#8239;h. von vorne zu studieren! Die
+zweite noch größere Merkwürdigkeit ist, daß man in Reno in zwei Minuten
+geschieden werden kann, so daß von 20 Ehepaaren im Staat Nevada etwa
+13 (!) wieder auseinanderlaufen. Günstiger liegt das Verhältnis sonst
+in der ganzen Union, wo erst (!) auf 10 Ehen <em class="gesperrt">eine</em> Scheidung
+kommt. Das liegt an der gesetzlichen Leichtigkeit der Scheidungen.
+Schon beiderseitige gänzliche Abneigung genügt zur<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> Trennung. Meist
+dringen mehr die amerikanischen Frauen auf Scheidung als die Männer.
+Und doch haben die Frauen es drüben viel leichter im häuslichen Leben
+als bei uns. Keiner Frau mutet man in Amerika schwere körperliche
+Arbeit zu. Kein weißes Dienstmädchen braucht drüben Kohlen zu tragen,
+Teppiche zu klopfen, Stiefel zu putzen u.&#8239;dgl., erst recht nicht
+die Hausfrau. Selbst den Kinderwagen schiebt stets der Mann, ebenso
+trägt und hebt der Mann stets das Kind. Der Mann ist der Frau Knecht.
+Und sie ist drüben mehr sein Gespiele, seine schöngekleidete und
+wohlgepuderte Puppe als seine harte Mitarbeiterin. Sie gebietet,
+und der Mann führt vielfach nur ihren Willen aus. <em class="gesperrt">Sie</em> redet,
+predigt, organisiert, lenkt auch das Automobil! Fast der gesamte
+Unterricht der Jugend liegt in Händen von Frauen! Im öffentlichen
+Vereinsleben geistiger und wohltätiger Art spielt sie die durchaus
+tonangebende Rolle. Die Prohibition war auch wesentlich ein Sieg der
+Frauen. Sehr groß ist daher auch die öffentliche Rücksichtnahme auf
+die Frau überall. Ihr wird es <em class="gesperrt">nie</em> drüben begegnen, daß sie
+z.&#8239;B. je in einem Straßenbahnwagen stehen muß. Auch der älteste Herr
+macht ohne weiteres der jüngsten Dame Platz! Anders und eigenartig
+sind auch die Grußverhältnisse. Männer untereinander nehmen nie Hut
+oder Mütze ab, auch nicht Schüler vor dem Lehrer, denn auch er ist nur
+ein älterer „<span class="antiqua">boy</span>“. Aber im Gruß zwischen Herr und Dame grüßt
+der Herr nicht zuerst die Dame, sondern hat zu warten, ob sie ihm
+mit ihrem Gruß ihre Gunst bezeigt! Eine Dame zuerst zu grüßen würde
+als so unschicklich gelten, als wenn man bei uns eine fremde Dame
+ohne weiteres anspräche. Stets geht auch der Herr auf der Außenseite
+des Fußsteigs, so der Dame die geschütztere Innenseite überlassend.
+Ja manche reden schon von einem fast femininen Einschlag in der
+amerikanischen Kultur, deren äußeres Kennzeichen auch das sehr große
+Wertlegen der Herren auf „<span class="antiqua">style</span>“ (Mode) und ihre Vorliebe für
+— Süßigkeiten ist. In diesem Licht sind die vielen Ehescheidungen
+begreiflich. Sie sind nicht Zeichen sittlichen Verfalls, sondern nur
+der Ausdruck der hohen Ansprüche der Frauen an Leben und Wertschätzung
+und eines hochgespannten<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> Idealismus, der sofort Verbindungen löst, die
+dem Ideal nicht mehr entsprechen. Bedenklicher ist schon der Rückgang
+der Geburten in stockamerikanischen Ehen, so daß sich fortgesetzt
+das Ursprungsverhältnis der Bevölkerung zugunsten der erst kürzlich
+eingewanderten ungebildeten Schichten aus Osteuropa verschiebt&#160;...</p>
+
+<p>Wir fuhren indessen in der warmen hügeligen Nevadawüste, die an
+Einsamkeit, Verlassenheit und Grenzenlosigkeit mit Arizona wetteifern
+kann. Stationsnamen, wenn der Zug einmal hielt, fand ich selten
+angeschrieben. Ohne den Ruf: „<span class="antiqua">All aboard!</span>“ setzte sich der
+Zug langsam wieder in Bewegung. Man mußte dabei zusehen, daß man
+noch rechtzeitig auf das Trittbrett kam. Auf einer der verlassenen
+Stationen erstand ich mir eine Tafel Schokolade, die ich mir in die
+Tasche steckte. Als ich sie aber nach qualvoller längerer Zeit der
+Selbstverleugnung wieder hervorzog, war sie unter Nevadas Wüstensonne
+in braunes Wohlgefallen zerflossen und hatte das Rockfutter hübsch
+braun gefärbt und durchsalbt ... Es war um Mittag heiß geworden. Der
+Gang zum Eiswasserfaß wurde zur Polonäse!</p>
+
+<p>Immer eintöniger wurde die Landschaft. An einem einfachen Fluß stehen
+ein paar Kinder und schauen stumm dem Zug nach. Wo ein bißchen
+Gras sprießt, weiden ein paar Pferde. Sonst sieht man nur Sand und
+wieder Sand, und zwar so grell und weißleuchtend, daß er im Wagen
+einen richtigen Widerschein an die Decke wirft und in der Ferne sich
+spiegelnd gar wie lockende Seen erscheint. Am Horizont prangen in der
+Ferne blaue Randgebirge. Näherbei sieht man nur Föhrengestrüpp und
+Wermutgesträuch&#160;...</p>
+
+<p>Im Zug schliefen sie jetzt wie die Fliegen an warmer Wand ihren
+Nachmittagsschlaf. Ich bin der einzige, der noch krampfhaft und
+interessiert hinaus ins Land schaut. Auch der Japaner hat längst
+sein blaugebundenes Buch mit den seltsamen Runen zugeklappt. Die
+weißhaarigen Damen haben längst den Rest ihrer opulenten Mahlzeiten in
+ihre Körbe versteckt und die Rotweinflaschen wieder zugekorkt. Auch
+die Chinesen lehnen gedrückt und müde in einer Ecke. Die Lady, die
+ihr Billett verloren, hat resigniert die Augenlider heruntergelassen<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span>
+wie müde Fensterläden, hinter denen Lebensverdrossenheit wohnt. Die
+deutschen Buben, die nach dem „Wasser in de’ Pump’“ frugen, spielen
+auch schon lange nicht mehr. Alles schläft. Es ist ja auch nichts zu
+versäumen. Es steigt niemand weder aus noch ein. Der Zug schlingert
+so durch die Sandwüste wie ein Schiff bei Windstille über das Meer.
+Man weiß es eben wieder nicht mehr anders, als daß man fährt und
+fährt und immer wieder fährt. Jeder hat sich in seiner Weise in sein
+Eisenbahnschicksal ergeben&#160;...</p>
+
+<p>Es ist Goldgräberland, das wir jetzt durchfahren. Verlassene Minen und
+Bergwerke wechseln mit neuaufblühenden. Manchmal ist eine Siedlung
+schon auf den Sand hingestellt, aber es sind noch keine Menschen da,
+drin zu wohnen! Alles sieht aus, wie aus einer Holzbaukastenschachtel
+putzig, schematisch aufgebaut bis auf die kleine weiße Holzkirche, die
+nicht fehlen darf. Im ganzen wohnt hier ein robustes und skrupelloses
+Geschlecht, die Nachkommen echter Abenteurer, wilder Spekulanten, denen
+Spiel um Geld Sport war und noch ist und der Revolver oft gar leicht
+und lose im Gürtel sitzt&#160;...</p>
+
+<p>Wer hier zu Fuß gehen wollte! Er könnte wie durch die Sahara waten
+und verdursten. Den einzigen Schatten wirft weite Strecken nur der
+Zug. Rötlich schimmern die Felsengipfel. Dann wieder einmal ein paar
+armselige Hütten mit Menschen darin. Station Paran. Auf dem „Bahnsteig“
+am Zug spielen hemdärmlig einige Burschen Fußball! Er ist der einzige
+planierte Platz. Der Bahn entlang reitet durch den Sand ein Herr und
+eine Dame im Tropenhelm! Die Sonne steht hoch, die Berge werden immer
+höher und steiler. Immer neue Berge und Wüsten tauchen im Vorblick auf.
+Kein Europäer hat ja eine Ahnung, wieviel Tagefahrten <em class="gesperrt">breit</em>
+„das Felsengebirge“ ist, welche riesigen Hochebenen zwischen den
+drei Hauptgebirgszügen desselben liegen, deren Streifen scheinbar
+schmalfurchig von Norden nach Süden ziehen! Wieviel Schweiß muß es hier
+einst gekostet haben, diese Bahn durch die Einöden zu bauen!</p>
+
+<p>So kommt wieder der Abend heran. Wir fahren unentwegt. Wir haben
+längst schon wieder „<span class="antiqua">Mountain-time</span>“ und die Uhr eine Stunde<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span>
+vorgerückt. Der erste Abend bricht an, da uns die Sonne nicht mehr im
+Rücken, sondern wieder im Angesicht aufgeht — eine Weissagung auf
+Heimkehr! Die sandige Wüste färbt sich abendlich graugrün. Die Chinesen
+sind in ihrer Ecke erwacht und kauderwelschen laut miteinander in
+der stolzen Sicherheit, daß sie niemand versteht. Mein Japaner liest
+seinem Kind aus dem blauen Buch vor. Die ältlichen Damen breiten zum
+Abendessen wieder ihre saubere Serviette aus und entkorken wieder die
+Rotweinflaschen. Unentwegte Raucher suchen für eine Weile das kleine
+Rauchabteil auf. Wem es nicht aufs Geld ankommt, der folgt jetzt dem
+„<span class="antiqua">last call for dinner</span>“<a id="FNAnker_28" href="#Fussnote_28" class="fnanchor">[28]</a> des Kellners in den Speisewagen. Die
+Kinder balgen sich wieder im Mittelgang. Mit dem Abend erwacht alles
+Leben&#160;...</p>
+
+<p>Wir halten an einer Bahnkreuzung. Eine Reihe immer dünner werdender
+Telegraphenstangen weist durch die Wüste gegen die Berge ins
+Wegelose ... Der Lehmboden rings ist trocken und rissig. Jeder
+Zentimeter Regen und Schnee bedeutet hier Brot. Allmählich bricht
+Dunkelheit an. Wir fahren immer noch in einer Höhe von 1000 bis 1500
+<span class="antiqua">m</span>. In der Dämmerung sehe ich noch durstiges Rindvieh in einem
+trockenen „<span class="antiqua">creek</span>“ stehen. Niedrige Büsche werfen lange dunkle
+Schatten. Einige weiße Zelte leuchten im grellen Mondschein. Sind es
+Bahnarbeiter, Hirten, Goldgräber?</p>
+
+<p>Dann klettere ich — zum wievielten Male? — wieder einmal in meine
+„<span class="antiqua">upper berth</span>“. Der Salonwagen hat sich wieder in einen
+Schlafsaal schnarchender Nasen verwandelt.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Am zweiten Morgen wieder eine völlige Verwandlung! Als ich erwacht bin
+und aus dem Fenster sehe, ist es lichter Morgen. Vom blauen Himmel
+scheint helle Morgensonne, die noch nicht lange aufgegangen sein
+kann, und — ist es Traum, Vision oder Wirklichkeit? — wir fahren,
+obwohl noch immer im Eisenbahnzug, mitten durch einen herrlich weiten
+glänzendblau schimmernden See, der sich bis an die<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> schneebedeckten
+Berge der Wasatch Mountains verliert. Rechts und links spülen die
+Wasser an den mäßig über dem Wasserspiegel erhöhten Bahndamm. Er
+scheint künstlich aufgeworfen, auf Pfählen und Holzbrücken errichtet.
+Stundenlang rollen wir so im glitzernden Morgensonnenschein mitten
+über den großen Salzsee! Vor einigen Jahren hat nämlich die Southern
+Pacific-Eisenbahn, um die Route nach Kalifornien um 70 km abzukürzen,
+den Schienenweg auf 37 <span class="antiqua">km</span> langer Holzbrücke mitten durch den an
+seinen tiefsten Stellen nur 11 <span class="antiqua">m</span> tiefen, aber 6000 <span class="antiqua">qkm</span>
+großen<a id="FNAnker_29" href="#Fussnote_29" class="fnanchor">[29]</a>, etwa 100 <span class="antiqua">km</span> langen und 60 <span class="antiqua">km</span> breiten Salzsee
+(<span class="antiqua">Great Salt Lake</span>) gelegt. Sein Wasserspiegel liegt immer noch
+1280 <span class="antiqua">m</span> über dem Meere! Wir befinden uns also wiederum auf
+einer der riesigen Hochebenen zwischen den Hauptgebirgszügen des
+Felsengebirges, dem Zentrum des Mormonenstaates „Utah“, eines Staates,
+der selbst halb so groß wie Kalifornien ist. Als wir den See überquert
+haben, eilt der Zug durch die lachendsten und wohlangebautesten Fluren
+und Felder, die den denkbar stärksten Gegensatz zu den unfruchtbaren
+Wüsten Nevadas bilden.</p>
+
+<p>Ein wahres Kulturparadies breitete sich auf einmal um uns aus, das
+einem wie einst das „gelobte Land“ den Israeliten erschien, als sie
+aus der Sinaiwüste heranzogen. Der Schöpfer dieses Paradieses, das
+vor dreiviertel Jahrhunderten genau so trostlose Wüste wie der größte
+Teil Nevadas war, ist die eigenartige Sekte der „Mormonen“ oder, wie
+sie sich selbst nennen, der „Heiligen Jesu Christi der letzten Tage“.
+Wir hielten zuerst in der ein wenig vom See landeinwärts gelegenen
+mittelgroßen Mormonenstadt Ogden. Hinter uns lag der schimmernde
+Salzsee, vor uns wie ein Schweizer Bild die schneebedeckten Wasatch
+Mountains. In Ogden verließ ich die Hauptroute nach Chikago, um nach
+der Hauptstadt der Mormonen, der Großen Salzseestadt umzusteigen. Auf
+sie war ich allerdings schon lange sehr gespannt. Da ich eine Stunde
+Aufenthalt in Ogden hatte, ging ich etwas in das Städtchen hinein.
+Nichts Sonderliches war außer<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> einer Mormonenkirche zu bemerken.
+Überall ruhige Sauberkeit und breite Straßen.</p>
+
+<p>Nach einer weiteren Stunde südlicher Fahrt war Salt Lake City erreicht.
+Auch zwischen Ogden und Salt Lake City liegen prächtige Feldfluren
+zwischen wohlgepflegten Pappelreihen, unter denen wohlgebaute gerade
+Landstraßen hinführen. Allen Reisenden, die einstiegen, und denen, die
+man draußen erblickte, schaute ich immer mit der stillen Frage ins
+Gesicht: „Bist du ein Mormone oder nicht? Sehen so die Mormonen aus?“
+Ich meinte immer, man müßte es ihnen von außen schon an einer Art
+sonderbaren Wesens ansehen. Aber das war keineswegs der Fall.</p>
+
+<p>So war es morgens acht Uhr geworden. Klopfenden Herzens steige ich
+in Salt Lake City aus. Mir war es, als käme ich jetzt in die Stadt
+des Dalai Lama. Die Lage ist ja derselben nicht so ganz unähnlich.
+Ich empfand so, wie wir uns in Rom aufmachten, um über den Tiber
+in das Trastevere zu gehen und in das heilige Viertel des Vatikans
+und der Peterskirche einzudringen. Mußte nicht dort, so dachte ich,
+jeder Stein im Pflaster von besonderer Heiligkeit reden und die
+Luft rings gleichsam geschwängert sein von Andacht? Mit ähnlichen
+Spannungsgefühlen trat ich aus dem Bahnhof in Salt Lake City auf die
+sehr breite Hauptstraße und hatte sofort nach wenigen Minuten nach
+Durchschreitung einiger Bahnhofsquartiere den Eindruck, zum ersten Male
+in einer peinlich sauberen und trotz ihrer 100&#8239;000 Einwohner stillen und
+ruhigen amerikanischen Stadt zu sein, dazu in malerischster Umgebung.
+Von gesteigerter Heiligkeit war noch nichts zu bemerken! Die Menschen
+kauften und verkauften, gingen, fuhren, redeten genau wie in anderen
+Städten der Weltkinder. Heilig schienen mir die schneebedeckten Berge,
+die hier wie in Innsbruck die Schneehäupter zur Maria-Theresienstraße
+hereinschauen. So endet auch in dieser Stadt der Blick meist an den
+schneebedeckten Wasatch, die südlich bis zum Grand Cañon reichen!
+Schon in Ogden hatte mir ein eifriger Postkartenverkäufer auf
+der Straße seine Karten von den Wasatch Mountains mit den Worten
+angepriesen: „<span class="antiqua">The finest mountain-view <em class="gesperrt">in the world</em>!</span>“
+Selbstverständlich!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p>
+
+<p>Ich schritt indessen in das Stadtinnere bis zu dem gebietenden Denkmal
+Brigham Youngs, des kraftvollen Nachfolgers des „Propheten“ Joseph
+Smith, des Gründers des Mormonismus. Dann stehe ich in dem heiligen
+Bezirk der Mormonen, dem „Tempelblock“ selbst, der von einer langen
+quadratischen Mauer umgeben ist. Aus ihrem Innern erhebt sich mächtig
+der vieltürmige Tempel und das riesenschildkrötenartig gewölbte Dach
+des sogenannten „<span class="antiqua">tabernacle</span>“. So stehe ich jetzt an der Stelle,
+die den Mormonen so heilig und zentral ist wie Rom den Katholiken, wie
+die Kaaba den Mohammedanern, der Tempelplatz in Jerusalem den Juden
+und Olympia den Griechen. Aus dem nahegelegenen Mormonenkollege aber
+strömen gerade die Schüler aus der Morgenandacht.</p>
+
+<p>Echt amerikanisch begibt man sich zur Besichtigung des Tempelbezirks
+zunächst in das „<span class="antiqua">information-bureau</span>“, wo die Einlaßkarten und
+Führer zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten zu haben sind. Geld
+und Geschäft hat bis jetzt keine heilige Stätte der Welt verschont,
+auch die der Mormonen nicht. Christus schwingt noch immer seine Geißel
+umsonst.</p>
+
+<p>Unter einem Stimmengeschwirr von Menschen werden wir dann in das
+„Tabernakel“ geleitet. Wir treten durch die niedrigen Backsteinpfeiler
+ein; treppauf geht es auf die Galerie in das Innere. Es öffnet sich
+ein kahler Riesenraum, den eine einzige Deckenwölbung überspannt
+und der an 10&#8239;000 Sitzplätze faßt! Den einzigen Schmuck des Raumes
+bildet eine mächtige Orgel, an der ein großer Stern mit der Umschrift
+„Utah 1896“ angebracht ist. Denn in diesem Jahr wurde das bis
+dahin mehr oder weniger unabhängige Mormonenterritorium als Staat
+in die Union aufgenommen. Von der Orgel reichen etwa 500 Personen
+fassende Sitzreihen die Orgelbühne herab, die nur Sitze für Priester
+und mormonische geistliche Würdenträger enthalten. Denn unter den
+Mormonen hat fast jeder zehnte Mann irgendeine priesterliche Würde.
+Das Tabernakel dient zu Gottesdiensten und auch für große Konzert-
+und Vortragsveranstaltungen. Die Akustik ist trotz des riesigen Raums
+dank seiner ovalen Anlage und seiner ungestützten<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> hölzernen Wölbung
+vorzüglich. Man hört auch nur leise gesprochene Worte bis in entfernte
+Ecken! Das Tabernakel wurde bereits in den 60er Jahren des 19.
+Jahrhunderts erbaut, ein Zeugnis des Selbstbewußtseins der Mormonen,
+deren Stadt damals kaum soviel Einwohner zählte als der Raum Sitze! Am
+Tempel selbst aber baute man von 1873 an Jahrzehnte hindurch.</p>
+
+<p>Wir treten wieder unter den 44 Backsteinpfeilern, den kurzen Füßen
+der hölzernen Riesenschildkröte, hervor und begeben uns zum „Tempel“,
+den wir aber von innen nicht besichtigen dürfen! Kein profaner Blick
+von „Heiden“ (d.&#8239;h. Nichtmormonen) darf ihn beschauen, ja selbst
+nicht einmal jeder Mormone kommt in sein Inneres! Als mächtiger
+sechstürmiger Bau, dessen höchsten Mittelturm eine große Bronzestatue
+des Engels „Moroni“ krönt, erhebt er sich — freilich ohne erkennbaren
+Stil — aus dem Grün des schön angelegten Tempelblocks und überragt
+weithin die Stadt. Er ist keine eigentlich allgemein gottesdienstliche
+Stätte, sondern dazu bestimmt, der Tempel „des neuen Zion“ zu sein, wo
+Christus, wenn er in Bälde zum Weltgericht wiederkommt, seinen Thron
+aufschlagen und das Gericht über die sündige Welt abhalten wird. Etwa
+vierzig Jahre wurde am „Tempel“ gebaut; vier Millionen Dollar hat er
+gekostet! Er soll innen aufs prächtigste mit kostbarstem Marmor und
+edlen Steinen geschmückt sein, erzählte man mir. Je schwieriger es
+ist, ihn zu betreten, desto geheimnisvoller erscheint das gewöhnlichen
+Sterblichen verschlossene Bauwerk. Nur Mormonen höheren Grades kommen
+in ihn anläßlich mormonischer „Versiegelungen“ für die Ewigkeit und
+„Taufen für Verstorbene“ hinein. Ich hatte vor, — auch amerikanisch!
+— geradewegs dem Präsidenten der Mormonenkirche, also gewissermaßen
+dem Papst von Salt Lake City einen Besuch zu machen und ihn angesichts
+meiner weiten Reise um einen Blick in das Tempelinnere zu bitten, aber
+wahrscheinlich hätte auch das mir nichts geholfen. Aber vielleicht
+hätte er mich an seine Tafel geladen? Schade, daß ich es nicht
+versuchte! Da hätte ich alles leicht aus erster und bester Quelle
+erfahren, was ich zu wissen wünschte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p>
+
+<p>Unsere gesprächige Führerin, die uns auch noch eine kleinere
+Mormonenkirche, die sogenannte „<span class="antiqua">assembly hall</span>“ aufschloß,
+die immerhin auch 3000 Personen faßte, und zuletzt uns noch einmal
+zu einem imponierenden Orgelkonzert ins „Tabernakel“ einließ, hatte
+natürlich auf recht viele Fragen der Besucher zu antworten. Alles
+bestürmte sie förmlich um Auskunft über das Wesen und die Lehren des
+Mormonismus. Ihre Auskünfte waren natürlich nur sehr bruchstückartig
+und unzusammenhängend, ebenso wie die an sie gestellten Fragen. Aber
+sie blieb unermüdlich und unerschütterlich: „Der Mormonismus ist wahr!
+Er ist nicht von Menschen gemacht. Er stammt aus direkter göttlicher
+Offenbarung. Die christlichen Kirchen sind vom wahren Christentum
+abgefallen. Die ganze Geschichte der christlichen Kirche ist nichts
+als ein großer Abfall. J. Smith bekam von Gott durch seinen Engel
+Autorität, die wahre Religion der Bibel wiederherzustellen und das
+echte aaronitische Priestertum zu erneuern. Auch die ‚Ordnungen‘ der
+Ämter hat die Kirche unrechterweise geändert. Die Taufe darf z.&#8239;B.
+nicht an kleine Kinder nach mormonischer Meinung erteilt werden! Die
+Mormonenkirche tauft erst achtjährige Kinder. Es gibt auch eine Taufe
+für ungetauft Verstorbene. Die Handlung der Buße hat sie erneuert.
+Die Trauung ist gültig auch für das ewige Leben. Eine Mehrehe — der
+große Streitpunkt — habe auch Jesus nicht ausdrücklich verboten, im
+Alten Testament wurde sie sogar von den Erzvätern geübt! Seit 1896
+ist freilich die Mehrehe durch Aufnahme in die amerikanische Union
+öffentlich verboten; geübt wurde sie bis dahin auch nur von zwei bis
+fünf Prozent der Mormonen. Und Salomo hatte doch auch sogar — darauf
+wies die Sprecherin nachdrücklich hin — 1000 Weiber! Jeder Mormone hat
+an seine Kirche den ‚Zehnten‘ abzuliefern. Gott offenbart sich fort
+und fort durch Propheten, so war auch Joseph Smith beauftragt, neue
+Offenbarungen zu geben.“ Das ist einiges von den bruchstückartigen
+Darlegungen der Führerin auf die an sie gestellten Fragen.</p>
+
+<p>Mir genügte das freilich nicht. Im <span class="antiqua">information-bureau</span> kaufte
+ich mir daher zunächst eine Mormonenbibel „<span class="antiqua">the book of Mormon</span>“,
+in<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> dem ich auf meiner Weiterfahrt sehr eifrig las, ein kleines
+schwarzeingebundenes Buch ungefähr im halben Umfang unserer Bibel.
+Außerdem eine Darlegung der mormonischen Lehre von einem mormonischen
+Theologen. Und endlich schenkte mir in demselben Bureau ein alter
+Mecklenburger, als er mein intensives Interesse wahrnahm und mich als
+Deutschen erkannte, noch eine Schrift „<span class="antiqua">the great apostasy</span>“, in
+der die Geschichte der Kirche als „der große Abfall“ von dem wahren
+Evangelium dargestellt wird. Der Mecklenburger schüttelte mir bewegt
+die Hand, ich möchte auch noch zur Erkenntnis der Wahrheit kommen,
+und schloß mit dem Bekenntnis: „<span class="antiqua">My heart feels satisfied</span>“.
+Neuerdings hat Professor Eduard Meyer anläßlich seines Aufenthalts in
+der Union eingehende Studien über den <em class="gesperrt">Mormonismus</em> angestellt
+und veröffentlicht. Danach ergibt sich geschichtlich das Folgende, das
+sowohl für die Geschichte und Zustände der Union als auch die religiöse
+Mentalität drüben im Ganzen äußerst charakteristisch ist:</p>
+
+<p>Der Gründer der Mormonensekte, Joseph Smith, ist am 23. Dezember 1805
+als vierter von neun Geschwistern in dem Dorf Sharan im Staate Vermont
+geboren. Sein Vater war — echt amerikanisch — bald Handelsmann,
+bald auch Schullehrer. Ruhelos zog er von Ort zu Ort und ist nie zu
+beständigen Verhältnissen gelangt. 1815 siedelte er nach Palmyra im
+Staate Neuyork über, darauf nach Manchester, N. Y. Die Mutter des
+Propheten, Lucy Smith, war ebenfalls die Tochter eines Abenteurers
+namens Salomon Mack, der erst bei einem Bauern arbeitete, dann
+Soldat und Marketender in den Indianerkämpfen und Religionskriegen
+des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, später als Matrose diente und
+zuletzt um 1810 als fast Achtzigjähriger in höchst fehlerhafter und
+unorthographischer Sprache eine Erzählung seines Lebens mit mancherlei
+Träumen und Visionen herausgab! Dieses Erbteil ging auf die Mutter
+des Propheten über, die zeitlebens an Visionen litt und ihren Sohn
+überlebte († 1856). Auch sie gab von ihren inneren Erlebnissen in einer
+Selbstbiographie Kunde. Religiöse Fragen haben das Elternpaar stets
+beschäftigt;<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> auch Vater Smith erlebte allein sieben Visionen. Der
+Eltern äußere Lebensumstände können gar nicht armselig genug gedacht
+werden, und doch waren in ihrer Hütte wie in den meisten amerikanischen
+vor über 100 Jahren die Axt und die Bibel die am meisten gebrauchten
+Gegenstände. Von diesen Eltern, von beiden Seiten her also aufs
+stärkste visionär erblich belastet, stammte der „Prophet“. Schulbildung
+hat er bei dem ständigen Umherziehen seines Vaters nur vorübergehend
+genossen; Lesen und Schreiben konnte er Zeit seines Lebens nur dürftig;
+an Träume und Visionen glaubte er seit frühester Jugend. Und schon früh
+bedrückte sein religiöses Gemüt die Frage, welche von den vielen Sekten
+wohl die rechte sei oder ob sie nicht alle von der Wahrheit abgefallen
+seien und die rechte Religion erst wieder entdeckt werden müßte&#160;...</p>
+
+<p>An einem schönen Frühjahrsmorgen 1820 — so heißt es in seiner
+Lebensbeschreibung — sei er fünfzehnjährig in den Wald gegangen und
+habe Gott um Erleuchtung über die Wahrheit angefleht. Da habe ihn
+zuerst dichte Finsternis umgeben und seine Zunge sei wie gefesselt
+gewesen, aber dann habe sich eine Lichtsäule auf ihn herabgesenkt, in
+der zwei verklärte Gestalten sichtbar wurden. Die eine sagte ihm, alle
+Sekten seien im Irrtum, keiner solte er sich anschließen, vielmehr sei
+<em class="gesperrt">er</em> berufen, die rechte Kirche erst zu gründen. Erwacht fand er
+sich allein auf dem Boden liegend, die Augen gen Himmel gerichtet&#160;...</p>
+
+<p>Mit 18 Jahren (1823) folgte eine neue wichtige Vision, in der ihm
+lichtumflossen der Engel „Moroni“, der heute als Bronzefigur den Tempel
+krönt, erschien und anwies, nach dem Hügel Cumorah bei Manchester, N.
+Y., zu gehen. Dort werde er beim Graben zwei goldene Platten finden,
+die mit geheimnisvoller Schrift bedeckt seien. Dreimal erschien ihm
+der Engel Moroni bei der Nacht, und noch ein viertes Mal am Tage bei
+der Feldarbeit, wo er neben seinem Vater ohnmächtig wurde. Noch an
+demselben Tage habe Smith den Hügel aufgesucht, die Platten gefunden,
+aber der Engel habe ihm verboten, <em class="gesperrt">jetzt schon</em> die Platten zu
+heben!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span></p>
+
+<p>In den folgenden Jahren verdingte sich Smith zur Feldarbeit wie sein
+Vater, wird aber als schmutzig, scheu und träge, ja dem Trunk ergeben
+geschildert. Er benutzt seine visionären Kräfte, um nach Schätzen zu
+graben, verlorene oder gestohlene Sachen wieder herbeizuschaffen. Dabei
+diente ihm ein durchsichtiger Kristall („<span class="antiqua">peek-stone</span>“), den er
+in seinen vor die Augen gehaltenen Hut legte, worauf er die gesuchten
+Dinge in dem Kristall sah<a id="FNAnker_30" href="#Fussnote_30" class="fnanchor">[30]</a>. Mit 21 Jahren verheiratete sich Smith
+und erhielt nun von dem Engel die Erlaubnis, den Schatz zu heben.</p>
+
+<p>Im nächsten Jahr, Februar 1828, beginnt J. Smith mit einigen Freunden,
+Farmern wie er, Martin Harris, dem Schullehrer Oliver Cowdery und David
+Whitmer, selber hinter einem Vorhang sitzend (!), das Mormonenbuch,
+die goldenen Tafeln mit Hilfe seines „Gucksteins“ übersetzend, zu
+diktieren. 1829 war das Buch fertig und wurde 1830 veröffentlicht. M.
+Harris, obgleich gewarnt, hatte das Geld zum Druck dazu hergegeben.</p>
+
+<p>Was ist’s nun mit diesen geheimnisvollen Tafeln? Niemand hat sie je mit
+irdischen Augen gesehen. J. Smith behauptet, daß sie in einer Kiste
+in seinem Hause gelegen haben. Der Engel aber hatte dem Propheten
+verboten, sie jemand zu zeigen! Nachdem die „Übersetzung“ fertig
+war, wurden die Tafeln dem Engel Moroni „zurückgegeben“! Aber die
+Freunde bestanden darauf, sie zu sehen. So hat J. Smith eines Tages in
+einer Vision ihren Anblick vermittelt. Das bezeugen sie schriftlich
+auf der ersten Seite des Mormonenbuches. Aus all dem folgt, daß die
+Offenbarungstafeln wohl nie existiert haben, daß aber der „Prophet“
+visionär sie gesehen und an ihr Vorhandensein geglaubt hat.</p>
+
+<p>Und was ist der Inhalt dieser „Mormonenbibel“? Ich habe mich nach der
+Abfahrt von der Salzseestadt viele Stunden im Eisenbahnwagen redlich
+bemüht, ihren Inhalt in mich aufzunehmen, aber über<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> 30, 40 Seiten habe
+ich es nicht hinaus gebracht, so langweilig, inhaltslos und grotesk
+und geschichtlich unmöglich ist der Inhalt. Das Mormonenbuch ist wie
+die Bibel in Bücher, Kapitel und Verse eingeteilt. Sein Stil erinnert
+stark an das Alte Testament. Im ganzen will es ein Bericht über die
+Schicksale der bei der Eroberung Samarias 722 v.&#8239;Chr. verschollenen
+zehn Nordstämme des Volkes Israel sein, die nach den mannigfachsten
+Irrfahrten und Kriegszügen nach Nordamerika gekommen seien und deren
+Nachkommen niemand anders als — die Indianer geworden wären! Man
+denke sich, die Indianer Nachkommen der alten Juden!! Das bestätigt
+gewiß auch die gegenseitige Rasseähnlichkeit!? Auch Christus ist, wie
+Smith glaubte, nach Ostern auf dem amerikanischen Kontinent erschienen
+und hatte ihm die Offenbarung der wahren Religion gegeben. Nur sind
+seine rechtgläubigen Anhänger in Amerika aufgerieben worden, und seine
+Offenbarung wäre verschollen, wenn nicht der letzte Prophet „Mormon“
+und sein Sohn, der Engel Moroni sie auf jene Tafeln aufgezeichnet
+und vergraben hätten, bis sie J. Smith wieder fände. Diese Bibel des
+Propheten Mormon, von J. Smith erneuert, sei die Bibel für Amerika, ja
+für die Welt. Eine ganz abstruse und unmögliche Sache!</p>
+
+<p>Woher aber stammt dieser Inhalt des Mormonenbuches? Das schlechte und
+fehlerhafte Englisch und die absurden geschichtlichen Ideen lassen
+niemand anders als J. Smith selbst als Verfasser erwarten. Das Buch
+ist der Spiegel seines ererbten visionären Fabuliertalents und seiner
+vollständigen Unkenntnis der wirklichen Geschichte des amerikanischen
+Kontinents und der Welt. Aber wie ist es möglich, wird man fragen,
+daß ein solches Buch überhaupt Glauben fand? Nun im ersten Drittel
+des 19. Jahrhunderts unter den ungebildeten und schwärmerischen
+Abenteurern ist es für Amerika nicht unbegreiflich, zugleich in einer
+Zeit der stürmischsten und die Menschen wie eine Psychose ergreifenden
+Erweckungsversammlungen (<span class="antiqua">camp-meetings</span>, <span class="antiqua">revivals</span>);
+ebensowenig angesichts der ungeschichtlichen naiven Gläubigkeit des
+Amerikaners allem gegenüber, was sich als alt und uralt ausgibt, weil
+man ja selbst in einem fast vollkommen<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> geschichtslosen neuen Lande
+lebt. Es ist also nicht nötig, zu der Vermutung zu greifen, die man
+lange geteilt hat, Smiths Buch sei ein Abklatsch eines Romans eines
+puritanischen Predigers Spaulding, dessen Manuskript wiederum ein
+Buchdrucker Rigdon dem Propheten in die Hände gespielt habe. Das seit
+1885 bekannte Manuskript Spauldings zeigt nur äußere Ähnlichkeiten in
+Stil und Herkunft, aber gar nicht im religiösen Inhalt.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe47" id="illu_298">
+ <img class="w100" src="images/illu_298.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SALT LAKE CITY<br>
+ Der California-Expreß quer durch den Salzsee
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_298_gross.jpg"
+ id="illu_298_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe47" id="illu_299">
+ <img class="w100" src="images/illu_299.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SALT LAKE CITY<br>
+ Salt Lake City mit dem Wasatch-Gebirge
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_299_gross.jpg"
+ id="illu_299_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Wie ist es danach zu einer eigenen Mormonen<em class="gesperrt">kirche</em> gekommen?
+Unmittelbar nach Fertigstellung des Mormonenbuches begann eine
+Propaganda für den neuen Glauben im Staate Neuyork. J. Smith war
+überzeugt, daß seine Anhängerschaft zur Weltherrschaft berufen sei!
+Ein solch phantastischer Traum ist auf dem amerikanischen Kontinent
+und auf dem Gesinnungsboden eines „auserwählten Volkes“ durchaus
+begreiflich. J. Smith verkündete bald die Nähe des „1000jährigen
+Reiches“ und setzte seine Mission im Staate Ohio fort. Immer neue
+Orakel verkündete er. Seinen Anhängern wurden auch wunderbare Heilungen
+nachgesagt. Von Ohio ging ein Teil der Gläubigen bis nach Kansas und
+Missouri. Aber 1832 begannen auch schon die ersten Verfolgungen der
+„Heiligen“ durch „die Heiden“. Smith und sein Freund Rigdon wurden
+in einer Nacht aus dem Bett gerissen, auf die Straße geschleift —
+einer der nicht wenigen Fälle von amerikanischer Lynchjustiz — mit
+Teer beschmiert und zum Spott mit Federn ausstaffiert! Den Mormonen
+in Missouri warf man die Fenster ein, zündete ihr Heu an und schoß in
+ihre Häuser! Die Staatsregierung unternahm zunächst nichts. Aber je
+mehr die Mormonen verfolgt wurden, desto mehr breiteten sie sich aus.
+Auch J. Smith machten die Verfolgungen in seiner Überzeugung nicht
+irre. Im Gegenteil. 1834 forderte der „Prophet“ seine Anhänger zum
+Abzug auf, er selbst organisierte sie militärisch als ihr „General“!
+Die Mormonen verschanzten sich gegen anrückende Regierungstruppen in
+einem festen Lager in Missouri, wurden jedoch umzingelt und mußten sich
+der amerikanischen Miliz ergeben. Smith wanderte ins Gefängnis. Das
+Todesurteil wurde über ihn 1838 verkündet, aber nicht vollstreckt!<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span>
+Smith entfloh, seine Anhänger sammelten sich in Nauvoo in Illinois,
+das damals noch ganz unkultiviert war. Nauvoo sollte nun der Sitz des
+neuen Zion und des Tempels werden. Aber auch hier war ihres Bleibens
+nicht lange. Zu großem Anstoß führte die jetzt schon eifrig geübte
+Polygamie! Seit 1843 rechtfertigte sie der Prophet und übte sie
+selbst. Die „mit Heiligen versiegelten“ Frauen würden bestimmt des
+ewigen Lebens teilhaftig! So sollen sich nach Smiths Tod 27 Frauen
+gerühmt haben, dem Propheten „angesiegelt“ gewesen zu sein! 1844
+wurde J. Smith von seinen Anhängern sogar ernsthaft als Kandidat
+für die Präsidentschaft der Union aufgestellt!! Smith stand auf der
+Höhe seiner Erfolge. Eine Druckerei, die ihn schmähende Artikel und
+Zeitungen erscheinen ließ, ließ er zerstören und erklärte der Union
+den Krieg, die ihn zur Verantwortung ziehen wollte! Dann aber nahm
+er eingeschüchtert die Kriegserklärung wieder zurück und entfloh ins
+Felsengebirge. Seine Anhänger verlangten aber von ihm, daß er sich
+freiwillig den amerikanischen Gerichten stelle! Er tat es und ahnte
+sein Endschicksal voraus. Er wurde des Hochverrats für schuldig erklärt
+und eingekerkert. Obwohl das Gefängnis von amerikanischer Miliz bewacht
+wurde, drangen am 27. 6. 44. nachmittags fünf Uhr 200 abenteuerliche
+Gesellen mit geschwärzten Gesichtern ein und erschossen den Propheten
+in seiner Zelle, in der er sich vergebens zur Wehr setzte. Er wurde in
+Nauvoo begraben und war so, 39 Jahre alt, für seine Überzeugung den
+Märtyrertod gestorben.</p>
+
+<p>Aber damit ging der Mormonismus nicht unter. Im Gegenteil, er blühte
+erst recht auf. In Brigham Young, dessen Denkmal mit Recht im
+Mittelpunkt der Salzseestadt steht, erhielt das Mormonentum einen
+äußerst tatkräftigen und zielbewußten und vor allem organisatorisch
+hervorragend begabten Führer, der die Mormonen aus Nauvoo hinweg
+unter viel Mühsalen und Beschwerden bis in die damals noch völlig
+unbewohnten Einöden am Großen Salzsee führte. Hier entstand bald
+mit Hilfe künstlicher Bewässerung ein Kranz blühender und fleißiger
+Dörfer. Merkwürdigerweise trennte sich Smiths Frau und Mutter mit den
+Kindern von des „Propheten“ Gemeinde und<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> gründeten eine reformierte
+Mormonenkirche! Einer der Brüder Smiths wurde sogar aus der Kirche
+der „Heiligen“ ausgestoßen! Young, vier Jahre älter als der Prophet,
+leitete die Mormonenkirche bis 1877. Von Hause aus war er Tischler und
+Glaser. Unter ihm erst wurde das anstößige Dogma von der Polygamie
+öffentlich verkündet (1852).</p>
+
+<p>Man begnügte sich bald nicht mehr nur mit den Siedlungen am Salzsee,
+deren Fruchtbarkeit von allen Seiten Landsucher anlockte, sondern
+schickte auch Sendboten nach Europa! Young verschönte und vergrößerte
+auch die Hauptstadt, er baute das „Tabernakel“ und legte den Grundstein
+zum „Tempel“. Mit den umwohnenden Indianern, in denen man ja die
+Nachkommen des auserwählten Volkes Israel sah, verbündete sich
+Young und hielt mit ihnen zusammen lange Zeit die amerikanischen
+Regierungstruppen in Schach. Utah war selbständiges Territorium. Young
+übte die Rechte eines Gouverneurs aus. Er war zugleich Präsident des
+Staates <em class="gesperrt">und</em> der Kirche. Die Gerichte urteilten nach seinen
+Weisungen und zuweilen mußten Verbrechen durch freiwilligen Tod gesühnt
+werden! Von den nach Kalifornien strömenden Goldsuchern erhob man hohe
+Durchgangszölle. Die Landsuchenden hielt man in Abhängigkeit, indem
+die Kirche selbst das Land verpachtete. Aber die Einöde um den Salzsee
+verwandelte sich bald in ein Kulturparadies, das ich selbst mit Augen
+sah. So wurde Salt Lake City eine der saubersten und schönsten Städte
+der Union. Die Industrie blieb hier noch lange ganz fern.</p>
+
+<p>Young hielt auch auf straffe sittliche Zucht. Die Stadt wurde in
+Bezirke eingeteilt, denen Bischöfe und Priester vorstanden. Sie hatten
+das Leben sämtlicher Familien streng zu kontrollieren. Völlerei,
+Diebstahl, Betrug, Meineid, Fluchen und Würfelspiel — sonst vielgeübt
+— waren hier Seltenheiten. Als 1867 die Bahn nach dem Stillen Ozean
+gebaut wurde, hörte Utah auf, von der Welt abgeschnitten zu sein. Der
+Durchgangsverkehr stieg gewaltig. 1890 erteilte der amerikanische Staat
+Amnestie an alle Polygamisten. 1896 wurde Utah als Staat der Union
+eingegliedert. Der Traum eines mormonischen Weltstaates<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> mit Salt
+Lake City als Mittelpunkt war damit ausgeträumt. Übrig blieb nun der
+religiöse Mormonismus als Sekte wie der religiöse Katholizismus nach
+Aufhebung des selbständigen römischen Kirchenstaats. Heute mögen die
+Anhänger des Mormonismus in aller Welt eine halbe Million betragen.
+In Salt Lake City selbst haben sie dank der Einwanderung nicht mehr
+die Majorität. Eine ganze Reihe Kirchen anderer Sekten wie der
+Presbyterianer, der Methodisten usw. erheben sich auch jetzt daselbst.
+Aber etwa 2000 mormonische Missionare durchziehen die Welt und werben
+für J. Smiths Lehre und Sendung. In Deutschland und der Schweiz soll es
+etwa 5000 Mormonen geben, deren heißeste Sehnsucht es ist, einmal nach
+Salt Lake City zu kommen und im Schatten des Tempels zu sterben&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Ich hatte die Stadt durchschritten und stand am sogenannten
+„Eagle-Gate“ (Adler-Tor), das sich aus vier eisernen Bogen bestehend,
+vom Unionsadler gekrönt, angeblich über „die längste Straße der
+Welt“ spannt dicht beim Grab des mächtigen Brigham Young. Salt Lake
+City ist so modern geworden, daß sich auch schon ein paar stattliche
+Wolkenkratzer erheben, wenn auch nicht von der Höhe derjenigen
+Neuyorks. Die Innenstadt ist umkreist von einem Kranz höchst gefälliger
+und geschmackvoller Landhäuser. Alle Straßen, deren ein großer Teil
+mit hohen Pappeln bepflanzt ist, machen einen äußerst sauberen und
+gepflegten Eindruck. Um die Stadt leuchten Schneeberge. In der Tat,
+eine prächtige Lage für das mormonische Zion! In einigen kleineren
+Straßen entdeckte ich auch noch recht alte Häuser, darunter ein aus
+rohen Balken gezimmertes Blockhaus, das erste in Salt Lake!&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Wolken hatten sich zusammengezogen. Es fing an zu regnen. Ich flüchtete
+in die neue stattliche, gotische katholische Marienkathedrale und
+empfand wieder einmal, daß es doch etwas Schönes um die offenen
+katholischen Kirchen ist; sie bieten den Fremden und Reisenden stets
+einen unentgeltlichen Ruhesitz, wo man dem Lärm des Straßenverkehrs
+und der Nervenanspannung der Besichtigungen auf eine Weile ungehindert
+entfliehen kann. Ich suche sie daher in fremden Städten<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> immer gern auf
+und saß auch jetzt eine Weile in Salt Lake so gut in der katholischen
+Kirche wie in München in der Theatiner Hofkirche, in Venedig in S.
+Marco oder in Rom in Maria Maggiore. Es ist auch gewiß etwas Großes
+um das Weltumspannende der katholischen Kirche, die dieselbe in Köln
+oder in Sevilla, in Dresden oder in St. Marys Kathedrale in Salt Lake
+ist. Der Katholik kann sich darum überall in der Welt in seiner Kirche
+sofort daheim fühlen und zurechtfinden&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Wieder verließ ich wie im Staat Neumexiko in Santa Fé und San Franzisko
+im Schlafwagen auch das Zion der Mormonen des Abends. Fort ging’s in
+das Zauberbergland <em class="gesperrt">Kolorados</em>. Bei der Abfahrt leuchtete mir noch
+ein strahlendes Alpenglühen auf den Wasatchbergen den Abschiedsgruß ...
+Ein letzter wundervoller Eindruck!</p>
+
+<p>Ich hatte wieder eine weite Fahrt vor mir, wieder eine ganze Nacht und
+einen ganzen Tag durch einen großen Teil des Staates Utah über die
+Kette des Wasatchgebirges hinein in das größte Gebirgs- und Alpenland
+Amerikas Kolorado bis nach „Kolorado-Springs“ an den Fuß des 4300
+<span class="antiqua">m</span> hohen Pikes Peak, den Eckpfeiler des Felsengebirges am Rande
+der unendlichen Mississippiebene. War ich wieder soweit, dann hatte ich
+die ganze mächtige Breite des Felsengebirges wieder hinter mir.</p>
+
+<p>Ich las auf meinem Bett sitzend noch eine Weile in der Mormonenbibel,
+dann entschlummerte ich in meiner „<span class="antiqua">upper berth</span>“, die ich mir
+wieder rechtzeitig gesichert hatte. Ich war jetzt schon so sehr
+an das Schlafwagenfahren gewöhnt, daß ich so ruhig und gut wie im
+schönsten Hotelbett schlief. Dazu hielt der Zug in dieser Nacht wohl
+gar nicht, und ich wurde so wieder 700 Meilen, also etwa eine Strecke
+von Königsberg-Basel mühelos weitergerollt. Am „Jordan“ entlang ging
+es vom Salzsee zum viel kleineren Utahsee und dann keuchend hinauf
+über die Paßhöhe des Wasatchgebirges (2300 <span class="antiqua">m</span>) und wieder hinab
+durch das sogenannte „Castle Gate“, an dessen Eingang drohend zwei
+riesige 150 <span class="antiqua">m</span> hohe aufragende Sandsteinfelsen stehen und kaum<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span>
+den eingleisigen Schienenweg hindurchlassen, zum Green River, einem
+Quellfluß des Koloradostromes. Von all dem sah ich freilich wenig,
+sondern verschlief es; aber am nächsten Tage sah ich dergleichen genug,
+was den stolzen Namen der Bahnlinie als der „<span class="antiqua">most scenic line
+<em class="gesperrt">of the world</em></span>“ rechtfertigte, denn sie geht mitten durch
+das wildzerklüftete Alpen- und Goldland Kolorado, die „Schweiz“ der
+Vereinigten Staaten, hindurch.</p>
+
+<p>Ich erwachte am Morgen, als wir schon die Koloradowüste hinter uns
+und den Green River überschritten hatten und im felsigen Cañon des
+Grand River, des anderen Quellflusses des Kolorado, fuhren. Aus
+dem lieblichen Kulturparadies am Salzsee war ich in die wilden
+Bergschluchten Kolorados, wie aus dem Italien und Spanien Kaliforniens
+in die Schneewelt der Sierra Nevada und aus dieser wieder in die
+sengende Wüste Nevadas versetzt. Was für Verwandlungen! So war ich
+wieder am Koloradofluß, in dessen wilden Großcañon ich vor etwa einer
+Woche von 2000 <span class="antiqua">m</span> Höhe geschaut hatte — freilich mehrere
+hundert Meilen von hier südlich — und den wir bei Needles an der
+Grenze Kaliforniens bei herrlichstem Sonnenuntergang breit wie einen
+Meeresarm gekreuzt hatten. Jetzt dampften wir seinen Oberlauf aufwärts.
+Wir hielten in Grand-Junction, wo eine Nebenlinie nördlich durch das
+Bergland auch nach Kolorado Springs führt. Ich blieb auf der kürzeren
+Hauptlinie, die ein Umsteigen ersparte. Aber jedem Leser rate ich, im
+entsprechenden Fall doch lieber die noch viel interessantere Nebenlinie
+zu benutzen.</p>
+
+<p>Die Farmen in den Hochtälern wie auf Alpenweiden und -matten erwachten!
+Hunde spielten vor den schweizähnlichen Blockhäusern. Hühner gackerten
+heimatlich. Hemdärmelig standen in hohen Stiefeln und wollenen Jacken
+stämmige Menschen vor ihren Blockhäusern, die mich sehr an die am
+Fuß der San Franziskoberge in Flagstaff erinnerten, und schauten dem
+Tagesereignis, dem Zug, nach&#160;...</p>
+
+<p>Es ist herrlicher Morgensonnenschein. Aus einem Cañon geht es ohne
+Unterlaß in den anderen. Meist läßt der Felsabsturz gerade nur noch
+den Platz für die Bahnlinie frei. Ein Zugzusammenstoß muß<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> hier
+leicht möglich, aber nicht gerade ungefährlich sein! Bergwerkstollen
+sieht man bis hoch an die Felswände hinauf. Im Wagen sitzen allerlei
+— amerikanisch! — bibellesende Menschen, darunter auch wieder ein
+Heilsarmeesoldat. Mit einer ihre Morgenandacht im Wagen haltenden
+jungen Dame komme ich ins Gespräch. Sie stammt von deutschen Eltern
+und bekennt sich als eifrige Sonntagsschullehrerin. Sonntags besucht
+sie zwei- bis dreimal ihre Kirche. Sie liest fast nur in der Bibel,
+sagt sie. Andere Bücher bedeuten nichts! Meine Morgenandacht bestand im
+Augenblick im Hinausschauen in die großartige Natur- und Gebirgswelt.
+Redete nicht auch hier Gott zu mir? Ich brauchte jetzt kein Buch über
+Gott. Meine Bibel waren im Augenblick die grandiosen Felsabstürze
+und Schneehäupter und rauschenden Ströme, an denen ich mich nie müde
+sehen konnte. Und etwa zur Mormonenbibel zu greifen, hatte ich jetzt,
+obwohl wir kaum aus Utah heraus waren, immer weniger Neigung. Was
+ging mich jetzt die abstruse und unmögliche Geschichte der Juden auf
+dem amerikanischen Kontinent vor ein paar tausend Jahren an? Sollten
+wirklich Juden durch diese Kañons gezogen sein oder auf diesen Almen
+ihr Vieh geweidet oder an diesen rauschenden Strömen gekämpft und sich
+ausgerottet haben? Ich bin kein Judenfresser — aber das auch nur
+einmal auszudenken, wäre mehr als grotesk. Ärgerlich packte ich diese
+Art „Bibel“ zu unterst in meinen Handkoffer ... Die junge Dame war auf
+Deutschland nicht gut zu sprechen, obwohl sie es selbst nie gesehen
+hatte ...! „Aber es muß doch dort nicht schön sein“, so philosophierte
+sie zu mir flötend und selbstbewußt, sonst wären doch meine Eltern
+nicht hierher in die „States“ ausgewandert! Ihr Vater kam aus Elbing in
+Westpreußen, wo er ein kleines Bauerngütchen besessen hatte, und hier
+war er allerdings bald Großfarmer geworden. Ich sagte ihr — und es
+sollte keine bloße Höflichkeit sein — daß ich hier am liebsten jetzt
+ausstiege und durch die Wälder ginge und über die Felsen dem Schnee
+entgegenstiege! Da sah sie mich ganz entgeistert an und bekam fast
+einen kleinen Ohnmachtsanfall: „Aber hier gibt es ja nirgends Wege! In
+diesem Lande geht man nicht spazieren!“<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> Mehr als mitleidig sah sie
+mich dabei an, und ich entgegnete ihr ebenso mitleidig in Gedanken:
+„Armes Land, das zum Wandern zu ungeheuer ist, das man nur im Expreß
+oder mit dem Auto durchrasen kann. Und selbst das nicht, denn auch dazu
+fehlen noch die Straßen durch die Rockies. Ihr Amerikaner, dachte ich,
+müßt doch eine ganz andere Seele haben als wir Deutschen. Bei euch ist
+alles aufs Riesige, Große, Ungemessene gestellt. Ihr kennt nicht die
+Kleinszenerie eines deutschen Mühlentälchens oder den lauschigen Sitz
+an der Quelle und den wohldurchwegten Buchenwald.“&#160;—</p>
+
+<p>Wir waren inzwischen immer höher gekommen und fuhren wieder einmal auf
+2000 <span class="antiqua">m</span> Höhe. Die kleinen Bahnhöfe, die wir zuweilen passierten,
+an denen manchmal ein einziges Fräulein den ganzen Bahndienst versieht
+oder ein Bursche mit einer Flagge winkt — <span class="antiqua">NB</span> die ganze
+bahnamtliche Verständigung! — erinnerten mich lebhaft an Hochtäler in
+Tirol und ihre grasigen einsamen Weiden. Kühe weideten hier oben wie in
+den Alpen. Und ringsum grenzten Schneeberge den Horizont.</p>
+
+<p>Ja, jetzt schneite es gar. Wie lustig! Wie warm aber mochte es
+gleichzeitig auf dem Asphalt des Broadway in Neuyork sein! Nur die
+Gletscher fehlten hier zur Vervollständigung des alpinen Bildes. Von
+der Bahn aus wenigstens sah ich keinen. So tief wie in unseren Alpen
+reicht hier der Schnee nicht in die Täler. Sonst war alles wie in
+unseren Alpen. Auch wenn ich mir die Menschen hier oben betrachtete,
+so schienen mir die Bewegungen der Koloradoleute, an Sturm und
+Schnee gewöhnt, viel stämmiger, gemessener und gewichtiger als der
+typischen überbeweglichen Yankees. Die Koloradoleute kommen einem
+recht unamerikanisch vor, so wie etwa bei uns der Schwarzwälder oder
+Partenkirchener mit dem Berliner auf dem Asphalt der Friedrichstraße
+auch wenig gemein hat.</p>
+
+<p>Bald sind wir in vollendeter Schneelandschaft. Es schneit hier stark.
+Bahnrauch, Nebel und Schnee hüllen das Hochtal ein. Noch immer laufen
+die Gebirgsbäche zum Stillen Ozean. Wir sind in die romantische
+Schlucht des „<span class="antiqua">eagle-cañon</span>“ eingefahren. Die Schlucht ist nur<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span>
+noch wildrauschender Fluß und mehrere hundert Meter hoch aufsteigende
+Felswände. Die Bahn keucht in Windungen immer höher empor. Endlich in
+Höhe von 3184 <span class="antiqua">m</span> (!) — also z.&#8239;B. noch 400 <span class="antiqua">m</span> über dem
+Stilfser Joch in Tirol, einem der höchsten Alpen<em class="gesperrt">straßen</em>pässe
+— erreicht die Bahn den „Tennesseepaß“, d.&#8239;h. die <em class="gesperrt">Wasserscheide
+zwischen Stillem und Atlantischem Ozean</em>! Der Zug hält, gleichsam
+stolz auf seine Leistung. Es ist auch eine. Die Lokomotive faßt Wasser
+und Kohlen und erholt sich von ihrem Rekord, einen <span class="antiqua">D</span>-Zug
+mit sechs Wagen auf solche Höhe hinaufgebracht zu haben. Für einen
+Augenblick springen wir Globetrotters von den hohen Trittbrettern
+aus unseren Pullmann-Wagen, die uns seit Salt Lake City schon wieder
+etwa 16 Stunden beherbergen. O diese wunderbare köstliche frische
+Hochgebirgsluft! Wir sind 200 <span class="antiqua">m</span> <em class="gesperrt">über</em> der Höhe der
+Zugspitze!! So ist es auch draußen recht empfindlich kalt. Das
+Thermometer zeigt 0 Grad! Rings hüllt uns eine neblige Schneelandschaft
+völlig ein. Schneehäupter schauen über alle Seitentäler herüber,
+darunter die stolzen Gipfel der „Sangre de Christo“-Berge<a id="FNAnker_31" href="#Fussnote_31" class="fnanchor">[31]</a>. Ach
+könnte ich ein wenig hierbleiben und die Koloradoalpen ersteigen! Aber
+die unerbittliche Zeit, Fahrplan, Geld und Arbeitsfrohn treiben mich
+mit ihrer Geißel und dem Ruf unserer Fronvögte: „<span class="antiqua">All aboard!</span>“
+in die dumpfen Wagen mit ihrer verbrauchten Stickluft aus Nacht-
+und Tagkampieren, Speiseresten, Abfällen, weggeworfenen Zigaretten,
+Zeitungen u.&#8239;dgl. zurück.</p>
+
+<p>In Station „Buena Vista“ ist da oben wirklich eine Prachtaussicht. Wir
+fahren eine Zeitlang auf einem Hochplateau in 3000 <span class="antiqua">m</span> Höhe. Um
+uns erheben sich die sogenannte „<span class="antiqua">Collegiate Peaks</span>“, die nach
+den großen Universitäten genannt sind: „<span class="antiqua">Mount Yale</span>, <span class="antiqua">Mount
+Princeton</span> und <span class="antiqua">Mount Harvard</span>“, jeder ein Montblank für
+sich, an 4300-4400 <span class="antiqua">m</span> hoch! Nicht weit von hier ist ein Tunnel,
+durch den die dortige Bahnlinie sogar in 3500 <span class="antiqua">m</span> (!) Höhe die
+Wasserscheide der Ozeane überschreitet. Draußen steht — wie ich beim
+Hinaussehen feststelle — wieder einmal<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> bei ein paar Hütten eine
+kleine Holzbaukastenkirche. Einige weidende Esel zeigen sich uns als
+die einzigen Lebewesen hier oben, wie auch diese geduldigen Tiere
+allein bei uns nach den Alpenhütten emportraben. Fast heimatliche
+Gefühle stellen sich bei mir ein, je öfter ich daran denke, daß es
+wieder dem Atlantischen, „unserem“ Ozean zugeht! Werde ich noch einmal
+im Leben am Rande des Pazifik liegen, mich in seinem Sande in der Bucht
+von Montery wohlig wärmen oder nach der paradiesischen Insel Santa
+Catalina hinüberfahren oder die Seelöwen gegenüber dem Goldenen Tor der
+San Franzisko-Bucht brüllen hören? Das alles kam mir jetzt auf diesen
+hochalpinen Ebenen wie ein sonniges, aber verklungenes Märchen vor samt
+den Zinnen des Mormonentempels und den weiten glitzernden Fluten des
+Salzsees&#160;...</p>
+
+<p>Allmählich ging es von der alpinen Hochebene wieder herab in einen
+neuen schaurigen Cañon. Die Bahntrasse hatte sich beträchtlich
+gesenkt. Es war wohl der vierte große Cañon dieses Tages, der des
+„Arkansas-River“, der viele hundert Meilen lang bereits dem „Vater der
+Ströme“, dem Mississippi, zuströmt. Sein Wasser rauscht frisch und
+kalt, wie es aus den Bergen kommt. Mächtige Felsblöcke sperren seinen
+Weg. Immer enger wird der Bahnweg. Wie ein ständig sich krümmender Wurm
+windet sich der Zug durch die riesige Schlucht. Wirklich, diesmal war
+der Mund nicht zu voll genommen: Es war „<span class="antiqua">the most scenic line of
+the world</span>“, die ich fuhr. Der Arkansascañon übertraf alle Tiroler,
+Schweizer und oberbayrischen Klamms zusammen, die ich gesehen hatte.
+Welche Wildromantik ständig da draußen! Mich beseligte ein eigenartiges
+stilles Glücksgefühl, das alles einmal sehen zu dürfen. So hätte ich
+bis ans Ende der Welt fahren können! Nur zu schnell glitt alles vorüber
+...</p>
+
+<p>„<span class="antiqua">Morningpapers</span>“<a id="FNAnker_32" href="#Fussnote_32" class="fnanchor">[32]</a> wurden ausgeboten. Was scherten mich jetzt
+in dieser Alpenszenerie die Politik der Welt und die Börsenkurse,
+Theatergrößen und Sporthelden! Wie lächerlich klein, unwichtig und
+aufgebauscht<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> erscheint all das Menschengetriebe der Kulturgroßstädte
+hier oben! Andere im Wagen studieren immer von neuem die Fahrpläne,
+die sie doch bald auswendig können müssen, um die Zeit totzuschlagen,
+die mir viel zu schnell vergeht. Auch Kartenspiel ist nicht jedermanns
+Sache und dünkte hier mich Sünde. Ich studiere derweilen immer aufs
+neue die majestätische Natur draußen und suche die großen Eindrücke
+recht fest und tief in mich einzusaugen&#160;...</p>
+
+<p>An den kleinen Stationen, wo es etwa alle ein bis zwei Stunden einmal
+hält, steigt niemand ein und aus. Aber zuletzt, ehe wir aus dem
+Felsengebirge austreten, kommt noch das Großartigste von allem, die
+sogenannte „Royal-Gorge“<a id="FNAnker_33" href="#Fussnote_33" class="fnanchor">[33]</a>. 800 <span class="antiqua">m</span> hohe Wände steigen hier
+fast senkrecht aus der Schlucht empor. Die Schlucht wird jetzt so
+schmal, daß die Spur für die Bahn zum Teil erst künstlich geschaffen
+werden mußte. Auf hängender Brücke (!), deren obere Eisenbänder in die
+Felswände eingelassen sind, überschreitet die Bahn die allerengste
+Stelle. 13 <span class="antiqua">km</span> lang ist dieser ganze unbeschreiblich romantische
+Engpaß. Unter uns oder dicht neben uns tost der Arkansas-River. Hier
+wächst kein Gräslein mehr in dieser Teufelsschlucht, kein Sonnenschein
+dringt in die Tiefe ... Der Zug hält einen Augenblick zur Bewunderung
+der grandiosen Gebirgsszenerie. Dann auf einmal tritt nach nicht
+allzulanger Weiterfahrt die Bahnlinie urplötzlich ins offene Gefilde
+hinaus. Wie aus einem Höllental geht es ins Himmelreich, wie aus der
+Teufelsschlucht des Gotthardpasses in das grüne „Andermatt“. Die
+Berge treten zurück. Die Baumblüte ist im Gange. Noch erscheinen
+keine zusammenhängenden Siedlungen, sondern erst nur Einzelfarmen.
+Berittene Hirten treiben mächtige Kuhherden in die Hürden, denn der
+Tag neigt sich wieder einmal zum Abend. Wir halten in Cañon-City,
+dann in Pueblo, das nicht mehr weit von La Junta ist, der Gegend, wo
+ich mein Scheckbuch verlor und wiederfand. Ich bin also eine riesige
+Schleife gefahren. Ich steige aus in dem amerikanischen Davos, in
+„Kolorado-Springs“ am Fuß des 4300 <span class="antiqua">m</span> hohen Pikes Peak. Der<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span>
+vielbesuchte Badeort liegt selbst 1800 <span class="antiqua">m</span> hoch, also auf
+Rigihöhe. Dicht vor sich hat man die Kette des Felsengebirges, das
+ich einst so sehnsüchtig erschaut und nun zweimal so ausgiebig seiner
+ganzen ungeheuren Breite nach durchfahren hatte; zur Rechten beginnen
+die ebenso ungeheuerlichen Mississippiebenen&#160;...</p>
+
+<p>Als ich aus dem Bahnhof trat, fiel schon die Nacht ein. In meinem
+Logis, das ich bald gewählt, freute es mich doch, nach der 24stündigen
+Fahrt seit Salt Lake wieder einmal ungerollt und ungewiegt schlafen zu
+dürfen. Wie in Kalifornien in Los Angeles, Monterey und San Franzisko
+wollte ich mich auch hier in dem vielgerühmten Klima ein bißchen
+erholen und es mir auf ein bis zwei Tage gemütlich machen, denn noch
+immer lagen ungeheure Entfernungen vor mir. Erst ein Drittel der Breite
+der Union war wieder von Westen nach Osten durchmessen&#160;...</p>
+
+<p>Von Kolorado-Springs, dem Davos oder Luzern Amerikas, kann man viele
+herrliche Touren machen, aber dazu braucht man Führer, Esel, weitere
+Bahnfahrten, so in die „Cheyenne Berge“, die Alpenfahrt nach der
+Goldgräberstadt „Cripple Creek“, vor allem aber zu dem nach dem
+Indianergott Manitou, dem „großen Geist“ genannten Gebirgsort am Fuß
+des Pikes Peak, zu dem „<span class="antiqua">garden of the Gods</span>“, dem Göttergarten
+mit seinen grotesken Felsbildungen, und vor allem auf den die ganze
+Gegend beherrschenden „Pikes Peak“ selbst.</p>
+
+<p>Es war fast immer blendender Sonnenschein, wenn ich aufstand. In
+Kolorado-Springs regnet es von September bis April überhaupt nicht;
+selten fällt Schnee! Es ist noch trockener und sonniger als Davos und
+wird daher viel von Brustkranken, Tuberkulösen und Neurasthenikern in
+der Union aufgesucht. Von den endlosen Prärien der Mississippiebene
+weht der reine warme Wind herein. Die hohen Berge der Rockies schützen
+es gegen Stürme und Kälte. Es war also allein schon ein erhebendes
+Bewußtsein, an einem so gesunden und paradiesisch-klimatischen Ort
+zu weilen. Man lebte den ganzen Tag in dem Gefühl, wie von rosigen
+Engelslüften umgeben zu sein, und war von der fast fixen Idee besessen,
+daß man nur immer recht tief Atem zu holen brauche und die Lungen
+davon recht gefüllt mitzunehmen,<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> um gesund zu sein. In der Tat, als
+ich wieder nach Chikago zu meinen Verwandten kam, waren sie erstaunt,
+mich trotz der inzwischen geleisteten Bahnfahrt von 5000 Meilen so
+frisch und rotbackig zu finden. Das hatte ohne Zweifel die Luft von
+Kolorado-Springs zusammen mit dem sonnigen Sand am Pazifik zuwege
+gebracht.</p>
+
+<p>So fuhr ich nach dem Frühstück sofort mit der Eisenbahn die nicht
+allzugroße Strecke über „Kolorado-City“ ins Gebirge hinein nach
+„Manitou“. Kolorado-Springs war schon still. Denn die großen Hotels
+waren noch geschlossen. Die Saison war noch nicht angegangen. Aber
+Manitou war geradezu noch wie ausgestorben. Vielleicht hätte ich hier
+jetzt noch nicht einmal ein Zimmer bekommen. Denn alle Pensionen
+und Gasthöfe schienen noch geschlossen zu sein. In Kolorado-Springs
+dominierte schon einzigartig schön das Montblanchaupt des Pikes Peak,
+aber in Manitou wirkte es geradezu erdrückend. Man war ihm hier jetzt
+näher wie in Lautersbrunn oder Wengen in der Schweiz der „Jungfrau“.
+Manitou liegt verstreut mit Villen und Pensionen in einem alpinen
+Kessel, etwa 2000 <span class="antiqua">m</span> hoch. Von hier aus wird die Besteigung des
+Pikes Peak meist unternommen. Und die hatte ich mir nun einmal schon
+lange in den Kopf gesetzt. Sie stand als unerschütterlicher Punkt auf
+meinem Reiseprogramm.</p>
+
+<p>Es geht auf den Pikes Peak eine Zahnradbahn hinauf, die drei Stunden
+braucht. Aber die hätte ich verschmäht, auch wenn sie gegangen wäre.
+Gewiß war sie auch für meinen Geldbeutel zu teuer. Ebenso wie ich es
+für eine Entheiligung unserer Alpen halte, daß sich jetzt jede feiste
+Madame oder jeder Schieber auf die Jungfrau oder bald auf die Zugspitze
+hinauffahren lassen kann. Auch auf den Rigi und den Pilatus sind wir
+seinerzeit ganz zu Fuß hinauf- und wieder hinuntergestiegen. Das war
+redliche Touristenarbeit. Die Zahnradbahn war aber noch nicht wieder
+eröffnet! Außer der Zahnradbahn geht eine 27 <span class="antiqua">km</span> lange Fahrstraße
+auf den Gipfel! Die kann man hinauffahren. Aber sie war für mich zu
+weit. Ich wäre auch nie in der Kutsche hinaufgefahren. Zu Fuß wäre ich
+hinauf-, aber an einem Tage nicht wieder heruntergekommen! Endlich geht
+ein Fuß- und Reitweg durch den Englemans<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> Cañon hinauf, zu dem man
+sechs Stunden braucht! Mit dem Fußweg wollte ich es tapfer versuchen.
+Ausgerüstet war ich zwar gar nicht dafür. Ich hatte weder Bergschuhe
+noch Alpenstock, auch keine langreichende Wegzehrung! Was hatte ich
+auf dem Frühlingspflaster in Boston und Chikago auch an Alpentouren
+im Felsengebirge in Schnee und Eis gedacht! Schon am Niagara war ich
+höchst überrascht, ihn Anfang April noch völlig vereist anzutreffen ...!</p>
+
+<p>Ich wanderte also zunächst, als ich aus der Bahn stieg, durch den
+prächtigen Luftkurort Manitou, kam am Bahnhof der Zahnradbahn vorüber
+und stapfte tapfer, klirrend meinen Stock aufstützend, den Fahrweg zum
+Englemans Cañon hinauf. Es wurde immer stiller und einsamer um mich.
+Nur die Sonne schien und war meine treue Begleiterin. Der Fahrweg
+hörte bald ganz auf und wandte sich rechts ab. Der Fußweg hörte bald
+auch auf — nämlich im tiefen Schnee! Nun blieb nur noch die Trasse
+der Zahnradbahn als Pfad zu erkennen. Der folgte ich. Einige weidende
+Esel waren die letzten Lebewesen gewesen, die ich sah. Im Sommer
+trugen sie wohl unermüdlich die Touristen auf den Alpengipfel des
+Pikes Peak. Nun kam lange gar nichts mehr. Ich setzte immer Fuß vor
+Fuß, eine tüchtige tiefe Spur hinter mir lassend. Nach einiger Weile
+hüpfte mal ein graues Eichhörnchen über den Weg, das noch lange nicht
+daran dachte, sein Sommerkleid anzulegen. Hier und da löste sich im
+wärmenden Sonnenschein eine Schneelast von den dichtstehenden Tannen
+und huschte mit gespenstischem Laut zur Erde nieder. Eine reine Luft
+war rings zum Jauchzen. Ein Himmelblau spannte sich über mir, wie ich
+es so tief und klar kaum je gesehen hatte. Ich dehnte und weitete
+meine Brust und füllte die Lungen, als ob es bis ans Lebensende
+reichen müßte ... So war eine Stunde nach der anderen vergangen.
+Aber der Pikes Peak erschien mir immer höher und — ferner! Rings um
+mich war alles Schnee. Auch die Trasse der Zahnradbahn war jetzt so
+dicht mit Schnee zugedeckt, daß sie kaum noch zu erkennen war. Jeder
+Schritt wurde zu einer mächtigen Anstrengung. Lautlos still war alles
+ringsum. Leise Zweifel begannen in meiner<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> Brust aufzustehen, ob ich
+wohl heute noch hinaufkäme. Oben sollte ein Gasthaus sein, aber es
+war gewiß jetzt noch geschlossen! Ein Herr und eine Dame waren mir
+entgegen abwärts geschritten, wohlausgerüstet wie Alpensteiger. In der
+Freude, in dieser Hochgebirgseinsamkeit einmal plötzlich Menschen zu
+sehen, griff ich auf gut deutsch an den Hut und sagte fröhlich, ganz
+vergessend, wo ich war: „Guten Morgen“! Die Lady sah mich groß an,
+offenbar sehr erstaunt und beleidigt zugleich, daß ich es wagte, als
+Mann eine Dame zu grüßen und anzusprechen, und grüßte nicht wieder! Ich
+hatte im Augenblick auch ganz vergessen, daß ich ja auf amerikanischem
+Boden eine Dame nicht zuerst grüßen darf! Und selbst auf dem Weg zum
+Pikes Peak muß man die Form wahren! Der Herr, offenbar, wie ich beim
+Näherkommen sah, ein Führer, murmelte lächelnd ein paar Worte. Ich rief
+ihm noch nach, wieweit es noch auf den Pikes Peak sei, da antwortete
+er: „Bis zum <span class="antiqua">half-way-house</span> noch eine gute halbe Stunde.“ So
+stapfe ich weiter, in der Hoffnung, beim „<span class="antiqua">half-way-house</span>“
+wohl eine trockene und warme Stube zu finden. Dann überließen sie
+mich meinem Schicksal. Als ich endlich, vom ewigen Schneestapfen und
+Bis-ans-Knie-Einsinken recht müde geworden, das „<span class="antiqua">half-way-house</span>“
+erreiche, ist es — verschlossen! Ich rüttele an allen Türen, es hilft
+nichts. Die Fensterläden sind zugeschlagen. Kein Lebewesen, weder
+Mensch noch Tier, regt sich in ihm. Mir wie zum Spott steht bloß groß
+da angeschrieben: „<span class="antiqua">Half-way-house</span>“ — und droben erhob der Pikes
+Peak sein Haupt, jedesmal höher, ferner und anscheinend unerreichbarer
+denn je zuvor!</p>
+
+<p>Ich verzehrte meinen Mundvorrat an Gebäck und Orangen im Stehen.
+Meine Füße steckten naß in leichten Strümpfen und durchlässigen
+Schuhen wie in ständigem Schneewasserbad. Ich überlege. Zum Umkehren
+kann ich mich noch nicht entschließen; aber ob ich heute noch auf
+den Pikes Peak komme und auch wieder mit heiler Haut bei diesen
+unerwarteten Schneeverhältnissen herunter, ist mir nun höchst
+zweifelhaft geworden. Und wenn oben gar auch verschlossen ist wie
+hier das <span class="antiqua">half-way-house</span>, sollte ich dann die Nacht<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> oben im
+Schnee zubringen? Das waren keine angenehmen Aussichten! Wie es nur
+wohl die nicht wiedergrüßende Lady gemacht hatte? Hatte sie vielleicht
+einen Schlüssel zu dem Unterkunftshaus mitgehabt? Meine Wirtin in
+Kolorado-Springs hatte es mir nicht sagen können, ob „oben“ offen sei
+und ob man jetzt schon hinauf könne. Ich müsse es versuchen. Ich las
+in meinem getreuen Bädeker nach, da fand ich den mir jetzt leider nur
+allzu wahr erscheinenden Satz: „Die Besteigung des Pikes Peak ist des
+Schnees wegen nicht vor Juni, nur im Sommer anzuraten!“ Er hatte recht,
+der treffliche Bädeker, wie immer. Aber da ich im tiefen Schnee so
+manchen Berg auch im deutschen Winter erstiegen hatte, dachte ich, ich
+könnte auch den Pikes Peak in Amerika im April zwingen ... Der Mensch
+denkt!&#160;...</p>
+
+<p>Ich stapfte weiter. Meine Stiefel waren außen Schnee und innen Wasser.
+Ich gab das Rennen noch nicht auf. Oder sollte ich etwa doch besiegt
+einen Kompromiß schließen? Kompromisse sind stets vom Übel. Aber
+manchmal geht es doch nicht anders. Rechts oben über einem steilen
+Hang schaute ein Aussichtstempel herab: „<span class="antiqua">Grand-view-rock</span>“
+nannte er sich. Ein Wegweiser, aber jetzt ganz ohne Weg, wies hinauf.
+Sollte ich mich mit diesem kleinen Pikes Peak begnügen? Schmählich!
+Aber der Mensch versuche die Götter nicht! Sollte etwa nachher in den
+amerikanischen Zeitungen stehen: „Am Pikes Peak wurde ein deutscher
+Tourist erfroren und entkräftet aufgefunden. Aus seinen Papieren ergab
+sich, daß er usw. ...“ Nein, diese Sensation gönnte ich den so sehr
+sensationslüsternen „<span class="antiqua">papers</span>“ neben alle den anderen auf dem
+Asphalt Chikagos und Neuyorks denn doch nicht! Dazu war der <span class="antiqua">sacro
+egoismo</span> in mir zu lebendig. Also wandte ich mich rechts hinauf und
+stieg zunächst weg- und steglos durch den Wald und über vereiste Felsen
+zum „<span class="antiqua">grand-view-rock</span>“ hinauf, bis mir das Herz bei dem fast
+senkrechten Steigen bis zum Halse hinauf klopfte&#160;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_316">
+ <img class="w100" src="images/illu_316.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">SALT LAKE CITY<br>
+ Der Tempel-Block in Salt Lake City
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_316_gross.jpg"
+ id="illu_316_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_317">
+ <img class="w100" src="images/illu_317.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">WASHINGTON<br>
+ Das Capitol
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_317_gross.jpg"
+ id="illu_317_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Ich hatte ihn erreicht. Auf hohem Felsen thronte ein Holztempelchen.
+Ich trat ein. Die Aussicht von oben war in der Tat glänzend<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span>
+und „groß“. Unten zu meinen Füßen lag Manitou wie aus einer
+Spielzeugschachtel aufgebaut, weiter hinaus Kolorado-Springs, und
+dann ergoß sich die endlose Ebene wie ein Meer bis an den weitesten
+Horizont; ringsum aber die immer gewaltiger ansteigenden Berge. Über
+allem das noch immer unbezwingliche Schneehaupt des Pikes Peak! Ich
+stand wohl jetzt etwa noch knapp 1000 <span class="antiqua">m</span> unter seinem Gipfel. Es
+war Mittag. Der Hunger meldete sich. Und der Weg abwärts und zurück war
+auch noch ein gutes Stück Arbeit. So entschloß ich mich schließlich
+doch schweren Herzens, die weitere Besteigung des Berges nicht zu
+versuchen. Aber es hat mich einen Kampf gekostet&#160;...!</p>
+
+<p>An den Felsen des <span class="antiqua">grand-view-rock</span> waren sehr merkwürdige
+Inschriften, die zur religiösen Bekehrung riefen, angeschrieben, z.&#8239;B.:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="center">„<span class="antiqua">God will save us. The wicked go to the hell. Where will you spend
+eternity? He that believes, shall be saved.<br>
+He, that does not, shall be
+damned.</span>“<a id="FNAnker_34" href="#Fussnote_34" class="fnanchor">[34]</a></p>
+
+</div>
+
+<p>Also Heilsarmeefrömmigkeit bis auf den Pikes Peak hinauf! Ob das hier
+gerade sehr geschmackvoll wirkte? Ob nicht die grandiose Bergwelt
+allein dem Menschen mehr wirkliche Gotteserkenntnis predigte als
+solche Inschrift? Das Holzgeländer des Tempelchens, das vor der Tiefe
+schützen sollte, war recht morsch. Im Winter mag hier manch schöner
+Sturm und Frost wüten! Nachdem die letzte Kost verzehrt und der letzte
+Blick hinauf auf das göttergleiche Haupt des Pikes Peak und hinab in
+die endlosen Prärien getan war, begann ich innerlich traurig den nicht
+mühelosen Abstieg nach Manitou&#160;...</p>
+
+<p>In Manitou wieder angekommen, mache ich, ehe ich nach Kolorado-Springs
+zurückkehre, noch einen weiten Umweg in die „<span class="antiqua">gardens of the
+gods</span>“, d.&#8239;h. in jenes Gebiet der merkwürdigsten Sandsteinbildungen,
+noch vielmal absonderlicher als etwa die unserer sächsischen<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> Schweiz,
+besonders eigenartig durch ihre rotglühende Färbung. So wandle ich
+am Nachmittag — die Schneeregion ist wieder verlassen — zwischen
+dem „Turm von Babel“, einem mächtigen mehrgipfligen spitzen Fels,
+den „drei Grazien“, drei steilspitzen Nadelfelsen, den „siamesischen
+Zwillingen“, zwei eigenartig fast in gleicher Höhe nebeneinander
+aufragenden und durch ein Felsstück verbundenen Gesteinstürmen, so
+daß sie wie zusammengewachsen erscheinen, am „Wackelstein“, einem
+mächtigen auf einer Ecke balanzierenden Felsblock, und dem „Gateway“,
+einem mächtigen Felsentor, vorbei zu den Höhlen der Felsenbewohner
+(<span class="antiqua">cliff-dwellers</span>) aus vorgeschichtlicher Zeit und den
+„Titanen“felsen, die fast den Eindruck assyrischer Götterfratzen
+machen. Und zwischen all diesen seltsam bizarren roten und weißen
+Sandsteinbildungen blickt immer wieder das majestätische Haupt des
+Pikes Peak aus der Ferne hindurch wie der schneeige Libanon durch die
+grandiosen Tempelruinen von Baalbek in Syrien&#160;...</p>
+
+<p>Gegen Abend bin ich wieder in Kolorado-Springs und kann mich auch hier
+nicht satt sehen an dem dominierenden Schneegipfel.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Nach einer nach diesen Anstrengungen wohldurchschlafenen Nacht
+entführte mich der Zug in die „Königin des Westens“ Denver. Mein lieber
+Freund Moore in Harvard, Dolmetsch und Cookführer in Konstantinopel
+und Griechenland, hatte es mir geradezu auf die Seele gebunden, daß
+ich seine Heimatstadt Denver besuchen müßte. Die Entfernung von
+Kolorado-Springs betrug 75 Meilen, also nur ein Katzensprung für
+amerikanische Begriffe. Während der ganzen Fahrt dorthin hatte man
+links eine Prachtaussicht auf die Kette des Felsengebirges. Und je
+weiter wir uns vom Pikes Peak entfernten, desto höher erschien er.
+Es war wieder ein feiner Frühlingsmorgen. Der Zug hatte mit Tuten
+öfters Vieh und Spaziergänger vom Bahndamm zu jagen, der auch hier als
+bequemster Verbindungsweg galt! Rechts dehnte sich der Blick in die
+endlose Prärie. Die Büffel in ihr sind freilich verschwunden. Die sieht
+man bloß noch im Golden-Gate-Park in San Franzisko oder in zoologischen
+Gärten. Auf 2000 <span class="antiqua">m</span><span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> Höhe, auf der wir hinfuhren, waren die Bäume
+hier noch unbelaubt, während es in Kalifornien schon wie Sommer gewesen
+war!</p>
+
+<p>Denver liegt wie München auf einer Hochfläche vor den Alpen. Rings ist
+wohlangebautes Farmland. Aber nirgends entdeckte man in ihm so etwas
+wie Volkstracht. In der Stadt selbst, die sauber, aber mir auch recht
+windig vorkam, empfangen mich wieder endlose Straßenzeilen. Nachdem
+ich einen Lunch eingenommen habe, gehe ich zu dem erhöht liegenden
+Staatskapitol der Stadt, um von oben recht die Aussicht über die Stadt
+und auf das Felsengebirge zu genießen. Aber es ist Sonnabendnachmittag,
+und ich werde nicht mehr zur Kuppel heraufgelassen, es sei schon
+„für Sonntag gekehrt“! Das tut man also auch in Amerika! So konnte
+ich die schöne Aussicht, die das Felsengebirge hier in einer
+Ausdehnung von 270 <span class="antiqua">km</span> zeigt, nicht bewundern und mußte mich
+mit Streifen durch die Stadt begnügen. So ging ich unter anderem in
+den Stadtpark und treffe auf ein Denkmal des Dichters Burns mitten
+zwischen Kanonen! Geschmackvoll! Die Zeitungsbureaus sehe ich umlagert
+von Massen, die auf die neuesten Nachrichten über den Ausgang der
+Sonnabendnachmittags-Fußball- und -Baseballkämpfe warten! So war auch
+Denver typisch amerikanisch. Das amerikanische „Gesicht“ ist überall
+gleich&#160;...</p>
+
+<p>Denver ist Hauptstadt des Staates Kolorado und dank der reichen
+Goldfunde und Minen äußerst schnell gewachsen. Erst 1858 wurde es von
+Goldgräbern gegründet, 1870 war es noch eine unbedeutende Stadt, heute
+zählt es schon 300&#8239;000 Einwohner!</p>
+
+<p>Abends sitze ich schon wieder in meinem Schlafwagen, um in einer Nacht,
+einer Tagesfahrt und einer Nacht über Kansas City und den Mississippi
+wieder Chikago zu erreichen. Dann wird mein verbilligtes meterlanges
+Auswandererzettelbillett abgefahren und die große Schleifen-Westreise
+vorläufig vollendet sein. Stiller Mondschein liegt über den unendlichen
+Gefilden der Prärie. Ich war froh, in zwei <em class="gesperrt">Nächten</em> sie zu
+durchfahren. Denn sie noch einmal ganz bei Tageslicht in ihrer
+grenzenlosen Einförmigkeit zu durchleben, wäre fast eine zu große
+Nervenbelastung gewesen. Die Seele war nun aus<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> Neu-Mexiko, Arizona,
+Kalifornien, Nevada, Utah, Kolorado zu sehr mit immer wechselvollen
+und romantisch-anziehenden Bildern gesättigt, um jetzt noch für die
+monotone Öde der Mississippi-Ebene empfänglich zu sein und sie etwa 36
+Bahnstunden lang hintereinander in sich aufzunehmen. Die Abspannung war
+aber auch sowieso noch groß genug. Ich fuhr also die Nacht zum Sonntag,
+den ganzen Sonntag und die Nacht zum Montag ohne Unterbrechung! Am
+Sonntag war der Zug sehr leer. Denn vielen Amerikanern ist es einfach
+Sünde, am Sonntag zu reisen. Die Zahl der Züge ist auch beschränkt.</p>
+
+<p>An wie vielen kleinen Städten, einsamen Farmen, kleinen Kirchen fuhren
+wir in den 36 Stunden vorüber! Und dazwischen Land, Land und immer
+wieder unendliches Land. In Kansas und Illinois fing es auch erst ganz
+schüchtern an, Frühling zu werden. Es ist die Gegend der furchtbaren
+Frühlingsorkane, der gefürchteten Tornados, die sich bilden, wenn
+die südlich warmen und nördlich kalten Luftströme ungehindert
+aufeinanderstoßen. Die Natur war noch keinen Schritt weiter wie vor
+zweieinhalb Wochen.</p>
+
+<p>Nachdem man viele Stunden lang nichts Besonderes gesehen hatte, zeigten
+sich einmal drei Jäger zu Pferde mit Flinten in der Steppe — welch
+ein Ereignis! Ein andermal standen ein paar Männer an einem kleinen
+Bahnhof und sahen dem Zug nach — ein Ereignis! Im Zuge selbst wurde
+es beim langen Fahren einer Dame übel. Bleich sank sie auf ihrem Stuhl
+zusammen — ein Ereignis! Ich wundere mich überhaupt, daß es bei dem
+endlos langen Bahnfahren nicht noch mehr Menschen übel und ohnmächtig
+wird. Aber sie haben offenbar hier von Jugend an andere Eisenbahnnerven
+als wir! Ich wunderte mich auch manchmal über mich selbst, daß ich
+die 12&#8239;000-<span class="antiqua">km</span>-Bahnfahrt so gut überstanden habe! Aber nun kommt
+angesichts der ohnmächtigen Lady ratlos der Neger-Wagenhilfsschaffner
+auf mich zu — was hat er nur mit mir vor? Erfolgt etwa ein neuer
+Angriff auf mein Scheckbuch? Er fragt mich, ob ich vielleicht ein
+„<span class="antiqua">physician</span>“<a id="FNAnker_35" href="#Fussnote_35" class="fnanchor">[35]</a><span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span>
+sei, und ob ich der bleichen Dame beistehen
+könne. Beschämt muß ich meine vollständige medizinische Unkenntnis
+eingestehen. Wie kam er auf mich? Hat er mir mit hellseherischen Augen
+die Verwandtschaft mit meinem Onkel, dem Doktor in Boston, angesehen?
+Immerhin riet ich, die Dame sanft zu lagern, ihr ein Kopfkissen
+unterzuschieben und etwas Wasser zu holen und dann sie sich selbst
+zu überlassen, bis sie wieder zu sich käme. Das geschah auch bald,
+genau nach meinem medizinischen Rat! Und ich war zum Glück weiterer
+medizinischer Künste enthoben. Für was man mich drüben alles gehalten
+hat! Bald war ich Landaufkäufer, Reisender, Zeitungsschreiber,
+Stundengeber, Student, Arzt, nur nicht das, was ich wirklich war&#160;...</p>
+
+<p>Am Arkansasriver entlang ging es stracks gen Osten. Farmer stiegen
+ein, die nach Chikago wollten oder nach Neuyork zum Einkaufen! Welcher
+pommersche Bauer fährt bei uns nach Frankfurt am Main, Basel oder
+Mailand zum Einkaufen? Alle waren hier in der gleichen einförmigen
+städtischen amerikanischen Kleidung, auch die Farmer. Bauerntracht
+gibt es nicht. Man unterscheidet am Rock drüben niemand, keinen
+Kaufmann, Beamten, Farmer, Schreiber oder was sonst. Sie sind alle
+„<span class="antiqua">citizens</span>“, sitzen in derselben Eisenbahnklasse und treten
+gleich als „Bürger“ auf&#160;...</p>
+
+<p>In Kansas City hatte ich umzusteigen. Wie primitiv sind die Wartesäle
+selbst in einer so großen Stadt! Bloß Bänke in einer großen Vorhalle!
+Ich habe Zeit, gegenüber dem Bahnhof auf eine Felsenterrasse zu
+steigen. Rauchig und düster kommt mir an diesem Abend die Stadt vor.</p>
+
+<p>Wieder geht es hinein in den „<span class="antiqua">sleeper</span>“ nach Chikago, und ich
+schlafe dem Lake Michigan entgegen. Nächtlich prasselt beim Fahren
+tüchtig die Asche aus der Lokomotive auf das Dach. Der Zug fährt
+schlecht, ruckt, zieht an, stöhnt, pfeift, steht und fährt wieder. Ist
+etwas nicht im Lote? Ich denke an die dreimal mehr Eisenbahnunfälle
+in Amerika als in Deutschland, und es ist mir etwas ungemütlich. Aber
+wohlbehalten rollen wir früh in Chikago ein. Gott sei dank, einmal
+wieder auf festem Erdboden! Mein Billett ist abgefahren!&#160;—&#160;—</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span></p>
+
+<p>Diesmal langte ich in der Morgenfrühe in Chikago an, das war besser.
+Zwei Tage vorher hatte ein von Kanada einbrechender Schneesturm auch
+Chikagos Asphalt in Schnee gehüllt und weithin in Illinois, Wiskonsin,
+Michigan die Baumblüte „vernichtet“. So beuteten die Zeitungen schnell
+das unerwünschte Ereignis aus und kabelten, was für ein nationales
+Desastre führende Männer über Illinois prophezeiten! So daß man als
+naiver Mensch wirklich zuerst glaubte, die Union stehe am Vorabend des
+Hungertodes! Aber das diente wohl nur im voraus dazu, die amerikanische
+Menschheit auf höhere Obstpreise gefaßt zu machen, so daß der
+„Blizzard“ den Obstmagnaten nicht ganz ungelegen kam.</p>
+
+<p>In Wolken, Regen, Schnee und Nebel wirkten die Wolkenkratzerschluchten
+diesmal noch düsterer und grandioser als sonst. In den unteren
+Stockwerken brannte den ganzen Tag Licht. Bei Marshall, Field &amp; Co. sah
+ich das alte wahnsinnige Getriebe und Gewimmel im Ein- und Ausgehen.
+In den Straßen wie immer die <span class="antiqua">policemen</span> und Negerfuhrleute. Zum
+Brechen voll waren die <span class="antiqua">moving pictures</span>, Theater, Zirkusse. Man
+will Geld machen und sich vergnügen. Sonst will man in Chikago nichts
+...</p>
+
+<p>Luft bekam ich erst am stürmisch erregten Michigansee mit seiner
+weiten, meerähnlichen Wasserfläche. Von ihr aus kann man durch die
+anderen Seen und den Lorenzstrom zu Wasser bis nach London fahren!
+Die „<span class="antiqua">stockyards</span>“ widerten mich an. Die Clowns und Akrobaten
+bei Barnum und Bailey lockten mich nicht mehr. Das Geschrei an der
+Börse hielt mich keine Minute. Auch nicht das römische Wagenrennen der
+Cowboys noch die Todesspringer aus der Kuppel des Zirkus scheuchten
+mich aus dem Schaukelstuhl meiner Verwandten, aus dem ich der lieben
+Kusine meine gesamte Rundreise nach Kalifornien zu schildern suchte.
+Mein Vetter wollte es gar nicht glauben, daß man in verhältnismäßig so
+kurzer Zeit solche Entfernungen durchmessen und soviel sehen könne und
+dabei noch Nerven behalten und gesund bleiben, ja gesünder wiederkommen
+könne als man fortfuhr. Ich freute mich, als <span class="antiqua">German</span> selbst den
+Yankees zu imponieren! Und das ist nicht immer ganz leicht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span></p>
+
+<p>So nach einem zweiten Aufenthalt in der drittgrößten Stadt der
+Welt dampfte ich eines Morgens wieder im Pullman davon, aber nicht
+geradeswegs über den Niagara nach Boston zurück, wie ich gekommen
+war — das wäre ja nichts Neues gewesen — sondern nach einem neuen
+leuchtenden Stern in meinem Reiseprogramm, nach <em class="gesperrt">Washington</em>.
+Hatte ich soviel in der Union gesehen von Osten bis zum äußersten
+Westen, so wäre es schon ein Akt internationaler Unhöflichkeit gewesen,
+wenn ich nicht auch der Hauptstadt meinen respektvollen Besuch gemacht
+hätte. Freilich von Chikago nach Washington fahren, das bedeutete noch
+einmal tief nach Süden ausbiegen und dann wieder weit hinauf nach
+Norden. Also auf nach Washington!</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_28" href="#FNAnker_28" class="label">[28]</a> Letzter Ruf zum Abendessen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_29" href="#FNAnker_29" class="label">[29]</a> Also etwa zwölfmal so groß wie der Genfer See!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_30" href="#FNAnker_30" class="label">[30]</a> Solche Dinge sind psychologisch möglich durch
+Zurücktreten des Wachbewußtseins und Hervortreten des Unterbewußtseins,
+das sich Dinge erinnert, die das Wachbewußtsein „vergessen“ hat.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_31" href="#FNAnker_31" class="label">[31]</a> „Blut Christi“-Berge von ihrer rötlichen Sandsteinfarbe.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_32" href="#FNAnker_32" class="label">[32]</a> Morgenzeitungen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_33" href="#FNAnker_33" class="label">[33]</a> Königliche Schlucht.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_34" href="#FNAnker_34" class="label">[34]</a> Gott will uns retten. Die Bösen gehen zur Hölle. Wo
+willst du die Ewigkeit zubringen? Wer glaubt, wird gerettet werden; wer
+aber nicht glaubt, wird verdammt werden.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_35" href="#FNAnker_35" class="label">[35]</a> Ein Arzt.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="UEber_Pittsburgh_nach_Washington">Über Pittsburgh
+nach Washington.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Ich schickte mich an, noch zwei mächtige Katheten eines riesigen
+rechtwinkligen Dreiecks abzufahren statt der viel näheren direkten
+Hypotenuse. Das hatte aber auch den Vorteil für mich, daß ich auf
+diese Weise nicht nur nach Washington kam, sondern zugleich die große
+Hafenstadt Baltimore und die „Wiege der Freiheit“, die „Stadt der
+Bruderliebe“, die Millionenstadt Philadelphia berührte, ja zuletzt
+auch noch einmal durch Neuyork kam. War ich dann wieder in meiner
+„Heimat“ Boston, so hatte ich im ganzen eine riesige Acht gefahren,
+deren Schnittpunkt Chikago, deren bei weitem größerer unterer Teil
+gen Westen und der kleinere obere nach Osten lag. Immerhin waren es
+von Chikago nach Washington noch 650 <span class="antiqua">km</span> und von da nach Boston
+zurück weitere 400, also wiederum über 1000 <span class="antiqua">km</span>. Endlich aber
+kam ich unterwegs durch den großen Eisen- und Kohlenbezirk Pittsburgh,
+das amerikanische Essen, wo ich einen alten Großoheim eines meiner
+besten Jugend- und Schulfreunde besuchen und begrüßen sollte,
+der dort schon ein halbes Jahrhundert als Prediger einer kleinen
+Arbeitervorstadtgemeinde wirkte.</p>
+
+<p>So wallte ich wieder durch den amerikanischen Kontinent lotrecht auf
+die Küste des „heimatlichen“ Atlantischen Ozeans zu. Erst ging<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> es
+durch den Staat „Indiana“, dann nach „Ohio“ hinein, das ich nicht allzu
+weit vom Südende des Lake Erie in seiner ganzen Breite durchfuhr. Ohio
+war mir seit Kindheit an ein vertrautes Wort samt seiner Aussprache
+„Oheio“, denn in meiner Kindheit wohnte Onkel E. mit seiner Musikschule
+in der Hauptstadt dieses Staates, dem durch seine Schweinezucht
+berühmten Cincinnati. Die Stadt selbst ist nach dem agrarischen Römer
+Cincinnatus, der vom Pfluge weg zum Diktator berufen wurde, wie wir als
+Quintaner schon lateinisch zu übersetzen hatten, benannt. Und wenn in
+meiner Kindheit an den Onkel geschrieben wurde, so wußte ich schon als
+Kind, daß das stets hieß: „Cincinneti, Oheio“. Aber nie hätte ich es
+damals für glaublich gehalten, daß ich einmal selbst in dies mysteriöse
+„Oheio“ (das uns Kinder immer ein bißchen an „heio, popeio“ erinnerte)
+verschlagen würde. Cincinnati berührte ich allerdings in dieser
+Nacht direkt nicht. Es ist berüchtigt wegen seiner fürchterlichen
+häuserumstürzenden und dächerabdeckenden Tornados. So vermieden
+wir beides und durchfuhren schlafend und seelenruhig den ganzen
+Staat „Ohio“. Die strahlenden Bogenlampen über den vom Regen nassen
+glänzenden Schienen des Central Union Depots in Chikago waren einer der
+letzten Eindrücke meines Wachbewußtseins, ehe ich in das andere Land
+der Träume hinüberschlief&#160;...</p>
+
+<p>Am Morgen fuhren wir mitten durch grünes, ansprechendes Hügelland.
+Überall sahen frische grüne Halmspitzen hervor. Es wollte mit Macht
+auch hier Frühling werden. Wir hatten wieder „<span class="antiqua">eastern time</span>“
+nach der „<span class="antiqua">mountain time</span>“ des Felsengebirges und der „<span class="antiqua">central
+time</span>“ von Chikago. Das Land war wieder bedeutend dichter besiedelt
+als in den Ebenen westlich Chikago. Den Ohiofluß aufwärts ging es gen
+Allegheny und Pittsburgh. Die einstigen Indianertäler sind heute voll
+Fabriken. Welche Wandlungen!</p>
+
+<p>Dicker Rauch lagerte über der industriereichen Gegend. Man glaubte um
+Birmingham oder an der Ruhr zu sein. Aus dem Sonnenschein des grünen
+Landes umfing es uns bald mit dunkelgelber Finsternis der Wälder von
+Fabrikschloten. Einst war Pittsburgh, das<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> heute die amerikanische
+Metropole für Eisen und Kohle ist, einst nichts als ein kleines Fort
+namens Duquesne gegen die Indianer am Zusammenfluß des Allegheny River
+und des Monongahela gelegen. Heute ist es eine halbe Millionenstadt
+zwischen beiden. Schon ist der Ohio hier am Oberfluß fast so breit
+wie unser Rhein. Sein ganzer Lauf bis zum Mississippi aber gibt dem
+Missouri an Länge nicht viel nach.</p>
+
+<p>Wir fahren über den breiten Strom in die rauchende, stampfende,
+dampfende und dröhnende Stadt ein, wo auch schon genügend Wolkenkratzer
+ihren steilen Hals aus der City recken. Ja, das Flußtal des Ohio ist
+so sehr mit Rauch gefüllt, daß man kaum bis zur nächsten Brücke sehen
+kann! Ehe wir in den Bahnhof einlaufen, umkreist der Zug fast die ganze
+Stadt.</p>
+
+<p>Ich kann nicht sagen, daß mich Pittsburgh anzog, ebenso wie ich bis
+jetzt den Rauch der Ruhr mied und den englischen Industriebezirk um
+Manchester und Birmingham so schnell wie möglich wieder floh. Denn ich
+halte es viel lieber mit grünen Wiesen, blauen Seen und schneegipfligen
+Bergen und bin der altmodischen Meinung, daß Fabrik und Industrie,
+Kohle und Eisen die Menschheit zwar reicher, aber nicht glücklicher
+gemacht haben. Freilich muß ich zugeben, daß ich ohne Dampf und Eisen
+nicht nach Frisco und nicht nach Pittsburgh gekommen wäre.</p>
+
+<p>Die Stadt und ihre Schwesterstadt Allegheny, die wie Elberfeld und
+Barmen zusammenliegen, wird von steilen Hügeln umkränzt, so daß sie des
+Malerischen nicht ganz entbehrt. Neben Eisen und Kohle ist die Gegend
+ebenso reich an Petroleum und dem der Erde entströmenden geruchlosen
+Naturgas. Ich hatte keine Neigung, eins der riesigen Stahlwerke „Edgar
+Thomson“ oder die „Homestead Steel Works“, das älteste Werk Carnegies,
+oder die „Duquesne Steel Works“ zu besuchen, wenn es auch sicher höchst
+eindrucksvoll gewesen wäre. Den Lärm der Eisenhämmer und das Surren der
+Treibriemen kann ich, wenn ich will, auch bei uns genießen. Viel mehr
+zogen mich die Menschen an, ihre Meinungen und Schicksale. So<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> pilgerte
+ich durch die Straßen nach Allegheny hinüber, zunächst einmal den
+achtzigjährigen Großoheim unangemeldet und überraschend aufzusuchen.
+Hoffentlich war er nicht etwa gerade kürzlich verstorben&#160;...</p>
+
+<p>Unterwegs traf ich auf allerlei Anschläge: „<span class="antiqua">Vote for socialism!</span>“
+Der Aufschrei einer geknechteten und entwürdigten Menschheit! Wie
+viele Deutsche mögen unter den amerikanischen Arbeitern sein, die
+den amerikanischen Stahlmagnaten, Trusts und Milliardären fronen! In
+Pittsburgh soll es keine 24 Stunden ohne einen Streik abgehen! Wie
+viele deutsche Abkömmlinge haben hier Granaten im Weltkrieg gegen die
+deutschen Stammesbrüder gedreht! An einer anderen Ecke mitten zwischen
+den Wolkenkratzern ein Arbeitervermittlungsbureau mit der heimatlichen
+Anschrift: „Hier wird deutsch gesprochen.“ Wie mancher mag hier schon
+hoffnungsvoll eingetreten und furchtbar enttäuscht wieder gegangen sein!</p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Aus: Rauchnächte.</p>
+
+<p class="s5a center">I.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Feuer rennt heraus, rennt herein, rennt überallhin,</div>
+ <div class="verse indent0">Und der Stahlbarren wird zur Kanone, zum Rad, zum Nagel, zur Schaufel,</div>
+ <div class="verse indent0">Zum Ruder unterm Meer, zum Steuer der Luft.</div>
+ <div class="verse indent0">Dunkel ist das Herz des Eisens,</div>
+ <div class="verse indent0">Durch Dampf und Menschenblut.</div>
+ <div class="verse indent0">Pittsburgh, Youngstown, Gary — sie machen aus Menschen ihren Stahl.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Mit Blut der Menschen und Tinte der Kamine</div>
+ <div class="verse indent0">Schreibt der nächtliche Rauch seinen Fluch:</div>
+ <div class="verse indent0">Dampf in Stahl, Blut in Stahl.</div>
+ <div class="verse indent0">Homestead, Braddock, Birmingham — sie machen aus Menschen ihren Stahl,</div>
+ <div class="verse indent0">Dampf und Blut ist die Mischung des Stahls.</div>
+ <div class="verse indent0">Der Vogelmensch summt</div>
+ <div class="verse indent0">Im Blauen; Stahl singt</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Motor und surrt.</div>
+ <div class="verse indent0">— — —</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p class="s5a center">II.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Schicksalsmonde kommen und gehen:</div>
+ <div class="verse indent0">Fünf Männer schwimmen in einem Kessel aus rotem Stahl.</div>
+ <div class="verse indent0">Ihre Knochen sind geknetet in den Teig des Stahls:</div><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span>
+ <div class="verse indent0">Ihre Knochen sind zerbrochen in Spulen und Amboß</div>
+ <div class="verse indent0">Und in saugende Taucher meerkämpfender Turbinen.</div>
+ <div class="verse indent0">Sieh sie im verworrenen Gerüst einer drahtlosen Station.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Einer von ihnen sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die Gesellschaft ist gut zu mir. Amerika ist ein wundervolles Land.“</div>
+ <div class="verse indent0">Einer: „Jesus, meine Knochen schmerzen. Die Gesellschaft ist eine Lügnerin. Das und ein freies Land — wie die Hölle!“</div>
+ <div class="verse indent0">Einer: „Ich hab’ ein Mädel, einen Pfirsich! Wir sparen zusammen und gehen fort auf eine Farm. Ziehen Schweine und sind unsre eigenen Herren.“</div>
+ <div class="verse indent0">Und die andern, rauhe Sänger der langen Heimwege.</div>
+ <div class="verse indent0">Sieh dich um nach ihnen dort am stählernen Gruftgitter.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sie lachen auf eigene Kosten.</div>
+ <div class="verse indent0">Sie halfen dem Vogelmenschen ins Blaue.</div>
+ <div class="verse indent0">Stahl singt ein Motor und surrt.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">Carl Sandburg.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0 s5a mbot1">Aus: Die Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
+Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag. Berlin.</p>
+
+</div>
+
+<p>So komme ich hinüber in die ansteigenden Straßen Alleghenys. In
+einem graudüsteren Arbeitervorstadtviertel klingle ich neben einer
+kleinen, fast baufälligen Kapelle an einem niedrigen einstöckigen
+Haus mit blanken Türgriffen. Mir klopft ein wenig das Herz. Wer
+wird öffnen? Lebt der alte treue Mann noch? Ein breitschultriger,
+weißbärtiger, freundlich blickender alter Herr von etwas gebückter
+Haltung in schwarzem Rock öffnet. Ohne Zweifel der alte Prediger! Er
+fragt englisch nach meinem Begehr und öffnet sofort weit die Tür zum
+Eintreten. Was er wohl von mir denken mag? Ob ich als Bräutigam eine
+Trauung bestellen will? Aber dazu sehe ich wohl nicht festlich und
+strahlend genug aus. Ob ich gar ein Begräbnis vermelden will, aber dazu
+lachen meine Augen doch zu hell. Dann bin ich sicher ein bettelnder,
+hilfesuchender Einwanderer und „Landsmann“? Das ist nicht so ganz
+falsch! Und ich? Ich kauderwelsche gar nicht erst englisch, sondern
+sage frisch und fröhlich auf deutsch: „Guten Tag, lieber Herr v. d. L.,
+ich soll Sie bestens von Ihrem Großneffen Alexander P. in Deutschland
+grüßen.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p>
+
+<p>Der alte Mann fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück und sah mich
+groß wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. „Habe ich recht
+gehört?“ redete er jetzt auch gut deutsch, „Alexander P.?“ — „Jawohl,
+wir haben neun Jahre zusammen auf der Schulbank gesessen, dann sind
+wir ein paar Jahre zusammen Studenten gewesen, und bei Ihrer Nichte,
+Frau Professor P., ging ich ein und aus.“ — „Es ist nicht möglich?
+Aber wenn Sie es sagen, muß ich es schon glauben. Aber wo kommen Sie
+denn her?“ Wir standen immer noch zwischen Tür und Angel. „Gerade
+aus San Franzisko oder aus dem Mormonentempel in Salt Lake oder
+vom Pikes Peak herunter, wie Sie wollen.“ Jetzt machte er ein noch
+erstaunteres Gesicht und zog fast die Hand schon wieder zurück, die
+mich schon ins Zimmer zu bitten schien: „Da bin ich alter Mann von
+80 Jahren, obwohl ich dort drüben an dieser Kapelle schon 53 Jahre
+predige“ — sein Finger wies auf die stark berußte alte steinerne
+Kapelle — „noch nicht gewesen.“ Wir traten ins Haus, und ich mußte
+erzählen. Stundenlang saßen wir einander gegenüber, und ich erzählte
+von Deutschland, von seinen Verwandten und von meiner Reise durch die
+Union, von Neu-Mexiko und dem Grand Kañon und dem Stillen Ozean. Und
+dann fing er an, aus seinem Leben zu erzählen; fast ein Jahrhundert
+sprach aus seinen durchfurchten Zügen und mannigfachen Erlebnissen.
+Er war in Rom als Sohn eines bekannten deutschen Bildhauers v. d. L.
+geboren. Sein Vater starb früh. In meiner Heimatstadt besuchte er das
+alte städtische Gymnasium und konnte auch den Frankfurter Dialekt noch
+recht unverfälscht nachahmen. Ach, da mußte ich nun genau beschreiben,
+wie es jetzt auf dem Römerberg, am Dom und auf der „Zeil“ aussehe! Er
+kannte freilich nur die einstige freie Reichsstadt. Wie anders war seit
+Jahrzehnten alles geworden! Dann war er als junger Mensch nach Amerika
+gegangen in den Zeiten, wo Deutschland noch nichts bedeutete!</p>
+
+<p>Drüben wurde er erst Farmer. Die Gelehrsamkeit hatte er an den
+Nagel gehängt. Vom Farmer avancierte er — echt amerikanisch — zum
+Apotheker! Ohne eigentliche Lehre und viel Ausbildung. Aber<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> dann
+zog es ihn doch wieder zur wissenschaftlichen Bildung zurück. Er
+übernahm eine Schullehrerstelle! Und schließlich folgte er dem frommen
+Sinn seiner künstlerischen Familie, deren Urheimat das Baltenland
+war, besuchte ein amerikanisches Presbyterianerseminar und wurde
+an der Kapelle drüben Prediger, der er noch heute, nach 53 Jahren,
+vorstand! So lernte er nacheinander italienisch, deutsch, englisch
+und französisch reden und hatte in seinem Leben den Einwanderern auch
+schon in allen diesen vier Sprachen gepredigt. Als er anfing, brachte
+seine Gemeinde für ihn gerade 87 Dollars Jahresgehalt durch freiwillige
+Beiträge zusammen! In seiner ersten Kirchenkollekte fanden sich sieben
+Cent! Seine Gemeinde blieb immer eine der ärmsten von den armen. Aber
+er hielt ihr die Treue. Augenblicklich war sie wieder auf 70 Familien
+zusammengeschmolzen und unfähig, für den alten Herrn ein Ruhegeld
+aufzubringen. So sah er sich genötigt, bis zum letzten Atemzug zu
+arbeiten. Und war es zufrieden.</p>
+
+<p>Wir plauderten lange. Ich fühlte mich bald bei dem lieben alten Herrn
+wie daheim. Er war seit Jahrzehnten Witwer. Aber da allmählich mein
+Magen etwas knurrte, so wollte ich mich auf eine Weile verabschieden,
+um irgendwo einen bescheidenen Lunch einzunehmen. Aber das litt der
+alte Herr nicht, sondern nötigte mich an seinen peinlich sauber
+gedeckten bescheidenen Tisch. Nach dem Essen mußte ich allerlei alte
+Familienbilder, Lebenserinnerungen, Bilder aus Rom, das ich aus eigener
+Anschauung kannte, ansehen. Und wie interessierte es ihn, zu hören, wie
+es heute beim Pantheon, auf dem Forum, auf dem Kapitol und in St. Peter
+aussehe! Mit einem gemütlichen Spaziergang über die Höhen der Stadt
+beschlossen wir den Tag.&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Andern Tags fuhr ich nach Washington.</p>
+
+<p>53 Jahre hätte ich nicht gerade in Pittsburgh oder Allegheny wohnen
+mögen, wo man die längste Zeit des Lebens in Rauch und Qualm verbringt;
+aber die Treue und Genügsamkeit des alten Predigers war doch ein Stück
+stillen Heldentums. Ich lechzte derweilen wieder nach freier Sonne und
+grünen Wiesen und Feldern. Sie sollten auch nicht lange auf sich warten
+lassen&#160;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p>
+
+<p>Lotrecht fuhren wir südöstlich auf das Alleghenygebirge zu, das als
+einziges den amerikanischen Osten unterbricht. An Ausdehnung und
+Höhe ist es mit dem Felsengebirge nicht entfernt zu vergleichen,
+sondern erinnert seiner ganzen Art nach vielmehr an unsere deutschen
+Mittelgebirge.</p>
+
+<p>Stark stieg die Bahn an. Hell und freundlich schien wieder die Sonne.
+Wohlangebaute Fluren dehnten sich rechts und links. Man sah es den
+Feldern und Siedlungen an, daß sie weit älter sein mußten als die um
+Chikago oder gar westlich davon. Auch merkte man sichtlich die ständig
+wachsende Dichte der Besiedlung. Immer höher kamen wir in das Bergland
+hinein. Es schäumten die Bäche lustig und rasch vom Gebirge herab. Da
+und dort sah man wieder verwüstete und abgebrannte Wälder. Felstäler
+taten sich auf wie in der Schwäbischen Alb. Immer romantischer wurde
+die Landschaft und immer sonniger und grüner, je weiter wir südlich
+kamen und je näher dem Ozean. Als wir gar jenseits des Passes das Tal
+des Potomac River hinabfuhren, lachte uns geradezu ein jauchzender
+Frühling entgegen mit keimenden Saaten und herrlichstem Himmelblau.
+Anmutig leuchteten zartrosa die Apfelbäume in ihrer ersten schüchternen
+Blüte. Welche klimatischen Unterschiede auch hier wieder! Die großen
+Ebenen um Chikago sind schutzlos den kanadischen Froststürmen, die
+über die großen Seen hereinbrechen, preisgegeben. Aber das Land
+östlich und südlich der Alleghenies ist durch sie gegen die kalten
+Nordwinde wie durch eine Mauer geschützt, so daß man in Washington
+schon den Geschmack der warmen Süd- und Plantagenstaaten empfindet,
+den warmen Hauch Virginias, des „Landes der jungfräulichen Königin“
+(Elisabeth) und Carolinas, des Staates Karls I. von England, der alten
+Hauptsklavenstaaten.</p>
+
+<p>Bei „Harpers Ferry“ mündet fast wie in einer Neckarlandschaft der
+„Shenandoah“-Fluß<a id="FNAnker_36" href="#Fussnote_36" class="fnanchor">[36]</a> in den größeren Potomac. Links und rechts
+begleiteten uns die lieblichsten Hügelreihen. Es war ein lachendes<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span>
+Flußtal, das gerade für Bahn, Straße und schmale Siedlungen Raum läßt.
+In Harpers Ferry ist man an einer historischen Stelle. Nicht nur daß
+hier mancherlei Schlachten im Bürgerkrieg geschlagen wurden — denn
+in diesen Strichen lief die Grenze zwischen Nord- und Südstaaten,
+zwischen Sklavenbefreiungs- und Sklavenhalterstaaten — sondern Harpers
+Ferry ist die denkwürdige Stelle, wo schon 1859 John Brown mit wenigen
+entschlossenen Abolitionisten in das Städtchen eindrang, um die Sklaven
+zum Aufstand zu veranlassen. Aber die Neger folgten seinem Ruf noch
+nicht. John Brown wurde umzingelt, besiegt und schließlich von den
+Sklavenhaltern gehängt. Sein letzter Widerstand erfolgte in einem
+kleinen, scheunenartigen Haus, jetzt „John Browns Fort“ genannt, das
+heute noch steht. Die Bahn fährt dicht daran vorüber.</p>
+
+<p>Als wir eine geraume Strecke weiter aus den Bergen in die Ebene
+hinausgefahren sind, ragt mit einem Male ein hoher Obelisk aus tiefem
+buschigen Grün, das Washington-Monument, empor. Bald darauf schwebt
+über der Landschaft eine hohe, stolze adlige Kuppel wie St. Peter über
+der Campagna bei Rom — das Kapitol der Bundeshauptstadt.</p>
+
+<p>Ich bin wirklich in Washington! Traumhaft! Etwas wie Ehrfurcht
+überkommt mich. Vereint sich in Wallstreet und auf dem Broadway in
+Neuyork das Kapital der Union, so in Washington alle Regierungsmacht.
+Washington liegt gerade auf der Grenze des Nordens und Südens. So
+ist es von hier nicht weit nach den Schlachtfeldern von Gettysburg,
+Harrisburg und dem Hauptquartier der Südstaaten, Richmond. Man ist in
+Washington ungefähr in der Mitte zwischen Maine und Florida. Es ist
+auch bezeichnend, daß die Bundeshauptstadt ganz im Osten der Union
+liegt. Der Osten (außer Chikago und St. Louis) ist Amerika. Im Westen
+dominiert nur noch das einzige San Franzisko. Aber welche Entfernungen
+von der Bundeshauptstadt dorthin! Wir sind gewohnt, Hauptstädte in der
+Mitte des Landes zu suchen. Aber wir dürfen nicht vergessen, noch vor
+gut einem halben oder Dreivierteljahrhundert war Amerika bloß<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> ein
+Streifen am Atlantik, dessen Mitte Washington bildete. So erklärt sich
+noch heute seine Lage.</p>
+
+<p>Der Hauptbahnhof in seinem strahlenden Marmorweiß und seinen
+unzähligen, zum Teil unbenutzten Geleisen macht einen sehr vornehmen
+Eindruck. Der Bahnverkehr Washingtons ist freilich, verglichen mit
+dem Neuyorks und Chikagos, recht gering. Gleichwohl hatte Washington
+den echt amerikanischen Ehrgeiz, den „größten Bahnhof der Welt“ zu
+besitzen, selbst auf die Gefahr hin, daß es alle diese Geleise gar
+nicht ausnutzte!</p>
+
+<p>Washington ist im ganzen eine stille, aber äußerst stattliche und
+höchst saubere Stadt. Nur zwei Städte machten auf mich diesen Eindruck,
+Washington und — Salt-Lake-City. Alles hell, gerade, luftig, grün,
+weitläufig. Eine wahre fürstliche Platzverschwendung herrscht in
+Washington überall.</p>
+
+<p>Ich nahm meinen Weg sofort zum Kapitol, das aus dichtem dunklen
+Parkgrün hervorschaut. Ich war immer aufs neue überrascht von den
+weiten prächtigen Parkanlagen, von den großen, weiten Plätzen und
+überaus breiten Straßen, die ich hier sah. Ich hatte sofort den
+Eindruck, diese Stadt ist die schönste der Union, und sie kann sich
+wirklich mit den europäischen Hauptstädten messen. Welche königliche
+Platzverschwendung hat man sich hier erlaubt! Das ganze Gelände vom
+Kapitol zum Obelisk und von da zum „Weißen Haus“, eine gute halbe
+Stunde Weges, ist <em class="gesperrt">ein</em> Park. Aristokratisch und edel steigt
+das Kapitol mit seinem weißen Sandstein und seinem Marmor, seinen
+vorspringenden Flügeln mit ihren klassischen Tempelstilfronten und
+seiner imponierenden, von der Freiheitsstatue gekrönten Kuppel
+auf einer kleinen Anhöhe auf, ein wahrhaft majestätischer Bau.
+Fast erscheint die Kuppel, weniger in Anbetracht der Länge als der
+verhältnismäßig geringen Höhe des Gebäudes, etwas groß und schwer.
+Besonders reizvoll sind die Blicke auf sie aus den verschiedenen
+Parkwegen und von dem unteren Ende der Pennsylvania-Avenue.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_334">
+ <img class="w100" src="images/illu_334.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">WASHINGTON<br>
+ Das Weiße Haus
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_334_gross.jpg"
+ id="illu_334_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe50" id="illu_335">
+ <img class="w100" src="images/illu_335.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">WASHINGTON<br>
+ „Mount Vernon“, Washingtons Landsitz
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_335_gross.jpg"
+ id="illu_335_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Am anderen Tag saß ich eine Weile auf der Galerie im Repräsentantenhaus
+und ebenso eine Weile im Senat und hörte den Debatten<span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span> zu. Am meisten
+Eindruck aber machten mir die acht ehrwürdigen Richter des „<span class="antiqua">Supreme
+Court</span>“ in dem kleinen Saale des „obersten Gerichtshofes“, dessen
+Bedeutung etwa dieselbe wie die unseres Reichsgerichts in Leipzig
+ist, ja vielleicht eine größere, denn in Amerika wird das Recht nicht
+so sehr nach festgelegten Paragraphen angewandt, sondern nach dem
+Rechtssinn und Gewohnheitsrecht <em class="gesperrt">gefunden</em>. Die Richter, außer
+denen des <span class="antiqua">Supreme Court</span>, sind nicht vom Staatsoberhaupt ernannt,
+sondern werden vom Volke erwählt.</p>
+
+<p>Dann stand ich unter der Kuppel unter den großen historischen Gemälden,
+die von der Landung des Columbus, der Einschiffung der Pilgerväter,
+Washingtons Übernahme des Oberbefehls über die Revolutionsarmee,
+von der Entdeckung des Mississippi und der Unterzeichnung der
+Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia 1776 Kunde geben. Eine
+imposante Halle! Oben in der Kuppel befindet sich eine mächtige
+Darstellung der Apotheose Washingtons, dessen Name mit diesem Land und
+seiner Verfassung und dieser Stadt unlöslich verknüpft ist. Kein Name
+ist berühmter geworden, selbst nicht der Lincolns, mit dessen Namen der
+Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung unauslöschlich verbunden sind. Als
+ich dann in den nächsten Saal zur Linken trat und den Marmorstatuen
+der großen Amerikaner gegenüberstand, deren zwei aus jedem Staat
+hier aufgestellt sind, drang die Geschichte, Größe und Macht dieses
+Landes, das einen ganzen Kontinent umfaßt, mächtig auf mich ein.
+Eine kurze, fast stille Geschichte, und doch bedeutungsvoller als
+irgendeine der europäischen Dynasten- und Raubkriege. Die Reibereien
+der europäischen Großmächte, Kolonialkriege, Kaiser- und Papsttum
+— alles das blieb hier unbekannt. Alles, was hier geschah, diente
+der Kolonisation, der wirtschaftlichen und der politischen Einigung.
+Aus Kolonien ist das Land zu einer selbständigen, an Volkszahl und
+Reichtum alle europäischen Mächte überbietenden Großmacht ersten Ranges
+emporgewachsen, die mehr „<span class="antiqua">world-spirit</span>“ in sich trägt als
+vielleicht sogar England, dessen Hauptabkömmling Amerika doch letztlich
+ist. Der anglikanische Typus ist in Amerika vorwiegend und hat dank
+der<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> Sprache auch die absolut dominierende Herrschaft erlangt, während
+die Spanier, obwohl die ersten Ansiedler, die Franzosen am Mississippi
+in Neuorleans, Louisiana und in Kanada, die Holländer im alten
+Neuamsterdam, dem heutigen Neuyork, die Deutschen, zerstreut durch das
+ganze Land, und endlich die romanischen und slawischen Elemente der
+jüngsten Einwanderung im Anglikanismus Amerikas aufgegangen sind und in
+ihm wohl aufgehen werden.</p>
+
+<p>Amerikas Geschichte beginnt eigentlich erst mit dem
+Unabhängigkeitskrieg am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Auffassung
+des Staats, der Kirchen im Verhältnis zu ihm, des Menschentums und
+der politischen Freiheit sind <em class="gesperrt">Aufklärungs</em>gedanken. Hier
+hat Frankreich, das Frankreich der Revolution und der Republik,
+Pate gestanden (Lafayette!). Aus dieser Zeit stammt sowohl der
+klassizistische Stil der Staatsgebäude wie die Anlage der Stadt
+Washingtons. Ein französischer Architekt hat die Pläne seiner Parks
+entworfen. Frankreich schenkte die Freiheitsstatue für den Hafen von
+Neuyork, und immer ist die besondere Sympathie Frankreichs für die
+große Schwester in der neuen Welt wach geblieben. Wundern wir uns
+also nicht allzusehr, daß der inneren Stimmung nach und nicht nur
+aus Geschäftsgründen Amerika im Weltkrieg auf seiten Englands und
+Frankreichs trat. Aber kein anderer als Friedrich der Große ist die
+Ursache gewesen, daß Frankreich nach dem Siebenjährigen Kriege seine
+Besitzungen in Amerika an England abzutreten hatte! Der Siebenjährige
+Krieg war ebenso Kolonialweltkrieg zwischen England und Frankreich als
+Kontinentalkrieg zwischen Österreich und Preußen. Friedrich der Große
+war zum Teil Englands Soldat!</p>
+
+<p>Seit dem Unabhängigkeitskrieg gab es nur noch <em class="gesperrt">ein</em> Ereignis, das
+die Union tief erschütterte, den Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung.
+Durch Kauf wurde später Florida, Louisiana und Alaska erworben; von
+Mexiko wurden die südwestlichen Territorien Neumexiko, Arizona und
+Kalifornien an die Union abgetreten; so wuchs allmählich und doch rasch
+das Riesenland zusammen, bis es im letzten Jahrzehnt anfing, selbst
+Kolonialmacht und der Erbe Spaniens, das einst den Entdecker Kolumbus
+aussandte, zu werden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p>
+
+<p>Diese Macht des Landes hat sich hier in der Hauptstadt ihre Symbole
+in prächtigen öffentlichen Gebäuden geschaffen. Gegenüber dem Kapitol
+liegt die Bibliothek des Kongresses, innen überreich mit Marmor
+ausgeschmückt, wie nur irgendein Palast in Italien, und mit einem über
+alles prächtigen Lesesaal, der sicher nicht viele Konkurrenten in der
+Welt hat. Nahe dem „Weißen Hause“ die stattlichen klassizistischen
+Gebäude des Bundesschatzamts und des Kriegsministeriums. Auf freiem
+offenen Plan davor ragt der stolze, schlanke, zu Ehren Washingtons
+erbaute 169 <span class="antiqua">m</span> hohe Obelisk auf, lange der höchste Steinbau
+der Welt, bis ihn die Wolkenkratzer überhöhten. Im Morgendunst von
+fern wie ein mächtiger weißer Spargel aus grünem Gebüsch, abends zart
+rosa leuchtend anzuschauen. Von seiner Spitze, zu der ein Aufzug —
+wie mühselig sind doch die vielhundertstufigen alten Steintreppen
+in unseren Domtürmen! — hinaufführt, eine überraschend großartige
+Rundsicht. Die ganze Stadt, die trotz ihrer verhältnismäßig geringen
+Einwohnerzahl doch einen immensen Flächenraum einnimmt, ist eingebettet
+in Parkgelände. In weitem Bogen bespült sie der Potomac, so breit
+wie die Elbe bei Hamburg, der sich bald unterhalb der Stadt zu einer
+langen, tief ins Land einschneidenden Bucht verbreitert. Und jenseits
+liegt der große, schattige Nationalfriedhof für die Gefallenen aus dem
+Bürgerkrieg. Ich bedauerte, daß nicht eine gerade stattliche Allee
+vom Kapitol zum Obelisk führte, mit ständigem Durchblick auf die
+Kapitolskuppel, und ebenso vom Obelisk zum Weißen Hause. Aber das Weiße
+Haus wäre in seiner Bescheidenheit gar nicht dazu angetan, den Endpunkt
+einer stolzen Allee zu bilden, denn hier wohnt ein „Bürger“, von keinem
+Posten bewacht, von keiner Schloßwache beschützt, ein „Bürger“ in einer
+besseren Bürgervilla, zu der jeder „Bürger“ Zutritt hat. Es war mir
+doch seltsam zumute, als ich am Gartengitter stand und in den Garten
+des Weißen Hauses hineinlugte mit seinem kleinen Springbrunnen in der
+Mitte, seinem eigenen Tennisplatz und seinen wohlgepflegten, mit gelbem
+Kies bestreuten Wegen. Um mich herum auf dem offenen grünen Plan am
+Obelisk spielten Schuljungen und junge Burschen ihren Baseball.<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> Viele
+Leute, die aus dem Geschäft oder von der Arbeit kamen, Schwarze und
+Weiße, standen da herum und schrien mit, applaudierten und ermunterten
+die Spieler. Ich ging ins „Weiße Haus“ hinein, soweit es erlaubt war.
+Ich erwartete kein Schloß und sollte kein Schloß erwarten. Es will
+auch absichtlich mit keinem Schloß konkurrieren. In der Vorhalle des
+Weißen Hauses fand ich eine Galerie von Präsidentenfrauen bis auf Mrs.
+Roosevelt; auch durfte man in den sogenannten „Eastroom“ eintreten,
+einen bescheidenen Empfangssaal mit Parkett, goldenen Leuchtern auf
+den Marmorkaminen, ein paar Blattpflanzen an den Fenstern und drei
+Kristallkronleuchtern. Das war alles von äußerem Glanz.</p>
+
+<p>Am Nachmittag benutzte ich das Dampfboot und fuhr den Potomac hinunter
+nach Washingtons Landgut „Mount Vernon“ in Virginia. So bekam ich auch
+etwas Geschmack vom Süden, in dem einst die großen Negerplantagen
+waren und die Sklaverei herrschte. Die Sklaverei ist aufgehoben.
+Aber noch hat der Neger kein volles Recht. Zu Zeiten kommen z.&#8239;B.
+noch fürchterliche Lynchgerichte am Neger vor. Und ob man immer den
+Schuldigen trifft?</p>
+
+<p class="s5a center mtop2">Johnson, Neger.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Hinunter steig ich in die Kohlenstadt von Westvirginia.</div>
+ <div class="verse indent0">Man hat einen Neger <em class="gesperrt">gelyncht</em>.</div>
+ <div class="verse indent0">Sonnig lächelt die Stadt zwischen Berg und Fluß,</div>
+ <div class="verse indent0">Und nachts prunkt ihre Hauptstraße:</div>
+ <div class="verse indent0">Aufreizende Läden, elektrisches Licht ...</div>
+ <div class="verse indent0">Rauhe Haufen, Bergarbeiter und Bauern suchen Frauen, Trunk und Vergnügen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Am Tag in der ruhigen Sonne brütete Schrecken und Schuld über der Stadt.</div>
+ <div class="verse indent0">Der Sheriff zitterte:</div>
+ <div class="verse indent0">„Ich tat, was ich konnte“ sagt er, „Daisy ist 13,</div>
+ <div class="verse indent0">Ihr Vater Bergarbeiter.</div>
+ <div class="verse indent0">Sie bestellt das Haus.</div>
+ <div class="verse indent0">Es war zehn Uhr früh und Daisy allein.</div>
+ <div class="verse indent0">Es klopft. Sie öffnet.</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Vieh von Neger nahm sie bei der Kehle — sagt sie aus —</div>
+ <div class="verse indent0">Und tat es ihr.</div>
+ <div class="verse indent0">Dann ging er weg.</div><span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span>
+ <div class="verse indent0">Wir stellten fünfzehn Neger in der Runde auf,</div>
+ <div class="verse indent0">Den Burschen Johnson unter ihnen.</div>
+ <div class="verse indent0">Man holte Daisy. Sie zeigt auf ihn und schreit.</div>
+ <div class="verse indent0">Das fällte ihn ...</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">O ja, ich tat, was ich konnte, nahm ihn hinüber nach Gentryville,</div>
+ <div class="verse indent0">Fort aus der Provinz.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich kann nichts sagen,</div>
+ <div class="verse indent0">Ich denke mir mein Teil ...“</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Ich weiß, was er dachte.</div>
+ <div class="verse indent0">Aus dem Träumer in mir wurde der Neger Johnson.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich komme ein Fremder in eine fremde Stadt.</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Mädchen schreit, ich habe sie geschändet.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich werde festgenommen, ins Gefängnis gebracht ...</div>
+ <div class="verse indent0">Es ist eine Heimsuchung von Gott.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich traure und winsle aus Furcht vor dem Übernatürlichen.</div>
+ <div class="verse indent0">Dann Entsetzen: Das große, heulende, knurrende Tier ist vor dem Gitter.</div>
+ <div class="verse indent0">Schüsse, niedergerissene Türen, Füßegestampf.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich kreische. Mitleid! ... O meine Mutter! Meine Mutter!</div>
+ <div class="verse indent0">Man schleift mich an einem Seil die Straße entlang,</div>
+ <div class="verse indent0">Mein Blut rinnt, Schläge fallen,</div>
+ <div class="verse indent0">Ich muß sterben ...</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Ich bin schrecklich verstümmelt,</div>
+ <div class="verse indent0">Das Seil wird über Telegraphendrähte geschleudert,</div>
+ <div class="verse indent0">Man zieht mich hinauf ...</div>
+ <div class="verse indent0">Zuletzt Flinten, mitleidige Kugeln ...</div>
+ <div class="verse indent0">Ist es zu Ende?</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Nein: Noch baumelt der Leib, der nackte schwarze blutige Leib,</div>
+ <div class="verse indent0">Man zerreißt ihn in Stücke.</div>
+ <div class="verse indent0">Weiber und Männer tragen Finger, Zehen und Knochen als Reliquien heim.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Dies ist heute Amerika!</div>
+ <div class="verse indent0">Puritanisches Amerika, moralisches Amerika, freies Amerika ...!</div>
+ <div class="verse indent0">Ich ziehe gen Norden, freudloser als ich kam.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent12">James Oppenheim.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="p0 s5a mbot1">Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster
+amerikanischer Lyrik. S. Fischer, Berlin.</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p>
+
+<p>In Mount Vernon verbrachte Washington den Rest seines Lebens, nachdem
+er zweimal Präsident gewesen und eine weitere Wiederwahl ablehnte,
+so daß es seitdem für die Präsidenten geradezu Pflicht geworden ist,
+höchstens acht Jahre die Präsidentschaft inne zu haben. Mount Vernon
+ist ein reizender lauschiger Landsitz auf einer sanften Anhöhe am
+Fluß, unter alten, dichtbelaubten Eichen, unter denen Washington
+und seine Frau auch begraben liegen. Ein paar Minuten standen wir
+entblößten Hauptes, eine Gruppe College-Studenten um mich herum,
+vor der schlichten Grotte samt einem Haufen älterer reisender Damen
+aus Philadelphia, die laut sich unterhaltend die liebliche Stille
+dieses geweihten Erdenwinkels unliebsam störten. Dann kam man
+oben zu der einfachen Meierei hinauf mit ihrem Herrenhaus, einem
+niedrigen zweistöckigen weißen Farmhaus mit offener, sehr simpler
+Vorhalle und einer Reihe von Ökonomiegebäuden im Hintergrund. Immer
+war da noch der alte Hausrat in den engen, niedrigen Stuben mit dem
+blankgescheuerten abgetretenen Holzboden und den großen blankgeputzten
+Türklinken, den alten runden goldumrahmten Bildern, den weißgetünchten
+Zimmerdecken, den großen offenen Kaminen und den einfachen Stühlen an
+dem runden Eichentisch, dem alten Klavierchord im Musikzimmer und den
+Gardinenbetten im Dachstock mit seinen kleinen „Sparerooms“, in deren
+einem Martha Washington gestorben ist, weil sie gern einen Blick auf
+ihres Mannes Grab haben wollte. Es war eine Luft, eine Umgebung und
+ein Hausrat etwa wie im Frankfurter Goethehaus. Frau Martha Washington
+schien mir sogar etwas Ähnlichkeit mit der alten Frau Rat Goethe zu
+haben. Man konnte auch Washingtons Todeszimmer sehen, wo er selbst
+1799 starb. Die reisenden Damen aus Philadelphia schluchzten fast vor
+Vergnügen, daß sie das alles sehen durften, und brachen in jedem Zimmer
+in juchzende Seufzer aus: „Ach, hier hat er gesessen, ach und hier hat
+er gegessen und hier in diesem Bett ist sie gestorben — hier ist sein
+Degen, den er trug, und hier die Guitarre, die er spielte.“ In hellen
+Haufen drängten sie sich in dem kleinen Haus und auf den engen Stiegen
+und in den kleinen Zimmern, rannten über die Höfe<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> und die grünen
+Grasplätze und erfüllten alles umher mit ihrem Geschwätz. Daß man nicht
+einmal hier ein stilles Stündchen verbringen konnte! Wie drang hier
+die alte Zeit auf mich ein, da vor hundert Jahren noch Philadelphia
+und Boston, die größten Städte der Unionstaaten, kaum ein paar Tausend
+Einwohner zählten! Wenn Washington heute die Millionen Menschen und
+die Wolkenkratzer und Chikago, das damals noch ein Sumpf war, und den
+fernen Westen sähe, an den vor hundert Jahren noch niemand
+dachte!&#160;—&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Aber die Dampfsirene des Schiffes ertönte und mahnte zur Rückkehr.
+Und nun mußte man dieses stille alte Landgut mit seinen Erinnerungen
+wieder allein lassen und konnte nicht mehr unter den alten Bäumen
+sitzen und auf die breite Wasserfläche des Potomac hinunterschauen, wo
+von ferne die weiße Säule des Obelisk aufragt und die adlige Kuppel
+des Kapitols, die beide diesen Mann von Mount Vernon ehren. Inzwischen
+schnatterten die Damen aus Philadelphia wieder durcheinander,
+Deutsch-Amerikanerinnen anscheinend mit den Fehlern beider Nationen
+behaftet, ohne ihre guten Seiten zu besitzen, in einem fürchterlichen
+Sprachmischmasch: „Wollen Sie nicht hier sitzen, Miß Fuchs, ich habe
+für Sie einen Chair mitgebracht oder <span class="antiqua">sit down right here</span> ...
+schade, daß es regnen will, wo haben Sie denn Ihre <span class="antiqua">umbrella</span>
+gelassen? ... Wo ist Mrs. Arnold, <span class="antiqua">perhaps she is looking for you</span>
+... Großartige Rosenstöcke, <span class="antiqua">did you see them</span>? Oh, ich bin so
+<span class="antiqua">sorry</span>, ich war nicht in der ‚<span class="antiqua">kitchen</span>‘, <span class="antiqua">it makes me
+mad</span>. Ich habe auch nicht gesehen, wo Mrs. Washington <span class="antiqua">died</span>
+... Sehen Sie, hier habe ich einen <span class="antiqua">spoon</span> von dem Holz der Bäume,
+die er selbst gepflanzt hat, gekauft; sie <span class="antiqua">sell</span> es nirgends
+anders ... <span class="antiqua">They have the copyright</span> ... Und ich habe hier
+einen Teller gekauft für <span class="antiqua">parties</span> ... Und ich habe für meinen
+<span class="antiqua">boy</span> ein Bild, <span class="antiqua">because</span> er ist so <span class="antiqua">interested in it</span>
+...“ In diesem Sprachstil ging es fort&#160;...</p>
+
+<p>Es ist schade, daß man ein Glück selten rein genießen darf. Während
+wir mit dem Dampfboot den Potomac wieder aufwärts fuhren und ich so
+gern den geschichtlichen Erinnerungen noch nachgehangen hätte, und
+der Abend langsam über Land und Wasser herabsank, wie damals<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> als
+ich am letzten Abend auf deutschem Boden von Blankenese nach Hamburg
+zurückfuhr, schnatterten mir immerzu diese „philadelphischen“ Damen mit
+ihrem Deutsch-Amerikanisch dazwischen. Immerhin eine Vorbereitung auf
+Philadelphia, das ich morgen betreten wollte.</p>
+
+<p>Noch einmal schritt ich den Abend durch die fürstlichen und adligen
+Straßen der Bundeshauptstadt. Eine gemessene Vornehmheit des höheren
+Beamtentums bewegte sich durch die Hauptstraßen, merklich anders als
+in Los Angeles und San Franzisko, aber auch anders als in Neuyork und
+Chikago, am ähnlichsten noch Boston.</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_36" href="#FNAnker_36" class="label">[36]</a> Indianisch.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Baltimore_Philadelphia">Baltimore, Philadelphia.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Es gibt keine Stadt in der Union, die sich mit Washington an
+Stattlichkeit vergleichen könnte. Seine marmornen Institute und sein
+Kapitol sah ich noch lange vor Augen.</p>
+
+<p>Es kam der vorletzte Tag meiner Rundfahrt, der mich wieder bis Neuyork
+zurückbringen sollte. In zwei schnellen Stunden — wie kurz waren hier
+im Osten die Entfernungen! — ging es durch das wohlangebaute Maryland
+nach dem großen von Schloten und Überseedampfern mächtig rauchenden
+Baltimore. Baltimore ist nächst Neuyork der größte Überseehafen der
+Union.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_344">
+ <img class="w100" src="images/illu_344.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">PHILADELPHIA<br>
+ Market-Street mit dem 155 m hohen Turm des Stadthauses (City hall)
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_344_gross.jpg"
+ id="illu_344_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe45" id="illu_345">
+ <img class="w100" src="images/illu_345.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption">LAKE WINNIPESAUKEE
+ <div class="linkedimage s5"><a href="images/illu_345_gross.jpg"
+ id="illu_345_gross" rel="nofollow">⇒<br>
+ GRÖSSERES BILD</a></div></figcaption>
+</figure>
+
+<p>Die Millionenstädte des Ostens liegen alle an breiten,
+tiefeinschneidenden Buchten, in die große Ströme einmünden. Die
+nördlichste Boston an der kreisrunden Massachusettsbai, in die
+breit der Charles River strömt, England am nächsten gelegen,
+daher von den Puritanern auch zuerst erreicht. Es folgt Neuyork
+an der Mündung des breiten Hudson auf der einst unangreifbareren,
+langgestreckten Halbinsel Manhattan am inneren Rand der prachtvollen
+„<span class="antiqua">upper bay</span>“, die in den <span class="antiqua">narrows</span> einen engen, leicht
+verschließbaren Ausgang nach dem Ozean hat. Dann kommt die früher,
+ehe Neuyork so fabelhaft anwuchs, größte und bedeutendste Stadt der
+Union Philadelphia, heute noch immer ihre drittgrößte Stadt, an
+dem breiten Delawarefluß, der sich in die Delawarebucht ergießt.
+Philadelphia ist von dem sehr viel jüngeren Chikago, der Hauptstadt des
+mittleren Westens, schnell überholt worden.<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> Einst war Philadelphia
+mit Boston die geistige Führerin der Union. Boston als Sitz der
+Puritaner, Philadelphia als Sitz der Quäker und vieler Deutschen in
+dem ersten Hauptabschnitt ihrer Einwanderung. Dem Quäkertum verdankt
+die Stadt auch ihren schönen Namen: „Stadt der Bruderliebe“. Es
+folgt an der Küstenlinie Baltimore, groß, rauchig und an Seeverkehr
+ein amerikanisches Liverpool oder Hamburg, an der breiten, fast an
+300 <span class="antiqua">km</span> tief ins Land nordwärts einschneidenden Chesapeakbai,
+in die der breite Susquehanna River mündet. (Nebenbeigesagt sind in
+den Flußnamen besonders viele indianische Bezeichnungen erhalten:
+Susquehanna, Potomac, Monongahela, Shenandoah usw.) Die jüngste
+Gründung war Washington, eine reine Beamten- und Verwaltungsstadt
+am breiten Potomac, der auch in die Chesapeakbai fließt. Also fünf
+riesige Städte wie an eine Schnur aufgereiht in einem Gesamtabstand von
+Washington bis Neuyork von etwas über 350 <span class="antiqua">km</span>, für die Union eine
+kleine Entfernung.</p>
+
+<p>Da ich im Grunde meiner Seele die Großstädte hasse — und ihrer soviele
+in der Union nur deshalb aufgesucht habe, weil in ihnen das eigentliche
+amerikanische Leben pulsiert — so versagte ich es mir entgegen meinem
+Reiseprogramm nach kaum anderthalb Stunden Fahrt von Washington aus,
+in Baltimore — es wäre mein zwölfter Großstadtbesuch gewesen — schon
+wieder auszusteigen. Ich war es nun vier Wochen gewohnt, mindestens
+einen vollen Tag und eine Nacht oder gleich zwei bis drei von ihnen
+hintereinander durchzufahren, daß es mich ordentlich verwunderte, daß
+ich „schon“ um Mittag vor der City Hall mitten in Philadelphia stand!
+Im Osten schrumpfen eben die Entfernungen schnell zusammen, wenn man
+aus dem Westen kommt und nehmen einigermaßen wieder europäische und
+menschliche Maße an. So ließ ich mir also am Blick von der Eisenbahn
+auf die rauchende Hafenstadt Baltimore genügen und dampfte weiter.
+Baltimore hat gleich Washington — darin kennzeichnet sich seine
+südlichere Lage — nicht bloß sehr viel Farbige — über ein Zehntel
+seiner Bevölkerung! — sondern auch besonders viele Katholiken, denn es
+geht ja auf die Gründung des katholischen Lords gleichen Namens zurück<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span>
+und war eine Zufluchtsstätte verfolgter englischer Katholiken. So ist
+hier auch der Sitz des amerikanischen Erzbischofs und Kardinals, einer
+Person, die sich eigentümlich mit ihrem mittelalterlichen Ursprung
+in dem übermodernen amerikanischen Leben ausnimmt. Aber gerade in
+den jüngsten Zeiten der Einwanderung aus Süd- und Osteuropa hat das
+katholische Element sehr zugenommen.</p>
+
+<p>Die Stadt Baltimore wurde schon 1729 gegründet. Sie ist eine der
+Veteranen in der Union. Heute ist sie Hauptsitz der Austernkonserven-,
+der Stahl-, Segeltuch- und Backsteinindustrie, dazu Hauptausfuhrhafen
+für Getreide. Baltimores Washingtonmonument und seine City Hallkuppel
+grüßten mich. Die bekannte Universität Baltimores „John Hopkins“ hätte
+ich gern zum Vergleich mit Harvard aufgesucht, aber es fehlte die Zeit.
+Wie die großen Städte, so liegen auch die großen geistig führenden
+Universitäten fast alle wie auf eine Schnur gereiht an der Küste des
+Atlantischen Ozeans: Harvard bei Boston, Yale in Newhaven (s. <a href="#Seite_70">S. 70</a>),
+Kolumbia in Neuyork, Princeton bei Philadelphia, deren Rektor eine
+Zeitlang niemand anders als Woodrow Wilson war (!), und John Hopkins in
+Baltimore, Stiftung eines reichen gleichnamigen Handelsherrn.</p>
+
+<p>Währenddem waren wir schon über den mächtig breiten Susquehanna
+River gesetzt, <em class="gesperrt">Philadelphia</em> entgegen. Die rauchige riesige
+Hafenstadt mit ihrem Wald von Masten und Schloten der Ozeandampfer
+hatte wieder saftigen Wiesen mit weidenden Viehherden, Wäldern und
+kleinen idyllischen Bachtälern Platz gemacht. Überall sah man sehr
+wohlangebautes und wohlgepflegtes Farmland, dem man es ordentlich
+anmerkte, daß es schon Jahrhunderte alt war. Pennsylvanien ist
+noch heute einer der bestbesiedelten und bestangebauten Staaten.
+Fast an norddeutsches Tiefland erinnerten seine gefälligen roten
+Backsteinbauten mit ihren grünen Fensterläden, die noch in der
+„Stadt der Bruderliebe“ weit verbreitet und heimisch sind, so daß
+man in Philadelphia wie etwa heute noch bei uns in Bremen zumeist im
+eigenen kleinen Heim wohnt statt in riesigen Mietskasernen wie auf
+dem engbeschränkten Raum Neuyorks. Philadelphia hat sich damit<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> mit
+Recht den ehrenden Namen einer „<span class="antiqua">City of homesteads</span>“ (Stadt der
+Heimstätten) erworben!</p>
+
+<p>An Wilmington ging es vorüber, der größten Stadt in dem kleinen Staat
+Delaware, was allerdings nicht viel sagen will. In Delaware besteht
+übrigens aus früheren Zeiten allein noch die öffentliche Prügelstrafe!
+Sie könnte auch für manche Roheitsdelikte in der alten Welt noch
+bestehen! In dieser Gegend, die wir jetzt durchfuhren, landeten zur
+Zeit des 30jährigen Krieges schwedische Kolonisten und gründeten ihre
+erste europäische Niederlassung am Delawarefluß. Noch heute steht
+davon als Wahrzeichen eine kleine, Ende des 17. Jahrhunderts erbaute
+Schwedenkirche! Weiter ist es hier die Gegend, wo Washington den
+Delaware im Kampf gegen die Engländer überschritt. Hier war es auch,
+wo sich die geduldigen, friedliebenden Quäker unter William Penn schon
+1682 festsetzten und vertragsmäßig — nicht wie sonst mit Gewalt und
+Krieg — den Indianern das Land mit Verträgen abkauften, die einzig
+hier in der Welt nicht gebrochen wurden, ohne beschworen zu sein!
+Bekanntlich verwerfen die Quäker noch heute den Eid.</p>
+
+<p>Allmählich mehrte sich wieder der Rauch. Alle Anzeichen einer nahen
+großen Stadt meldeten sich. Über einem riesigen Häusermeer erschien
+bald der 155 <span class="antiqua">m</span> hohe Turm der City Hall von Philadelphia, lange
+auch eines der höchsten Bauwerke der Welt. Punkt zwölf stand ich am
+Ende der 19 Meilen langen „Broad Street“, die mit dem Broadway in
+Neuyork eifert, an seinem Fuße. Wieder umbrandete mich der typische
+amerikanische Großstadtverkehr! Es war wieder nicht viel Unterschied,
+ob man auf der State Street in Chikago oder dem Broadway in Neuyork
+oder der Broad Street in Philadelphia stand. Freilich am wildesten
+ist die Tonart des Verkehrs in Neuyork, am sanftesten für die Größe
+der Stadt noch in Philadelphia; Chikago hält etwa die Mitte. So steht
+es auch mit den Wolkenkratzern. Neuyork hat weitaus die meisten und
+höchsten, in Philadelphia sind es im ganzen nur wenige und mäßighohe,
+die Stadt hat ja nach allen Seiten Ausdehnungsmöglichkeiten genug und
+hat von ihnen Gebrauch gemacht.<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span> Der weißlockige perückentragende
+William Penn hat sie einst rechtwinklig angelegt wie alle
+amerikanischen Städte, indem er das riesige Straßenkreuz der Broad
+und Market Street anlegte, in dessen Mitte genau die City Hall mit
+ihrem riesigen Turm steht, so daß er gebietend gleichsam über die
+ganze Stadt sieht. Aber fast kaum glaublich ist, daß noch zur Zeit des
+Unabhängigkeitskrieges die heutige Zweimillionenstadt nur etwa 12&#8239;000
+Einwohner zählte, und geradezu rührend wirkt das alte kleine State
+House, dessen Backsteine man im Fairmountpark wieder aufgebaut hat, das
+älteste Backsteinhäuschen des ganzen Landes von wenig Quadratmetern
+Umfang!</p>
+
+<p>Ich fuhr zum Turm der City Hall hinauf und hatte von oben wie vom
+Obelisk in Washington wieder eine märchenhafte Aussicht über die ganze
+Stadt und ihre Umgebung. Man stand hier oben dem Menschengewimmel und
+Geschäftsgetriebe fast so entrückt wie auf dem Metropolitan Tower in
+Neuyork. Weit sah man zum grünen und hügeligen Fairmountpark, dem Stolz
+Philadelphias, hinüber und auf der andern Seite zu dem meerarmartigen
+breiten Delaware. Mitten durch das Riesenschachbrett der Stadt windet
+sich außerdem noch der weit schmälere Schuylkill-River, der in den
+Delaware unterhalb der Stadt fließt.</p>
+
+<p>Dann trieb es mich vor allem zu den historischen Stätten, die einem
+anwehen wie etwa die Faneuil Hall in Boston, z.&#8239;B. zur „Independence
+Hall“. Am 5. September 1774 versammelte sich hier in Philadelphia
+als der damals durchaus geistigführenden Stadt der erste Kongreß,
+der hier am 4. Juli 1776 die berühmte Unabhängigkeitserklärung der
+Vereinigten Staaten von England erließ, noch heute die Magna Charta
+der Union. Und noch immer ist der „<span class="antiqua">fourth of July</span>“ der größte
+nationale Feiertag, an dem die Begeisterung für das Banner „der Sterne
+und Streifen“ auch in Philadelphia keine Grenzen kennt. Freilich fiel
+damals vorübergehend die Stadt noch einmal in die Hände der Engländer,
+aber als sie wieder erobert war, tagte hier der Kongreß bis 1797. Dazu
+war sie zugleich der Sitz des ersten Präsidenten. In der „Halle der
+Unabhängigkeit“ wird noch heute als<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> Hauptheiligtum der bescheidene
+Sitzungssaal mit den alten Möbeln und dem Tisch gezeigt, auf dem die
+denkwürdige Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde. Jene Männer
+vor 150 Jahren konnten freilich nicht im entferntesten ahnen, welche
+beispiellose Entwicklung diesem Lande bevorstehen sollte. Auch die
+Glocke, die zuerst nach der Unabhängigkeitserklärung als Zeichen der
+errungenen Freiheit geläutet wurde, die sogenannte „Liberty bell“,
+ist noch vorhanden. Zwar hat sie Mitte des vorigen Jahrhunderts
+einen Sprung bekommen und wird seitdem nicht mehr benutzt. Aber ihr
+ehrwürdiges Dasein genügt. Im oberen Stock sind Erinnerungen an die
+Hauptgröße Philadelphias, den Gründer der Stadt, den Quäker William
+Penn, dazu ein Stück der Ulme, unter der er den denkwürdigen Vertrag
+mit den Indianern — ein Vorgang, der so oft gemalt wurde — abschloß.
+Endlich redet in Philadelphia zu dem Besucher noch eine dritte
+Berühmtheit, Benjamin Franklin, der den Blitzableiter hier erfand
+(1752). Stattlich sitzt er vor dem Hauptpostamt, während Penn seinen
+Ehrenplatz hoch auf dem Turm der City Hall gefunden hat.</p>
+
+<p>Zum Fairmountpark kam ich leider nicht hinüber, auch nicht zur
+Kathedrale „Peter und Paul“ des römischen Kardinals, noch zu dem
+Waisenhaus „Girard College“, zu dem Geistlichen — wohl einzig in
+seiner Art in der Welt — der Zutritt ausdrücklich verboten ist!
+Einen Blick warf ich in die Universität, weil ich einen ihrer Lehrer,
+den bekannten babylonischen Ausgrabungsforscher Prof. Hilprecht
+schon in meiner Jugend in Deutschland einmal hatte sprechen hören.
+Dicht bei Philadelphia liegt auch die von Deutschen einst gegründete
+Vorstadt „Germantown“, wo sich schon 1683 niederrheinische aus der
+Heimat vertriebene Mennoniten niedergelassen hatten. Germantown war
+die allererste deutsche Siedlung in Amerika überhaupt! Von hier ging
+auch schon 1688 der erste Protest gegen die Sklaverei aus, freilich
+wirkungslos für noch fast zwei Jahrhunderte! So war das pennsylvanische
+Deutschtum das alteingesessenste! Mein Magen fing bei all dem
+„Besichtigen“ einmal wieder an zu knurren und erhob einen nicht ganz
+erfolglosen Protest gegen weitere Stadtdurchstreifungen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span></p>
+
+<p>Ich fuhr gen Neuyork zurück. Erst ein Stück am Delaware hin. Bei
+Trenton setzten wir über den mächtigen Fluß. Die letzten Berge zur
+Linken entschwanden. In den Staat Neujersey gelangt, näherten wir
+uns bald der weiten blauen, fast heimisch wirkenden Newarkbai, deren
+Hauptstadt Newark, obwohl an 300&#8239;000-400&#8239;000 Einwohner zählend, doch
+ganz im Schatten Neuyorks steht und daher nichts bedeutet, ja wohl
+noch nicht einmal dem Namen nach in der Welt bekannt ist! Dann ging’s
+ein Stück an der blauen, herrlichen <span class="antiqua">upper bay</span> entlang, und die
+Wolkenkratzer tauchten auf! ... Wie sie jetzt auf mich wirkten, wie
+alte gute Bekannte! Mit durchaus heimatlichen Gefühlen langte ich
+wieder in Neuyork an. Mir war es, als wäre ich erst gestern von dort
+weggefahren, obwohl die mannigfachsten Erlebnisse von nicht weniger als
+von acht Monaten dazwischen lagen!</p>
+
+<p>Da ich nun einmal wieder in Neuyork war, so faßte ich schnell den
+Entschluß, ehe ich wieder Onkel und Tante in der 137. Straße guten
+Tag sagte und mit dem <span class="antiqua">subway</span> hinausraste und ihnen vom
+Felsengebirge und dem Stillen Ozean erzählte, schnell noch einen Besuch
+in Westhoboken in der Palisade Avenue zu machen, die aufzufinden ich
+einst vor acht Monaten jene weite Irrfahrt ins grüne Land hinaus bis
+nach Englewood gemacht hatte! Pochenden Herzens sprang ich wie ein
+gewisser Goethe in Sesenheim durch die niedrige Gartenpforte nach der
+Haustür. Aber sie war und blieb diesmal festverschlossen! Ich hätte
+so gern meinen ersten Bericht von Indianern und Mormonen, dem Niagara
+und dem Grand Cañon der kleinen Badenserin vorgetragen und in der
+Küche wieder einmal bei ihr geplaudert, während sie dem Onkel das
+Essen rüstete. Aber es war und blieb das Gartenpförtlein verschlossen
+... Wie schmerzlich! Gerade für diesen Abend hatte der ängstliche und
+vorsichtige Onkel sein Nichtchen einmal mit in die Oper nach Neuyork
+genommen, wie ich später erfuhr ... Wir sahen uns nur noch einmal im
+Leben, aber nicht in Hoboken&#160;...</p>
+
+<p>Bei Onkel und Tante tat ich in aller Unschuld so, als käme ich
+geradewegs vom Bahnhof der Pennsylvaniaeisenbahn! So oder ähnlich
+machen es ja wohl alle jugendlichen Neffen in ähnlichen Fällen. Es<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span>
+wurde Abend, der rasende und donnernde <span class="antiqua">subway</span> hatte mich wieder
+in die 137. Straße hinausgebracht. So war ich wieder „daheim“!</p>
+
+<p>Ich brauchte diesen Abend in keine „<span class="antiqua">upper berth</span>“, in die ich so
+oft geklettert war, zu kriechen und mich halb liegend auszuziehen, noch
+wähnte ich in Traum und Schlaf mit dem Bett auf dem schwankenden Boden
+hin und her zu fahren wie auf dem erdbebendurchrüttelten Pflaster San
+Franziskos, noch hatte ich es nötig, mich im Dunkel der Mitternacht
+einem wildfremden Mann für ein Nachtlogis anzuvertrauen wie in Santa
+Fé und vorsorglich die Tür zu verbarrikadieren. Keine Fahrpläne und
+Hotelpreise ängstigten mich mehr, keine Reisepeitsche, alles Wichtigste
+auf die rascheste und billigste Weise mitzunehmen, wurde über meinem
+Haupt mehr geschwungen. Ich hatte mein Werk getan. Neuyork kannte ich
+gut; es brachte mich also auf keine Stunde früher aus dem Bett am
+anderen Morgen als notwendig. Am Abend aber gab es noch ein Erzählen
+ohne Ende ... Ich war doch weiter in den wenigen Wochen herumgekommen
+als alle meine amerikanischen Verwandten zusammen in den 40 Jahren
+ihres Dortseins!</p>
+
+<p>Andern Tags war Sonntag. Ich fühlte so etwas wie ein Bedürfnis,
+eine deutsche Kirche — die es ja in dem stockenglischen Boston
+nicht gab — aufzusuchen und ein stilles „Nun danket alle Gott“
+für mich allein zu singen. Denn es war wirklich ganz wider alle
+Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen, daß ich auf amerikanischen Bahnen
+gegen 12&#8239;000 <span class="antiqua">km</span> gefahren war, ohne einen einzigen Unfall zu
+erleben. Ich hatte viel gesehen, mehr wie in vielen Jahren meines
+Lebens. Ich war mehr Eisenbahn gefahren als vielleicht bisher und
+später in meinem ganzen Leben. Aber gleich dieselbe ganze Fahrt noch
+einmal zu machen, hätte ich doch nicht für 1000 Taler getan.</p>
+
+<p>In der deutschen Kirche, die ich aufsuchte, amtierte — ein
+schönes Zusammentreffen — ein in Deutschland geborener Pastor,
+der auf derselben Universität wie ich studiert hatte, ja derselben
+Studentenverbindung angehörte wie ich einst. So wurde es ein besonders
+traulicher Abschied aus der Weltstadt Neuyork. Werde ich sie im Leben<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span>
+noch einmal wiedersehen, die Dollarburgen und die blaue <span class="antiqua">upper
+bay</span>, die Freiheitsstatue und die Brooklynbrücke?&#160;—&#160;—</p>
+
+<p>Ich fuhr wieder nach Boston. Ich wollte nicht meine Gänge durch das
+Dollarbabel von vorne beginnen und der lieben alten Tante auch nicht
+noch einmal länger zur Last fallen. Wie bekannt kam mir jetzt die
+Strecke über Newhaven, am blauen Long-Island-Sund hin vor! Überall
+blühte es jetzt in Connecticut, dem „Kastanienstaat“. Wie oft hatte ich
+auf meiner weiten Reise schon den Frühling erlebt und war immer wieder
+in den Winter zurückgeschleudert worden! In Kalifornien war es schon
+fast Sommer; auf der Sierra Nevada, in Kolorado und Chikago schneite
+es! Hinter Pittsburgh jenseits der Alleghenies war der Frühling um
+Washington gerade mächtig im Kommen, und hier zwischen Neuyork und
+Boston setzte er gerade erst langsam ein, während in Arizona und Nevada
+die Sonne schon wie im heißesten Sommer gebrannt hatte und in Santa
+Fé sich gar schon heftige sommerliche Gewitter entluden. Es kam einem
+dieser ständige Wechsel wie ein einziger Traum vor&#160;...</p>
+
+<p>Am Abend in der Dämmerung lief unser sehr leerer Zug in Boston ein.
+Ich gottloser Mensch hatte es gewagt, am heiligen Sonntag auf der
+Eisenbahn heimzukehren! An einem Sonntag abend war ich vor Wochen
+klopfenden Herzens abgefahren, ungewiß einem Kontinent mit seinen
+unermeßlichen Entfernungen entgegen, ein über meterlanges Reisebillett
+in der Tasche. Wohlbehalten und mit wohlgefülltem Geist — freilich
+auch wohlgeleerter Tasche — kehrte ich „heim“, denn auch Boston und
+erst recht mein Harvard- = „<span class="antiqua">furnished room</span>“ kamen mir jetzt wie
+traute Heimat vor. Wie mußte ich meinem japanischen Freund Mr. Ashida
+danken, der mir, so oft ich vorher wieder schwankend werden wollte,
+stets zugeredet hatte, die Fahrt auf jeden Fall zu unternehmen. Wie
+ein Traum war mir jetzt das Ganze, als ich wieder unter Harvards Ulmen
+hinschritt, daß ich in den vorweltlichen Schlund des Grand Cañon
+geschaut, über den Salzsee gefahren, auf Santa Catalina im Stillen
+Ozean gelegen und versucht hatte, den Pikes Peak, den amerikanischen
+Montblanc, zu besteigen! Noch<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> manchmal glaubte ich im Bett liegend zu
+fahren — und saß doch still hinter den Büchern. Noch manchmal glaubte
+ich den Bädeker für morgen genau studieren zu müssen — und hörte
+derweilen Professor Josiah Royces schwere philosophischen Gedanken des
+englisch-amerikanischen Hegelianismus&#160;...</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Meines Bleibens war aber in Harvard nun auch nicht mehr sehr lange.
+Seit ich den Paß in den Koloradobergen von der Wasserscheide
+herabgefahren war, wo der Arkansas die Richtung zum Atlantischen Ozean
+weist, hatte ganz leise der Zug zur Heimat zu arbeiten begonnen. Nur
+noch einen reichlichen Monat hielt ich es drüben aus, dann schloß ich,
+einen wohlerworbenen amerikanischen „<span class="antiqua">degree</span>“, den ich mir mit
+nicht leichten Prüfungen ehrlich verdient hatte, in der Tasche, die
+Koffer zur Heimfahrt. Ich wartete den Semesterschluß der Universität
+gar nicht erst voll ab, sondern beschloß meine Studien zum Erstaunen
+der Herren Professoren, die drüben solch akademische Freiheit gar
+nicht gewöhnt sind, schon vier Wochen vor der der übrigen Studenten.
+Ich hatte ja in Deutschland längst ausstudiert. Und alles Arbeiten auf
+amerikanischem Boden war für mich nur „überflüssig gutes Werk“.</p>
+
+<p>So kamen die Abschiedsbesuche bei all den wohlwollenden Herren und
+sonstigen lieben Menschen, die sich meiner so freundschaftlich
+angenommen hatten. Ich bin ihnen allen noch heute sehr verbunden
+und verpflichtet. Dann fiel der Deckel auf den großen graugrünen
+Hochzeitskoffer meiner Eltern mit den Büchern und all den vielen
+Siebensachen, die sich nun noch reichlich vermehrt hatten, zur Fahrt
+<em class="gesperrt">durch Kanada</em> heimwärts. Ob er wohlbehalten mit mir die Heimat
+erreichte? Ich hoffte es.</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Kanada">Kanada.</h2>
+
+</div>
+
+<p>Kanada ist ein ganz riesiges Land, <em class="gesperrt">noch viel riesiger als die
+amerikanische Union</em>! Es ist wenig kleiner als ganz Europa
+einschließlich Rußland! Ich hatte natürlich nicht vor, etwa auch
+noch<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> dies Land seiner ganzen Breite nach zu durchfahren, seine
+unermeßlichen Prärien und unerschöpflichen Wälder zu erforschen, die
+die Bevölkerung trotz der ungeheuren Landfläche auf ein Zehntel der
+der Union beschränken. Dazu fehlte völlig die Zeit. Mir sollte es
+genügen, wenigstens einen Blick in das Land hineinzuwerfen und einen
+Abschiedshauch von ihm mitzunehmen.</p>
+
+<p>Kaum <em class="gesperrt">eine</em> namhafte Großstadt gibt es auf kanadischem Boden. Ein
+äußerst kalter und rauher Winter läßt das Land monatelang erstarren,
+obwohl seine Südgrenze etwa in der Höhe von Mailand läuft! Gar tief
+schneidet die Hudsonbai, die das ganze Jahr mit Treibeis (!) gefüllt
+ist, in das Land ein. Eisig sind die Stürme, die von Grönland und
+dem Eismeer herein und von hier bis in die obere Mississippiebene
+hinabbrausen. Es war mir möglich, den einzig wichtigen Osten zu
+durchfahren, wo vor England einst Frankreich Fuß faßte, das zu
+Zeiten von Neuorleans über Saint Louis bis Quebec gebot! Welch eine
+Koloniallinie! Im Siebenjährigen Krieg verlor ja Frankreich dank der
+Siege Friedrichs des Großen ganz Kanada, dessen Wert damals niemand
+ahnte, an England, und das Mississippital verkaufte Napoleon I. an
+die Union, auch seine Bedeutung nicht für möglich haltend, für ein
+Butterbrot! (15 Millionen Dollars). Von Ostkanada, Montreal und Quebec,
+wollte ich den mächtigen Lorenzstrom hinunter über den nördlichen
+Atlantischen Ozean nach Schottland hinüberfahren und noch England
+durchstreifen. Das waren wieder neue Erlebnisse! Der Plan, gar über
+Japan heimzukehren, war für mich leider unausführbar; so hielt ich mich
+dafür an den kanadischen Weg, sintemal die Route Kanada-Schottland die
+kürzeste Überfahrt auf offener See bietet!</p>
+
+<p>So ging es durch Massachusetts, das liebliche Neuhampshire und
+Vermont gen Quebec. Ich sagte dem Charles River Lebewohl, der golden
+leuchtenden, so oft geschauten Kuppel des State House auf dem Boston
+Common, dem schönen Renaissanceturm der <span class="antiqua">New old South</span>, auch all
+den vertrauten Collegegebäuden von Harvard, in denen ich so oft ein-
+und ausgegangen war.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span></p>
+
+<p>Wir hielten in der rauchenden über 100&#8239;000 Einwohner zählenden
+Fabrikstadt Lowell. Ein Mönch in brauner Kutte stieg ein. Wie sich
+das in Amerika ausnimmt zwischen all den rasierten <span class="antiqua">gentlemen</span>!
+Er wollte offenbar nach dem katholischen Kanada reisen! Auch schon in
+Lowell gibt es genug französisch redende kanadische Arbeiter, die in
+den nördlichen Industrien der Union Verdienst suchen.</p>
+
+<p>Dann kam rings schöne grüne Heide, je weiter wir nach Neuhampshire
+hineinfuhren. Flüsse, Seen und sanftgewellte Hügel bestimmten den
+Charakter der Landschaft. Alles alte Indianergründe! Davon zeugen noch
+heute die Namen der Flüsse, Seen und Berge, wie z.&#8239;B. der Name des
+äußerst lieblichen, an den mittelenglischen Seendistrikt erinnernde
+Lake Winnipesaukee. Birkenbepflanzte Fahrwege säumen ihn, kleine
+Dampfer eilen über seine spiegelglatte Fläche. Waldige Mittelgebirge
+überhöhen ihn rings sanft ansteigend. Unverwandt schaute ich wieder
+hinaus in diese liebliche einsame Landschaft. Wieviel Raum und Platz
+ist hier noch für wanderlustige und siedlungsbereite Menschen! Der
+Zeitungsboy wanderte indessen wie immer durch den Bahnwagen und
+bot Ansichtskarten und Albums aus. Auch er hatte schon einen etwas
+fremdartigen Akzent&#160;...</p>
+
+<p>Die Stationsnamen hatten oft puritanisch-biblischen Klang:
+„Bethel, Kanaan, Lebanon“, wie man auch heute noch viel
+biblisch-alttestamentliche Vornamen unter den Amerikanern und
+Engländern findet: <em class="gesperrt">Abraham</em> Lincoln, <em class="gesperrt">David</em> Jefferson,
+<em class="gesperrt">Isaak</em> Newton, <em class="gesperrt">Jonathan</em> Eduards, <em class="gesperrt">Josiah</em> Royce usw.
+— und waren doch alle beileibe keine Juden! Die Bahnhöfchen wurden
+immer unansehnlicher, je weiter wir nordwärts kamen.</p>
+
+<p>Den See Winnipesaukee samt den malerischen White-Mountains ließen wir
+zur Rechten und fuhren nach dem Staat Vermont hinüber und dann den
+langen, vielverzweigten und vielbesuchten „Lake Champlain“ entlang. Er
+ist über 150 <span class="antiqua">km</span> lang, d.&#8239;h. also mehr als doppelt so lang als
+unser Bodensee, wenn auch nicht von seiner Breite. Ein Kanal verbindet
+ihn mit dem Hudsonfluß. Immer aufs neue werden alle unsere deutschen
+Maßvorstellungen über den Haufen<span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span> geworfen. Und dabei zählt dieser
+See samt dem Salt Lake in Utah durchaus zu den „kleinen“ Seen. Es
+war äußerst erfrischend und erquickend an ihm entlang zu fahren. Wir
+hatten eben einen 300 <span class="antiqua">m</span> hohen Paß mit der Bahn überschritten und
+senkten uns nun in seine liebliche Niederung. Auch an Joseph Smiths,
+des Mormonenpropheten Heimat, Dorf Sharon, eilten wir vorüber. Also in
+dieser träumerisch-idyllischen Landschaft hat der Prophet seine ersten
+seelischen Eindrücke empfangen! Sie ist freilich der denkbar größte
+Gegensatz zu den Einöden und Steppen um den Salzsee.</p>
+
+<p>Je weiter wir an dem Lake Champlain nordwärts kamen, desto ebener
+und flacher wurde das Land wieder. Die freundlichen Berge Vermonts
+blieben zurück. Vor St. John erreichten wir die Grenze der Union und
+fuhren nun nach Kanada hinein. Es war für mich nicht das erstemal, daß
+ich englischen Boden berührte. Schon vom Niagara bis Detroit hatte
+ich das südlichste kanadische Gebiet durchfahren. Der Lake Champlain
+fließt ab im „Richelieu River“, der so breit ist wie ein Meeresarm.
+Schon der Name belehrte mich, daß sich hier eine alte geschichtliche
+Welt auftat, die noch heute neben 100&#8239;000 Indianern über eine Million
+französisch redende Kanadier bewohnen. Dünn ist das Land besiedelt.
+Ungeheure Ebenen bis an den Horizont taten sich auf, die an Weite und
+Unfaßlichkeit noch die Ebenen des Mississippi übertreffen! Auf weiten
+grünen Weiden tummelten sich Pferde und Rindvieh. Von Zollrevision
+merkte ich nichts. Freut sich etwa <span class="antiqua">The Dominion of Canada</span>
+über jeden Menschen und jedes Stück Ware, was in sein ungeheuer
+aufnahmefähiges Land hineinkommt? Oder spart man Beamte? Die Bauart
+der Häuser zeigte hier einen anderen Stil als in der Union. Es sind
+im östlichen Kanada meist Steinhäuser mit flachem oder französischem
+Doppeldach. Verschwunden sind die typischen amerikanischen hölzernen
+Farmhäuser. Auch die meisten Stationsnamen sind jetzt französisch,
+z.&#8239;B. „Brosseau“!</p>
+
+<p>Es dunkelte. Über den ungeheuren Grassteppen war westwärts die Sonne
+versunken. Von einer Reihe abendlich beleuchteter Hügel<span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span> blitzten
+Lichter auf. Wir näherten uns den Ufern des St. Lorenzstromes,
+der kaum noch ein Strom zu nennen ist, der als der breite Abfluß
+des Ontariosees, einer der großen, ostseeähnlichen Seen, wie der
+Niagarafluß der Abfluß des Eriesees seeartig daherströmt. Er ist fast
+so lang wie die Wolga und schon 400 <span class="antiqua">km</span> vor der Mündung 20
+<span class="antiqua">km</span> breit!</p>
+
+<p>Einen ganzen Tag war ich wieder gefahren, als wir endlich zwischen
+neun und zehn Uhr abends in Montreal (frz.: „Königsberg“, aber hier
+meist englisch ausgesprochen: „<span class="antiqua">montrioll</span>“) eintrafen. Auf
+mächtiger Brücke setzen wir über den St. Lorenz, der hier so breit
+wie die Unterelbe ist. Montreal liegt auf einem unmittelbar am Fluß
+hoch ansteigenden Berg. Daher trägt es auch seinen Namen zu Recht.
+Es übertrifft an Alter, wenn auch keineswegs an Größe und Bedeutung,
+die meisten seiner viel jüngeren amerikanischen Schwesterstädte.
+1608 wurden schon die ersten französischen Niederlassungen am St.
+Lorenzstrom gegründet! Heute zählt Montreal über 200&#8239;000 Einwohner.
+Es besitzt eine alte prächtige Kathedrale in französischer Gotik. Im
+Winter stauen sich die mächtigsten Eisschollen zu Bergen am Flußkai vor
+ihr. — Ich war der letzte, der aufs Schiff kam, das am Landungssteg
+schon ein geraumes Stück stadtabwärts abfahrtbereit lag. Ich nahm mir
+im Dunkeln eine Droschke. Wie hätte ich sonst im Dunkeln, eben erst
+in Kanada eingetroffen, nachts zehn Uhr durch die bergig gelegene
+Stadt das Schiff finden sollen? Mit der Straßenbahn, auf der viele
+Fahrgäste französisch wie in Straßburg sprachen, war ich nicht recht
+vorwärts gekommen. Ich mußte im Oberstübchen erst tüchtig umräumen
+und umschalten, bis ich nach dem vielen Englisch die richtigen
+französischen Worte fand! Gegen elf Uhr betrat ich das Deck, von den
+Passagieren neugierig angestaunt, und verstaute mich selbst auf dem
+„<span class="antiqua">Royal-mail-twin-screw-steamer Jonian</span>“, wie er offiziell hieß!</p>
+
+<p>Der Dampfer selbst kam mir in seinen Ausmaßen recht klein vor, als ich
+ihn betrat, im Vergleich mit den Ozeanriesen, die man aus den Docks in
+Neuyork gewöhnt war. Aber solcher Riesen brauchte<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span> es ja auch zwischen
+Kanada und Schottland nicht. Er hatte immer noch 8000 Registertonnen
+und gehörte der englischen Allan-Linie. Angenehm war es, daß er nur
+II. Klasse führte, so daß einem auch als Menschen „zweiter Klasse“
+und von minderem Geldbeutel doch einmal das ganze Schiff mit allen
+Decks und Salons bis hinauf aufs Oberdeck zur Verfügung stand; ferner
+war angenehm, daß im ganzen nur etwa 150 Passagiere mitfuhren. Es
+waren diesmal ein gut Teil Missionare darunter, die zu einer großen
+Missionskonferenz nach Schottland wollten. Die Besatzung aber betrug
+dennoch allein 180 Mann! Die wenigen Passagiere machten aber die ganze
+Fahrt recht familiär.</p>
+
+<p>Müde von den langen Eisenbahnfahrten ging ich bald in meine Kabine, die
+ich für mich allein hatte. Zum Schlaf sollte es doch noch nicht sobald
+kommen, denn um Mitternacht begann ein wahrhaft höllisches Gepolter.
+Die großen Schiffskrane versenkten nämlich sämtliches große Gepäck und
+sonstige Ladung in die tiefen Laderäume im Bauch des Dampfers. Das
+gab ein Rasseln der Ketten, ein Drehen der Krane, ein Rufen, Pfeifen,
+Rollen, Schieben, Fallen ohne Aufhören. Erst etwa gegen drei Uhr nachts
+hörte es auf. Die Augen fielen mir zu ... Die Ankerketten wurden
+hochgezogen. Das war englische Rücksichtslosigkeit und Nüchternheit
+— wir fuhren! Ohne Sang und Klang ging es ab — auch englisch —
+ohne den ganzen schönen theatralischen Abschied wie in Kuxhaven. Kein
+Winken, auch kein Weinen! Der Engländer ist nicht so sentimental und
+melancholisch wie wir.</p>
+
+<p>Als ich morgens erwachte, mir die Augen rieb und durch die Luke
+hinausschaute, schwammen wir mit unserer „Jonian“ auf einem breiten,
+schimmernden Strom, den liebliche grüne Ufer und sanft geschwellte
+Hügel begrenzten, sacht und ohne jede Erschütterung abwärts. So
+sollte es zweieinhalb Tage fortgehen, bis wir in den offenen Ozean
+hinauskamen. Ich hätte so bis ans Ende der Welt fahren mögen ... Gegen
+Vormittag zehn Uhr kamen wir an Quebec, der anderen alten französischen
+Gründung, vorbei. Quebec war mir zum ersten Male in der Kindheit in
+einem Gedicht Seumes begegnet,<span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span> aber wie in völlig nebelhafter Ferne.
+Jetzt sah ich es wie Montreal auf noch steilerem Berg herrlich und
+gebietend über dem St. Lorenz thronen als natürliche starke Festung.
+Festungsmauern und drohende Kasematten säumten die Zitadelle, aber
+auch riesige Hotels mit gewiß prächtiger Aussicht haben sich den Berg
+hinangebaut. Quebec erinnerte mich stark an unseren Ehrenbreitstein am
+Rhein gegenüber Koblenz.</p>
+
+<p>Hinter Quebec wurde der St. Lorenz noch zwei- bis dreimal so breit
+als bisher. Er weitete sich mehr und mehr und wurde fast wie zu
+einer tiefeingeschnittenen Bucht. Die in der klaren Luft wie gemalt
+ausschauenden Berge begleiteten ihn noch lange. Dann und wann
+passierten wir buschige Inseln mitten im Strom wie am Niederrhein. Nach
+Stunden begegnete uns auch das schönere und neuere Schwesterschiff, die
+„Virginian“, die von Schottland kommend und derselben Linie angehörend
+stattlich den St. Lorenz aufwärts dampfte. Lebhaftes Grüßen und Winken
+und Tücherschwenken hinüber und herüber — und dann war auch dies
+„Ereignis“ wieder vorüber! Nach einigen Stunden kam auch noch die „Lake
+Erie“ von der Dominian-Linie und ein Seedampfer, der der Canadian
+Pacific-Eisenbahn gehörte. Solche Schiffsbegegnungen sind immer „große“
+Ereignisse an Bord und beliebte Ziele für Operngläser und Feldstecher.</p>
+
+<p>Am Rand des Stromes tauchten hier und da kleine weißschimmernde Dörfer
+auf mit kleinen weißen Kirchtürmen, aber im ganzen doch selten. Sonst
+machte das weite Gras- und Hügelland links und rechts den Eindruck
+völliger Unbewohnheit, der uns in Europa — Rußland ausgenommen — so
+ganz fremd ist! Wir nahmen den Kurs nach der „Belle-Isle-Straße“, dem
+nördlichsten Ausgang aus dem St. Lorenzstrom, so daß wir das eisige
+Labrador links und „Neubraunschweig“ rechts ließen.</p>
+
+<p>Als der erste Tag der Fahrt auf dem Lorenzstrom zu Ende ging, wich
+die Helligkeit abends nur sehr langsam. Es war ja Juni und ging dem
+hellsten Tag entgegen. Mit jedem Tag aber kamen wir in nördlichere
+Breiten. Ja es blieben zuletzt breite helle Streifen die<span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span> ganze Nacht
+am dunklen Himmel stehen, die uns entweder als Reflexe des Eises im
+nördlichen Labrador oder als Nordlicht gedeutet wurden! So kriegte man
+fast ein bißchen Geschmack wie von „Grönland“ und „Nordpol“. Von der
+Südspitze Grönlands trennten uns nachher ja auch nur noch etwa 600
+<span class="antiqua">km</span>, also etwa eine Entfernung wie von Edinburg zur Südküste
+Englands. Labrador allein ist so groß wie ganz Skandinavien und Spanien
+zusammen!</p>
+
+<p>Aus einem buntfarbigen Abend tauchte ein strahlender Sonntagmorgen.
+Ruhig und gelassen glitt unser Schiff wie ein Riesenschwan den viele
+Kilometer breiten blauen Strom abwärts. Wir waren jetzt in den St.
+Lorenz<em class="gesperrt">golf</em> eingetreten, der sich in zwei Straßen nördlich und
+südlich der Neufundlandinseln zum Atlantischen Ozean öffnet. Wie mit
+dem Messer geschnitten zeichnete sich die Wasserfläche in der völlig
+staubfreien, herrlich-klaren frühlingshaften salzigen Seebucht vom
+Horizont ab. Von den aus dem warmen Golfstrom so oft aufsteigenden
+Nebeln war diesmal nichts zu merken. Rechts glitt eine längliche
+bergige Insel vorüber. Zum ersten Male begann sich jetzt unser Schiff
+dank der vom offenen Ozean nun seitlich hereindringenden Wellen ein
+wenig zu heben und zu senken. Der erste Gruß des offenen Atlantik!</p>
+
+<p>Im Speisesaal fanden heute Sonntags auf dem englischen Dampfer nicht
+weniger als vier (!) Gottesdienste nacheinander statt, bei denen
+zumeist die mitreisenden Missionare predigten und aus ihrer Arbeit in
+Japan, auf den Philippinen und in Indien erzählten. Einer von ihnen,
+ein französischer Missionar, berichtete in mangelhaftem Englisch von
+seinen Erlebnissen bei der Fremdenlegion. Ehe sie redeten, wurden
+sie jedesmal mit Namen und Wirkungskreis vorgestellt! Auf einem mit
+dem englischen Union Jack umwundenen Pult lag eine große vergoldete
+Schiffsbibel. Das war die Kanzel. Die Mannschaft nahm, soweit frei,
+auch an dem „<span class="antiqua">worshipping the Lord</span>“ teil. Ich kann mich nicht
+entsinnen, daß wir auf dem Hapagdampfer bei der Hinfahrt Sonntags je
+irgendeine religiöse Veranstaltung gehabt hätten. Sonntags spielte hier
+auch die Schiffskapelle nicht einmal zu<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> den Mahlzeiten! Kein Spiel,
+erst recht nicht Karten, wurde auf Deck veranstaltet oder geduldet,
+auch kein Tanz u.&#8239;dgl. Rauch- und Biersalon blieben heute unbesucht!
+Das Klavier wurde nur zu Chorälen geöffnet&#160;...</p>
+
+<p>Eine breit aufgewühlte Wasserfurche ließ unser Schiff hinter sich.
+Schwärme von Möwen folgten ihm. Der Himmel behielt unverändert seine
+strahlende Bläue. Wir näherten uns der großen Insel „Anticosti-Island“.
+Ein Leuchtturm blinkte herüber. Bei Eisgang nehmen die Schiffe
+gewöhnlich von hier den weiteren südlichen Kurs um Neufundland herum,
+wir aber behielten den kürzeren nördlichen bei an der Küste von
+Labrador hin unter Grönland weg!</p>
+
+<p>Montag morgen passierten wir die Nordküste der wegen ihres Nebels so
+berüchtigten Neufundlandinseln und fuhren in die Straße von Belle-Isle
+ein. Labrador schien ganz unbewohnt, trotz seiner ungeheuren Größe,
+bergig, öde. Es zählt wohl kaum 10&#8239;000 Einwohner<a id="FNAnker_37" href="#Fussnote_37" class="fnanchor">[37]</a>. Es kennt wie
+Kanada noch große Büffel- und Rinderherden, auch Bären! Als wir den
+Ausgang der „Belle-isle-Straße“ um Mittag ins offene Meer gewannen,
+kamen uns — zu unserer Freude — richtige Eisberge auf ihrer Wanderung
+von Grönland südwärts entgegengeschwommen. Wir machten freilich einen
+recht respektvollen Bogen um sie. Denn die „<span class="antiqua">ice-bergs</span>“ ragen
+oft nur wenige Meter über dem Wasserspiegel, aber um so länger sind
+sie unter ihm! Im ganzen waren es nur vier dieser Burschen, die wir
+sahen. Uns interessant, von den Seeleuten gefürchtet. Noch steht in
+furchtbarer Erinnerung der Zusammenstoß der Titanic mit einem dieser
+unheimlichen Gesellen 1912. Aber malerisch sehen sie aus, wenn sie
+so blendend weiß im tiefen Blau des Ozeans dahergeschwommen kommen,
+lautlos und doch so gebieterisch, ein Stück losgelöstes Nordpolland.</p>
+
+<p>Als wir den offenen Ozean gewonnen hatten, zeigte er weiße Kämme
+bei schwacher Bewegung ... Das interessantere Stück der Fahrt war
+nun vorüber. Jetzt folgte wieder das erhabene Einerlei<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> des offenen
+Ozeans ohne Küstenstrich und Abwechslung für die Augen. Freilich ein
+strahlender Tag löste den anderen ab. Leicht fuhr das Schiff seine
+Bahn. Das Meer war kaum bewegt. Es war ein wundervolles Dahingleiten
+in dieser Juniherrlichkeit der See. Ich saß entweder ganz am Bug vorn
+und schaute in die unendliche Weite, der wir entgegenfuhren, vorwärts
+das Land Europas „mit der Seele suchend“ oder ganz auf dem Achterdeck
+rückwärts gewandt allein mit meinen Gedanken über Amerika und sah der
+breiten quirlenden und schäumenden Furche nach, die unsere Schrauben
+hinter uns zurückließen. Es war zu prächtig, nichts zu tun als zu
+schauen und zu sinnen ... Andere, wie die Missionare, unterhielten
+sich ständig über Missionsfragen, lasen viel in ihren Büchern oder
+zankten sich auch über kirchliche Dinge. Merkten sie gar nichts von
+der Missionspredigt, die ihnen täglich der ewige Ozean Gottes hielt?
+Dafür nannte mich der französische Missionar, der bei der Fremdenlegion
+gedient hatte, „<span class="antiqua">not sociable</span>“<a id="FNAnker_38" href="#Fussnote_38" class="fnanchor">[38]</a>. Meinetwegen! Der beste Sozius
+in unserem Leben ist doch auch manchmal das eigene sinnende Ich, wenn
+es sich weitet zu einem Überich und seelische Tiefen aufzubrechen
+anfangen. Aber mit diesem Ich mögen so wenige allein sein! Sie müssen
+immer Menschen und „Unterhaltung“ um sich haben, die doch oft so seicht
+und fade ist&#160;...</p>
+
+<p>An einem der Wochentagabende war wieder nach den vier <span class="antiqua">services</span>
+des Sonntags — „<span class="antiqua">prayer-meeting</span>“. Es knieten nebeneinander im
+Salon die bärtigen Schotten und die glattrasierten Kanadier, und einer
+nach dem anderen begann ein langes freies und doch gepreßtes Gebet. Ich
+hielt es lieber mit dem: „Wenn du betest, so geh’ in dein Kämmerlein
+und schließ’ die Tür zu ...“</p>
+
+<p>Am Freitag regnete es einen halben Tag lang, und wir fuhren in feuchtem
+Nebelgrau. Passierten wir den Golfstrom? Ich benutzte die Stunden,
+die man in den Salons zubringen mußte, meine Einführungsrede in mein
+Amt, das ich sofort nach meiner Ankunft in<span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span> der Heimat antreten
+sollte, auf dem freien Ozean auszuarbeiten. Hier war Stille dafür.
+Salzluft des freien Himmels wehte mit hinein. Plötzlich tutete es zum
+Rettungsappell. Alles mußte in die Boote. Aber glücklicherweise war es
+nur Probealarm. Schreckhaft, aber interessant!</p>
+
+<p>Sonnabend nachmittags näherten wir uns der schottischen Küste. Kein
+einziges Schiff war auf diesem nördlichen Kurs uns auf dem offenen
+Meer begegnet! Nur fünf Tage hatte die Fahrt auf offener See gedauert;
+zweieinhalb Tage fuhren wir auf dem St. Lorenz!</p>
+
+<p>Vormittags elf Uhr tauchte zuerst frohbewillkommnet die bergige blaue
+Küste des grünen Irland auf, an dem wir nördlich vorbeifuhren. Wir
+hatten also das Ziel richtig gefunden. Möwen umflatterten uns begrüßend
+wieder zu Hunderten.</p>
+
+<p>Ein letztes Konzert an Bord galt, wie üblich, der Mannschaftskasse.
+An seinem Ende wurde „<span class="antiqua">God save the king</span>“ gesungen! Jeder hatte
+dabei aufzustehen. Der Speisesalon war reich mit englischen Flaggen
+dekoriert. Gegen Abend tauchten auch schon die felsigen, unmittelbar
+aus dem Meer aufsteigenden malerischen Steilküsten Schottlands mit
+ihren Schlössern und alten Städten auf. Jetzt redete wieder die alte
+Welt mit tausendjähriger Geschichte zu uns&#160;...</p>
+
+<p>Den letzten Tag wurde unser Schiff noch ganz blank gestrichen.
+Temperaturmessen, Loten, Flaggenhochziehen war mir als Landratte
+immer wichtig ... Dann kam ein letzter himmlisch-klarer Abend bei
+der Durchfahrt durch die felsige Clydebucht, an deren innerem Ende
+<em class="gesperrt">Glasgow</em> liegt. Ihr Eingang wirkt wie ein norwegischer Fjord. Um
+elf Uhr abends war es in diesen Juninächten Schottlands noch hell genug
+zum Lesen&#160;...</p>
+
+<p>Als ich Sonntag früh erwachte, lagen wir bereits fest im Dock in
+Glasgow mitten zwischen Schuppen und Lagerhäusern. Ebenso prosaisch und
+klanglos wie die Abfahrt in Montreal war die Landung in Glasgow. Ich
+war auf dem Boden Seiner britischen Majestät!</p>
+
+<p>Kein Empfang, keine Musik!</p>
+
+<p>Ich betrat wieder europäischen Boden&#160;...</p>
+
+<div class="footnotes">
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_37" href="#FNAnker_37" class="label">[37]</a> Den Namen soll es von „<span class="antiqua">terra laboratorum</span>“, d.&#8239;h.
+Land guter Sklavenarbeiter erhalten haben?!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_38" href="#FNAnker_38" class="label">[38]</a> Nicht gesellig.</p>
+
+</div>
+
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowe2 break-before padtop5" id="illu_365">
+ <img class="w100" src="images/illu_365.jpg" alt="Signet der Druckerei">
+</figure>
+
+<p class="s5 center">Druck der Roßberg’schen Buchdruckerei, Leipzig.</p>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75888 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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Binary files differ
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+++ b/75888-h/images/illu_334_gross.jpg
Binary files differ
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Binary files differ
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--- /dev/null
+++ b/75888-h/images/illu_335_gross.jpg
Binary files differ
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--- /dev/null
+++ b/75888-h/images/illu_344.jpg
Binary files differ
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Binary files differ
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Binary files differ
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Binary files differ
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Binary files differ
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+++ b/LICENSE.txt
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+This book, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
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+
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+status under the laws that apply to them.
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+++ b/README.md
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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