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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-02-17 12:21:04 -0800
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@@ -0,0 +1,10453 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***
+
+
+
+=======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des
+Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden.
+
+Worte in Antiqua sind +so gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~
+und =fettgedruckte= so.
+
+Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.
+
+=======================================================================
+
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+
+ Else Rabe / Der Hafen
+
+
+
+
+ Dieses Buch ist als erster Band der neunten Jahresreihe für die
+ Mitglieder des Volksverbandes der Bücherfreunde hergestellt worden
+ und wird nur an diese abgegeben. Der Druck ist in Walbaum-Fraktur
+ durch die Spamersche Buchdruckerei in Leipzig erfolgt. Der Entwurf
+ des Einbandes stammt von Walter Schulze-Keller. Das echte Ziegenleder
+ lieferte die Lederfabrik Carl Simon Söhne in Kirn (Nahe). Gebunden
+ wurde das Buch von der Buchbinderei-Abteilung des Volksverbandes der
+ Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H.
+
+
+ Nachdruck verboten
+ +Copyright 1927, by Volksverband der Bücherfreunde
+ Wegweiser-Verlag G. m. b. H., Berlin+
+
+
+
+
+ Der Hafen
+
+
+ Roman
+
+ von
+
+ Else Rabe
+
+ *
+
+ [Illustration]
+
+ 1927
+
+ Volksverband der Bücherfreunde
+ Wegweiser-Verlag G. m. b. H.
+ Berlin
+
+
+
+
+ Inhalt
+
+
+ Der erste Spatenstich 5
+
+ Der Feind 21
+
+ Die Katastrophe 40
+
+ +Vita somnium breve+ 55
+
+ Der Aufsichtsrat 62
+
+ Die Mutter 82
+
+ In Erwartung 101
+
+ Der Kapitän 128
+
+ Die Verhaftung 149
+
+ Der Mann in der Mitte 178
+
+ Die Vergangenheit 200
+
+ Der Sohn 219
+
+ Das Brot 239
+
+ Die Scheidung 259
+
+ Der Streik 276
+
+ Die Begegnung 289
+
+ Der Kran 315
+
+ Das Fieber 328
+
+ Der Abschied 343
+
+ Die Einweihung 370
+
+
+
+
+ Der erste Spatenstich
+
+
+»Ich habe keinen Augenblick Zeit und bin für niemand mehr zu sprechen!«
+sagt Joachim Becker abwehrend, noch ehe er ein Wort gehört hat.
+
+»Es ist die Frau Gemahlin«, stammelt der Mann an der Tür verwirrt.
+
+Das macht auf den jungen Direktor Becker durchaus keinen Eindruck. Er
+sagt nur in gedämpfterem Tone: »Dann lasse ich bitten,« und wühlt in
+seinen Papieren, so daß er verhindert ist, seiner Frau entgegenzugehen.
+Sie bleibt mit erwartungsvollem Lächeln im Hintergrund stehen.
+
+»Du hast es sehr gut gemeint,« sagt er nachsichtig, wie er die Spannung
+in ihrem jungen blassen Gesicht sieht, »doch du solltest wissen, was
+dieser Tag für mich bedeutet, und daß ich keine Zeit habe, mich dir zu
+widmen.«
+
+›Weil ich das weiß, bin ich hierhergekommen, denn gerade heute müßte
+mein Platz an deiner Seite sein‹, hätte sie darauf erwidern sollen.
+Aber Adelheid ist nicht der Mensch, der aussprechen kann, was er denkt.
+Zu ihrem Unglück jedoch sagen ihre runden braunen Augen alles, was ihr
+Mann nicht hören will.
+
+»Ich habe mit Herrn Gregor noch auf dem Wege Wichtiges zu besprechen
+und muß dort die offiziellen Empfänge leiten. Ich will deinen Vater
+fragen, ob du dich ihm anschließen kannst.«
+
+Er ruft den Kommerzienrat an und sagt, ohne seinen Namen zu nennen:
+»Adelheid ist in meinem Zimmer.« Da wird er schon unterbrochen und
+schweigt, denn sein Schwiegervater ist der einzige Mensch, der ihm das
+Wort abschneiden darf.
+
+Wenige Augenblicke später wird die Verbindungstür zum Nebenzimmer,
+dem kleinen Konferenzraum, aufgerissen, und die runde Gestalt des
+Kommerzienrats kugelt herein.
+
+Sein breites bartloses Gesicht mit der vom Haarausfall erhöhten Stirn
+leuchtet in der angenehmen Überraschung, die nur seine Familie ihm
+bereiten kann.
+
+»Das ist mir eine Freude, Adelheid, dich hier zu sehen!« Er schließt
+sie in seine Arme, und die junge Frau liegt ohne Rücksicht auf ihren
+Hut, der sehr verbogen wird, einen Augenblick ganz still.
+
+Joachim Becker schreitet nervös sein Zimmer ab. Er hat im Gang das
+verhaltene Vibrieren eines Rennpferdes. Aber dem strengen Gesicht
+mit der hohen Stirnwölbung über den grauen Augen ist keine Regung zu
+entnehmen.
+
+Wie er nun stehenbleibt und mit den nervösen langen Fingern über seine
+aschblonde Haarmähne streicht, während das schmale gespaltene Kinn sich
+wie zum Sprechen bewegt, scheint er seinem Schwiegervater fremd und
+bedrückend im auffallenden Gegensatz zu ihm und seiner Tochter.
+
+Der Kommerzienrat rückt Adelheid den Hut zurecht und zupft an ihrem
+seidenen Mantel.
+
+»Schön hast du dich gemacht, da wird die Mama ihre Freude an dir haben.
+Ist das der Mantel, den ihr gestern gekauft habt?«
+
+»Ja,« sagt sie glücklich, »daß du dich dafür interessierst!«
+
+»Das wäre ja noch schöner. Mir haben die Kleider der Mama immer Freude
+gemacht.« Bei diesen Worten kann Kommerzienrat Friemann einen kleinen
+Seitenblick zum Schwiegersohn nicht vermeiden. Aber herzlich fügt er
+hinzu: »Der Hut steht dir übrigens auch ausgezeichnet.«
+
+Jetzt hat die junge Frau den Mut, ihren Mann mit einem Lächeln
+anzublicken. Zu ihrem Unglück erscheint Herr Gregor in der Tür. Er will
+sofort wieder verschwinden, da er die Familienszene sieht, Joachim
+Becker hält ihn mit lautem Zuruf zurück, so daß der Kommerzienrat sich
+kurz verabschiedet und seine Tochter zum Wagen begleitet.
+
+Sie fahren zu jenem freien Platz abseits der Stadt, wo zwischen
+alten Bäumen und abgerissenen Mauern der Fluß und zwei Kanäle fast
+zusammenstoßen. Eine Gruppe von Männern und Frauen ist an diesem milden
+Frühlingstage hierher geladen worden, um sich einige Reden anzuhören.
+
+Zuerst spricht der Oberbürgermeister persönlich zur Ehre des Tages.
+
+Es sei die wichtigste Aufgabe der Städte, führt er unter anderem
+aus, für den Ausbau der Wasserwege zu sorgen. Die Bedeutung der
+Binnenschiffahrt sei von den großen Städten im Lande noch nicht
+richtig eingeschätzt, doch diese Stadt, die er zu vertreten die Ehre
+habe, wisse, was nun zu tun sei. Wenn das Stadtparlament beschlossen
+habe, den Ausbau und die Verwaltung ihres Hafens einem Konsortium zu
+überlassen, so sei dies vom wirtschaftlichen Standpunkt notwendig
+geworden. Die Privatwirtschaft könne mit freieren Händen arbeiten als
+die Bureaukratie.
+
+Hier wird unter den geladenen Gästen und einem Teil der Presse eine
+kleine katarrhalische Verstimmung fühlbar, aber das Oberhaupt der Stadt
+fährt mit erhobener Stimme fort:
+
+»Die Verpachtung unserer Ladestraßen an das von Herrn Kommerzienrat
+Friemann geführte Konsortium unter Beteiligung der Stadt wird uns zu
+einem Hafen verhelfen, den wir uns mit kommunalen Mitteln nicht leisten
+können. Im Interesse unserer Bürgerschaft und in der Erkenntnis, daß
+der Riesenbedarf unserer Stadt durch das zwar weitverzweigte, doch für
+die fernere Zukunft unzulängliche Eisenbahnnetz nicht zu bewältigen
+sei, ist dem Angebot mit großer Majorität zugestimmt worden. Noch
+haben wir keinen Hafen, noch sind wir eingeengt durch Schleusen und
+schmale Kanäle, aber diese Schranken werden fallen, -- die Leistungen
+der technisch-wissenschaftlichen Wasserwirtschaft im Verein mit
+kaufmännischem Fernblick und Unternehmungsgeist werden unsere Stadt
+in kurzem zu einem der bedeutendsten Binnenhafenplätze des Kontinents
+erheben.«
+
+Lebhafter Beifall stimmt diesen Schlußworten zu.
+
+Justizrat Bernhard, der Syndikus der Stadt, nimmt seinen Neffen,
+Rechtsanwalt Bernhard jr., zur Seite und meint: »Es ist allerhand
+Vorsicht außer acht gelassen -- vom juristischen Standpunkt allerhand
+Vorsicht! Man mußte hier vor der Presse nochmals betonen, daß es
+sich nur um eine Pacht für neunzig Jahre handelt. Man durfte den
+Kommerzienrat Friemann nicht allein erwähnen. Er vertritt die Majorität
+-- gut! Aber ›er‹ -- das ist der Handel, sagen wir getrost, der
+Getreidehandel. Was meinen nun die Banken dazu? Sie haben ebenso
+gutes Geld gegeben, ja, sie werden für die Kredite sorgen, -- die
+Banken durften nicht ausgeschaltet werden. Und die Industrie, die
+Eisenindustrie, die sich nach schweren Kämpfen auch beteiligt hat?
+Die Reedereien -- ich meine die Flußschiffahrt, denn die anderen
+haben sie nicht bekommen -- wo bleiben diese Interessen? Siehst du,
+mein Junge, das sind die taktischen Fehler, die bei uns immer wieder
+gemacht werden. Man hätte ~mir~ die Rede vorlegen sollen, der
+~Jurist~ muß sie vorher bearbeiten --«
+
+»Ja, gewiß, aber wollen wir nicht die anderen Reden hören?«
+
+»Die wirst du heute abend in der Zeitung lesen. Wir wollen uns ein
+wenig umsehen, ehe die offizielle Führung beginnt.«
+
+Und der Justizrat zieht seinen Neffen mit dem Recht des Protektors, der
+dem Anfänger mit seinen Beziehungen die Wege ebnet, zum Kanal hinüber.
+
+Einige Schleppkähne, die zur Feier des Tages bewimpelt sind, liegen
+an der Kaimauer und strecken ihren berußten langen Leib den milden
+Mittagsstrahlen hin. Vor den Kajüten haben die Frauen ihre Blumentöpfe
+zum Luftholen ausgesetzt.
+
+Ein Säugling, auf einem hellen Tuch über den Planken ausgestreckt,
+kräht einem Pudel entgegen; die Frau eines Schiffseigners sitzt
+kartoffelschälend vor der Tür.
+
+Die Schiffer, in ihren besten blauen Jacken, mit Hochglanz über der
+braunen geschabten Haut, stehen in der Nähe der Versammelten und fangen
+ehrfürchtig ein paar vom Wind verwehte Worte auf.
+
+»Und die Eisenbahn?« fragt der Justizrat. »Das waren doch wohl Angriffe
+auf die Eisenbahn. Man hat noch keine Verträge mit ihr geschlossen, man
+wird sie brauchen, aber man stößt sie vor den Kopf.«
+
+Der junge Rechtsanwalt sieht dem Spiel des Säuglings zu, seine braunen
+Augen über den gerundeten roten Wangen sind blank und von innen
+erwärmt.
+
+»Ich dachte,« bringt er leise und stockend hervor, »daß es schöner
+wäre, auf solchem Kahn lautlos durch die deutsche Landschaft zu fahren,
+als hier Prozesse zu führen und Reden zu hören.«
+
+»Diese Leute«, gibt der Justizrat rasch zurück, »sind ein kleines Rad
+im großen Werk, du bist ein größeres. Warum willst du geringer werden?«
+
+Er hat den Hut abgenommen und den breiten gelichteten Graukopf der
+linden Luft preisgegeben. Darum sind seine Worte milde und fast ohne
+Zurechtweisung.
+
+Plötzlich kommt Bewegung in seine kleine gedrungene Gestalt. Er rückt
+den Kneifer zurecht und ist von der angespanntesten Aufmerksamkeit
+ergriffen.
+
+»Das ist sehr interessant, das ist außerordentlich interessant«,
+murmelt er hingerissen. Alfred Bernhard kann nicht umhin, der
+Blickrichtung seines Onkels zu folgen.
+
+Er sieht nichts weiter als einen Wagen vor dem Wohnhaus der Mühle, die
+mit ihren Mehl- und Getreidespeichern direkt in den Kanal hineinblickt.
+Das Haus ist einstöckig, mit einem kleinen Vorgarten und bunten
+Blumenkästen vor den Fenstern. Es steht etwas abseits auf dem großen
+Platze, der den Winkel zwischen beiden Kanälen bildet.
+
+»Du hast nicht gesehen, wer ausgestiegen ist?« fragt der Justizrat.
+
+»Nein.«
+
+»Aber du weißt, welche Bedeutung der Mühlenbesitzer dort drüben für
+den Hafen hat? Er ist dein erster Prozeßgegner. An diesem Dickschädel
+sollst du dir sozusagen deine Sporen verdienen.«
+
+»Er ist der einzige der Privatbesitzer, der sein Terrain nicht
+verkaufen wollte?«
+
+»Richtig! Die Akten will dir Direktor Becker morgen selbst übergeben.
+Es ist eine persönliche, eine Vertrauensangelegenheit. Und wenn ich
+dir jetzt sage, wer soeben dort hineingegangen ist, wirst du ermessen,
+was für eine heikle Aufgabe dir bevorsteht. Also die Person war eine
+Frau, eine Frau mit einer großen Tasche.«
+
+Rechtsanwalt Bernhards verständnisloses Gesicht beweist dem Justizrat,
+daß seine feinen Anspielungen durchaus nicht verstanden werden.
+
+»Du weißt also nicht, daß dieser Becker im Hause des Müllers gern
+gesehen war, als er noch der Tochter den Hof machte, während er dem
+Vater Friemanns Getreide verkaufte. Hier war er zu seinen großen
+Hafenplänen angeregt worden. Er ist ein Kerl, das kann man nicht anders
+sagen, wie man auch sonst über ihn denken mag. In seinem Kopfe ist das
+ganze Projekt entstanden, das heute so durchführbar erscheint, während
+man anfangs darüber gelacht hat. Wie aus dem Erdboden geschossen war
+er plötzlich da, dieser Prokurist im Hause Friemann. Er legte seine
+Pläne vor, löste die Verlobung mit Fräulein Pohl, heiratete die Tochter
+seines Chefs und brachte die maßgebenden Geldkreise zusammen. Heute
+nun wird der erste Spatenstich vorgenommen. Das ist alles in kaum neun
+Monaten geschehen, du kannst es dir ausrechnen, denn eben ist drüben
+die Frau mit der großen Tasche ausgestiegen. Das ist wieder so ein Witz
+des Schicksals, daß hier und dort seine Werke an einem Tage zu leben
+beginnen.« Der Justizrat lacht kichernd und verstohlen, als habe er
+selbst diesen Witz erfunden.
+
+Alfred Bernhard ist noch etwas benommen. Es wird ihm nicht recht klar,
+ob er die Anspielungen richtig aufgefaßt hat.
+
+»Also dort drüben ist auch eine Tochter und -- und die Feindseligkeit
+des Müllers ist persönlicher Natur?«
+
+»Allerdings. Damit mußt du rechnen. Da wirst du deinen Hebel ansetzen.«
+
+»Das wird die Arbeit sehr erschweren. Unter diesen Verhältnissen ist
+wohl mit einem endlosen Prozeß zu rechnen. Meines Erachtens wird man
+den Mann nicht zwingen können, zu verkaufen. Und wenn er hartnäckig
+bleibt --«
+
+»Er wird, mein Lieber, er wird. So etwas vergißt ein Vater nicht. Es
+sind ehrenhafte, gutsituierte Leute, die Tochter von ausgezeichnetem
+Charakter, wie man sagt. Aber so etwas kommt in den besten Familien
+vor.«
+
+»Ich denke an Adelheid Friemann. Wir sind doch zusammen in die
+Tanzstunde gegangen --«
+
+»Ja, ja,« meint der Justizrat, »aber ich glaube, der Becker spricht.«
+
+Joachim Becker ist bereits bei den Schlußworten. Sein schmales Gesicht
+ist sehr blaß und sehr belebt. Die Stimme, durchdringend, mit vollem
+Klang, hat einen Stich ins Kommandohafte.
+
+»Es soll sich nicht darum handeln, die Güter nach Hamburg oder Stettin
+zu verladen, sondern direkt nach Südamerika oder China. Nicht einen
+Umschlagshafen wollen wir schaffen, sondern eine Zentrale für den
+deutschen Weltverkehr, nicht einen Hafen, der dem eigenen Bedarf
+genügt, sondern einen Stapelplatz für den Transithandel, der einfach
+nicht mehr auszuschalten ist. Unsere Speicher und Lagerhallen, die
+in allerkürzester Zeit auf diesem kahlen Boden aufwachsen werden,
+sollen alle Waren und jede Menge aufnehmen, die überhaupt eingelagert
+werden können. Unsere Getreidespeicher werden die vollkommensten
+auf dem Kontinent sein, mit allen technischen Errungenschaften der
+Neuzeit. Tankanlagen und eigene Tankschiffe stehen bald zur Verfügung.
+Eilverkehre, die uns dauernd in schnellster Verbindung mit den großen
+Seehäfen halten, verschaffen uns Unabhängigkeit, größte Leistungskraft.
+Die Weltmeere stehen uns offen, durch unseren Hafen stellen wir uns auf
+den großen wirtschaftlichen Kampfplatz der Welt, den wir mit Ausdauer
+und Mut behaupten werden.«
+
+Direktor Becker verneigt sich unter dem üblichen Beifall, der jeder
+Rede folgte, und führt nun den symbolischen ersten Spatenstich aus, das
+heißt, er legt die Hand auf einen Hebel des großen Löffelbaggers, der
+mit dem ersten Stich gleich zwei Kubikmeter Boden aushebt und in die
+bereitstehende Kipplori schüttet.
+
+Ja, das ist tüchtige und schnelle Arbeit! Die Gäste sehen staunend
+und bewundernd zu. Joachim Beckers lange sehnige Gestalt ist über die
+Grube geneigt. Er läßt den gefüllten Wagen gleich davonrollen, und
+wie er jetzt aufblickt, direkt in die erwartungsvollen Gesichter der
+Zuschauer, sind seine grauen Augen strahlend, knabenhaft jung.
+
+Frau Adelheid drückt heftig den Arm ihrer Mutter. Und die
+Kommerzienrätin, der das Stehen etwas schwer fällt -- sie hat
+denselben ein wenig breiten Unterkörper wie ihre Tochter --, führt das
+Taschentuch an die Augen.
+
+Der Vertreter einiger ausländischer Zeitungen, der gleich mehrere
+Länder bedient, schreitet mit Redakteur Undlet das abgesteckte Gelände
+für das erste Hafenbecken ab und meint mißbilligend: »Ein tüchtiger
+Mann, aber zuviel Worte. Zu ausholend! Diese Deutschen haben immer
+gleich das Wort ›Welt‹ und ›Kampf‹ im Munde. Sehr falsch, taktisch sehr
+falsch. Ich habe es Ihnen von jeher gesagt: keine Diplomaten.«
+
+»Übersehen Sie nicht den Unternehmungsgeist, den verblüffenden,
+den gefährlichen Unternehmungsgeist! Das ist hier eine Stadt ohne
+Industrie, mitten im Lande, abseits von den großen Schiffahrtswegen,
+doch sie wagen es, solche Pläne nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu
+finanzieren. Und was sagen Sie zu den Behörden? Sie öffnen der freien
+Privatwirtschaft die Wege. Das ist Großzügigkeit, Weitblick, Freiheit!
+Das ist einfach nicht zu übersehen. Man kann die Augen nicht offen
+genug halten.«
+
+Joachim Becker erklärt der Gruppe mit den Damen das Gelände; Herr
+Gregor, seine rechte Hand, führt die Herren von der Presse.
+
+»Drei Hafenbecken sind zunächst geplant, für das vierte, das
+wichtigste, zwischen beiden Kanälen, ist das Terrain noch nicht frei.
+Man wird es in kürzester Zeit auch in Angriff nehmen können«, meint
+Herr Gregor zuversichtlich.
+
+Kommerzienrat Friemann, der es immer verstanden hat, mit seinen beiden
+Ohren nach zwei Richtungen zu hören, wirft mit seiner ruhigen, betont
+gemessenen Stimme, die ihm nur für geschäftliche Zwecke zur Verfügung
+steht, ein, daß dieses Becken noch nicht benötigt werde und für die
+fernere Zukunft vorbestimmt sei. Drei Hafenbecken im Anfang genügen.
+Man wolle rentabel wirtschaften vom ersten Tage an. Schon jetzt werde
+gearbeitet. Die Ladestraßen sind sofort übernommen worden, neue Kunden
+bereits geworben.
+
+Dann geht er still und unauffällig zu den Herren von den Banken und der
+Flußschiffahrt hinüber, um auch hier das Seine zu tun.
+
+Der Bagger ist nicht abgestellt worden. Es macht einen guten und
+betriebsamen Eindruck, daß in diesem abseitigen Winkel, der einem Hafen
+von Weltbedeutung Platz machen soll, schon ein wenig Lärm zu hören ist.
+Eine Menge Arbeiter taucht plötzlich auf, die Loris rollen hin und her,
+und die ausgebaggerte Grube wird rapide tiefer und breiter. Braun und
+fett ist jetzt die herausgehobene Erde, und es riecht nach Mutterboden,
+dem trächtigen Stoff für Reife und Ernte.
+
+Die Gäste werden nun ein wenig müde vom Zuhören und Schauen, obgleich
+außer einem alten Lagerschuppen, den Überresten einer Kirche und
+einigen halb abgerissenen Wohnhäusern -- nicht zu vergessen: ein
+paar alten Linden -- wenig zu sehen ist. Besonders die Damen bekommen
+abgespannte Züge, und Kommerzienrat Friemann ergreift die Gelegenheit,
+alle Versammelten zu einem kleinen Imbiß zu laden.
+
+Herr Gregor eilt voraus, um die langen Tafeln unter den Linden zu
+überprüfen. Vor jedem Stuhl ist ein Teller mit belegten Broten
+aufgestellt, und einige Männer stehen bereit, um das Bier
+einzuschenken.
+
+Junge Mädchen vom Personal des Kommerzienrats sind mit einer kleinen
+Festschrift und gedruckten Informationen für die Presse postiert.
+
+Die Gesellschaft naht plaudernd, in kleine Gruppen aufgelöst; die
+ernsten, bedeutungsvollen Mienen sind zu konziliantem Lächeln, bei
+diesem und jenem auch zu einem recht privaten, mittäglich hungrigen
+Ausdruck übergegangen.
+
+Frau Adelheid hüpft ungeniert an mehreren laut sprechenden Herren von
+der Stadt vorbei, um wieder in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Er
+war vom Oberbürgermeister in ein Gespräch gezogen worden und hält nun
+nach den wichtigsten Persönlichkeiten Ausschau.
+
+Sie ist erst zwei Monate verheiratet und hat zuweilen noch recht
+mädchenhafte Bewegungen. Die Stadträtin Meerboom wird dabei ein wenig
+unsanft gestreift und sagt mit ihrer harten, im Stadthaus erprobten
+Stimme: »Nein, meine Tochter nehme ich zu solchen Anlässen nicht mit.«
+
+»Ach, gnädige Frau«, ruft Justizrat Bernhard aus, bei dem Adelheid nun
+angelangt ist, und er freut sich mit vielen überschwenglichen Worten
+der Begegnung.
+
+Sein Neffe ist sehr rot geworden, als die junge Frau ihm die Hand
+reicht, und Adelheid sagt wie zur Entschuldigung: »Ja, wir haben in der
+Tanzstunde miteinander getanzt.«
+
+Dann wird sie traurig, denn ihr Mann und die Eltern scheinen spurlos
+verschwunden. Sie hat das unendlich schmerzliche Gefühl eines Kindes,
+das sich verlaufen hat und der tiefen Vereinsamung urplötzlich
+schreckhaft gewahr wird.
+
+Das im Verhältnis zur kleinen Figur etwas zu große, jugendlich
+gerundete Gesicht mit den weichen dunklen Haaren wird in solchen
+Stimmungen immer ganz und gar von den großen sprechenden Augen
+beherrscht. Rechtsanwalt Bernhard hat das Empfinden, daß er ihre Hand
+ergreifen und sie zu den Eltern zurückführen müsse.
+
+Da hellt sich ihr Gesicht auf, es ist ihr wie im Traum, daß Joachim
+Becker, ihr Mann, mit seinen langen festen Schritten auf sie zukommt,
+ihre zitternde Hand küßt und nach der Begrüßung der beiden Herren
+besorgt sagt: »Habe ich dich endlich gefunden!«
+
+Er führt sie zu einer der langen Tafeln, wo der Kommerzienrat und seine
+Frau ihr herzlich entgegenlächeln, auch der Oberbürgermeister ist da
+und die Stadträtin Meerboom, aber sie sind lange nicht mehr so streng,
+und Adelheid beißt mutig in die belegten Brote, die man in die Hand
+nehmen muß, weil es nur ein ganz zwangloser Imbiß sein soll.
+
+Man plaudert sehr lebhaft, die Herren rufen laut und lustig nach
+Bier, schieben ihre leeren Teller beiseite und bekommen reichliche
+Nachfüllung. Direktor Becker lächelt befriedigt, er hängt immer mit
+einem Blicke an Herrn Gregor, der das Ganze überwacht; doch es ist
+nichts auszusetzen.
+
+»Oh, dafür war auch gesorgt,« antwortet er auf eine Frage der
+Stadträtin, »bei Regenwetter hätten wir drüben in der kleinen
+Lagerhalle gedeckt.«
+
+Da wagt auch Adelheid eine Bemerkung: »Aber die Waren,« sagt sie,
+»wohin hättet ihr dann die Waren geschafft?«
+
+»Beiseite geschoben,« meint er mit leisem Lächeln, »wie man es beim
+Tanzvergnügen mit den Tischen und Stühlen macht.«
+
+»Es ist also noch nicht der Rede wert, was augenblicklich lagert?«
+fragt Herr Undlet, der durch ein Versehen an diese Tafel geraten ist.
+
+»Nein,« sagt Joachim Becker kurz, »wir haben erst heute mit dem Betrieb
+begonnen.«
+
+Und Adelheid hat das beklommene Gefühl, daß sie doch wieder etwas
+gesagt hat, was nicht in der Ordnung war. Sie kann ihre Brötchen beim
+besten Willen nicht aufessen, obgleich andere schon beim dritten Teller
+angelangt sind und das Bier anfängt, knapp zu werden, weil man mit
+diesem Durst trotz aller Voraussicht nicht gerechnet hat.
+
+Die Herren von der Presse ziehen sich zurück, auch einige Wagen fahren
+vor, und die Tischreihen lichten sich allmählich.
+
+Auf den Schleppkähnen sitzen die Schiffer mit ihren Pfeifen vor der
+Kajüte. Mühlenbesitzer Pohl geleitet die Frau mit der großen Tasche vor
+die Tür. Er bleibt einen Augenblick im Vorgarten stehen, seine grauen
+Haare werden von einer leichten Brise zerzaust. Dann geht er mit festen
+Schritten, ohne sich umzusehen, zurück.
+
+
+
+
+ Der Feind
+
+
+Irmgard Pohl hat sich mit einem Buch ans Fenster gesetzt und ein wenig
+zu lesen versucht. Aber es ist eigenartig: wenn sie untätig dasitzt
+und ihre Gedanken spielen lassen will, dann wird es leer in ihrem Kopf
+und traurig im Herzen, oder ein Karussell dreht sich so lange, bis sie
+zu verzweifeln beginnt. Doch wenn sie ein paar Zeilen über eine fremde
+Welt gelesen hat, dann findet sie wieder in geordneter Weise zu sich
+selbst zurück. Sie legt das Buch bald in den Schoß, blickt gedankenvoll
+zum Fenster hinaus und fühlt, daß in ihr etwas vorgeht, das nur geweckt
+zu werden brauchte.
+
+Nicht die gewünschte Frühlingssonne liegt vor dem Fenster: das Gras
+ist naß und blank, auf den Kanal spritzt der Regen, daß die langweilig
+glatte Fläche in Blasen und Kreisen bewegt wird, und der bemehlte
+Getreidespeicher erscheint noch stumpfer und farbloser vor dem
+schmutzigweißen Himmel als sonst.
+
+Es ist nicht wegzuleugnen, daß ihr Leben nun eine ganz andere Richtung
+nehmen muß. Sie hat ihr Krankenlager nach langen trüben Wochen zum
+erstenmal verlassen, als ein Mensch, der bald wieder mitzählen wird.
+
+Die junge blonde Säuglingsschwester steckt ihren kleinen Wuschelkopf
+zur Tür herein und fragt hell und freundlich wie alle Tage:
+
+»Nun, geht es uns gut? Das ist reizend!«
+
+Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Irmgard lächelt zaghaft; sie hat
+es fast verlernt. Ihre Züge sind scharf und spitz geworden, und erst
+jetzt, da sie lächelt und die leicht irisierenden Augen in die Tiefe
+des Zimmers richtet, ist wieder etwas von dem weichen Charme früherer
+Tage spürbar geworden.
+
+»Sie haben mir die Haare so straff hinter die Ohren gestrichen, ich
+glaube, ich sehe scheußlich aus. Könnten Sie mir nicht endlich einen
+Spiegel geben?«
+
+»Gott sei Dank, sie fängt an, eitel zu werden. Das ist ein herrliches
+Zeichen der Genesung«, ruft Schwester Emmi erfreut aus. »Aber mit dem
+Spiegel hat es noch Zeit. Ziehen wir diese Haare ein wenig hervor,
+so -- ach, es ist ja eine reizende braune Welle. Gleich sieht unsere
+Patientin gesünder aus.«
+
+Sie freut sich und hüpft vergnügt um die Kranke herum.
+
+»Sie sind wirklich ein Labsal für verzweifelte Menschen«, sagt Irmgard
+herzlich.
+
+»Ja, wenn man nur seinen Platz ausfüllt und seiner Pflicht nachkommt.
+Mehr hat noch kein Mensch von mir verlangt.« Sie zieht den Mund halb
+lächelnd, halb schmerzlich herab. Auch ihre Nase ist dabei ein wenig
+schief gezogen, und sie ist trotz den aufgebauschten gelbblonden
+Haaren gar nicht mehr quicklebendig, sondern grau wie ein Regentag.
+
+Aber da reckt sich die kleine schmale Person gleich wieder, sie hebt
+die Lackspitze ihres zierlichen Schuhs und sagt: »Damit bin ich nun
+unten gewesen. Sie gehen mir jetzt bestimmt aus dem Leim.« Und dabei
+lacht sie, als sei es ein Vergnügen, seine Schuhe zu verderben.
+
+»Ja, daran sind nur unsere aufgeweichten Wege schuld«, meint Irmgard,
+in dem Gefühl, auch ihrerseits etwas sagen zu müssen. »Aber was hatten
+Sie denn unten zu tun?«
+
+»Ach, offengestanden, ich bekam nur Lust, die Nase in den Regen zu
+stecken.«
+
+»Vielleicht ist zufällig jemand vorbeigegangen, der auch seine Nase
+spazierenführen mußte?« fragt Irmgard lächelnd, ihre Züge sind nun sehr
+erschlafft.
+
+»Ach ja, da werden viele gewesen sein. Doch unsere Patientin wollen wir
+nun wieder in die Federbetten stecken.«
+
+Irmgard hat nichts dagegen einzuwenden. Sie läßt sich von den festen
+kleinen Händen der Schwester hochheben und stützen. Dann liegt sie
+wieder im Bett und denkt, daß sie für den neuen Flug in das Leben
+noch nicht tauglich sei. Auch der Blick aus dem Fenster hat ihr
+noch nicht den Weg in die Zukunft eröffnet, der durch einen neuen
+kleinen Erdenbürger bestimmt wird. Sie hebt sich alle Fragen und
+Auseinandersetzungen für einen späteren Tag auf. Nur den Knaben wünscht
+sie noch einmal zu sehen.
+
+»Ist es nicht, als könnte er schon hören?« fragt sie, »wenn ich ihn
+anriefe, so würde er sich vielleicht rühren.«
+
+»Nein, so weit ist es noch nicht. Außerdem -- er hat doch noch keinen
+Namen, wie soll er Sie denn verstehen?« Und Schwester Emmi lacht
+herzlich über ihren eigenen Witz.
+
+In Irmgard aber weckt das wieder nur traurige Erinnerungen. Sie blickt
+den Säugling lange an und fragt dann leise:
+
+»Hat mein Vater sich noch immer nicht geäußert?«
+
+»Nein. Er meinte, ich solle Sie nach dem Namen fragen, wenn Sie sich
+etwas wohler fühlen.«
+
+»Und hat mein Vater auch Interesse für das Kind gezeigt?«
+
+»O ja. Wenn er zufällig vorbeigekommen ist, hat er es betrachtet und
+gesagt, was die Ansicht sämtlicher Männer ist: daß in diesem Alter die
+Menschen alle gleich aussehen.«
+
+»Aber das kann man doch nicht mehr sagen, nicht wahr? Hat es nicht die
+unverkennbaren Pohlschen Züge: die starken Backenknochen und Vaters
+tiefliegende Augen?«
+
+»Mit einiger Phantasie kann man es so sehen.«
+
+»Ach, ich spreche gewiß wieder wie alle Mütter«, meint Irmgard traurig
+lächelnd.
+
+»Gott sei Dank ja! Sie unterscheiden sich darin nicht eine Spur von
+ihnen. Und das ist herrlich. Das ist doch wirklich ganz prächtig.«
+
+Sie nimmt den blassen schönen Kopf zwischen beide Hände und legt ihn
+in die Kissen zurück. Dabei sind ihre Finger von zärtlichem Druck,
+und plötzlich hat sie für eine Sekunde ihr kleines Gesicht an Irmgards
+Wange gelehnt.
+
+»Weil Sie so tapfer und geduldig sind«, sagt sie gleichsam zur
+Entschuldigung, als sie das Kind aufnimmt und hinausbringt. --
+
+Einige Tage später ist Irmgard schon richtig aufgestanden. Sie konnte
+sich selbst ankleiden, ist im Zimmer umhergegangen und hat sich wieder
+an das Fenster gesetzt, das auf den Kanal hinausgeht.
+
+An diesem Tage liegt wirklich Sonne auf allen Dingen, und Irmgard
+denkt, daß nun das neue Leben beginne, für das sie die richtige gesunde
+Einstellung braucht.
+
+Sie ruft Schwester Emmi und sagt kurz entschlossen:
+
+»Sie müssen sich hierher setzen und mir einige Fragen beantworten. Ich
+hasse das Halbe und Kranke und muß es vollkommen abstreifen, wenn ich
+wieder mit beiden Beinen im Leben stehen soll.«
+
+Sie freut sich über ihre eigene Kraft, und Schwester Emmi sagt ein
+wenig gekränkt: »Ja, jetzt werden Sie wohl wieder alles in die Hand
+nehmen wollen.«
+
+Sie empfindet eine Abneigung gegen die Frauen, die immer fest und
+unbeirrt handeln und ihre Ziele und Wege deutlich vor sich sehen. Sie
+hat ihre kleine Person immer vom Schicksal vorwärtsstoßen lassen, wie
+es gerade sein mußte.
+
+Irmgard ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie das
+verschlossene Gesicht der anderen bemerken könnte.
+
+»Es gibt soviel Unausgesprochenes in diesem Haus. Dann scheint
+etwas in mir schief gerückt, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis
+es geradesteht. Da ist zum Beispiel der Vater. Er spricht gut und
+freundlich mit mir, aber ich sehe ihn selten, und er ist jetzt noch
+verschlossener als früher. Wir hatten uns bisher immer ohne Worte
+verstanden, aber seitdem uns beiden das angetan wurde, dieser --
+Vertrauensbruch, weiß ich nicht, wie er es trägt. Sie aber haben ihn
+alle Tage gesehen, besonders in der ersten Zeit, und können mir einen
+Fingerzeig geben.«
+
+»Leider kann ich Ihnen wenig sagen. Er war fast immer in seinem Kontor
+oder in der Mühle. Nur zu den Mahlzeiten ist er hier gewesen, hat sich
+sehr ruhig nach allem erkundigt und sonst kaum ein Wort gesprochen.«
+
+»Aber wenn er drüben im Hafen die Tätigkeit sah -- die vielen
+Menschen, die jetzt dort arbeiten, und die lauten Maschinen, die ganze
+geräuschvolle Geschäftigkeit, die ihn tagaus, tagein an seinen Ärger
+erinnern muß --«
+
+Sie spricht nicht zu Ende und sieht die Schwester erwartungsvoll an.
+
+»Ach, er ist doch den Lärm von seiner Mühle her gewöhnt. Auf einen Mann
+hat das sicher eine andere Wirkung.« Schwester Emmi beginnt, sich bei
+diesen Erörterungen zu langweilen. Das scheint ihr alles nicht so des
+Nachdenkens wert.
+
+»Sehen Sie,« sagt Irmgard wieder, »ich habe mir damals, nachdem ich
+den ersten Schmerz über diese große Demütigung und Untreue überwunden
+hatte, immer wieder vorgehalten, daß ich keinen Haß in mir aufkommen
+lassen darf. Denn wie soll ich einmal sein Kind lieben, wenn ich ihn
+selbst nur hassen kann? Es bleibt doch ein Teil von ihm, so sehr man
+sich auch einzureden sucht, daß es nur von der eigenen Artung ist.
+Man möchte feige sein und seinen Namen für immer aus dem Gedächtnis
+streichen, aber wie können wir Joachim Becker jemals vergessen, der uns
+so viel gegeben und so viel genommen hat? Und nun baut er uns seine
+großen Projekte, für die wir uns damals so sehr interessiert haben,
+direkt vor den Augen auf, und es ist nichts wegzuleugnen. Können Sie
+das verstehen?«
+
+»Ja, das kann ich verstehen: daß es schwer ist, und daß Sie sehr mutig
+sind.«
+
+»Es ist nur der Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht gehöre ich zu den
+Frauen, die sich nur einmal ganz erschließen können, denn sonst hätte
+ich das wohl nicht getan. Oder glauben Sie, daß ich leichtfertig oder
+im wahren Sinne unmoralisch bin, weil ich ihm in meiner Liebe nichts
+versagen konnte?«
+
+»Nein, beileibe nicht. Wie die Menschen auch darüber denken mögen, wer
+Sie kennt --«
+
+»Ja, wissen Sie, ich habe schon manchmal gedacht, daß es gut sei, wie
+es sich letzten Endes zugetragen hat. Denn nun habe ich doch ein klein
+wenig Anteil an ihm, den ich nur noch in seinem Kinde lieben werde.
+Darin will ich die Kraft finden, um ihn selbst ganz aus meinem Herzen
+auszustreichen.«
+
+»Wenn Sie das können! Ich würde ihn, offengestanden, grenzenlos hassen
+und mich an ihm rächen -- bei der ersten Gelegenheit.« Sie sagt es
+triumphierend, herausfordernd, denn sie ist stolz auf ihr lebhaftes
+Temperament.
+
+»Und nun müssen Sie mir noch berichten, wie es der Mutter geht«,
+sagt Irmgard ablenkend, denn sie erkennt wieder, daß sie von ihren
+Mitschwestern nur verstanden wird, wenn sie selbst schwach und beirrbar
+ist. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie es oben aussieht.«
+
+»Oben« ist das Zimmer von Frau Pohl, die seit fünf Jahren gelähmt und
+mit verwirrtem Geist ein verdämmerndes Dasein führt. Von der späten
+Geburt des lange ersehnten Stammhalters geschwächt, hatte sie der nach
+wenigen Wochen erfolgte Tod des Knaben so getroffen, daß sie nicht
+wieder aufstehen konnte. In ihrem Geiste aber hat sie den Knaben zu
+neuem Leben geweckt. Wenn sie in ihrer Einsamkeit zu dem Kinde spricht,
+scheint sie mit ihrem Schicksal zufrieden und der Gegenwart in einer
+anderen Weise nahegerückt.
+
+»Haben Sie ihr gesagt, daß ich krank sei? Und wie hat sie es
+aufgenommen?«
+
+»Zuerst wollte sie an Ihre Krankheit nicht glauben. Sie wurde sehr böse
+und meinte: die Arbeit ist ihr zuviel geworden, auf der Stelle soll sie
+herkommen und mir Antwort stehen.«
+
+»Ja, sie kann sehr böse werden.«
+
+»Als ich ihr dann aber klarmachte, daß ich zu Ihrer Pflege geholt
+sei, und sie fragte, ob sie denn nicht feststellen könne, daß ich nach
+Medizin rieche, erwiderte sie, nun wolle sie aufstehen und ihre Tochter
+pflegen.«
+
+»Sie wollte mich pflegen?« Irmgard ist ganz glücklich darüber.
+
+»Das sagte sie. Natürlich konnte sie sich nicht rühren, und dann sprach
+sie nicht mehr darüber. Einmal erzählte ich ihr, daß Sie bald aufstehen
+würden, aber sie gab mir keine Antwort. Doch etwas anderes hatte mich
+beängstigt, und ich sprach mit Herrn Pohl darüber.«
+
+»Was war es?« fragt Irmgard ungeduldig. »Hat sie das Kind gehört? Sie
+haben doch nicht davon gesprochen?«
+
+»Nein, es war ja verabredet, daß sie davon nichts erfährt. Aber sie
+sagte: ›Hört Ihr denn nicht, wie mein Michael schreit? Ihr laßt ihn
+liegen und kümmert Euch nicht um ihn.‹ Und das hat sie immer wieder
+geklagt, dabei zuckte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte
+sie aufspringen und nach dem Rechten sehen. Schließlich wurde sie sehr
+erregt, hat mich ausgescholten und gedroht, mich zu entlassen, wenn ich
+nicht besser für ihr Kind sorge.«
+
+»Mein Gott,« flüstert Irmgard, »hat sie nicht danach verlangt, es zu
+sehen?«
+
+»Das hat sie nicht. Aber ich dachte schon -- ich weiß nicht, was Sie
+davon halten -- ich dachte, solche Kranken sind durch Täuschungen
+manchmal zu heilen. Wenn man ihr z. B. das Kind wirklich --«
+
+»Nein, nein, wollen Sie ihr mein Kind geben, dieser Kranken? Nein, das
+ist heller Wahnsinn!«
+
+»Ich meinte es nur gut, denn es ist doch schließlich Ihre Mutter. Herr
+Pohl sagte, wenn Sie einverstanden wären, könnte man immer noch mit dem
+Arzt darüber sprechen«, gibt die Schwester verstimmt zurück.
+
+»Ist das seine Ansicht gewesen?« Irmgard schließt die Augen und lehnt
+müde im Sessel. »Darüber muß ich erst nachdenken. Ich will die Mutter
+selbst gesehen und gesprochen haben«, flüstert sie.
+
+»Gewiß, es war ja auch nur ein Vorschlag für später. Aber ich werde Sie
+jetzt verlassen, da kommt ein junger Mann durch den Garten, und das
+Mädchen ist ausgegangen.«
+
+Irmgard glaubt, nur eine Sekunde allein gewesen zu sein, als die
+Schwester schon wieder zurückkommt und sagt: »Es war ein Rechtsanwalt
+Bernhard von der Hafengesellschaft, er wollte Herrn Pohl sprechen. Ich
+habe ihn ins Kontor hinübergeschickt.«
+
+»Von der Hafengesellschaft --«, stammelt Irmgard, und sie sieht dem
+jungen Rechtsanwalt nach, wie er mit seiner Aktentasche durch den
+Garten geht und zur Mühle hinübersteuert.
+
+Die Schwester hat das Zimmer wieder verlassen, und Irmgard verfolgt den
+Rechtsanwalt so lange, bis er in der Tür des Kontors verschwindet. Da
+wirft sie die Hände vor das Gesicht und schluchzt verzweifelt auf.
+
+Sie hatte sich mit ihrem klaren Verstand einen so schönen Plan
+zurechtgelegt und kluge, vernünftige Worte gesprochen, aber beim ersten
+unmittelbaren Anstoß von außen her fällt ihr ganzes Kartengebäude
+zusammen, und sie ist nicht beherrschter und reifer als Schwester Emmi
+mit ihrem Temperament.
+
+Hier über diesen Weg ist auch er gegangen, und sie hat ihm von dem
+gleichen Platz aus nachgesehen, wie er mit seinen langen Schritten
+fest und federnd über den knirschenden Kies marschierte und an der
+Gartenpforte zu ihr hinaufwinkte. Oder war es wegzuleugnen, daß sie
+wie zwei übermütige Kinder hier um diesen runden Tisch jagten, bis sie
+atemlos stehenblieb und ausrief: »Nein, du hast ja doch die längeren
+Beine.« Dann ließ sie sich rückwärts fallen und wurde aufgefangen.
+Er aber sagte mit seiner weichen Stimme, die sie einmal zu ihrem
+Erschrecken, als er beim Ausladen des Getreides seine Befehle gab, kaum
+erkannte: »Warum versuchst du nur immer wieder, mir davonzulaufen, da
+du mir doch nicht entgehen kannst?«
+
+Nein, sie konnte ihm nicht entgehen, und hier denkt sie nun an ihn und
+findet keinen Weg, der von ihm fortführen könnte. --
+
+Rechtsanwalt Bernhard hat sich im Bureau nach Herrn Pohl erkundigt.
+Man sagt ihm, daß er im Betrieb gesucht werden müsse, und läßt ihn im
+Privatkontor warten.
+
+Dort zieht er seine Akten hervor und überlegt noch einmal die ganze
+aussichtslose Angelegenheit.
+
+Seitdem Direktor Becker ihm seine persönlichen Erklärungen gegeben hat,
+sieht er erst ein, auf welcher lächerlichen Begründung dieser Prozeß
+aufgebaut werden soll.
+
+Wie hier, so hatte er auch bei der Hafengesellschaft lange warten
+müssen, bis er von Joachim Becker empfangen wurde. Oh, er ist noch
+nicht der begehrte Mann, den man in seinem Anwaltsbureau aufsucht
+und unter großen Versprechungen bittet, sich mit dem berühmten
+Scharfblick eines Streitfalls anzunehmen. Sein junges Schreibfräulein
+wartet auf Arbeit, liest Romane und stichelt an einer Handarbeit
+in einer ganz impertinenten Weise. Er hat die sämtlichen Akten des
+Falles Hafengesellschaft kontra Pohl abschreiben lassen, aber die
+Schreibmaschine ist doch wieder zur Ruhe gekommen, und er muß das
+ersehnte Klappern vermissen.
+
+Da ist es etwas anderes im Hause Friemann, wo Joachim Becker die
+Geschäfte der Hafengesellschaft besorgt. Auf den langen Korridoren ist
+ein Gehen und Kommen, und die jungen Damen mit ihren Schreibblocks und
+gespitzten Bleistiften jagen nur so zu den Türen hinein und heraus.
+
+Er wird von betreßten Dienern in ein großes Wartezimmer geleitet, wo
+schon etwa ein Dutzend Männer sitzen, die den Hafendirektor sprechen
+wollen. Herr Gregor kommt herein, lässig und elegant, und sagt in
+seiner gedehnten Art, wobei er immer den Rücken ein wenig beugt:
+
+»Guten Tag, Herr Doktor. Ja, Sie sind vorgemerkt, ich habe die Akten
+schon weitergegeben. Aber augenblicklich ist noch eine Konferenz.«
+
+»So, haben ~Sie~ die Akten gehabt?« entfährt es dem Rechtsanwalt,
+der glaubte, mit einer ganz persönlichen und diskreten Angelegenheit
+betraut zu werden.
+
+»Ja, das liegt alles bei mir«, bemerkt Herr Gregor nicht ohne Betonung,
+und er begrüßt einen neu hinzugekommenen Herrn.
+
+»Sie dürften kein Glück haben,« sagt er zu ihm, »denn heute werden
+nur die Vorgemerkten empfangen. Der Kalender ist bis unten hin
+vollgeschrieben, und Sie stehen nicht mit darauf. Aber Sie können mit
+mir sprechen, ich will sehen, was sich machen läßt.«
+
+Dann sucht er sich einen Herrn ganz außer der Reihe heraus und
+verschwindet mit ihm in seinem Zimmer.
+
+Dieser Gregor ist dem Rechtsanwalt im höchsten Grade unsympathisch.
+Er gebärdet sich vor den Lieferanten, die sich um die Aufträge für
+den Hafen bemühen, als wäre er der Direktor selber, und man kann sich
+ausrechnen, welche Prozente dabei für ihn abfallen.
+
+Da ist Joachim Becker doch ein anderer Mann, obgleich der Rechtsanwalt
+sich auch hier seine eigenen Gedanken macht. Aber wenn man ihm
+gegenübertritt, so muß man schließlich doch seiner ganzen Art und
+Erscheinung zustimmen.
+
+Nachdem +Dr.+ Bernhard etwa eine Stunde auf den Hafendirektor
+gewartet hatte, ist die Reihe auch an ihn gekommen. Herr Gregor
+erscheint so eilig, wie es sein Temperament erlaubt, und sagt: »Bitte,
+Herr Doktor, nehmen wir gleich diesen Eingang. Der Herr Direktor ist
+schon sehr ungeduldig.«
+
+Joachim Becker sitzt an seinem Schreibtisch und telephoniert.
+
+»Bestellen Sie meiner Frau,« hört der Rechtsanwalt, »daß ich heute
+nicht zu Tisch kommen kann, und besorgen Sie mir ein paar Brötchen.«
+
+Dann wirft er den Bleistift, mit dem er nervös auf die Platte geklopft
+hat, hin und sagt zum Rechtsanwalt: »Bitte. Ja, also hier sind die
+Akten. Dieser Prozeß ist für uns von großer Wichtigkeit und muß bald
+ausgetragen werden. Die Kosten spielen keine Rolle, aber es ist
+nötig, daß die Sache richtig angefaßt wird. Sind Sie über den Gegner
+informiert?«
+
+»Nein,« erwidert der Rechtsanwalt, »ich weiß nur so viel, daß es sich
+um das Terrain am Verbindungskanal handelt.«
+
+»Ja, dieser Platz war eigentlich für unseren Getreidehafen gedacht. Das
+unter uns -- die ganze Angelegenheit ist überhaupt streng diskreter
+Natur.« Dabei sieht er den Rechtsanwalt durchdringend an, und auch im
+weiteren Verlauf der Unterredung fliegen seine kalten klaren Blicke
+blitzschnell auf sein Gegenüber, wenn dieser es am wenigsten erwartet.
+
+Dann führt der Direktor in stichwortartiger Kürze das Weitere aus.
+Einmal sagt er: »Ein persönlicher Konflikt, der in keinem Fall in
+die Angelegenheit hineingehört, entstand dadurch, daß ich meine
+inoffizielle Verlobung mit Fräulein Pohl löste.«
+
+Damit hat er ein für allemal seinen Standpunkt in dieser Hinsicht
+klargelegt.
+
+»Und hier ist die Vollmacht, die uns eine Angriffsmöglichkeit bietet.«
+
+Der Rechtsanwalt liest: »Ich erkläre mich bereit, mein Grundstück
+zwischen der Föhrbrücke und dem Verbindungskanal für die
+Zwecke eines Hafenbaus zur Verfügung zu stellen, wenn mir im
+Falle einer privatwirtschaftlichen Verwaltung eine angemessene
+Beteiligungsmöglichkeit geboten wird. Für die Vorverhandlungen in
+meinem Auftrage bevollmächtige ich Herrn Joachim Becker --«
+
+Noch ehe er zu Ende lesen konnte, erklärt der Direktor weiter: »Dies
+Dokument war als Vollmacht gedacht und ist später zurückgezogen worden.
+Die vorangehende Erklärung war mitbestimmend für die Bildung des
+Konsortiums und hat auch den Magistrat zur Entscheidung veranlaßt. Eine
+Beteiligung wurde angeboten, zu Konzessionen sind wir noch bereit. Also
+muß die jetzige Weigerung unbedingt angefochten werden.«
+
+»Sollten vielleicht die Voraussetzungen für die Beteiligung inzwischen
+--«
+
+»Das ist gleichgültig, das geht uns nichts an.«
+
+»Vom juristischen Standpunkt --«
+
+»Kommen Sie mir nicht mit Formelkram. Beweisen Sie Ihre Tüchtigkeit,
+indem Sie im Notfalle eine Ausnahme konstruieren, einen Präzedenzfall
+schaffen. Bitte, hier sind die Akten. Herr Gregor steht Ihnen wegen
+Ihrer Bevollmächtigung und anderer Einzelheiten jederzeit zur
+Verfügung.«
+
+Er klingelt nach dem nächsten Besucher, nicht ohne den Rechtsanwalt
+noch mit einem gewinnenden Lächeln einige Schritte geleitet zu haben.
+
+Man war trotz allem in dem Gefühl fortgegangen, einer zwar strengen,
+aber im Grunde liebenswürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein ...
+
+Nun sitzt der Rechtsanwalt im Bureau des Gegners und erkennt als
+einzige aussichtsvolle Möglichkeit einen Vergleich mit den bewilligten
+größeren Konzessionen. Er ist keine Kampfnatur und hat wenig Lust, sich
+hier hinter Paragraphen und versteckten Fallen zu verschanzen, um mit
+List und krummen Wegen zu siegen.
+
+Aber vielleicht wird jetzt ein Angestellter hereinkommen und sagen, daß
+Herr Pohl keine Zeit habe oder ihn nicht zu empfangen beabsichtige.
+
+Er sieht in seiner Beklommenheit ein wenig im Raume mit den gelben
+Möbeln und den alten Stichen an den Wänden umher.
+
+Das Bild eines Mannes mit tiefliegenden Augen, starken Backenknochen
+und einem vollen weichen Kinn über dem Vatermörder ist ohne Zweifel
+der Begründer der Mühle; eine auf Holz gemalte Windmühle zeigt den
+anfänglichen Besitz. Stahlstiche stellen kleinere Speicher und
+Mühlenbetriebe dar, und auf einer Zeichnung, offenbar ein Entwurf des
+Bauherrn, sieht man die beiden zweistöckigen Gebäude in ihrer heutigen
+Gestalt.
+
+Er bleibt vor einer Photographie stehen, die das Hafenterrain mit der
+Kirche, dem Fräuleinstift und einigen kleinen Häusern neben den alten
+Linden zeigt, so wie es noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, ehe
+das Konsortium kam und alles niederreißen ließ. Nun dringt das Geräusch
+der großen Bagger und der Lärm der Arbeiter bis in diesen einsamen
+Raum.
+
+Dem Rechtsanwalt erscheint die Wartezeit endlos, er ist sehr nervös,
+als der Mühlenbesitzer, in einer grauen Joppe und hohen Stiefeln,
+endlich eintritt, die Mütze auf einen Haken neben der Tür hängt und ihn
+zum Schreibtisch bittet.
+
+Er läßt sich im runden Sessel nieder und ersucht ihn nur mit einem
+Blick aus seinen ruhigen hellen Augen zum Sprechen.
+
+Der Rechtsanwalt redet hastig und viel. Er erkennt, daß es schwerer
+ist, vor diesem schweigsamen, reifen Mann zu sprechen, der jeder Pause
+mit stummer Aufmerksamkeit begegnet, als vor dem jungen Hafendirektor
+das Wenige zu sagen, das dieser in seiner Ungeduld zuläßt.
+
+Als er endlich glaubt, nichts mehr hinzufügen zu können, hat er das
+verzweifelte Gefühl, alles verdorben zu haben. Er blickt verlegen auf
+die vollen grauen Haare des Mannes, die sich in einer breiten Welle von
+der gebräunten Haut abheben, und wartet nun endlich auf eine Antwort.
+
+»Das ist alles recht, was Sie hier sagen. Aber Sie sind nicht ganz im
+Bilde. Nehmen Sie an, daß jemand zu Ihnen spricht: ›Sie haben da eine
+schöne Tasche, die ich gern kaufen möchte.‹ Und Sie antworten: ›Nein,
+verkaufen will ich sie nicht, weil für mich wertvolle persönliche
+Erinnerungen damit verknüpft sind; aber weil ich Vertrauen zu Ihnen
+habe, können Sie die Tasche gern in Gebrauch nehmen und gleichsam
+als Ihr Eigentum betrachten, ebenso wie es das meine bleibt.‹ Der
+andere nimmt die Tasche mit und schickt Ihnen am nächsten Tage das
+Geld dafür, gut den doppelten Wert. Schließlich läßt er sich sogar
+auf Verhandlungen ein und sagt: ›Ein wenig darfst du an der Tasche
+teilhaben, wenn du dich diesen und jenen Bedingungen unterwirfst.‹
+Sagen Sie einmal, wie würde Ihnen das gefallen?«
+
+Er sieht den Rechtsanwalt lange an. Dieser hat die Absicht, nun
+gleichfalls zu schweigen, bis der andere genügend gesprochen hat. Aber
+er fühlt sich sehr unbehaglich dabei.
+
+Nach einer endlos scheinenden Pause setzt der Mühlenbesitzer langsam
+fort:
+
+»Auf diese einfache Weise nur kann ich das verstehen. Wenn Herr Becker
+damals gesagt hätte: Herr Pohl, mit unserem Plan ›klein anfangen und
+groß aufhören‹ geht es heutzutage doch nicht. Die schnelle Entwicklung
+unseres technischen Zeitalters verlangt imponierende Projekte,
+die sofort auszuführen sind. Dazu brauchen wir andere Gelder, die
+Beteiligung der Spitzen aller Kreise. Wollen wir es nicht so und
+so versuchen? Aber er geht mit meiner Vollmacht umher, verschafft
+sich Einfluß durch Einheirat in die Geldkreise, stellt sein Projekt
+auf eine andere Basis und läßt dann anfragen: wieviel ist dir mein
+Vertrauensbruch wert? Wissen Sie, wie ich darüber denke?«
+
+Der Rechtsanwalt sieht ihn erwartungsvoll, mit einer zagen Hoffnung,
+an.
+
+»Schaffen Sie mir erst einen anständigen Menschen zurück. Dann können
+wir verhandeln. -- Und nun strengen Sie Ihren Prozeß an.«
+
+
+
+
+ Die Katastrophe
+
+
+Das erste, was im Hafengelände fertiggestellt wird, ist eine Mauer um
+das ganze Terrain -- bis auf die Seite, die der Pohlschen Mühle am
+anderen Ufer zugewandt ist. Hier muß man den Zugang zum Kanal offen
+halten, und der Feind behält einen Überblick auf die Fortschritte im
+Baugelände.
+
+Gleichzeitig wird ein schöner Backsteinbau mit Giebeln und einer
+verdeckten Veranda für die Hafenwirtschaft errichtet, und zwar direkt
+am großen Hauptportal. Mehrere hundert Arbeiter kommen und gehen
+täglich durch dieses Tor, und sie müssen auch essen und trinken.
+
+Nachdem der Kantinenwirt eingezogen war, ist auch für Herrn Gregor,
+den Vertrauensmann der Hafengesellschaft, im Wirtschaftsgebäude ein
+Schlafzimmer eingerichtet worden.
+
+Wer zum Tor hinein will, muß sich ausweisen, das Wächterhaus ist Tag
+und Nacht besetzt.
+
+Es ergibt sich nun, daß Schwester Emmi eines Abends zufällig vor dem
+Tore steht, als Herr Gregor heimkehrt.
+
+»Wollten Sie vielleicht hier hinein?« fragt Herr Gregor, nachdem er sie
+längere Zeit betrachtet hat.
+
+»Ach nein«, gibt sie schüchtern und sehr verlegen zurück. »Ich
+wollte nur Frau Reiche rufen und bitten, mir eine Flasche Selter
+herauszubringen. Es ist für eine Kranke, und die Läden sind schon
+geschlossen.«
+
+»Aber bitte, dann kommen Sie nur mit hinein«, sagt Herr Gregor galant
+und führt sie am wachsamen Auge des Torwarts ungehindert vorbei.
+
+Nein, Herr Gregor hat es nicht nötig, sich selbst und seine Begleitung
+auszuweisen. Er ist eine Respektsperson, die hier gleich nach dem
+Hafendirektor eingeschätzt wird.
+
+Seine Liebenswürdigkeit geht so weit, daß er Schwester Emmi bis in den
+Kantinenraum begleitet, der um diese späte Abendstunde nur von einigen
+Herren des Tiefbauamts besucht ist, und er ruft gut gelaunt: »Hier,
+Frau Reiche, bringe ich Ihnen Besuch.«
+
+Schwester Emmi sagt tief errötend: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wie
+ich dem Herrn dafür danken soll.« Damit ist zart angedeutet, daß Herr
+Gregor sich ihr noch nicht vorgestellt hat.
+
+Leider wird der gewünschte Erfolg nicht erreicht, denn der elegante
+junge Mann läßt sich in einer Ecke nieder und bestellt sein Abendbrot.
+Frau Reiche erscheint mit der Selterflasche, und Schwester Emmis
+Mission wäre beendet.
+
+»Vielen, vielen Dank,« flüstert die hübsche kleine Krankenschwester,
+»könnten Sie mir wohl noch -- ach, mein Gott«, unterbricht sie sich mit
+einem Griff nach dem Kopf, und sie muß sich auf einen Stuhl fallen
+lassen, »-- um ein Glas Wasser wollte ich bitten.« Sie ist wirklich
+einer Ohnmacht nahe.
+
+»Lieber Gott«, ruft die junge Wirtin mit den feuchten dunklen Augen.
+»Das macht die schwere Arbeit, die so eine Krankenpflegerin zu leisten
+hat.«
+
+Herr Gregor begnügt sich damit, die Szene aus einiger Entfernung zu
+beobachten. Er kennt die Frauen und darf von seiner Unwiderstehlichkeit
+überzeugt sein. Es ist ihm ein behagliches Gefühl, Anlaß dieser kleinen
+Szene zu sein, denn darüber braucht nach seiner Ansicht kein Zweifel zu
+bestehen.
+
+Schwester Emmi ist durch den Trank offensichtlich gestärkt. Sie erhebt
+sich schwankend und sagt mit einem kleinen Rundblick: »Ja, es war heute
+ein besonders schwerer Tag.«
+
+Frau Reiche hat allzulange den Wunsch gehabt, über die Ereignisse
+in der Mühle unterrichtet zu werden; darum kann sie es auf keinen
+Fall zulassen, daß dieses arme schwache Geschöpf sich schon allein
+auf den Weg begibt. Sie gießt ihr eine Limonade ein und setzt sich
+mit an den Tisch. Ihr volles blasses Gesicht ist von angespanntester
+Aufmerksamkeit erfüllt.
+
+Schwester Emmi muß sich schließlich zu kleinen Konzessionen
+herbeilassen, aber sie äußert sich so vorsichtig wie nur möglich. Als
+Herr Gregor ein paarmal den Namen Pohl gehört hat, beendet er seine
+Mahlzeit. Wie es dem kleinen Fräulein nun gehe, fragt er, während er
+Frau Reiche das Abendbrot bezahlt. Dabei neigt er den schmalen Rücken,
+daß seine schwarzen Augen verwirrend nahe über Schwester Emmi leuchten.
+
+»O danke, es ist bedeutend besser.« Sie behauptet, nun gehen zu müssen.
+»Aber wird man mich auch herauslassen?« fragt sie schelmisch lächelnd.
+
+»Ohne meine Begleitung sicher nicht«, meint Herr Gregor. Und sie machen
+sich auf den Weg.
+
+»Kommen Sie nur herüber, wenn Sie sich einsam fühlen«, sagt Frau Reiche
+zum Abschied. »Der Herr Gregor wird es schon erlauben.«
+
+Weil die Luft sehr mild und anregend wirkt, gehen die beiden noch
+einige Minuten am Kanal spazieren.
+
+Als Schwester Emmi in ihrem Zimmer angelangt ist und die Selterflasche
+weggestellt hat, denkt sie, daß sie zwar noch nicht viel erreicht habe,
+aber es beständen doch allerhand Aussichten durch die neue Verbindung.
+
+Nun ist ihre Arbeit in diesem Hause bald beendet, und das Wanderleben
+beginnt von neuem. Welche reizbare Dame und welcher krebsrote Säugling
+mochte nun auf sie warten? Nein, dann wäre es doch besser, wenn bei so
+einer großen und mächtigen Firma irgendein Posten für sie geschaffen
+würde und ihr Freiheit und Beständigkeit gäbe. Es geht nicht mehr an,
+daß man in den Tag hineinlebt, ohne ein wenig an die Zukunft zu denken.
+--
+
+Herr Gregor ist von dem Abend wenig befriedigt. Es langweilt ihn doch
+allmählich, seine Tage in Frau Reiches Gesellschaft zu beschließen,
+während draußen das Leben auf ihn wartet. Frau Reiche ist ohne
+Zweifel eine sehr adrette Frau, und ihre feuchten Augen sind nicht zu
+verschmähen, aber wenn man von der Kultur des Zeitalters bis in die
+Fingerspitzen erfüllt ist, bleiben eine Kantinenwirtin oder eine kleine
+wasserstoffblonde Säuglingsschwester nichts weiter als Surrogate.
+
+So geht er denn mit trüben Gedanken noch ein wenig im umfriedeten
+Hafengelände spazieren. Die Erdwälle um die aufgerissenen drei
+Baugruben mit den gerüstartigen Armen der hohen mechanischen Greifer
+bereiten ihm in ihrer dunklen Schwere Unbehagen. Er blickt in eines der
+Becken hinab, in dem man schon mit der Grundwasserabsenkung beschäftigt
+ist, und sieht das Licht des Mondes im lehmigen Naß sich spiegeln.
+Nein, das sind keine Bilder für seine empfindsamen Nerven.
+
+Er geht wieder zu Frau Reiche und hört sich ihre Lamentationen an.
+
+»Keinen Tropfen Alkohol! Auf die Dauer -- das habe ich meinem Mann
+gleich gesagt -- kann das nicht rentabel sein. Die Arbeiter haben
+zuerst über die Limonaden und die Milch ihre Witze gemacht und es mit
+dem Malzbier versucht, aber jetzt schimpfen sie, und einer nach dem
+anderen geht über die Straße in die Wirtschaft und trägt dem Manne das
+Geld hin«, klagt sie verzweifelt.
+
+»Aber sie dürfen doch das Gelände während der Arbeitszeit nicht
+verlassen. Ich werde mit den Wächtern sprechen.«
+
+»Ach, das hat ja gar keinen Zweck. Sie gehen in der Freizeit und nach
+Arbeitsschluß doch hin, und neulich habe ich sogar beobachtet, wie
+einer ein Bierfaß auf einem Wagen mitgebracht und im Schuppen abgeladen
+hat. Das war bestimmt kein Lagergut, aber uns wird auf die Finger
+gesehen.«
+
+Herr Gregor lächelt. »Da sieht man, wie der Durst erfinderisch macht.
+Der Durst und die Liebe, Frau Reiche, daran ist nicht zu zweifeln. Ich
+will versuchen, ob sich bei Gelegenheit wenigstens die Erlaubnis für
+den Bierausschank durchdrücken läßt. Doch nun werde ich müde, man geht
+hier eben mit den Hühnern zu Bett. Wo ist denn Ihr Mann, wieder in
+einer Versammlung?«
+
+»Ach der, wissen Sie, seitdem wir die Bäckerei aufgegeben haben, ist
+er kein richtiger Mensch mehr. Er könnte hier ein so schönes Leben
+führen, aber nun hat er sich auch aufs Trinken verlegt, und weil er zu
+Hause nichts hat, muß er eben zu anderen gehn. -- Also ich bringe Ihnen
+nachher noch frisches Wasser hinauf, die Herren Bauräte wollen schon
+zahlen«, flüstert sie, während sie die prallen weißen Arme über der
+Brust verschränkt. --
+
+Herr Gregor hat lange keine Gelegenheit, das Alkoholverbot bei Joachim
+Becker zur Sprache zu bringen. Zuviel wichtige Dinge liegen vor, die
+den jungen Direktor bis in den späten Abend beschäftigen und sein
+ungeduldiges Wesen allmählich schwer erträglich machen.
+
+Sein Sekretär ist längst nicht mehr über alle Vorgänge unterrichtet.
+Es werden neue Ressorts besetzt, andere verantwortliche Kräfte
+herangezogen, die Aussicht haben, aufzusteigen, während der junge Herr
+Gregor nur ein Handlanger bleibt. Seine Einkünfte sind nicht geringer,
+seine Machtstellung nach außen bleibt unbeschränkt -- man bemüht sich
+um seine Gunst --, aber er ist nicht zufrieden.
+
+Eines kleinen Triumphes konnte er sich heute unvermutet erfreuen, er
+vermochte seine Genugtuung darüber schwer zu unterdrücken. Da hatte man
+nun wochenlang Konferenzen mit den Bauräten und fremden Kommissionen
+im engen Kreise abgehalten: geheimnisvolle Pakete wurden von den
+Herren persönlich gebracht und wieder mitgenommen, auf dem langen
+Konferenztisch waren Brocken von Erde und Steinen zurückgeblieben. Sie
+glaubten, ihr Geheimnis gut bewahrt zu haben, und heute stand es in der
+Zeitung.
+
+Herr Gregor strich den Artikel rot an und legte ihn Joachim Becker
+wortlos auf den Tisch. So, nun sollte man sehen, daß ihm nichts
+entgehen konnte.
+
+Er wurde nicht gerufen, aber Kommerzienrat Friemann war von seiner
+Rumänienreise zurückgekehrt und sofort in das Zimmer des Hafendirektors
+gegangen.
+
+»Von der Reise zurück?« ruft sein Schwiegersohn überrascht.
+
+»Ja«, sagt der Kommerzienrat und wirft einen prüfenden Blick umher.
+»Man hat auch gleich etwas Neues erfahren. Da habe ich mir zum
+Beispiel unterwegs eine Zeitung gekauft --«
+
+»Ach, meinst du dieses Gefasel hier?« Joachim Becker stößt mit dem
+Finger verächtlich auf den angestrichenen Artikel.
+
+»Allerdings. Was sind das für Erzfunde, und warum hat man mir nichts
+mitgeteilt?«
+
+»Weil es unwesentlich ist. Sie sind nur im Südbecken bemerkt worden,
+während wir im ersten Becken sogar auf Moorboden stoßen und im zweiten
+bereits mit Schwimmbaggern arbeiten. Das Südbecken, das eine Breite von
+sechzig Metern bekommt, enthält die Vorkommen am Ende der südlichen
+Breitseite, außerdem sind es unreine Erze, die erst aufbereitet werden
+müssen. Die Hauptader zieht sich in das dahinterliegende Gelände. Was
+in unserem Becken gefunden wird, ist nicht der Rede wert. Wenn die
+Zeitung fordert, wir sollen die Arbeit einstellen und die Erze fördern,
+so ist das heller Wahnsinn.«
+
+»Wem gehört das dahinterliegende Gelände?«
+
+»Es sind Felder, die augenblicklich noch bestellt werden. Sie sind
+mir vor einigen Wochen bis zum anstoßenden fiskalischen Grund für die
+spätere Erweiterung der Hafenanlagen billig angeboten worden, und ich
+habe sie während deiner Abwesenheit mit Einwilligung unseres Vorstandes
+gekauft, um sie im nächsten Frühjahr als Fußballplätze für die Arbeiter
+einrichten zu lassen.«
+
+»So, du kaufst Fußballplätze für die Arbeiter! Die Herren vom
+Aufsichtsrat aber fragen an, warum wir nicht die Erze fördern, um
+Geld hereinzubekommen«, sagt der Kommerzienrat nicht ohne Schärfe.
+Er ist im Grunde sehr zufrieden mit der Auskunft, denn so viel hätte
+er nicht einmal erwartet: daß man sich das wertvolle Gelände gleich
+sichern würde. Aber was ist das für ein Gerede von den Fußballplätzen?
+Diese Art Menschen muß ihre raffinierten Geschäftszüge immer mit einem
+idealistischen Mantel bekleiden. Er selbst hätte mit Stolz darauf
+gepocht, wenn ihm der schnelle Kauf noch vor Bekanntwerden der Erzfunde
+gelungen wäre.
+
+Joachim Becker ist sehr blaß geworden. »Wir wollen einen Hafen
+verwalten und keine Erze fördern«, sagt er ruhig.
+
+»Deswegen kann man das neue Gelände richtig ausnutzen«, gibt der
+Kommerzienrat zurück.
+
+»Wenn der Aufsichtsrat es durchaus verschachern will, so steht es ihm
+frei.«
+
+Über das gelbe fette Gesicht des Kommerzienrats zieht eine flüchtige
+Röte. Seine runden Augen, die denen seiner Tochter so verblüffend
+gleichen, werden in der Erregung ebenso starr und ausdruckslos, wie sie
+bei Adelheid beweglich und sprechend sind, woraus man schließen kann,
+daß sie auch vom Verstand zu lenken sind, denn sie verbergen alle seine
+Gefühle.
+
+»Du benutzt das Geld nur zum Ausgeben. Aber das Konsortium muß es
+heranschaffen. Wir wollen auch einnehmen.«
+
+»Der Hafenbetrieb wird es bringen.«
+
+»Das ist Zukunftsmusik. Wir müssen die Tatsachen nutzen. So kommen
+wir nicht weiter. Die Verträge mit der Eisenbahn sind auch noch nicht
+abgeschlossen. Wir können ohne den Gleisanschluß nicht arbeiten, wenn
+die Speicher fertig sind.«
+
+»Wir werden schon rechtzeitig einig werden. Ich arbeite mit Hochdruck,
+aber man macht mir Schwierigkeiten wegen Lappalien und kommt mit
+bureaukratischem Formelkram dazwischen.«
+
+»Eins der Aufsichtsratsmitglieder von den Banken wird demnächst eine
+Gesellschaft geben und einige Herren von der Bahn einladen.«
+
+»Ich dachte, daß es bei ~uns~ auch auf dem geraden Wege gehen
+kann«, gibt Joachim Becker erregt zurück.
+
+»Mit diesem Draufgängertum kommst du nicht weiter! Das ist der legale
+Weg, die Verhandlungen ein wenig zu glätten. Du erkundigst dich wohl
+nach den maßgebenden Herren und legst mir die Liste vor.«
+
+Der andere gibt keine Antwort, aber er macht sich eine Notiz.
+
+An der Tür wendet sich der Kommerzienrat noch einmal um.
+
+»Übrigens,« meint er nun jovial und nicht mehr kühl geschäftlich wie
+während der ganzen Unterredung, »wir sind heute abend allein, ihr kommt
+wohl ein wenig herüber?«
+
+»Ich habe sehr viel zu tun«, sagt sein Schwiegersohn mit einem Blick
+auf den Notizblock; aber wie er dann in das breite Gesicht mit den
+warmen Augen des Familienvaters sieht, fügt er entgegenkommender hinzu:
+»Doch ich will sehen, wie ich es einrichten kann.«
+
+Er hat das Verlangen, sich Bewegung zu machen und frische Luft zu
+atmen. Darum bestellt er seinen Wagen und fährt in den Hafen. Herr
+Gregor begleitet ihn.
+
+Nun schreitet die Arbeit in der Höhe und in der Tiefe fort, daß es eine
+Freude ist, seine Augen überallhin schweifen zu lassen. Das werktätige
+Spektakeln der Arbeiter und das Rattern der Maschinen wirken beruhigend
+auf seine Nerven.
+
+»Was wird hier ausgeladen?« fragt er am Kanal den Aufseher.
+
+»Es sind die Dynamitladungen für die Sprengungen im Südbecken«, gibt
+der Mann zurück.
+
+»Wo sollen sie gelagert werden?«
+
+»Ja -- hier im Schuppen, da wir noch nichts anderes haben.«
+
+»Wollt ihr die Sprengstoffe in den Holzschuppen geben? Die Keller
+im Getreidespeicher sind fertig. Wir haben sie feuersicher ausbauen
+lassen. Warum wird daran nicht gedacht?«
+
+Herr Gregor stellt fest, daß dieser Mensch alles sieht und immer
+den richtigen Ausweg weiß. Er muß ihn gegen sein inneres Sträuben
+imponierend finden.
+
+Dann sucht der Direktor den Oberbaurat Steffens auf, der die Hochbauten
+leitet.
+
+»Wir müssen mit dem Getreidespeicher schneller weiterkommen. Ich sehe,
+Sie sind noch beim zweiten Stock. Die Firma Friemann hat zehntausend
+Tonnen Getreide von der neuen Ernte in Rumänien zu erwarten. Sie
+muß wissen, daß sie es hier lagern kann, ehe sie die Ladungen auf
+den Weg bringt. Zum Herbst also soll der Getreidespeicher mit allen
+Inneneinrichtungen in Betrieb genommen werden. Wir werden die
+Doppelschichten verstärken müssen. Was meinen Sie?«
+
+Direktor Becker hat es sich angewöhnt, nach Erteilung seiner knappen
+Befehle die maßgebenden Herren in dieser Weise um ihre Meinung zu
+bitten. Daß sie stets übereinstimmend lautet, ist selbstverständlich,
+und er hat die wegen seiner Jugend entstandenen Feindseligkeiten,
+besonders von seiten der städtischen höheren Beamten, einfach im Keime
+erstickt.
+
+Nein, es scheint dem jungen Unternehmungsgeist wahrhaftig nicht schwer,
+mit den Menschen fertig zu werden, wenn man nur die Augen offenhielt
+und -- die nötige Macht in die Hände bekam. Ob diese Rechnung auch
+immer richtig aufgehen würde?
+
+Für jeden Fall hat Joachim Becker sich hier, wo ihm das letzte Wort
+zu sagen bleibt, wieder Kraft geholt. Nun kann er in sein Bureau
+zurückfahren und weiterarbeiten.
+
+Irmgard Pohl sieht ihn, wie er in seinen Wagen steigt. Sie ist zum
+ersten Male vor das Haus gegangen und betrachtet es als eine Probe auf
+ihre inneren und äußeren Kräfte, daß sie zuerst dem Menschen begegnet,
+der ihr Gleichgewicht am meisten erschüttern kann.
+
+Aber nun will sie mit den Leistungen ihrer Energie noch weiterkommen:
+sie geht zu ihrer Mutter hinauf, um den alten Kampf mit der
+fürchterlichen Krankheit aufzunehmen, die geheimnisvoll und ohne
+Angriffsmöglichkeiten ist.
+
+»Guten Tag, Mutter«, sagt sie mit ihrer hellen festen Stimme. »Nun bin
+ich wieder gesund.«
+
+»Ja,« erwidert Frau Pohl weinerlich gedehnt, »bist du krank gewesen?«
+
+»Hat die Schwester es dir denn nicht gesagt?«
+
+»Vielleicht hat sie es auch gesagt. Sie kann nur immer schwatzen und
+hier herumstehen. Aber auf mein Kind gebt ihr nicht acht.« Ihr Gesicht
+ist hart und unduldsam. »Wirst du dir jetzt mehr Mühe geben und
+arbeiten, wie es sich gehört?«
+
+»Aber gewiß, Mutter, das will ich tun. Wir arbeiten alle, soviel es
+geht. Hörst du die Maschinen und die Arbeiter? Da ist keiner träge.«
+
+»Ich kann es ja nicht kontrollieren. Der Vater und du, ihr könnt es mir
+wohl sagen, aber ich denke mir mein Teil. Ihr habt immer Ruhe, hier zu
+stehen und eure Zeit totzuschlagen.«
+
+»Aber wir müssen doch nach dir sehen und uns um dich kümmern. Ich will
+dir dein Bett richten.«
+
+»Mich laßt nur in Frieden, um mich ist es nicht schade«, gibt die
+Gelähmte zurück. Aber sie läßt es schweigend geschehen, daß die Tochter
+ihren elenden steifen Körper aufrichtet und die Kissen glättet. Dann
+verfällt sie wieder in die alte Apathie und gibt keine Antwort mehr.
+
+Irmgard geht müde die Treppen hinab. Immer ist sie, von Mitleid und
+Liebe erfüllt, mit einem Herzen, das sich restlos verschenken will,
+hinaufgegangen und entmutigt zurückgekommen. Fünf Jahre lang, und nun
+ist sie einundzwanzig Jahre alt.
+
+Im Kopfe dieser Frau hatten auch in gesunden Tagen nur zwei Gedanken
+Platz: die Arbeit und der Sohn. Sie hat ihrem Mann und der Tochter das
+Leben damit verdunkelt und sich selbst zur Sklavin gemacht, und als der
+Sohn endlich kam und ihr wieder genommen wurde, sind sie zur fixen Idee
+geworden: die Arbeit und der Sohn ...
+
+Wie Irmgard in die Küche gehen will, um auch hier nach dem Rechten zu
+sehen, wird ihr plötzlich die Tür aus der Hand gerissen.
+
+Ein furchtbares Getöse fliegt durch das Haus, die Luft dröhnt gegen
+die Fensterscheiben, daß sie klirrend zerspringen; ein neuer, noch
+stärkerer Knall droht Irmgard den Kopf zu sprengen. Halb irrsinnig
+rennt sie gegen den Hintereingang. Die offene Tür ist aus den Angeln
+gerissen, Geröll liegt auf dem Wege, und als Irmgard aufblickt, sieht
+sie an der Stelle, wo der halbfertige Getreidespeicher stand, eine
+Rauchsäule, die aus Schutthaufen und leeren Eisengerüsten weht.
+
+Schwester Emmi kommt auf ihren hochhackigen Schuhen stolpernd gerannt.
+
+»Eine Explosion«, schreit sie mit schriller Stimme. »Ich will
+Verbandzeug holen und helfen --« fügt sie atemlos hinzu.
+
+Irmgard, die ihr entgegengeht, fällt die Mutter ein.
+
+»Und das Kind«, ruft sie entsetzt. Sie stürzt in ihr Schlafzimmer,
+reißt den Säugling aus den Betten. Er schläft und stemmt sich mit
+erwachender Kraft gegen ihren Arm.
+
+Sie möchte laut lachen und weinen zugleich. Da sieht sie eine Gestalt
+neben dem Kinderbett liegen.
+
+»Frau Pohl« -- stammelt die Schwester, die in ihrer Verwirrung Irmgard
+gefolgt war. Sie werden beide von einem mystischen Schauer erfaßt.
+
+
+
+
+ +Vita somnium breve+
+
+
+Die Frauen heben die Ohnmächtige auf und legen sie über das Bett. Und
+siehe: die Glieder sind leicht und gelöst, sie lassen sich biegen und
+bewegen. Der Schrecken hat die Gelähmte von ihrem Bann befreit. Sie,
+die seit fünf Jahren das Bett nicht verlassen hat, konnte die Treppen
+hinabgehen, und erst hier, neben dem Kinde, das sie für ihren Sohn
+hielt, brach sie zusammen.
+
+Sie massieren den kalten Körper, packen ihn in angewärmte Decken. Das
+Blut beginnt zu kreisen, leise rührt sich die Kranke, sie hebt einen
+Arm, sie öffnet die Augen. Ihr Blick aber ist nicht ausdruckslos und
+ohne Richtung. Er umfaßt die Tochter, und leise, zärtlich fragt sie:
+
+»Bist du es, Irmgard?«
+
+»Ja, Mutter.« Es ist seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie aus diesem
+Munde ihren Namen hört.
+
+»Wie geht es unserem Michael?«
+
+»Er ist gesund, Mutter.«
+
+»Willst du ihn mir einmal geben, meinen kleinen Sohn?« Und es ist
+wiederum seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie nach dem Kinde
+verlangt. Ihre Stimme klingt sanft, erfüllt vom bangen Gefühl für das
+mütterlich verschenkte Leben.
+
+Irmgard Pohl nimmt zitternd den Knaben, Joachim Beckers Sohn, aus den
+Kissen und legt ihn der Mutter in den Arm.
+
+»Er schläft, immer schläft er,« flüstert die Kranke, »er wird stark und
+gesund werden, ich habe es gewußt.«
+
+Sie lehnt ihr mageres Gesicht hingegeben an den warmen kleinen Leib.
+
+»Und nun leg' ihn wieder hierher, daß er in meiner Nähe bleibt, dann
+will ich schlafen. Ich bin noch sehr müde und schwach. Er hat mir so
+viel Kräfte genommen, unser Stammhalter« fügt sie schmerzlich lächelnd
+hinzu.
+
+Fünf Jahre sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht, hier liegt ihr Sohn
+voll Leben und Wärme, und sie wendet sich auf die Seite zu dem langen,
+erquickenden Schlaf, der die jungen Mütter nach ihrer großen Stunde
+umfängt.
+
+»Ich habe es geahnt, daß sie damit zu heilen ist«, flüstert Schwester
+Emmi, als sie die Tür hinter sich schließen, Irmgard und sie, die sich
+nun zur Wirklichkeit zurückfinden.
+
+Sie suchen Verbandzeug und Tücher, soviel die Schwester tragen kann,
+und dann geht sie hinüber zur Unfallstätte, während Irmgard hier Wache
+hält und auf den Vater wartet.
+
+Der Mühlenbesitzer ist in der Stadt gewesen, während das Unglück
+geschah. Auf dem Heimwege, in der Bahn, wird bereits davon gesprochen.
+Und er eilt mit schwachen Füßen über die Föhrbrücke, er, der so kräftig
+in seinen hohen Stiefeln zu stapfen gewohnt ist. Aber sein Haus steht
+da, hell und mit bunten Fensterrahmen, auch sein Speicher steht und
+seine Mühle.
+
+Nun erst blickt er auf die Verwüstungen im Nachbargelände. Ist es
+nicht, als hätte Gottes Hand diesen Bau von Stein und Eisen umgelegt,
+der wie ein Denkmal für verlorenes Menschentum vor seinen Augen
+aufgewachsen war? Gleich einer großen mahnenden Faust ragen die
+verbogenen Eisensparren über dem verfallenen Gestein. Und Michael Pohl
+streicht allen Haß aus seinem Herzen.
+
+Irmgard geht ihrem Vater entgegen und berichtet flüsternd von dem
+Vorfall im eigenen Hause.
+
+»Nun können wir ihm seinen Namen geben«, sagt sie zum Schluß. »Er heißt
+Michael.«
+
+Als die Schwester endlich bei der Unglücksstätte anlangt, sind schon
+Ärzte und freiwillige Helfer da. Sie reißen ihr die Tücher aus den
+Händen und geben ihr Arbeit, soviel sie nur schaffen kann.
+
+Auch die Neugierigen fehlen nicht und die Reporter, die bei solchen
+Ereignissen immer zufällig in der Nähe sind. Sie haben den Schaden
+bereits gezählt und stürzen an das Telephon der Hafenwirtschaft. Frau
+Reiche richtet die Zimmer und Betten für die Verwundeten.
+
+»Großes Explosionsunglück beim Hafenbau!« melden die Extrablätter in
+der Stadt, und die Maschinen stampfen es schon in die Abendausgaben.
+»15 Tote! 46 Verwundete. Der halbfertige Getreidespeicher zerstört!
+Das Nordbecken von den Trümmern verschüttet! Millionenschaden!
+Untersuchungen über die Ursache sind im Gange.«
+
+Joachim Becker war kaum vom Hafen zurückgekehrt, als ihm das Unglück
+gemeldet wurde.
+
+Nun steht er wieder an der Stelle, wo er vor einer Stunde seine
+Befehle gab, und spürt zum ersten Male in seinem jungen, von Arbeit
+und Erfolgen prall erfüllten Leben den Hammer eines unerbittlichen
+Geschickes.
+
+Und zum ersten Male ist ein Stillstand in ihm eingetreten. Er findet
+sich im alten Schuppen, der mit seinen Holzwänden noch unbeschädigt an
+die Vergangenheit gemahnt, und sieht der flinken blonden Schwester zu,
+die lautlos an den Opfern vorbeihuscht und ihre Zahl auf einem Zettel
+notiert.
+
+»Es sind bis jetzt 28 Tote«, haucht sie beklommen an der Tür. Joachim
+Becker nimmt es unbewußt auf und richtet seine entspannten Augen, die
+in dem hellen offenen Gesicht sich dunkelnd vertiefen, über das Gelände
+mit den Trümmerhaufen, dem zerwühlten Becken, das wie ein Krater
+schwarz und naß die Arbeitenden verschluckt hat; er sieht die aufgeregt
+hastenden Menschen, die Krankenwagen, die Verwundeten und die Toten.
+
+Und er sieht noch einmal das fertige Werk seiner wirklichkeitsnahen
+Träume: eine Reihe von langen und breiten Hafenbecken mit
+Tausend-Tonnen-Schiffen in vier Reihen, Speicher und Verladebrücken,
+die schwarz aufragenden Arme der Krane, das Turmhaus der Verwaltung,
+den Freihafen mit seinen direkten Ladungen aus aller Welt. Daneben
+aber die Siedlungen für die dem Teufel Alkohol entronnenen
+Arbeiter, helle Häuser mit Blumen in den Gärten, die Badehallen und
+Schwimmanstalten, die Spielplätze für die Kinder und die Sportwiesen
+für die menschgewordenen Sklaven der Arbeit. Nein, nicht mehr Sklaven
+sieht er: freie Menschen, dem Lichte zurückgegeben, den uralten Straßen
+-- den Wasserwegen mit der staubfreien Luft und den grünen Ufern --
+wiedergeschenkt.
+
+Hier aber liegen seine ersten Helfer: in die Erde gewühlt, unter
+Trümmern begraben, verstümmelt für die letzte kurze Strecke ihres
+Lebens; von Schmerzen verzerrt.
+
+Er folgt ohne Bewußtheit der Krankenschwester, die hier eine
+schluchzende Frau in den Arm nimmt und tröstet, dort einem Verwundeten
+den Verband anlegt. Er findet sich in der Hafenwirtschaft, im großen
+Raum mit eilig gerichteten Krankenlagern und sieht, wie seine »freien
+Menschen« auf Bahren gepackt und zu den Krankenwagen davongetragen
+werden. Er sitzt auf einer Kiste und betrachtet die leichten Bewegungen
+der Schwester, die das Verbandzeug zurechtlegt und auf weitere
+Verwundete wartet. Er hört seine eigene Stimme wie die eines Fremden,
+als er fragt:
+
+»Sind Sie von der Rettungsstation?«
+
+»Nein,« gibt Schwester Emmi leise zur Antwort, »ich war in der Nähe,
+als das Unglück geschah.«
+
+»Wir werden wohl noch oft solche Hilfe brauchen«, sagt er müde. »Wenn
+Sie wollen, können Sie zu uns kommen -- für unsere Fürsorgestelle«,
+fügt er, nach dem ersten aufbauenden Gedanken, hinzu.
+
+Schwester Emmi neigt sich über ihre Verbandrollen. Man gibt ihr ein
+Amt, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, und man fragt nicht:
+wer bist du, woher kommst du, was hast du gelernt und -- wie steht es
+mit den moralischen Qualitäten für den Posten? Man sagt: wenn ~du
+willst~ -- Und sie blickt mit ihren tränenüberströmten Augen zu
+Joachim Becker empor. Da steht er rasch auf und verläßt wortlos den
+Raum.
+
+Wie sie später, nachdem alle Verwundeten in die Krankenhäuser geschafft
+und die Toten aufgebahrt sind, am Hafendirektor vorbeikommt, wagt sie
+nicht mehr, ihm zu danken.
+
+Er diktiert einem Manne: »38 Tote, 75 Verwundete. Erste Explosion beim
+Ausladen im Tor des Getreidespeichers. Ursache nicht aufgeklärt. Durch
+Entzündung der auf dem Wagen befindlichen restlichen Sprengstoffe
+ein Teil des Nordbeckens verschüttet. Die feuersicheren fertigen
+Kelleranlagen des Speichers fast unversehrt. Materialschaden nicht
+bedeutend.«
+
+Schwester Emmi schlüpft scheu vorbei.
+
+Aber vor Irmgard Pohl ist sie in ihrer Erregung ungehemmt. Sie
+berichtet unter Tränen -- nicht mehr von dem, das die vielen betraf.
+Sie hatte ihnen geholfen, wortlos, selbstverständlich. Nun aber steht
+ihr eigenes Schicksal im Vordergrund.
+
+»Als er sich umdrehte,« sagt sie, »so plötzlich, daß sein Gesicht nicht
+mehr zu sehen war, da wußte ich, daß ich diesen Menschen doch niemals
+hassen könnte.«
+
+Und mit den Gefühlen der Angestellten vor dem höchsten Vorgesetzten
+fügt sie hinzu: »Ich glaube, daß er weinen kann wie wir.«
+
+Irmgard Pohl streicht mit ihrer ruhigen Hand über die Haare der
+Schwester. »Ich wußte es, daß er kein schlechter Mensch ist«, sagt sie
+leise. »Wenn ihm doch Gott alles zum Guten führen wollte!«
+
+
+
+
+ Der Aufsichtsrat
+
+
+»Das ist ausgezeichnet«, sagt Kommerzienrat Friemann zu Bankdirektor
+Ellgers, indem er ihn mit einer Handbewegung in sein Zimmer ladet.
+
+»Wir haben zwei Minuten Zeit zum Plaudern«, meint der Finanzmatador mit
+seiner brüchigen Stimme, als seien zwei Minuten das größte Zeitopfer,
+das er zu vergeben habe. »Wir fangen doch pünktlich an?«
+
+»Gewiß, allerdings«, versichert der Kommerzienrat. Er weiß, daß die
+Konferenzen mit Direktor Ellgers auf die Sekunde zu beginnen haben.
+
+Das fleckige Greisengesicht des Bankdirektors mit dem gefärbten
+schwarzen Bart erwartet unbewegt die zwanglosen Erklärungen des andern.
+Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat es nicht nötig, Fragen zu
+stellen, die ihm vor der Sitzung zu beantworten sind.
+
+Der Kommerzienrat beeilt sich, im gewünschten Plauderton das Nötige zu
+sagen.
+
+»Also dieser Becker,« beginnt er, »es ist doch ein Teufelskerl! Da hat
+er nun in aller Stille, als die ersten Erzfunde geheimgehalten wurden,
+das ganze private Gelände aufgekauft.«
+
+»Für die Hafengesellschaft!« wirft Ellgers kurz und mit dem Ton der
+Selbstverständlichkeit ein.
+
+»Natürlich, natürlich, für die Hafengesellschaft. Die Sache hat einen
+Pappenstiel gekostet, so daß der Vorstand es in der Eile unter sich
+abmachen konnte. Nun bietet man den vierzigfachen Betrag. Und warum?«
+
+Direktor Ellgers sieht ihn ungerührt an.
+
+»Weil die Presse zuviel Geschrei darum macht«, beantwortet der
+Kommerzienrat die Frage selbst. »Sie sehen einen neuen riesenhaften
+Industriebezirk und behandeln die Sache mit einer geradezu
+ausschweifenden Phantasie.«
+
+»Hm, ausschweifende Phantasie«, wiederholt Ellgers. »Da wollen wir uns
+jetzt in das Sitzungszimmer begeben.«
+
+Kommerzienrat Friemann zieht höflich seine Taschenuhr.
+
+»Richtig. -- Rauchen Sie eine von diesen Zigarren?«
+
+»Danke.« Ellgers bedient sich und steckt die Zigarre in sein Etui.
+
+Im Sitzungszimmer sind bis auf Stadtrat Richter, der abgerufen wurde,
+sämtliche Herren versammelt.
+
+Direktor Ellgers ist nicht dafür, Zeit zu verlieren. Er begibt sich auf
+seinen Platz am Kopf des Tisches und eröffnet die Sitzung:
+
+»Obgleich der zweite stellvertretende Vorsitzende, Herr Stadtrat
+Richter, erst einige Minuten später erscheint, eröffne ich die Sitzung.
+Herr Kommerzienrat Friemann, der stellvertretende Vorsitzende, hat
+uns in einer wichtigen Angelegenheit zusammengerufen und gibt seine
+Erklärungen durch Hafendirektor Becker ab.«
+
+Joachim Becker bittet zunächst die Anwesenden, in stummer Würdigung
+der bei dem Hafenbau verunglückten Helfer und Mitarbeiter sich von den
+Plätzen zu erheben.
+
+Kommerzienrat Friemann blickt seinen Schwiegersohn hilflos warnend an.
+Seine Ansicht ist, daß dieser junge Dachs nicht nachholen dürfte, was
+der erste Vorsitzende unterließ. Wieviel Mühe muß er wieder aufwenden,
+um diesen Fehler gutzumachen!
+
+Die Herren erheben sich in ungeordneter Reihe, die einen zögernd, die
+anderen ruckartig, Direktor Ellgers mit einem kurzen scharfen Blick auf
+den Hafendirektor.
+
+Joachim Becker läßt seine Augen mit überlegener Ruhe die Reihen
+entlangschweifen. Er hat seinen Platz neben dem leeren Stuhl des
+Stadtvertreters, gegenüber +Dr.+ Immermann, dem Mitinhaber der
+Privatbank, und Kommerzienrat Friemann. Er stellt fest, daß die meisten
+Herren es vorziehen, ihre Blicke während seiner Rede der Tischplatte
+anzuvertrauen.
+
+Er spricht zunächst von dem Unglück und gibt Aufschluß über die genaue
+Zahl der Opfer. Entschädigungen an Verletzte und Hinterbliebene
+seien nicht zu zahlen, da alles ordnungsgemäß durch Versicherungen
+gedeckt war. Nur dem Nachbarn, Mühlenbesitzer Pohl, seien zersprungene
+Fensterscheiben und Beschädigungen am Hause zu ersetzen. Dann erörtert
+er eingehend die Ursache. Er selbst habe die Anordnung gegeben, die
+Sprengstoffe im fertigen feuersicheren Keller des Getreidespeichers zu
+lagern. Die Explosion sei im Haupteingang, wahrscheinlich durch eine
+Unvorsichtigkeit während des Ausladens, entstanden.
+
+»Wir sehen daran, wie wenig der Mensch seinem Schicksal entrinnen kann.
+Hätten wir den falschen Weg gewählt und die Ladung im alten, abseits
+gelegenen Holzschuppen untergebracht, so wäre das fahrlässig gehandelt
+gewesen, doch wir hätten Menschenleben geschont und großen Schaden
+verhütet«, sagt er weiter mit bewegter Stimme. Aber er fühlt wieder die
+starren, warnenden Blicke des Kommerzienrats und sieht, wie +Dr+.
+Immermann mit dem Bleistift auf seinem Papier immer das gleiche Wort
+malt.
+
+»Erze« entziffert er. Fünfmal, sechsmal das Wort »Erze«. Und es trifft
+ihn wie ein Peitschenhieb.
+
+Dann spricht er vom zerstörten Getreidespeicher, vom Nordbecken.
+Daran sei zuerst und mit nicht zu überbietender Leistungsfähigkeit
+gearbeitet worden. Beide sollten bereits im Herbst in Betrieb genommen
+werden, während man an den übrigen Hoch- und Tiefbauten in Ruhe
+weitergearbeitet hätte.
+
+Kommerzienrat Friemann, der nun auch auf seinem Notizblock zu malen
+begonnen hat, räuspert sich und schreibt mit dicken Buchstaben seinen
+Namen auf das Papier.
+
+»Friemann -- Getreide en gros« liest Joachim Becker, unwillkürlich
+darauf hingelenkt, und er fährt fort:
+
+»Die größten Verluste erleidet dadurch der Getreidehandel.« Der
+Kommerzienrat legt seinen Bleistift hin.
+
+»Die Aufräumungsarbeiten werden zuviel Zeit erfordern, wir müssen daher
+unseren Plan, zuerst den Getreidehafen fertigzustellen, aufgeben. Durch
+die von der Firma Friemann zufallenden bedeutenden Getreideladungen
+wären unsere Einrichtungen gleich zu Anfang vollkommen ausgenutzt
+worden. Der Schaden trifft nun noch empfindlicher die Firma Friemann
+als uns. Wir werden uns zunächst dem Bau des Mittelbeckens mit
+den Lagerhallen und Zollspeichern zuwenden. Da der Winter hemmend
+dazwischentritt, ist mit der Eröffnung erst im nächsten Frühjahr zu
+rechnen.«
+
+Der erste Vorsitzende sieht mit unverkennbarer Ungeduld auf, und
+Kommerzienrat Friemann gibt seinem Schwiegersohn ein Zeichen, daß er zu
+sprechen wünsche.
+
+Nach den lauten, klingenden Worten Joachim Beckers wirkt seine
+gedämpfte Stimme besonders tonlos, aber gereift und zuverlässig.
+
+»Der entstandene Schaden,« führt er aus, »die verhinderte ersprießliche
+Lagertätigkeit, die geeignet gewesen wäre, selbst im Winter bereits die
+Unterhaltskosten zu decken, sind zwar sehr bedauerlich, ein glücklicher
+Ausgleich aber wird sie uns verschmerzen lassen. Wir haben nicht nur
+die Möglichkeit, die durch das Unglück ausfallende Summe zu decken,
+sondern sogar einen ganz erheblichen Überschuß zu erzielen. Und das,
+meine Herren, das durch die Erzvorkommen und durch das geschickte
+Eingreifen der Hafendirektion, die sich das wertvolle Gelände, soweit
+es sich in Privatbesitz befand, für einen geradezu lächerlichen
+Kaufpreis sicherte. Man bietet uns dafür den vierzigfachen Betrag. Herr
+Direktor Becker wird Ihnen darüber berichten.«
+
+Ein befreiendes Aufatmen ist allgemein spürbar.
+
+Und Joachim Becker beginnt damit, daß die Förderung im Becken selbst
+gering sei.
+
+»Warum wurden dann die großen Mengen Dynamit benötigt?« wirft Direktor
+Othwig -- der Vertreter der Spedition -- ein.
+
+Joachim Becker war im ersten Augenblick bereit zu fragen, ob man seinen
+Worten mißtraue, aber er sieht in das Gesicht seines Schwiegervaters
+und antwortet:
+
+»Geringfügig ist die Ausbeute, weil es sich um Pocherze handelt, die
+nur in einem schmalen Streifen, aber in der ganzen Beckenlänge von
+fünfhundert Metern auftreten. Das Vorkommen fällt schräg ab und wird
+nach den bisherigen Untersuchungen auf dem benachbarten Gelände in
+einer Tiefe erscheinen, die vielleicht eine rentable Ausbeute möglich
+erscheinen läßt.«
+
+Joachim Becker verliest die Protokolle der Untersuchungskommission
+und geht nach Erörterung des Geländekaufs auf die günstigen Angebote
+über. Bis auf die Verhüttungs-Aktiengesellschaft, die allerdings
+erst kürzlich durch eine Fehlspekulation eine Einbuße erlitten habe,
+handle es sich nur um neue und zum Teil zweifelhafte Unternehmen. Er
+gibt die Namen bekannt und vertritt die Ansicht, daß man die Angebote
+der seriösen Firmen abwarten müsse, die sich erst nach eingehenden
+Untersuchungen äußern wollen.
+
+Direktor Gidli von der Flußschiffahrt meint, daß der Kurzentschlossene
+vorzuziehen sei, und beantragt eine Debatte über die Angebote.
+
+Joachim Becker fragt Direktor Haarland von der Eisenindustrie, ob er
+sich als Mitglied des Konsortiums zunächst ein Vorrecht sichern wolle.
+
+Direktor Haarland, der einzige, der in seinem Stuhl, anscheinend
+gelangweilt, zurückgelehnt liegt und die langen Beine ausstreckt, winkt
+mit einem Augenzwinkern und einer kaum spürbaren Bewegung seines großen
+Kopfes ab.
+
+Stadtrat Richter ist jetzt hinzugekommen, und die Beratung über die
+Angebote wird eröffnet. Bankdirektor Ellgers bricht sie kurz ab mit dem
+Antrag, sofort eine Ausschreibung vorzunehmen und in jedem Fall der
+Verhüttungs-Aktiengesellschaft den Zuschlag zu geben, bei sofortiger
+Barzahlung.
+
+Joachim Becker erhebt impulsiv die Hand, und Kommerzienrat Friemann
+beeilt sich, den Antrag zu unterstützen. Er wird ohne Zwischenfall
+einstimmig angenommen.
+
+Stadtrat Richter bittet, im Interesse der Stadt, die wegen der
+Verpachtung der Ladestraßen ohnehin schon genug angegriffen werde,
+dafür Sorge zu tragen, daß die Mitteilungen über das Unglück gemildert
+würden. Man habe eine Sensation daraus gemacht, und nicht nur das
+Ansehen der Stadt, die doch an der Hafengesellschaft beteiligt sei,
+sondern auch die Idee von der Notwendigkeit des Hafens leide darunter.
+
+Direktor Kohan meinte, daß die Presse eine selbständige Macht sei, die
+sich nicht gebrauchen lasse, wie man Lust habe, aber Kommerzienrat
+Friemann findet auch hier einen glücklichen Ausgleich.
+
+»Gewisse Angriffe sind uns eine Zeitlang sogar nützlich gewesen,«
+sagt er zur allgemeinen Überraschung, »ja, ich betone: nützlich,
+und zwar aus folgendem Grunde: die Eisenbahn hat noch immer nicht
+ihre Zustimmung zu den vorgeschlagenen Verträgen gegeben. Sie macht
+Schwierigkeiten, weil sie uns fürchtet. Gewiß, unsere Frachten sind
+billiger, und über die Leistungsfähigkeit gegenüber der Bahn wollen
+wir heute noch nicht zuviel sagen, aber wir brauchen den Bahnanschluß.
+Nun wird gegen uns Stimmung gemacht, man bekommt den Eindruck, daß es
+mit uns doch nicht so zu gehen scheine, wie man nach den Projekten
+erwartet hatte, und -- die Eisenbahn gibt es langsam auf, in uns eine
+gefährliche Konkurrenz zu sehen. Sie wird gefügiger. Wir stehen kurz
+vor dem Vertragsabschluß. Wenn diese Frage geklärt ist, wird sich das
+Weitere schon finden.«
+
+Dieser Friemann, dieser mit allen Wassern gewaschene Getreidehändler,
+er weiß doch wahrhaftig auch das Negative so zu nutzen, daß es zum
+Vorteil gereicht. Man kann sich ihm anvertrauen und erwarten, daß
+er den in der Diplomatie allzu unerfahrenen Schwiegersohn noch
+erziehen werde. Jedenfalls ist man geneigt, die Verdienste um
+die Hafengesellschaft ihm allein zuzuschreiben -- seinem wachen
+Geschäftsgeist, seiner unübertrefflichen Geschicklichkeit.
+
+Man geht vollkommen beruhigt zum nächsten Punkt der Tagesordnung
+über, und Joachim Becker spricht von dem Beteiligungsangebot der
+Seehafenreedereien. Die Bedingungen sind unannehmbar, die Leute in den
+Seehäfen nutzen ihre Macht.
+
+»Sie müssen ihre Überlegenheit verlieren,« sagt er mit erhobener
+Stimme, »das aber ist nur möglich, wenn sie eine Gegenmacht spüren,
+wenn sie wissen, daß wir nicht auf Tod und Leben von ihnen abhängig
+sind. Darum brauchen wir unsere Stützpunkte. An der Nord- und Ostsee
+sind noch andere Häfen, kleine Küstenstädte, deren Lage sich ausnutzen
+läßt. Zum Teil haben sie noch nicht einmal einen Freihafen. Sie werden
+von den Kommunen verwaltet, erfordern Zuschüsse und sind ihren Bürgern
+sogar eine Last. Wenn wir aber unsere Hand darauflegen und die zum Teil
+schon recht leistungsfähig ausgebauten, aber kaufmännisch schlecht
+verwalteten Häfen zu unseren Stützpunkten machen, so erlangen wir
+unsere Unabhängigkeit. Ebenso wie die weitsichtige und gutberatene
+hiesige Stadtvertretung den Ausbau ihres Hafens der Privatwirtschaft
+überließ, so werden auch diese Städte dem Gedanken nicht unzugänglich
+sein. Ich bitte Sie daher, sich schon heute darüber schlüssig zu
+werden, ob wir diesen Weg beschreiten wollen, und mir die nötigen
+Mittel zu bewilligen.«
+
+Er nennt die betreffenden Hafenplätze und erwartet die Meinungen.
+
++Dr.+ Immermann, der bei den Sitzungen stets den Eindruck
+hervorruft, als ob er im Schlafe unter hypnotischem Zwang den Bleistift
+führe, meint, ohne seine Kritzeleien zu unterlassen:
+
+»Ich halte den Zeitpunkt für verfrüht. Erst müssen wir selbst
+verdienen.«
+
+Joachim Becker fährt im alten Fluß seiner Rede fort: »Ganz abgesehen
+davon, daß wir durch einen ersten Schritt auf diesem Wege schon jetzt
+den großen Seehäfen unsere Taktik verraten müssen, damit sie ihre
+Bedingungen ändern, ist es notwendig, zu handeln, ehe unsere hiesigen
+Erfolge sichtbar werden. Wenn wir erst gezeigt haben, wie es gemacht
+wird, und daß wir gut auf unsere Rechnung kommen, werden sich andere
+Geldleute finden, die ihre Hand auf die übrigen Häfen legen oder
+mindestens die Forderungen der Kommunen in die Höhe schrauben.«
+
+»Oder die Kommunen machen es selbst nach unserem Rezept«, wirft Herr
+Kohan ein. Über die starren Gesichter der Tafelrunde zieht der Schimmer
+eines Lächelns.
+
+»Ich verlange nicht schon heute die Bereitstellung der Summe, ich
+will nur wissen, ob ich damit rechnen kann, um rechtzeitig mit der
+Bearbeitung zu beginnen. Ich würde sofort zuverlässige Mitarbeiter
+an den betreffenden Plätzen damit beauftragen, zunächst die
+Unzufriedenheit mit dem jetzigen Zustand in der Öffentlichkeit und der
+Stadtvertretung zu schüren und dann das Wort ›Privatwirtschaft‹ in
+die Debatte zu werfen. Dann brauchen wir noch geraume Zeit, bis alle
+maßgebenden Kreise die richtige Meinung davon erhalten haben, und wenn
+das Feld dann so weit bereitet ist, können wir auf eine Aufforderung
+hin unsere niedrigsten Gebote machen.«
+
+Der Hafendirektor, der damals vor dem gleichen Auditorium das Projekt
+für den Hafen dieser Stadt auseinandersetzte, blickt sich ein wenig um,
+wie man die Erweiterung seines eigenen Planes aufnehme und ob er diesen
+Zahlenmaschinen endlich einmal imponiere.
+
+Aber nur Herr Kohan starrt ihn durch seine dicken Brillengläser an. Der
+halbgeöffnete Mund, im gepflegten rosigen Gesicht mit dem weißen Haar
+und Bart, verrät ebenso Verständnislosigkeit wie Bewunderung. Sonst
+sieht er ringsum undurchdringliche Masken.
+
+»Dazu kommen«, setzt er fort, »noch drei Binnenplätze mit fertig
+ausgebauten Häfen, die wir für den Umschlag benötigen.«
+
+»Welche sind das?« fragt Herr Gidli mit großem Eifer.
+
+Joachim Becker nennt sie und fügt lächelnd hinzu: »Ihre Strecken kommen
+für uns nicht in Frage.«
+
+»Die halten wir auch besetzt«, beeilt sich Herr Gidli, der Vertreter
+der Flußschiffahrt, zu bemerken.
+
+»Welche Höchstsumme wird erforderlich?« fragt Bankdirektor Ellgers.
+
+»Zehn Millionen. Die Abnahme kann sich auf vier Jahre, also bis zur
+vollkommenen Fertigstellung unseres Hafens, erstrecken.«
+
+»Ich bin für den Antrag und bitte um Abstimmung.«
+
+Der Antrag wird angenommen.
+
+Kommerzienrat Prüfer vom Importhandel hält es für angezeigt, trotz den
+Unfallrenten etwas für die Hinterbliebenen zu tun, und schlägt eine
+Sammlung vor. Die Hafengesellschaft solle als erste zehntausend Mark
+zeichnen, für seine Firma stelle er tausend Mark zur Verfügung.
+
+Joachim Becker sieht überrascht auf. Ein menschliches Gefühl? Aber das
+kleine spitzbärtige Gesicht Prüfers ist nicht zu enträtseln.
+
+Der allgemeinen stummen Zurückhaltung schließt sich nur Direktor Gidli
+nicht an. Er meint: »Ist denn das nötig?«
+
+Kommerzienrat Prüfer sagt, als wäre die Frage nicht gestellt worden:
+»Im Interesse der öffentlichen Meinung sollte die Sammlung durch die
+Zeitung vor sich gehen.«
+
+Bankdirektor Ellgers klopft nervös mit dem Bleistift auf die
+Tischplatte.
+
+»Wir sollten uns mit diesen Lappalien nicht aufhalten,« sagt er
+ungeduldig, »ich bin für Annahme und zeichne für meine Bank tausend
+Mark.«
+
+Sämtliche Herren folgen, bis auf Direktor Gidli, der erst seine
+Gesellschaft fragen muß.
+
+Damit ist die Sitzung beendet.
+
+Bankdirektor Ellgers verabschiedet sich sofort. Friemann begleitet ihn
+zur Tür. Auch Generaldirektor Jäckel, der noch den Zug für eine andere
+Sitzung erreichen will, ist in Eile. Er hat sich an den Debatten nicht
+mit einem einzigen Wort beteiligt, behauptet aber, einen Mordsdurst
+bekommen zu haben.
+
+»Wir sehen Sie doch am nächsten Donnerstag?« fragt ihn der
+Kommerzienrat unter Händedrücken. Auch +Dr.+ Immermann wird noch
+einmal erinnert.
+
+»Wissen Sie,« sagt der Kommerzienrat, während er sich im Hinausgehen
+in Immermanns kraftlosen Arm hängt, »meine Frau kann ohne die kleinen
+Gesellschaften im Hause nicht mehr leben. Sie behauptet, sie bekäme
+sonst keine Menschen zu sehen. Wir vom Alltag zählen nicht zu den
+Menschen.«
+
+»Ja, die Frauen sind verwöhnt«, sagt +Dr.+ Immermann mit seiner
+dünnen Stimme.
+
+Auch am anderen Ende des Konferenztisches beginnen die Herren sich zu
+regen. Direktor Haarland richtet sich aus seiner bequemen Lage auf und
+reckt den breiten Oberkörper, die Hände in den Hosentaschen.
+
+»Ja, wissen Sie,« ruft er zu Direktor Othwig hinüber, der mit
+Kommerzialrat Mödl vom Boxsport spricht, »in England ist das doch etwas
+anderes. Da spielt der Amateur eine viel wichtigere Rolle, und ein
+Berufsboxer wird zu den vornehmsten Herrengesellschaften geladen. Hier
+aber bringt man ihn mit seinen Damen zusammen.«
+
+Er zieht seine Amateurboxerfäuste aus der Tasche und verabschiedet sich
+von einigen Herren.
+
+»Sagen Sie mir nur,« fragt ihn Direktor Gidli, »wie halten Sie sich so
+in Form? Sind Sie für Massage?«
+
+»Dampfbäder«, sagt Haarland lächelnd. »Dampfbäder! Zweimal in der
+Woche!«
+
+»Ja, sehen Sie, das kann ich doch wieder mit meinem Herzen nicht.«
+
+»Da bleibt nichts als Hunger«, meint der Kommerzialrat mit dröhnendem
+Gelächter.
+
+»Also neulich haben wir ein paar hohe Herren mit ihren Damen laden
+müssen,« sagt Direktor Koch zu einer anderen Gruppe, »aber meine Frau
+hat acht Tage nicht schlafen können. Sie behauptet, die steifen Damen
+hätten ihren eleganten Gästen moralische Ohrfeigen erteilt.«
+
+»Aber die Damen von heute,« sagt Kommerzienrat Prüfer achselzuckend,
+»manchmal weiß man wirklich nicht, ob sie zur Gesellschaft --«
+
+Direktor Haarland stößt ihn sanft ins Kreuz, weil Herr Kohan
+hinzukommt, der sich wegen seiner modernen jungen Frau immer Angriffen
+ausgesetzt fühlt.
+
+»-- der Herren oder der Damen gehören. Die heutige Vermännlichung --«
+
+Kommerzialrat Mödl zieht ihn mit lautem Gelächter fort. »Also, da habe
+ich neulich einen Fall erlebt --« und sie verschwinden schmunzelnd auf
+dem Korridor.
+
+Haarland verabschiedet sich von Joachim Becker.
+
+»Man muß nur den Nacken steif halten«, sagt er, als habe er es nötig,
+aufmunternd zu sprechen. »Ich habe es mit Boxen erreicht.«
+
+Dabei zeigt er seine Fäuste und die gesunden weißen Zähne im braunen
+Gesicht.
+
+Joachim Becker geht in sein Arbeitszimmer.
+
+Die Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder verlieren sich vor seiner Tür.
+Es ist später Nachmittag, die Dämmerung legt sich ganz plötzlich über
+den großen Raum.
+
+Einen Augenblick sitzt er ausruhend in seinem Sessel, dann dreht er das
+Licht an und klingelt seiner Sekretärin.
+
+Mechanisch beginnt er, von dem großen Stoß der Papiere auf seinem
+Tische das Wichtigste herunterzunehmen und zu diktieren.
+
+Gegen seine Gewohnheit hebt er plötzlich den Blick. Er sieht, über
+die Finger der Schreibenden, in das schmale erschlaffte Gesicht der
+Sekretärin.
+
+Es kommt ihm auf einmal mahnend zum Bewußtsein, daß dieses langsam
+welkende Wesen ihm gegenüber in den letzten Monaten täglich bis in
+die späten Abendstunden zu seiner Verfügung stand -- daß sie auch
+ein Anrecht auf das Leben habe. Er selbst hat, seitdem er von seinem
+Projekt besessen ist, nur Arbeit gekannt und rücksichtslos Arbeit
+gefordert. Nun empfindet er dumpf, daß es für andere Menschen noch
+irgendwelche Freuden geben mag, die nicht in diesem Hause zu finden
+sind.
+
+Er bricht das Diktat plötzlich ab.
+
+»Wir wollen für heute Schluß machen. Gehen Sie auch nach Haus.«
+
+»Ich habe noch das Protokoll --«
+
+»Lassen Sie Protokolle und Briefe. Schließen Sie alles ab, und denken
+Sie nicht daran.«
+
+Sie sieht überrascht auf. »Dann: guten Abend«, sagt sie leise lächelnd.
+
+Wie sie zur Tür geht, mit leichten Schritten, während das Kleid um ihre
+Beine schwingt, sieht er in ihr zum erstenmal nicht nur die fleißige
+Mitarbeiterin. Und er hat ein eigenes Gefühl dabei.
+
+Sie ist auch eine Frau, sagt er sich, als er ihren Duft noch leise
+verspürt. Es gibt also noch lebendige Wesen, die ihren Körper wie eine
+Kostbarkeit auf zierlichen Füßen tragen, die mit weichen Händen nach
+den Dingen greifen und sanfte Worte sprechen --
+
+Adelheid fällt ihm nicht nur ein, sie ist ihm greifbar nahe. Ihre
+ängstlichen runden Augen sehen ihn an. Er springt auf, ungeduldig,
+freudig, und beschließt, auszugleichen -- zu verschenken, was so
+dankbar hingenommen wird.
+
+Der Kommerzienrat kommt herein, um sich zu verabschieden und Grüße für
+Adelheid aufzutragen.
+
+»Hat die Katastrophe sie auch nicht zu sehr aufgeregt? Du weißt, bei
+jungen Frauen in diesem Zustand -- Ist der Arzt heute dagewesen?«
+
+Sein Schwiegersohn kann diese Fragen nicht beantworten. Er hat bisher
+keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Aber nun will er alles
+nachholen.
+
+Lag nicht immer schon etwas mütterlich Schweres und Sanftes in
+Adelheids Wesen? Er hat das Verlangen, den Kopf an ihre Knie zu
+schmiegen und sich trösten zu lassen wie von einer Mutter. ›Das Kind im
+Manne?‹ fragt er sich in leisem Selbstspott. Vor wenigen Stunden noch
+wäre ihm die Situation lächerlich erschienen.
+
+Er schickt Herrn Gregor nach Hause und fragt ihn, ob er ins Theater
+gehen wolle. Hier seien zwei Eintrittskarten. Gesellschaft würde er
+wohl finden? Nein, deswegen würde Herr Gregor nicht in Verlegenheit
+kommen. Er dankt mit indiskretem Lächeln.
+
+Joachim Becker hatte sich zum erstenmal seit Wochen dazu entschlossen,
+heute mit Adelheid in die Oper zu gehen. Aber nun will er sie nicht
+unter fremde Menschen führen.
+
+Er hatte noch nie Zeit, sich für Kunst zu interessieren, er versteht
+nichts davon. Wenn er sich ablenken wollte, sah er sich ein Lustspiel
+oder eine Operette an, aber er verspürte stets einen schalen Geschmack
+danach, es reute ihn der Zeitverlust. Nun will er Adelheid die Freude
+bereiten, mit ihr allein zu Haus zu bleiben, einen ganzen Abend nur ihr
+zu widmen; gut und milde zu sein.
+
+Er hatte noch niemals daran gedacht, seiner Frau ohne äußeren Anlaß
+Blumen oder andere Aufmerksamkeiten mitzubringen, auch heute hält er
+sich nicht damit auf. Aber er kommt mit einem vollen Herzen. Und das
+scheint ihm so ungeheuer viel, daß der Gedanke an materielle Geschenke
+ihm absonderlich vorgekommen wäre.
+
+Während er im Wagen seinem Hause entgegenrollt, dünkt ihn die familiäre
+Sorgfalt und Rücksichtnahme des Kommerzienrats längst nicht mehr
+lächerlich wie sonst. Auch er freut sich auf sein Familienleben.
+
+Adelheid erwartet ihn bereits im fertigen Staat für den Theaterbesuch.
+Ihre Mutter sitzt in ihrem Zimmer und erzählt vom letzten Opernabend.
+
+»Selbst Frau Bankdirektor Ellgers war da, die doch aus hygienischen
+Gründen nur selten ihr bazillenfreies Haus verläßt«, sagt sie, als ihr
+Schwiegersohn eintritt.
+
+»Ich freue mich so sehr, daß ihr endlich einmal miteinander ausgeht«,
+ruft sie nach der Begrüßung aus. »Adelheid hat sonst so gar nichts
+von ihrem Leben. Und bald wird sie sich nicht mehr öffentlich zeigen
+wollen.«
+
+»Ja«, sagt Joachim Becker beklommen bei dem Gedanken an die
+verschenkten Theaterkarten. »Ich hatte aber gerade heute den Vorschlag
+machen wollen, zu Haus zu bleiben. Wir beide ganz allein, Adelheid und
+ich. Die Sitzung hat mich sehr angestrengt, und ich bin so lange nicht
+mit Adelheid allein gewesen.«
+
+»Ich wollte euch ohnehin bald verlassen, denn Papa wird wohl jetzt auch
+zu Hause sein. Aber meine Ansicht ist, daß Adelheid die Ablenkung gut
+tun würde«, sagt die Kommerzienrätin mit abgewandtem Gesicht. Sie sucht
+ihren Mantel und rüstet sich, um dieses Haus rasch zu verlassen, in dem
+ihr so deutlich gesagt wird, daß man allein sein will.
+
+»Was meinst du, Adelheid?« fragt Joachim Becker leise, indem er seine
+Hand auf ihre Schulter legt.
+
+Sie blickt hilflos auf, und weil die Mutter ihr den Rücken wendet und
+sie ihr Gesicht nicht sieht, wird sie ängstlich. Sie erhebt sich, so
+daß die Hand ihres Mannes herabfällt, und geht zu ihrer Mutter hinüber.
+
+»Nein, Mutter,« sagt sie, »so darfst du nicht weggehen.« Die
+Kommerzienrätin schließt den Arm um ihre Tochter, und beide Frauen
+gehen wortlos hinaus.
+
+Da fühlt Joachim Becker, wieviel Leid er hier schon unbewußt veranlaßt
+hat, und daß keine Brücke hinüberführt. Heute nicht -- vielleicht in
+der Zukunft?
+
+Er geht in sein Zimmer hinüber und denkt lange, verworren über
+seine Handlungen nach, er, der immer so klar und folgerichtig,
+so gut organisiert zu denken vermochte. Er glaubt, hier und da in
+schwachen Umrissen Fehler zu erkennen. Seine große Sicherheit, seine
+Zielbewußtheit fällt von ihm ab, er ist trostbedürftig wie ein Kind.
+
+Und fühlt zum erstenmal in seinem Leben die große quälende Einsamkeit
+...
+
+
+
+
+ Die Mutter
+
+
+Irmgard Pohl geht vor das Haus. Die Luft in den Zimmern ist stickig.
+Ohne Abkühlung selbst in der Nacht. Dazu der Geruch von Medizin und
+Krankheit, der in alle Zimmer dringt, seitdem Frau Pohl in die unteren
+Räume übergesiedelt ist.
+
+Jetzt, gegen Abend, weht ein Luftzug vom Wasser herüber. Die Mühle und
+die Speicher wirken noch bestaubter als sonst, und auch die Pflanzen im
+kleinen Vorgarten des Wohnhauses werden trocken und stumpf.
+
+Die Geräusche vom Hafen sind nun ferner gerückt. Einige Arbeiter
+werkeln am zerstörten Getreidespeicher, dessen verstümmelter Bau wieder
+abgetragen werden muß. Die neue Arbeit aber wird am südlicher gelegenen
+Mittelbecken geleistet. Die wimmelnden Massen der Arbeitenden, die
+kleinen Kippwagen und die Arbeitsautos wirken von der Mühle aus
+spielerisch klein. Silhouettenhaft gezeichnet sieht Irmgard die
+Vorgänge durch die verdickte, vom letzten Sonnenleuchten glitzernde
+Luft.
+
+Sie setzt sich auf die Bank vor dem Haus, müde und des vielen Lärmens
+überdrüssig. Auch an der Mühle wird nun gebaut. Herr Pohl läßt den
+Speicher aufstocken und einen Flügel am Müllereigebäude anbauen. Die
+Arbeiter sind gegangen, doch die Steine und Bottiche stehen umher,
+die Gerüstbalken liegen vor dem Speicher und zerstören den ruhigen
+Eindruck, der auf diesem Gelände bisher bewahrt geblieben war.
+
+Es ist kaum vorstellbar, daß noch vor einem Jahr die Vögel in Scharen
+auf den Feldern drüben niedergingen und sich holten, was von der Ernte
+zurückgeblieben war. Daß die alten Linden ihren weichen Duft mit den
+warmen Südwinden über den Kanal hinweg zur Mühle sandten. Daß Kinder
+auf den Wiesen spielten, und daß zwischen ihnen ein paar weiße Ziegen
+mit gesenkten Köpfen dahintrotteten. Dort, wo jetzt die tiefen Gruben
+sind und neue Speicher aus der Erde wachsen.
+
+Wenn man des Abends vor das Haus trat und über den Kanal hinwegblickte,
+war eine ebene Fläche, soweit das Auge reichte. Nur zur Linken
+dunkelten die breiten Wipfel der Linden und verdeckten das
+Fräuleinstift, dessen Pensionäre man niemals zu Gesicht bekam. Die Rufe
+heller Kinderstimmen wehten zuweilen herüber, und dann konnte man ganz
+gedämpft irgendwelche dunklen, schweren Kirchenglocken aus dem Innern
+der Stadt vernehmen. So still war es in diesem Winkel, wo nun der neue
+Hafen entsteht.
+
+Aber hatte Irmgard sich damals dieser Stille vollkommen bewußt gefreut?
+
+Sie bückt sich und fegt mit der Hand über das blaue Blumenbeet,
+aus dessen dichten kleinen Blüten dabei ein heller Hauch von Staub
+auffliegt. Sie sucht immer eine Beschäftigung, wenn peinliche Gedanken
+sie bedrängen, trotzdem sie längst weiß, daß sie sich zu anderer Zeit
+doch wieder melden und auf die Dauer nicht abzuwenden sind.
+
+Nein, sie hatte die Ruhe als einen hinterwäldlerischen Zustand
+hingenommen und mit Joachim Becker von dem großen Hafen geträumt.
+
+Einige Rosen am hohen Stock in der Mitte des runden Beetes hängen
+welk herab. Irmgard nimmt einen der sammetweichen kühlen Köpfe sachte
+mit der Handfläche auf. Sie kann nicht übersehen, daß der Rosenstock
+an einen runden Stab gebunden ist, einen grünen Stab mit weißer
+Spitze, den Joachim Becker im vorigen Jahr mit seinem Taschenmesser
+zurechtschnitt und in knabenhaftem Eifer farbig überpinselte.
+
+Sie zieht die Hand von der Rose fort. Schwer sinkt sie vornüber, und
+dann segeln die hellen Blätter nach allen Seiten in die blauen Blumen
+hinein.
+
+Irmgard wendet sich brüsk ab. Vor der Tür stockt sie einen Augenblick.
+Sie will das Haus meiden, um von der Mutter nicht gehört und gerufen zu
+werden. Mit kleinen Schritten schleppt sie sich um das Gebäude herum
+und geht durch den Gemüsegarten zum Mittelweg.
+
+Hier und im Hof sind noch Kalkspritzer von den Ausbesserungsarbeiten
+am Hintereingang zu sehen. Michael Pohl hatte alles sofort auf
+eigene Kosten wiederherstellen lassen und sich auch wegen der
+zersprungenen Fensterscheiben nicht mit Ersatzansprüchen gemeldet.
+Eines Tages war jedoch Rechtsanwalt Bernhard erschienen und hatte um
+die Rechnungen gebeten, da die Hafengesellschaft selbstverständlich
+alles ersetzen werde. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, persönlich
+vorzusprechen, weil er immer noch auf einen gütlichen Ausgleich in der
+Prozeßangelegenheit hoffte. Michael Pohl sprach mit keinem Wort davon.
+
+Das Mädchen in der Küche hört die Schritte auf dem Kies. Sie setzt
+einen Teller klappernd nieder und steckt den Kopf aus dem Fenster.
+
+»Sie schlafen beide«, flüstert sie. Sie gönnt Irmgard die kurze
+Ruhepause.
+
+Irmgard nickt ihr zu und geht durch die kleine Pforte zu den Wiesen
+hinaus, die sich bis zum Verbindungskanal erstrecken. Dort, in der Nähe
+des Wassers, setzt sie sich, mit dem Rücken gegen das Hafengelände, auf
+den Rasen, den sie kühl und frisch auf der Handfläche fühlt.
+
+Sie kann hier noch vom Mädchen gesehen und im Notfall gerufen werden,
+wenn einer von den »beiden« erwachen und sie brauchen sollte. Diese
+beiden, die jetzt ihr ganzes Leben ausfüllen sollten: die Mutter und
+das Kind.
+
+Der Knabe ist gesund und gedeiht, obgleich er mit der Flasche
+großgezogen werden muß, und die Mutter erholt sich mit fast
+beängstigender Eile. Sie kann es nicht erwarten, wieder überall selbst
+zur Stelle zu sein und die Zügel fester in die Hand zu nehmen.
+
+Ihre abgezehrten Glieder werden elektrisiert und massiert, und wenn sie
+nicht zuweilen bei heimlichen Versuchen erfahren hätte, daß Energie
+und Unrast allein ihr die alte Kraft nicht wiedergeben, so würde sie
+wohl noch heftiger über all diese »teuren und überflüssigen Prozeduren
+an einem alten Weibe« schelten. So aber begnügt sie sich mit einem
+gutmütig-ungeduldigen Protest, soweit es sich um ihre eigene Person
+handelt.
+
+Streng jedoch und ohne Duldung jeglichen Widerspruchs ist sie wieder in
+ihrem Kommando über den Haushalt und die Wartung des Sohns.
+
+Irmgard hat es sich in den langen einsamen Monaten vor der Geburt des
+Knaben angewöhnt, oft mit den Händen im Schoß untätig dazusitzen und in
+sich hineinzulauschen. Erst waren es die Erinnerungen, von denen sie
+willenlos aus der traurigen Gegenwart fortgetragen wurde. Dann spürte
+sie das mählich pochende Leben, und sie malte sich die Zukunft als
+Mutter dieses neuen Menschen aus.
+
+Schließlich mußte sie es ertragen, daß sie ihren Vater und sich
+selbst vor seinen Leuten und vor den wenigen Menschen, mit denen sie
+gelegentlich zusammenkamen, dadurch in Unehre bringen würde. Sie hatte
+nie viel von der Meinung derjenigen gehalten, die nach den allgemeinen
+Gesetzen urteilen. Und nun begann sie, in ihrer Mutterschaft eine große
+und mutige Mission zu sehen. Erst als sie so weit in ihren inneren
+Kämpfen gekommen war, beschloß sie, sich dem Vater zu offenbaren.
+
+Sie kannte ihn von jeher als einen Eigenbrötler, der sich auch nicht
+viel um die herkömmlichen Ansichten kümmerte, aber sie wußte, wie tief
+er durch den Abfall Joachim Beckers verletzt wurde. Trotzdem hatte sie
+diese Aussprache als eine Befreiung von der Bitternis und dem stummen
+Nebeneinander mit dem Vater erhofft.
+
+Sie vergaß, daß sie selbst sich nach quälendsten Wirrnissen zu der
+neuen Anschauung durchringen mußte, und daß sie den Vater vor eine ganz
+unerwartete Tatsache stellte. Und vollkommen hatte sie, in ihre Liebe
+zu Joachim Becker verstrickt, übersehen, welchen großen Vertrauensbruch
+der Vater nun auch auf ihrer Seite darin erblicken mußte.
+
+Wie sie nun, bleich und schon ein wenig entstellt, dem Vater am Tisch
+gegenübersaß und fast ohne Stocken davon zu sprechen begann, war ihr
+allmählich, über der fürchterlichen Veränderung in seinem Gesicht, die
+ganze Tragweite zum Bewußtsein gekommen.
+
+Sie konnte plötzlich alle zurechtgelegten großen und kühnen Worte nicht
+finden, ihre Mundhöhle zog sich bitter zusammen, und die Magenkrämpfe,
+an denen sie in letzter Zeit so viel gelitten hatte, setzten wieder
+ein. So saß sie vor ihm, stumm, mit schmerzverzerrten Zügen. Ihre Hände
+tasteten krampfhaft über die Decke. Da verschwammen die Umrisse seines
+Kopfes vor ihren Augen. Sie ahnte nur seinen erstarrten Blick.
+
+Erst war es, als ob er ihr Gesicht damit gläsern machte, sie spürte
+kein Leben mehr darin, und dann fühlte sie ihn auf den Händen. Sie
+hielt sie plötzlich ganz still, aber sein Blick lag immer noch darauf.
+Und da schämte sie sich unwillkürlich ihrer Hände, die gelb und mager
+geworden waren. Sie zog sie vom Tisch herab und wußte keinen Grund
+dafür. Sie hörte eine Tür fallen und war allein im Raum ...
+
+Später hatte er ihr den Arzt geschickt, der über ihren Zustand
+unterrichtet war. Er untersuchte sie und verschrieb ihr
+Stärkungsmittel. Aber der Vater und sie haben bis zu ihrer Niederkunft
+niemals »davon« gesprochen. Noch jetzt muß Irmgard die Augen schließen,
+wenn sie daran denkt, wie sie sich schämte, wenn der Blick des Vaters
+unversehens auf ihre veränderte Gestalt fiel.
+
+Die erste stumme Annäherung glaubte sie zu fühlen, als sie ihm nach der
+Katastrophe im Hafengelände entgegenging und sagte, welchen Namen man
+dem Knaben geben müsse. Da hatte sie noch nicht gewußt, was sie damit
+unternahm. Die große Erregung an jenem Tag und die Freude über die
+Erlösung der Mutter veranlaßten sie ohne Überlegung zum Verzicht ihrer
+Rechte.
+
+Als es dem Vater nicht mehr entgehen konnte, wie schwer es ihr fiel,
+den Knaben als unbestrittenen Besitz der Mutter zu betrachten und ihr
+in allen kategorischen Weisungen willenlos zu folgen, hatte er endlich
+offen mit ihr darüber geredet. In seiner knappen und schweren Art
+begann er zunächst mit großen Pausen und dann ohne falsche Scheu über
+alles zu sprechen, was seit Joachim Beckers Zeit zwischen ihnen lag. So
+lange hatte er gebraucht, um es zu verarbeiten.
+
+Zum Schluß nahm er sie in seine Arme und sprach beruhigend auf sie ein.
+Er sagte im Grunde nicht mehr als der Arzt, Schwester Emmi und gewiß
+manche anderen, die ein Urteil darüber hatten: daß es so am besten für
+sie alle sei, und daß ihr der Knabe innerlich nicht weniger gehöre,
+wenn sie ihn nach außen als Bruder anerkennen müsse.
+
+Aber sie empfand den Druck seiner breiten warmen Hand auf ihrer
+Schulter, sie durfte ihren Kopf wieder an seine Wange lehnen, und dann
+hatte er wie in den Kindertagen mit seinem großen weißen Taschentuch
+die Tränen von ihrem zuckenden Gesicht gewischt. --
+
+Die kleinen stehenden Wolken verlieren allmählich ihr rotes Leuchten,
+das vom Westen her über den Himmel gezogen ist. Irmgard gibt sich noch
+eine kurze Frist, indem sie das Schwinden des gelben Scheins hinter
+einer dunklen Wolkengruppe abwartet, dann steht sie auf, um zu ihren
+»beiden« zu gehen.
+
+Das Mädchen flüstert ihr an der Küchentür zu: »Sie ist schon lange
+wach. Ich habe ihr gesagt, daß Sie Besorgungen machen.«
+
+Irmgard will etwas erwidern, aber sie sieht schließlich selbst ein,
+daß man der Mutter keine anderen Erklärungen geben kann, denn sie
+wird niemals die Menschen verstehen, denen zuweilen die Hände im Schoß
+liegen bleiben.
+
+Sie hört ihre Stimme im Schlafzimmer und weiß, daß sie sich das
+Kind ins Bett reichen ließ. Und wieder verliert sich ihre brennende
+Sehnsucht nach dem Knaben, weil sie ihn in den Händen der Mutter weiß.
+Nur in den wenigen Minuten, da sie unbeobachtet ganz allein mit ihm
+sein kann, wird er zu ihrem Besitz.
+
+Entschlossen würgt sie alle Bitterkeit hinab und geht mit
+beschleunigten, festeren Schritten ins Zimmer, als ein Mensch, der
+unter Zwang eine schlechte Rolle spielt.
+
+Hier wartet so viel Arbeit auf sie, daß sie sich schnell wieder
+zurechtfindet. Schwester Emmi hatte die Hafengesellschaft nicht auf
+ihre Dienste warten lassen, und nun fehlt sie ihr sowohl bei der Arbeit
+wie mit ihrem heiteren Wesen.
+
+»Meine Zukunft«, sagte sie immer, wenn sie von ihrem neuen Posten
+sprach. Sie war klug genug, Joachim Becker nicht zu verraten, daß ihre
+jüngste Vergangenheit bei Irmgard Pohl und seinem Sohne war. Irmgard
+hatte sie aber außerdem gebeten, über diese Tätigkeit zu schweigen.
+
+»Denn vielleicht weiß er gar nichts davon«, fügte sie mit einem Blick
+auf den kleinen Michael errötend hinzu.
+
+Frau Pohl war es recht, daß die kleine blonde Schwester bald das Haus
+verließ, denn erstens hält sie eine Pflegerin für überflüssig, wenn
+eine erwachsene Tochter im Hause weilt, und zweitens kann sie keine
+Sympathien für Schwester Emmi gewinnen. Sie ist mit ihrer stillen und
+zielbewußten Tochter zufriedener, vermeidet es aber streng, sich davon
+etwas anmerken zu lassen.
+
+Irmgard kann ihr eine gute Nachricht bringen: die Masseuse ist am
+Nachmittag dagewesen, um zu sagen, daß der Arzt für den nächsten Morgen
+die ersten Gehversuche erlaubt habe.
+
+Während die Mutter in ihrer Freude weinend und lachend das Kind an
+ihr hageres Gesicht preßt und in sein erschrecktes Schreien mit
+überschwenglichen Koseworten hineinredet, wird sie wieder die hilflose
+und schwergeprüfte Kranke, der Irmgard sich von neuem verbunden fühlt.
+--
+
+Als sich Frau Pohl -- mehrere Wochen später -- schon an Stöcken in der
+Wohnung bewegen kann, öffnet sie eines Abends die Tür zum Zimmer ihrer
+Tochter, um ihr einen Auftrag zu geben. Sie glaubt erst, daß sie nicht
+im halbdämmrigen Raume sei. Doch da richtet sich Irmgard erschreckt vom
+zerwühlten Bett auf und starrt ihr blaß und verweint entgegen.
+
+Es ist, als käme Frau Pohl in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß es
+noch etwas anderes als ihre Krankheit und die Pflege des Knaben in der
+Welt gibt. Sie läßt sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Einer ihrer
+Stöcke fällt polternd zur Erde.
+
+Unwillkürlich erwartet sie, daß er ihr von der Tochter heraufgereicht
+wird. Irmgard ist aber vorher hinausgerannt und hat das Haus verlassen.
+Ohne Überlegung ergriff sie im Korridor Mantel und Hut. Sie eilt durch
+den Vorgarten, über den Mühlenplatz und die Föhrbrücke zu den belebten
+Straßen.
+
+Die Menschen gleiten wie Schatten an ihr vorbei. Sie erkennt ihre
+Umrisse kaum. Aber sie schämt sich vor ihnen.
+
+Sie verachtet sich selbst, ihre Schwäche und innere Zerrissenheit. Aber
+sie geht, wie oft in den letzten Tagen, den gleichen Weg. Den falschen
+Weg zu Joachim Becker, anstatt von ihm fortzustreben.
+
+Der herbstliche, feuchte Wind kühlt ihre brennenden Augen. Die ersten
+Nebel verdicken am Abend die Luft, die grau und schwer um die Häuser
+schleicht.
+
+Irmgard steigt in eine Straßenbahn und fährt in die Vorstadt, zu
+Joachim Beckers Haus. Wie vieles andere über ihren Chef, so hat
+Schwester Emmi ihr auch seine Wohnung verraten. Und Irmgard Pohl, die
+in ihrer Zurückhaltung alle kleinlichen Berichte über die Nebenmenschen
+bisher von sich fernhielt, verstrickte sich immer tiefer. Sie
+verschlang jeden Klatsch über den Hafendirektor, der von Herrn Gregor
+über Frau Reiche zu Schwester Emmi gelangte.
+
+Und dann begann sie mit diesen abendlichen Fahrten.
+
+Sie steigt an der Endstation der Bahn aus und geht durch die
+dunklen, breiten Straßen des Villenviertels. Es ist zur Zeit des
+Geschäftsschlusses. Die Stille wird in kurzen Abständen von den
+lichtschießenden Autos zerschnitten, durch deren Luftdruck das verwehte
+braune Laub nach den Seiten flieht wie Hühner auf der Dorfstraße.
+Modriger Geruch steigt zuweilen aus den Gärten auf.
+
+Irmgard lehnt gegen rauhes Eisengitter und blickt zu dem Grundstück
+hinüber: ein niedriges Landhaus ist tief in den Garten hineingebaut und
+wird von alten Bäumen fast verdeckt.
+
+Sie wartet auf den Wagen. Joachim Becker wird aussteigen. Sie darf,
+im Dunkel verborgen, die Umrisse seiner Gestalt, seine flinken,
+elastischen Bewegungen erkennen und dann -- unglücklicher als zuvor --
+in die Trostlosigkeit ihres zerstörten Lebens zurückkehren.
+
+Sie unternahm diesen erniedrigenden Weg zum erstenmal, als sie sich
+endlich entschlossen hatte, ihren Sohn nicht mehr zu lieben, sondern
+als Eigentum der Mutter zu betrachten. Frau Pohl sollte nicht mehr
+darüber schelten, daß sie die Pflege des Knaben der häuslichen Arbeit
+vorzog, sie sollte ihr nicht mehr mit eifersüchtigen Blicken folgen,
+wenn sie das Kind in den Armen hielt.
+
+Aber als die Arbeit sie gegen Abend entließ, überfielen sie die alten
+Erinnerungen noch drängender, lebendiger. In Gedanken ging sie ihm
+entgegen, stand wie heute vor seinem Haus, um ihm körperlich näher zu
+sein.
+
+Der herbstliche Sturm, der ihr den Hut fast von den Haaren zieht,
+erinnert sie wieder an ihre Spaziergänge mit Joachim Becker. Sie waren
+damals barhäuptig am Abend bis zum alten Kanal gelaufen. Über die
+feuchten Wiesen, am Wasser entlang, das an die Kaimauern klatschend
+schwankte. Ganz oben, am Verbindungskanal, standen noch Bäume, die sich
+im Sturm bogen und rauschten wie Meereswellen.
+
+In dieses Brausen und Feilen des Windes waren sie übermütig
+hineingestapft. Sie lachten, riefen. Sie freuten sich, daß ihre Stimmen
+ohne Kraft schienen, sosehr sie sich auch bemühten. Sie wateten mit
+schleudernden Bewegungen im dickgeschichteten raschelnden Laub und
+suchten herabgefallene Kastanien. Sie freuten sich an der glatten
+sattbraunen Frucht im weißen Bett ihrer grüngehäuteten Hülle.
+
+Er warf die Kastanien in hohem Bogen zum Wasser hinüber. Sie stand
+mit mütterlich mildem Lächeln daneben und freute sich seiner
+weitausholenden, federnden Schwungkraft.
+
+Einmal hatte sie gesagt: »Es ist unbeschreiblich schön, dich nur in
+meiner Nähe so gelöst und knabenhaft zu wissen. Wenn ich mir deine
+strenge und energische Haltung im Bureau oder vor den Arbeitern
+vorstelle, dann bin ich sehr stolz darüber, daß ich dich so verwandeln
+kann.«
+
+»Aber ich habe es doch nicht verstanden,« sagt sie sich nun, »denn
+sonst hätte er mich nicht verlassen können. Oder er müßte leiden wie
+ich.« Da sie jetzt nichts mehr mit ihm gemeinsam hat, möchte sie durch
+Qual und Einsamkeit mit ihm verbunden sein.
+
+Sie beginnt zu frösteln. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Während des
+Wartens verliert sie vollkommen das Bewußtsein davon, wie gedemütigt
+und erbärmlich sie hier steht. Wenn sie ihn gesehen hatte, zuweilen
+nur seinen Schatten -- einmal trug der Wind den Klang seiner Stimme
+herüber --, hatte sie sich leer und erniedrigt gefühlt.
+
+Ein schaler Geschmack bleibt von der erregenden Sehnsucht zurück. Sie
+will umkehren, weil die Automobile immer wieder vorbeifahren, weil sie
+keine Hoffnung mehr hat, ihn zu sehen. Und bleibt doch, bis endlich
+das Verhalten eines Motors als vertrautes Geräusch herüberdringt. Sie
+kann in schräger Linie hinüberblicken und verfolgen, wie Joachim Becker
+aussteigt.
+
+Er trägt einen Koffer in der Hand -- der Chauffeur holt einen größeren
+und schweren von seinem Sitz herab -- und dann beugt Joachim Becker
+sich noch einmal zum Wagenschlag, und seine Frau steigt aus.
+
+Sie geht langsam, schwerfällig. Ihre kleine Gestalt ist ungefüge, und
+er stützt sie mit der Behutsamkeit, die man an Kranke und Gebrechliche
+wendet.
+
+Irmgard Pohl schließt die Augen und lehnt sich fast taumelnd gegen das
+Gitter. Ihre Nerven sind so überreizt, daß sie lautlos mit verzerrtem
+Gesicht vor sich hinlacht. Ja, wie konnte sie so vernarrt sein und noch
+eine innere Gemeinschaft mit ihm suchen, der nun mit einer anderen Frau
+glücklich ist. Mit dieser Frau, die ihm Kinder schenken wird, die seine
+und ihre Züge tragen. Er wird diese Kinder lieben, in denen er sich
+selbst wiederfindet, und er wird eine Episode vergessen, die auf dem
+Wege zu seinem Aufstieg lag.
+
+Ist sie endlich aus ihrer Verwirrung erwacht? Sie entfernt sich rasch
+von dieser Straße, mit dem Bewußtsein, sie nie wieder zu betreten.
+
+Sie legt den weiten Weg zu Fuß zurück und kommt müde, zerschlagen zu
+Haus an. Ihre Augen brennen in den Höhlen und sind wie leer. Sie geht
+sofort in ihr Zimmer. Und zum erstenmal seit Monaten fällt sie in einen
+tiefen traumlosen Schlaf. --
+
+Frau Pohl liegt wach in den Kissen und lauscht. Sie ist wieder in ihrem
+alten Eheschlafzimmer gebettet und legt sich schon am frühen Abend
+nieder, weil die ungewohnte Bewegung sie noch allzusehr ermüdet. Aber
+erst, wenn ihr Mann neben ihr liegt, wird sie ruhig und kann schlafen.
+
+Nun lauscht sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, sie glaubt, selbst
+den zarten Hauch aus dem Kinderbett zu vernehmen, und sie könnte
+einschlafen, weil ihr Haus wohlbestellt ist, denn auch Irmgards
+Heimkehr war ihr nicht entgangen.
+
+Aber da ist etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie hat nach der
+stummen Begegnung mit ihrer Tochter angefangen, in ihrem Gedächtnis zu
+suchen.
+
+Man hat ihr gesagt, daß sie lange krank war und daß Lücken in ihre
+Erinnerung gerissen sind. Sie kann ausrechnen, daß ihre Krankheit nur
+wenige Monate währte, denn der Knabe ist nun ein halbes Jahr alt.
+
+Aber ihren verwirrten Gedanken drängen sich Bilder und Geräusche auf,
+die unendlich lange zurückliegen, während die jüngste Vergangenheit
+spurlos verwischt ist. Immer wieder dröhnen in ihren Ohren die dunklen
+Schläge jener Uhr, die ihr Vater zu Hause in unheimlichem Eifer
+stimmte, damit sie dem reinen Klang der Kirchenglocken gleichen. Er
+hatte sich in den Wahn verstiegen, daß seine Sünden erst dann von
+ihm genommen würden, wenn auch der letzte unreine Ton aus der alten
+Uhr verschwunden wäre. Sie hört sein halblautes Beten und seine
+Selbstgespräche. Sie geht durch die Zimmer der alten Wohnung, sie
+spricht mit dem Vater und bittet ihn, endlich aufzuhören, denn keine
+Glocke könne heller schlagen als seine Uhr. Und kein Mensch könne das
+länger mit anhören.
+
+Sie sieht seine glänzenden Fanatikeraugen so deutlich und irisierend,
+als müßte er jetzt in das Zimmer treten und ächzend auf den Stuhl
+steigen, um wiederum an der Uhr zu drehen und sie schlagen zu lassen.
+Sie selbst aber ist nicht älter als Irmgard und geht zuweilen in ein
+dunkles Zimmer, um aus ihrer Einsamkeit heraus zu weinen.
+
+Mächtiger und quälender schlagen die Töne in das Brausen ihrer Ohren.
+Das Blut schießt brennend in ihren Kopf, und ihre Glieder erstarren
+unter den dicken Federbetten.
+
+Endlich erträgt sie es nicht länger. Sie weckt ihren Mann. Verstört
+wacht Michael Pohl auf. Er verdrängt alle Besorgnis aus seinem Blick,
+während er sich zu ihr hinüberneigt und sie behutsam fragt.
+
+»Willst du Vaters Uhr forttragen, damit sie mich nicht länger quält?«
+bittet sie ihn.
+
+Michael Pohl weiß nicht, welche Antwort er ihr geben soll, denn die Uhr
+ist niemals in seinem Hause gewesen.
+
+»Die Uhr ist nicht hier«, sagt er schließlich. »Deine erregten Nerven
+täuschen sie dir vor. Du bist noch zu anfällig nach der langen
+Krankheit und wirst dich künftig nicht so überanstrengen.«
+
+»Ja, das sind die fixen Ideen, an denen der Vater zugrunde gegangen ist
+und die ich dir nun als Erbe ins Haus gebracht habe. Jetzt hat es schon
+unsere Tochter angesteckt. Sie sitzt im dunklen Zimmer und weint.«
+
+»Irmgard hat einen ganz gewöhnlichen Liebeskummer wie viele junge
+Mädchen. Sie ist gesund und vernünftig und wird es überwinden. Aber
+sieh: bei dir ist es anders. Du hast so viel Schweres erlebt, daß es
+dich wieder überfallen muß, wenn du krank und schwach bist.«
+
+Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich nach dem
+Kummer der Tochter näher zu erkundigen.
+
+»Aber in meiner Erinnerung ist ein Abgrund«, flüstert sie und versucht
+sich aufzurichten. Er ist ihr behilflich und stützt sie durch
+Kissenberge im Rücken.
+
+»Du kannst nur allmählich zurückfinden.« Er hält ihre Hände fest, die
+unter seiner Wärme wieder ruhig werden. »Vor allen Dingen darfst du es
+nicht erzwingen wollen, du mußt geduldig warten, bis alles von selbst
+wiederkehrt.«
+
+»Ja«, erwidert sie gehorsam. »Nur das eine mußt du mir sagen: der Vater
+ist tot?«
+
+»Seit fünfundzwanzig Jahren!« bestätigt er.
+
+»Und daß mein Bruder bei seiner Bank die große Summe unterschlagen hat
+und daß du alles bezahltest, das ist kein Traum?«
+
+Michael Pohl überlegt einen Augenblick und sagt schließlich lachend:
+
+»Was sind das für alte Sachen! Auch das ist fünfundzwanzig Jahre her.«
+
+»Siehst du, das habe ich gewußt. Das ist kein Traum gewesen. Ich habe
+so viel Unglück über dich gebracht. Und nun bin ich krank und kann
+nicht sparen und arbeiten, um dir alles wieder einzubringen.«
+
+Sie hat ihm damit zum erstenmal nach so viel Jahren eine Erklärung für
+ihren Arbeitsfanatismus gegeben, der ihm so oft zur Last geworden war.
+
+Er setzt ihr auseinander, daß sie reich seien, sehr reich. Er zählt ihr
+die Werte seiner Mühle und des Grundstücks auf. Ja, sie hätten mehr
+Geld, als sie verbrauchen könnten. Und wenn sie wolle, so würde er hier
+sofort alles verkaufen und sie in ein herrliches Schloß setzen, wie sie
+es sich damals träumte, als sie beide noch jung waren.
+
+»Gott hat mich für meinen Hochmut bitter gestraft«, sagt sie abwehrend.
+»Ich bin schuld daran, daß mein Bruder das getan hat. Ich habe ihn zu
+sehr geliebt und verwöhnt und mit meinen Plänen vergiftet.«
+
+»Du warst nur wenige Jahre älter als er, und man konnte von dir noch
+nicht verlangen, daß du ihn allein erziehst, zumal du auch ohne Mutter
+aufgewachsen warst. Er war nicht schlecht und hat seine leichtsinnige
+Handlung bereut. Ich bin fest davon überzeugt, daß er drüben ein neues
+Leben angefangen hat. Wir haben nur nichts mehr von ihm gehört, weil du
+nicht wolltest, daß er uns schreibt.«
+
+»Nein,« sagt sie, »dein Leben sollte nicht noch einmal das eines
+Verbrechers kreuzen.«
+
+Er fühlt wieder ihre unbeugsame Strenge und versucht, ihre Gedanken von
+diesen Erinnerungen abzulenken.
+
+Allmählich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Er hält ihre Hand fest und
+erkennt an dem sachte nachlassenden Druck ihr Versinken in den Schlaf.
+
+
+
+
+ In Erwartung
+
+
+Als im nächsten Frühjahr das erste Hafenbecken mit den langgestreckten,
+niedrigen Lagerhallen fertiggestellt war und Waren aus aller Herren
+Ländern eintrafen, um ausgeladen oder umgeladen zu werden, konnte man
+wohl von der eigentlichen Eröffnung des Hafenbetriebs reden. Aber man
+machte nicht viel Wesens davon.
+
+Joachim Becker fährt nach wie vor an jedem Morgen in den Hafen und
+sieht nach dem Rechten, nicht nur bei den Bauten, sondern auch bei den
+neuen Aufgaben des Hafens, bei der positiven Arbeit, auf die er lange
+genug gewartet hat.
+
+Er stellt sich neben den Lademeister und sieht ihm schweigend eine
+Weile zu, bis der Mann irre wird und einen Fehler begeht; dann hat
+der Direktor Gelegenheit, zu zeigen, was er alles sieht und was er
+versteht. Ja, man hat Respekt vor ihm, das muß man sagen, man läßt sich
+durch seine Gegenwart unsicher machen. Und Joachim Becker findet, daß
+so alles in Ordnung ist.
+
+Er geht auch zum Kontoristen in das kleine Bureau der Lagerhalle und
+sagt gutgelaunt:
+
+»Na, bald werden Sie es nicht mehr allein schaffen, was? Wenn im
+Verwaltungsgebäude die ersten beiden Stockwerke fertig sind, ziehen wir
+dort ein. Dann können sie an den weiteren Etagen über unseren Köpfen
+fortbauen.«
+
+»Ach,« meint der Beamte ehrfürchtig, »zieht dann die Direktion hier
+ein?«
+
+»Die Direktion?« Joachim Becker lacht. »Nein, die Direktion bleibt, wo
+sie ist. Aber hier werden wir eine Verwaltung einrichten müssen.«
+
+»Ja«, sagt Herr Karcher verständnisvoll, und es liegt ihm fern, zu
+denken, daß er dann einen besseren Posten einnehmen könnte. Er hat
+zwanzig Jahre die Papiere und Bücher in Lagergeschäften ordnungsgemäß
+geführt, und er trägt ein Verzeichnis aller Waren und ihrer
+unmöglichsten dialektischen und fremdländischen Bezeichnungen im Kopf.
+Er kannte sich immer in seinen Dokumenten aus, und darauf ist er stolz.
+Mehr verlangt er von seinem bescheidenen Leben nicht.
+
+Aber nun sieht er manchmal zum Gerüst des Verwaltungsgebäudes hinüber
+und denkt mit Bestürzung: es wächst und wächst. Er ist mit dem jetzigen
+Zustand so zufrieden und hätte bei Gott keine Veränderung gewünscht.
+
+Wenn er morgens mit seinem Handbuch zum Hafenbecken kommt, um die
+Eingänge zu notieren, liegen die Kähne mit den dunklen schweren Leibern
+in der Sonne. Kinder und Hunde laufen auf dem Deck umher, und die
+Schiffer ziehen ihre Mützen.
+
+»Guten Morgen, Herr Karcher,« sagen sie freundlich und zutraulich und
+»Ja, das ist ein Frühlingstag«. Das sagen sie an jedem Frühlingstage.
+
+Und Herr Karcher meint, während er die schmalen Schultern wohlig
+hochzieht und die Hände reibt: »Ja, das laß ich mir gefallen,« und »Ist
+dort, wo Ihr gestern wart, auch schon der Frühling eingezogen?«
+
+Dann erzählen sie, wie der Frühling zehn oder zwanzig Meilen weiter
+aussieht, und Herr Karcher hört andächtig zu, bis er plötzlich seiner
+Kladde gedenkt und einzutragen beginnt.
+
+Dort drüben aber wächst das Verwaltungsgebäude mit jedem Tag, und dann
+wird die Verwaltung einziehen und ein anderes Regiment führen. Herr
+Karcher beginnt unter den Strahlen der Frühlingssonne zu frösteln,
+und wenn die Fürsorgeschwester nicht im Hafen wäre, so könnte er der
+Melancholie verfallen.
+
+Aber Schwester Emmi kommt in ihrem blaugestreiften Kleid auf zierlichen
+Füßen daher wie ein Morgengruß und sagt in ihrer stets prächtigen
+Laune:
+
+»Uff! Das hätten wir getan!«
+
+»Guten Morgen«, pflegt Herr Karcher dann erst ermahnend zu sprechen.
+»Was hätten wir getan?«
+
+»Guten Morgen«, ruft sie nachträglich, während sie sich auf seine
+Tischkante setzt. »Eben so unsere ersten Pflichten: eine Suppe auf
+einen Kahn getragen und ein Kind angezogen und -- na so weiter. Einen
+Finger habe ich heute noch nicht verbunden.«
+
+»Aber hier ist eine Wunde zu heilen«, sagt Herr Gregor, der nun auch
+auf der Bildfläche erscheint. Er hält ihr seine Wange hin, die einen
+schmalen Riß sehen läßt.
+
+»Nein, Rasierschnitte unterliegen nicht der Fürsorge«, wendet sie ein,
+und dabei gibt sie ihm einen kleinen Klaps auf die Schramme.
+
+»Finden Sie,« fragt sie Herrn Karcher, »daß es schön ist, wenn ein
+Mann sein Gesicht pudert? Und wann, glauben Sie wohl, ist dieser
+leichtsinnige junge Herr heute nacht heimgekommen?«
+
+»Sind Sie so gut unterrichtet?« fragt Herr Karcher, während Herr Gregor
+geschmeichelt an seinen Nägeln putzt.
+
+»Jawohl,« erwidert sie, »denn ich kann es in meinem Zimmer deutlich
+hören. Und auch Frau Reiche hat ihn kontrolliert. Er ist nämlich heute
+nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Der Morgenwächter hat ihn
+erst eingelassen.«
+
+»Aha! Daher die Informationen!« stellt Herr Gregor fest.
+
+»Und dieser Mann ist so naiv, Herrn Gregor für den tüchtigsten Beamten
+des Hafens zu halten.«
+
+Herr Gregor räuspert sich respektfordernd.
+
+»Er sagte nämlich: ›Herr Gregor hat heute um fünf Uhr schon den Hafen
+inspiziert.‹«
+
+»Dieses Rhinozeros!« entfährt es dem jungen Mann, den man für würdig
+hält, so lange Objekt der Unterhaltung zu sein.
+
+Aber da wird Herr Karcher plötzlich ernst und sagt: »Übrigens hat schon
+jemand von der Direktion nach Ihnen gefragt.«
+
+»So -- die haben auch nichts Wichtigeres zu tun!«
+
+Schwester Emmi macht ein sehr bestürztes Gesicht.
+
+»Wer hat nach ihm gefragt? War es der Direktor selbst?«
+
+»Nein, der Direktor ist seit gestern verreist. Er ist ins Ausland
+gefahren«, sagt Herr Gregor.
+
+»Seine Sekretärin könnte es gewesen sein«, meint Herr Karcher.
+
+»So, diese Pute geht das gar nichts an, wann ich komme.«
+
+»Also eine Frauenstimme. Das ist nur gut«, sagt Schwester Emmi. Ihr
+Gesicht hellt sich wieder auf. »Aber jetzt gehen Sie wohl,
+Herr Gregor?«
+
+»Wenn ich hier im Hafen mit meinen Arbeiten fertig bin, werde ich
+gehen. Diese Herrschaften bilden sich wohl ein, daß ich nur der
+Pünktlichkeitskontrolle wegen erst ins Stadtbureau fahre und dann für
+die Hafenarbeiten extra wieder herkomme. Diese Bureaukraten --«
+
+Er vollendet den Satz nicht, sondern steht an der Tür, um draußen
+weiterzusprechen, in der Erwartung, daß Schwester Emmi ihm folgt. Aber
+sie bleibt auf der Tischkante sitzen und blickt ihm bekümmert nach.
+
+»Ich dachte, Sie wollten auch an die Arbeit --« sagt er enttäuscht.
+Sein langes Gesicht ist grau und übernächtig.
+
+»Oh, ich habe heute schon mancherlei getan, aber nun muß ich hier wegen
+der Unterstützung der kranken Schifferfrau mit der Kasse telephonieren.
+Sie soll nämlich in ein Krankenhaus.«
+
+»Ich glaubte, bei Frau Reiche wäre dafür auch ein Telephon.«
+
+»Ach ja, aber jetzt bin ich hier.«
+
+»Na, dann viel Vergnügen!« Herr Gregor schmettert wütend die Tür ins
+Schloß und trottet allein am Kai entlang der Hafenwirtschaft zu. Dieser
+Schürzenjäger kann keine zehn Schritte mehr ohne weibliche Begleitung
+gehn, und er ist unzufrieden mit allem, was Röcke trägt.
+
+Schwester Emmi springt vom Schreibtisch herunter und lauscht angespannt
+auf seine Schritte.
+
+»Warum sind Sie denn nicht mitgegangen?« fragt Herr Karcher, während er
+sich wieder mit seinen Eintragungen in den Büchern beschäftigt.
+
+»Ach, weil ich nicht wollte.«
+
+Dann schlüpft sie zum Fenster und drückt sich die Nase an den Scheiben
+platt, um bis ans Ende des Hafenbeckens und bis zur Kantine zu sehen.
+
+»Und dann«, sagt sie nach einer ganzen Weile, nachdem Herr Gregor
+endlich durch das Hauptportal verschwunden ist, »und dann will er immer
+noch dieses und jenes erzählen und hält sich auf, und im Bureau warten
+sie auf ihn. Meinen Sie wirklich, daß es nur die Sekretärin war? Wollte
+sie etwas Bestimmtes von ihm?«
+
+»Es kann auch jemand von der Personalabteilung gewesen sein. Aber das
+war sicher nur wegen der üblichen Kontrolle. Vielleicht wollte man auch
+hören, ob ich auf meinem Posten sei.«
+
+»Nein, das wollte man sicher nicht. Sind Sie in Ihrem Leben schon
+einmal zu spät gekommen, Herr Karcher?«
+
+»Ja, einmal in zwanzig Jahren.«
+
+»Aber da hat sicherlich ein schwerer Grund vorgelegen?«
+
+»Es war an dem Tage, da meine Frau starb.«
+
+»Ach. Und da sind Sie noch ins Bureau gegangen?«
+
+Herr Karcher sieht auf seinen Federhalter und sagt langsam: »Als ich
+das Haus verließ, hat sie noch gelebt. Aber ich war sehr unruhig und
+kam zurück und ging zur Nachbarin und dachte auf der Straße daran, daß
+ich wieder etwas vergessen hatte, und da bin ich fünf Minuten zu spät
+gekommen.«
+
+»Fünf Minuten? Ach, da hat sich doch niemand darüber aufgehalten?«
+
+»Doch. Der Vorsteher wurde wütend und brummte: ›Da fängt der auch schon
+an.‹ Er war knurrig und mochte mich gar nicht sehen, bis dann die
+Nachbarin kam und sagte, daß meine Frau gestorben sei.«
+
+»Da hat er wohl eine Erklärung gehabt?«
+
+»Jedenfalls.«
+
+»Wie lange liegt das zurück, Herr Karcher?«
+
+»Zehn Jahre.«
+
+»Zehn Jahre. Und seitdem sind Sie immer allein? Ach, du lieber Gott, es
+ist doch wirklich wahr, da fehlt wieder ein Knopf!«
+
+»Ja, ich habe ihn eingesteckt.«
+
+»Dann geben Sie ihn nur her, man wird sich doch so eines armen
+Junggesellen annehmen müssen.« Sie zieht schon einen schwarzen Faden
+und eine Nadel aus ihrer Schürzentasche.
+
+»Nein, so etwas! Was sind Sie für ein hilfreiches und praktisches
+Menschenkind! Haben Sie das immer so zur Hand?«
+
+»Aber gewiß! Bei meinen Kindern auf den Kähnen und bei den vielen
+Leuten hier im Hafen gibt es stets allerhand zu nähen. So, nun ist
+der Schaden bald repariert. Und diese kleine Stelle wollen wir auch
+gleich etwas zusammenziehen. -- Wissen Sie, das ist das Herrliche an
+meiner Arbeit hier, daß ich sie mir suchen darf. Nachdem der Direktor
+mich damals engagiert hatte, bin ich zu ihm hingefahren und habe ihn
+gefragt, was ich denn nun zu tun hätte. ›Ja,‹ sagte er, ›das weiß
+~ich~ doch nicht, das werden ~Sie~ finden müssen. Im Hafen
+sind viele Menschen bei der Arbeit, denen etwas passieren kann. Sie
+können den Finger quetschen oder krank werden, und wenn einer besonders
+schlecht aussieht, dann könnte so eine Frau wie Sie ihn vielleicht
+fragen, was ihm fehlt.‹ Das hat er wirklich gesagt. Und dann meinte er
+noch: ›Vergessen Sie nicht die Leute auf den Kähnen. Die Schiffer mit
+ihren Familien sollen sich bei uns wohlfühlen. Sie müssen sich eben
+immer vor Augen halten, daß Sie die Fürsorgestelle sind.‹ Und dabei
+betonte er das Wort ›Fürsorge‹ so besonders. Unterwegs, in der Bahn,
+mußte ich immerfort darüber nachdenken. Schließlich habe ich mir das
+Wort in zwei Teile zerlegt, und da kam ich dahinter. ›Für Sorge‹ soll
+ich da sein, für alle Sorgen, um sie zu vertreiben. Und daran will ich
+mich eben immer halten.«
+
+»Vielleicht hat das Wort aber die Bedeutung von Vorsorge; also
+vorsorgen, vorbeugen gewissermaßen sollen Sie«, meint Herr Karcher,
+während er auf ihre flinken Finger sieht.
+
+Sie läßt die Nadel im Stoff stecken und macht ein sehr nachdenkliches
+Gesicht.
+
+»Nun haben Sie mir alles umgeworfen, und ich kann wieder von neuem
+anfangen, darüber zu grübeln. Sie mögen auch recht haben. Vorbeugen,
+sehen Sie, das kann auch in seiner Absicht gewesen sein. Denn wie
+der Direktor mich draußen einmal traf, sagte er: ›Die Kinder der
+Schiffer laufen hier zwischen den Bauten herum, es könnte ihnen etwas
+passieren. Vielleicht haben Sie eine Beschäftigung für sie, Spiele oder
+Handarbeiten, damit sie auf einem Platz gesammelt sind.‹ Ja, an was er
+alles denkt. Damit also haben wir dem Unglück vorgebeugt.«
+
+Jetzt reißt sie den Faden ab und ist mit ihrer Arbeit fertig.
+
+»War das auch eine dienstliche Verrichtung?« fragt Herr Karcher
+lächelnd.
+
+»Da müßte ich erst bei der Direktion anfragen.« Sie lacht schelmisch
+und steckt das Nähzeug wieder in die Tasche. »Ja, nun will ich gehn.«
+Sie nickt ihm kameradschaftlich zu und verschwindet hinter der Tür.
+Das beabsichtigte Telephongespräch wird sie wohl doch bei Frau Reiche
+führen.
+
+Herr Karcher ist wieder mit seinen Büchern allein und betrachtet den
+festgenähten Knopf. Aber vor dem Fenster sieht er etwas Helles, und das
+ist Schwester Emmis blaugestreiftes Kleid. Ihr wasserstoffblondes Haar
+hat dunkle Flecken, weil sie es in seiner natürlichen Farbe nachwachsen
+läßt. Herr Karcher findet das sehr schön. Plötzlich springt er hoch,
+reißt beide Fensterflügel auf, daß die neue Ölfarbe kracht, und ruft
+hinaus:
+
+»Ich habe ja den Dank vergessen!«
+
+Dann schlägt er das Fenster wieder zu und hat den Dank durchaus noch
+nicht nachgeholt.
+
+Schwester Emmi lacht und wehrt mit großen Armbewegungen ab. Dann geht
+sie wieder ihres Weges, und Herr Karcher beugt sich über seine Bücher.
+
+So schön könnte es also auch weiterhin in seinem kleinen Kontor sein,
+wenn nicht plötzlich eine neue Nachricht bombenartig hereingeplatzt
+wäre.
+
+Wer es zuerst erzählt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls
+ist ein jeder mit dem Gerücht beschäftigt, daß ein neuer Hafendirektor
+einziehen soll.
+
+Und Joachim Becker? Er ist für die höhere Politik vorgesehen,
+als Außenminister des Hafens gewissermaßen. Er übernimmt die
+Generaldirektion in der Stadt und hat im Hafen seinen Direktor.
+Ja, diese Hafengesellschaft, sie hat erst ~ein~ Becken,
+aber ~zwei~ Direktoren, und davon ist der eine sogar ein
+Generaldirektor und der andere ein richtiger Kapitän.
+
+»Ein Kap'tein?« fragt Schiffer Martens ungläubig.
+
+»Ja,« sagt Lagerverwalter Scholz, »das habe ich gehört, und aus einem
+großen Seehafen soll er kommen.«
+
+»Düwel! Dann ist er auf den Riesenschiffens über den Großen Teich
+gefahren. Dat is mien Mann!«
+
+Und er freut sich ordentlich auf seinen großen Kollegen.
+
+Auch der Bodenmeister Ulrich erwartet gern den neuen Mann. Nun würde
+doch einer kommen, der seiner würdig wäre, einer, der auch die Welt
+gesehen hat und nicht wie dieser hier immer mit der Nase in der Heimat
+geblieben ist und dabei doch klugschnacken will. Ja, Ulrich ist ein
+weitgereister Mann. Er war für einen großen Spediteur in Saloniki
+tätig, und in Rustschuk hat er einen Getreidespeicher mit Elevatoren
+und allem modernen Kram bedient. Ach, sogar in Konstantinopel ist er
+gewesen, und wenn er von den Harems erzählt, die er in seinem Leben
+schon gesehen hat, dann sperren die anderen die Mäuler nur so auf.
+
+Aber daran liegt ihm wenig. Nun würde doch einer kommen, mit dem er
+auch ein Wort in einer anderen Sprache reden könnte, denn so ein
+Kapitän versteht natürlich alle Sprachen, zum Beispiel Französisch.
+Und über das Technische könnte man sich mit ihm richtig fachmännisch
+unterhalten, über Schiffsbecherwerke und Saugförderanlagen und Krane,
+über die ganze Ausrüstung, die ein moderner Getreidespeicher heutzutage
+braucht. Ulrich zweifelt keinen Augenblick daran, daß ein Mann, der in
+der Welt herumgekommen ist, davon etwas versteht.
+
+Er sieht im Geiste den halbfertigen Getreidespeicher in seiner
+vollkommenen Größe und mit allen maschinellen Anlagen ausgestattet.
+Dann ist seine Zeit angebrochen, denn dafür ist er bestimmt, und
+er wartet nur darauf. Nun aber kommt der Kapitän, der dafür sorgen
+muß, daß der Bau beschleunigt wird, und daß es ein richtiger und
+sehenswerter Hafen wird.
+
+So freut sich auch der Bodenmeister Ulrich auf den Kapitän.
+
+Aber da sind einige im Hafen, die ihm mit großer Sorge entgegensehen.
+
+»Brauchen wir schon einen Aufpasser hier im Hafen?« fragt Frau Reiche
+ihren Mann. »Ich meine, es ist doch bisher ganz gut so gegangen.«
+
+»Wenn die Direktion es für richtig hält, so mag es schon stimmen«,
+meint der ehemalige Bäckermeister und jetzige Kantinenwirt. Sein
+blasses, aufgeschwemmtes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen
+und dem roten Schnurrbart ist in letzter Zeit etwas eingefallen, denn
+er hat es nun mit Selterwasser und Milch versucht, und das ist nicht
+das richtige Getränk für einen Mann, der zu vergessen hat, daß er das
+beste Brot im ganzen Stadtviertel backen konnte, und der nun hinter dem
+Schanktisch stehen muß, weil es die Frau so will.
+
+»Mag es schon stimmen,« macht sie ihm mit verzogenem Mund nach, »mag es
+schon stimmen! Du bist auch so einer, der alles für richtig findet, was
+die Obrigkeit anordnet, ohne einmal selber darüber nachzudenken. Ich
+bin der Ansicht, wir brauchen noch keinen Kapitän. Dazu sind wir hier
+noch viel zu klein. Aber der Direktor Becker weiß nicht mehr, wo er
+hinaus soll mit seinen hohen Plänen, und wenn man ihn sprechen will, so
+hat er keine Zeit.«
+
+»Das ist auch richtig so. Unsereins hat in seinem Bureau nichts zu
+suchen. Was er uns zu sagen hat, läßt er uns schon durch Herrn Gregor
+bestellen.«
+
+»Na, und ist es nicht immer sehr gut gegangen mit Herrn Gregor?« fragt
+sie triumphierend. »Brauchen wir einen neuen Mann? Warum können sie
+denn dem Herrn Gregor nicht den Posten geben?«
+
+»Dafür werden sie schon ihre Gründe haben«, sagt ihr Mann und verläßt
+den Raum.
+
+»Esel«, ruft sie ihm wütend nach. Nein, sie ist gar nicht zufrieden mit
+dem angekündigten neuen Mann.
+
+Und darin stimmt ihr selbst Herr Gregor zu, der in den letzten Monaten
+nicht immer ihre Ansichten teilte, und der recht schwer zu lenken war.
+
+»Das wird hier ja recht gemütlich werden«, sagt er zu Herrn Karcher,
+der über seinen Büchern sitzt und alle Prophezeiungen vom neuen Mann
+über sich ergehen läßt.
+
+»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragt Herr Karcher.
+
+»Nein, den hat noch niemand gesehen. Der Becker hat ihn auf seiner
+Reise getroffen, er soll von den Reedereien empfohlen sein.«
+
+»Von den Seehafenreedereien?« fragt Herr Karcher, als wüßte er, daß
+diese Empfehlung dann etwas zu bedeuten habe.
+
+»Jedenfalls von den Seehafenreedereien, denn der Kommerzienrat und der
+Becker haben dauernd in den Seehäfen Besprechungen gehabt.«
+
+›Was bist du doch für ein kurzsichtiger Mann‹, apostrophiert Herr
+Karcher sich selbst mit Beschämung. ›Da denkst du, es könnte alles
+so bleiben, wie es ist: mit einem halbstündigen Morgenbesuch des
+Direktors, mit Herrn Gregor und Schwester Emmi. Doch mit dem Kapitän
+und den Reedereien wird es schon seine besondere Bewandtnis haben. In
+~die~ Pläne siehst du nicht hinein, aber für die Weiterentwicklung
+des Hafens und für dieses ganze Riesenprojekt werden sie schon
+ungeheuer viel bedeuten. Wenn es nach dir ginge, könnte man die ganzen
+in den Hafen gesteckten Millionen in den Schornstein schreiben‹. Er ist
+bereit, sich den Beschlüssen der obersten Leitung ohne Kritik zu fügen.
+
+»Der wird schon der rechte schneidige Mann sein«, setzt Herr Gregor
+seinen Gedankengang fort. »Da der Becker ihn ausgesucht hat, ist er
+sicher einer von seinem Kaliber: hochmütig, scharf und kurz
+angebunden.«
+
+Herr Karcher schweigt.
+
+»Aber es mag auch sein,« überlegt Herr Gregor weiter, »daß er das
+Gegenteil davon ist: ein Duckmäuser. Denn man kann vermuten, daß der
+Becker nicht einen von seiner Art neben sich duldet, das gäbe ja eine
+unliebsame Konkurrenz. Und wenn man der Schwiegersohn ist, darf man
+sich schon einen persönlichen Geschmack leisten.«
+
+»Ja, Herr Gregor,« meint der andere, während er, über den eigenen
+Mut errötend, auf seinen Federhalter starrt, »Sie sind wie der
+Kammerdiener, der seinen Herrn in Unterhosen sieht. Sie wollen
+nicht die Größe an ihm erkennen, weil Sie ihn zu sehr aus der Nähe
+betrachten.«
+
+Herr Gregor starrt den kleinen Mann verblüfft an. Er begreift den
+Sinn seiner Worte erst allmählich, sie waren aus diesem Munde gar zu
+überraschend gekommen. Nun möchte er sich am liebsten in Positur setzen
+und solche Bemerkungen aufs strengste untersagen, aber er überlegt, daß
+er jetzt einige Freunde im Hafen sehr nötig gebrauchen wird, da der
+Feind im Anrücken ist. Denn nur so und nicht anders kann er den Kapitän
+betrachten.
+
+»Auf jeden Fall,« schließt er seine Erwägungen, ohne der unpassenden
+Äußerung Beachtung zu schenken, »auf jeden Fall haben wir dann einen
+Schnüffler mehr.«
+
+Auch Schwester Emmi fürchtet sich ein wenig vor dem neuen Mann.
+Zuallererst denkt sie daran, wie dann dem armen Herrn Gregor zugesetzt
+würde, der nun, nach der Rückkehr Joachim Beckers, zwar pünktlicher
+geworden ist, aber doch jede Kontrolle haßt. Ja, er ist ein freier
+Mann, ein Herrenmensch, aber man erkennt nicht seine besondere Art an,
+und darum grollt die kleine Schwester dem Direktor, so sehr sie ihn
+auch sonst zu schätzen gezwungen ist.
+
+Und wie würde es bei dem neuen Kapitän um ihre eigene Tätigkeit
+bestellt sein? Ob es dann auch heißen würde: die Arbeit müssen Sie
+selbst finden? Ach, sie hat soviel gefunden, und bis zum späten Abend
+ist sie auf den Beinen.
+
+Im Winter hat sie ganz allein dafür gesorgt, daß die Schifferkinder vom
+Winterlager auch die Schule besuchten und für das im Sommer versäumte
+Pensum Nachhilfen erhielten. Ihr ist es zu verdanken, daß vom entfernt
+gelegenen Südbecken, in dem wegen der Sprengungen die meisten Gefahren
+für die Arbeiter lauern, eine direkte Telephonleitung in ihre kleine
+Wohnung gelegt wurde, damit sie bei Unfällen sofort gerufen werden
+kann. Sie ist immer schnell zur Hand gewesen und hat manchem die erste
+Hilfe geleistet. Selbst auf das Gelände der Verhüttungsgesellschaft,
+die im kleinen mit der Förderung der Erze begonnen hat, war sie schon
+geholt worden, und sie ist eher erschienen als der Arzt von der
+Rettungsstation, der ihren fachmännischen Verband rühmte.
+
+Jetzt hat sie den Bauarbeitern sagen lassen, wer schwächliche Kinder
+habe, solle es melden, sie werde für eine Unterbringung in den
+Ferienkolonien sorgen, denn sie hat die Unterstützung der Stadt. Für
+einige Kinder des Hafenpersonals aber, das immer eine bevorzugte
+Stellung einnimmt, weil es doch die eigentlichen Angehörigen des Hafens
+sind, hat sie bei einem Dorfschullehrer in ihrer Heimat einen schönen
+Ferienaufenthalt gesichert. Joachim Becker setzte ihr einen bestimmten
+Betrag dafür aus, als sie ihm zaghaft den Vorschlag machte, und sie hat
+lange gerechnet und überlegt und das Geld gut verteilt. Das Lob des
+Direktors, der mit seinen kühlen grauen Augen immer kurz in ihr Gesicht
+blickt, wenn sie von ihren Plänen spricht, ließ sie erröten. Sehr
+aufgeregt und ängstlich ist sie stets in das Stadtbureau gefahren,
+wenn sie ein besonderes Anliegen hatte, aber auf dem Heimweg war sie
+immer von großem Stolz und Glück erfüllt.
+
+Wenn sie sich um Herrn Gregors leibliches und seelisches Wohl ein wenig
+besorgt zeigt und ihm zuweilen abends noch einige Blumen ins Zimmer
+trägt, auch wenn er nicht zu Hause ist -- und er ist abends oft nicht
+da --, so erfüllt sie doch menschliche Pflichten an ihrem nächsten
+Nachbarn, denn sie wohnen im Gebäude der Hafenwirtschaft Tür an Tür.
+Sie sucht ihn auf diese Weise ans Haus zu fesseln, damit er am nächsten
+Tage seinen Aufgaben für die Hafengesellschaft um so besser nachkomme,
+und wenn sie ihn auch einmal begleitet, so geschieht das nur, weil
+sie ihn vor schlechter Gesellschaft bewahren will. Ist das nicht eine
+Motivierung, die sich auch vor dem neuen Kapitän sehen lassen kann?
+
+Und daß Frau Reiche, die Kantinenwirtin, die in der ersten Zeit ihre
+Freundin war, sich nun als Feindin entpuppte, verdankt sie nur ihren
+Bemühungen, Herrn Gregor dem verderblichen Einfluß zu entziehen! Doch
+das ist ein Kapitel für sich.
+
+Sie ist nicht im reinen darüber, ob der neue Mann etwas Gutes oder
+Böses in ihr Leben hineinbringen werde, und weil sie weder mit Herrn
+Gregor noch mit Frau Reiche, die ihn beide als den Feind betrachten,
+in Ruhe darüber sprechen kann, und weil auch Herr Karcher nur von
+Respektsgefühlen erfüllt ist, ohne sich eine eigene Meinung zu
+erlauben, hat sie das Bedürfnis, zur Mühle hinüberzugehen, um mit
+Irmgard Pohl zu plaudern oder gar einige Worte von Herrn Pohl selbst zu
+hören.
+
+Seitdem sie in den Hafen übergesiedelt ist, hat es sie oft zur Mühle
+hingezogen, und sie ist das verbindende Element zwischen Hafen und
+Mühle, obgleich Rechtsanwalt Bernhard seinen Prozeß in der ersten
+Instanz verloren hat und an die Einsicht eines höheren Gerichtshofes
+appelliert.
+
+Irmgard sitzt auf der Bank vor dem Hause und zeigt dem kleinen Michael
+die Blumenpracht des Gartens. Sie spricht mit dem Knaben, der eben
+ein Jahr alt geworden ist, wie mit einem Erwachsenen und bekommt ein
+lustiges Krähen und Jauchzen zur Antwort.
+
+›Wie langsam entwickelt sich so ein Menschenleben,‹ denkt sie, während
+sie das Kind im Arm hält, ›und wie schnell wachsen die menschlichen
+Werke!‹ Sie blickt zum Hafen hinüber: dort hat der Getreidespeicher
+sein drittes Stockwerk wieder erreicht, im Hafenbecken liegen die
+Flußschiffe in zwei Reihen, und die Kräne recken vor den Lagerhallen
+ihre schwarzen Arme in die Höhe.
+
+Das ist etwas Fertiges in sich, etwas Hochgewachsenes und vollkommen
+Ausgestattetes, an dem nichts mehr zu verbessern scheint, aber ein
+Mensch ist in der gleichen Zeit nur einige Zentimeter gewachsen, er hat
+kaum sprechen und gehen gelernt, und wenn er schließlich zweiundzwanzig
+Jahre alt ist wie Irmgard Pohl, dann glaubt er wieder am Anfang zu
+stehen und beginnt erst an seiner Inneneinrichtung zu bauen.
+
+Sie wird in ihren Gedankengängen von Schwester Emmi unterbrochen, die
+den Knaben mit entzückten Lauten begrüßt.
+
+»Nein, wie er wieder gewachsen ist!« ruft sie einmal über das andere,
+»und was für ein reizender und gesunder Kerl!«
+
+Sie setzt sich auf den schöngepflegten Rasen und nimmt das Kind in
+ihren Schoß. Während sie mit dem Kleinen spielt, erzählt sie vom
+erwarteten neuen Mann im Hafen. Dabei lacht sie und neckt den Knaben.
+So einen lustigen Kameraden hat er nicht alle Tage, und er weiß die
+Minuten mit genießerischer Freude auszukosten.
+
+Frau Pohl tritt, von dem Lärm angezogen, vor die Tür und sieht
+mißbilligend auf die Zerstörung ihres Gartens, denn nach ihrer
+Auffassung ist die grüne Rasenfläche nur für den Anblick bestimmt. Sie
+kann sich seit einigen Wochen schon ohne Stock bewegen.
+
+Schwester Emmi will aufstehen, um sie zu begrüßen, denn sie hat sehr
+viel Respekt vor der hochgewachsenen Frau mit den harten Gesichtszügen,
+die ihr immer noch als Wesen einer anderen Welt erscheint. Ihre
+unbewußte Abneigung gegen die Wiederauferstandene sucht sie durch eine
+besonders erzwungene Freundlichkeit und Aufgeräumtheit zu verbergen.
+Aber nun kann sie ihr nicht einmal entgegengehen, denn der kleine
+Tyrann will seinen Platz nicht aufgeben und beginnt zu schreien, sobald
+sie sich erheben will.
+
+So ruft sie einen lauten Gruß hinüber und lacht. Frau Pohl nickt kaum
+merklich und sagt zu ihrer Tochter:
+
+»Ich wollte dich zum Kaffee rufen, du benachrichtigst wohl den Vater?«
+Sie hat keine Einladung für den Gast.
+
+»Ja, gern«, sagt Irmgard freundlich. »Schwester Emmi wird uns
+Gesellschaft leisten. Wir wollen doch noch ein wenig plaudern.«
+
+»Soll ich zu Herrn Pohl hinüberspringen?« fragt die Schwester, die gern
+aus dem Gesichtskreis der unfreundlichen Frau verschwinden möchte.
+
+»Ach ja,« sagt Irmgard, »das ist lieb von Ihnen«, und sie nimmt ihr
+den Knaben ab, der sich über die Folgen der Veränderung noch nicht
+schlüssig ist und schweigt.
+
+»Gib mir den Jungen«, sagt Frau Pohl rasch, und sie geht mit dem
+schreienden Kind ins Haus.
+
+»Aber kommen Sie auch zurück!« ruft Irmgard der Schwester nach. Sie
+kennt den ersten Eindruck, den Fremde von der Mutter gern schnell
+wieder davontragen.
+
+Schwester Emmi winkt ihr beruhigend zu und verschwindet im Kontor der
+Mühle.
+
+»Ei sieh da!« ruft der Mühlenbesitzer aus, als sie nach zaghaftem
+Klopfen in sein Zimmer tritt. »Kehrt unsere Schwester reumütig zurück?«
+
+»Ach ja,« sagt sie, auf den Scherz eingehend, »und nun will ich Sie zum
+Kaffee abholen.«
+
+Er erhebt sich und geht ihr entgegen.
+
+»Da soll ich wohl gleich mitkommen?«
+
+»Sofort, wie ein Verhafteter!«
+
+Er nimmt seine Mütze vom Haken und öffnet der Schwester die Tür.
+
+Schwester Emmi will den kurzen Weg rasch für eine Aussprache nutzen und
+beginnt zu plaudern.
+
+»Wissen Sie, Herr Pohl, Ihr Vorschlag neulich mit der kleinen
+Apotheke im Schuppen am Südbecken war wirklich sehr gut. Die
+Verhüttungsgesellschaft hat sich daran beteiligt, weil sie es doch so
+weit bis zur nächsten Hilfsstelle hat und noch gar keine richtigen
+Gebäude besitzt. Nun ist das für alle eine sehr große Erleichterung,
+denn gerade dort passiert doch mal dieses und jenes.«
+
+»So. Findet denn die Verhüttungsgesellschaft da drüben schon Erze?«
+
+»Ja, das muß man annehmen. Aber was meinen Sie, Herr Pohl,« schießt sie
+nun auf ihr Ziel zu, »was wird das wohl für ein Mensch sein, dieser
+neue Kapitän, den wir jetzt bekommen sollen?«
+
+»Bekommt ihr einen Kapitän?«
+
+»Ja, einen neuen Hafendirektor, der bei uns wohnen soll und auch sein
+Bureau im Hafen haben wird. Das Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude haben
+sie schon dafür eingerichtet, jetzt arbeiten sie an der Wohnung im
+ersten Stock.«
+
+»So. Was soll denn nun der andere Direktor?«
+
+»Der wird Generaldirektor im Stadtbureau. Aber was meinen Sie, wie kann
+das werden mit so einem Kapitän im Hafen?«
+
+»Hm, da müßte man den Mann schon gesehen haben.«
+
+Ach ja, da hatte er recht, was sollte man jetzt schon sagen können?
+Sie stellt auch gar zu törichte Fragen an diesen reifen und erfahrenen
+Mann. Aber er hört sie geduldig an und gibt sogar eine Antwort darauf.
+
+Sie sind im Haus angelangt, und Schwester Emmi hätte sich auf den
+Kaffee am schönen runden Tisch sicherlich sehr gefreut, wenn noch alles
+so wie damals gewesen wäre, als Frau Pohl »oben« lag und am Leben der
+Gegenwart keinen Anteil nahm.
+
+Nun sind über das Sofa und den Lehnstuhl am Fenster die alten
+Häkeldecken gebreitet, die Irmgard damals entfernt hatte, Nippes,
+Tischchen und anderer kleiner Hausrat hat das Zimmer so gefüllt, daß
+man sich nicht zu rühren wagt.
+
+Schwester Emmi fühlt sich sehr unbehaglich. Sie beobachtet verstohlen
+die beiden Frauen und stellt fest, daß Irmgard die Züge und die hohe
+schmale Figur der Mutter hat. Aber was bei der alten Frau, die eine
+Greisin scheint, obgleich sie noch nicht fünfzig Jahre zählt, hart und
+streng gebildet ist, wirkt bei Irmgard weich und ausgeglichen.
+
+›Was hat sie doch jetzt für ein liebes freundliches Gesicht‹, denkt
+die Schwester, wenn sie Irmgard Pohl betrachtet, die nun wieder ganz
+verjüngt wirkt. Sie empfindet den Kontrast neben der schweigsamen
+Frau wohltuend und erwärmend. Die schönen goldbraunen Augen Irmgards
+streifen besorgt ihre Mutter und bleiben mit großer Zärtlichkeit am
+Gesicht des Vaters haften.
+
+Die Unterhaltung bewegt sich fast nur zwischen Irmgard und der
+Schwester. Sie sprechen von den Eigenheiten und drolligen Bemerkungen
+des kleinen Michael. Während der Mahlzeiten muß er im Schlafzimmer
+bleiben, denn Frau Pohl ist nicht für Unruhe und Unregelmäßigkeiten bei
+Tisch.
+
+Dann unterhalten sie sich von den Aufgaben der Fürsorgestelle. Herr
+Pohl erkundigt sich nach den Ferienkindern und lobt Schwester Emmis
+Eifer und Erfolge. Sie ist sehr stolz darüber.
+
+Frau Pohl vertritt die Ansicht, daß solche Fürsorge für die
+verwahrlosten Kinder der Arbeiter, die es gar nicht besser haben
+wollen, übertrieben sei, und sieht Schwester Emmi mißbilligend an.
+
+Die Schwester blickt auf Vater und Tochter, aber weil beide
+rücksichtsvoll schweigen, entgegnet sie nur, daß »ihre« Leute Ausnahmen
+seien. Dann verabschiedet sie sich bald, weil ihre Pflichten warten.
+
+Irmgard nimmt ihr das Versprechen ab, wiederzukommen, aber Frau Pohl
+sagt zu ihrer Tochter, als Schwester Emmi gegangen ist:
+
+»Diese Person scheint nicht der geeignete Umgang für dich. Sie
+macht einen leichtsinnigen Eindruck und kann dich nicht zum Guten
+beeinflussen.«
+
+»Ach, Mutter,« sagt Irmgard, »hast du so wenig Vertrauen zu mir? Aber
+wenn du wegen meines Umganges besorgt bist, will ich mich am besten an
+den Vater halten. -- Nimmst du mich mit?« fragt sie den Mühlenbesitzer,
+der sich erhoben hat, um wieder in sein Kontor zu gehen.
+
+»Ich dachte, du deckst hier den Tisch ab«, sagt Frau Pohl.
+
+»Sie kann mir im Kontor bei den schriftlichen Arbeiten helfen«, meint
+Herr Pohl einlenkend.
+
+Irmgard ist ihm so dankbar für diese Worte, daß sie um seinetwillen
+rasch in die Küche läuft und das Hausmädchen holt, damit es der Mutter
+bei der Arbeit hilft.
+
+Im Vorgarten hat sie den Vater bereits wieder eingeholt. Sie hängt sich
+in seinen Arm und fragt ihn:
+
+»Könntest du mich nicht in deinem Bureau einstellen? Ich will auch gern
+noch einen Handelskursus mitmachen.«
+
+Da bleibt er stehen und sieht ihr in das erwartungsvolle Gesicht:
+
+»Siehst du, das habe ich auch gedacht!«
+
+Und wie zwei gute Kameraden gehen sie Arm in Arm weiter.
+
+Irmgard läßt sich in seinem Privatkontor auf das alte schwarze
+Ledersofa fallen, das sie schon als Kind zu stillen Träumereien
+aufgenommen hatte, während der Vater an seinem Schreibtisch arbeitete
+oder die Zeitung las.
+
+In diesem Raum hat sich der Mühlenbesitzer von jeher am wohlsten
+gefühlt, denn drüben im Wohnhaus fand er keine Harmonie. Dort wird
+wieder von morgens bis abends nach einem unerschütterlichen, strengen
+Arbeitsplan gefegt, gewaschen, genäht, und keine Hand darf ruhn. Wie
+soll da die Seele Einkehr halten und ein Herz das andere finden? Aber
+er hat es aufgegeben, ein Prediger in der Wüste zu sein.
+
+Michael Pohl dreht sich auf seinem Arbeitssessel um und blickt zu
+seiner Tochter hinüber, die mit verschränkten Armen lächelnd vor sich
+hinträumt.
+
+»Was meinst du,« fragt er, »wie sollte man sich in einem solchen Fall
+verhalten?« Und er liest ihr einen Geschäftsbrief vor.
+
+Es ist nicht das erstemal, daß er sie um einen Rat fragt, und seht an:
+so eine Frau findet manchmal den besseren Weg und scheint klüger als
+zwei Männer zusammen.
+
+»Ja, so könnte man es machen«, sagt er befriedigt. Er dreht sich wieder
+um und überläßt sie weiter ihren Grübeleien.
+
+Sie denkt, wie es wohl mit einem Generaldirektor und einem Kapitän im
+unfertigen Hafen gehen würde, und sie versucht, sich ein Bild von
+diesem Kapitän zu machen, der Joachim Becker zur Seite gestellt wird.
+
+Darin aber stimmt sie mit allen überein, die den neuen Mann als Freund
+oder Feind erwarten: Ein richtiger Kapitän muß es sein, groß, mit
+wiegendem Gang und breiten Schultern, mit hellen blauen Augen und in
+einem dunkelblauen Anzug.
+
+
+
+
+ Der Kapitän
+
+
+Am Nachmittag vor dem 1. August, dem Tage, der für den Einzug
+des Kapitäns bestimmt ist, werden einige Möbel und Kisten am
+Verwaltungsgebäude abgeladen. Wer gerade vorbeikommt, wirft einen Blick
+darauf, und es sind nicht wenige, die zufällig diesen Weg nehmen.
+
+Der größere Teil dieses Hauses ist noch von Gerüsten umgeben, aber
+der linke Seitenflügel wird bereits überdacht, während der turmartige
+Mittelbau und der rechte Flügel noch nicht die vierte Etage erreichen.
+
+Der fast fertige linke Teil hat einen besonderen Eingang an der Seite
+erhalten, direkt gegenüber der Hafenwirtschaft. Hier steht der Wagen,
+und Frau Reiche kann von ihrem Fenster aus jedes einzelne Stück
+betrachten.
+
+»Es sind alles sehr einfache und alte Sachen«, sagt sie zu ihrem
+Küchenmädchen. Sie beobachtet den kleinen dunklen Herrn, der mit
+einem Verzeichnis in der Hand das Ausladen der Möbel verfolgt und mit
+gespreizten Schritten hinaufrennt, um die Aufstellung zu überwachen.
+
+Der leere Möbelwagen fährt davon; der kleine Herr schließt die Wohnung
+ab und geht auch hinaus, ohne in der Hafenwirtschaft eingekehrt zu
+sein, Frau Reiche ist sehr enttäuscht; sie hätte durch ihn gern einiges
+über den Kapitän erfahren.
+
+Nach der Ablösung bestellt der Tageswächter eine Flasche Malzbier bei
+Frau Reiche.
+
+Ehe er die Flasche ansetzt, um sie in einem Zuge auszutrinken, sagt er:
+
+»Na, Frau Reiche, haben Sie den Kapitän gesehen?«
+
+»Den Kapitän?« fragt sie erstaunt. »Nein, ist er hier gewesen?« Sie
+kann es gar nicht erwarten, daß die Flasche leer wird und der Mann
+weiterberichtet.
+
+»Er hat doch hier vor der Tür gestanden beim Ausladen der Möbel.«
+
+»Der Möbel?« fragt sie ungläubig. »Sie meinen doch nicht den kleinen
+Mann mit der Liste?«
+
+»Ob er eine Liste hatte, weiß ich nicht. Aber so ein kleiner dunkler
+Herr ist es gewesen.«
+
+»Nein, mein Lieber«, sagt sie entschieden. »Ein Kapitän ist das nicht
+gewesen.«
+
+»Aber er hat sich ausgewiesen. ›Kapitän v. Hollmann‹ hat auf der Karte
+gestanden, vom Direktor Becker unterschrieben.«
+
+»Dann war es eben ein Beauftragter von ihm«, stellt sie fest, nun ganz
+sicher geworden.
+
+»Na, das mag ja sein, aber wenn's richtig wäre, dürfte nur der Kapitän
+selber die Karte haben.«
+
+Wie leicht läßt sich der Mann von der Ansicht einer Frau, die etwas mit
+Bestimmtheit zu sagen versteht, überzeugen! Der Wächter geht nun mit
+der sicheren Meinung nach Haus, daß der Kapitän doch blaue Augen und
+einen blauen Anzug hat.
+
+Aber Herr Gregor muß am Abend bestätigen, daß der Kapitän ein kleiner
+Herr mit steifen Beinen in einem grauen Anzug ist. Ja, ein schmales
+brünettes Gesicht hat er und dunkle Haare auch, darin stimmt er in der
+Beschreibung mit Frau Reiche überein, denn Herr Gregor sah ihn heute
+früh im Stadtbureau.
+
+»Das will ein Kapitän sein«, ruft Frau Reiche ein paarmal aus, und sie
+holt sogar ihren Mann herbei, um ihm zu berichten, daß sie als erste
+den Kapitän gesehen hat. So aufgeräumt und lustig ist sie lange nicht
+gewesen wie an diesem Abend. Immer wieder deckt sie komische Seiten
+dieses Mannes auf, der mit einer Liste in der Hand hinter seinen Möbeln
+hergerannt war, und der ein Kapitän sein soll.
+
+Sie wird vor Freude darüber so unvorsichtig, daß sie in Gegenwart ihres
+Mannes Herrn Gregor auf die Schulter schlägt und mit einem zärtlichen
+Blick ihrer feuchten Augen versichert:
+
+»Na, dann habe ich keine Sorge mehr!« Mit dem Kapitän wollte sie fertig
+werden!
+
+Herr Gregor hat einen Zettel mitgebracht, der am Wächterhaus befestigt
+wird. Darauf steht zu lesen, daß alle abkömmlichen Hafenbeamten
+und -arbeiter sowie die Herren Bauleiter zu einer Besprechung am 1.
+August um 11 Uhr vormittags von Generaldirektor Becker in den großen
+Kantinenraum gebeten werden.
+
+Wer seinen Platz verlassen kann, erscheint am nächsten Tage pünktlich
+und guckt sich den neuen Hafendirektor an. Der junge Generaldirektor
+stellt ihn mit einer kurzen Rede vor.
+
+»Jeder, der Wünsche und Beschwerden hat, wird gebeten, sich an die
+Hafendirektion zu wenden. Die oberste Leitung bleibt nach wie vor bei
+der Generaldirektion in der Stadt.« Das sind seine letzten Worte.
+
+Auch der Kapitän spricht -- mit einer zerbrochenen Stimme, als kämpfe
+er gegen einen heftigen Sturm -- einiges zur eigenen Einführung. Er
+hoffe und wolle und so weiter. Es ist nichts von Belang; die schweigend
+abziehende Versammlung hat jedenfalls Neues daraus nicht entnommen.
+
+Vor der Tür verweilen sie noch einen Augenblick und sehen einander an.
+
+»Tja«, sagt wohl der eine oder andere.
+
+»Nun, wir wollen erst einmal abwarten!« Damit scheint zunächst die Ruhe
+und Ordnung im Hafen wiederhergestellt.
+
+Joachim Becker ist dann mit dem Kapitän ins Verwaltungsgebäude
+hinübergegangen, sie sind durch die leeren Bureauräume des
+Erdgeschosses gewandert, die der Kapitän nun allmählich mit seinem
+Personal beleben soll. An der Treppe zum oberen Stockwerk sagt der
+Generaldirektor:
+
+»Meine Frau kommt also heute nachmittag, um Ihnen in der Einrichtungs-
+und Bedienungsfrage ein wenig zu raten. Sie wollte es sich nicht nehmen
+lassen.«
+
+»Das ist sehr liebenswürdig,« sagt der Kapitän, »das ist ganz reizend«,
+und er reibt seine trocknen Hände, daß es raschelt.
+
+»Ich habe Rechtsanwalt Bernhard gebeten, meine Frau zu begleiten.
+Er ist ein Freund der Familie Friemann und kann Sie als unser
+Rechtsbeistand gleichzeitig über einige juristische Fragen flüchtig
+unterrichten.«
+
+»Rechtsanwalt Bernhard«, wiederholt der Kapitän, um sich den Namen
+einzuprägen. »Sehr schön, sehr schön!«
+
+Sie gehen um die Schmalseite des fertigen Hafenbeckens herum, das
+gerade vor dem Verwaltungsgebäude endet, und spazieren am Kai entlang.
+
+Generaldirektor Becker, der soeben von einer Reise aus England
+zurückgekehrt ist, zieht eine Pfeife aus der Tasche, stopft sie
+geschickt mit einer Hand, während er die Linke in der Hosentasche
+hält, und steckt sie in den Mundwinkel. Er sieht dabei fast wie ein
+leibhaftiger Engländer aus.
+
+»Ja«, sagt er, »die englischen Häfen. Davon können wir noch viel
+lernen.«
+
+Vor der Lagerhalle I bleiben sie stehen, um dem Lagerkontoristen einen
+Besuch zu machen.
+
+Herr Karcher springt beim Eintritt der beiden Herren von seinem Stuhl
+auf, und siehe da: er ist nicht viel kleiner als der Kapitän.
+
+Sie beratschlagen kurz, ob es besser sei, Herrn Karcher hierzulassen
+oder in das Verwaltungsgebäude hinüberzunehmen, doch der Kapitän ist
+dafür, daß alles beim alten bleibt.
+
+Der Generaldirektor muß sich nun verabschieden und empfiehlt dem
+Kapitän Herrn Karcher zur weiteren Führung. Aber der Kapitän will sich
+selbst orientieren.
+
+Er begleitet Joachim Becker vor die Tür und beginnt seinen Rundgang
+beim Bodenmeister Ulrich in der Lagerhalle II.
+
+Nun ist der große Augenblick für den weltgereisten Herrscher des
+künftigen Getreidespeichers gekommen.
+
+»Also Sie sind der Getreidefachmann«, sagt der Kapitän auf eine
+diesbezügliche Bemerkung hin.
+
+»Ja,« erwidert der Bodenmeister mit strammer Haltung, »im Hafen von
+Rustschuk bin ich zehn Jahre tätig gewesen.«
+
+»Ei sieh da, Rustschuk!« ruft der Kapitän gutgelaunt aus. »Da ist ein
+hübsches Schloß. Und an neunundzwanzig Moscheen kann man sich mehrere
+Tage lang nicht sattsehen. -- Rustschuk«, wiederholt er in freundlicher
+Erinnerung, während er vorangeht und die Lagerwaren betrachtet.
+
+Bodenmeister Ulrich folgt ihm stumm, betroffen. Vom großen Donauhafen
+wollte er sprechen, von seinem technischen Wissen, aber die Moscheen
+hat er nicht gezählt. Einsilbig erklärt er die Art der eingelagerten
+Waren, und als der Kapitän die Halle verläßt, sieht er ihm
+kopfschüttelnd nach.
+
+Nun kommt die Lagerhalle mit den Ölen und Fetten an die Reihe, auch
+das große Freilager an Kohlen und Schrott wird besichtigt, der Kapitän
+sieht sich alles eingehend an und sagt:
+
+»Sehr schön, sehr schön.«
+
+Dann bleibt er noch eine Weile beim Lademeister stehen und unterhält
+sich mit ihm. Zum Schluß sagt er:
+
+»Ja, da will ich Sie also nicht länger von der Arbeit abhalten«, und
+geht weiter.
+
+Er stellt sich nicht hin und sieht den Leuten zu, bis sie unsichere
+Hände bekommen. Er spricht sie an und plaudert mit ihnen.
+
+Selbst mit dem kleinen flachsblonden Tom vom Schiffer Jensen will er
+sich unterhalten. Der verschmitzte Bengel ist gerade der Schwester Emmi
+davongelaufen, um zu seinem Pudel auf des Vaters Kahn zu flüchten.
+
+»Na, was machst du denn hier?« fragt der Kapitän mit seiner heiseren
+Stimme, lächelnd.
+
+Das ist wohl nicht der richtige Verkehrston für Tom, denn er rennt
+brüllend weiter. Es gelingt Schwester Emmi, ihn vor der Flucht auf
+den Kahn zu erreichen, denn hier wird ausgeladen, und da hat ein
+vierjähriger Bengel nichts zu schaffen.
+
+»Warum ist er denn fortgelaufen?« fragt der Kapitän die Schwester.
+
+»Er ist heute noch nicht gewaschen, denn seine Mutter liegt im
+Krankenhaus. Wie ich mich umdrehte, um den Schwamm zu nehmen, rannte er
+davon.«
+
+Diese wilde Wasserratte, der Tom, auf dem Wasser geboren und immer dem
+Wasser nahe, vor einem nassen Schwamm hat er Angst. Der Kapitän lacht.
+
+»Sie gehören auch zum Hafen?« fragt er.
+
+»Ja,« sagt Schwester Emmi, »ich bin die Fürsorgeschwester.«
+
+»So, so, da haben Sie ja eine schöne Aufgabe. Vielleicht besuchen Sie
+mich einmal heute nachmittag, damit wir uns darüber unterhalten
+können.«
+
+Schwester Emmi bekommt Herzklopfen. Natürlich kann man sich darüber
+unterhalten, da gibt es viel zu berichten, aber warum nicht gleich,
+warum erst nachmittags, so daß sie bis dahin vor Angst vergeht?
+
+»Um welche Zeit, bitte?« fragt sie.
+
+»Nun, so gegen sieben.«
+
+Der Lademeister sieht einen Augenblick auf. Es geht ihn ja nichts an,
+aber er denkt: bisher war hier im allgemeinen um vier Uhr Schluß für
+diejenigen, die frühmorgens angetreten sind, und Schwester Emmi ist
+immer mit den ersten auf den Beinen. Jedenfalls wollte er einmal mit
+seiner Frau darüber sprechen, was das für eine Art sei, ein junges
+Mädchen um sieben Uhr in die Wohnung zu bestellen, denn ein Bureau ist
+noch nicht vorhanden.
+
+Zwei Stunden später bereits hat der Kapitän mit der Generaldirektion
+telephoniert und Möbel für zwei Bureaus angefordert, dazu eine
+Sekretärin. Denn nun weiß er, was er im Hafen zu tun hat.
+
+Als nachmittags um fünf Uhr Frau Generaldirektor Adelheid Becker mit
+Rechtsanwalt Bernhard im Hafen vorfährt, wird sie bereits im neuen
+Privatkontor des Hafendirektors empfangen. Ja, das ist schnelle Arbeit!
+
+Frau Adelheid kann sich gar nicht fassen, so erstaunt ist sie über die
+vielen Fortschritte im Hafen. Sie hat ihn seit der Geburt ihrer Tochter
+nicht gesehen.
+
+»So, ein Töchterchen?« fragt der Kapitän, mit einem Blick auf ihr
+kindliches rundes Gesicht.
+
+Sie errötet. »Ja,« sagt sie, »ich bin sehr glücklich darüber. Aber mein
+Mann wollte eigentlich einen Sohn.«
+
+»Es ist ein reizendes Kind«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Es hat ganz
+und gar die Augen der Mutter.«
+
+»Das sind die Friemannschen Augen,« sagt Frau Adelheid, »sie sehen bei
+dem Kinde so traurig aus. Aber das verliert sich wohl.«
+
+Rechtsanwalt Bernhard findet, daß Frau Adelheids Augen auch nicht
+lustiger sind, ja sie dünken ihn sogar sehr traurig, und es wird
+immer schlimmer damit. Als er die junge Frau abholte, waren die Lider
+verdächtig gerötet, und Rechtsanwalt Bernhard gäbe viel darum, wenn er
+das strahlende Lächeln der Adelheid Friemann aus der Tanzstundenzeit
+nur ein einziges Mal wiedersehen könnte.
+
+»Wissen Sie noch,« fragt er, um sie abzulenken, »als wir zum ersten
+Spatenstich hier waren?«
+
+»Ach ja«, ruft sie begeistert aus. »Das war hier alles ebene Erde mit
+ein paar Bäumen. Und -- ach, was meinen Sie wohl, Herr Doktor, wo mag
+das gewesen sein -- der Platz mit den Linden und den langen Tafeln, wo
+wir nach der Feier gefrühstückt haben?«
+
+Ihr Gesicht ist selig verklärt, während sie zum Fenster hinausspäht und
+den Platz sucht, zu dem ihr Mann sie damals geführt hatte, als sie sich
+so glücklich geborgen fühlte, nachdem sie vorher wie ein verirrtes Kind
+war.
+
+Rechtsanwalt Bernhard überlegt. Plötzlich sagt er sehr laut und selbst
+überrascht:
+
+»Ja, denken Sie, das war hier, genau hier, wo wir jetzt stehen. Man hat
+das Verwaltungsgebäude auf diesen Platz gebaut. Ich weiß es bestimmt,
+denn wir hatten den Blick auf den Kanal und die --«
+
+Er stockt, denn er wollte sagen »die Mühle«, aber gerade in diesem
+Augenblick will er Frau Adelheid nicht an die Nachbarn erinnern, über
+deren Bedeutung sie sicher unterrichtet ist.
+
+Darum sagt er weiter: »Und die lange Tafel, an der wir die belegten
+Brote aßen, hat vielleicht gerade hier gestanden, einen Meter unter uns
+auf der weichen Erde. Ich weiß noch, wie Sie mit Ihrem schmalen Absatz
+fast eingesunken waren, so locker war die Erde.«
+
+»Ja, wissen Sie das?« fragt sie gedankenlos. Es fällt ihr nicht einmal
+auf, daß Rechtsanwalt Bernhard damals anscheinend gar zu genau ihre
+Füße betrachtet hat, so erfüllt ist sie von dem beseligenden Gefühl,
+auf diesem Platz zu stehen.
+
+»Und später,« sagt sie dann, um sich endlich von der Erinnerung
+loszureißen, »später war ich einmal hier, da habe ich nur Löcher
+gesehen. Überall wurde die Erde aufgerissen, aber es war noch kein
+Wasser im Hafenbecken, und noch nicht ~ein~ Gebäude wuchs heraus.
+Seitdem bin ich, offen gestanden, nicht hier gewesen.«
+
+Sie sprach die letzten Worte etwas leiser, als sei es ihr peinlich, das
+eingestehen zu müssen.
+
+»Dann darf ich hoffen,« sagt der Kapitän verbindlich, »daß Sie durch
+mich heute einen willkommenen Anlaß zum Besuch fanden?«
+
+»Ach ja«, erwidert sie, von neuem errötend. Sie fühlt sich so erkannt.
+
+Der Kapitän bietet ihr eine Führung durch den Hafen an. Sie wehrt ab.
+
+»Nein,« sagt sie, »dann wird man von den Menschen so angestarrt. Ich
+kann es auch von hier sehen.«
+
+Das Klingeln des Telephons befreit sie in diesem Augenblick aus
+ihrer Verlegenheit, denn nun wird der Kapitän von ihr abgelenkt, und
+Rechtsanwalt Bernhard ist ihr schon etwas vertrauter. Sie stellen sich
+ans Fenster, während der Kapitän in den Apparat spricht.
+
+Plötzlich hört Frau Adelheid ihn sagen: »Gewiß, Herr Kommerzienrat,
+also morgen früh.«
+
+»Ach -- Papa,« ruft sie aus und macht unwillkürlich mit erhobenem Arm
+einen Schritt zum Telephon.
+
+Der Kapitän hat sie verstanden und bittet den Kommerzienrat, einen
+Augenblick zu warten.
+
+Sie nimmt den Hörer.
+
+»Ja, ich bin hier -- Papa -- Adelheid.« Sie sagt diese Worte mit
+ganz kleiner schüchterner Stimme, wie ein Kind, das zum erstenmal
+telephoniert.
+
+Die beiden Herren sind höflich zur Seite getreten. Der Kapitän
+erkundigt sich nach den Prozessen, der Rechtsanwalt ist jedoch dafür,
+in dieser Angelegenheit an einem anderen Tage vorzusprechen.
+
+»Ja -- ja,« sagt Frau Adelheid nun mit fast ersticktem Ton.
+Rechtsanwalt Bernhard sieht plötzlich das vermißte reizende Lächeln auf
+ihrem heißen Gesicht. Es hält noch an, als sie den Hörer hinlegt und
+sagt: »Papa kommt sofort hierher.«
+
+Dann setzt sie eine ernste hausfrauliche Miene auf und erwähnt den
+eigentlichen Zweck ihres Besuches: dem Kapitän behilflich zu sein. Sie
+fragt, ob er schon einen Tapezierer für seine Wohnung habe, und wie es
+mit der Reinigung stehe.
+
+Er dankt ihr sehr herzlich, die Vorhänge und Gardinen habe heute
+nachmittag -- soeben, ehe sie erschien -- der Dekorateur befestigt, der
+mit den Geschäftsmöbeln kam. Die Reinigung könne die Frau übernehmen,
+die drüben im Lager das Kontor versehe.
+
+»Ich dachte an eine Wirtschafterin, die man Ihnen besorgen könnte, des
+Essens wegen«, sagt sie hilfsbereit.
+
+Nein, das sei nicht nötig. Er würde in der Kantine essen.
+
+»Ach, Sie sind ja ein sehr anspruchsloser und praktischer Junggeselle.«
+
+»Ja, das wird man mit der Zeit«, sagt er; aber weil sie sehr enttäuscht
+scheint, und damit sie den Zweck ihres Besuches nicht verfehlt habe,
+meint er, daß er in anderen Fragen gern ihren Rat erbeten hätte, in
+Geschmacksfragen bezüglich der Einrichtung. Ob er ihr die Wohnung
+zeigen dürfe.
+
+»Ach ja.« Sie ist sehr erleichtert, und nun gehen sie zu dritt in die
+erste Etage.
+
+Frau Adelheid gefällt alles sehr gut. Sie haben das Eßzimmer und das
+Arbeitszimmer besichtigt. In den Schlafraum hat sie nur durch die
+offene Tür einen scheuen Blick geworfen.
+
+»Diese schönen alten Möbel,« sagt sie vor dem breiten
+Mahagoni-Schreibtisch, »sie haben sicherlich einen großen Wert.«
+
+»Das kann sein. Für mich sind es jedenfalls kostbare Erinnerungen. Sie
+stammen noch von meiner Mutter.«
+
+»Sie sind musikalisch?« fragt Rechtsanwalt Bernhard, mit einem Blick
+auf den Geigenkasten.
+
+»Ein wenig. Nur für den Hausgebrauch«, meint der Kapitän. Er geht sehr
+schnell über das Thema hinweg und fragt Frau Adelheid, ob nach ihrer
+Ansicht dieses Bild richtig hänge.
+
+»Das Bild hängt sehr schön so, es wirkt sogar ganz ausgezeichnet an
+dieser Stelle.« Nein, hier kann Frau Adelheid nichts verbessern. Sie
+merkt, daß der Kapitän ihr nur gefällig sein wollte.
+
+Zum Glück fährt in diesem Augenblick der Wagen des Kommerzienrats vor.
+Sie entschuldigt sich bei dem Kapitän und eilt die Treppen hinab, um
+ihren Vater zu begrüßen. Die beiden Herren folgen langsam. Rechtsanwalt
+Bernhard möchte sich gern über die moderne Musik mit dem Kapitän
+unterhalten; er sei sehr musikalisch. Aber der Kapitän spricht lieber
+von etwas anderem.
+
+Der Kommerzienrat ist ausgezeichneter Laune. Er hat sich in den Arm
+seiner Tochter gehakt und schlägt eine gemeinsame Besichtigung des
+Hafens vor. Nun hat Frau Adelheid keine Angst mehr, sie läßt sich
+alles eingehend erklären, obgleich sie immer wieder eingestehen muß,
+daß sie nicht viel davon begreift. Aber das Ganze macht auf sie einen
+gewaltigen Eindruck.
+
+Selbst dem Kommerzienrat imponieren die Fortschritte. Er spricht sich
+lobend dem Kapitän gegenüber aus, der doch daran noch gar keinen Anteil
+hat.
+
+»Ja, und wenn mein Sohn seinen Doktor gemacht hat,« sagt er mit
+väterlichem Stolz, »dann kann er bei Ihnen als Volontär eintreten, Herr
+Kapitän.«
+
+»Papa, er hat ihn noch nicht gemacht«, warnt Adelheid mit
+abergläubischer Ängstlichkeit.
+
+»Er ~wird~ ihn machen, mein Kind,« meint er lächelnd, »in zwei
+Monaten haben wir ein Telegramm.«
+
+Wenn er jetzt seine kleinen dicken Hände frei hätte, so würde er sie
+vor Vergnügen ineinander legen, wie es zu Hause, im Familienkreis,
+seine Art ist. Aber da er seine Tochter eingehakt hat, begnügt er sich
+damit, ihren Arm ein wenig zu drücken. Er ist, weiß Gott, der beste und
+dankbarste Vater, den man sich denken kann.
+
+»Ihr Sohn ist Nationalökonom?« fragt der Kapitän, um auch etwas zu
+sagen.
+
+»Ja, erst hatte er sich zwar allzusehr für die schönen Künste
+interessiert, wie das so in diesem Alter üblich ist, aber schließlich
+wandte er sich doch einer gesünderen Kunst zu.«
+
+Der Kommerzienrat lacht, und der Kapitän stimmt höflich ein.
+
+»Heutzutage werden die jungen Leute mit den tiefgründigen
+Kunstgesprächen geradezu aufgepäppelt, dafür haben sie es aber auch
+schneller überwunden«, fügt der Kommerzienrat hinzu.
+
+»Ja, das mag sein«, meint der Kapitän, er macht nicht den Eindruck, als
+ob er in solchen Fragen kompetent sei.
+
+Schließlich fährt der Kommerzienrat mit seiner Tochter nach Hause, und
+Rechtsanwalt Bernhard, der dem Wagen lange nachblickt, kann nun dem
+Kapitän über die juristischen Angelegenheiten berichten.
+
+Pünktlich um sieben Uhr findet sich Schwester Emmi im Bureau des
+Kapitäns ein.
+
+»Also, bitte, setzen Sie sich, Fräulein -- wie war doch Ihr Name?«
+
+»Schwester Emmi.«
+
+»Also -- Schwester Emmi -- und erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten. Wo
+sind Sie ausgebildet worden?«
+
+Schwester Emmi wird ganz zaghaft. Mein Gott, wann soll sie beginnen?
+Bei ihrer Geburt? Wo sie ausgebildet wurde? Sie ist doch eigentlich
+Säuglingsschwester. Aber das wird sie ihm nicht sagen. Sie wird seine
+Frage einfach überhören. Über ihre Vergangenheit spricht sie nicht
+gern. Von ihren Arbeiten im Hafen jedoch will sie erzählen. Natürlich
+wird sie an einer ganz falschen Stelle anfangen, sie weiß es genau.
+Doch da sie etwas sagen muß, so redet sie darauf los, kunterbunt
+durcheinander. Sie zählt alles auf, was sie bisher getan hat; dabei
+merkt sie erst, daß es, so einfach summiert, gar nicht bedeutend wirkt.
+Im Gegenteil, es ist sogar sehr wenig. Sie versucht, die gequetschten
+Finger und verstauchten Füße zu zählen, die herausgezogenen Holz-
+und Eisensplitter werden nicht vergessen, und die verwundete Hand
+des Maurers Johannes rechnet sie als fünf kranke Finger. Aber dann
+ist sie am Ende, und sie hat das Gefühl, daß nun alles verloren
+sei. In Gottes Namen! Und wenn sie wieder zurückgehen muß zu den
+egoistisch-glücklichen jungen Müttern und den hungrigen Ehemännern, so
+soll es ihr auch gleich sein. Diese Qual hält sie nicht länger aus.
+
+Aber der Kapitän sagt: »Sehr schön, sehr schön.«
+
+Und dann läuft er im Zimmer umher, immer auf und ab, mit seinen
+gespreizten steifen Beinen und erzählt auch etwas -- von einem
+Professor und einem wissenschaftlichen Institut, von klinischen
+Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen, von Lehrschwestern und
+so weiter. Die Schwester versteht nur die Hälfte davon, und sie weiß
+nicht, wohin das alles führen soll.
+
+Schließlich hört sie überhaupt nicht mehr hin. Sie sieht den Kapitän
+scheinbar andächtig und aufmerksam an und hat dabei ihre eigenen
+Gedanken. Ob dieser Mann, der hier so ledern und langweilig etwas von
+Gott und der Welt erzählt, ob er wohl schon einmal verheiratet war?
+
+Sie hat so ein Gefühl dafür, sie kann es nicht erklären, ihr Instinkt
+sagt ihr, daß dieser Kapitän mit den schmalen steifen Gliedern und
+den langen dunkelbehaarten Händen kein echter Junggeselle sei. Nun --
+wenn ihm eine Frau etwa davongelaufen sein sollte, so kann sie das
+vollkommen verstehen. Während sie seine glatt und glänzend gebürsteten
+dünnen Haare betrachtet, muß sie an Herrn Gregors vollen schwarzen
+Schopf denken, und der Vergleich fällt nicht zu des Kapitäns Gunsten
+aus. Da ist ihr doch ein weiches gepudertes Gesicht noch lieber als
+dieser kantige Kopf mit der gebräunten trockenen Haut.
+
+Endlich scheint der Kapitän mit seiner Rede fertig zu sein. Schwester
+Emmi warf einige Male ein »Ja« und »Gewiß« dazwischen, aber sie hat
+sich dabei nur nach dem Tonfall seiner Stimme gerichtet. Jetzt kann sie
+endlich wieder einen Satz dem Sinne nach erfassen, es ist, als wäre der
+Kapitän damit zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt. Er sagt:
+
+»Der Herr Generaldirektor erzählt mir, daß Sie Ihre Sache bisher sehr
+gut gemacht haben. Also lassen wir zunächst alles beim alten.«
+
+Großer Gott, dann ist es ja überstanden! Schwester Emmi atmet
+erleichtert auf und erhebt sich. Sie hat in ihrer Freude das Wörtchen
+»zunächst« ganz überhört.
+
+Der Kapitän drückt ihr fast schmerzhaft die Hand und begleitet sie zur
+Tür. Er selbst geht in seine Wohnung hinauf.
+
+Schwester Emmi blickt geblendet in die Helle des milden Sommerabends.
+
+Schiffer Jensen und Karle Töndern sitzen vor ihren Selterflaschen neben
+der Veranda. Sie grüßen die Schwester mit einem Griff an die Mützen und
+mit einem recht vertraulichen Zwinkern. Ja, ja, blitzen die listigen
+Augen, die jungen Mädchen werden nach sieben Uhr empfangen.
+
+Schwester Emmi sieht an der Hafenuhr, daß sie länger als eine halbe
+Stunde beim Kapitän war. Ihr Herz ist so angefüllt, daß sie es
+irgendwo ausschütten muß. Für dieses Geschenk ist am besten Irmgard
+Pohl geeignet; die hört sich alles schweigend an, ohne gleich von sich
+selbst zu sprechen -- wie Frau Reiche oder Herr Gregor --, und dann
+findet sie sogar noch einige ruhige Worte, die man mit nach Hause
+nehmen kann. So geht sie wieder zum »feindlichen« Nachbarn hinüber.
+
+Schiffer Jensen und Karle Töndern starren zu den Fenstern der
+Kapitänswohnung hinauf, denn ihre Köpfe sind mit diesem Problem noch
+nicht fertig geworden. Sie stammen beide von der Wasserkante, und da
+dauert es immer eine Weile, bis sie etwas zu Ende gedacht haben.
+
+Plötzlich senken sie ihre Blicke sehr interessiert auf ihre
+Selterflaschen, denn oben -- an einem Fenster -- ist der Kapitän
+erschienen.
+
+Er hat nur das Fenster geschlossen. Das an diesem milden und schönen
+Sommerabend!
+
+Die beiden haben ihrer neugierigen Blicke wegen kein ganz reines
+Gewissen, aber sie denken: Wir werden wohl hier sitzen dürfen!
+Schließlich ist die Kantine doch für uns da!
+
+Wie sie sich noch damit beschäftigen, vernehmen sie etwas Merkwürdiges:
+langgezogene Töne, wie ferne Musik.
+
+»Hörst du das auch?« fragt Karle Töndern.
+
+»Ja, freilich hör' ich das«, sagt Schiffer Jensen etwas ungeduldig. Er
+muß plötzlich an seine Frau denken, die immer noch im Krankenhaus liegt
+und die nächste Fahrt wieder nicht mitmachen kann.
+
+»Es ist eine Violine, mein' ich«, sagt Karle Töndern.
+
+»Ja, das mag sein«, erwidert Schiffer Jensen. Ihm wird immer wehmütiger
+ums Herz. Daran ist nur die verdammte traurige Musik schuld. Nun
+liegt der Tom wieder allein in der Kabuse. Aber weggeben? Da soll die
+Schwester sich nur ja keine Mühe machen. Diese blauen Augen, die in
+Toms Gesicht stecken, gibt es nur noch einmal in der Welt, und die hat
+Toms Mutter. Und wenn Schiffer Jensens Frau im Krankenhaus liegt, dann
+muß Schiffer Jensens Tom immer auf dem Kahn bleiben, denn ohne diesen
+blonden Schopf läßt sich der Kahn von keinem Schlepper ziehen. Das ist
+so gewiß, wie Schiffer Jensen jetzt hier sitzt und mit dem Ärmel über
+die Augen wischt.
+
+»Und es kommt aus der Wohnung vom Kapitän«, sagt Karle Töndern.
+
+»Hm«, macht Schiffer Jensen, denn nun bringt er keinen Ton mehr heraus.
+
+Aber da sagt auch Karle Töndern nichts mehr, und sie sitzen und horchen
+und sind ganz still.
+
+Bis wieder ein Fenster geöffnet wird und der Kapitän nach einiger Zeit
+unten in der Tür erscheint. Da stehen sie auf und ziehen ihre Mützen.
+
+Der Kapitän nickt ihnen zu und geht mit seinem gespreizten steifen Gang
+zum Hafenbecken und immer weiter bis zum Kanal hinunter.
+
+
+
+
+ Die Verhaftung
+
+
+Bei der Familie Friemann ist wirklich das Telegramm eingegangen:
+»Doktor bestanden. Gratuliere. Felix.«
+
+Das sieht diesem Bengel, diesem Erzschelm ähnlich, daß er dazu seinen
+Eltern gratuliert, anstatt seinerseits die Gratulation abzuwarten.
+
+Der Kommerzienrat war sich zwar längst über die angemessene Belohnung
+dieses tüchtigen Jungen einig, aber er beruft dennoch Frau und Tochter
+zusammen, um sich mit ihnen zu beraten. Joachim Becker ist zu sehr mit
+seinen wichtigen Aufgaben für den Hafen beschäftigt, als daß er an
+solchem Familienrat teilnehmen könnte.
+
+Die vom Kommerzienrat vorgeschlagene Nordlandreise findet auch den
+Beifall der Frauen, aber die Mutter des tüchtigen Kandidaten will
+deswegen nicht auf eine kleine Festlichkeit verzichten, ganz im
+engsten Kreise der Familie. Weil die allernächste Verwandtschaft recht
+ausgedehnt ist, kommt man immerhin auf dreißig Personen.
+
+Wann aber durfte man den Jungen zu Haus erwarten? Natürlich sollte
+er den Feiern seiner Studienkollegen nicht entzogen werden, doch
+konnte er nicht Nachricht geben, dieser unverbesserliche Schlingel,
+dieser Tausendkerl und Hallodri? Der Kommerzienrat findet immer mehr
+freundliche Schimpfnamen für seinen ungeratenen Sohn.
+
+Währenddessen hebt draußen im Park der Villa ein großer Spektakel an.
+Die Kommerzienrätin müßte nicht die Mutter ihres Sohnes sein, wenn sie
+diese Stimme nicht erkennen sollte. Mit einem Aufschrei stürzt sie zur
+Tür, sie rennt so schnell die Treppen hinab, als es ihre geschwollenen
+Beine gestatten.
+
+Rasch ist die ganze Familie im Vestibül. Hier steht ein baumlanger Kerl
+und sagt begütigend: »Aber, aber, meine Herrschaften!« Dabei kollern
+ihm die Tränen über die weichen Backen, und er muß sich dauernd bücken,
+um jemand zu umarmen. Das ist der junge +Dr.+ Felix Friemann.
+
+»F. F.« fügt er gern nach der Vorstellung seinem Namen hinzu, denn
+er ist, wie sein Vater, ein Freund von Witzen. Die Studiengenossen
+nannten ihn die »Gaslaterne«. Sein weißes kugelrundes Gesicht mit den
+Friemannschen Augen hinter den blitzenden Brillengläsern, meinten sie,
+sei die Milchglaskugel, die lange dünne Figur der Laternenpfahl. Die
+Jugend ist grausam und spottet gern über die Kuriositäten der Mutter
+Natur.
+
+Wer jedoch damit Felix Friemann ärgern will, kommt nicht an den
+rechten Mann! Er lacht wie über einen guten Witz und sagt in seiner
+überhasteten Sprache: »Gewiß, ich will mich bessern, gewiß.«
+
+Er hat die Eigenart, daß er in der Eile des Sprechens einige Silben
+verschluckt. Weil er aber seinen Zuhörern diese schlechte Verständigung
+nicht zumuten will, hat er sich daran gewöhnt, ein paar Worte, die
+vielleicht verlorengegangen sein könnten, nachträglich zu wiederholen.
+
+Wer Geduld mit ihm hat oder ihn gar liebt, findet sich in dem
+Kauderwelsch ganz gut zurecht. Doch es ist merkwürdig: vor solchen
+Naturen befleißigt er sich einer ganz ausgezeichneten und normalen
+Sprechweise.
+
+Und die drei glücklichen Menschen, die ihn nun mit Begeisterung und
+Rührung begrüßen, brauchen sich weder über Wortverluste noch über
+Wiederholungen zu beklagen.
+
+Der junge Doktor ist mit allem einverstanden, mit dem Familienfest und
+mit der Nordlandreise. Wann hätte er die Vorschläge seines prächtigen
+Vaters nicht großartig gefunden?
+
+Die bevorstehende Arbeit im Hafen kann er kaum erwarten.
+
+»Denke dir, meine Kommilitonen lachten, als ich ihnen erzählte, was
+wir hier für einen Hafen bauen. Aber neulich hat mein Professor
+doch wahrhaftig einmal im Kolleg das Projekt erwähnt. Na, ich habe
+euch ja gleich darüber telegraphiert. Er fand es phänomenal und --
+durchführbar!«
+
+»Wenn so ein Theoretiker das schon durchführbar findet, nicht wahr?«
+fragt der Kommerzienrat lachend. »Nun will ich dir auch gleich
+verraten, daß ich dem Professor durch die Hafengesellschaft ein
+ausgezeichnetes Exposé einschicken ließ.«
+
+»Also, das ist die Veranlassung gewesen?« fragt der Sohn ehrfurchtsvoll
+und erstaunt.
+
+»Ja,« sagt die Kommerzienrätin stolz, »was unser Papa alles zustande
+bringt! Er belehrt sogar die Professoren.«
+
+Hier sind vier Menschen, die mit allem einverstanden und zufrieden
+sind, die sich nichts Besseres mehr wünschen.
+
+Was ist so ein unschlüssiger Schürzenjäger wie Herr Gregor dagegen
+für ein unglücklicher Mensch! Nun treibt er die Tyrannei im Hause
+Reiche tatsächlich doch auf die äußerste Spitze, und man kann nicht
+voraussagen, wie lange die verliebte Kantinenwirtin sich das noch
+gefallen läßt.
+
+Er findet ihr Essen miserabel, aber sie sagt nicht: »Sie haben ja schon
+seit mehreren Monaten nichts mehr dafür bezahlt.« Sie flüstert: »Wenn
+es angebrannt ist, so wirst du wohl am besten wissen, woran das liegt.«
+
+Was erwidert darauf Herr Gregor? Er schlägt mit der flachen Hand auf
+den Tisch und steht auf. An der Tür sagt er verächtlich: »Was haben Sie
+wieder für eine schmutzige Schürze umgebunden?«
+
+Es hilft Frau Reiche nichts, daß sie sofort eine schneeweiße breite
+Schürze holt, und daß sie sich abends in ihrem besten Kleid auf die
+Veranda setzt. Da muß sie zuweilen den Kopf auf die Arme werfen und
+heftig schluchzen. Und sie beruhigt sich erst, wenn sie endlich den
+festen Entschluß gefaßt hat, Schwester Emmi Salzsäure ins Gesicht zu
+gießen.
+
+Ihr Mann muß immer öfter hinter dem Schanktisch stehen und in seiner
+schwerfälligen Art Selterwasser und Milch verkaufen. Früher hat Frau
+Reiche in der Küche das beste Essen zustande gebracht und dabei immer
+noch Zeit gefunden, mit den Gästen ein freundliches Wort zu wechseln.
+
+Jetzt hat nicht nur die Güte des Essens nachgelassen, die
+Kantinenbesucher finden auch die Bedienung nicht flink und freundlich
+genug. Der ehemalige Bäckermeister ist kein redseliger Mann, und mit
+den guten Eigenschaften seiner Frau kann er sich freilich nicht messen.
+Deswegen ist er auch schon sehr bescheiden geworden.
+
+Seine Frau versteht es, gut einzukaufen und mit den Lieferanten fertig
+zu werden, sie eignet sich prächtig dafür, solchem großen Betrieb
+vorzustehen, ohne es jemals geübt zu haben; er aber kann nur das, was
+er in seinen Jugendjahren gelernt hat: Brot und Semmeln backen. Schon
+mit dem Kuchen hat es immer etwas gehapert, der war den Leuten nicht
+fein genug.
+
+So begnügt er sich nun damit, das zu tun, was seine Frau ihm befiehlt,
+und er hat keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leibe, denn sonst würde er
+sich dagegen sträuben, zur Bewachung der Wirtschaftsräume in einer
+Kammer hinter der Kantine zu schlafen, während seine Frau das schöne
+große Schlafzimmer im ersten Stock allein gar nicht ausnutzen kann.
+
+Seitdem die Küchenmädchen in der Hafenwirtschaft mit Frau Reiche nicht
+mehr zurechtkommen und alle acht Tage wechseln, hat Fräulein Spandau,
+die neue Sekretärin des Hafendirektors, sich daran gewöhnt, das
+Mittagessen für den Kapitän selbst abzuholen. Dabei hat sie auch immer
+noch ein freundliches Wort für den Kantinenwirt, ja manchmal kann sie
+ein paar Minuten bei ihm stehen, während das Essen eingefüllt wird,
+und sich dafür interessieren, wie es in einer mustergültigen Bäckerei
+zugehen muß. Sie ist nicht die Spur eingebildet auf ihren Posten, denn
+sonst würde sie nicht freiwillig mit einem Tablett in der Hand über den
+Platz gehen, was einer Sekretärin wirklich nicht zukommt.
+
+Der Kapitän weiß solchen Liebesdienst auch nach Gebühr zu schätzen.
+
+Er spricht den »besten Dank« immer doppelt aus, und obgleich er im
+Laufe der Monate sich schon daran gewöhnt haben sollte, so steckt immer
+auch etwas Verlegenheit hinter seinem Ton.
+
+Ja, Fräulein Spandau ist nun schon einige Monate im Hafen. Die Zeit
+verfliegt so rasch, daß man es selbst kaum merkt. Man geht durch das
+Tor des Hafens an einem Wächter vorbei und neben dem Gesicht eines
+anderen Mannes hinter dem Guckloch wieder hinaus, und siehe da: ein
+Tag ist um. Wenn man jedoch am nächsten Abend einmal um sich schaut,
+so hat der Turm des Verwaltungsgebäudes plötzlich sein siebentes
+Stockwerk aufgesetzt, das zweite Hafenbecken ist von fertigen Kaimauern
+eingefaßt, und der Getreidespeicher -- ja, der Getreidespeicher sieht
+aus, als stände er fix und fertig da.
+
+Aber wer das glaubt, der versteht nichts von einem modernen richtigen
+Getreidespeicher, der ist ein Laie, eins der verächtlichsten Geschöpfe,
+die für den Bodenmeister Ulrich existieren. Denn nun sind erst
+die wahren Künstler an der Arbeit, die Ingenieure, die den ganzen
+technischen Apparat einbauen.
+
+Dem Bodenmeister Ulrich lacht das Herz im Leibe, wenn er das mit
+ansieht. Auch mit dem neuen Hafendirektor hat er sich wieder
+ausgesöhnt, denn er ist inzwischen dahintergekommen, daß der Kapitän
+nicht nur Moscheen im Kopf hat, er versteht auch sonst etwas von den
+Angelegenheiten eines Hafens.
+
+Nun gibt es Menschen mit einem geweiteten Horizont, die sehen sich
+nicht nur innerhalb der Mauern des Hafens um, die blicken darüber
+hinaus zu den Nachbarn links und rechts. Und man muß staunen, was da
+alles vor sich geht.
+
+Der Müller hat zwar schon immer einen Getreidespeicher, eine Mühle
+und ein schmuckes kleines Wohnhaus jenseits des Kanals gehabt, doch
+ist der Speicher nicht um zwei Stockwerke höher geworden? Und wenn
+der Bodenmeister Ulrich sich so sehr viel auf das kommende Becherwerk
+und die Getreideheber einbildet, so soll er nur schweigen: der
+Mühlenbesitzer Pohl hat das alles längst. Er holt sich sein Getreide,
+das direkt aus Rumänien und Rußland kommt, damit selbst aus den
+Kähnen, und wenn es gebraucht wird, geht es ebenso maschinell in die
+Mühle hinüber. Da gibt es keine gebückten Menschen, die schwere Säcke
+hin- und herschleppen. Ein fleißiger Kran holt auch die Mehlsäcke aus
+der Etage heraus, in der sie gerade liegen, und führt sie zu einem
+Schiff hinüber, wenn sie dafür bestimmt sind, auf dem Wasserwege
+weiterzureisen. Was jedoch auf den Bahnhof oder in die Stadt befördert
+werden soll, wird auf Wagen geladen, denn Eisenbahnwaggons fahren an
+der Mühle noch nicht vor. Nein, über einen Gleisanschluß verfügt der
+Müller nicht. So weit hat er es nicht gebracht.
+
+Gleisanschlüsse sind nur im Hafen. Da stehen sogar eigene Lokomotiven
+in einer Halle, die laut zischen und pfeifen, wenn sie angeheizt
+werden, und die vielen Gleise geben dem Hafen ein recht industrielles
+Aussehen. Natürlich sind auch schon ein paar Kräne da, und wenn die
+Freilagerplätze mit Kohle oder verrostetem alten Eisen in hohen Bergen
+geradezu überschüttet sind, so kann sich ein einzelner Müller mit
+seinem Betrieb nicht allzu stolz daneben sehen lassen.
+
+Trotzdem schöpft er seinen Vorteil aus der Nachbarschaft des Hafens,
+und er hätte weder einen Anbau an seine Mühle gebraucht noch soviel
+Lagergetreide in seinen Räumen, wenn der erste Getreidespeicher des
+Hafens nicht in die Luft geflogen, sondern rechtzeitig fertiggestellt
+worden wäre.
+
+So aber mußte man erst die anderen langgestreckten und flachen
+Lagerhallen bauen, und die Firma Friemann, Getreide +en gros+,
+lagert ihre Riesensendungen für Übersee so lange in den Seehäfen.
+
+Wer etwa die Ansicht vertritt, daß dieser Verlust ein Unglück für
+den Binnenhafen sei, hat nicht den raffinierten Scharfsinn des
+Kommerzienrats erkannt, denn nun besitzt man gute Freunde am offenen
+Meer und die besten Verträge in der Tasche.
+
+Ja, auch Generaldirektor Becker hat fleißig gearbeitet. Er ist auf
+mehreren Auslandsreisen gewesen, aber er hat es auch nicht verschmäht,
+einige kleine unbedeutende Häfen an der Wasserkante und im Binnenlande
+zu besuchen, und wenn man hin und wieder in die Zeitung sieht, so
+kann man lesen, daß die Hafengesellschaft auch anderwärts tüchtig ist
+und den Kommunen ihre Lasten abnimmt. Joachim Becker hat mit einigen
+strategischen Stützpunkten seine Stellung befestigt.
+
+Nun ist auch sein Schwager im Hafen, der sich in das große und
+weitverzweigte Gebiet einer Hafenbewirtschaftung einzuarbeiten
+versucht und dabei ebensoviel Lust wie Unfähigkeit beweist. Aber der
+Generaldirektor ist weder ärgerlich noch traurig darüber, es kann nicht
+allein tüchtige Menschen in der Welt geben. Nur, daß der Kerl noch
+nicht richtig zu sprechen vermag, macht ihn nervös, denn man hat nicht
+Zeit, nach jedem Satz zweimal zu fragen.
+
+Die englische Shagpfeife hat er im übrigen inzwischen über Bord
+geworfen, denn sie ist ihm bei der Arbeit hinderlich. Dazu gehört
+die gleichmütige Ruhe der Engländer, und die ist ihm nicht gegeben.
+Außerdem fand er in der Zusammenarbeit mit seinen technischen und
+wissenschaftlichen Beratern an den Einrichtungen der Engländer dieses
+und jenes auszusetzen und zu verbessern.
+
+Inzwischen ist er auch in den Vereinigten Staaten gewesen, und nun
+imponieren ihm neben der gewaltigen Organisation die großartigen
+sozialen Einrichtungen der Amerikaner. Sie haben ihn seinem
+Steckenpferd, der Fürsorge, wieder mit vollen Segeln zugeführt.
+
+Die Fußballplätze und Schwimmanlagen schweben ihm wieder vor, doch
+wenn er zum Nachbar im südlichen Gelände hinüberblickt, so beschleicht
+ihn ein scheußliches Unbehagen. Da, wo seine freien Menschen ihre
+Siedlungen errichten und den Körper in sportlicher Übung kräftigen
+sollten, werden nun von der Verhüttungsgesellschaft Erze gefördert.
+
+Ja, werden denn wirklich Erze zutage gebracht? Man sollte es wohl
+annehmen, denn sie geben die Versuche nicht auf. Zwar herrschte
+zuweilen wochenlang, ja einmal sogar monatelang peinliche Arbeitsruhe,
+aber dann hatte sich anscheinend doch wieder ein Gesellschafter
+gefunden, der sein Geld in dieser aussichtsreichen Sache anlegen
+wollte, und die Sachverständigen rückten wieder an.
+
+Joachim Becker ist zum zweitenmal in seinem Leben feige und geht nicht
+hin, um sich nach den Resultaten zu erkundigen. Es scheint nicht
+immer leicht, seine privaten Gefühle mit beruflichen Interessen in
+Einklang zu bringen, selbst wenn man sonst ohne Furcht und Falsch ist.
+Die persönliche und sehr peinliche Angelegenheit, in der er sich zum
+erstenmal nach einer unredlichen Tat feige verbarg, glaubt der junge
+Generaldirektor zwar vollkommen aus seiner Erinnerung ausgestrichen zu
+haben.
+
+Nur einige Konsequenzen wollen ihn noch dafür strafen, denn nun
+fordert das Schicksal zur Vergeltung weitere Unaufrichtigkeit und
+Heuchelei. Und weil er diesen beiden Götzen gerade in seinem engsten
+Familienkreise dienen soll, so ist es am besten, wiederum zu flüchten
+und in der Arbeit unterzutauchen. Das besorgt er nun bis zur letzten
+Möglichkeit.
+
+Herr Gregor muß noch mehr als früher unter seiner Unduldsamkeit leiden,
+denn jetzt fängt Joachim Becker an, unzufrieden mit ihm zu werden.
+Dieser junge Sekretär treibt Luxus in Anzügen, Krawatten und seidenen
+Strümpfen, sieht übernächtig aus und dünkt sich für jede Arbeit zu gut.
+
+Dabei hat er ein Tätigkeitsfeld, das jedem alten Beamten schmeicheln
+würde. Seine Hauptbeschäftigung ist immer noch die Bearbeitung der
+Lieferverträge für den Hafenbau. Mit seinem flinken, merkantilen
+Verständnis für die Ausnutzung der Konjunktur und die Finanzlage der
+Bewerber hat er besonders im Anfang gute Resultate erzielt.
+
+Nun aber wird er unvorsichtig und nachlässig, und auf seinem
+Schreibtisch liegen die Papiere wüst durcheinander, so daß sich
+bestimmt kein Mensch mehr herausfinden kann.
+
+Der Generaldirektor stellt sich ärgerlich neben den Tisch und sagt:
+»Wer diese Unordnung auf dem Schreibtisch einreißen läßt, der hat sie
+auch im Kopf.« Dann geht er in das Kalkulationsbüro und erkundigt sich
+nach diesem und jenem.
+
+Herr Gregor hat zufällig auf einem der langen breiten Korridore zu tun
+und sieht Joachim Becker auch in die Hauptbuchhaltung hineingehen.
+
+Ein Kollege fragt Herrn Gregor, ob er etwas verloren habe.
+
+»Nein,« gibt er zur Antwort, »aber mir fällt eben ein, daß ich etwas
+vergaß.« Damit geht er wieder zurück.
+
+Vor dem Zimmer der Sekretärin bleibt er noch einmal mit zerfurchter
+Stirn stehen. Er hat Schweres zu denken, man sieht es ihm an, und seine
+Hände sind ganz feucht. Dann geht er hinein.
+
+»Sie haben wohl nicht die gestrigen Zahlungsanweisungen noch hier? Ich
+sehe eben, daß ich mich verrechnet haben muß«, sagt er mit belegter
+Stimme.
+
+»Nein,« erwidert die Sekretärin, »ich habe sie heute morgen
+weitergegeben. Vielleicht liegen sie noch in der Kasse.«
+
+»Ja, danke, ich will sehen, daß ich sie dort vergleichen kann.« Er
+bleibt unschlüssig stehen.
+
+»Sie werden sich aber beeilen müssen, denn es ist gleich
+Geschäftsschluß, und die Kasse öffnet ihre Schränke nicht noch einmal.«
+
+»Richtig,« sagt er, »dann will ich es noch rasch versuchen.«
+
+Er schießt nicht gleich auf den Kassenschalter zu, sondern geht mit
+schleppenden Schritten bis an das Ende des langen Korridors. Wie er um
+die Ecke biegen will, bemerkt er mit halbem Blick den Generaldirektor
+und den Hauptbuchhalter vor der Tür des Kassenraumes. Er schnellt
+sofort zurück; man sah ihn nicht, denn die beiden sind in eine leise
+und angeregte Unterhaltung allzusehr vertieft.
+
+Herr Gregor will nun mit seinen Anweisungen nichts mehr zu tun haben.
+Er holt Mantel und Hut und verläßt das Haus.
+
+Drei Stunden später trifft er vor dem Hauptportal des Hafens Schwester
+Emmi, die wieder einmal einen Besuch in der Mühle gemacht hat. Sie kann
+jetzt nicht zu jeder Stunde hinüberlaufen, denn Irmgard Pohl ist eine
+Angestellte, an Zeit und Ort gebunden. Wenn sie auch im Kontor ihres
+Vaters arbeitet, so hat sie doch keine andere Vergünstigung, als daß
+sie zu den Mahlzeiten ins Wohnhaus gehen darf, denn ihr Gehalt muß sie
+sich ehrlich und redlich verdienen.
+
+So benutzt Schwester Emmi die Abendstunden, um sich Rat und Teilnahme
+zu holen. Sie ist sehr angeregter Stimmung, denn nun hat Irmgard Pohl
+ihr endlich versprochen, den ersten Besuch im Hafen zu machen, um sich
+die kleine Wohnung der Fürsorgeschwester anzusehen.
+
+»Wenn Sie glauben, daß ich gegen fünf Uhr niemand treffen kann,« sagte
+sie, »so will ich auf eine Viertelstunde kommen.«
+
+Schwester Emmi wird ihr alle ihre hübschen Kleinigkeiten zeigen: den
+selbstgefertigten Frisiertisch mit Mullvorhängen und Fläschchen und
+Büchsen, die hübschen Kissen aus Seidenresten, Stickereien und andere
+Handarbeiten, denn ihre flinken Hände sind zu allem geschickt, sie
+können niemals ruhen.
+
+Selbst in Herrn Gregors Gesellschaft bleibt sie nicht untätig, denn an
+seiner Kleidung ist immer etwas zu verbessern. Frau Reiche, die sich
+gegen Bezahlung für diese Arbeiten verpflichtete, ist längst nicht mehr
+zuverlässig genug; sie hat es sogar fertig gebracht, ein Paar seidene
+Strümpfe, die Schwester Emmi ihm zum Geburtstag schenkte, vollständig
+zu zerschneiden.
+
+Wenn aber die praktische Arbeit geleistet ist, so folgt die viel
+schwerere Aufgabe: Herrn Gregor zu trösten und zu zerstreuen; er wird
+immer nervöser von dem schweren und aufreibenden Dienst und kann oft
+sehr mißgestimmt oder mutlos sein.
+
+Sie sieht es ihm heute sofort an, daß es schlimm um ihn steht, darum
+zwitschert sie von allen lustigen Dingen, die ihr einfallen; sie macht
+Witze und lacht selbst darüber. Sobald der schwache Schimmer eines
+Lächelns über sein blasses leidendes Gesicht huscht, ist sie sehr
+glücklich. Sie wirft nicht sobald die Flinte ins Korn, und ihre Geduld
+rührt selbst Herrn Gregor.
+
+Er hat schon gegessen und fragt, ob er bei Schwester Emmi eine Tasse
+heißen Tee trinken dürfe. Es ist mitten im Winter, und ein mitfühlender
+Mensch kann wohl verstehen, daß man auf einer Straßenbahnfahrt
+durchfriert und Verlangen nach einem freundlichen warmen Zimmer hat.
+Die großen Herren haben ihre bequemen Wagen, die andern aber, denen
+jede Möglichkeit zum Aufstieg abgeschnitten wird, obgleich sie auch
+nicht weniger verstehen, sie müssen sehen, wo sie bleiben.
+
+Ach, sie ist durch Herrn Gregors scharfe Augen über die
+Ungerechtigkeiten in dieser Welt aufgeklärt worden und kann manchmal
+recht erbittert und unzufrieden sein. Doch sie hütet sich wohl,
+solche Gefühle zu offenbaren, denn wer erst einmal als sonnige Natur
+verschrien ist, hat nicht mehr das Recht, sich anders zu zeigen.
+
+So bewirtet sie Herrn Gregor mit heißem Tee und freundlichen Worten.
+Sie rauchen auch eine Zigarette miteinander, und als endlich eine
+richtige Unterhaltung in Gang kommt, hat sie sogar ihre Angst vor Frau
+Reiche vergessen, die angedroht hat, den Kapitän zu holen, wenn die
+Fürsorgeschwester noch einmal Herrenbesuch in ihrem Zimmer empfängt.
+
+»Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die mich ganz zermürben,« sagt
+Herr Gregor, »Sorgen mögen auch daran schuld sein.«
+
+»Aber was sollten Sie denn für Sorgen haben? Da ist doch kein Mensch,
+der Ihnen etwas zuleide tut, und Angehörige haben Sie auch nicht. Ja,
+wenn ich an Schiffer Jensen denke, dem im Herbst die Frau gestorben
+ist. Jetzt lebt er ganz allein mit dem kleinen Tom, und das Schlimmste
+ist, daß er nun, während er im Winterlager liegt, nicht durch Arbeit
+und Abwechslung abgelenkt wird und immerfort daran denken muß. Sie
+haben doch Ihre Arbeit und ein schönes Einkommen dazu.«
+
+Das mit dem Einkommen hat sie nicht ohne einen Zweck gesagt, sie
+erwähnt es in letzter Zeit öfter. Ist es nötig, daß ein einzelner
+Mensch ganz allein davon lebt und sich einen Anzug nach dem anderen
+kauft? Nicht genug damit, er trägt sein Geld auch noch in die Bars
+und Tanzlokale, und es kommt vor, daß er sich kleine Summen von
+Schwester Emmi oder Frau Reiche leihen muß, wenn er in augenblicklicher
+Verlegenheit ist.
+
+Wäre es für so einen Menschen nicht besser, eine solide und praktische
+Frau zu heiraten, die ihn ans Haus fesselt und sein Heim gut
+verwaltet? Sie hätte nichts dagegen, Frau Gregor zu werden, und aus
+keinem andern Grunde behandelt sie ihn zuweilen schlecht, wenn er mehr
+Entgegenkommen erwartet. Sie weiß, was man tun muß, um von einem Mann
+geachtet oder gar geheiratet zu werden, und sie ist, seitdem sie die
+Fürsorgestelle im Hafen hat, ihren Vorsätzen treu geblieben.
+
+Fand sie nicht erst kurz zuvor eine Bestätigung für die Richtigkeit
+ihrer Erkenntnis, da selbst bei einer Irmgard Pohl keine Ausnahme
+gemacht wurde? Sie hat ein weites Herz, doch jetzt ist sie
+fünfundzwanzig Jahre alt, und da muß eine Frau mindestens wissen, was
+sie will.
+
+»Nein,« sagt Herr Gregor mit schwachem Lächeln, »solche Sorgen habe
+ich nicht. Sie sind ja auch immer gut zu mir, darüber kann ich nicht
+klagen.«
+
+Das klingt fast wie eine Werbung. Schwester Emmi rückt auch nicht ab,
+während seine kalte Hand nach ihr tastet.
+
+»Aber ich hatte sehr schwere Geldverluste. Ein Rechenfehler, den ich
+nicht rechtzeitig bemerkt habe. Später fehlte mir der Mut, es zu
+melden, und nun muß ich den Verlust tragen.«
+
+»Das ist ja empörend«, ruft sie geradezu erregt aus. »Verlangt man auch
+noch von Ihnen, daß Sie Geld zusetzen? Nein, das dürfen Sie sich nicht
+gefallen lassen!«
+
+»Ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst daran schuld sei, weil ich es nicht
+rechtzeitig meldete. Jetzt würde man es mir einfach nicht glauben.«
+
+»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist das eine bodenlose
+Ungerechtigkeit.«
+
+»Ja, das glaube ich, daß Sie das nicht verstehen. Es ist auch zu
+kompliziert, als daß ich es Ihnen auseinandersetzen könnte. Es muß sich
+in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen entscheiden, was daraus
+wird. Dann darf ich wohl alles erwarten, wenn ich es nicht vorher
+gutmachen kann. Doch das Schlimmste wird sein, daß ich mir dann eine
+Kugel durch den Kopf schießen muß.«
+
+»Großer Gott, was sagen Sie da?« Sie ist aufgesprungen und läuft ganz
+entsetzt in ihrem kleinen Zimmer umher.
+
+»Ist es denn so schlimm?« flüstert sie, während sie vor ihm
+stehenbleibt und die Hand auf seine Schulter legt.
+
+Da wirft er den Kopf nach vorn und stöhnt laut und gurgelnd auf. Die
+Spannung der entsetzlichen letzten Wochen mit den fortdauernden kleinen
+Unterschlagungen, von denen eine immer die andere nach sich zog, die
+Erregung des heutigen Tages, da er sich entdeckt glaubt, das alles löst
+sich in einem Schluchzen auf.
+
+Die Tränen fließen an seinen schmalen blassen Fingern vorbei auf den
+empfindlichen Anzug. Aber er nimmt keine Rücksicht darauf, er ist nun
+am Ende seiner Kraft. Auch die betäubenden Vergnügungen in den lauten
+Lokalen, die ihn seine verzweifelte Lage doch nicht vergessen ließen,
+der übermäßige Genuß von Alkohol und Zigaretten, der versäumte Schlaf,
+das alles rächt sich nun, so daß er nicht mehr Herr über sich selbst
+werden kann.
+
+Schwester Emmi versucht es immer wieder mit freundlichen und tröstenden
+Worten, sie streichelt seinen Rücken, die vollen schwarzen Haare, und
+sie ist selbst ganz verzweifelt, weil sie ihm damit nicht helfen kann.
+
+Endlich stützt sie die Arme auf den Tisch, gräbt die Finger in ihren
+blonden Haarschopf und beginnt krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen.
+Sie überlegt so angestrengt, daß ihr Gesicht ganz zerknittert ist.
+
+Mein Gott, es müßte ihm doch irgendwie zu helfen sein. Gibt es nicht
+unzählige reiche Leute, die einem tüchtigen Menschen mit ein paar
+Brocken ihres großen Vermögens das Leben retten könnten? Sie wollte
+den sehen, der es fertigbrächte, ihn durch seine Weigerung einfach zu
+töten, wenn sie ihm die Lage schilderte, wie sie wirklich ist.
+
+Bei diesem Gedanken kommt ihr der großartige Einfall. Sie schreit
+geradezu auf vor Freude. Ja, das war ein Ausweg, sie wollte es tun!
+
+Sie packt Herrn Gregor bei den Schultern.
+
+»Hören Sie doch, ich kann Ihnen helfen! Sagen Sie mir, wieviel es ist.«
+
+Herr Gregor schüttelt sie ab und flüchtet in eine Ecke des Zimmers. Er
+dreht ihr den Rücken und trocknet mit einem seidenen Taschentuch seine
+Tränen.
+
+»Was werden Sie nur von mir denken, daß Sie mich in diesem Zustande
+sehen? Sie müssen mich verachten«, stammelt er.
+
+»Nein,« sagt sie, »ich verachte Sie nicht. Ich habe sogar den
+Generaldirektor weinen sehen, damals bei der großen Katastrophe. Er
+drehte sich um, wie Sie eben, aber an seinen Schultern habe ich es
+erkannt, daß er weinte. Nun müssen Sie mir wieder Ihr Gesicht zeigen,
+hier ist ein Schwamm, und dann sagen Sie mir, wie hoch die Summe ist,
+damit ich Ihnen helfen kann.«
+
+Und weil er sich so ungeschickt mit ihrem Schwamm anstellt, wäscht sie
+ihm das Gesicht wie dem kleinen Tom und trocknet es mit ihrem Handtuch.
+Als er sie nun mit einem zagen Lächeln im rotgeriebenen Gesicht
+ansieht, erinnert er gar nicht mehr an den gepuderten und blasierten
+jungen Mann von einst, er ist ein großer hilfsbedürftiger Junge, und
+sie gibt ihm plötzlich einen schallenden Kuß auf die kühlen Lippen. Da
+packt er sie und will sie nicht wieder loslassen.
+
+»Sie müssen vernünftig werden,« mahnt sie, »Sie sollen mir die Summe
+nennen, damit ich Ihnen helfen kann.«
+
+»Du kannst mir doch nicht mehr helfen. Es ist jetzt zu spät. Aber
+allein lassen darfst du mich heute nicht, denn sonst bringe ich mich
+um.«
+
+Schwester Emmi läßt keinen Menschen sehenden Auges in den Tod gehen. --
+--
+
+Am nächsten Vormittag kommt sie mit sehr blassem Gesicht zu Herrn
+Karcher ins Bureau.
+
+»Darf ich hier telephonieren?« fragt sie.
+
+»Ja«, erwidert er. »Aber sind Sie krank?«
+
+»Ach nein«, wehrt sie ab. »Ich habe nur ein sehr wichtiges
+Telephongespräch, dann bin ich immer vor Aufregung ganz blaß.«
+
+Herr Karcher schweigt, er beobachtet sie über seinen Federhalter
+hinweg, während sie im Telephonbuch blättert.
+
+Nachdem sich der Teilnehmer gemeldet hat, bittet sie, mit Herrn Stein
+persönlich zu verbinden. Herr Karcher will nicht indiskret sein, doch
+es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte anzuhören, denn sie
+steht direkt neben seinem Tisch.
+
+»Verreist?« stammelt sie fast tonlos. »Ja -- aber -- ja, wann kommt
+er zurück? Heute abend? Ach danke, nein.« Sie scheint zum Schluß noch
+etwas erleichtert.
+
+»Das ist doch Pech, nicht wahr?« sagt sie erklärend zu Herrn Karcher,
+»wenn man einen Menschen in so wichtiger Angelegenheit sprechen will,
+und er ist verreist.«
+
+»Ja, das ist unangenehm. Dann kommen Sie heute abend noch einmal?«
+
+»Ach ja. Aber ich habe gar nicht gefragt, um welche Zeit er zurückkommt
+und ob ich ihn noch im Bureau antreffe. Das war nämlich in seinem
+Geschäft. Mein Gott, wie dumm ich bin. Das kommt alles davon, daß ich
+mich immer so aufrege, wenn ich telephoniere. Was mache ich denn
+jetzt? Können Sie mir einen Rat geben?«
+
+»Vielleicht rufen Sie da noch einmal an?« schlägt Herr Karcher
+schüchtern vor.
+
+»Nein, nein. Dann will ich lieber heute nachmittag wiederkommen. --
+Wenn es Ihnen recht ist.«
+
+»Mir ist es immer recht, Schwester Emmi. Sehr recht ist es mir. Aber
+Sie haben einen Kummer, Schwester Emmi. Kann ich Ihnen nicht irgendwie
+beistehen?«
+
+»Was Sie denken! Es ist wirklich nichts«, meint sie mit erzwungenem
+Lächeln.
+
+»Sie haben mir die Knöpfe angenäht und mir manchmal warmes Essen
+gebracht, Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Warum kann ich Ihnen
+nicht etwas davon vergelten?«
+
+»Ach, das können Sie doch nicht«, ruft sie ganz verzweifelt aus, so daß
+sich ihre Stimme überschlägt.
+
+Dann rennt sie ohne Gruß davon. Herr Karcher sieht sie am Fenster
+vorbeiflüchten. Der kalte Nordwind zerrt an ihren blonden Haaren, daß
+sie ganz zottelig um ihr kleines Gesicht wehen.
+
+Am Nachmittag kommt sie wieder. Sie ist jetzt viel gefaßter, nur ihre
+Hand zittert, wie sie nach dem Hörer greift.
+
+Herr Stein ist noch nicht zurück. Er wird um sechs Uhr erwartet.
+
+Da läßt sie sich mit der Generaldirektion verbinden. Sie will Herrn
+Gregor sprechen. Herr Gregor sei nicht da, wird ihr geantwortet.
+
+»Er ist nur nicht in seinem Zimmer, meinen Sie?« gibt sie gereizt
+zurück.
+
+»Nein, er ist heute überhaupt nicht gekommen.«
+
+»Das ist doch nicht möglich,« sagt sie empört, »er ist doch heute
+morgen ins Bureau gegangen --«
+
+Aber da wirft sie den Hörer hin, als ob er ihr die Finger verbrenne.
+Was hat sie denn da für eine Dummheit gemacht? Wenn er nicht ins Bureau
+gegangen ist, so hatte er wohl seine Gründe dafür, und es wäre keinem
+Menschen etwas Besonderes aufgefallen, wenn sie nicht jetzt darauf
+aufmerksam gemacht hätte. Ihr blieb es vorbehalten, ihn zu verraten.
+
+Sie rennt in dem kleinen Kontor zwischen Tür und Schreibtisch umher und
+ringt die Hände.
+
+Herr Karcher hat das Telephon in Ordnung gebracht und sieht stumm und
+hilflos in sein Kontobuch. Es ist fünf Uhr und seine Arbeitszeit war
+vor einer Stunde beendet. Er mußte länger bleiben, weil Schwester Emmi
+telephonieren wollte. Was hätte sie denn sonst anfangen sollen? --
+
+Vor dem Hafentor steht Irmgard Pohl, die um fünf Uhr eingeladen war.
+Sie denkt keinen Augenblick daran, daß Schwester Emmi sie vergessen
+haben könnte; es werden wichtige Arbeiten genug vorliegen, die sie
+verhindern, ihr entgegenzugehen.
+
+Das Warten in der schönen klaren Winterluft wäre auch nicht so
+unangenehm, wenn sie nicht fürchten müßte, Joachim Becker zu begegnen
+und wenn nicht ein breiter untersetzter Herr mit einem kräftigen
+Schnurrbart gleichfalls in der Nähe des Wächterhauses spazierenginge.
+Sie weicht zwar seinen Blicken aus, aber sie fühlt, daß sie von Kopf
+bis Fuß gemustert wird.
+
+Hinter dem Tor, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, erscheint immer
+wieder ein kleiner Herr mit gespreiztem Gang, der gleichfalls jemand
+erwartet. Wenn er auf seinem merkwürdigen Spaziergang in die Nähe
+des Tores kommt, kann er sie sehen, obgleich sie sich Mühe gibt, ihm
+auszuweichen. Irmgard weiß nach Schwester Emmis Beschreibungen, daß es
+der Kapitän ist, sie hat ihn auch oft genug vom Mühlenplatz, jenseits
+des Kanals, bemerkt, ebenso wie er bei gelegentlichen Blicken zum
+Nachbarn die Mühle und ihre Angehörigen wohl beobachten kann.
+
+Als er wieder in die Nähe des Tores kommt, gibt sie endlich das Spiel
+auf. Sie geht zum Wächter und fragt nach der Fürsorgeschwester, so daß
+der Kapitän es hören kann.
+
+»Wollen Sie hier hinein?« fragt der Kapitän.
+
+Ja, wenn es erlaubt sei und sie Schwester Emmi sprechen könne. Und weil
+sie glaubt, daß man sich hier als Besucher ausweisen muß, fügt sie
+hinzu: »Ich bin Ihre Nachbarin, Irmgard Pohl.«
+
+»Ah so,« sagt der Kapitän verbindlich, »das ist sehr interessant.« Und
+dann stellt er sich vor. Sie wird hier ganz und gar als Dame behandelt,
+obgleich sie nur die Fürsorgeschwester besuchen will.
+
+Er bittet sie in sein Bureau und sendet jemand aus, der Schwester Emmi
+an ihre vernachlässigten Pflichten als Gastgeberin erinnern soll.
+
+Inzwischen plaudert er mit Irmgard Pohl, als wäre ihm nicht bekannt,
+daß sie zum Feinde gehöre. Er habe schon lange die Absicht gehabt,
+ihrem Vater einen Besuch zu machen, und er werde, wenn es erlaubt sei,
+in den nächsten Tagen vorsprechen.
+
+Irmgard kennt nicht die Absichten der Hafengesellschaft -- man hatte
+bisher nur Rechtsanwalt Bernhard gesandt --, aber sie verspricht, ihren
+Vater auf den Besuch des Kapitäns vorzubereiten.
+
+Sie ist erleichtert, als endlich Schwester Emmi erscheint, die nicht
+zu versichern braucht, daß sie über der vielen Arbeit die Einladung
+vergessen habe -- man sieht es ihr an, wie sehr sie überanstrengt und
+durch den Schrecken über ihre Nachlässigkeit verstört ist.
+
+Irmgard dankt dem Kapitän und will die Teestunde bei Schwester Emmi auf
+einen anderen Tag verlegen. Doch sie wird mit vielen Worten überredet,
+zu bleiben. Die Schwester plaudert unaufhörlich, sie kann gar kein
+Ende damit finden, sich zu entschuldigen und Erklärungen über ihre
+Vergeßlichkeit abzugeben.
+
+Was hatte sie ihr alles zeigen wollen! Aber nun ist nicht einmal Gebäck
+im Haus, und Irmgard muß selbst dafür sorgen, daß sie eine Tasse Tee
+erhält, denn Schwester Emmi ist sehr zerstreut und läuft wie ein
+Irrwisch umher, ohne etwas fertigzubringen. Auf dem Tisch liegen noch
+Zigarettenreste, und das Zimmer ist nicht aufgeräumt. So empfängt man
+einen Besuch, auf den man sich lange gefreut hat.
+
+Irmgard Pohl hat wohl gemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, es
+liegt jedoch nicht in ihrer Art, zu fragen. Sie erzählt von dem kleinen
+Michael und stellt fest, daß der Kapitän ein sehr liebenswürdiger Herr
+sei. Es war kaum ihre Absicht, sich im Hafen offiziell empfangen zu
+lassen, aber sie darf mit der freundlichen Aufnahme zufrieden sein.
+
+Schwester Emmi hat sich inzwischen etwas erholt. Sie kann sogar darüber
+scherzen, was sie für eine schlechte Hausfrau sei.
+
+Als sie sich zum Tee niedergelassen haben, wird die Tür aufgerissen,
+und Herr Gregor stürzt herein.
+
+»Kannst du mir eine Reisetasche leihen?« fragt er Schwester Emmi
+hastig, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, »ich muß sofort
+geschäftlich verreisen.«
+
+Seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, und er sieht nicht, daß
+noch jemand im Zimmer ist. Irmgard Pohl blickt peinlich berührt in ihre
+Teetasse.
+
+Schwester Emmi geht schweigend zum Schrank und reicht ihm einen kleinen
+Koffer. Er reißt ihn ihr aus der Hand und läuft wortlos davon.
+
+Die Schwester bringt auch jetzt noch keinen Ton hervor. Aber in ihrem
+Gesicht zuckt und kämpft es, daß Irmgard Pohl es kaum mit ansehen kann.
+
+Dann hört man draußen Schritte. Schwester Emmi läuft zur Tür und horcht
+angespannt. Plötzlich reißt sie die Tür auf.
+
+In diesem Augenblick geht der Kapitän mit zwei Herren vorbei. Der eine
+ist breit und untersetzt, mit einem kräftigen Schnurrbart. Sie öffnen,
+ohne anzuklopfen, Herrn Gregors Tür und verschwinden.
+
+Irmgard Pohl versucht, Schwester Emmi, die am Türpfosten lehnt, in das
+Zimmer zu ziehen. Doch sie ist wie taub, sie stemmt sich gegen alle
+milden Versuche und bleibt so lange im Korridor, bis einer der beiden
+Herren mit Herrn Gregor vorbeikommt. Der andere folgt an der Seite des
+Kapitäns.
+
+Schwester Emmi starrt auf die Handschellen, die man Herrn Gregor
+angelegt hat. Der Kapitän bleibt vor ihr stehen.
+
+»Der Herr Kommissar will nur die Personalien aufnehmen,« sagt er
+höflich, »weil Sie die Nachbarin sind. Dürfen wir nähertreten?«
+
+In diesem Augenblick bemerkt er Irmgard Pohl. Er bittet, die Störung zu
+entschuldigen.
+
+Irmgard, die mit Herzklopfen den Vorgang verfolgt hat und den Herrn
+wiedererkennt, der sie vor dem Hafeneingang beobachtet hat, steht auf
+und sagt:
+
+»Bitte. Ich wollte ohnehin gehen.«
+
+»Darf ich vorher auch Ihre Personalien feststellen?« fragt der Beamte.
+
+Sie fährt erschreckt zusammen.
+
+»Ich habe doch mit der Angelegenheit nichts zu tun«, stammelt sie. »Ich
+bin heute zum erstenmal hier.«
+
+Bei dem Gedanken, daß ihre Personalien in das Protokoll aufgenommen
+und Joachim Becker vorgelegt werden könnten, packt sie der Mut der
+Verzweiflung. Sie will ihren Namen auf keinen Fall preisgeben und sieht
+den Kapitän hilfeflehend an.
+
+Er aber meint: »Es ist lediglich eine Formsache. Die Akten sind
+vollkommen diskret.«
+
+»Nein, nein«, ruft sie aus. »Ich lasse meinen Namen nicht mit
+hineinziehen!«
+
+Da erwacht endlich Schwester Emmi aus ihrer Erstarrung.
+
+»Ich kann es beschwören, daß die Dame Herrn Gregor nicht gekannt
+hat und daß sie heute zum erstenmal hier ist. Sie ist eine frühere
+Patientin von mir. Ich bin die Fürsorgeschwester vom Hafen.«
+
+Das sind die ersten Worte, die sie seit Herrn Gregors plötzlichem
+Auftreten und seiner Verhaftung spricht, und sie gelten wieder einer
+hilfreichen Tat.
+
+Die beiden Herren schweigen.
+
+»Im übrigen«, fügt sie mutig hinzu, »weiß der Herr Kapitän den Namen,
+und er wird sich denken können, daß die Dame mit der Sache nichts zu
+schaffen hat.«
+
+Der Kommissar sieht ihn fragend an.
+
+»Wenn Sie auf die Personalien verzichten wollen?« fragt er den Kapitän,
+als dieser sich nicht äußert.
+
+»Da Sie es selbst vorschlagen -- ja.«
+
+Irmgard Pohl darf den Schauplatz verlassen. Sie blickt Schwester Emmi
+dankerfüllt an. Dann eilt sie mit kurzem Gruß davon.
+
+
+
+
+ Der Mann in der Mitte
+
+
+Auf der Föhrbrücke kehrt sie wieder um. Sie kann in dieser Erregung
+unmöglich ihren Eltern begegnen.
+
+Ihr Gesicht brennt, und sie ist von heftigem Groll gegen den Kapitän
+erfüllt. Während sie abenddunkle Straßen aufsucht, um ihre Gedanken
+zu ordnen, wird ihre Abneigung gegen ihn immer stärker. Wohl hat er
+sie sehr liebenswürdig empfangen, obgleich sie kein Verlangen danach
+hatte, seine Bekanntschaft zu machen, aber als es darauf ankam, ihr
+beizustehen, versagte er.
+
+Wie hätte Joachim Becker sich in dieser Situation benommen? Oh, er wäre
+der Zumutung des Kommissars sofort ganz energisch begegnet. Er hätte
+sie wie ein Ritter geschützt. Der Kapitän jedoch stand zwischen beiden
+Parteien und wollte niemand zu nahe treten.
+
+Sie haßt diese lauen Menschen, sie haßt den Kapitän. Nur der Gedanke an
+Schwester Emmis treue Bereitschaft söhnt sie wieder aus.
+
+Sie beginnt, sich von ihrem Groll gegen den Kapitän abzuwenden und über
+Schwester Emmis Schicksal nachzudenken. Das ist ein armer schwacher
+Mensch, der in seiner Liebe zu den anderen wirklich sehr weit geht.
+Hat sie sich nicht zuviel mit diesem eleganten, blassen Herrn Gregor
+abgegeben, der nun verhaftet werden mußte?
+
+Irmgard Pohl weiß nicht, welches Vergehen dem Herrn Gregor vorgeworfen
+wird, aber so viel stand fest, daß er von Schwester Emmi eine
+Reisetasche forderte und flüchten wollte. Er kam einfach in ihr Zimmer
+und sagte »Du« zu ihr.
+
+Frau Pohl hatte wohl recht damit, daß die blonde Fürsorgeschwester
+leichtsinnig sei und keinen moralischen Halt habe. Doch warum sollte
+sie diesen Menschen nicht auf ihre Art lieben?
+
+Da steht sie nun mutig vor den beiden Herren, läßt sich ausfragen und
+gibt klare Antworten, ihr Freund aber ist mit Handschellen abgeführt
+worden, und wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer geht, so begegnet sie
+ihm weder auf dem Korridor noch unten im Hafen. Sie wird ihn nirgends
+mehr treffen, denn er sitzt hinter dicken Mauern und hat viel Zeit,
+über seine Vergehen und über Schwester Emmis Liebe nachzusinnen.
+
+Während Irmgard Pohl ihren Beruhigungsspaziergang fortsetzt und an das
+Protokoll denkt, in dem nun ihr Name nicht verzeichnet ist, fällt ihr
+ein, daß auch eine Reisetasche für das Verfahren von Bedeutung sein
+kann. Hat der Verhaftete sie nicht für die Flucht benutzen wollen? Sie
+gehört ihm nicht, und wer sie ihm gegeben hat, macht sich der Beihilfe
+schuldig. Oh, das kluge Fräulein Pohl, das eine Handelsschule besucht
+hat und jetzt Sekretärin in der Mühle ihres Vaters ist, vermag sehr
+logisch zu denken, was sonst nicht Frauenart ist.
+
+Sie verfügt nun wieder über ihren klaren Verstand und hat alle Folgen
+eines Strafverfahrens vor Augen. Man liest nicht ohne Gewinst die
+Zeitungen und vernimmt von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen. Wer
+weiß außer ihr, daß Herr Gregor den Koffer für eine Geschäftsreise
+forderte und sonst kein Wort darüber verlor?
+
+Schwester Emmi hatte ihren Besuch mutig vor dem Protokoll gerettet. Was
+aber tat Irmgard Pohl? Sie dachte nur an die Rettung ihres Namens und
+rannte davon.
+
+Wie lächerlich erscheint ihr jetzt ihre Furcht vor Joachim Becker. Hat
+er damals daran gedacht, daß sie ihren guten Ruf verlieren könnte?
+Nein, er ließ sie im Stich und sorgte für sich selbst. Warum sollte
+ihr Name nicht im Protokoll stehen? Weil es der Name ihres Vaters ist?
+Michael Pohl ist es gleichgültig, was mit seinem Namen geschieht, wenn
+man nur vor sich selber ein anständiger Mensch bleibt und die eigene
+Achtung behält.
+
+Und darum muß sie nun zurückgehen und sich als Entlastungszeugin für
+Schwester Emmi melden.
+
+Sie wird am Hafentor ohne weiteres eingelassen, denn der Kapitän selbst
+hatte es ja erlaubt. Obgleich sie daran zweifelt, die Herren noch in
+Schwester Emmis Zimmer zu treffen, nimmt sie doch ihren Weg zunächst
+in das Gebäude der Hafenwirtschaft.
+
+Auf der Treppe begegnet ihr Frau Reiche. Irmgard hat zwar noch nicht
+die Bekanntschaft mit der Kantinenwirtin gemacht, aber nach Schwester
+Emmis lebhaften Erzählungen ist ihr keine wichtige Person des Hafens
+fremd.
+
+Frau Reiche hat rote geschwollene Augen.
+
+»Zu wem wollen Sie?« fragt sie mit harter Stimme.
+
+»Zur Fürsorgeschwester.«
+
+»Da brauchen Sie gar nicht weiterzugehen, die ist fortgegangen«, gibt
+die Kantinenwirtin zurück.
+
+»Und der Kapitän ist auch nicht oben?« fragt Irmgard. Das ist eine
+gar zu dumme Frage. Was sollte der Kapitän allein in Schwester Emmis
+Wohnung? Sie hat durch das verstörte Gesicht und die rauhe Stimme der
+Frau ihre Fassung wieder etwas verloren.
+
+»Das Bureau ist drüben. Hier hat der Kapitän noch nie gewohnt.«
+
+Wie Irmgard schon an der Haustür ist, ruft die Frau ihr keifend nach:
+»Wird denn gar keine Ruhe im Haus? Kommen schon fremde Weiber hierher
+und schnüffeln in den Korridoren?«
+
+Irmgard läßt die Tür entsetzt zufallen und eilt zum Verwaltungsgebäude
+hinüber. Die Bureauräume im Erdgeschoß sind schon verdunkelt, nur aus
+der Wohnung des Kapitäns dringt Licht. Sie geht kurz entschlossen
+hinauf und klingelt an seiner Tür.
+
+Der Kapitän öffnet selbst und ist gar nicht erstaunt, sie
+wiederzusehen. An diesem ereignisreichen Tag ist man auf alles gefaßt.
+
+Er fragt, ob sie mit in das Bureau hinuntergehen oder nähertreten
+wolle.
+
+Nein, sie möchte ihn nur einen Augenblick sprechen. Er führt sie in
+sein Arbeitszimmer.
+
+Da ist der große alte Mahagonischreibtisch, beleuchtet vom runden
+Schein einer grünbeschirmten Lampe. Auf einem Stuhl daneben steht der
+geöffnete Geigenkasten.
+
+»Ich habe Sie gestört«, sagt Irmgard entschuldigend. »Ich wollte Ihnen
+nur einige Worte sagen. Es betrifft Schwester Emmi.«
+
+»Aber wollen Sie nicht ablegen?« sagt er. »Gestört haben Sie mich
+nicht. Sehen Sie, ich bin immer allein. Ich wollte mir eben meinen Tee
+bereiten. Ich glaube, ich muß mir doch noch eine Wirtschafterin
+nehmen.«
+
+Indem er über seine Angelegenheiten plaudert, läßt er ihr Zeit, sich
+zu sammeln. Sie kann ihm plötzlich doch nicht mehr grollen, diesem
+einsamen Mann mit dem Geigenkasten.
+
+Während sie sich umwendet, um ihr Taschentuch aus dem Mantel zu
+nehmen, den er auf den Diwan gelegt hat, schließt er rasch den Kasten
+und stellt ihn hinter den Schreibtisch. Dann bietet er ihr den frei
+gewordenen Stuhl an.
+
+So, nun wird er wieder kühl, fast geschäftsmäßig. Es scheint
+wahrhaftig, als wäre es in seinen Augen eine Schande, wenn ein
+Hafendirektor Geige spielt. Er schließt seine Gefühle fest ein und geht
+im Zimmer umher, als sei nun alles in Ordnung.
+
+Irmgard bringt ihr Anliegen vor und berichtet von dem Koffer.
+
+»So,« sagt der Kapitän, »der Koffer gehört der Fürsorgeschwester? Das
+ist sicherlich noch nicht bekannt. Ich werde es jedenfalls melden. Und
+ob wir Sie brauchen, das steht noch nicht fest. Für alle Fälle danke
+ich Ihnen.«
+
+Nun wäre Irmgards Mission beendet, aber sie steht nicht auf, um ihn zu
+verlassen.
+
+»Wenn der Koffer bis jetzt keine Rolle gespielt hat,« meint sie
+unschlüssig, »so brauchen wir das Verfahren damit vielleicht nicht
+zu komplizieren. Schwester Emmi hat also anscheinend bisher mit der
+Angelegenheit nichts zu tun. Könnte man denn nicht alles beim alten
+lassen? Warum sollen wir sie unnötig hineinziehen?«
+
+Sie redet sehr vertraut mit ihm. Sie sagt »wir« und schließt ihn in
+eine Partei ein, in die er als Direktor des Hafens wohl nicht gehört.
+Das empfindet sie im Augenblick, da sie zu Ende gesprochen hat.
+
+Der Kapitän nimmt auch gleich die richtige Stellung ein.
+
+»Was Sie mir gemeldet haben,« sagt er, »muß ich weitergeben. Das übrige
+wollen wir den Gerichten überlassen.«
+
+»Ja,« erwidert sie nicht ohne Vorwurf, aber mit schwachem Lächeln, »Sie
+müssen sich schon als neutrale Person in die Mitte stellen. Aber der
+Schwester habe ich vielleicht mit meiner nachträglichen Meldung keinen
+guten Dienst geleistet.«
+
+»Das können wir nicht wissen. Und warum soll sie ihre Tasche nicht
+zurückerhalten? Es ist nur schade, daß Sie vorhin fortgegangen waren,
+denn dann hätten wir Widersprüche vermieden.«
+
+»Widersprüche?« fragt Irmgard ängstlich. Sie weiß, daß Frauen in der
+Notlage immer zuerst zu einer Lüge greifen. Was mochte also Schwester
+Emmi ausgesagt haben?
+
+»Sie meinten vorhin, daß ich mich in die Mitte stelle. Damit haben
+Sie recht. In diesem Fall gehöre ich dahin, und ich kann Ihnen nicht
+die Erklärungen geben, die Sie vielleicht wünschen. Ihren Besuch
+darf ich nicht ungeschehen machen, wenn Sie mir deswegen vielleicht
+auch grollen. Sie sehen, wie unrecht es war, vorhin von der Mitte
+abzuweichen und Ihnen die Vernehmung zu ersparen.«
+
+»Ach, sind Sie da schon von der Mitte abgewichen?«
+
+Er überhört durchaus nicht die Ironie in ihrer Frage. Sein Gesicht
+scheint, soweit es überhaupt Gefühlsregungen verraten kann, traurig und
+verfallen.
+
+»Ja,« sagt er, »wir Menschen in der Mitte werden verachtet, weil wir
+es keinem recht machen -- weder dem einen noch dem anderen. Wir haben
+keine Feinde, aber wir verschaffen uns auch keine Freunde.«
+
+Er erhebt sich und tritt damit aus dem Lichtkreis der Lampe. Dann nimmt
+er seine Wanderung im Zimmer wieder auf und spricht weiter:
+
+»Wer fragt danach, ~warum~ es ein Mensch für richtig hält, immer
+in der Mitte zu stehen und damit niemand unrecht zu tun? Wir würden
+einander viel Ärger und Leiden ersparen, wenn wir uns alle daran halten
+wollten.«
+
+Irmgard muß an Joachim Becker denken, der niemals in der Mitte steht,
+sondern immer auf der einen Seite, während er der anderen Unrecht
+zufügt. Und sie selbst gehört zu der leidenden Partei. Hätte er aber
+sonst diesen Hafen gegründet?
+
+»Wohin sollte das führen?« fragt sie den Kapitän. »Wäre dann ein Cäsar
+oder ein Napoleon möglich? Und wo blieben ihre ungeheuren Taten?
+Ich denke mir, daß jedes große Werk ein Opfer auf der anderen Seite
+fordert.«
+
+»Es gibt robuste Naturen, denen es möglich ist, die Konsequenzen
+ihrer einseitigen Handlungen zu tragen. Es steht mir fern, sie
+zu verurteilen, denn ich sehe ihren Standpunkt ebenso wie den der
+Schwachen.«
+
+»Richtig,« sagt Irmgard bitter, die jedes Wort als einen Hieb auf
+Joachim Becker empfindet, »Sie dürfen ja nicht nur die Mittelmäßigkeit
+verteidigen, Sie haben sich die Aufgabe gestellt, zwischen allen
+Parteien zu stehen.«
+
+Sie wird ungerecht, ja, ihre Worte sind fast beleidigend, aber sie
+spricht zu einem Mann, der auch ihre Ansicht verstehen muß. Was darf
+sie ihm nicht alles sagen! Wird er nicht letzten Endes jedes Wort ruhig
+hinnehmen müssen und verständnisvoll verzeihen? Die harten Worte kommen
+aus einem schwachen oder starken Gefühl; er aber steht über allen
+Schwankungen des Herzens und hat seinen Standpunkt in der Mitte.
+
+»Ach, wie schwer muß es sein, diesem Vorsatz treu zu bleiben!« fügt sie
+seufzend hinzu, während sie aufsteht und sich verabschieden will.
+
+Sie hat kein Erbarmen mit diesem einsamen Menschen, der gehetzt im
+Zimmer umherrennt und durchaus nicht den Eindruck hervorruft, als seien
+seine Empfindungen klar und geebnet.
+
+»Bitte, bleiben Sie noch«, sagt er, ohne seine Wanderung zu
+unterbrechen. »Sie wollen mich kränken. Sie sind grausam, und ich
+weiß nicht, womit ich mir das verdiente. Haben Sie nicht darüber
+nachgedacht, daß das, was Sie die Mittelmäßigkeit nennen, nach schweren
+Kämpfen aus Stärke und Schwäche erwachsen kann? Wie viele Ursachen
+dürften dafür vorhanden sein! Es gibt Erlebnisse, die das Wesen eines
+Menschen von Grund auf verändern. Ich will nicht von mir sprechen, es
+liegt mir fern, Sie damit zu langweilen. Aber nehmen wir ein Beispiel
+an. Ich will es so wählen, daß auch Sie als Frau es verstehen können:
+
+Ein Mann glaubt, sehr geliebt zu werden. Er selbst -- nun lassen wir
+das. Er vertraut ihr und begibt sich auf eine weite Reise. Er fährt
+in fremde Erdteile, vielleicht, weil es sein Beruf erfordert oder
+weil es ihm Spaß macht. Jedenfalls bleibt er sehr lange fort, und er
+hat keinen Grund, seiner Frau zu mißtrauen. Er zweifelt niemals an
+ihrer Treue, darum trifft es ihn so unvermittelt, als sie ihm selbst
+gesteht, ihn betrogen zu haben. Sie hat keine äußere Ursache, es ihm
+zu sagen, ihr Gewissen treibt sie dazu, weil sie innerlich wieder zu
+ihm zurückgefunden hat. Der Mann gehört aber nicht zu den Neutralen,
+die auch die Schwächen der anderen verstehen. Nein, er sieht nur seine
+Seite, das an ihm begangene Unrecht, das getäuschte Vertrauen. Mit
+dem Recht des Starken verurteilt er, ja, er ist ohne Gnade, und die
+Frau geht ganz verzweifelt fort. Vielleicht wissen Sie, wie grausam
+ein Mensch sein kann, wenn er nur sein eigenes Herz schlagen fühlt und
+nicht auch das Herz des anderen. Aber dann kommt die Stunde, da sich
+plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt.«
+
+Der Kapitän bleibt stehen und blickt Irmgard Pohl mit verlorenen
+Blicken an. Nein, er sieht nicht das fremde junge Mädchen, das zu ihm
+gekommen ist, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, er arbeitet an
+seinem »Beispiel«. Und er geht wieder mit gespreiztem Gang im Zimmer
+umher, während er die Hände auf dem Rücken fest ineinanderlegt.
+
+»Kaum ist sie fortgegangen, so daß er die Einsamkeit spürt, da sieht
+er auch die andere Seite. Er stellt sich wieder nicht in die Mitte,
+er springt zum anderen Extrem hinüber. Da beginnt er nun mit der
+Verteidigung der jungen Frau, die er selbst dem vielfältigen Leben
+schutzlos gegenübergestellt hat. Sie war jung und hat gefehlt, aber
+sie macht kein Hehl daraus, sie bekennt offen ihr Unrecht. Wie muß sie
+dem Manne vertraut haben, und welche Größe hat sie von ihm erwartet,
+da sie seiner Verzeihung so gewiß war. Er aber jagt sie davon. So sind
+die Menschen: wie man soeben den anderen verurteilt hat, so richtet
+man nun sich selbst. Wir finden keinen guten Weg dazwischen. Er will
+sie zurückholen, doch er weiß nicht, wo er sie suchen soll. Und er
+irrt eine ganze Nacht am Hafen, an den Fleeten, an jedem Wasser und
+auf allen Brücken umher und weiß sich keinen Rat. Am Morgen treibt ihn
+seine Verzweiflung in irgendeine Kirche, ihn, der keine Konfessionen
+kannte und kein Gebet, nur sein Vertrauen auf die eigene Kraft. Er
+bittet irgendeinen Gott, ihm zu helfen. Er legt ein Gelübde ab, eine
+Beichte, er faltet die Hände, er kniet, er will allen Religionen
+gerecht werden, um den wahren Gott zu finden, der ihm helfen kann.
+Aber wie er nach Hause kommt, hat die Frau das Leben weggeworfen, das
+sie neu beginnen wollte und das er ihr zerstört hat -- --«
+
+Der Kapitän bricht plötzlich ab, ohne seine Stimme zu senken, als
+wollte er etwas hinzufügen. Doch er schweigt. Er rückt ein Bild an der
+Wand zurecht, eine afrikanische Landschaft, die mit seiner Erzählung
+nichts zu schaffen hat. Man sieht, daß ihn selbst sein Beispiel nichts
+angeht, es berührt ihn nicht, er kann sich sogar wieder mit einer
+afrikanischen Landschaft beschäftigen, er ist ja der Mann in der Mitte.
+Nur, daß er die Schlußfolgerung aus seiner Erzählung nicht mehr gezogen
+hat, war ihm dabei entgangen.
+
+Aber das ist nicht nötig. Seine Zuhörerin hat ihn auch so verstanden.
+Sie erhebt sich und sagt: »Ja, da will ich jetzt gehen. Verzeihen Sie
+mir.«
+
+»Ach, wollen Sie gehen?« fragt er lächelnd. »Nein, ich habe nichts zu
+verzeihen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater, und wenn es
+recht ist, so will ich ihm demnächst meine Aufwartung machen.«
+
+Er begleitet sie bis zur Haustür und dankt ihr für den Besuch.
+
+Irmgard Pohl geht langsam zum Hafentor. Wieviel stürmt auf einen jungen
+Menschen ein, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird! Soll man
+sich nun noch mit den fremden Schicksalen beschäftigen? Sie ist fast
+erdrückt unter der Last ihrer Gedanken und Gefühle.
+
+Wie schön war es sonst, in solchen Stunden Schwester Emmi zu begegnen,
+die plaudert und mit ihrem erheiternden Lachen alle schweren Gedanken
+davonjagt. Eine leichte und sonnige Natur ist viel wert, aber nun kommt
+Schwester Emmi kurz vor der Föhrbrücke Irmgard Pohl entgegen, und ihr
+Gesicht scheint grau und alt.
+
+»Haben Sie mich gesucht?« fragt sie, während sie bei der Anstrengung zu
+einem Lächeln den rechten Mundwinkel herabzieht.
+
+»Ja«, sagt Irmgard, obgleich es nicht ganz den Tatsachen entspricht.
+»Wo sind Sie gewesen? Sie sehen elend aus. Warum bleiben Sie nicht zu
+Hause?«
+
+»Ach, ich mußte einen wichtigen Besuch machen. Bei einem Herrn Stein
+war ich, dem Mann einer früheren Patientin. Aber er hatte heute keine
+Zeit für mich, er war eben von der Reise gekommen. Das hätte ich
+mir denken können, nicht wahr? Ich weiß nicht, wo ich heute meine
+Überlegung habe, ich mache alles verkehrt.«
+
+Irmgard sieht ihr prüfend in die starren Augen. ›Warum erzählt sie mir
+das alles mit diesem unheimlichen Gesicht?‹ denkt sie. Nun forscht sie
+weiter, um Schwester Emmi Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen und
+aus ihrer Erstarrung herauszufinden.
+
+»Was wollten Sie von diesem Herrn Stein? Mußten Sie ihn noch heute
+sprechen?«
+
+»Ja«, antwortet die Schwester. »Es mußte sofort sein, obgleich es
+schon zu spät ist. Aber vielleicht kann ich ihn doch noch retten.«
+
+»Meinen Sie Herrn Gregor?«
+
+»Ja.«
+
+»Was kann dieser Herr Stein für ihn tun? Handelt es sich um Geld?«
+
+»Ja.«
+
+»Und Sie glauben, daß Sie es von dem Herrn bekommen, wenn Sie abends in
+sein Bureau gehen?«
+
+»Er hat es mir nicht direkt abgeschlagen, er meinte, falls ich morgen
+abend käme, wenn er Zeit hätte, dann könnten wir in Ruhe darüber
+sprechen.«
+
+»Wollen Sie nicht zu mir hinüberkommen? Wir gehen gleich in mein
+Zimmer, damit uns niemand stört. Hier können wir nicht stehenbleiben«,
+sagt Irmgard Pohl.
+
+Sie nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Schwester beim Arm und
+führt sie über die Föhrbrücke zur Mühle.
+
+Unterwegs sagt die Schwester, die vor Kälte zittert: »Es ist so
+furchtbar, daß ich morgen noch zu diesem Menschen gehen muß. Aber das
+ist die einzige Rettung.«
+
+Im warmen Zimmer bettet Irmgard sie auf den Diwan, und dann beginnt
+sie, mit milden und zärtlichen Worten auf sie einzureden. Wenn sie doch
+weinen könnte, denkt sie, das wäre gut.
+
+Als das alles nicht hilft, versucht sie es auf eine andere Weise.
+
+»Was haben Sie sich denn gedacht?« sagt sie streng. »Wollen Sie sich an
+diesen Herrn Stein verkaufen, um einen Menschen zu retten, der nicht
+das geringste Opfer wert ist?«
+
+Die Schwester springt erregt auf. Es ist, als wollte sie davonstürzen,
+aber dann wirft sie sich auf die Erde und weint, laut und
+leidenschaftlich. Alle Demütigungen, die Angst, die zurückgedrängten
+Tränen lösen sich auf in diesem befreienden Schluchzen.
+
+Als sie sich müde geweint hat, bettet Irmgard sie wieder auf den Diwan,
+dann geht sie hinunter zu den Eltern.
+
+»Kommst du endlich?« sagt Frau Pohl vorwurfsvoll. Sie ist mit einer
+Häkelei beschäftigt, während der Mühlenbesitzer seine Zeitung liest.
+
+Hier sitzen zwei Menschen wie in friedlichem Kreis um einen runden
+Tisch und sind nur vom Schicksal ihrer eigenen kleinen Familie
+umschlossen.
+
+»Ich habe Schwester Emmi mitgebracht«, sagt Irmgard, während sie ihren
+Vater bittend ansieht. »Drüben ist in ihrer Gegenwart ein Angestellter
+verhaftet worden. Sie wurde dadurch so erregt, daß ich sie nicht allein
+lassen wollte.«
+
+Frau Pohl steht auf.
+
+»Dann will ich euch etwas Abendbrot besorgen«, sagt sie.
+
+Seitdem ihre Tochter in der Mühle eine geregelte Tätigkeit hat, wird
+sie von Frau Pohl als selbständiger Mensch behandelt, der sich seine
+Gäste mitbringen darf, und der sein Essen zu fordern hat, wenn er das
+Haus betritt. Frau Pohl versäumt niemals ihre Pflichten.
+
+Irmgard geht zu ihrem Vater. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und
+lehnt stumm den Kopf an seine Schulter. Der Mühlenbesitzer legt die
+Zeitung hin und schließt den Arm um seine Tochter.
+
+So sitzen sie, bis Irmgard die Schritte der Mutter hört. Sollte man
+es wohl für möglich halten, daß eine Mutter auf ihre eigene Tochter
+eifersüchtig ist?
+
+Wie Irmgard dem mißtrauischen Blick Frau Pohls begegnet, denkt sie, wie
+schön es wäre, wenn noch einige Menschen so in der Mitte ständen wie
+der Kapitän.
+
+Aber sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie es in vielen Fällen
+gutheißen würde.
+
+Als sie in ihr Zimmer hinaufkommt, ist Schwester Emmi nach ganz kurzer
+Ruhe erwacht und von neuen Sorgen erfüllt.
+
+»Nun wird man mich entlassen«, sagt sie verzweifelt. »Ich habe zwar
+gesagt, daß ich Herrn Gregor heute überhaupt nicht gesehen hätte, aber
+Frau Reiche wird dafür sorgen, daß man mich davonjagt.« Die ganze
+Trostlosigkeit ihres Wanderlebens liegt wieder vor ihr.
+
+»Nein,« sagt Irmgard, »der Kapitän wird niemals zugeben, daß man Sie
+entläßt. Davon dürfen Sie fest überzeugt sein.«
+
+»Haben Sie ihn gesprochen?«
+
+»Ja.«
+
+»Und er hat es Ihnen gesagt?«
+
+»Es war so gut, als hätte er genau das gesagt.«
+
+Und wiederum ist sie froh, daß sie sich auf den Mann in der Mitte
+verlassen kann.
+
+Wer könnte dem Kapitän vorwerfen, daß er jemals von diesem Platz
+gewichen wäre?
+
+Wenn die Kantinenwirtin bei ihm erscheint und mit sittlicher Entrüstung
+meldet, daß sie am frühen Morgen einen Herrn aus dem Zimmer der
+Fürsorgeschwester kommen sah, so sagt er nicht: »Dieser Skandal! Ich
+werde die Schwester verwarnen oder entlassen.« Aber er fragt auch
+nicht: »Warum werden Sie durch diesen Vorgang so erregt? Hätten Sie es
+lieber gesehen, wenn der Herr aus einer anderen Tür gegangen wäre?«
+
+Nein, er sagt: »So. Ich werde es in Ordnung bringen.« Dann geht alles
+seinen alten Gang, und durch eine Verhaftung ist jede Wiederholung des
+beanstandeten Besuches unmöglich geworden, so daß sich das Weitere
+erübrigt.
+
+Er macht auch dem Mühlenbesitzer Pohl den versprochenen Besuch, als
+habe er keine Ahnung davon, daß die Hafengesellschaft mit ihm einen
+Prozeß führe.
+
+»Ich komme mit einer Bitte«, sagt der Kapitän, ohne Herrn Pohl Zeit zu
+anderen Erörterungen zu lassen. »Sie haben hier einen großen schönen
+Speicher, und wir wissen nicht, wo wir unsere Getreideladungen lassen
+sollen. Könnten Sie uns nicht vorübergehend aushelfen?«
+
+»Der Speicher war ursprünglich nur für meinen eigenen Bedarf bestimmt,
+aber nun habe ich seit Bestehen des Hafens schon oft ausgeholfen. Es
+ist für manchen sehr günstig, sein Getreide bei mir zu lassen.«
+
+»Sie werden doch keinen Unterschied machen?«
+
+»Nein,« sagt Herr Pohl lächelnd, »warum sollte ich meine Prozeßgegner
+schlechter behandeln?«
+
+Die Zeit geht über so vieles heilend hinweg, man muß nun über eine
+erbitterte Feindschaft lächeln.
+
+»Also können wir einen Vertrag abschließen?« fragt der Kapitän.
+
+»Nein, um Gottes willen keine Verträge. Kommen Sie, wenn Sie meinen
+Speicher brauchen, und ich will zusehen, wie ich einem so großen
+Unternehmen helfen kann.«
+
+Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Händedruck. Während die
+Prozeßgegner vor den Gerichten ihre Sache weiter verfechten, schließen
+sie daheim friedlich ihre Geschäfte ab. Und das ist keinem anderen zu
+verdanken als dem Kapitän, dem Mann in der Mitte.
+
+Oder der Bäckermeister Reiche, Kantinenwirt im Hafen, spricht bei ihm
+vor und dreht lange verlegen an seiner Mütze, bis er endlich mit der
+Sprache herausrückt.
+
+Also: er halte dieses Leben nicht länger aus, er sei Handwerker und
+nicht Schankwirt. Und wenn das nicht bald ein Ende nähme, so wüßte
+er nicht, was noch geschehen könnte. Er bittet um die Erlaubnis, das
+Recht für die Bewirtschaftung der Kantine mit seinem eigenen geringen
+Inventar verkaufen zu dürfen, damit er wieder imstande sei, sich eine
+Bäckerei anzuschaffen.
+
+»Was sagt Ihre Frau dazu?« fragt der Kapitän.
+
+»Meine Frau?« wiederholt Herr Reiche, »sie trägt die Zigaretten und das
+Essen aus der Kantine in das Untersuchungsgefängnis und verschenkt mein
+Geld an fremde Menschen.«
+
+»Sie ist in der Wirtschaft sehr tüchtig, und man scheint allgemein
+zufrieden mit ihrer Küche zu sein«, sagt der Kapitän. »Wollen Sie
+es nicht auf eine andere Art mit ihr versuchen? Was Ihre Bäckerei
+betrifft, so will ich Ihnen natürlich nichts in den Weg stellen.«
+
+Wie Herr Reiche im Vorzimmer an Fräulein Spandau, der stillen
+Sekretärin, vorbeikommt, sieht er sehr zufrieden aus, als habe der
+Kapitän ihm geholfen. Fräulein Spandau nickt ihm lächelnd zu, sie wird
+es zwar sehr bedauern, wenn sie mit ihm nicht mehr jeden Tag um ein Uhr
+ein paar Worte wechseln kann, doch sie freut sich in seinem Interesse,
+daß er zu seinem Beruf zurückkehren darf.
+
+Fräulein Spandau hat ein blasses flaches Gesicht und dünne aschblonde
+Haare, sie ist nicht hübsch, nein, das ist sie nicht. Aber sie
+konnte noch nie einem Menschen ihr Mitgefühl versagen. Sie hat sechs
+Geschwister und eine kranke Mutter. Wenn sie heimkommt, beginnt sie zu
+kochen, zu waschen und zu nähen, und sie ist immer froh, wenn ihr nicht
+weniger als fünf Stunden Schlaf verbleiben. Eine geordnete Bäckerei
+mit weißgestrichenen Regalen und frischen Broten scheint ihr wie das
+Paradies, der zufriedene Bäckermeister mit der großen, weißen Schürze
+wie der gute Petrus, auch wenn er Sommersprossen und rote Haare hat.
+
+Wird Reiche nun in das Paradies einziehen? Ach -- an Fräulein Spandau
+vorbei geht auch die Kantinenwirtin zum Kapitän, diesmal in eigener
+Angelegenheit. Auch sie kehrt befriedigt zurück. Und es bleibt alles
+beim alten. Der Kapitän hat seinen Platz in der Mitte nicht verlassen.
+
+Selbst ein Herr Gregor hatte niemals Grund, sich über den anfangs
+so gefürchteten Kapitän zu beklagen. Herr Gregor gehörte zur
+Generaldirektion und der Kapitän zum Hafen, und so ging jeder seiner
+Wege, bis die Verhaftung erfolgte und Herrn Gregors Posten frei wurde.
+
+Warum sollte der junge +Dr.+ Felix Friemann nicht auf diesem Platz
+seine guten Kenntnisse erproben? Hatte er sich nicht seit Monaten im
+Hafen bewährt? Oder konnte jemand Klagen des Kapitäns nachweisen?
+
+Die Frage war wichtig genug, um einen Besuch des Generaldirektors beim
+Kapitän herbeizuführen.
+
+Fräulein Spandau lauscht ängstlich auf die laute Stimme Joachim
+Beckers.
+
+»Können Sie mir auch nur ~einen~ praktischen Erfolg nachweisen?«
+fragt er erregt.
+
+»Er steht am Anfang«, sagt der Kapitän. »Wir müssen Nachsicht üben.«
+
+»Nachsicht, Nachsicht! Ich brauche praktische Arbeiter. Ich muß
+Positives leisten und kann mich nicht mit Theorien abgeben.«
+
+»Seine Ideen sind nicht schlecht«, wendet der Kapitän ein. »Er macht
+zuweilen Vorschläge, die bei ihm überraschen.«
+
+»Haben Sie schon ~einen~ davon ausführen können?«
+
+»Nein, das nicht, weil er noch nicht fähig war, über die Idee hinaus
+einen Plan auszuarbeiten. Vielleicht lassen wir ihm Zeit dafür.«
+
+»Bitte«, sagt der Generaldirektor kurz. »Dann beantragen Sie seine
+Weiterarbeit mit der Begründung, daß er Ihnen unentbehrlich sei.«
+
+So wurde auch diese Frage zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.
+
+Der Kommerzienrat sucht selbst den Kapitän auf, um ihm zu gestehen, wie
+sehr er sich über die Erfolge seines Sohnes freue.
+
+Der Kapitän meint: »Ja, er wird sich mit dem Hafen entwickeln können.
+Hier bei der praktischen Arbeit findet er am besten den Übergang aus
+den Theorien.«
+
+»So ist es«, sagt der Kommerzienrat nun vollkommen befriedigt, weil er
+sieht, daß der Kapitän seinen Platz in der Mitte behauptet. »Wir haben
+uns früher unsere Ansichten aus der Praxis gebildet, heute ist es wohl
+so, daß man mit ihnen hineingeht und versucht, ob sie auch passen.«
+
+Seine Kritik versagt selbst vor dem Sohne nicht, aber er ist geneigt,
+den Zeitgeist für das negative Resultat verantwortlich zu machen.
+
+
+
+
+ Die Vergangenheit
+
+
+Wenige Wochen nach seinem ersten Besuch ist der Kapitän genötigt, noch
+einmal in der Mühle vorzusprechen.
+
+Es handelt sich um eine große und wichtige Getreideladung, die während
+unsachgemäßer Lagerung gelitten hat und gereinigt werden soll, ehe sie
+weitergeht.
+
+Herr Pohl hat zwar zurzeit wenig Raum. Aber er erklärt sich schließlich
+bereit, seine Einrichtungen dafür zur Verfügung zu stellen, wenn der
+Kapitän die Arbeit überwachen läßt.
+
+Der Kapitän will selbst von Zeit zu Zeit das Getreide prüfen. So kommt
+es, daß er nun oft jenseits des Kanals zu sehen ist.
+
+Wenn er Irmgard Pohl begegnet, so grüßt er sie mit seinem eckigen
+Hutschwenken wie einen alten Freund. Sie hat keine Zeit, sich in eine
+Unterhaltung mit ihm einzulassen, wenn er im dienstlichen Eifer um
+das Bureau der Mühle stapft. Er nimmt ein Lächeln von ihr mit in das
+Gebrumm der Maschinen, und sie sagt bei Tisch zum Vater:
+
+»Ich habe den Kapitän eben hier getroffen.«
+
+»Ja«, erwidert er. »Der hat jetzt öfter bei uns zu tun.«
+
+Frau Pohl erkundigt sich nach dem Mann, welche Stellung er im Hafen
+bekleide, und -- nach kurzer Pause -- ob er verheiratet sei.
+
+Vater und Tochter wechseln einen raschen Blick. Sie geben ihr Auskunft,
+und sie mag daraus entnehmen, daß sie es mit dem ersten und wichtigsten
+Mann im Hafen, nach dem Kommerzienrat, zu tun habe, denn Joachim Becker
+wird in stillem Einvernehmen nicht erwähnt.
+
+»Siehst du«, sagt Herr Pohl auf dem Weg ins Bureau zu seiner Tochter.
+»Die Mutter hat einen Heiratskandidaten für dich.«
+
+»Ja«, sagt Irmgard. »Sie beschäftigt sich jetzt damit. Neulich fragte
+sie mich, wie alt ich sei. Sie war lange sehr nachdenklich, als ich es
+ihr wahrheitsgemäß gesagt hatte. Es wird immer schwerer, ihre Fragen zu
+beantworten.«
+
+Herr Pohl nickt. »Sie möchte, daß du mehr unter junge Leute kommst, und
+erklärte sich sogar bereit, Gäste zu bewirten.«
+
+Sie sind vor dem Bureau angekommen. Irmgard macht keine Anstalten, zu
+ihm hineinzugehen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wendet sich halb
+zu ihrer Tür, dann sagt sie, ehe sie im Hauptkontor verschwindet:
+
+»Wenn ihr wollt, könnt ihr ja den Kapitän einladen!«
+
+Michael Pohl sieht ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach und geht
+mit unzufriedenem Gesicht zu seinem Schreibtisch.
+
+Der Kapitän ist ihm nicht unsympathisch. Seinetwegen war er auch der
+Hafengesellschaft entgegengekommen, denn er kann einem guten Menschen
+schwer etwas abschlagen, während er sich die schlechten peinlich vom
+Halse hält.
+
+Und gern sieht er es nicht mit an, wie die Tochter im Bureau sitzt und
+sich daheim überflüssig fühlt.
+
+Der Kapitän wäre ihm als Gesellschafter bei einer guten Zigarre
+gleichfalls recht. Aber nun kann er die Einladung verteufelt schwer
+anbringen.
+
+Er legt die Hand wuchtig auf den Tisch. Seine Stirn hat sich bedenklich
+gerötet.
+
+Zum Kuckuck, soll er seine Tochter jetzt vielleicht öffentlich
+ausbieten? Nein, mit ~seiner~ Einladung kommt der Kapitän nicht in
+sein Haus. Das ist seine Ansicht, klipp und klar.
+
+Und er begegnet dem Hafendirektor, der ihm bisher wahrhaftig keinen
+Anlaß zu Klagen gab, von nun an mit kühlen, fast finsteren Mienen.
+
+Die Arbeiten sind auch beendet, die Abrechnungen erledigt. Der Kapitän
+hatte sich mehr als nötig selbst darum bemüht. Nun dürfte er eine Weile
+auf der anderen Seite des Kanals bleiben. Herr Pohl atmet erleichtert
+auf.
+
+Irmgard Pohl hat selbst eingesehen, daß ihr einige Abwechslung gut
+täte. Sie will zunächst einmal in ein Konzert gehen. Der Vater kann
+sich noch immer nicht entschließen, seine Frau an den Abenden allein
+zu lassen, sonst hätte er sie vielleicht begleitet, wie er es früher
+zuweilen tat, bis Joachim Becker ihr ein besserer Gesellschafter wurde.
+
+Er hilft ihr in den Pelz und begleitet sie bis zum Tor. Ihr Gesicht
+ist von innen erwärmt, und wie sie nun, hoch und schmal, mit behenden
+Schritten von ihm fortgeht, sieht er ihr mit unverhülltem Vaterstolz
+nach.
+
+Der Konzertsaal ist nicht sehr weit entfernt. Irmgard nimmt den Weg
+als willkommenen Spaziergang. Es ist unvermeidlich, daß sie wieder
+Erinnerungen nachhängt, denn sie hatte am Anfang ihrer Bekanntschaft
+mit Joachim Becker auch einige Male versucht, ihn für gute Musik zu
+interessieren. Er verstand wenig davon, ließ sich aber willig führen,
+und dann waren sie taumlig von den Tönen durch die Straßen gesegelt.
+Im Frühjahr und im Sommer fanden sie später andere Verwendung für ihre
+Abende. Irmgard hatte jedoch schon viele Pläne für den neuen Winter
+geschmiedet, der dann so trostlos und einsam verlief.
+
+Bei solchen Träumereien achtet man nicht auf die Umwelt. Der Kapitän,
+der ihr entgegenkommt, kann ungesehen umkehren und eine ganze Weile
+hinter ihr hergehen.
+
+Vielleicht überlegt er, ob er sie noch ansprechen soll. Er zögert
+sehr lange. Das mag an ihrem leichten und wiegenden Gang liegen. Sie
+hat nicht sonderlich kleine, aber sehr schmale Füße, die sie in ihrer
+Verträumtheit langsam über das bereifte Pflaster führt.
+
+»Werden Ihnen in diesen dünnen Schuhen nicht die Füße erfrieren?«
+sagt er schließlich dicht neben ihr, während er die Hand aus der
+Manteltasche zieht, um sie nach dieser burschikosen Anrede zu begrüßen.
+
+Er hat sie selbstverständlich sehr erschreckt. Aber sie geht rasch
+auf seinen Ton ein und sagt: »Wie hätten Sie die schönen neuen Schuhe
+bewundern können, wenn sie in solchen Ungetümen von Überschuhen
+steckten?«
+
+Sie mögen beide jetzt zu gleicher Zeit erkennen, daß das der geeignete
+Verkehrston für sie ist. Menschen mit Enttäuschungen, die nicht
+verbittern wollen, wählen gern den leichten Spott zum Verdecken ihrer
+Grundstimmung.
+
+Nun haben sie das richtige Fahrwasser gewonnen und langen in munterer
+Unterhaltung vor dem Konzerthaus an. Der Kapitän macht keine Anstalten,
+sich zu verabschieden.
+
+Sie sieht ihn belustigt an: »Ja, wollen Sie denn auch hierher?«
+
+»Nein, das heißt ja, jetzt will ich es auch. Sie haben mich auf eine
+ausgezeichnete Idee gebracht.«
+
+Sie ist einen Augenblick verlegen und bleibt stehen.
+
+»Ich hoffe doch, Sie wissen, mit wem Sie hier hineingehen, und daß es
+für Sie peinlich sein kann?« fragt sie und fühlt, wie ihr die Röte
+langsam ins Gesicht steigt.
+
+»Ich weiß, was ich tue«, sagt er fast ärgerlich. »Und ich wüßte mir
+keine angenehmere Gesellschaft.« Seine Worte verlieren dabei den Sinn
+eines Komplimentes.
+
+»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht verstimmen wollen. Zuweilen muß
+man sich selbst daran erinnern, damit man nicht zu übermütig wird.
+Natürlich werden Sie wissen, was Sie zu unternehmen haben, um keinen
+Menschen zu kränken.«
+
+»Wovon sprechen Sie, Fräulein Pohl?« fragt er plötzlich sehr streng.
+
+»Wovon?« fragt sie verwirrt. »Von dem, was Sie ebenso wissen wie alle
+anderen, die mich kennen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß die
+Menschen über das Unangenehme schweigen. Nur das Angenehme behalten sie
+für sich. Warum soll ich diskreter sein als die anderen, zumal es sich
+hier um mich selbst handelt?«
+
+»Nur mit dem Unterschied, daß Sie heute noch darüber sprechen, während
+die anderen längst schweigen. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich
+versuche, den Nachbarplatz zu bekommen.«
+
+Sie folgt der Aufforderung wie ein gestraftes Schulmädchen. Als sie
+von ihrer Tasche hochblickt und die strengen Falten in seinem Gesicht
+bemerkt, muß sie lächeln. Sie weiß keine Erklärung dafür, daß sie sich
+auf einmal unsäglich erleichtert fühlt.
+
+Er geht stumm neben ihr her, während sie sich der Billettkasse nähern.
+Sie ist ihm so dankbar und möchte ihm irgend etwas Gutes sagen.
+
+Während sie ihn betrachtet, wie er zum Schalter herabgeneigt ist und in
+seiner etwas umständlichen Art verhandelt, muß sie daran denken, daß
+ihr die Achtung der Menschen doch nicht so gleichgültig ist, wie sie
+es sich immer eingeredet hatte. Es ist sehr schön, zu wissen, daß man
+trotzdem nicht von ihnen gerichtet wurde.
+
+Der Kapitän kommt zurück. Er hat drei Karten in der Hand.
+
+»Der Nachbarplatz war schon vergeben«, sagt er und blickt unschlüssig
+auf die unverwendbare Karte.
+
+»Geben Sie, bitte!« sagt sie. Er läßt sich die Karte aus der Hand
+nehmen. Sie steckt sie in ihre Handtasche. »Die hebe ich mir auf zum
+Andenken an einen guten Mann.«
+
+»Sie sollten sie lieber einem armen Menschen schenken, der sich keine
+Musik leisten kann«, erwidert er, auch jetzt nicht ohne Strenge.
+
+»Mein Gott, Herr Schulmeister, nun könnten Sie wieder etwas
+freundlicher sein. Natürlich haben Sie recht.« Sie sieht sich suchend
+um.
+
+Er lächelt. »Gehen wir wieder vor den Eingang! Hier haben die Leute
+schon das Geld in der Hand.«
+
+An der Tür begegnet ihnen ein junger Mensch mit rotgefrorenen Händen.
+Ein armer Musikstudent vielleicht.
+
+Irmgard geht schüchtern auf ihn zu und sagt leise: »Ach verzeihen Sie,
+wollen Sie vielleicht ...«
+
+Sie hält ihm die Karte hin. Aber ehe sie ausgesprochen hat, sagt er
+barsch: »Danke«, und geht beschleunigt weiter.
+
+Erschreckt zieht sie die Hand zurück und gesellt sich kleinlaut
+zum Kapitän. Der hebt die Schultern hoch, wie jemand, der einen
+Bubenstreich ausgeheckt hat und nun flüchtet. Er nimmt ihren Arm, und
+sie schlüpfen vor die Tür.
+
+»Aber das haben Sie ja ganz verkehrt angefangen«, sagt er draußen mit
+seinem aufgeräumten trocknen Lachen. »Der Mann hat natürlich gedacht,
+daß er Ihnen die Karte abkaufen soll, und er hat höchstens das Geld für
+die Galerie. Soll ich es einmal versuchen?«
+
+»Bitte, wenn Sie es besser verstehen!«
+
+Sie beobachten nun beide die Passanten. Ein paarmal sieht der Kapitän
+sie fragend an.
+
+»Sie können doch nicht irgendeinem Mann, der vielleicht zu einem
+Rendezvous gehen will, eine Konzertkarte aufschwatzen!« Jetzt lacht sie
+ihn aus, weil er es auch nicht geschickter anzufangen weiß.
+
+Zufällig fahren gerade viele Autos vor. Elegante, plaudernde Menschen
+gehen in das Tor. Es ist inzwischen spät geworden. Sie müssen eilen, um
+den Beginn nicht zu versäumen.
+
+Er gibt es auf. »Ich habe mir das Verschenken wirklich leichter
+gedacht«, sagt er resignierend.
+
+Schließlich nimmt sie die Karte wieder an sich, und sie begeben sich
+hinein.
+
+»Ach ja, Beethoven kann man immer wieder hören«, sagt eine Frau
+sehr laut neben ihnen, als wolle sie sich vor aller Öffentlichkeit
+entschuldigen, daß sie noch zu so alter Musik geht.
+
+Die beiden sehen sich belustigt an. Sie sind in der Laune, die alles
+mit einem heitern Spott betrachtet.
+
+Aber dann sitzen sie auf ihren Plätzen und werden schon bei den ersten
+Tönen, die vom Stimmen der Instrumente in das schwatzende Publikum
+fallen, sehr still.
+
+In der Pause gehen sie lange schweigsam auf und ab. Nach diesem
+gemeinsamen Erlebnis will ihr neuer Verkehrston doch nicht mehr passen.
+
+Endlich beginnt er das Gespräch damit: »Ja, die Deutschen müssen sich
+bei der Musik immer etwas denken. Sie machen sich zu jeder Symphonie
+und selbst zu den Walzern einen Text.«
+
+Irmgard, die von den Tönen sehr angeregt wird und noch im tiefen
+Nachdenken ist, sagt:
+
+»Sie sprechen von den Deutschen, als gehörten Sie nicht dazu.«
+
+»Verzeihen Sie, ich habe mich nicht korrekt genug ausgedrückt, ich
+hätte sagen müssen ›wir‹ Deutschen.«
+
+»Ja, sehen Sie, das klingt schon mehr nach persönlichem Bekenntnis, und
+darum vermeiden Sie es.« Sie kann es sich selbst nicht erklären, warum
+sie ihm jetzt seine Schwäche vorhalten muß.
+
+»Sie haben recht,« erwidert er, »man gewöhnt sich daran, seine Gefühle
+vor den Menschen zu verbergen.«
+
+Sie sehen einander einen Augenblick schweigend an. Da sagt sie
+unvermittelt:
+
+»Sie haben eine Geige, und ich würde gern wieder Klavier spielen, wenn
+Sie manchmal zur Begleitung herüberkämen.«
+
+Er wird nicht verlegen, wie es sonst seine Art ist, wenn man sein
+Steckenpferd erwähnt.
+
+»Ja,« sagt er, »das will ich gern tun. Bestimmen Sie die Stunde!«
+
+Dann beginnt er, ehe sie geantwortet hat, sehr ausführlich davon
+zu erzählen, wie andere Völker die Musik auffassen, die Südländer
+etwa oder die Chinesen. Am wenigsten könne man als Europäer bei der
+Negermusik etwas empfinden.
+
+Sie hört ihm sehr unaufmerksam zu. Er hat einen gleichmäßigen,
+einschläfernden Tonfall. Es wäre ihr viel lieber, wenn er jetzt
+schwiege.
+
+Sie muß daran denken, daß Joachim Becker sie niemals durch seine
+Anwesenheit oder durch überflüssige Worte störte wie dieser gebildete
+und rücksichtsvolle Mann, der von der Musik sehr erschüttert ist
+und trotzdem so viele Worte macht. Aber sie ist gerecht genug, sich
+einzugestehen, daß der ungeliebte Mensch eben nichts zur Zufriedenheit
+machen kann, der geliebte aber selbst nach den schlechtesten Handlungen
+noch in guter Erinnerung bleibt.
+
+Die Musik läßt sie diese Betrachtungen wieder vergessen. Und am Schluß,
+nach dem ernüchternden Handgemenge an der Garderobe, sind sie wieder in
+ihrem Fahrwasser. Irmgard wird viel betrachtet, der Kapitän nimmt mit
+ironischen Bemerkungen davon Notiz.
+
+Sie hat unwillkürlich das Gefühl, daß sie noch etwas an ihm gutzumachen
+habe. Es muß ihr immer erst einfallen, sie ist gewissermaßen mit dem
+Verstande und nicht mit dem Herzen gut zu ihm.
+
+»Sie sind sehr weit gereist und haben viele Menschen und Gebräuche
+kennengelernt. Auch mein Vater wird sich auf eine Unterhaltung mit
+Ihnen freuen. Kommen Sie morgen abend!« sagt sie freundlich.
+
+»Danke, gern.«
+
+»Gegen sieben, zu einem Imbiß?«
+
+»Ja, wie Sie bestimmen. Noch weiß ich nicht, wo ich heute etwas zu
+essen bekomme.«
+
+»Mein Gott«, ruft sie erschreckt aus. »Haben Sie heute abend noch nicht
+gegessen?«
+
+»Ich wußte doch nicht, daß mir nur Musik vorgesetzt wird«, erwidert er
+lächelnd.
+
+»Aber für heute kann ich Sie nicht einladen.«
+
+»Beileibe nicht. Doch wenn Sie mir noch bei einem Abendbrot
+Gesellschaft leisten würden ...«
+
+»Nein«, sagt sie entschlossen.
+
+»Das ist sehr schroff. Die jungen Damen sind heute so selbständig, daß
+ich nicht glaubte, gegen die guten Sitten zu verstoßen.«
+
+»Gewiß nicht!« erwidert sie. »Frauen, die einen guten Ruf haben,
+dürften es vielleicht annehmen, die mit einem schlechten noch eher.
+Aber wer sich sein Ansehen zurückerobern muß --«
+
+»Ja, kommen Sie nur, Sie Moralistin!« Er läßt sie den Satz nicht zu
+Ende sprechen und begleitet sie unter vielen Erzählungen und Scherzen
+nach Haus.
+
+»Im übrigen haben Sie ja Tee zu Haus, und in der Kantine wird auch noch
+etwas für Sie zu essen sein«, sagt sie einmal zwischendurch. Er stellt
+fest, daß sie sich sehr besorgt mit seinem Hunger beschäftigt, und wird
+immer lebhafter.
+
+An der Föhrbrücke verabschieden sie sich. Sie fühlt seinen schmerzhaft
+festen Händedruck noch, als sie in das erhellte Wohnzimmer tritt, wo
+sie den Vater über der Zeitung antrifft.
+
+Er geht ihr entgegen und hilft ihr beim Ablegen. Es fällt ihr auf, daß
+er sehr ernst ist. Sie war auch von ihm mit vielen guten Wünschen und
+unter Scherzen entlassen worden. Es scheint ihr, daß alle Menschen
+heute gut und heiter waren.
+
+Sie legt daher ihren Arm um seine Schulter und lehnt das heiße Gesicht
+an seine Wange.
+
+»Noch mein Kamerad?« fragt sie.
+
+»Ja«, sagt er lächelnd. Er selbst hatte ihr vor kurzem nach einer
+tüchtigen Arbeit im Bureau diesen Titel gegeben. Nun bekommt er ihn
+zurück.
+
+Er erkundigt sich, ob sie Hunger habe, und macht eine Bewegung zur Tür,
+als wolle er sie selbst noch bewirten.
+
+Sie lehnt ab und beginnt zu berichten. Sie habe den Kapitän getroffen.
+Er sei auch im Konzert gewesen. Unwillkürlich sagt sie nicht, daß er
+ihretwegen mitgekommen sei. Sie überlegt, wovon sie zuerst erzählen
+solle, vom Eindruck der Musik, vom Publikum oder vom Kapitän. Sie ist
+ungewöhnlich plauderlustig und in einem inneren Gleichgewicht, wie sie
+es seit Joachim Beckers Zeit nicht mehr kannte.
+
+Ein Geräusch, das vom Schlafzimmer herüberdringt, läßt sie aufhorchen.
+
+Herr Pohl rückt verlegen auf seinem Sofa.
+
+»Es ist der Junge«, sagt er zögernd. »Wir haben den Arzt schon kommen
+lassen. Er hustet und hat leichtes Fieber.«
+
+Irmgard starrt ihn fassungslos an. Hier sitzt sie in ihrem silbergrauen
+leichten Kleid, so reizvoll wie seit Jahren nicht, und wird mit dieser
+Nachricht empfangen.
+
+Sie ist nicht traurig, sondern fast ärgerlich. Als habe man ihr
+rücksichtslos ein Vergnügen verdorben.
+
+»Es wird irgendeine gewöhnliche Kinderkrankheit sein«, meint Herr Pohl
+beruhigend.
+
+»Dann werde ich mich umziehen und die Mutter ablösen«, sagt sie still.
+
+»Nein.« Er hält sie auf ihrem Stuhl zurück. »Ich wollte ohnehin in
+diesen Tagen mit dir über die Mutter reden. Sie wird jetzt niemand zum
+Knaben lassen. Du kennst ihren Eifer.«
+
+Er schweigt und holt dann sehr weit aus: »Wie du weißt, stammt ihr
+Vater aus einer Hugenottenfamilie, und dieser Fanatismus mag ihnen von
+den Ahnen her im Blute liegen. Wir können nicht dagegen ankämpfen.
+Denn durch Widerstand unterstützen wir ihren Wahn. Nun scheint sich
+in letzter Zeit ihr Erinnerungsvermögen viel mehr gestärkt zu haben,
+als wir ahnen. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß sie der Wahrheit
+schon sehr nahe ist, aber absichtlich nicht mehr fragt, weil sie sich
+fürchtet.«
+
+Irmgard, die immer eine so aufmerksame Zuhörerin war, schweift mit
+ihren Gedanken ab und vermag der Rede des Vaters nicht mit Interesse
+zu folgen. Die vielfältigen Klänge des Orchesters, sanfte Tonfolgen,
+Beethovensche Akkorde mit ihren dunklen Untertönen liegen ihr in den
+Ohren. Sie hat Mühe, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben. Es drängt sie,
+einherzugehen, leicht, mit schwebendem Rhythmus im Gang.
+
+Sie versteht nicht, warum der Vater gerade heute mit ihr darüber
+sprechen muß. Merkt er nicht, daß sie in die »Welt« zurückgekehrt ist,
+daß sie endlich, endlich mit der Vergangenheit abschließen will? Großer
+Gott, daß sie einmal von Krankheit, Wahn und Kindersorge nichts hören
+möchte?
+
+Sie blickt, ein wenig verträumt und gleichzeitig trotzig, in eine Ecke
+des Zimmers, am Vater vorbei und sagt, mit einer fremden kühlen Stimme:
+»Was soll ich denn tun? Ich kann ja verreisen, wenn du willst. Ja --«
+
+Sie springt auf und geht nun doch im Zimmer umher.
+
+»Reisen! Ich werde mir die Welt ansehen. Du sagtest neulich, der Mensch
+muß seine alte Umgebung verlassen, um neu anfangen zu können. Gut, ich
+will mir die Welt ansehen!«
+
+Sie hat die Arme auf dem Rücken ineinandergelegt und bleibt plötzlich
+vor dem Vater stehen, während der weite silbrige Rock noch um ihre
+schmalen Beine schwebt.
+
+»Komm einmal hierher!« sagt Herr Pohl in gutmütig befehlendem Ton
+und macht ihr den Sofaplatz an seiner Seite frei. Etwas an seiner
+Tochter gefällt ihm nicht. Es ist ein Zuviel in den Bewegungen, eine
+Übertreibung im Ton.
+
+Er legt die Hand um ihre abfallenden Hüften und zuckt unwillkürlich vor
+der weichen Seide zusammen, die seine Fingerspitzen so unendlich lange
+nicht berührten. Wieviel Härte und Strenge, wieviel Entsagung ist doch
+immer in seinem Hause gewesen, wo nur die Arbeit regiert. Er zieht die
+Finger wieder fort und rückt ein wenig ab.
+
+»Ja,« sagt er langsam, »du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und das
+ganze Leben liegt noch vor dir. Wir beide, deine Mutter und ich, sind
+nun so weit --« Er stockt.
+
+»Nein, nicht erst jetzt«, setzt er mit leichter Bitterkeit fort. »Wir
+waren immer so, daß wir nicht uns selbst, sondern den Pflichten lebten.
+Man kann auch darin zu Egoisten werden. Man bildet sich ein, für die
+anderen, für die Kinder etwa, zu leben, und hat sich rücksichtslos an
+die Arbeit gehalten, um den Mangel an Lebensfreude nicht einzugestehen.
+Siehst du, darin haben wir an dir gesündigt.«
+
+»Das darfst du von dir nicht sagen, denn du bist immer gut gewesen. Und
+mit dir konnte man auch manchmal lustig sein.«
+
+»Manchmal!« wiederholt er. In seinem großen braunen Gesicht mit den
+grauen, aufschimmernden Haaren, ist irgend etwas schief gezogen. Er
+versucht krampfhaft, es fortzulächeln. »Was ich dir bisher in diesem
+Arbeitshof geboten habe, war nicht die Freude.«
+
+»Vater, fast ein Jahr lang bin ich sehr glücklich und jung gewesen. Und
+wenn es dann anders kam, so war ich daran schuld.«
+
+»Nein,« erwidert er, »jetzt weiß ich, daß wir schuld sind. Mußtest
+du in jener Zeit nicht von zwanzig Jahren ohne Zärtlichkeit und
+Lebensfreude erlöst werden und alles einholen, was in dir ungehoben
+blieb? Wenn wir ein klares Glas aus kalter Luft in die Wärme tragen,
+so wird es blind. Aber bleibt es nicht blank, wenn es das Klima nicht
+wechselt? Die Kinder, die Wärme und Heiterkeit in reichem Maße bei den
+Eltern haben, werden selten in Gefühlsüberschwang geraten, der die
+Grenzen verliert.«
+
+Irmgard lehnt den Kopf gegen das Polster und läßt ungehindert aus den
+weitgeöffneten, lächelnden Augen Tränen tropfen.
+
+»Und nun sehe ich mit an, wie du dich um den Knaben quälst. Du wärst
+vielleicht so weit, ihn der Mutter allein zu überlassen, weil er ihr
+einziger Lebensinhalt ist und du jung und gesund genug wärst, um noch
+auf ein eigenes Leben zu hoffen. Erst wenn man von sich selbst nichts
+mehr erwartet, versenkt man sich vollkommen in seine Kinder. Aber
+da ist dir von uns dieses Pflichtbewußtsein eingeimpft. Du glaubst,
+die Achtung vor dir verlieren zu müssen, wenn du dich mit deinen
+Muttergefühlen von ihm befreist.«
+
+Er spricht das alles vor sich hin, während sie still neben ihm sitzt.
+Jetzt wendet er sich um und blickt offen in ihr tränenüberströmtes
+heißes Gesicht.
+
+»Glaubst du,« fragt sie, während sie die Augen langsam schließt, »daß
+es nicht unnatürlich wäre, wenn ich, wenn ich --«
+
+»Wenn du lebensfreudig genug wärst, um mit der Vergangenheit
+abzuschließen?«
+
+Er versucht, zu lächeln und in leicht scherzendem Ton zu sprechen. »Du
+gibst uns das -- das Produkt unserer falschen Erziehung als Tribut
+zurück und beginnst, dein junges Leben neu und richtig aufzubauen.
+Jetzt wissen wir wohl, wie wir es machen müssen?«
+
+»Ja«, sagt sie leise. »Alle Sorgen werden heute von mir fortgenommen.«
+
+Sie denkt an den Kapitän, an die bewundernden Blicke der fremden
+Menschen, an die Musik, die von ferne wieder aufklingt, an ihre eigenen
+leichten wiegenden Schritte.
+
+Sie springt auf und gleitet mit den Händen über die weiche Seide ihres
+Kleides, während sie sich in der Mitte des Zimmers hinstellt und mit
+glänzenden Augen in die Luft blickt.
+
+»Jetzt --« sagt sie, als wäre sie voller Unternehmungslust, »jetzt muß
+ich wohl schlafen gehen.«
+
+Herr Pohl steht auch auf und will sie zur Tür begleiten. Da schlingt
+sie ihren Arm noch einmal um ihn und eilt davon.
+
+Er lauscht gedankenvoll ihren Schritten. Dann nimmt er langsam die Hand
+von der Klinke.
+
+›Wir wissen wohl, wie wir es jetzt machen müssen,‹ denkt er, ›aber wir
+haben nicht selbst die Entscheidung --‹
+
+Es ist fast Mitternacht. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche
+mehr herüber. Er faltet seine Zeitung zusammen und geht hinein. --
+
+
+
+
+ Der Sohn
+
+
+Joachim Becker erscheint am nächsten Morgen im Verwaltungsgebäude, um
+mit dem Hafendirektor einiges zu besprechen.
+
+Der Kapitän muß von Fräulein Spandau erst gesucht werden. Der
+Generaldirektor geht solange in sein Zimmer, setzt sich vor den
+Schreibtisch und kann es sich nicht versagen, in die umherliegenden
+Papiere einen Blick zu werfen.
+
+Er ist so vertieft, daß er fast aufschreckt, als das Telephon neben ihm
+rasselt. Er nimmt den Hörer ab und murmelt ärgerlich ein »Hallo« in den
+Apparat.
+
+»Herr Kapitän?« hört er eine fragende Stimme.
+
+Er weiß nicht sofort, woher ihm dieser Tonfall bekannt ist, aber er ist
+irgendwie davon betroffen und verliert so weit seine kühle Überlegung,
+daß er möglichst tonlos in der Art des Kapitäns ein »Ja« murmelt.
+
+»Hier Irmgard Pohl«, vernimmt er nun, und es fällt ihm ein, daß er noch
+niemals mit ihr telephoniert hat. Ihre Stimme wirkt in der Verwandlung
+durch den Draht sehr tief und voll.
+
+Seine Herzschläge werden heftiger und rascher. Er ist ärgerlich
+darüber, zumal ihm bewußt wird, daß er jetzt nicht länger hören darf,
+was für ihn nicht bestimmt ist.
+
+»Ich muß Sie leider bitten, Herr Kapitän, heute nicht zu kommen. Unser
+Michael hat den Keuchhusten. Wir möchten doch vermeiden, daß Sie die
+Krankheit etwa zu den Kindern der Schiffer im Hafen bringen --«
+
+Er wirft den Hörer hin und rennt erregt im Zimmer umher.
+
+›Ist es nötig,‹ denkt er, ›daß der Kapitän mehr als das Geschäftliche
+drüben erledigt? Was hat er mit der Tochter zu tun? Und was sind das
+für Kinderkrankheiten drüben? Wie kommen Kinder in die Mühle?‹
+
+Er wird immer ärgerlicher, weil er hier vor etwas Fremdem steht, vor
+einer Tatsache, die so unerwartet über ihn herfällt. Und weil er fühlt,
+daß das Vergangene ihn doch nicht so unberührt läßt. Wäre er sonst
+dermaßen erregt? Er ist unerklärlicherweise voller Zorn auf den
+Kapitän.
+
+Der kommt ahnungslos herein, begrüßt ihn mit dem stets freundlichen
+Lächeln im braunen, hageren Gesicht und spricht gleich von den
+geschäftlichen Dingen.
+
+Joachim Becker hört unaufmerksam zu. Er ist sehr nervös und muß sich
+zusammennehmen, um nicht ungerechte, ärgerliche Bemerkungen zu machen.
+Außerdem fürchtet er das erneute Klingeln des Telephons.
+
+Die Sache ist ihm verdammt peinlich. Er sieht ein, daß er nicht
+schweigend darüber hinweggehen kann. Schließlich sagt er:
+
+»Übrigens -- ich habe da vorhin eine telephonische Bestellung für Sie
+entgegengenommen. Von der Mühle drüben hat jemand angerufen, Sie
+möchten nicht hinkommen, es hätte jemand den Keuchhusten --«
+
+Er ärgert sich über das doppelte »jemand«, das ihm zu betont
+unpersönlich scheint. Dem Kapitän kann es nicht entgangen sein.
+
+»Das ist ja sehr unangenehm,« meint der Kapitän, »sehr unangenehm.«
+
+»Na, Sie werden sich doch nicht gleich den Keuchhusten holen«, sagt der
+Generaldirektor laut, mit übertriebenem Gelächter.
+
+Der Kapitän lächelt höflich. »Nicht für mich natürlich. Ja, das tut mir
+sehr leid.«
+
+Joachim Becker erhofft immer noch eine Erklärung. Er kann das Gefühl
+nicht loswerden, daß der Kapitän sie ihm absichtlich vorenthält.
+
+»Da drüben sind anscheinend Kinder? Ich dächte doch, daß Erwachsene
+keinen Keuchhusten haben?« fragt er endlich.
+
+»Allerdings nicht«, meint der Kapitän lächelnd. »Ja, ein Sohn ist da.
+Ein Knabe, von etwa zwei Jahren glaube ich.«
+
+»So --« Der Generaldirektor fühlt, daß seine Ohren brennen und wendet
+sich halb ab. In seiner Verlegenheit zieht er die Uhr und sucht seine
+Aktentasche, um in sein Stadtbureau zurückzukehren.
+
+Obgleich das konziliante Lächeln im verschlossenen Gesicht des Kapitäns
+ihn bis zum Äußersten reizt, gibt er ihm sehr liebenswürdig zum
+Abschied die Hand.
+
+»Ja, was mir eben einfällt«, sagt er an der Tür. »War die alte Frau
+Pohl drüben nicht gelähmt?«
+
+»Ich hörte auch einmal davon«, erwidert der Kapitän. »Soviel ich weiß,
+ist sie jetzt gesund.«
+
+»Soso, das ist ja sehr erfreulich.« Er geht mit langen Schritten, ohne
+sich umzusehen, zu seinem Wagen.
+
+Unterwegs rückt er auf den Polstern hin und her. Plötzlich lacht er
+nervös auf.
+
+Der Chauffeur macht eine kleine Bewegung, als fühle er sich angerufen,
+fährt aber in steifer Haltung weiter.
+
+›Zum Teufel!‹ denkt der Generaldirektor, ›was ist das für eine
+verrückte Geschichte! Ich könnte doch wahrhaftig fast den Kerl da vorn
+fragen, ob es möglich ist, daß ein altes Weib von beinahe fünfzig
+Jahren, das lange Zeit gelähmt und wahnsinnig war, noch Kinder kriegen
+kann.‹
+
+Und dann rechnet er und überlegt, ob in seiner Umgebung nicht ein
+einziger Mensch ist, der es ihm gesagt haben könnte, wenn dieser Junge
+wirklich -- Er stellt fest, daß er ganz allein ist und daß alle, denen
+es etwa bekannt war, gerade ihm gegenüber diskret schweigen mußten.
+
+Auch der Kapitän ist mit dem Gespräch nicht zufrieden. Er kann nur
+annehmen, daß Irmgard Pohl ihm selbst die Mitteilung machen wollte.
+Und nun sollte sie mit dem gesprochen haben, den sie gerade jetzt zu
+vergessen im Begriff ist?
+
+Während er nervös umherläuft und überlegt, was er zu unternehmen habe,
+vergißt er sogar, daß er nun um den Besuch gebracht wird. Er war hier
+in heiterer Stimmung spazierengegangen und hatte sich darauf gefreut.
+
+Da liegen seine Papiere und warten auf ihn. Er hat im Grunde keine
+Zeit, sich während des Dienstes mit persönlichen Dingen abzugeben. Aber
+er nimmt langsam den schief eingehängten Hörer ab und läßt sich mit
+Irmgard Pohl verbinden.
+
+Sie meldet sich von der Wohnung aus, und er glaubt zu entnehmen, daß
+sie in Ungeduld sei.
+
+»Hier v. Hollmann«, sagt er so laut, daß seine heisere Stimme mehr
+Klang bekommt. Wenn er telephoniert, so ist es auch immer, als riefe er
+gegen einen mächtigen Sturm, der ihm die Verständigung erschwert.
+
+Irmgard Pohl scheint im ersten Augenblick nicht zu wissen, mit wem sie
+es zu tun hat, denn sie kannte ihn immer nur als den »Kapitän«. Dann
+begrüßt sie ihn sehr herzlich und bedauert, daß die Verbindung vorhin
+gestört worden sei.
+
+Ja, das bedaure er auch sehr lebhaft, noch mehr jedoch die Mitteilung
+von der Erkrankung des Knaben.
+
+So, nun ist er im Bilde. Er atmet erleichtert auf. Aber blitzschnell
+fährt es ihm doch durch den Kopf, während er sich nach Fräulein Pohls
+Befinden erkundigt, daß der Generaldirektor aus irgendwelchen Gründen
+eine Täuschung beging.
+
+Noch weiß er nicht, ob zu persönlichen oder geschäftlichen Zwecken.
+Jedenfalls findet er, daß es nicht leicht ist, diesem Mann gegenüber
+immer gerecht zu bleiben.
+
+Irmgard nimmt alle guten Wünsche des Kapitäns entgegen und vertröstet
+ihn mit ihrer Musikstunde auf spätere Wochen. --
+
+Es ist nicht mehr viel von der gestrigen heiteren und leichten Stimmung
+in ihr. Und wenn zuweilen noch einige Harmonien in ihr Ohr klingen, so
+werden sie bald von dem furchtbaren Stickhusten des kleinen Kranken
+zerstört.
+
+Frau Pohl, die während der ganzen Nacht in ihrer Angst nicht schlafen
+konnte, hat sich nun hinlegen müssen und der Tochter die Pflege des
+Kindes nicht ohne Sorge überlassen.
+
+Irmgard nimmt bei jedem Anfall den kleinen zuckenden Körper in ihre
+Arme, und die Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie diese Qual
+miterlebt.
+
+Seine hellblonden geringelten Haare kleben naß auf dem Kopf, das
+Gesicht ist rot und verquollen. Er hat nun das Alter erreicht, in
+dem jedes Kind Freude bereitet. Fest und drollig trippelte er auf
+seinen stämmigen Beinchen umher, seine Stimme war hell, die Aussprache
+eigenwillig und ein steter Anlaß zu Belustigungen.
+
+Noch nie ist so viel in der Familie Pohl gelacht worden wie in den
+letzten Monaten, während sich sein Sprachtalent entwickelte.
+
+Irmgard glaubt, daß sie diesen reizenden, munteren Burschen keineswegs
+weniger lieben würde, wenn er ihr Bruder oder gar ein fremdes Kind
+wäre. Daß er von offener und heiterer Art ist, kann ihm in diesem Alter
+schon nachgesagt werden. Wer sollte wohl solch einen Knaben, der
+außerdem schön und anschmiegsam ist, nicht in sein Herz schließen?
+
+Man kann nicht übersehen, daß er nach Michael Pohl geraten ist. Nun,
+da sein Kopf durch das Fieber breiter scheint und die Augen tiefer in
+die Höhlen gesunken sind, tritt die Ähnlichkeit noch markanter hervor.
+Irmgard denkt, wenn es wahr sei, daß die Gefühle der Mutter Einfluß auf
+die Entwicklung der Kinder gewönnen, so wäre hier ein Beweis dafür,
+denn sie hatte in jener Zeit fast mehr um den Vater als um Joachim
+Becker gelitten.
+
+Nur der schmale Mund, die Unduldsamkeit und der herrische Ton in der
+hellen, lauten Stimme mochten von ihm herrühren. Noch lieben sie alle
+diese Eigenschaften an ihm und freuen sich ihres kleinen Tyrannen.
+
+Jetzt aber liegt er still in den Kissen, sein Atem geht pfeifend und
+hastig, und wenn er hochgehoben wird, so schlingt er seine Arme fest um
+Irmgards Hals und preßt das zerquälte heiße Gesicht gegen ihre Wange.
+
+Irmgard ist zu gesund und vernünftig, um auf den Gedanken zu kommen,
+daß der Knabe nun so leiden müsse, weil sie gestern im Begriff war, ihn
+aufzugeben, oder weil es sie im letzten Jahr immer weniger schmerzte,
+wenn die Mutter ihn allein für sich in Anspruch nahm.
+
+Doch sie hat keine Sehnsucht mehr nach der »Welt«, sie nimmt es als
+eine Mahnung hin, daß trotz allem in diesem Hause der Pflichterfüllung
+ihr Platz sei. Sie weiß wieder, daß sie im Grunde eine ernste und
+arbeitsame Natur ist, die nur zuweilen feiertäglich beschwingt und
+gelöst sein will. In der Erinnerung an diesen Abend der Klänge und
+der Heiterkeit erkennt sie gleichzeitig, daß sie solcher Stunden auch
+bedarf, um nicht wie die Mutter über ihrem Tagewerk zu erkalten.
+
+Sie beschließt, sobald der Knabe wieder gesund sei -- der Gedanke an
+eine ernstliche Gefahr liegt ihr vollkommen fern --, den Kapitän zu
+bitten, daß er sie wieder in ein Konzert oder Theater begleite. --
+
+Als die Krankheit des Kindes sich steigerte und heftigere Formen
+gewann, ließ Schwester Emmi es sich nicht nehmen, zu Herrn Pohl in
+das Bureau hinüberzugehen, um dort einige Ratschläge aus ihrer Praxis
+niederzulegen. In die Wohnung wollte sie sich »ihrer Kinder wegen«
+nicht begeben, so gern sie persönlich geholfen hätte.
+
+Herr Pohl drückt ihr immer wieder die Hand. Er läuft in diesen Tagen
+unruhig und mit vielen Umwegen in seinem Betriebe umher und kann nicht
+still in seinem Schreibtischsessel sitzen. Nun schreibt er alles
+getreulich auf, was Schwester Emmi ihm diktiert, und sagt kaum ein
+Wort.
+
+Das wäre wohl das letzte, daß er diesen kleinen Kerl verlieren sollte,
+den er allmählich ohne viel Aufhebens in sein altes, viel getäuschtes
+Herz aufnahm.
+
+Er begleitet Schwester Emmi bis vor die Tür und gibt beim Abschied ihre
+kleine feste Hand langsam frei. Wie er durch den dunklen Korridor zu
+seinem Zimmer zurückgeht, stützt er sich ein paarmal mit der Handfläche
+schwer gegen die Wand. --
+
+Vor der Kantine begegnet Schwester Emmi dem Generaldirektor. Sie
+will ihm flink ausweichen, aber er tritt ihr entgegen und sagt sehr
+ungehalten:
+
+»Ich sehe, Sie verlassen hier Ihren Platz!«
+
+Sie glaubt, daß er sah, woher sie kam, und greift rasch zu einer Lüge.
+
+»Ich hatte nur in der Mühle für die Verwaltung etwas auszurichten«,
+stammelt sie.
+
+»So. Sie von der Fürsorge hätten am wenigsten Ursache, die ansteckende
+Krankheit von drüben hierher zu verschleppen. Oder ist die Gefahr
+vorüber?« fügt er etwas milder hinzu.
+
+Es fällt ihr ein, daß es sich doch eigentlich um seinen eigenen Sohn
+handele und daß die Besorgnis ihr vor dem Generaldirektor zur Ehre
+gereichen müsse. Sie antwortet daher mit betrübtem Blick:
+
+»Leider nein. Es steht sehr schlimm.«
+
+Unwillkürlich sieht sie dabei verlegen zu Boden, und da sie in
+Anwesenheit von Vorgesetzten immer ein wenig verwirrt ist, zieht ein
+roter Schein über ihr kleines Gesicht.
+
+Der Generaldirektor ist seit dem Telephongespräch in dieser
+Angelegenheit mißtrauisch geworden. Er vermutet überall Mitwisser,
+hämischen Klatsch. Im übrigen aber hofft er noch, daß seine
+wahnwitzige Hypothese falsch sein könne. Er bringt sich selbst in
+schiefe Situationen, um endlich aus der scheußlichen Ungewißheit
+herauszukommen. Vielleicht hat er zage vermutet, bei diesem Gespräch,
+das zu einer glatten Zurechtweisung der armen Fürsorgeschwester wurde,
+etwas zu erfahren.
+
+Ärgerlich wendet er sich ab und geht in das Verwaltungsgebäude.
+
+Am Schluß der geschäftlichen Besprechung mit dem Kapitän sagt er:
+
+»Ich sah vorhin die Fürsorgeschwester von der Mühle kommen. Was hat
+gerade sie dort zu suchen, wo die ansteckende Krankheit ist? Hatten Sie
+keinen anderen Boten?«
+
+Es verstimmt ihn, daß er nicht sofort davon sprach, sondern nervös
+während der geschäftlichen Auseinandersetzung die geschickteste
+Formulierung suchte. Seine Worte klingen daher schroffer, als es in
+seiner Absicht lag.
+
+Der Kapitän ist nicht geneigt, sich von einem Vorwurf, zu dem keine
+Veranlassung vorliegt, auf Kosten eines Angestellten zu befreien.
+Außerdem weiß er nun, worauf Joachim Becker hinauswill.
+
+»Ja,« meint er leichthin, während er mit den Händen auf dem Rücken in
+die Mitte des Raumes stelzt, »sie ist drüben bekannt, die Schwester
+Emmi. Sie hat seinerzeit Fräulein Pohl gepflegt. Übrigens haben Sie
+wohl auch nicht gewußt, daß sie eigentlich gelernte Säuglingsschwester
+ist?«
+
+»Nein«, sagt der Generaldirektor verdutzt. Nun hat er seine Gewißheit.
+Auf so viel Aufklärung war er nicht einmal gefaßt. »Sie macht doch
+ihre Sache bei unserer Fürsorge ganz gut?« bringt er, immer noch sehr
+barsch, hervor.
+
+»Allerdings, ausgezeichnet«, erwidert der Kapitän, der nun seine
+Stiefelspitzen beguckt. »Die Kenntnisse schaden durchaus nicht. Warum
+sollen sie nicht auch hier im Hafen noch zu verwerten sein?«
+
+Er lacht wie über einen Witz. Der Generaldirektor nimmt es als eine
+geschmacklose Anspielung und verabschiedet sich zum erstenmal von
+diesem korrekten Mitarbeiter, ohne ihm die Hand zu reichen. -- -- --
+
+Eines Nachts, nachdem Frau Pohl in ununterbrochener Pflege um das Leben
+des kleinen Kranken gekämpft hat, wird sie wieder von dieser Vision
+erschreckt: ein Kind, noch unausgeprägt in seinen Formen, vielleicht
+erst wenige Tage alt, liegt ohne Atem in ihrem Arm; sie lauscht, tastet
+und kann die Starrheit des winzigen Körpers mit ihrer eigenen Wärme
+nicht lösen.
+
+Unmittelbar anschließend erscheint ihr dann diese beängstigende
+Barriere, die undurchdringliche Wand vor dem Abgrund in ihrer
+Erinnerung.
+
+Sie weiß nichts mit diesem Bild zu beginnen, denn da liegt ihr Kind
+mit den Zügen Michael Pohls, und es fehlt ihr jede Ordnung in ihrem
+Gedächtnis.
+
+Sie beugt sich zu dem Knaben herab und lauscht, dicht am fiebernden
+Körper, seinem geschwächten Herzschlag. Periodisch wiederkehrende
+Erstickungsanfälle, wohl vierzig an diesem Tag, haben den kleinen
+Organismus vollkommen erschüttert.
+
+Frau Pohl starrt mit ihren heißen, fanatischen Augen angespannt auf die
+Uhr. Sie hat sich die Zeit für den nächsten Anfall ausgerechnet. Die
+Sekunden schleichen. Aber der Zeiger rührt sich, rückt fürchterlich
+vorwärts.
+
+Das Brausen und Feilen des Blutes in ihrem Kopf, die gleichmäßigen
+Atemzüge ihres Mannes, der -- hilfsbereit -- angekleidet auf seinem
+Bett liegt, das Ticken der Uhr scheinen ihr lärmende Geräusche in der
+nächtlichen Stille.
+
+Der Knabe wirft sich herum. Frau Pohl umklammert das Gitter des Bettes,
+vornübergebeugt, atemlos.
+
+Den Körper gestrafft, jedes Gefühl, jeden Gedanken ausgeschaltet, alle
+Kräfte im wartenden Blick, im Lauschen des Ohrs gesammelt, so verharrt
+sie ohne Gefühl für Zeit und Raum.
+
+Sie nimmt wahr, wie die Atemzüge allmählich reiner und gemäßigter
+werden, wie der Körper sich beruhigt, wie die fiebernde Röte schwindet.
+
+Unvermittelt entsinnt sie sich der Uhr. Überschreitet der Zeiger nun
+die Zahl, ohne daß die Stille von jenem grauenhaften Bellen und Stöhnen
+des Kindes gestört wird?
+
+Sie wendet ihr Gesicht zum Zifferblatt. Es verschwimmt, grau, mit einem
+tanzenden Zahlenkreis, vor ihrem Blick. Sie hebt die Hände über die
+Augen und starrt fassungslos auf die Uhr. Zwei Stunden sind vergangen,
+zwei Stunden war ihr eigenes Dasein ausgeschaltet, zwei Stunden bereits
+beginnt der Knabe zu genesen.
+
+Sie preßt die Zähne gegen ihren Handrücken, um nicht vor Freude zu
+schreien. Sie weint lautlos, mit krampfhaft unterdrücktem Schluchzen,
+während sie in der Mitte des Zimmers steht, hager, abgezehrt, mit ihrem
+glühenden, eingefallenen Gesicht.
+
+Dann setzt sie sich auf den Stuhl neben das Kinderbett und schläft
+augenblicklich ein, die Hände im Schoß, den Kopf zur Seite geneigt, die
+rissigen Lippen leicht geöffnet. --
+
+Im Morgengrauen erwacht Michael Pohl. Die Kleider kleben an seinem
+Körper. Die Glieder sind schwer, ohne Gefühl.
+
+Ein schwaches, leise stöhnendes Husten läßt ihn erschreckt hochfahren.
+Mit stechendem Schmerz fühlt er das Blut von der raschen Bewegung in
+den Schläfen aufwallen und verebben.
+
+Er geht zum Kinderbett hinüber. Auch Frau Pohl ist von dem Geräusch
+schreckhaft erwacht. Sie beugt sich über den Knaben und hebt das
+Gesicht zu ihrem Mann wieder auf.
+
+»Er hat im Schlaf gehustet«, flüstert sie, mit einem weichen Lächeln im
+ausgeruhten Gesicht.
+
+Ihre Blicke haften ineinander, sekundenlang. Michael Pohl berührt
+sachte ihre Schultern. Da fährt sie zusammen.
+
+»Wieder habe ich es gesehen«, flüstert sie ängstlich. »Jetzt, in diesem
+Augenblick, ganz deutlich.«
+
+Er löscht das Licht und führt sie in das Nebenzimmer. Blaugraue
+nebelverhüllte Morgenluft ist hinter den Fenstern.
+
+Während Frau Pohl starr geradeaus blickt, beginnt er, sie vorsichtig
+auszufragen.
+
+Sie erzählt von der Vision.
+
+»Ja,« sagt er, den Blick ruhig, zwingend auf ihre Augen gerichtet, »das
+war dein Sohn! Und der Knabe nebenan, den du dir heute nacht ins Leben
+zurückgerettet hast, ist Irmgards Sohn. Aber nun gehört er dir, als
+wäre er dein eigener.«
+
+Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Steif wendet sie ihn dem Fenster zu
+und starrt wieder in ihre Erinnerung zurück.
+
+»Wie lange war ich krank?« fragt sie mühselig, tonlos.
+
+»Fünf Jahre.«
+
+»Fünf Jahre ...« wiederholt sie langsam.
+
+Michael Pohl nimmt ihre kalten, zuckenden Hände auf.
+
+»Alles,« flüstert sie hastig, »alles mußt du mir erzählen!«
+
+Und er berichtet langsam, was sie zunächst zu fassen vermag, bis
+mählich ihre Augen ruhig werden und sie alle Zusammenhänge erkennt.
+
+Sie äußert sich nicht. Sie lehnt stumm den Kopf an seine Schulter und
+schließt die Augen.
+
+Er streicht zärtlich über ihre stumpfen braunen Haare mit den grauen
+Streifen und atmet leichter, befreit. Ob jetzt das Leben auch für sie
+beide noch einmal beginnt? -- -- --
+
+Nun weiß Joachim Becker, welche Bewandtnis es mit dem Knaben in der
+Mühle hat, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Laufen nicht genug
+Kinder in der Welt umher, die von ihren Vätern niemals gesehen wurden,
+ja, von deren Existenz die Erzeuger keine Ahnung haben? Es wäre
+wirklich keine Ursache, diese Angelegenheit allzu wichtig zu nehmen.
+
+Aber daß er gerade jetzt auch von der Krankheit erfahren mußte,
+kompliziert den Fall. Schließlich ist er ein fühlender Mensch, und
+wenn jemand schwer darniederliegt, kann er ihm seine Teilnahme nicht
+versagen. Er malt sich aus, was der Verlust für Irmgard Pohl bedeuten
+müßte, denn an ein Kind von fast zwei Jahren hat man sich immerhin
+gewöhnt. Schon aus diesem Grunde hätte er gern gewußt, wie es mit dem
+Knaben steht.
+
+Er findet eine geschäftliche Angelegenheit, die sofort mit dem
+Kapitän besprochen werden kann. Also fährt er wieder in den Hafen
+und sieht sich dort gelegentlich auch nach Schwester Emmi um. Man
+könnte ihr heute ein freundliches Wort geben, obgleich ihm der Gedanke
+nicht angenehm ist, daß sie recht viel von seinen rein privaten
+Angelegenheiten weiß.
+
+Schwester Emmi wird ihn wohl rechtzeitig erspäht haben. Sie läuft nicht
+ein zweites Mal blind in Ungelegenheiten hinein. Aber der Kapitän ist
+da, freundlich und höflich wie immer. Joachim Becker sieht ein, daß er
+ihm neulich Unrecht getan hat.
+
+Er drückt ihm kräftig die Hand und bietet ihm von seinen Zigaretten an,
+während sie sich über die Fortschritte am Bau ihres Getreidespeichers
+unterhalten.
+
+»Nun werden wir es bald nicht mehr nötig haben, unser Getreide drüben
+einzulagern.«
+
+»Wie steht es übrigens jetzt mit der Ansteckungsgefahr? Es wäre mir
+sehr peinlich, wenn einer der Schiffer, die hier im Winterlager sind,
+dadurch mit seinen Kindern Sorgen bekäme«, meint der Generaldirektor
+bei dieser Gelegenheit. Es gelingt ihm der beabsichtigte leichte Ton.
+
+Vielleicht ist der Kapitän der Ansicht, daß die Sorge um die Kinder
+der Schiffer erst an zweiter Stelle käme. Er rückt ein wenig an seinem
+Stuhl und erwidert:
+
+»Wie solche Krankheiten manchmal verschleppt werden können, ist
+nicht abzusehen. Ich habe mich gestern telephonisch erkundigt und
+die betrübliche Nachricht erhalten, daß der Junge in größter Gefahr
+schwebt. Ob die Krisis jetzt überwunden ist, weiß ich nicht.«
+
+Wenn er mehr Erbarmen mit Joachim Becker hätte, der so vortrefflich
+seine Vatergefühle verbirgt, dann würde er vielleicht seiner Sekretärin
+Auftrag gegeben haben, anzufragen, wie es jetzt »drüben« steht. Der
+Generaldirektor hätte eine beruhigende Nachricht mitnehmen können, wenn
+sie auch sonst ohne Wert für ihn wäre. Doch der Kapitän unternimmt
+nicht mehr, als für einen neutralen Mann nötig ist.
+
+Joachim Becker drückt sein Bedauern über den traurigen Fall aus und
+wendet sich wieder den geschäftlichen Dingen zu.
+
+Nachdem er sich verabschiedet hat, läßt der Kapitän sich sofort mit
+Irmgard Pohl verbinden, um seinerseits Gewißheit zu gewinnen.
+
+»So, das ist ja ausgezeichnet, ausgezeichnet!« antwortet er auf die
+gute Auskunft hin. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, den Arm mit dem
+Hörer aufgestützt, als wolle er sich noch lange in dieser angenehmen
+Weise unterhalten.
+
+»Da gratuliere ich uns allen!« ruft er hinterher.
+
+»Ja, mir auch«, antwortet er auf Irmgards Frage, »denn ich habe doch
+die Einladung nicht vergessen.«
+
+Er plaudert im gleichen angeregten Ton weiter: Gewiß, eine Woche würde
+er sich gern gedulden, auch etwas länger, wenn es sein müßte.
+
+Dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Stimme wird noch lauter, weil
+er den Ton sehr tief aus der Kehle holen muß.
+
+Wie? Verreisen? Wie lange? Ein ganzes Jahr? In die Schweiz? Er habe
+doch recht gehört: sie selbst? Ja, dann wünsche er alles Gute. Ach,
+in ein paar Wochen erst? Gewiß, dann hätte er noch Gelegenheit, sich
+persönlich zu verabschieden. Demnach also auf Wiedersehen! Und eine
+Empfehlung an die Eltern!
+
+Er legt den Hörer langsam hin. Sein schmales kantiges Gesicht mit den
+vielen Falten in der braunen, trocknen Haut sieht nicht befreiter aus
+als das Joachim Beckers, der vor wenigen Minuten diesen Raum verließ.
+
+Aber auch diese Woche vergeht, und er begibt sich eines Abends gegen
+sieben Uhr auf den kurzen Weg zum Nachbarn. Seine Geige ist natürlich
+zu Hause geblieben, denn nun hat es ja keinen Zweck, damit zu beginnen.
+
+Frau Pohl lernt er noch immer nicht kennen, weil sie der
+Luftveränderung wegen mit dem Knaben verreist ist. Das sei ein gutes
+Mittel gegen diese Krankheit, meinte Irmgard Pohl am Vormittag,
+gelegentlich der telephonisch ausgesprochenen Einladung. Damit wäre
+übrigens auch die Ansteckungsgefahr für »seine Kinder« beseitigt.
+
+Er wird von Vater und Tochter sehr liebenswürdig empfangen. Sie
+essen gemeinsam, und der Kapitän bestreitet hauptsächlich die Kosten
+der Unterhaltung. Das kann nicht schwer für ihn sein, da er soviel
+auf seinen weiten Reisen erlebte. Auch von der Schweiz erzählt er.
+Vielleicht dürfe er ihr für die Reise einige Ratschläge geben.
+
+»Ach, stellen Sie sich meine Reise nur nicht als eine wechselvolle
+Vergnügungsfahrt vor, wie sie sich für einen Mann gestalten mag!« sagt
+Irmgard Pohl lachend. »Wir haben an ein Institut geschrieben, wo ich
+mich ein Jahr lang in praktischen Dingen und in Sprachen üben und mit
+jungen Menschen etwas Sport treiben kann. Der Vater findet, daß ich
+hier zu wenig Bewegung habe und daß er zu alt für mich sei.«
+
+»Ja, das ist wahr,« meint Herr Pohl, »Jugend gehört zu Jugend. Wir
+haben es uns reiflich überlegt. Und so wird es das Beste für alle
+sein.«
+
+»Da haben Sie recht«, bestätigt der Kapitän. »Da haben Sie vollkommen
+recht.«
+
+Dann wird er etwas einsilbig. Das Essen ist abgeräumt. Sie sitzen um
+den runden Tisch, Herr Pohl in seiner Sofaecke, und Irmgard findet es
+an der Zeit, mit Wein und Gebäck aufzuwarten.
+
+Herr Pohl sagt: »Wir wollen auf das Wohl unserer beiden
+Familienmitglieder anstoßen, die heute nicht bei uns sind.«
+
+Er sieht fast unternehmungslustig aus und läßt es sich nicht nehmen,
+von den »beiden« zu erzählen. Er habe sie gestern zu seinem jüngeren
+Bruder, dem Arzt, aufs Land gebracht. Da hätten sie die nötige
+Luftveränderung und ständige Pflege.
+
+»Und Ihre Tochter wollen Sie auch noch fortschicken?« Der Kapitän
+scheint mit so viel Veränderungen in der Familie wenig zufrieden zu
+sein.
+
+»Erst müssen die beiden zurückkommen«, meint Irmgard Pohl einlenkend.
+»Das kann drei bis vier Wochen dauern. Ich werde wohl erst im April
+fahren.«
+
+»So, im April«, meint der Kapitän. »Das sind ja fast zwei Monate bis
+dahin.«
+
+Er wird wieder aufgeräumter. Zum Schluß ist es noch ein freundlicher
+und angenehmer Abend.
+
+Herr Pohl begleitet seinen Gast ziemlich spät bis zum Tor hinter der
+Mühle und sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen festen
+steifen Schritten zu seiner einsamen Wohnung im riesengroßen dunklen
+Verwaltungsgebäude hinüberstapft.
+
+
+
+
+ Das Brot
+
+
+Nun ist auch der Tag gekommen, an dem der fertige Getreidespeicher
+seiner Bestimmung übergeben werden kann.
+
+Das zweite Hafenbecken ist vollendet, und die gewaltigen Konturen des
+Speichers zeichnen sich auf seinem neuen Wasserspiegel ab.
+
+Der erste Kahn mit einer russischen Getreideladung wird hereingelassen,
+und das ist ein großer und erhebender Augenblick.
+
+Sogar Kommerzienrat Friemann erschien, um diesem Vorgang beizuwohnen,
+der die ersprießliche Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Hafen
+einleitet. Auch der Generaldirektor nahm sich die Zeit, die er diesem
+Entwicklungsstadium seines Hafens schuldig ist.
+
+Er stellt sich zu den Ingenieuren, die nun ihre Arbeit zu übergeben
+haben, und freut sich ihres Eifers.
+
+Bodenmeister Ulrich steht neben dem Kapitän. Er hat die Augen fest
+auf das Hebelbrett der Antriebsmotoren gerichtet, das er von nun an
+bedienen wird. Heute übernehmen es noch die Ingenieure.
+
+Die langen Schläuche der Saugförderanlage werden in den Kahn
+hinabgelassen, die Maschinen beginnen zu rattern.
+
+Auch Herr Karcher ist herbeigekommen, um ehrfürchtig das fertige Werk
+der Technik zu bestaunen. Er stellt sich in der Nähe Schwester Emmis
+auf, die von Felix Friemann in ein Gespräch gezogen wird. Es ist wieder
+Frühling, und Schwester Emmi hat ein frischgewaschenes, hellblau
+gestreiftes Kleid an, dazu eine blendend weiße Latzschürze, die sich
+über dem Busen zierlich wölbt.
+
+»Es fängt an«, ruft sie aus. Sie ist die erste, die in den Speicher
+eilt. Da steht schon der Bäckermeister Reiche und betrachtet die
+ankommenden Getreidekörner mit feuchten Augen. Sie fallen in schmaler
+Reihe aus den Rohren auf den Boden des Speichers herab und bilden
+niedrige Häufchen, von einer Staubwolke umwogt.
+
+Aber seht, wie sie wachsen! Als der Kommerzienrat mit Joachim Becker
+und dem Kapitän hinzutritt, sind es richtige Hügel geworden, die sich
+in der Höhe und Breite vergrößern. Und wer Geduld hat zu warten,
+kann es erleben, wie der Speicher sich füllt, wie es an den Wänden
+hochklettert und die Räume überschwemmt. Nun sieht man keinen Fußboden
+mehr, die Flut der kleinen prallen Körner wächst an den eisernen
+Pfosten hoch, die den Raum wie Säulengänge teilen, sie steigt bis zu
+den Fenstern hinauf, die dicht unter der Decke liegen, sie ist schwer
+und reif wie ein fruchtbarer Segen im neuen Haus.
+
+»Wir wollen uns auch das Becherwerk und die Bandförderung ansehen«,
+sagt der Kommerzienrat. Er hat einst das Getreide kiloweise verhandelt,
+und hier ist nun sein Getreidespeicher, der über 30000 Tonnen loses
+Getreide faßt.
+
+Sie gehen zu den blitzschnell eilenden Bändern, die das Getreide
+davontragen und verteilen. Während die Motoren surren, eilen die Körner
+in dünner Schicht unter einer fliehenden grauen Wolke von Staub dahin,
+aber wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, so sind sie wie Gold.
+
+Felix Friemann, der den Gefühlen seines Vaters ferner steht, geht mit
+Schwester Emmi wieder zu den Kähnen hinaus, um mit ihr zu plaudern.
+Auch er hat seine Freude an ihrem Lachen und an ihren hellen flinken
+Worten. Herr Karcher zieht sich langsam in sein Lagerkontor zurück.
+
+»Nun habe ich mein Exposé über die Erweiterung und Organisation unserer
+Fürsorgeeinrichtungen bei der Generaldirektion abgegeben«, sagt
++Dr.+ Friemann zu Schwester Emmi.
+
+»Ach, schriftlich haben Sie das sogar gemacht! Mein Gott, was wird uns
+das für Umwälzungen bringen! Muß man dann die Finger auf eine modernere
+oder wissenschaftlichere Weise verbinden?«
+
+Nein, sie nimmt die Wichtigtuerei dieses Kommerzienratssohnes durchaus
+nicht ernst.
+
+»Nun, das gerade nicht! Doch es werden Abteilungen und Untergruppen
+eingerichtet, und Sie sind dann nicht mehr die allmächtige Schwester
+Emmi, sondern einfach Schwester eins.«
+
+»Herrjeh, wer wird dann Schwester dreizehn?« Sie will sich ausschütten
+vor Lachen.
+
+»So weit wollen wir noch nicht gehen. Wir könnten getrost noch eine
+Schwester Anni oder Elli bekommen, die liebenswürdiger sind als Sie, --
+die Anni oder Elli.«
+
+Ihr Spott hat ihn etwas verwirrt, denn er fängt schon an, einzelne
+Worte zu wiederholen.
+
+»Viel Vergnügen!« ruft sie aus. Sie blickt mit ihren lustigen Augen zu
+ihm hoch und hebt sich auf die Fußspitzen, um auch seine übertriebene
+Länge zu verspotten. »Die können Sie wirklich gebrauchen, die Anni oder
+Elli«, sagt sie noch lachend, während sie bereits enteilt.
+
+Felix Friemann sieht ihr traurig nach. Er muß sich schon von einer
+kleinen Fürsorgeschwester auslachen lassen, er will sich bessern, das
+will er gewiß.
+
+Der Kommerzienrat und Joachim Becker sehen sich auch sonst noch den
+Hafen an, dann fahren sie gemeinsam in das Stadtbureau zurück. Felix
+Friemann kann die beiden im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch mit
+seinen langen Beinen einholen und seinen Schwager bitten, an Adelheid
+und seine Tochter Grüße zu bestellen.
+
+Als alle Besucher fortgegangen sind und auch die Ingenieure mit dem
+Kapitän im Verwaltungsgebäude verschwanden, steht der Bäckermeister
+Reiche immer noch vor den Getreidemassen des Speichers und ist in
+tiefes Nachdenken versunken.
+
+Er bückt sich und nimmt die Körner so voll in seine große helle Hand,
+daß sie zwischen den Fingern herausdringen, dann läßt er sie fallen,
+und wenn die Faust wieder leer ist, wird er von neuem traurig.
+
+Schließlich muß er den Speicher verlassen. Bodenmeister Ulrich wird
+ungeduldig, er will endlich unumschränkter Herrscher in seinem Reiche
+sein. Die Befehle an die Arbeiter sind knapp und bestimmt, als spräche
+Joachim Becker mit ihnen.
+
+Herr Reiche geht langsam und schwerfällig bis an das Ende des
+Hafenbeckens und um die Schmalseite herum zum Kanal, der den Hafen von
+der Mühle trennt.
+
+Da steht der Speicher des Müllers, er ist nicht weniger vollkommen,
+nur etwas kleiner und älter. Daneben arbeitet die Mühle, die aus den
+prallen goldenen Körnern das Mehl bereitet. Und in der Stadt sind die
+vielen Meister, die ihr Brot davon backen. Sie holen es glühendheiß
+aus den Öfen, aber sie nehmen es trotzdem für den Bruchteil einer
+Sekunde zwischen die Hände und fühlen den elastischen goldbraunen Laib.
+Der ehemalige Bäckermeister glaubt den frischen sauer-süßen Duft zu
+verspüren, dann denkt er an die Selter- und Malzbierflaschen und an
+die Milchgläser, die er täglich mit einer langen Bürste reinigt.
+
+Er ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und findet keinen Weg aus
+seiner Not.
+
+Nun fällt sein Blick auf einen Wagen, der neben der Mühle mit Säcken
+beladen wird. Er gehört einer großen Bäckerei, die sich ihr Mehl selbst
+holt und dabei den Zwischenhändler und die Rollfuhrspesen spart.
+
+Herr Reiche beginnt, krampfhaft zu überlegen. Wenn man nun hier, direkt
+neben der Mühle -- zum Beispiel da, wo jetzt der Wagen steht -- eine
+Bäckerei errichtete, dann fielen nicht nur die Zwischenhändler und die
+Rollfuhrkosten, sondern auch das eigene Fuhrwerk fort.
+
+Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine ganze Woche lang, Tag und Nacht.
+Beim Gläserspülen greift er plötzlich nach irgendeinem Fetzen Papier
+und rechnet. Und wenn er des Nachts erwacht, so hält ihn die Grübelei
+stundenlang fest. Dabei sieht er nicht übernächtig aus, nein, im
+Gegenteil: prall und frisch. Seine Ohren sind stets rot angeglüht,
+seine Augen glänzen, nur in den Bewegungen scheint er sehr zerstreut.
+
+Endlich faßt er einen Entschluß. Er zieht zum Erstaunen seiner Frau
+mitten an einem Wochentage seine besten Kleider an und geht fort. Zur
+Stunde des Arbeitsschlusses, als in der Kantine wieder viel zu tun ist,
+geht er, ohne eine Erklärung abzugeben, davon.
+
+Er hat keinen weiten Weg. An der Föhrbrücke biegt er links ab zum
+Mühlengrundstück. Dort läßt er sich beim Mühlenbesitzer Pohl selbst
+melden. Er wird in das Privatkontor geführt, und seine Ohren brennen
+wie Feuer.
+
+Michael Pohl fordert ihn -- was er bei jedem Besucher zu tun pflegt,
+ob es nun der Kapitän oder der Kantinenwirt ist -- mit einer stummen
+Handbewegung auf, im alten Sessel gegenüber seinem Schreibtisch
+Platz zu nehmen. Dann wartet er geduldig den Anfang der Rede ab. Er
+zeigt weder Neugierde noch Erstaunen, denn er ist schon an manchen
+eigenartigen Besuch, besonders aus dem Hafen, gewöhnt.
+
+»Herr Pohl,« beginnt der Bäckermeister, »wenn ich so die Mühle sehe und
+die Getreidespeicher im Hafen und hier, da kommt mir so eine Idee --
+der Herr Pohl wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist.
+Hier ist das Getreide, sage ich mir, und das Mehl --«
+
+Er bricht seine Rede ab, um die Hauptsache nachzutragen:
+
+»Ich bin nämlich Bäckermeister von Beruf, aber nun verwalte ich die
+Kantine im Hafen --«
+
+Diese Worte, die ihm als geschickte Umschreibung des Wortes
+»Kantinenwirt« gefallen, hatte er sich mit großer Mühe zurechtgelegt,
+und nun sind sie wirklich richtig und glatt herausgekommen. Er ist
+geradezu glücklich darüber, stellt sich noch regelrecht mit seinem
+Namen vor und hat den Mut, weiterzusprechen.
+
+»-- das Mehl, sage ich mir, und die Bäcker, die das Brot backen, müssen
+es erst in die Stadt fahren oder sie bekommen es von anderwärts oder
+vom Zwischenhändler -- der Herr Pohl werden mich schon verstehen?«
+
+Der Mühlenbesitzer nickt.
+
+»Nun sage ich mir, wie wäre es, wenn man das Mehl gleich hier verbacken
+würde? An Ort und Stelle. Dicht neben der Mühle. Da ist ein freier
+Platz, ich meine auf dem Grundstück vom Herrn Pohl, und wenn ich so
+rechne und rechne, so denke ich, daß das Brot mindestens um fünf
+Pfennig für das Stück billiger werden könnte als anderswo.«
+
+Er sieht den Mühlenbesitzer erwartungsvoll an. In seinem Kopfe braust
+es, als säße er im Maschinenraum des Getreidespeichers, direkt neben
+den fünfzig Antriebsmotoren.
+
+Mühlenbesitzer Pohl schweigt eine ganze Weile, dann sagt er langsam:
+
+»Der Gedanke ist nicht schlecht. Wie hatten Sie sich das weiter
+gedacht?«
+
+Der Bäckermeister richtet sich in seinem Sessel auf und macht erst
+einmal einen tiefen Atemzug. Jetzt fürchtet er sich nicht mehr. Die
+Details sind ihm außerdem geläufiger als die einleitende Rede. Er
+holt einen Zettel hervor, auf dem er die Resultate seiner Rechnereien
+abgeschrieben hat, und erklärt.
+
+»Wer sollte nun die Bäckerei errichten?« fragt Herr Pohl.
+
+»Wenn der Herr Pohl sich beteiligen würden? Mit einer Kleinigkeit und
+mit meiner Arbeitskraft könnte ich wohl mitmachen.«
+
+»Und wer würde die Ersparnis von fünf Pfennig gewinnen, da die
+Brotpreise einheitlich geregelt sind?«
+
+»Der Herr Pohl dürfen nicht denken, daß es mir um den Profit zu tun
+ist. Die Regelung will ich dem Herrn Pohl selber überlassen. Wenn
+ich nur meine alte Arbeit wiederbekomme. Das Brotbacken war mir das
+liebste, die Kinkerlitzchen überlasse ich den anderen.«
+
+»Ja, Herr Reiche, das wollen wir uns mal beide durch den Kopf gehen
+lassen. Haben Sie noch zu einem anderen Menschen davon gesprochen?«
+
+»Keiner Seele habe ich ein Sterbenswörtchen gesagt.«
+
+»Dann wollen wir zunächst auch weiter darüber schweigen. Und Sie kommen
+morgen um die gleiche Zeit noch einmal her.«
+
+Sie trennen sich mit einem kräftigen Händedruck.
+
+Der Mühlenbesitzer steht am Fenster und sieht dem Manne nach, wie er
+mit schweren wiegenden Schritten über den Mühlenplatz geht.
+
+Es gab eine Zeit, da der Bäckermeister Reiche sich für seinen neuen,
+von der Frau ersehnten Beruf die nötige Trinkfestigkeit holen mußte. Er
+hatte keinen Geschmack am Alkohol, aber wenn man ihn ausschenken soll,
+muß man ihn auch trinken können. So übte er sich eine ganze Weile
+darin, und als er die alkoholfreie Kantine bekam, war ihm das Trinken
+zur Gewohnheit geworden. Nun hat er wieder einen festen gleichmäßigen
+Gang und sogar Ideen im Kopf.
+
+»Der Mann weiß gar nicht, was er hier für einen Plan aufgerollt hat«,
+sagt der Mühlenbesitzer vor sich hin. -- »Der Herr Pohl wollen es mir
+nicht verübeln, wenn es nicht recht ist«, hört er im Geiste noch einmal
+den Bäckermeister sagen. Michael Pohl schüttelt den Kopf und denkt nun
+erst gründlich über die Sache nach.
+
+Dann geht er in das große Kontor hinüber und ruft seine Tochter.
+
+Noch ist sie hier in seinem Bureau, und er kann sie um ihren Rat
+fragen. Aber in wenigen Tagen will sie ihre Reise antreten, und er weiß
+noch nicht, wie er dann ohne seinen Kompagnon auskommen soll.
+
+Sie setzt sich im Privatkontor auf ihren angestammten Platz im
+Ledersofa und sieht ihren Vater interessiert an.
+
+Michael Pohl erzählt ihr von der Idee des Bäckermeisters. Aus der
+Bäckerei ist eine Brotfabrik geworden, die Brote zählen nicht nach
+Hunderten, sondern nach vielen Tausenden, und die fünf Pfennig
+Ersparnis für jedes Brot will er den Konsumenten überlassen, denn es
+bleibt immer noch Verdienst genug.
+
+»Hier ist das Getreide,« sagt der Mühlenbesitzer, »hier das Mehl und da
+das Brot für die ganze Stadt.«
+
+Irmgard ist aufgesprungen. Sie sieht ihren Vater mit leuchtenden Augen
+an.
+
+»Ja,« sagt sie, »Vater, das ist fast so groß wie damals das Projekt vom
+Hafen.«
+
+Michael Pohl lächelt. »Nun, ganz so hoch wollen wir uns nicht
+versteigen. Und vorläufig sieht unser Plan noch genau so schwierig aus
+wie die Idee vom Hafen vor drei Jahren.«
+
+»Mein Gott,« sagt Irmgard, »was sollen dann die vielen Bäcker machen,
+wenn wir das Brot allein backen wollen?«
+
+»Sie können es mit dem gleichen Verdienst verkaufen, als wenn sie es
+selbst gebacken hätten. Aber sie werden natürlich ihr Handwerk nicht
+aufgeben wollen, um Händler zu werden. Du siehst, daß hier schon eine
+Schwierigkeit ist.«
+
+Wie flink denkt nun eine Frau!
+
+»Warum sollten sie nicht ihre Semmeln und Kuchen backen wie bisher?
+Wenn ich an unseren Bäcker denke, der ein ganz besonderes Brot
+bereitet, mit einem Geschmack, den man sonst nirgends wiederfindet,
+dann sage ich mir, es könnte doch jeder seine Spezialitäten
+weiterführen. Man zahlt dann gern etwas mehr, wenn man es sich leisten
+kann. Wir aber backen hier nur das billige Einheitsbrot, das tägliche
+Brot des Volkes, kurz: ~das~ Brot.«
+
+Michael Pohl sieht sie befriedigt an. »Nun bleibt nur die Frage, wer
+der Unternehmer wird, und wie man es den Beteiligten klar macht. Ich
+meine die Produzenten, die den Gewinn dem Volke überlassen sollen.«
+
+»Ist das Projekt für einen einzelnen zu groß?«
+
+»Das auch, obgleich ich außer meinem freien Grund und Boden reichlich
+Kapital dazugeben könnte.«
+
+»Könntest du das?«
+
+»Gewiß, die Mühle entwickelt sich von Jahr zu Jahr und wirft größere
+Gewinne ab, unsere Ansprüche bleiben die gleichen. Nun ersetzest du mir
+sogar noch eine Arbeitskraft, und deine Mutter kennt nur ihre peinliche
+Pflichterfüllung. Ich habe das Geld nicht im Hafen unterbringen können,
+dazu war es zu wenig, jetzt muß ich es endlich für unseren Sohn
+anlegen.«
+
+»Aber --?« fragt Irmgard Pohl.
+
+»Aber für eine Brotfabrik, die den Bedarf der ganzen Stadt decken soll,
+brauchen wir die Unterstützung der Kommune oder der Allgemeinheit. Das
+ist ein volkswirtschaftliches Unternehmen, für das wir uns keine Feinde
+aufladen dürfen.«
+
+»Wer sollte wohl feindlich gesinnt sein, wenn es sich darum handelt,
+der Allgemeinheit das Brot zu verbilligen?«
+
+Der Mühlenbesitzer lacht. »Wer? Die Konkurrenz, die Rechthaber, der
+Neid, die Zwietracht. Es beständen viele Beweggründe.«
+
+»Das Hafenprojekt hat sich auch verwirklichen lassen.«
+
+»Da handelte es sich nur darum, Interessenten zu finden, die durch
+den gleichen Gedanken geeint werden: Geld zu verdienen. Dieses Motiv
+versöhnt die heftigsten Feinde. Nun aber sollen wir für einen ideellen
+Zweck werben. Meinst du, daß die Inhaber der bereits bestehenden
+Brotfabriken mit der Verbilligung einverstanden sind? Was geht sie das
+Volk an, wenn sie von ihrem Verdienst einbüßen?«
+
+»Ja, müssen wir darum den Mut verlieren?«
+
+»Nein, gewiß nicht. Wir wollen es versuchen. Das wäre sicherlich ein
+großer Erfolg, unter so viel Köpfen eine Einigung zu erzielen. Es gälte
+fast mehr als die Verbilligung des Brotes.«
+
+»Siehst du, da ist wieder der alte Schwärmer. Gott sei Dank! Ach, weißt
+du, ich bin ganz stolz, daß wir nun auch so ein großartiges Projekt
+haben.«
+
+Michael Pohl nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und lacht.
+
+»Man möchte es durchaus mit einem anderen aufnehmen!« Und mit
+liebevoller Resignation fügt er hinzu: »Daran erkenne ich doch wieder
+die Frau.«
+
+Sie schreibt ihm seine Briefe und ist ihm ein guter Kamerad, aber sie
+verfehlt doch dabei ihren besten Daseinszweck.
+
+Als der Bäckermeister am nächsten Tage wiederkommt, kann der
+Mühlenbesitzer ihn mit ~seinen~ Berechnungen empfangen. Er
+zieht seine tüchtige Mitarbeiterin zu den Beratungen hinzu, und sie
+beleuchten das Projekt von allen Seiten. Da wird nichts übersehen, und
+ihr Fachmann, der schwerfällige Bäckermeister, kann immer wieder neue
+Momente ins Treffen führen.
+
+Zum Schluß sind sie dahin einig geworden, daß die beiden Männer
+zunächst eine Orientierungsreise unternehmen, um ähnliche Anlagen in
+anderen Städten zu besichtigen. Dann wollen sie sich an die zunächst
+Interessierten, die Bäckermeister, wenden.
+
+Frau Reiche hat die Augen gehörig geöffnet, als ihr Mann ihr kurz und
+bündig erklärte, daß er eine Reise zu unternehmen gedenke. Es liegt
+ihm fern, auf ihre Fragen etwa zu erwidern: »Ich habe dich auch nicht
+gefragt, was du mit deinen Besuchen im Gefängnis bezweckst.« Nein, er
+läßt sie nun ihres Weges gehen und macht seine Reise für sich.
+
+Nur daß er auch Fräulein Spandau keine Auskunft darüber geben kann,
+geht nicht ganz nach seinem Herzen. Sie sieht ihn mit ihren müden Augen
+stumm fragend an, und er sagt: »Auf Wiedersehen, Fräulein Spandau, wenn
+ich zurück bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes erzählen.«
+
+Das befriedigt sie nicht weniger, als wenn er ihr ein prächtiges
+Geschenk versprochen hätte.
+
+Wem wäre nicht eine Veränderung am Kantinenwirt Reiche aufgefallen,
+als er von seiner Reise wieder heimgelangte? Er hatte eine andere Art,
+zu gehen und zu sprechen, und er stellte sich nicht mehr hinter den
+Schanktisch, -- dieses Amt überließ er seiner Frau.
+
+Aber das geschah beileibe nicht, weil er sich zu gut dafür dünkte,
+sondern einzig und allein, weil er keine Zeit dafür fand. Wenn er nicht
+seine geheimen Besprechungen mit dem Mühlenbesitzer hatte, so mußte
+er mit dem Innungsmeister konferieren oder in den Versammlungen Reden
+halten. Selbst vor dem Ersten Bürgermeister hat er eines Tages mit
+Mühlenbesitzer Pohl und einigen Abgeordneten der Bäckerinnung gesessen.
+
+Er ist plötzlich ein geachteter Mann, man hört geduldig und ernst auf
+seine Worte. Und auch dem Mühlenbesitzer gegenüber hat er ein anderes
+Auftreten. Er sagt zum Beispiel: »Richtig, Herr Pohl, da haben Sie
+wieder recht.«
+
+Wo ist der geduckte Kantinenwirt, der einmal sagte: »Der Herr Pohl
+wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist?«
+
+Doch hier kann man wieder sehen, was der Prophet in seinem Vaterlande
+gilt. Hat Frau Reiche etwas von der Größe ihres Mannes verspürt? Nein,
+sie sagt: »Wie lange soll dieses Faulenzerleben noch dauern? Wenn das
+Konferenzen sind, mit denen du dich aufhältst, dann verwalte ich hier
+ein Hotel.«
+
+Als der Streit in der Bäckerinnung so lebhaft geworden war, daß die
+Hilfe der Zeitungen angerufen wurde, da schreckte man nicht davor
+zurück, dem Bäckermeister Reiche vorzuwerfen, daß er nichts weiter als
+ein Kantinenwirt sei. Vom Mühlenbesitzer Pohl jedoch wußte man, daß
+seine Beteiligung beim Hafen seinerzeit abgelehnt wurde; man ist nicht
+geneigt, ihn nun an einer Brotfabrik profitieren zu lassen.
+
+Wenn man keine sachlichen Bedenken finden kann, so gibt es der
+persönlichen genug.
+
+Aber nun ist auch der Trotz in Michael Pohl erwacht. Er sagt zu Herrn
+Reiche: »Sie können solange in meiner Mühle arbeiten.« Und er bietet
+ihm einen Posten an.
+
+»Was,« sagt Frau Reiche, »du willst eine Brotfabrik gründen? Hätte ich
+dir in deiner Bäckerei nicht die Brote verkauft, dann lägen sie heute
+noch da.« Sie hat noch immer keine Achtung vor ihrem Mann und ist nicht
+geneigt, ihren Platz in der Kantine zu verlassen.
+
+Herr Reiche verabschiedet sich von Fräulein Spandau, nachdem er die
+Vermittlung des Kapitäns in Anspruch genommen hat, und sagt:
+
+»Ich lasse ihr alles hier, so wie es ist. Ich habe meine beiden Fäuste
+zur Arbeit. Und wenn Sie einmal in der Mühle zu tun haben, so fragen
+Sie nach Lagerverwalter Reiche. Dann wird es schon recht sein.«
+
+Inzwischen beleuchten die Zeitungen das Problem und suchen die Parteien
+zu orientieren.
+
+»Wie lange wird die Verbilligung anhalten?« fragen die einen. »Wenn den
+Meistern die Arbeit genommen ist, gehen die Preise wieder in die Höhe,
+und die Großunternehmer allein stecken den Gewinn ein.«
+
+»Man hat es auf zwei Berufe abgesehen«, klagen einige andere. »Der
+Zwischenhandel und das Transportgewerbe sollen ausgeschaltet werden«,
+und man rechnet den Interessenten vor, welche Schädigung das für sie
+bedeutet.
+
+»Nun soll auch das gute ehrliche Handwerk unterjocht und versklavt
+werden.« -- »Das ist der Beginn der Vertrustung.« -- »Das Kapital reißt
+nun auch die Macht über das tägliche Brot an sich.« -- So und ähnlich
+lauten die Schlagworte, die auch von den Bäckermeistern aufgenommen
+werden.
+
+Nur eine zaghafte Stimme vertritt die Ansicht, daß es der Stadt
+zur Ehre gereichen würde, wenn man in dieser Frage eine Einigung
+ohne Gewalt erzielte. Aber sie verknüpft diese einfache praktische
+Angelegenheit mit ihren Idealen und macht sich selbst lächerlich. Denn
+was hat eine Brotfabrik mit dem ewigen Frieden zu schaffen?
+
+Verliert der Mühlenbesitzer den Mut darüber? Nein, er verliert ihn
+nicht; er war nicht ohne Vorbereitung in den Kampf eingetreten. Er
+bietet sein Geld und eine gute Idee an, und wenn sie es ablehnen, so
+wissen sie nicht, was sie tun. Er wäre nicht der erste, dem man seine
+Gaben vor die Füße wirft.
+
+Ein anderer beginnt allmählich, im Kampfe zu verzagen. Er ist auf einen
+vorübergehenden Posten gestellt worden in Erwartung der großartigen
+Gründung; die Wartezeit erstreckt sich auf zwei Monate, drei Monate, es
+wird Herbst, und noch bezieht er mit bedrücktem Gewissen sein Gehalt
+als Lagerverwalter in einer Mühle und nicht als Meister in einer
+Brotfabrik. Was nutzt es ihm, daß er sich mit der modernen Technik
+vertraut macht und im stillen eine neue Lehrzeit in den verzwickten
+Büchern beginnt? Es ist nur gut, daß ein Fräulein Spandau eines Tages
+den Lagerverwalter Reiche aufsucht und ihn fragt, ob man das Mehl in
+der Mühle auch pfundweise kaufen könne.
+
+Nein, damit kann er nicht dienen, doch wenn er sie nach Hause begleiten
+dürfe und sie sich noch für die Sache eines Mannes interessiere, den
+man so lächerlich finde, so wolle er ihr einiges erzählen.
+
+Sie hat dagegen nichts einzuwenden und hört ihm auf dem weiten Wege mit
+großem Interesse zu, obgleich er zuletzt sehr verbittert und mutlos
+ist.
+
+»Ach ja,« sagt sie zum Abschied, »wenn Sie es doch durchsetzen könnten!
+Wir brauchen zu Hause täglich ein Brot, das sind fünf Pfennig pro
+Tag und ein und eine halbe Mark im Monat. Sie glauben nicht, was das
+bedeutet, da wir alle von meinem Gehalt leben müssen.«
+
+Ihr blasses Gesicht mit der dünnen unklaren Haut ist so vertrauensvoll
+zu ihm emporgewandt, daß es ihm wieder einen Ruck gibt, und er
+verspricht, nichts unversucht zu lassen.
+
+Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, denkt er auf dem Heimwege, wenn
+man denen nicht helfen dürfte, die es so dringend brauchen.
+
+Er spricht noch einmal mit dem Mühlenbesitzer darüber, und sie fangen
+die Sache von einer anderen Seite an. Michael Pohl, der doch genug
+Lehrgeld gezahlt haben sollte, gibt wieder eine schriftliche Erklärung
+ab.
+
+Sie wirkt nicht gleich wie der wunderbare Stab vor dem Zauberberg, aber
+dieser und jener läßt sich doch herbei, einen Blick auf das Dokument zu
+werfen und ein wenig darüber nachzudenken. Da soll nun die Bäckerinnung
+als Unternehmerin auftreten, und der Mühlenbesitzer will ihr die Mittel
+vorstrecken. Jeder Meister in der Stadt ist Teilhaber der großen Fabrik
+und hat schließlich auch eine Stimme ins Gewicht zu werfen.
+
+»Wenn ich das gleiche verdiene und weniger Arbeit habe, so soll es mir
+recht sein«, meint nun der Bequeme, während der Arbeitsame befriedigt
+feststellt, daß man ihm trotzdem seine Tätigkeit läßt.
+
+»Und wer sich das richtig überlegt, muß sich sagen, daß vom billigeren
+Brot mehr gegessen wird«, wirft Lagerverwalter Reiche in einer
+Versammlung ein. »Das Brot, das die eigene Familie ißt, fällt auch
+nicht unter den Tisch, es muß ebenso gerechnet werden, als ob es
+verkauft wird, und das sind fünf Pfennig für das Stück.«
+
+In dieser Versammlung trägt er noch nicht den Sieg davon, aber als der
+Winter den Hafen wieder im Bann hält und auf dem Kanal vor der Mühle
+die Oberfläche glitzert und knackt, hat er endlich eine Abstimmung mit
+Stimmenmehrheit erreicht.
+
+
+
+
+ Die Scheidung
+
+
+Er eilt in seinem Überschwang zur Mühle, mit der Absicht, den
+Mühlenbesitzer sogar aus dem Bett zu holen, um ihm die freudige
+Botschaft zu überbringen. Sie besitzen zwar noch lange keine
+Brotfabrik, aber sie haben die Einigkeit. Er weiß, wieviel das dem
+Mühlenbesitzer Pohl gilt.
+
+Nun hätte er auch Lust, dem schmalen Fräulein Spandau zu sagen, daß sie
+in mindestens einem Jahr einundeinehalbe Mark monatlich sparen kann.
+Doch diese Freude muß er sich bis zum nächsten Morgen aufheben.
+
+So frei und kräftig hat er sich lange nicht gefühlt, wie auf dem
+Heimweg von der Versammlung. Wenn er es recht überlegt, so hat ein
+Druck auf ihm gelastet, seitdem er in den Hafen kam.
+
+Kurz vor der Föhrbrücke bemerkt er eine Frau, die mit wiegenden Hüften
+vor ihm hergeht und nicht viel Eile hat, vorwärtszukommen. Da sollte
+doch --! Wenn das nicht seine Frau ist!
+
+Er findet es nicht übel, daß er ihr an diesem Abend noch begegnet. Man
+könnte der Madame gleich zeigen, was man für ein Kerl geworden ist,
+damit sie endlich einmal die richtige Meinung erhält.
+
+Er ist nicht nachtragend. Nein, das kann niemand behaupten. Sie hat
+ihn nicht nur betrogen und obendrein verspottet, weil er nicht zu den
+Männern gehört, die deswegen einen Mord begehen, sie hat ihn auch um
+seinen Beruf gebracht und ihm den Rest seiner Selbstachtung genommen.
+
+Aber nun sagt er »Guten Abend, Frau Reiche. Du hast anscheinend keine
+Lust, nach Hause zu gehen.«
+
+»Ach, du bist's«, sagt sie. »Ich habe gehört, du willst dich von mir
+scheiden lassen.«
+
+»Ich?« fragt er erstaunt. Auf diesen Gedanken war er bisher noch nicht
+gekommen, nun scheint er ihm nicht schlecht, ja er findet ihn plötzlich
+ausgezeichnet. Er muß unwillkürlich an Fräulein Spandau denken. Da
+könnte er für einen Menschen einstehen und ihm Freude bereiten, denn da
+wird alles dankbar angenommen. Ob sie wohl den Antrag eines Meisters in
+der größten Brotfabrik der Stadt ausschlagen würde?
+
+Er streicht in stolzer Freude den Schnurrbart hoch. Nun ist er wieder
+ein Mann, der auf sich hält und auch bei den Frauen einen Stein im
+Brett hat.
+
+Es ist ihm fast, als sähe selbst seine Frau ihn wieder wohlgefällig an.
+
+»Nun, ich habe so etwas gehört. Wenn es dir recht ist, könnten wir ja
+darüber reden. Neulich ist ein Rechtsanwalt im Hafen gewesen, da habe
+ich die Gelegenheit wahrgenommen und ihn gefragt, was zu tun wäre.«
+
+»So --« meint er. »Dann wirst du ja besser Bescheid wissen und kannst
+mir Unterricht erteilen.« Er nimmt die Sache von der lustigen Seite,
+und das ist fast etwas kränkend für eine Frau.
+
+»Wir könnten gleich darüber sprechen,« schlägt sie vor, »dann ist die
+Sache abgemacht. Mein Bruder versieht die Wirtschaft, wie du gehört
+haben wirst. Wir können also hinaufgehen und alles in Ordnung bringen,
+wenn es dir recht ist.«
+
+Wie zahm sie geworden ist, denkt Herr Reiche. Sollte sie etwa schon
+von der Versammlung gehört haben? Nun will er sich erst einmal das
+Vergnügen erlauben und ihr erzählen, was er für ein Mann ist.
+
+»Ach, sieh einmal an«, sagt sie. »Was du nicht sagst. Wer hätte das
+für möglich gehalten? Darauf müssen wir von meinem selbstgemachten
+Kirschwasser trinken. Was meinst du dazu?«
+
+»Hm, das wäre ja wie eine Feier. Aber da wir doch miteinander zu reden
+haben --« Das hätte er sich wahrhaftig im Traume nicht einfallen
+lassen, daß er noch einmal ein freier lediger Mann würde. Es gibt doch
+wirklich ganz einfache Gedanken, auf die man erst gestoßen werden muß.
+Was wird das für ein Spaß sein, wenn man zu Fräulein Spandau sagen
+kann: »Es gibt gewisse Männer, die einmal verheiratet ~waren~.«
+
+»Huh«, macht Frau Reiche fröstelnd. »Wie ist das schon wieder kalt!«
+Und sie hakt sich mit ihrem molligen Arm bei ihm ein, um sich zu
+erwärmen.
+
+»Die Madame wird sich einen Schaden antun«, sagt er gutmütig spottend
+über diese Äußerung einer ungewohnten Vertraulichkeit.
+
+Sie stößt ihn mit dem Ellenbogen an. »Jetzt, da wir uns scheiden lassen
+--« meint sie lachend.
+
+Allmählich geraten sie in eine Stimmung hinein, in der sie alles
+lächerlich finden. Sie setzen sich in ihrem alten Wohnzimmer über der
+Kantine auf das Sofa, trinken von dem Kirschwasser und stoßen »auf eine
+glückliche Scheidung« an.
+
+»Eigentlich,« sagt sie mit glucksendem Lachen, »wenn ich's mir
+überlege, warst du ein ganz guter Ehemann. Ja, man erkennt die Vorzüge
+erst, wenn es zu spät ist. Was meinst du wohl, wie ich daran gedacht
+habe, wenn ich hier so allein war?« Sie sieht ihn mit ihren feuchten
+Augen ermutigend an und rückt etwas näher.
+
+Der Bäckermeister hat wieder ganz rote Ohren, als wäre er in der
+Backstube beim Ausholen der Brote.
+
+»Es ist verteufelt heiß hier bei dir«, bringt er halberstickt hervor.
+
+»Meinst du?« fragt sie, und sie sieht ihn dabei so komisch an, daß sie
+wieder beide lachen müssen. Sie fährt ihm mit ihren Händen ins Gesicht
+und sagt: »Fühl' nur, wie kalt sie sind.«
+
+Er gibt keine Antwort darauf. Er hat vollkommen vergessen, daß er sich
+vornahm, den Mühlenbesitzer aus dem Bett zu holen und einem blassen
+schmalen Bureaufräulein zu roten Backen und einem glücklichen Lächeln
+zu verhelfen, er schnappt plötzlich nach den kühlen Fingern vor seinem
+Mund und lacht.
+
+»Nein, Mann, bist du denn verrückt geworden?« fragt Frau Reiche. Aber
+er gibt jetzt erst recht keine Antwort mehr. --
+
+So ein Binnenhafen an einem dunklen Wintermorgen ist wie eine
+verwunschene Stadt.
+
+Der Wächter am Tore wird müde und wärmebedürftig. Er achtet darauf,
+daß seine Scheiben klar bleiben, denn sonst muß er das kleine Fenster
+öffnen oder vor die Tür seines winzigen Häuschens treten und die
+dunstige Wärme herauslassen.
+
+Aber gegen sieben Uhr morgens kommen noch nicht viele Menschen an ihm
+vorbei. Im Getreidespeicher rattern zwar schon wieder die Maschinen,
+und das Getreide beginnt seine unermüdliche Wanderung durch die
+Stockwerke. Es darf nicht zur Ruhe kommen, damit es nicht feucht
+oder muffig werde, und es bläst unterwegs seinen Staub in die Luft,
+daß Bodenmeister Ulrich und seine Helfer wie graue Figuren durch die
+Morgendämmerung wandern.
+
+Das Verwaltungsgebäude ist von den Gerüsten entkleidet. In den
+Seitenflügeln flammen die ersten Lichter auf, im Mittelteil jedoch,
+dem stolzen Turmbau, warten die grauen Räume auf die Tätigkeit der
+Maler.
+
+Das war eine andere Zeit, als die Arbeiter in Scharen herbeiströmten,
+auf die Gerüste kletterten und hinter Erdwällen verschwanden. Wie viele
+Gebäude mußten fertiggestellt werden, und nun stehen sie alle da! Mit
+verschneiten Dächern und vereinzelten Lichtern in den Fenstern.
+
+Aber die Hafenbecken -- wo ist ihr Wasserspiegel? Er wird fast dicht
+bedeckt von den großen Kähnen, die hier ihr Winterlager aufgeschlagen
+haben, und darüber brauen die Nebel. Nur ein Becken ist wie ein langer
+und breiter leerer Schlund: der Südhafen, aus dem man die harte Füllung
+mit Dynamit sprengen mußte. Er hat noch keine Gebäude an den Seiten,
+und auf dem Nachbargelände stehen ein paar verschneite halb verfallene
+Holzschuppen. Ein Grundstücksmakler hat sein Schild danebengesetzt.
+
+Wenn die Hafengesellschaft ihre Tätigkeit am Südbecken
+einstellte, so hatte das andere Gründe als die Arbeitsruhe der
+Verhüttungsgesellschaft, die eines Tages Konkurs anmeldete und die
+Erze im Schoße der Mutter Erde ließ. Man kann einem großen Projekt
+zustimmen, doch man darf sich Zeit mit der Ausführung lassen. Zwei
+Hafenbecken sind im Anfang genug, und wenn das Konsortium seine Gelder
+zurückhält, so ist damit nicht gesagt, daß sie etwa knapp geworden
+wären. Aber sie verkünden dem Generaldirektor: Nun mußt du dir das
+dritte Hafenbecken erst verdienen!
+
+Das ist nicht leicht, zumal in den Wintermonaten, wenn die Schiffahrt
+ruht. Als der ehemalige Kantinenwirt an diesem dunklen Morgen aus der
+Tür der Hafenwirtschaft kommt, denkt er, daß hier immer noch Leben
+genug sei. Da fahren die großen Lastwagen schon die während eines
+langen Sommers aufgespeicherten Waren in die Stadt, die Lokomotiven
+schnauben und kreischen auf den vereisten Schienen und bringen neues
+Lagergut. Ja, diese treuen Eisenbahnstränge, sie sind doch etwas wert,
+sie tragen ihre Lasten das ganze Jahr und verlangen keinen Winterurlaub
+wie die anspruchsvollen Wasserstraßen.
+
+Der Bäckermeister schleicht mit scheuen Blicken neben den Wagen aus
+dem Tor; es ist ihm angenehm, daß er dabei vom Wächter übersehen wird.
+Er gehörte einst mit gutem Recht hierher, und in der Hafenwirtschaft
+ist immer noch seine Ehefrau; über eine Scheidung wollten sie zwar
+sprechen, aber nun haben sie es beide vergessen. Wenn er trotzdem mit
+schlechtem Gewissen seinen Weg zur Mühle fortsetzt, so sind seine
+Privatgefühle daran schuld.
+
+Er geht in sein Zimmer, das Michael Pohl ihm im Kontoranbau neben der
+Mühle zur Verfügung gestellt hat und wartet auf das Frühstück. Es wird
+ihm aus dem Wohnhaus gebracht. Man sorgt für ihn und nimmt sich seiner
+an, er jedoch kommt nicht mit einer guten Nachricht schnurstracks zum
+Müller, sondern läuft erst einmal einem Weiberrock nach.
+
+Ein schlechter Patron bist du, sagt er vor sich hin, ein Schwächling,
+ein Weiberknecht. Er kann nichts damit ungeschehen machen.
+
+Um acht Uhr geht er ins Kontor hinunter, um sich beim Mühlenbesitzer zu
+melden. Er läuft ihm nicht mit »Halloh« und »Gute Botschaft« entgegen.
+Er meldet das Resultat der Abstimmung und hält seine Mütze in der Hand.
+
+Da spürt er einen kräftigen Schlag auf der Schulter, und ein herzlicher
+Händedruck rüttelt ihn wieder aus seiner Niedergeschlagenheit hoch.
+
+Ja, nun sollen sie wirklich das Brot für die ganze Stadt backen.
+
+»Aber das Schönste ist doch, daß sie einig geworden sind, -- daß sie
+für einen guten Zweck und nicht für einen Profit einig geworden sind!«
+sagt der Mühlenbesitzer. Er beginnt, der Menschheit wieder seinen
+Kinderglauben zu schenken.
+
+Nun gibt es zu tun! Donnerlot, was muß nun alles überlegt und
+eingeleitet werden. Ein Winter ist kurz, wenn man eine so große Sache
+bis zur Grundsteinlegung bringen will. Im Frühling schon soll mit dem
+Bau begonnen werden. -- -- --
+
+Frühling im Hafen! Das ist wie Gesang. Ein stummes Dank- und Jubellied
+schwebt unter der blauen Kuppel des Himmels. Hier stehen zwar viele
+Gebäude, ein Turmhaus sogar, und hohe Kräne recken ihre schwarzen Arme
+auf, doch man kann sich an das Kopfende eines Hafenbeckens stellen und
+Wasser, Himmel, Erde sehen, soweit das Auge reicht. Diese drei waren am
+Anfang der Welt, und hier sind sie noch und beginnen ein neues Leben.
+
+Steigst du aber bis in den zehnten Stock des Turms im
+Verwaltungsgebäude, so siehst du außerdem noch eine ganze große Stadt.
+Und dort drüben zieht sich ein silbernes Band. Das ist der Fluß dieser
+Stadt, an dem sie sich einstmals anbaute, weil es praktisch ist, diese
+Straße zu haben. Und da ist ein zweites Band. Das ist der alte Kanal.
+Und hier ein drittes: der Verbindungskanal.
+
+Nun sind sie aus ihrer Ruhe erwacht. Fleißige Schleppdampfer schicken
+ihre schmalen Rauchsäulen zu den weißen Himmelswolken empor, und hinter
+ihnen kommen sie in langer Reihe: die braven dunklen Kähne mit ihren
+Schätzen im tiefen breiten Bauch.
+
+Der Kapitän tritt aus der Tür und geht in einer ganz anderen Art über
+den Platz. Er stößt die Beine mit einer Lust in den warmen Tag hinein,
+daß man fast glaubt, die Gelenke knacken zu hören. Wie war er hier doch
+geschlichen mit seinem grauen Tuch um den Hals, in den Winterpaletot
+geduckt, und wenn er, von seinem Reißen geplagt, den Kopf drehen
+wollte, so ging es nicht, er mußte den ganzen steifen Körper wenden.
+
+Nun reibt er die Hände und sagt »Guten Morgen, guten Morgen«, immer
+in einer anderen Tonart. Wenn die Natur ihre neuen lustigen Melodien
+singt, dann zieht auch der Mensch vielfältige Register.
+
+Schwester Emmi hat zum erstenmal ein helles Waschkleid an und läuft
+auf ihren zierlichen Lackschuhen zu den eben angelangten Kähnen am
+Zollspeicher. Felix Friemann verfolgt sie mit seinen langen Beinen aus
+weiter Entfernung und ruft: »Schwester eins, Schwester eins!«
+
+Aber sie hört ihn nicht. Sie stellt sich vor einem Kahn auf und ruft:
+»Tom!« Da rennt ein Pudel bellend zur Bordwand, ein blonder Knabenkopf
+stößt in die Höhe, und dann setzen sie beide, der Junge und der Hund,
+mit einem Sprung auf die Kaimauer.
+
+Schwester Emmi wird fast umgerannt, so stürmisch ist die Begrüßung des
+kleinen Tom, und so heftig zerrt der Pudel an ihrem Rock. Sie sind
+beide von ihrer ersten Ausfahrt zurückgekommen.
+
+»Ich glaube, Junge,« ruft die Schwester aus, »du bist inzwischen wieder
+größer geworden! Hast du dich heute auch schon gewaschen?«
+
+Nein, gewaschen scheint er noch nicht zu sein, aber er hat blitzblanke,
+saubere blaue Augen, und er ist seines Vaters Sohn!
+
+Nun hat auch Felix Friemann endlich bei Schwester Emmi Anker geworfen.
+
+»Schwester eins«, sagt er atemlos. »Warum laufen Sie mir denn davon?«
+
+»Ach, Sie mit Ihrer eins. Wo ist denn die Schwester zwei?«
+
+»Wenn Sie nicht bald etwas netter werden, beantrage ich sie bestimmt.«
+
+»Ph -- ich warte nur darauf.«
+
+»Aber ich habe Ihnen eine große Neuigkeit zu melden. Sie werden
+staunen!«
+
+»So? Ich staune schon gar nicht mehr. Sind Sie endlich zum Direktor der
+Fürsorgestelle ernannt?« fragt sie spitz.
+
+»Viel mehr! Ich schlage meine Sommerwohnung im Hafen auf!«
+
+»Was machen Sie?«
+
+»Ich ziehe in Herrn Gregors Zimmer.« Er sieht sie triumphierend an.
+
+»Meinetwegen --«
+
+»Freuen Sie sich denn gar nicht über den neuen Nachbarn?« fragt er
+traurig, als sie sich von Tom und seinem Pudel verabschiedet hat und
+weitergeht.
+
+»Was geht das mich an?« sagt sie mit bösem Gesicht. Und mit einem
+Würgen in der Kehle setzt sie hinzu: »Wenn ihr mich doch endlich in
+Ruhe lassen wolltet!«
+
+»Wen meinen Sie denn noch?«
+
+»Ach -- ihr! Alle! Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen?« Sie
+geht in das Kontor der Lagerhalle und schlägt die Tür vor +Dr.+
+Friemanns Nase zu.
+
+»Sie sehen ja so böse aus«, sagt Herr Karcher, der mit immer
+gleichmäßiger Freundlichkeit ihre Morgenbesuche aufnimmt.
+
+»Ja,« sagt sie, »am frühen Morgen wird man schon geärgert.«
+
+»Aber!« meint er bedauernd. Er fragt nicht; darum beichtet sie ihm
+auch alles, was ihr Herz bewegt. Er ist allmählich zu ihrem Vertrauten
+geworden, besonders wenn es sich um Telephongespräche handelt.
+
+»Was mache ich denn jetzt?« fragt sie. »Der Herr Gregor hat mir schon
+wieder geschrieben. Er denkt, daß sein erster Brief unterschlagen sei,
+weil ich ihm nicht antworte. Dabei schreibt er den Absender auf den
+Umschlag, und ich will mich hängen lassen, wenn die Reiche das nicht
+gesehen hat, denn die Schikanen gehen schon wieder an.«
+
+»Ja, ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist. Aber für Sie will ich es
+gern tun und zu ihm hingehn«, meint Herr Karcher zaghaft.
+
+»Oder soll ich ihm lieber schriftlich mitteilen, daß ich nichts mit ihm
+zu schaffen haben will?«
+
+»Das könnten Sie auch.«
+
+»Er schreibt, daß er sogar schon eine neue Stellung gefunden habe. Er
+muß doch etwas taugen, wenn man ihn engagiert, obgleich er eben erst
+aus dem Gefängnis gekommen ist.«
+
+»Ja«, sagt Herr Karcher, während er sich wieder mit den Eintragungen in
+seinen Büchern beschäftigt.
+
+Schwester Emmi sieht ihm eine Weile zu.
+
+»Als es ihm schlecht ging,« setzt sie ihren Gedankengang fort, »hat
+er sich von Frau Reiche helfen lassen. Jetzt will er nichts mehr von
+ihr wissen -- Also ich werde ihm schreiben, daß er mich in Ruhe lassen
+soll.«
+
+Felix Friemann hat den Wiegemeister der Lagerhalle +II+ in ein
+längeres Gespräch gezogen. Nun schließt er sich für den Rückweg der
+vorbeieilenden Schwester Emmi an.
+
+Sie muß sich nach allen Seiten wehren.
+
+Vor der Kantine begegnen sie Rechtsanwalt Bernhard, der direkt zur
+Mühle hinübergeht.
+
+Michael Pohl sieht diesem Beauftragten seines Prozeßgegners nicht mehr
+finster abwartend entgegen. Er winkt ihn freundlich herbei und ist
+ein wenig begierig, zu erfahren, was der Herr Generaldirektor nun im
+Schilde führt.
+
+»Heute komme ich nicht zu Ihnen«, sagt der Rechtsanwalt. Es ist ihm
+doch eine Erleichterung, diesen Mann nicht amtlich begrüßen zu dürfen.
+»Ich suche Herrn Reiche.«
+
+»Dann gehen Sie nur da hinein und lassen Sie sich in das Baukontor der
+neuen Brotfabrik führen.«
+
+»Ja«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Hier gehen große Dinge vor.«
+
+Der Mühlenbesitzer lächelt. »Na, na,« meint er, »Sie sind doch andere
+Dimensionen gewöhnt. Sehen Sie, der Grund ist schon gelegt. Die
+Unterkellerung ist das schwierigste.«
+
+Sie bleiben eine Weile bei den Arbeiten stehen. Dann sucht der
+Rechtsanwalt Herrn Reiche auf, der in einem hübschen kleinen Bureau
+sitzt und seinen Besucher sogar ein wenig warten läßt, weil er mit dem
+Baumeister und einem Ingenieur einiges zu besprechen hat. Aber er ist
+noch nicht so verdorben, daß er deswegen ein Gespräch in die Länge
+zieht und sich mit wichtigen Konferenzen entschuldigt, nein, er beeilt
+sich und sieht es nicht gern, daß seinetwegen jemand warten muß.
+
+»Ich wollte wegen Ihrer Scheidung mit Ihnen sprechen«, meint der
+Rechtsanwalt. »Da ich gerade hier draußen zu tun hatte, glaubte ich, es
+sei am besten, wir bringen es gleich in Ordnung.«
+
+»Meinetwegen konnte es längst erledigt sein. Ich dachte, meine Frau
+besorgt das schon.«
+
+»Ja,« sagt der Rechtsanwalt lächelnd, »so einfach ist das nicht. Sie
+müssen sich schon auch ein wenig bemühen. Zum Beispiel brauchen Sie
+einen Rechtsbeistand.«
+
+»Ich denke, Sie machen das?«
+
+»Hm, ich bin der Rechtsvertreter Ihrer Frau, also Ihr Gegner, doch ich
+kann Ihnen einen Kollegen empfehlen.«
+
+»Wissen Sie -- dazu habe ich eigentlich keine Zeit. Aber es soll mir
+recht sein, wenn das endlich ins reine kommt.«
+
+»Na also. Sie wollen beide geschieden sein. Doch wir müssen erst einen
+Grund finden.«
+
+»Finden? Ist das vielleicht kein Grund, wenn meine Frau mit diesem
+Herrn Gregor die Ehe gebrochen hat?«
+
+»Tja, Ihre Frau behauptet, daß Sie in diesem Winter einmal bei ihr
+gewesen wären und die Sache verziehen hätten. Seitdem kann man ihr
+nichts nachweisen.«
+
+Der Bäckermeister will an diesen Wintertag nicht gern erinnert werden,
+er bekommt sogar rote Ohren bei der Erwähnung. Das ist doch wirklich
+eine komische Manier, davon zu einem Rechtsanwalt zu sprechen. Darum
+sagt er auch heftiger, als es sonst seine Art ist:
+
+»Verziehen? Nein, verziehen habe ich ihr das nicht.«
+
+»Nach dem Gesetz aber gilt es so, wenn Sie die Behauptung Ihrer Frau
+nicht widerlegen können, daß an jenem Abend --«
+
+»Herr Doktor,« sagt der Bäckermeister sehr aufgebracht, »wenn ich das
+jetzt so höre, da möchte ich meinen, daß meine Frau das damals schon
+gewußt hat.«
+
+»Das würde nichts am Tatbestand ändern, mein lieber Herr Reiche. Aber
+ich denke, daß wir uns einigen werden. Es ist ja auch nicht üblich, die
+Frau als schuldigen Teil bloßzustellen. Darum macht man es gewöhnlich
+so, daß der Mann die Schuld übernimmt, da es nach dem Gesetz nun mal
+einer sein muß.«
+
+»Ich habe doch aber meiner Frau nichts zuleide getan. Oder ist es nach
+dem Gesetz anders zu nehmen?«
+
+»Nein, durchaus nicht, Herr Reiche. Im Gegenteil, Ihre Frau hat sich
+sehr lobend über Sie ausgesprochen. Das einfachste wird schon sein, wir
+konstruieren einen Ehebruch auf Ihrer Seite.«
+
+»Wer? Ich?« ruft Herr Reiche entrüstet aus. »Und wenn ich noch einmal
+heiraten will, welche Frau soll mich denn da nehmen, wenn ich ihr sage,
+weswegen meine erste Ehe geschieden ist? Nein, Herr Doktor, da muß sich
+das Gesetz schon etwas anderes ausdenken.«
+
+»Aber, lieber Reiche, das ist doch lediglich eine Formsache. Und
+außerdem brauchen Sie doch als Mann nicht solche Bedenken --«
+
+»Herr Doktor,« sagt Herr Reiche, während er sich erhebt, »wenn ich
+schon solche modernen Sachen wie Scheidung und so mitmache, deswegen
+bin ich noch kein schlechter Mann. Und wegen der anderen Sache, da muß
+ich erst noch mit jemand sprechen, ob sie keinen Anstoß daran nimmt.«
+
+»Wie meinten Sie?«
+
+»Daß ich's mir erst überlegen muß, meine ich, das mit der feinen Sache,
+die das Gesetz verlangt.«
+
+»Selbstverständlich, Herr Reiche, es drängt Sie niemand. Ich meinte
+nur, daß Sie selbst ein Interesse daran hätten, endlich geschieden zu
+werden.«
+
+Der Rechtsanwalt geht mit einem Schmunzeln im Mundwinkel davon. Er hat
+ja nun schon mancherlei Scheidungsfälle in seiner jungen Praxis gehabt,
+aber so ein kurioser Mann ist ihm noch nicht vorgekommen.
+
+
+
+
+ Der Streik
+
+
+Weil Rechtsanwalt Bernhard nun schon gewissermaßen mit dem Hafen
+beschäftigt ist, fährt er gleich zur Generaldirektion ins Stadtbureau,
+um noch eine andere Angelegenheit ins reine zu bringen. Er läßt sich
+bei Joachim Becker melden und geht sofort auf sein Ziel los.
+
+»Nachdem nun mit Unterstützung der Stadt auf dem Pohlschen Grundstück
+die Brotfabrik errichtet wird, kann die Hafengesellschaft, an der
+die Stadt gleichfalls beteiligt ist, wohl nicht mehr gut den Prozeß
+weiterführen«, meint er einleitend.
+
+»Richtig«, ruft Joachim Becker aus. »Sie kommen gerade zurecht. Ich
+habe mit dem Vorstand schon darüber gesprochen. Wir wollen den Prozeß
+beenden. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß wir auch ohne dieses Stück
+arbeiten können. Wir dehnen uns nach Süden aus. Es wird da draußen ein
+neuer Güterbahnhof geplant, dann läßt es sich mit dem Gleisanschluß
+ganz gut machen.«
+
+»Das ist ja sehr schön«, sagt der Rechtsanwalt erfreut. Wie gut es doch
+geht, denkt er, wenn man sich erst an einen anderen Gedanken gewöhnt
+hat. Man versäumt die Gelegenheit, eine unwürdige Feindschaft aus der
+Welt zu schaffen, nur weil man sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das
+scheinbar nicht auszutreiben ist.
+
+»Ja, wir wollen bis zum Herbst das dritte Hafenbecken fertigstellen.
+Inzwischen wird wohl auch das Gelände der Verhüttungsgesellschaft
+so weit im Preise gesunken sein, daß wir es zurückkaufen können. Im
+nächsten Frühjahr soll der Hafen unseren Plänen entsprechend vollendet
+sein. Dann wollen wir wieder ein Fest veranstalten.«
+
+Joachim Becker lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht den
+Rechtsanwalt mit strahlenden Augen an. Nun, da er seinem Ziel so viel
+näher ist, sind seine Blicke steter, die Bewegungen ruhiger.
+
+»Das wird wohl großartiger werden als die bescheidene Feier für den
+ersten Spatenstich«, wirft Rechtsanwalt Bernhard ein.
+
+»Das will ich meinen!« Der Generaldirektor erhebt sich noch immer
+nicht, um seinem Besucher das Ende der Konferenz anzudeuten, nein, er
+spielt mit seinem Brieföffner und malt sich anscheinend die Feier aus.
+
+»Übrigens«, meint er liebenswürdig, »hat meine Frau kürzlich
+festgestellt, daß Sie sich lange nicht bei uns sehen ließen. Wir wollen
+in der nächsten Woche einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter der
+Hafengesellschaft mit ihren Damen laden. Sie werden hoffentlich nicht
+fehlen?«
+
+Gewiß nicht. Rechtsanwalt Bernhard hat noch nie eine Gelegenheit
+versäumt, um Frau Adelheid wiederzusehen.
+
+Sie schütteln einander die Hände zum Abschied, da wird die Tür
+stürmisch geöffnet, und +Dr.+ Felix Friemann stürzt in heftiger
+Erregung herein.
+
+»Die Arbeiter im Hafen wollen streiken,« bringt er unter großen
+Wortverlusten hervor, »die Arbeiter im Hafen --«, fügt er dafür noch
+einmal hinzu.
+
+»Was sagst du da?« ruft Joachim Becker aus. »Sind die Kerle
+verrückt geworden? Da müßte man doch gleich mit Maschinengewehren
+dazwischenfahren!«
+
+Rechtsanwalt Bernhard macht ein sehr verlegenes, bedauerndes Gesicht
+und verschwindet lautlos.
+
+Joachim Becker bestellt sofort seinen Wagen; er will von seinem
+Schwager Näheres erfahren, denn die Nachricht trifft ihn ganz
+unerwartet.
+
+»Wir sind mitten in der besten Arbeit. Das ist ja geradezu eine
+Gemeinheit, sich diesen Termin dafür auszusuchen«, sagt er, im höchsten
+Grade erregt.
+
++Dr.+ Friemann kann ihm leider keine Erklärungen geben. Er ist
+sofort hierher geeilt, um die Nachricht als erster zu bringen, und
+brennt nun darauf, sie auch zu seinem Vater zu tragen. Solch eine
+aufregende Angelegenheit ist ihm eine angenehme Abwechslung, obgleich
+sie seine Sprache verwirrt.
+
+Der Generaldirektor wendet sich verärgert ab. Er versucht immer wieder,
+seinem Schwager mit Nachsicht zu begegnen, aber es will ihm nie
+gelingen. Er fällt sogar in seine alte Unduldsamkeit zurück, wenn er
+geschäftlich mit ihm zusammentrifft. Im Familienkreis dagegen findet er
+einen liebenswürdig-ironischen Plauderton.
+
+Er fährt in den Hafen und trifft eine Abordnung der Arbeiter im Zimmer
+des Kapitäns.
+
+Die Tätigkeit ist noch nicht eingestellt, doch man will sich dem
+beabsichtigten Streik der Transportarbeiter anschließen.
+
+»Was wollt ihr denn?« fragt der Generaldirektor. »Genügt euch die
+Bezahlung nicht?«
+
+»Uns wohl«, sagt Karle Töndern, der zum Sprachführer ernannt wurde.
+»Wir sind mit allem sehr zufrieden. Aber unsere Arbeitskollegen in der
+Stadt nicht.«
+
+»Ja, was geht das uns an! Deswegen könnt ihr doch eure Arbeit leisten
+und uns nicht in diese Verlegenheit bringen. Oder sind Sie nicht
+imstande, zu übersehen,« fragt er mit einem scharfen Blick auf Karle
+Töndern, »was ein Streik jetzt dem Hafen für einen Schaden bringt?«
+
+»Das sehen wir wohl ein,« meint Karle Töndern ruhig und fast etwas
+traurig, »es tut uns auch allen sehr leid, da wir zufrieden sind und
+über Tarif bezahlt werden. Aber wir können unsere Kollegen nicht im
+Stich lassen.«
+
+»Ihr seid doch im Grunde keine Transportarbeiter!«
+
+»Nein, das stimmt. Doch wir haben uns dem Verband angeschlossen, damit
+wir allein nicht so schwach sind, und nun müssen wir zusammenhalten.«
+
+Damit wir allein nicht so schwach sind! Mit diesen Worten ist Joachim
+Becker geschlagen. Er hat es an sich selbst erfahren, wie es auf den
+inneren Menschen wirkt, wenn er allein bleibt und sich an niemand
+anschließt. Man verliert den Mut oder man wird hart. Vielleicht gibt es
+noch eine dritte Möglichkeit, aber dazu muß man sehr stark sein. Diese
+Männer hier, in deren Beruf der einzelne nichts auszurichten vermag,
+sind nur stark in der Gesamtheit.
+
+Joachim Becker bekommt plötzlich Respekt vor dieser Geschlossenheit.
+›Das ist es, was uns fehlt, uns Neunmalklugen‹, denkt er. ›Wir haben
+nicht ~ein~ Ziel, wir haben tausend Ziele, jeder ein anderes, und
+dabei vergessen wir das Wesentliche und zersplittern uns. Hier ist
+~ein~ einender Gedanke: sich gegenseitig stützen und treu bleiben.
+Dafür bringen sie sogar persönliche Opfer.‹
+
+Er hatte mit den alten Mitteln auffahren wollen: Entlassungen,
+Einstellung von Streikbrechern. Nun sagt er zum Kapitän:
+
+»Was können wir da unternehmen?«
+
+»Mit dem Arbeitgeberverband sprechen?« meint der Kapitän fragend.
+
+»Wir dachten uns, daß es vielleicht nicht lange dauert,« wendet Karle
+Töndern ein, »denn was der Hafen bezahlen kann, dachten wir, warum
+sollen das die anderen nicht auch können?«
+
+›Was sagst du da in deiner Einfalt?‹ denkt Joachim Becker. ›Du machst
+mir klar, daß ich der Ungetreueste bin, daß ich meinen Genossen in den
+Rücken fiel. Weil ich eingesehen habe, daß die Löhne zu niedrig sind,
+und mir mit unterernährten Arbeitern nicht gedient ist, habe ich für
+~mein~ Teil gesorgt und die Löhne erhöht, anstatt zum Verband zu
+gehen und zu sagen: wir müssen es ~alle~ so machen, oder warum
+könnt ihr es nicht? Nun muß ich bei Gott noch von meinen geringsten
+Arbeitern lernen und ihnen nacheifern.‹
+
+Hat er nicht vor einer halben Stunde erst gesagt: »Da müßte man mit
+Maschinengewehren dazwischenfahren?« Nun nimmt er demütig ihre Lehren
+entgegen und hat das eigenartige Gefühl, daß er trotzdem wieder ein
+Stück gewachsen sei.
+
+Er reicht den Männern die Hand und sagt: »Wir wollen deswegen keine
+Feinde sein, ich will versuchen, ob ich etwas ausrichten kann.«
+
+Da ziehen sie befriedigt ab und fürchten sich nicht einmal vor
+Lohnausfall und Sorgen.
+
+Bis zum Abend hat Joachim Becker, der nicht eher ruht, bis er eine
+Sache zu Ende durchgeführt hat, verschiedene Versuche unternommen.
+Er langt erschöpft und entmutigt zu Hause an und muß sich noch
+einem Gast widmen: Direktor Haarland, dem Amateurboxer und jüngsten
+Aufsichtsratsmitglied der Hafengesellschaft.
+
+Die zarte junge Frau Haarlands, die den größten Teil des Jahres in
+Davos leben muß, hat sich an Frau Adelheid angeschlossen. Dann setzen
+sich die beiden Männer in das Rauchzimmer und plaudern.
+
+»Und wissen Sie, was man mir geantwortet hat?« sagt Joachim Becker zu
+Direktor Haarland, der sich in seinem Sessel wie auf einem Liegestuhl
+ausstreckt. »Als wäre das so ganz in der Ordnung, meinten sie:
+›Selbstverständlich zahlen viele über Tarif. Das steht jedem frei,
+aber wir wollen niemand dazu zwingen. Für die Allgemeinheit muß der
+alte Tarif erhalten bleiben.‹ Sie gebrauchten sogar noch das Wort
+Allgemeinheit!«
+
+Direktor Haarland lacht. »Haben Sie sich schon mal zur Allgemeinheit
+gezählt? Sehen Sie, das macht nämlich keiner. Für uns ist das bloß ein
+Wort. Im übrigen ist jeder ein ›Ich‹, eine Besonderheit, auf die er so
+recht stolz sein muß.«
+
+»Natürlich will man die Individualität nicht ausgeschaltet wissen, aber
+der Zusammenhalt, die Geschlossenheit!« ruft Joachim Becker aus.
+
+»Da muß ich Sie wieder was fragen: wenn einer Konkurs anmeldet, haben
+wir dann schon mal gesagt: Donnerwetter, eine betrübliche Lücke in
+unserer Phalanx, wieder einer weniger? Nee, wir sagen: Gott sei Dank,
+ein Konkurrent weg. Und wenn's nach uns ginge, so könnten 99 Prozent
+fallieren, dann bleibt eben die Chose für einen ganz allein. Wissen
+Sie, ich kann das nur wieder mit meinem Boxsport vergleichen: man will
+dem Gegner nicht nur eine kleine Blessur beibringen wie etwa mit dem
+Florett, um seine Kunst zu zeigen, nein, man möchte ihn am liebsten für
+alle Zeiten kaputtschlagen. Dann ist man ihn los, den Kerl, und kann
+sich feiern lassen. Darin liegt nämlich der Witz: wir betreiben eine
+Sache nicht der Sache wegen, sondern um eines Endzwecks willen. Und der
+ist immer nur: Geld, Ruhm und alles, was sich damit kaufen läßt. Wir
+haben den Genuß am tätigen Leben verloren.«
+
+»Den Genuß am tätigen Leben --«, wiederholt Joachim Becker langsam.
+»Ja, das klingt geradezu paradox.« -- -- --
+
+Nun hat der Hafen also auch seinen Streik.
+
+Eine Explosionskatastrophe, der Konkurs eines Mitläufers,
+vorübergehende Arbeitseinstellung, ein Streik -- das sind Beigaben,
+die wie Kinderkrankheiten hingenommen werden müssen. Man kann
+sie in vielfacher Weise erleben, sie schmieden das Werk wie die
+Schicksalsschläge den Menschen: der eine wird mutlos, der andere hart,
+der dritte aber trägt alles als einen Gewinn fort.
+
+Und wenn das Leben ihm so recht nach Herzenslust mitgespielt hat und
+wir begegnen ihm, so sagen wir: Siehe, ein Mensch!
+
+Joachim Becker hat von diesem Streik gleichfalls manches gelernt.
+Er mußte schon viele Wandlungen erleben. Er ist zum Beispiel einmal
+mit einer Shagpfeife herumgelaufen und hat sich von den Engländern
+imponieren lassen, er bewunderte auch die Amerikaner und ließ in
+seinem Hafen ein Turmhaus bauen. Man kann nicht sagen, daß es
+gleich die Wolken kratzt, doch es hat so viel Räume, daß selbst die
+überorganisierteste Hafengesellschaft sie nicht auszufüllen vermöchte.
+
+Aber ebenso wie man eine Shagpfeife wegwerfen darf, weil sie nicht
+schmeckt, so kann man ein Verwaltungsgebäude vermieten, wenn man selbst
+nur einen halben Seitenflügel braucht.
+
+Joachim Becker hat es zwar einmal nicht erwarten können, ein Projekt
+in seiner vollen Größe sofort verwirklicht zu sehen, er ist nicht für
+langsame Entwicklungen, aber er findet letzten Endes doch noch einen
+gesunden Weg.
+
+Und das Schicksal straft ihn für seine Ungeduld, indem es ihn ein
+langsames Wachstum seines inneren Menschen erleben läßt.
+
+Hat er nicht seinen Arbeitern die Hände geschüttelt, obgleich sie ihm
+den Streik verkündeten? Jetzt rennt er wütend in seinem Hafen umher und
+möchte am liebsten jeden hinauswerfen oder verprügeln, der die Hände in
+den Taschen hält und sich müßig die vollen Kähne beguckt.
+
+Karle Töndern steht bei Schiffer Jensen und sagt:
+
+»Da liegst du nun fest mit deiner Ladung.«
+
+»Ja,« sagt Schiffer Jensen, »da ist mal nichts zu machen.«
+
+Sie nehmen es beide wie eine Schicksalsfügung geduldig hin. Der Tod
+holt sich eine blonde junge Frau und kümmert sich nicht darum, wie dem
+Manne mit seinem kleinen Jungen nun zumute ist. Aber auch dann hadert
+Schiffer Jensen noch nicht einmal mit seinem Gott.
+
+Karle Töndern trottet zum Getreidespeicher hinüber. Da rattern die
+Maschinen ohne Unterbrechung. Bodenmeister Ulrich hält auf seinem
+Posten aus, er ist ungeheuer beschäftigt. Die Generaldirektion hat ihm
+zwar einige Helfer geschickt: Grünschnäbel aus dem Bureau, die ihm
+nur im Wege stehen, und ein paar Mechaniker, die vielleicht mit einer
+Wasserleitung fertig werden ... Doch mit einem Getreidespeicher...?
+Einen Getreidespeicher versteht nur er, Bodenmeister Ulrich.
+
+Hier vermag also Karle Töndern mit seinen gebundenen Händen auch nichts
+auszurichten, er macht einen großen Bogen um den Generaldirektor
+und den Kapitän und schlängelt sich in die Hafenwirtschaft hinein.
+Vielleicht kann er bei Frau Reiche ein wenig von seiner vielen Zeit
+loswerden. Er hört ihr lautes Kreischen schon vor der Tür.
+
+»Na, da kommt ja noch so ein Faulenzer!« ruft sie ihm entgegen. »Wenn
+es heute hier Alkohol gäbe, dann wärt ihr jetzt schon alle besoffen!«
+
+Sie machen ihre Witze und sind scheinbar ebenso guter Laune wie Frau
+Reiche, die sich in ihrer Ausgelassenheit keinen Rat mehr weiß. Und
+nun bringt sie wahrhaftig ihr Kirschwasser an und traktiert alle Gäste.
+
+»Erstens ist das meine private Angelegenheit,« sagt sie zu ihrer
+Rechtfertigung, »und zweitens kann es mir ja jetzt schon ganz egal
+sein, da ich doch von hier weggehe.«
+
+Was? Hat man recht gehört? Das ist doch wirklich eine Nachricht, nicht
+weniger wichtig, als wenn der Generaldirektor selber demissionierte.
+
+»Ja,« sagt sie mit stolzem, breitem Lachen, »ich werde jetzt geschieden
+und tausche die Kantine gegen ein Zigarrengeschäft.«
+
+Aha! Nun wissen sie Bescheid. Sie denken sich ihr Teil und sind nicht
+so engherzig, es für sich zu behalten.
+
+Ob sie wohl schon einen Geschäftsführer für den Zigarrenladen hätte?
+Einen mit seidenen Strümpfen und feinen Krawatten? Haha, dann wäre ja
+alles in Ordnung.
+
+»Wem es nicht paßt,« sagt Frau Reiche drohend, »dem kann ich auch nicht
+helfen!« Sie lachen, daß die Wände dröhnen. Ab und zu verschwindet
+einer von den Gästen ohne viel Aufhebens, aber dann ist gleich wieder
+ein anderer da, und die Unterhaltung bleibt weiter im Gange.
+
+Karle Töndern schiebt sich zur Tür hinaus. Er bohrt die Hände fest in
+die Taschen und macht das gleichmütigste Gesicht von der Welt.
+
+›Das allerschlimmste ist,‹ denkt er, ›daß man nicht weiß, wie man seine
+Zeit totschlagen soll.‹ Karle Töndern erlebt seinen ersten Streik.
+Er ist seit zehn Jahren in der Stadt und hat immer seine Tätigkeit
+gehabt. Manchmal dachte er, du möchtest doch auch einmal die Straßen
+am Vormittag sehen; besonders im Winter, wenn er in der Dunkelheit zur
+Arbeitsstelle ging und wiederum im Dunkel nach Hause kam. Da konnte man
+sich die ganze Woche Frau und Kinder nicht im Tageslicht begucken.
+
+Aufrührerische Ideen hatte Karle Töndern noch nie gehabt, aber zuweilen
+meinte er doch: einen Werktag möchtest du mal für dich haben und dir
+die Welt zu jeder Stunde betrachten, besonders zwischen sieben und
+vier. Nun hat er diesen Tag.
+
+Er könnte sich zum Beispiel auf jene Bank setzen, die zwischen ein paar
+grünen Bäumen aufgestellt ist und den Großstädter zur Ruhe auffordert.
+Da dürfte er die Natur genießen und vielleicht auch den spielenden
+Kindern zuschauen. Aber was sieht er? Seine Frau, die daheim an den
+Kochtöpfen hantiert und nicht wagt, ein Stück Fleisch hineinzulegen.
+
+Sie glaubten gerade, eine schleppende Last, die durch Krankheiten der
+Kinder entstanden war, bald abschütteln zu können, da bringt der Streik
+neue Sorgen. Das zieht sich dann von Woche zu Woche hin, und wenn du
+denkst: ›den nächsten Lohn kannst du endlich einmal glatt einteilen,
+damit du für jeden Tag etwas hast,‹ da ist plötzlich der Winter
+eingezogen, und du brauchst Kohlen und warmes Zeug für die Kinder.
+
+Nein, auf dieser Bank ist doch kein schönes Verweilen. Da geht Karle
+Töndern lieber zum Verbandslokal und hört, was die anderen sagen. Man
+kann sie schon von weitem sehen, denn sie stehen auf der Straße umher,
+reden über dieses und jenes und warten.
+
+Von der Streiklage hat noch niemand Näheres gehört. Aber hier ist
+einer, der könnte heute seinen 25. Streik feiern.
+
+»Da kannst du mit mir noch gar nicht mit«, sagt ein anderer, und er
+lacht, ohne das Gesicht zu verziehen.
+
+Karle Töndern guckt einigen verstohlen auf die Beine und denkt: solche
+geflickten Hosen hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gehabt.
+Und dann unterhält er sich mit mehreren, die auch ihren ersten Streik
+erleben.
+
+Viele tragen dünne Rucksäcke auf dem Rücken, darin haben sie ihren
+Proviant für den ganzen Tag. Wenn jetzt die Parole erteilt wird »Arbeit
+aufnehmen«, dann können sie gleich hingehen, und für ihr Essen ist
+gesorgt.
+
+Manche haben sich schon etwas »Mut« geholt. Ihre Augen schwimmen, und
+sie sagen auch mal was Lustiges, worüber keiner lacht.
+
+Und da stehen sie alle und warten.
+
+
+
+
+ Die Begegnung
+
+
+Der Streik ist nach wenigen Tagen beigelegt worden und hat dem Hafen
+keinen nennenswerten Schaden gebracht.
+
+Beide Hafenbecken liegen voller Schiffe, und es ist wieder ein
+lebhaftes Getriebe an allen Kaimauern, in den Lagerhallen und auf den
+freien Plätzen.
+
+Irmgard Pohl muß, von ihrer Reise zurückgekehrt, feststellen, daß
+der großartige erste Eindruck durchaus nicht hinter dem Bild ihrer
+Erinnerung zurücksteht. Gewiß hat sich während ihrer Abwesenheit
+manches im Hafen geändert. Es wurde immer weiter gebaut, sogar ein
+drittes Hafenbecken kann bald in Betrieb genommen werden, und alles ist
+noch mächtiger, als es war. Aber welche Wandlungen sind diesseits des
+Kanals vor sich gegangen!
+
+Daß sie von Frau Pohl herzlich, ja sogar mit gerührtem Überschwang
+begrüßt wird, überrascht die Heimgekehrte ebenso wie die äußere
+Veränderung an der Mutter.
+
+Sie waren in diesem Jahr der ersten räumlichen Trennung in einen
+angeregten Briefwechsel hineingeraten, der alle Gegensätze zu
+überbrücken schien. Irmgard wußte jedoch, daß die Mutter zu jenen
+Naturen gehört, die sich nur dem körperlich fernen, dem unsichtbaren
+Menschen ganz erschließen können, und sie fürchtete sich vor der
+Schranke, die sich bei der persönlichen Begegnung zwischen ihnen
+aufrichten würde.
+
+Und nun steht Frau Pohl neben ihr, den Arm ohne Scheu zärtlich um die
+Schultern der Tochter gelegt, mit einem mütterlich-weichen Lächeln im
+entspannten Gesicht, und aus den Augen ist endlich der starre Glanz
+gewichen.
+
+Sie eilt nicht gehetzt von einer Arbeit zur anderen, sondern sie läßt
+sich hier und da nieder und sieht zu, wie die Zeit langsamer davongeht.
+
+»Ja,« sagt sie fast entschuldigend, während sie sich wieder vom
+pausbäckigen und sehr dreibastigen Sohn tyrannisieren läßt, »so
+vertrödelt man seine Zeit«. Und dann kostet es sie einige Mühe, sich
+vom Stuhl zu trennen, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.
+
+Irmgard geht zum soundsovielten Male in den alten Räumen umher und
+feiert Wiedersehen. Ihre Bewegungen sind ausholender geworden, sie
+bewegt die Arme nach allen Seiten, und es scheint, als wären die Zimmer
+nun zu eng für sie.
+
+Zuweilen betrachtet sie den kleinen Michael, der bei der Begrüßung
+kein gutes Gedächtnis verriet, sondern seiner »Schwester« sehr
+eindringlich vorgestellt werden mußte. Sie sieht ihm von der Seite zu,
+wie er seine Spielsachen umherwirft, und lauscht mit Vergnügen seinen
+Selbstgesprächen, aber sie muß es sich gefallen lassen, daß er ihre
+Beteiligung am Spiel zunächst noch ablehnt.
+
+Herr Pohl kommt zur Mittagsstunde herein und setzt sich in den Sessel
+am Fenster, mit einer gewohnten stillen Geste, als wäre es an der
+Tagesordnung, daß er hier erst eine Weile auf sein Essen wartet.
+
+Der Tisch ist noch nicht gedeckt, Irmgard sieht kopfschüttelnd auf die
+Uhr.
+
+»Sag' einmal, Vater,« fragt sie, mit übertriebenem Staunen, »verspätet
+man sich hier mit dem Essen?«
+
+Der Vater nimmt ihren Spott lächelnd hin. »Das kommt jetzt zuweilen
+vor,« meint er milde, »doch es ist sehr schön, indessen hier zu sitzen
+und ein wenig zu sich selbst zu kommen.«
+
+»Ja, ja,« sagt seine Tochter, während sie sich hinter ihm aufstellt und
+mit den Fingern über seine grauen Haare fährt, »es gehen große Dinge
+vor in einem Jahr.«
+
+Sie lacht übermütig und begibt sich wieder auf ihre unruhigen
+Entdeckungswanderungen.
+
+»Ich glaube, hier ist sogar etwas Staub liegengeblieben. Und wo sind
+denn nur die scheußlichen Nippessachen, die überall herumstehen
+mußten?« ruft sie aus einer Ecke des Zimmers zu ihm hinüber.
+
+»Die hat der Junge so nach und nach entzweigeschlagen«, erwidert Herr
+Pohl gutmütig lachend.
+
+Irmgard kann es sich nicht versagen, den Knaben in ihrer Freude darüber
+hochzuheben und mit einem Kuß zu belohnen. »Für die Rettung der Kunst«,
+meint sie belustigt.
+
+Aber der so jählings in seiner Beschäftigung Gestörte rächt sich dafür
+durch einen tüchtigen Griff in ihre Haare. Irmgard setzt ihn, ärgerlich
+über die Abwehr und den körperlichen Schmerz, barsch auf seinen Platz
+zurück.
+
+»Pfui, du bist ja ein ganz verzogener, brutaler Bengel geworden!«
+
+Der dreijährige Michael kann eine derartige Beleidigung nur mit einem
+fürchterlichen Gebrüll beantworten, das sein guter alter Kamerad, der
+Vater, besänftigen muß.
+
+Als er die letzten Seufzer auf seinem Knie verschluckt hat, meint
+Michael Pohl entschuldigend zu seiner Tochter:
+
+»Siehst du, so ist es: was wir dir an Strenge zuviel gaben, hat der
+Junge nun zu wenig. Man ist in der Jugend zu hart und im Alter zu
+milde. Wo ist das goldene Maß im Leben?«
+
+Irmgard ist wieder besänftigt. Sie muß unwillkürlich an den Kapitän
+denken und sagt nach einer Weile:
+
+»Wie geht es unserem gerechten Mann, dem Kapitän? Ich habe ihm auch
+zwei Karten geschickt.«
+
+Herr Pohl findet, daß zwei Karten nicht viel sind, aber er gibt seine
+Ansicht darüber nicht preis. Er wischt die Tränenspuren vom wieder
+strahlenden Gesicht seines kleinen Adoptivsohnes und erwidert:
+
+»Er hat oft am Abend hier bei uns gesessen. Ja, man kann wohl sagen,
+daß er immer noch so ist, wie er war. Wir drei haben uns recht gut
+verstanden. Die Mutter freute sich stets, wenn er kam, denn sonst ist
+es sehr still bei uns gewesen. Übrigens wurde der Prozeß mit dem Hafen
+jetzt aus der Welt geschafft. Da mag ebenfalls der Kapitän seine Hand
+im Spiele gehabt haben.«
+
+Irmgard ist zwar auch damit zufrieden, daß dieser unerquickliche Streit
+beseitigt wurde, aber sie sieht nicht ein, warum man das nur dem
+Kapitän anrechnen soll. Konnte nicht Joachim Becker inzwischen auch
+einsichtiger geworden sein?
+
+»Daß der Kapitän dich immer grüßen ließ, hat die Mutter dir wohl
+geschrieben?« fragt Herr Pohl nebenbei. »Wir haben ihn zu morgen abend
+eingeladen. Es ist dir doch recht?«
+
+Gewiß freut sie sich auch darauf, ihn wiederzusehen.
+
+»Ich habe mich doch sehr nach allem, was hier so rundherum ist,
+gesehnt«, fügt sie hinzu.
+
+Sie stellt sich ans Fenster und blickt in das lebhafte Getriebe am
+Mühlenplatz, auf die erweiterten Gebäude und das Getümmel um die
+Baugrube der neuen Brotfabrik. Sie denkt daran, wie sie damals nach
+Michaels Geburt hier saß und sich in das neue Leben nicht hineinfinden
+konnte. Und wie später ihre überreizten Nerven diesen Pulsschlag
+einer großen Stadt nicht vertragen wollten. Nun erlebt sie alles
+mit gesunden Sinnen und freut sich auf Arbeit und Kampf und auf die
+Überraschungen, die das Leben ihr noch zu bieten hat.
+
+Auch der Kapitän findet am nächsten Abend bei der Begrüßung, daß man
+ihr die gesunden Nerven und die Unternehmungslust ansehe. Er kann es
+nicht oft genug versichern.
+
+»Ja, Reisen wandeln den Menschen. Man sollte sich immer wieder einmal
+neue Luft um die Nase wehen lassen. Ich habe auch schon daran gedacht,
+daß es noch andere Häfen in der Welt gibt.«
+
+»Hier ist es doch sehr schön«, meint Irmgard Pohl. »Ich will jetzt zu
+Hause bleiben und wieder Vaters Kompagnon werden. Was soll eine Frau
+auch allein auf Reisen!«
+
+Ja, da habe sie recht. Darin muß der Kapitän ihr vollkommen zustimmen,
+eine Frau brauche einen Begleiter.
+
+»Und sie denken doch kaum im Ernst daran, uns zu verlassen?« fragt Frau
+Pohl nicht ohne Besorgnis.
+
+»Nein, nein, im Ernst noch nicht.« Für später hätte er daran gedacht.
+Aber es habe noch Zeit, noch bliebe er hier.
+
+Und dann erzählt er wieder von seinen Reisen, von den vielfältigen
+Wundern in der Welt. Er spricht sehr lange und ausführlich, in seiner
+gleichmäßigen absatzlosen Art und mit Anstrengung in der Stimme.
+Schließlich kommt er wieder zu dem Resultat, daß es gut sei, zu reisen.
+Doch nicht allein. Das sei für keinen gut. Am wenigsten in der Fremde.
+
+Es scheint schwer, zur rechten Zeit aufzuhören, wenn man in so gutem
+Fahrwasser ist. Irmgard, die sich vom Institut her an zeitiges
+Schlafengehen gewöhnt hat, wird sehr müde, als der Kapitän sich endlich
+verabschiedet.
+
+»Findest du nicht auch,« sagt sie zum Vater, der den Gast noch
+begleitet hat, »daß der Kapitän im letzten Jahr sehr gealtert ist?«
+
+»Nein,« erwidert Herr Pohl, »er blieb genau so, wie er war.«
+
+»Aber jedenfalls ist er nicht mehr der jüngste«, meint Irmgard Pohl,
+die jetzt einen anderen Maßstab anlegt. »Und seine arme Stimme hat er
+sich auch bald ganz ausgeschrien.«
+
+›So ist die Jugend!‹ denkt Herr Pohl resignierend und ein wenig bitter
+über so viel gedankenlose Grausamkeit. --
+
+Wer könnte dem Kapitän jetzt seine gute Laune verderben! Er rennt im
+Hafen umher, als gäbe es keinen Schreibtisch mit einem Telephon, mit
+Briefen und Verträgen, die auch bedacht sein wollen. Fräulein Spandau
+muß ihn immer wieder in den Lagerhallen, auf den Kähnen oder ganz
+hinten bei den Schrott- und Kohlenbergen suchen, weil er gleichzeitig
+im Verwaltungsgebäude verlangt wird.
+
+Um diesen Riesenbau macht er am liebsten einen recht großen Bogen. Er
+ist nie ein Freund von Schreibtischarbeit gewesen, lieber noch würde
+er beim Ausladen der Schiffe selbst mit anpacken. Am wohlsten aber
+war ihm immer, wenn er Planken unter den Füßen fühlte, und wenn die
+Welt begann, sich fortzubewegen, langsam gleitend, während er selbst
+feststand und unangefochten in ihr Getümmel sah, bis er außer Sehweite
+war und nur das Meer in seiner gewaltigen Einsamkeit ihn umgab.
+
+Unangefochten? Der Kapitän reibt sich die Hände und rennt zum anderen
+Hafenbecken hinüber.
+
+Oh, nun, da der leidige Winter überwunden ist und die Frühlingssonne
+ihm den Rücken wärmt, will er sich auch wieder rühren und ein wenig
+mittummeln. Allzulange ist er Zuschauer gewesen. Auf seinem Posten in
+der Mitte.
+
+Nachdem er genügend seine Beine gerührt hat, geht er endlich zu seinem
+Bureau zurück. Vor der Kantine trifft er die Fürsorgeschwester.
+
+»Na, Schwester eins,« sagt er gutgelaunt, »nun denken Sie wohl schon
+wieder an Ihre Ferienkinder?«
+
+Sie lächelt. Der junge Friemann hat ihr einen schönen Spottnamen
+verschafft. Aber vom Kapitän will sie den Scherz gern hinnehmen.
+
+Ob sie auch wüßte, daß Herr Pohl mit seiner Tochter heute nachmittag
+den Hafen besichtigen werde, fragt der Kapitän, nach kurzer
+Unterhaltung über ihre Aufgaben und Sorgen.
+
+Nein, das wußte sie nicht. »Aber ich habe Fräulein Pohl auch schon
+begrüßt«, sagt sie. »Sie hat sich wirklich sehr verändert. Ach, es ist
+wohl schön, wenn man sich ein ganzes Jahr erholen kann«, fügt sie mit
+einem kleinen Seufzer hinzu.
+
+Der Kapitän setzt seinen Weg fort. ›Ja, ja, der Neid der lieben
+Mitmenschen‹, denkt er dabei abschließend über die Fürsorgeschwester.
+--
+
+Joachim Becker fährt an diesem Nachmittag im Hafen vor und will mit
+gewohnter Eile in das Verwaltungsgebäude hineingehen, als er die Stimme
+des Kapitäns aus unmittelbarer Nähe vernimmt.
+
+Er wendet sich um und sieht ihn, wenige Schritte entfernt, im
+angeregten Gespräch mit seinen Gästen stehen.
+
+Es ist nicht schwer, den Mühlenbesitzer Pohl zu erkennen, zumal er
+den Hut in der Hand hält und sein großer Graukopf unter den Strahlen
+der rotglühenden Abendsonne silbrig aufleuchtet. Er dreht dem
+Verwaltungsgebäude den Rücken und hat von dem Ankömmling nichts
+gemerkt.
+
+Dem Kapitän konnte das Einfahren des bekannten Autos nicht entgehen.
+Er bleibt gleichfalls dem Hafenbecken zugewendet und spricht
+geflissentlich weiter.
+
+Nur Irmgard Pohl sieht sich, durch das Surren des Motors abgelenkt, in
+weiblicher Neugierde unwillkürlich um.
+
+Natürlich hat sie beim Betreten des Hafens daran gedacht, daß
+sie Joachim Becker zufällig begegnen könnte. Sie war sich auch
+über ihre stolze und abweisende Haltung, mit der sie ihm nun ihre
+Gleichgültigkeit dokumentieren mußte, vollkommen im klaren.
+
+Was aber sind alle Vorsätze? Sie fühlt in der plötzlichen Begegnung
+mit seinem Blick, daß ihr Genick steif wird, daß sie jede Gewalt über
+den Ausdruck ihrer Augen verliert. Ihr Blut schießt vom Herzen in
+die entspannten Glieder, es klopft in den Schläfen, und sie hat nur
+den beseligenden Gedanken, nicht allein zu sein in dieser gewaltigen
+Rebellion. Denn auch Joachim Becker steht sekundenlang auf seinen Platz
+geschmiedet und ist nicht imstande, den starren, ärgerlich-strengen
+Blick von ihr zu lösen.
+
+Erschreckend nah und mißtönig klingt plötzlich die Stimme des Kapitäns
+in Irmgards Ohren.
+
+»Sie fürchten doch nicht um Ihr helles Kleid, Fräulein Irmgard, wenn
+ich Ihnen jetzt auch noch die Kohlenverladestelle zeige?« fragt er und
+hat gar keinen Klang mehr in seiner gepreßten Stimme.
+
+Er redet sie aus unerklärlichen Gründen mit ihrem Vornamen an.
+Vielleicht weil er sich durch den Familienverkehr in seinen Gedanken
+daran gewöhnt hat.
+
+Sie wendet ihm ihr glühendes Gesicht zu, doch sie weiß keine Antwort zu
+geben, denn sie hat nicht ein einziges Wort seiner Frage verstanden.
+
+Der Kapitän beginnt, mit vielen fachwissenschaftlichen Ausdrücken von
+der Verladeanlage, von der Schutthöhe der Kohlenlagerung, von der
+Elektrohängebahn mit den Laufkatzen, von den Greifern und den fahrbaren
+Brücken und anderen wichtigen Einrichtungen im Führerton zu berichten.
+
+Er versucht, seine Erklärungen ab und zu durch einen Scherz zu würzen.
+Doch wer sollte über so viel verzweifelten Humor lachen können?
+
+Seht: Michael Pohl lacht, als hätte er noch nie so gute Witze gehört.
+
+»Was bin ich weißer Müller gegen so viel schwarze Macht!« sagt er,
+gleichfalls bemüht, die Stimmung zu retten.
+
+Der Zustand des Kapitäns entgeht ihm ebensowenig wie das verwirrte
+Gesicht seiner Tochter. Im Zusammenhang mit dem Einfahren des
+Automobils kann er sich manches erklären.
+
+Er denkt: ist dieser Mann, dem auf die Dauer keiner seine Sympathie
+versagt, so lange einsam gewesen, so wird er auch noch einige Zeit
+warten können. Geduld dürfte er in seinem unsteten Dasein genügend
+gelernt haben.
+
+Ja, Geduldsübung ist dem Kapitän ohne Zweifel vertrauter als Joachim
+Becker, der im Zimmer des Hafendirektors wie ein gefangenes Tier
+umherrennt und die Fäuste ballt.
+
+Natürlich hat es keinen Sinn, hier zu warten, daß der Kapitän heute
+noch für geschäftliche Zwecke Zeit findet. Er führt seinen Besuch
+spazieren und kümmert sich nicht darum, daß man ihn zu sprechen
+wünscht.
+
+Trotzdem stellt sich der Generaldirektor ans Fenster, um zu verfolgen,
+wie weit der Kapitän sich vom Verwaltungsgebäude zu entfernen gedenkt.
+
+Die drei gehen an der Kaimauer entlang, gemächlich und scheinbar
+in ständiger Unterhaltung. Der Kapitän weist zuweilen mit eckigen
+Bewegungen zu den Kränen und Laderampen hinüber, während er, schräg zu
+seinen Besuchern gewandt, die steifen Beine bewegt.
+
+Es ist noch zu erkennen, wie Michael Pohl, der breit und wuchtig
+neben ihm geht, beifällig mit dem Kopfe nickt. Diese stumme Geste der
+Zustimmung ist dem Beobachter am Fenster nicht fremd. Wie oft hat er
+zu seinen Plänen vom Hafen so genickt und ihn dabei mit den hellen,
+teilnahmsvollen Augen ernst angeblickt. Auch als Joachim Becker ihn
+damals, etwas verlegen über diese Situation, um seine Tochter bat,
+hatte er zunächst nur mit einem Nicken zugestimmt, ehe er seine Ansicht
+äußerte, daß es gut sei, noch zu warten, damit niemand sich bei einem
+so schwerwiegenden Schritt übereile.
+
+Das sind peinliche Gedankengänge, denen man sich lieber entzieht,
+wenn man kein reines Gewissen hat. Der Generaldirektor rennt wieder
+in die Tiefe des Zimmers. »Verfluchte Warterei«, murmelt er zwischen
+den Zähnen, während er mit langen Schritten über den Teppich eilt, die
+Hände fest in die Taschen gebohrt.
+
+Dann steht er wieder am Fenster und sieht doch noch Irmgard Pohl nach,
+ehe sie seinem Blickfeld entschwindet.
+
+Sie geht mit kleinen Schritten, die Arme eng an den Körper gepreßt, als
+fühle sie sich beobachtet und wisse nicht, wie sie sich bewegen soll.
+
+Er stellt möglichst sachlich fest, daß sie in allem noch so wie damals
+ist, in der Erscheinung wie im ruhigen Ausdruck des klaren Gesichts,
+das er vorhin, für einen Augenblick, wie etwas Verlorenes in sich
+aufnahm.
+
+Man sieht ihr nicht an, was sie hinter sich hat, denkt er, zum Teil
+seines Gewissens wegen beruhigt und gleichzeitig enttäuscht darüber, so
+leicht vergessen zu sein. Ja, sie scheint besser daran als er. Sie hat
+ihn überwunden, wenn sie auch noch bei seinem Anblick errötet.
+
+War sie nicht damals schon von dieser ausgeglichenen fraulich-gütigen
+Harmonie? Und blickten ihre klugen ernsten Augen nicht von jeher --
+in diesen jungen Jahren bereits -- ruhig und milde, obgleich sie
+gleichzeitig mädchenhaft ausgelassen sein konnte und ihn sogar zu
+kindischen Spielen anregte? Sie stand daneben und lächelte, sie hatte
+ihren Spaß daran, ihn zu einem Popanz zu verwandeln, zu »ihrem großen
+Jungen«, wie sie mit mütterlicher Überlegenheit sagte.
+
+Aber er hatte dieser Jugendeselei ein Ende gemacht. Er durfte bei
+seinen großen Plänen keine Zeit mehr zu albernen Spielen haben. Eine
+ernste und vernünftige Ehe entsprach eher seiner Position. Besitzt er
+nicht eine gute Frau und eine hübsche kleine Tochter mit großen braunen
+Augen, die jeder bewundert, weil sie so »reizend melancholisch« sind?
+Nein, er hat wahrlich keine Ursache, unzufrieden zu sein.
+
+Die Zeit renkt auch alles weise zurecht. Der unangenehme Prozeß ist
+beendigt, nun geht sein Prozeßgegner sogar im einstmals feindlichen
+Hafen spazieren. Und es sieht ganz danach aus, als wolle der zweite
+Hafendirektor, der Kapitän, die Tochter des Gegners heiraten und
+für alle Zeiten rehabilitieren. Obgleich sie diese Ehrenrettung
+nicht einmal nötig hätte, da ihr kluger Vater durch eine freundliche
+Vertuschung das Ansehen der Familie längst wieder aufgerichtet hat.
+
+Teufel nochmal, das hätte er diesem geraden Manne nicht einmal
+zugetraut! Aber man sieht: andere Leute unternehmen auch Winkelzüge im
+Interesse ihrer Reputation.
+
+Ja, er ist über die Vorgänge im Hause des Mühlenbesitzers unterrichtet.
+Länger als ein Jahr. Seit er die gräßliche Ungewißheit nicht mehr
+ertrug. Er mußte doch mindestens erfahren, ob sein Sohn noch am Leben
+war oder nicht. Wozu gab es Auskunfteien, Leute, die dazu da sind,
+Erkundigungen einzuziehen, damit man sich nicht durch unpassende Fragen
+seine Autorität verscherzt?
+
+Er bekommt seine laufenden Informationen und weiß nun, daß der
+Mühlenbesitzer nicht einen Enkel, sondern einen Adoptivsohn besitzt.
+Die Tochter wird auf ein Jahr fortgeschickt, und hier geht sie nun in
+seinem Hafen spazieren. Schön und jung, mit einem ansehnlichen und
+geduldigen Bewerber zur Seite.
+
+Der Kapitän wäre wohl der Mann, über den Schatten in der Vergangenheit
+einer Frau hinwegzusehen, dieser ewig Gerechte und Höfliche, den nichts
+aus dem Gleichgewicht bringen kann.
+
+Nun bekommt sie also noch ihren Hafendirektor und einen guten Namen
+dazu. »v. Hollmann« hat einen anderen Klang! Was ist er, der Sohn
+des kleinen Beamten, dagegen! Was half es ihm, daß er sich in den
+Nächten das bißchen Bildung und Wissen einpaukte, um sich Geltung zu
+verschaffen? Er war doch erst etwas geworden, nachdem er die verliebte
+Tochter eines Getreidehändlers zur Frau bekam.
+
+Und nimmt man ihn ernst? Lächelt man nicht im stillen über ihn und
+stellt hämisch fest, daß man mit dem Geld eines reichen Schwiegervaters
+ebensoviel erreichen könnte? Was nutzt ihm alle Arbeit, alle Energie?
+Wer erkennt seine wahren Leistungen an? Hat man darum so lange
+geschuftet, vom Morgen bis in die Nacht, ohne einzuhalten, ohne eine
+Freude, ohne Befriedigung, um jetzt hier das Fazit zu ziehen, daß alles
+vergebens war?
+
+Er bleibt in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände auf dem Rücken
+ineinandergelegt. Sein Mund ist hart, schmal und verkniffen, die
+senkrechte Falte zwischen den Augen wirkt wie eine Narbe.
+
+Sein Blick fällt auf den Schreibtisch des Kapitäns. Hier hat er
+damals ihre Stimme gehört, diesen ruhigen, volltönigen Klang. Einen
+Augenblick denkt er an den Duft der Linden. Er läßt sich in einen
+Sessel fallen und schließt die Augen. Das leise Rauschen in den Wipfeln
+der alten Bäume hängt ihm wieder in den Ohren, da er sich dieser Stimme
+entsinnt. Es scheint ihm, als lägen die Erinnerungen ein Menschenalter
+und nicht knapp vier Jahre zurück.
+
+Der Kapitän! Joachim Becker kennt keinen Menschen, der soviel
+allgemeine Achtung und Sympathie genießt wie dieser stille und
+bescheidene Hafendirektor.
+
+Aus welchem Grunde sollte er wohl seit anderthalb Jahren in der
+Familie des Mühlenbesitzers verkehren und nun hier mit der Tochter
+spazierengehen?
+
+Selbstverständlich wird er nicht im Hafen bleiben, denn er wäre nicht
+der Mensch, der seine junge Frau durch den gebotenen gesellschaftlichen
+Verkehr in schiefe Situationen bringt. Die großen Reedereien, die
+ihn als Vertrauensmann für den Hafen empfahlen, würden auch eine
+angemessene andere Verwendung für ihn haben.
+
+Er kann seiner Frau etwas bieten! Er würde ihr die Welt zeigen und
+sie in seine angesehenen Kreise führen. Hatte er nicht die großen
+Passagierdampfer befehligt und auf die Weltmeere geführt, so daß
+weitgereiste Leute, die seinen Namen hören, respektvoll fragen: ›v.
+Hollmann, ist das nicht der Kapitän, der damals das und das Schiff
+fuhr?‹ Dieses Mannes entsinnt sich jeder gern.
+
+Wer aber weiß Gutes von ~ihm~ zu sagen? Er besitzt keinen Freund,
+keinen Menschen, der das Recht dazu hätte, ihn zu verteidigen. Obgleich
+er stets nur das Beste wollte, seine Kräfte nicht vergeudete, immer nur
+an sein Werk dachte und niemals an sich selbst.
+
+Er preßt die Fäuste gegen die Augen und sitzt, die Ellenbogen auf die
+Knie gestützt, lange im fremden Zimmer, ohne jede Haltung und Würde.
+Wie er sich wieder aufrichtet, ist sein Gesicht blaß und verstört, mit
+roten Flecken auf der Stirn vom schmerzhaft festen Druck seiner eigenen
+Hände.
+
+Nun muß er aufstehen und sich zu seinem Wagen begeben. Er wird nach
+Hause fahren. Und alles ist noch so wie es war.
+
+Scheu, mit schlechtem Gewissen hetzt er durch den Korridor und vom
+großen Haupteingang des Verwaltungsgebäudes zu seinem Wagen.
+
+Er vermag an diesem Tage nicht mehr in das Bureau und zur Arbeit
+zurückzukehren. Er läßt sich in seine Wohnung fahren, um sich von
+dem einzigen Menschen, der immer gut und milde zu ihm war, von Frau
+Adelheid, aufrichten zu lassen.
+
+Sie ist nicht allein. Ihr Bruder leistet ihr Gesellschaft. Wenn
+Schwester Emmi im Hafen nicht für ihn zu sprechen ist und es also
+keinen Zweck hat, an dieser Stätte emsiger Arbeit länger als nötig zu
+verweilen, hält er sich gern bei seiner Schwester auf, die mit ihren
+einsamen Abenden so wenig anzufangen weiß.
+
+Sobald sie ihre Tochter zu Bett gebracht hat, überfällt sie ihre alte
+Melancholie, die sie ihrem stillen Kinde schon vererbt hat. Darum
+schließt sie sich gern den häufigen Theaterbesuchen ihrer Verwandten
+an oder weilt bei den Eltern, während ihr Mann bis in die späten
+Abendstunden über der Arbeit sitzt. Oft sehen sie einander tagelang nur
+in Gesellschaft Fremder und sind abgespannt und einsilbig, wenn sie
+heimkehren.
+
+Man hat an diesem Abend beabsichtigt, ein Theater zu besuchen, eine
+sehenswerte Neueinstudierung, also eine Premiere gewissermaßen, die
+Felix Friemann sich nicht entgehen läßt. Seine Eltern folgen in
+diesem Punkte gern seiner Führung. Selbstverständlich trifft man auch
+Verwandte und Bekannte, und der Abend ist gut angewandt.
+
+Joachim Becker hat Frau Adelheid nicht nur mit seiner frühen Heimkehr
+überrascht und beglückt; er erklärt sich auch bereit, sie zu begleiten.
+
+Vom ungewohnten glänzenden und lauten Leben im Zuschauerraum verwirrt,
+sitzt er dann still in seiner Loge. Er fürchtet sich schon jetzt vor
+der Pause, vor den vielen geputzten Menschen, denen er begegnen wird
+und die mit höflichen und freundlichen Worten bedacht sein sollen.
+
+›Ist es nicht eine Ungerechtigkeit!‹ sagt er sich an diesem Tage, an
+dem eine Begegnung ihn so in seinem ganzen Wesen aufstören konnte, ›daß
+du in deinem Innern nicht zur Ruhe kommen sollst! Du fällst in alte
+Fehler zurück, wirst unzufrieden mit dir, und wenn du vorwärts blickst,
+so türmen sich Berge auf, die für andere scheinbar nicht bestehen.
+
+Aber was weißt du von deinen Mitmenschen und ihrem Tun? Einstmals
+glaubtest du, mit ihrem Studium fertig zu sein, und jetzt meldet sich
+der Drang, daß du einen nach dem anderen aufschließen möchtest und in
+seiner Seele erkennen.
+
+Warum ist es dir nicht gegeben, sie zu meistern wie der Kommerzienrat
+oder sie zu übersehen wie dein Schwager?
+
+Siehe, dieser +Dr.+ Friemann, er hat die schönen Künste so
+vollständig in sich aufgenommen, daß er nun in jeder Gesellschaft
+darüber reden kann, er hat das Praktische studiert, und nun wird ihm
+durch eine kleine blonde Fürsorgeschwester ein angenehmer Kummer
+geschenkt. Sie ist ihm ein Ziel, zu dem nur der Weg Freuden bereitet;
+also seien wir nicht traurig, wenn es etwas länger währt. Ja, Felix
+Friemann ist ein fertiger Mensch, der mit sich und den anderen
+zufrieden ist.‹
+
+Joachim Becker, der junge Generaldirektor jedoch, der vor den Frauen
+und bei den Gesprächen über die schönen Künste errötet, weil er
+die einen so wenig kennt wie die anderen, sitzt steif da und weiß
+nicht, während er den Vorgängen lauscht, ob er in der Pause ein
+bedeutungsvolles oder ein bedenkliches Gesicht zeigen soll.
+
+Als sie schließlich in das Foyer gehen, hat er sich für seine alte
+kühle Maske entschieden.
+
+Felix Friemann gesellt sich zu ihnen.
+
+»Dieser Ibsen hat seine Probleme wirklich manchmal sehr weit
+hergeholt«, meint er überlegen. »Auf Wildenten haben wir übrigens
+damals in Norwegen auch geschossen.«
+
+Die Familie Friemann begrüßt ihre Bekannten. Sie zeigen einander
+die berühmten Kritiker, und einige reden von dem »Stück«. Die
+Kommerzienrätin hat es sich zum Prinzip gemacht, nicht eher über eine
+Aufführung zu sprechen, als bis die Kritiken erschienen sind, und sie
+erwähnt frühere heftige Eindrücke.
+
+Auch Rechtsanwalt Bernhard ist da. Er will sich traurig zur Seite
+stellen, da er Frau Adelheid zärtlich an den Arm ihres Mannes gelehnt
+sieht, aber Joachim Becker geht ihm entgegen und begrüßt ihn mit
+ungeheuchelter Freude.
+
+›Das ist noch ein natürlicher Mensch,‹ denkt Joachim Becker, ›er hat
+sogar ein Herz.‹ Und sie verbringen zu dritt plaudernd die Pause, wobei
+jeder in einer anderen Art seine Rechnung findet.
+
+Obgleich Joachim Becker sich nach Stille und Dunkelheit sehnt und
+Ablenkung von allen quälenden Gedanken wohl gebrauchen könnte, fürchtet
+er sich vor der Fortsetzung des Spiels.
+
+Muß er denn an diesem Abend in seiner Unzufriedenheit so weit gehen,
+daß er in jeder verzerrten Gestalt sich selbst sieht? Er ist wahrhaftig
+am Ende mit seiner Nervenkraft und sehnt den nahen Sommer herbei. In
+diesem Jahre will er zum erstenmal wirklich ausspannen und mit seiner
+Frau helle Sommertage irgendwo in den Bergen oder an der See verleben,
+damit er wieder zu Kräften und Selbstbewußtsein gelangt.
+
+Es ist, weiß Gott, lächerlich, hier Parallelen zu ziehen und sich
+mit diesem pathetischen Hjalmar Ekdal, diesem Photographen mit der
+Flatterkrawatte, zu vergleichen. Warum sollen gerade ihn die Vorgänge
+auf der Bühne etwas angehen, ihn so persönlich berühren, daß er der
+Selbstzerfleischung nahe ist?
+
+Ein hirnverbrannter Gedanke, heute in dieser Verfassung hierherzugehen!
+Laufen denn nicht soundsoviel andere auch in Gottes weiter Welt umher,
+die einen Schatten, einen dunklen Punkt in ihrem Leben haben, an den
+man am besten nicht rührt?
+
+Oh, er möchte wohl wissen, wie wenige es sind, die so einem
+Wahrheitsfanatiker wie Gregers Wehrle begegnen dürften, ohne mit der
+Wimper zu zucken oder gar ihr ganzes Lebensgebäude einstürzen zu sehen.
+
+Und sieht man es nicht an diesem Beispiel, wie verkehrt es ist, ans
+Tageslicht zu ziehen, was lieber verborgen bliebe? Man hat Fehler
+begangen, man sieht sie ein und vermeidet sie in Zukunft. Man hat
+einmal nicht anständig gehandelt. Aber kann man das aus der Welt
+schaffen? Ist es nicht vernünftiger, Geschehenes zu vergessen, um
+ungestört weiter zu kommen?
+
+Er hat mit seiner Frau niemals über seine Vergangenheit, über die
+Beziehungen zum Hause Pohl gesprochen. Vielleicht haben ähnliche
+Wahrheitsfanatiker wie dieser Narr auf der Bühne sie aufgeklärt, so
+daß sie unnützen Gedanken nachhängt und öfter traurig und verweint
+ist als notwendig wäre. Denn das muß er sich eingestehen: schlecht
+behandelt hat er sie in ihrer mehr als dreijährigen Ehe nie. Er ist
+sehr beschäftigt, wälzt imposante Pläne, und es paßt nicht zu seiner
+großen Stellung, zu seinem verantwortlichen Posten als Generaldirektor
+eines Werkes von Weltbedeutung, daß er sich wie ein Täuberich benimmt.
+
+Da rühren sich wieder seine Gedanken von heute nachmittag: er durfte
+mit Irmgard Pohl nicht mehr jung und ausgelassen sein, weil es sich mit
+seinen großen Ideen nicht vereinbarte. Und nun meint er auch, daß er
+kein zärtlicher Ehemann sein darf, weil es zur strengen, energischen
+Haltung eines Generaldirektors, der sich Respekt und Autorität
+verschafft, nicht gehört. Ist es seine Pflicht, nur als Arbeitsmaschine
+zu funktionieren und sich niemals wie ein gewöhnlicher Mensch zu
+benehmen?
+
+Immer haftete er an den festgelegten Gesten, die zu seinem Amte
+gehören. Zwischendurch probierte er es einmal mit der Shagpfeife und
+mit der nachlässigen Haltung des Engländers, der seine Hände in den
+Hosentaschen hält. Aber er ließ es wieder und fand Gefallen am smarten
+Amerikaner, der nicht zu verblüffen ist und mit kühler Jovialität
+seinen Leuten begegnet. Eine Weile versuchte er es, in dieser Weise zum
+Beispiel seinen Angestellten entgegenzukommen, um von ihnen nicht nur
+gefürchtet, sondern auch geliebt zu werden. Aber er hatte den Eindruck,
+daß man ihm den lässigeren Ton als Schwäche auslegen könnte. Und so
+kehrte er zu seiner alten Maske zurück: streng, energisch, militärisch
+korrekt. Um von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen, um sich
+nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, das ist es: er läuft mit einer
+Maske umher. Nur in den Stunden der Zerknirschung, der Schwäche, der
+Selbsterkenntnis fällt sie von ihm ab.
+
+Hat er nicht doch Berechtigung, sich mit diesem Photographen zu
+vergleichen, der sich auch eine männliche und selbstgefällige Pose
+zurechtgelegt hat wie so manche, denen man im Leben begegnet? Der
+Kommerzienrat zum Beispiel mit seiner betont soignierten Haltung im
+Geschäftsleben, während er daheim in seiner Familie nicht mehr als ein
+gutmütiger alter Trottel ist?
+
+Oh, wie grausam betrachtet er nun sich selbst. Gewiß, auch der
+Kommerzienrat hat seine Maske vor den Menschen, ebenso wie die vielen
+anderen, die der klugen Ansicht sind, daß man ohne sie im Lebenskampf
+nicht auskomme; daß man mißbraucht werde, wenn man der Allgemeinheit,
+den Konkurrenten, den Neidern, den lauernden Feinden den wahren
+Menschen zeige. Aber verwandeln sie sich nicht, ebenso wie der
+Kommerzienrat, zeitweise in ihr eigenes Wesen zurück?
+
+Wann jedoch ist er ein Mensch ohne jede falsche Geste? Wann und wo
+zeigt er seine wahren, seine geheimsten Empfindungen, das Zarte, das
+auch in ihm sich regt, und seine Sehnsucht nach Wärme und Liebe?
+
+So wie dieser Hjalmar Ekdal soeben seine Haltung zu verlieren im
+Begriff war, als man ihm sein Lügenhaus enthüllte, so hat er heute
+nachmittag ohne jede Würde im Zimmer des Kapitäns gesessen und klar,
+entsetzlich klar erkannt, daß sein Ansehen, seine Arbeit, sein ganzes
+Leben in den letzten drei Jahren sich auf eine Lüge stützt.
+
+Und er ging nicht mit offenen Worten zu Frau Adelheid, um der Lüge ein
+Ende zu bereiten. Nein, wie dort auf der Bühne das Dokument wieder
+zusammengeklebt wird, das die Fortsetzung des alten Lebens erfordert,
+so war er zu seiner Frau zurückgegangen, als wäre nichts geschehen, als
+hätte nicht die wahre Erkenntnis ihm eben die Augen geöffnet.
+
+Das Licht flammt auf. Joachim Becker sieht in Adelheids
+tränenüberströmtes Gesicht. Rasch zieht er sie fort, ehe sie noch von
+der Familie mit Gesprächen und Abschiedsworten aufgehalten werden
+können. Sie nehmen irgendeinen Wagen, der vor der Türe steht, und
+fahren nach Hause. Unterwegs trocknet er ihre Tränen und küßt die
+kalten blassen Hände. Wieviel hat er an ihr gutzumachen. Es ist keine
+Pose, keine Lüge, wenn er ihr nun die Hände küßt und sie herzlicher
+behandelt als sonst. Nein, er ist ihr so unendlich dankbar für ihre
+Güte und Geduld. Gehört es nicht als erstes zu seinem neuen Leben, daß
+er ihr die warme Regung seines aufgestörten Herzens verrät?
+
+Nie war Frau Adelheid so schmerzhaft glücklich wie in dieser Stunde.
+
+Sie sprechen kein Wort, und erst zu Haus fragt Adelheid
+schüchtern-zart:
+
+»Darf ich dich zu einer Tasse Tee in meinem Zimmer einladen?«
+
+»Ja«, sagt er mit weicher Stimme, während er ihren treuen Augen dankbar
+begegnet.
+
+Er lehnt gegen den hohen Kamin und blickt in seine Vergangenheit,
+während Frau Adelheid mit stillen Bewegungen den Teetisch bereitet.
+
+Die freundlichen Bilder sind nicht mehr durch falsche Strenge oder
+Spottlust verzerrt. Sie sind hell und sprechen wie Erkenntnisse.
+Irmgard Pohl hält ihm die feste, kameradschaftlich treue Hand hin und
+sagt: ›Wie könnte ich an dir zweifeln? Das darfst du niemals denken!‹
+Und Michael Pohl ist in seiner Erinnerung wieder vertrauensvoll und
+gut zu ihm. Er schlägt ihn auf die Schultern und spricht: ›Ja, dann
+sage ich von heute an du zu dir!‹ In seinen hellen tiefliegenden Augen
+schimmert dabei seine geheime Zärtlichkeit.
+
+Joachim Becker sieht seine Fehler unerbittlich und klar. Sie sagen: Nun
+weißt du wohl, wie wir auszugleichen sind? Ja, das weiß er. Es ist so
+einfach: man ist fortan nur gut zu jedermann, man geht zu zwei Menschen
+und sagt: »Verzeiht!«
+
+Adelheid ruft ihn an und berührt ihn am Arm. Ihre Augen sind ängstlich
+und traurig, denn sie weiß, daß er mit seinen Gedanken wieder nicht in
+ihrer Nähe weilt.
+
+Er blickt sie ganz verwirrt an. War nicht eben alles so einfach und
+klar? Er lacht bitter auf.
+
+Nein, nichts ist klar, denn das Geschehene ist nicht auszulöschen!
+Und eine Schurkerei bleibt eine Schurkerei. -- Was sollte die
+rücksichtslose Wahrheit daran ändern?
+
+
+
+
+ Der Kran
+
+
+Als im dritten Hafenbecken nun auch ein Wasserspiegel glänzte und an
+den Kais eine Tankanlage für zwei Millionen Liter Benzin errichtet war,
+konnte man endlich sagen, daß hier ein fertiger Hafen sei.
+
+Im Norden ragt der mächtige Getreidespeicher, und schon wird die Frage
+aufgeworfen, ob er auch ausreichen werde. Es steht nur noch nicht fest,
+ob der Mühlenbesitzer Pohl, die Genossenschaft der Brotfabrik oder die
+Hafengesellschaft den neuen Speicher bauen. Diese drei muß man nun in
+einem Atemzuge nennen, denn sie gehören zusammen. Der Kapitän geht zum
+Beispiel zum Nachbarn hinüber und sagt:
+
+»Nun komme ich, um Ihrer Brotfabrik ~unseren~ Speicher anzubieten.
+Vor nicht zu langer Zeit haben Sie uns ausgeholfen.« Und der mächtige
+Herr Pohl nimmt dankend an. Er ist nun ein Faktor, den niemand mehr
+übersehen darf.
+
+Aber bei ihm finden wir nur Getreide, Mehl und bald auch Brot -- was
+ist jedoch im Hafen? An seinem Mittelbecken wird alles in Empfang
+genommen, eingelagert und verzollt, was aus dem Lande und aus fernsten
+Erdteilen nur herangeschafft werden kann. Da sind viele tausend
+Oxhoft Weine aus Frankreich und Spanien, Talg aus Skandinavien,
+Eier aus Holland, Tabak aus Bulgarien, Fleisch, Schmalz und Speck
+aus Amerika, Därme aus China, da sind alle Lebensmittel, die eine
+Riesenstadt braucht: Mehl, Kaffee, Kakao, Zucker, Butter, Öl, und ganze
+Dampferladungen von Heringen werden bis an die Decke der Schuppen
+gestapelt.
+
+Im Süden legen die flachen schweren Tankschiffe an, die Kesselwagen
+rollen hin und her, und wenn man einen Blick auf die große und
+imposante Kohlenverladeanlage wirft, dann glaubt man, in einem der
+berühmten Industriebezirke zu weilen und nicht im einfachen Binnenhafen
+einer großen Stadt, die sich in kurzer Zeit zum Stapelplatz für den
+ganzen Handel des Landes heraufgearbeitet hat.
+
+Nun ist die Mauer zum Gelände der verschollenen Verhüttungsgesellschaft
+gefallen, und die riesigen Freilagerplätze mit ihren Bergen von Kohle,
+Koks, Eisen, Sandsteinen, Zement, Holz und vielem anderen mehr sind
+dorthin verlegt.
+
+Es sieht alles so mächtig und imponierend aus, daß endlich die große
+Eröffnungsfeier veranstaltet werden könnte. Aber es scheint noch nicht
+genug zu sein.
+
+Man will jetzt den Riesenkran aufstellen, der alles in einem
+Binnenhafen Dagewesene überbieten soll. Dann erst dürfen die Gäste
+kommen. Wie man einen besonders schönen Blumenstrauß für den Ehrengast
+auf den Tisch stellt, so wird der Kran für die erste öffentliche
+Besichtigung in den Hafen gepflanzt.
+
+Was weiß ein Laie von einem Kran? Wer aber zur Hafengesellschaft
+gehört, ist von der Wichtigkeit des Ereignisses erfüllt, als das
+Ungetüm nach mühevoller Arbeit endlich dasteht und seine Leistungen
+vollbringt.
+
+»Das ist ein Bulle, was?« sagt Karle Töndern bewundernd.
+
+Bodenmeister Ulrich meint: »In den Seehäfen, bei den großen Werften,
+gibt es noch andere Dinger. Die können einen ganzen großen Ozeandampfer
+heben.« Er weiß zwar nicht genau, ob das stimmt, aber es macht einen
+guten Eindruck.
+
+»Na,« sagt Schiffer Jensen, »meinen Kahn nimmt der jedenfalls mit
+Leichtigkeit hoch.« So wenig Respekt hat er vor seinem Kahn.
+
+Wer hätte gedacht, welche unheilvolle Bedeutung dieser Riesenkran,
+neben dem die anderen zahlreichen Kranarme wie Kinder wirken, noch
+erlangen sollte?
+
+Es war eine unglückliche Idee von Frau Adelheid, dem schwarzen Koloß,
+den ihr Bruder nicht genug preisen konnte, einen Besuch abzustatten.
+Als einen Wahnsinn jedoch bezeichnete man es später, daß sie auf
+diesen Weg ihre kleine Tochter mitnahm, die gerade laufen konnte und
+mit ihren runden Augen recht eigenartig in die Welt guckte. Wer diesen
+traurigen Ausdruck, der das hübsche Kindergesichtchen so traumhaft
+verschleierte, gekannt hatte, meinte später, dem Kinde Frau Adelheids
+sei eine Ahnung seines fürchterlichen Geschicks schon von Geburt an
+mitgegeben.
+
+Kann man es aber der tapferen kleinen Frau Joachim Beckers verdenken,
+daß sie ihrer Tochter einen Eindruck von dem gigantischen Werk ihres
+Vaters vermitteln wollte? Sie verstand zwar noch nichts davon, sie
+plauderte in einem reizenden Kauderwelsch und war so ahnungslos, wie
+man es mit zwei Jahren noch ist. Doch sie könnte zuweilen fragen, ach,
+Kinder fragen so oft, sie fragen zum Beispiel nach ihrem Vater. Dann
+könnte sie also antworten:
+
+»Der ist dort, wo wir neulich waren, im Hafen, wo das viele Wasser ist
+und der große, große schwarze Zeiger!« Das würde sie verstehen. Darum
+nahm sie ihre kleine Tochter mit, als der vom Hafen fiebrig erfüllte
++Dr.+ Friemann ihr keine Ruhe mehr ließ.
+
+Felix Friemann ist mit allen seinen Gedanken und Gefühlen im Hafen.
+Er könnte in einem prächtigen schloßartigen Hause bei seinen Eltern
+wohnen, er hätte sogar das Geld, auf einer Jacht im Mittelmeer zu
+kreuzen, aber er schlägt seine Sommerwohnung im Hafen auf und läuft
+immer noch einer kleinen standhaften Fürsorgeschwester nach. So ist der
+Mensch mit allen seinen Widersprüchen!
+
+Schließlich muß er wohl selbst am besten wissen, was ihm gefällt. Es
+macht ihm nun einmal Spaß, im Sommer eine Stunde früher aufzustehen und
+vor der Hafenwirtschaft zu promenieren, damit er als erster der frisch
+gewaschenen und geputzten Schwester Emmi mit den Lackschuhen begegnet.
+
+Zuweilen fällt doch ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn ab,
+denn an manchen Tagen funkelt die Sonne gar zu blank über dem Hafen mit
+seinem Wasser und der herrlichen Weite, so daß eine Fürsorgeschwester
+ihren Frohsinn siegen läßt.
+
+Dann kann sie ein Liedchen summen oder die Arme recken, daß alle ihre
+zierlichen Formen sich unter dem hellen Kleide abzeichnen, und in den
+Frühlingstag hineinjubeln:
+
+»Ach, es gibt nichts Schöneres als Sonne im Hafen!«
+
+Das ist ihr zweiter Hafenfrühling, und drei Jahre ist es her, seitdem
+an einer langen Tafel unter den Linden der erste Spatenstich gefeiert
+wurde. Daran hatte Schwester Emmi noch nicht teilgenommen, aber für das
+Fest der Einweihung erträumt sie sich schon ein Kleid, einen Hut und
+Schuhe, die den Staat aller vornehmen Damen in den Schatten stellen
+sollen. Die Frau des Generaldirektors mit eingerechnet, denn Schwester
+Emmi hat gelegentlich festgestellt, daß Frau Adelheid ungeschickte Füße
+habe.
+
+Zuweilen kann Schwester Emmi zwar noch ihrem treuen Anbeter, dem
++Dr.+ Friemann, schnippische Antworten geben und ihn streng
+ersuchen, sie in Ruhe zu lassen. Sie ist sogar so grausam, sich über
+seinen Sprachfehler lustig zu machen.
+
+»Ist der Kapitän schon da, der Kapitän --« fragt sie ihn zum Beispiel
+mit spöttischem Augenblitzen.
+
+Er aber blickt sie nur mit seinen Friemannschen Lichtern traurig an,
+und sein gesenkter runder Kopf auf dem langen dünnen Körper ist dann
+wahrhaftig so trostlos wie eine Gaslaterne, die am hellichten Tage
+brennt.
+
+Aber einmal sagte Schwester Emmi: »Bitte sehr, wenn Sie etwas von mir
+wollen -- ich bin noch unverheiratet!«
+
+So, das war geradeheraus gesagt! Es fiel ihr nicht ein, sich aus purer
+Gutmütigkeit noch einmal zu opfern. Dafür waren ihre Erfahrungen zu
+teuer erkauft.
+
+Warum sollte sie nicht Frau +Dr.+ Friemann werden, wenn sie seiner
+Liebe würdig war? Ist sie vielleicht geringer oder weniger klug als
+diese lächerliche Bohnenstange? Oh, sie hat so wenig Achtung vor ihm,
+wie man es von der Frau, die einen Mann seines Geldes wegen heiratet,
+nur erwarten kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß sie aus diesem
+Manne noch etwas machen könnte, wenn es einmal soweit wäre. Sie würde
+schon seine Schätze würdig repräsentieren. In solch einem Anzuge und
+mit diesen Krawatten dürfte er dann auf keinen Fall mehr herumlaufen!
+Was ihren Toilettenaufwand aber betraf -- Nun, das fällt in das Gebiet
+ihrer heimlichsten Träume, die sie keinem offenbart.
+
+Ob der +Dr.+ Friemann nicht eine gewisse Absicht damit verband,
+wenn er Frau Adelheid durchaus in den Hafen lotsen wollte und noch dazu
+mit dem Kinde? Es wäre eine so zwanglose Gelegenheit, sie mit Schwester
+Emmi bekanntzumachen, um einen Bundesgenossen in der Familie zu haben,
+denn wenn er sich Schwester Emmi neben seinen Eltern vorstellt, so wird
+ihm doch himmelangst. Felix Friemann hat durchaus alles berechnet, er
+denkt sogar daran, daß Schwester Emmi bei Kindern sehr beliebt ist; sie
+würde sich also im Verkehr mit Frau Adelheids kleinem Mädchen besonders
+vorteilhaft ausnehmen.
+
+So kommt Frau Adelheid in den Hafen und zum großen unerbittlichen Kran.
+
+Der Kapitän empfängt sie am Wagenschlag und hilft ihr beim Aussteigen.
+Dann hebt er ihre kleine Tochter heraus. Er faßt sie behutsam um den
+schmalen Körper und spürt ihren frischen Atem, den unvergleichlich
+liebreizenden Duft gepflegter Kinderhaut.
+
+Was mochte in diesem steifbeinigen Kapitän wohl vorgehen, als das zarte
+Gesicht dabei seinen Kopf leise streifte? Ob er nicht auch zuweilen an
+weiche Kinderhände gedacht hatte, als er im letzten Winter so einsam
+und frierend hier hockte und so viel Hoffnungen auf den neuen Frühling
+und das Ende einer langen Reise setzte?
+
+Frau Adelheids Tochter in dem weißen duftigen Kleidchen begrüßt den
+Onkel Kapitän mit einem Knicks, der ihre Beine bis zum kurzen Saum des
+Spitzenröckchens verschwinden läßt. Sie kann fast von der Erde nicht
+wieder hochkommen. Dabei sind ihre runden dunklen Augen so ängstlich in
+die Höhe gerichtet, daß der Kapitän mit seinen spröden Händen zärtlich
+über ihre seidenweichen Locken fährt. Dieser einsame und gesottene
+Junggeselle.
+
+Da kommt Felix Friemann gestikulierend an. Das ist eine vertraute
+Gestalt für die Kleine. Sie tappt ihm entgegen, und er hockt nieder, um
+sie mit seinen langen Armen aufzufangen.
+
+So, nun hat er sie in seinem Reich. Er bittet sich die Erlaubnis aus,
+die Nichte führen zu dürfen und trippelt mit ihr davon. Er muß sich
+ein wenig bücken, damit sein Arm bis zu dem winzigen Geschöpfchen
+herabreicht, und stolpert bei den zierlichen Schritten fast über seine
+dünnen Beine.
+
+Die Schiffer auf den Kähnen und die Hafenarbeiter stoßen einander an
+und ziehen die Gesichter krampfartig zusammen. Felix Friemann nickt
+ihnen zu und lacht. Da lachen sie auch. Und die kleine Tochter des
+Generaldirektors jauchzt und findet kein Ende mit ihren Fragen.
+
+Frau Adelheid und der Kapitän folgen langsam nach. Zuweilen bleiben sie
+stehen, um einiges zu besichtigen.
+
+Felix Friemann geht nun schon weit voraus. Er kann es nicht erwarten,
+der Kleinen Schwester Emmi und den großen Kran zu zeigen.
+
+»Ach,« sagt Frau Adelheid zum Kapitän, als er ihre Tochter lobt, »ich
+wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich sie nicht
+hätte.«
+
+Sie bleiben stehen und plaudern noch über etwas, das Frau Adelheid
+sehr bewegt. Sie hat sich im geselligen Verkehr, der sie oft mit dem
+Kapitän zusammenführte, so vertrauensvoll an ihn angeschlossen, daß sie
+ihm manches Geheimnis ihres tapferen Herzens preisgibt.
+
+»In letzter Zeit«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln, »zeigt er viel mehr
+Interesse für sie. Er wird es wohl nie verschmerzen, daß er keinen Sohn
+hat und daß sie so gar nicht nach ihm geartet ist, aber denken Sie: er
+setzt sich mit ihr auf den Teppich und läßt sich an den Haaren zupfen
+und die Puppen zeigen. Neulich hat er eine Eisenbahn und ein kleines
+Schiff gekauft. Das hat er ihr dann alles erklärt, ach wissen Sie, so
+ungeschickt für Kinder, sie hat gar nichts verstanden und machte bald
+alles entzwei. Aber es war so schön, wie er da mit ihr saß und sprach
+und sprach, daß ich -- ach, jetzt werden Sie mich sentimental finden.
+Ich mußte rasch hinausgehen und weinen.«
+
+Der Kapitän schweigt.
+
+»Manchmal«, erzählt sie weiter, »ist er zu lebhaft für sie. Er macht
+zu heftige Bewegungen oder er wird ungeduldig, weil sie ihn nicht
+versteht, dann weint sie und will von ihm fort. Das trifft ihn immer so
+hart, daß er schweigend in sein Zimmer geht und niemand sprechen mag.
+Zuweilen kann er das tagelang nicht vergessen, und ich zerbreche mir
+den Kopf, wie die Kleine ihn wieder versöhnen könnte.«
+
+»Aber es ist doch noch ein unvernünftiges Kind,« meint der Kapitän
+tröstend, »man darf ihm doch keinen Vorwurf machen.«
+
+»Nein, das darf man nicht.«
+
+»Ich glaube,« sagt der Kapitän langsam, während sein Blick Frau
+Adelheids blasses Gesicht mitleidsvoll streift, »ich glaube, ihm fehlt
+die Güte.«
+
+»Nein!« protestiert Frau Adelheid lebhaft, »nein -- die Güte fehlt ihm
+nicht!«
+
+Der Kapitän sieht bestürzt zu Boden. Hat er nicht zum erstenmal seinen
+Platz in der Mitte verlassen?
+
+»Verzeihen Sie mir,« sagt er leise, »Sie müssen es wohl besser wissen
+--«
+
+Indessen erklärt Felix Friemann dem Kinde den großen Zeiger, der in
+weitem Bogen seine Lasten herumführt und neben ihnen absetzt.
+
+»Sieh, da oben ist der Mann, der ihn lenkt. Er drückt auf einen Hebel,
+und da wandert das schwarze Ungeheuer wieder leer zum Schiff zurück.«
+
+Aber seine Nichte hat kein Interesse dafür. Vielleicht fürchtet sie
+sich auch vor dem Kran. Jedenfalls zieht sie das Gesicht weinerlich
+herab. Nicht einmal Schwester Emmis Überredungskunst gelingt es,
+ihr einen Begriff von der Großartigkeit der Hafeneinrichtungen
+beizubringen. Sie muß sich etwas anderes ausdenken, bis Frau Adelheid
+mit dem Kapitän nachkommen und ihre Tochter in Empfang nehmen wird.
+
+»Ach --,« sagt sie sehr wichtig, »ich habe ja etwas ganz Reizendes für
+dich. Das will ich dir sofort bringen --«
+
+Die Kleine blickt ihr voll stummer Erwartung nach. Schwester Emmi kann
+einen gar zu verheißungsvollen Ton anschlagen.
+
+»Wohin, Schwester eins?« fragt +Dr.+ Friemann, während er
+hinter ihr herrennt. Er hat sich so daran gewöhnt, Schwester Emmi
+nachzulaufen, daß er nun sogar das Kind im Stich läßt, um zu erfahren,
+wohin sie geht.
+
+Das kleine Geschöpf trippelt, sich selbst überlassen, wie ein verirrter
+Vogel umher und merkt nicht, was über ihm geschieht. Es sieht drüben
+an der Kaimauer etwas Helles aufblitzen und eilt hin, es sich zu
+holen. Die Sonne hat sich in ein paar Wasserpfützen gespiegelt, aber
+nun sind ihre Strahlen verdeckt, denn der große Arm des Drehkrans ist
+stehengeblieben und läßt langsam seine mächtige breite Ladung sinken.
+Vielleicht glaubt die Kleine, daß eine große Wolke über den Himmel
+ziehe. Sie setzt sich auf den sonnengewärmten Steinen des breiten Kais
+nieder und hält nach geeigneten Spielen Umschau. Doch es wird immer
+dunkler über ihr, und plötzlich, als ahne sie die Gefahr, beginnt sie
+leise zu weinen.
+
+Ein Arbeiter schreit mit rauher Stimme auf. Er stolpert über einen
+Kameraden und reckt beide Arme, um das Kind zu packen, die breite
+schwere Ladung anzuhalten oder was er sonst in seinem Wahnsinn zu
+tun gedenkt. Da hören auch die anderen einen kläglichen verlorenen
+Kinderschrei, und die Last hat sich herabgesenkt.
+
+Heisere Kehlen rufen zu dem Manne im Portal hinauf, die Ketten beginnen
+wieder zu arbeiten; Felix Friemann packt die Männer bei den Schultern,
+schafft sich zu der verhängnisvollen Stelle Zutritt und erlebt als
+erster den grauenvollen Anblick, als der ungeheure, von schwarzen
+Ketten umschlungene Kasten langsam wieder hochgewunden wird.
+
+Schwester Emmi stürzt mit bleichem Gesicht herbei, sie ahnt, daß Felix
+Friemann eben in rasendem Lauf sie streifte, sehen konnte sie ihn
+nicht. Sie hält sich am Arm eines Arbeiters fest und legt die Hand vor
+die Augen.
+
+Frau Adelheid hört die Rufe, sie sieht ihren Bruder wie einen
+Besinnungslosen stumm vorbeieilen -- der Kapitän und sie laufen in
+dumpfer Ahnung zu der Menschenansammlung. Niemand hätte diese Eile und
+Kraft vermutet, die Frau Adelheid vorwärts stößt -- durch die Mauer der
+Arbeiter zum fürchterlichen Platz unter der schwebenden Last des Krans.
+
+Sie fällt steif gegen die hilflos blickenden Männer zurück. Man fängt
+sie auf, und nun kann man einer Ohnmächtigen helfen, ihr Kind wagt
+keine Hand mehr zu berühren.
+
+Schwester Emmi wird gerufen. Sie lehnte mutlos gegen die Mauer der
+Lagerhalle. Nun gibt sie Anordnung, Frau Adelheid zur Kantine zu
+tragen, denn hier sind keine Belebungsmittel, und es ist gut, wenn Frau
+Adelheid beim Erwachen den Kran nicht mehr sieht. Der Kapitän stimmt
+ihr mit wortlosem Nicken zu. Die Fürsorgeschwester kann wieder einmal
+zuerst klar denken und helfend eingreifen.
+
+Felix Friemann fällt ihr auch wieder ein. Sie blickt sich um. Da sieht
+sie ihn weit drüben an der anderen Seite des Hafenbeckens in das
+Verwaltungsgebäude laufen.
+
+Hat er so viel Besinnung behalten, daß er nach einem Arzt telephoniert?
+Immer wieder blickt sie auf das Haus, während sie den Männern folgt,
+die Adelheid tragen.
+
+Plötzlich reißt sie die Arme hoch, schreit:
+
+»Da -- da --«
+
+Der Kapitän, die Männer schrecken auf, sie folgen Schwester Emmis Blick
+bis oben zum Turm des Verwaltungsgebäudes. Dort, im zehnten Stockwerk,
+auf der Balustrade steht eine hohe schmale Gestalt, jetzt hängt sie in
+der Luft --, und sie schließen alle die Augen, um nichts mehr zu sehen.
+-- -- --
+
+
+
+
+ Das Fieber
+
+
+Adelheid vernimmt die besorgt fragende Stimme der Fürsorgeschwester.
+Aus weiter Ferne treffen sie gedämpfte Laute: Wasserrauschen,
+Stuhlrücken, die leisen Anordnungen des Kapitäns; Fragen, deren Sinn
+sie nicht erfaßt.
+
+Jemand sagt: »Aber sie hat doch die Augen geöffnet.« Da läßt sie die
+Lider sinken, wie man im Halbschlaf zu neuer Ruhe sich bereitet, wenn
+Stille und Finsternis der Nacht in das Unterbewußtsein drangen.
+
+Das Surren eines Motors, Stimmengewirr, Wagenrollen wecken sie
+wiederum, sie fühlt harte Polster unter ihrem Rücken und wird doch wie
+auf Wellen sanft bewegt. Heftiges Knattern, das vertraute Läuten einer
+Straßenbahn lassen sie aufschrecken. Sie schnellt hoch und findet sich
+sitzend im Auto, gegenüber dem Kapitän, der sie mit ausgestreckten
+Armen hält und auf die Polster zurücklegt. Schwester Emmis Stimme ist
+ganz nahe an ihrem Ohr. Dann verschwindet wiederum alles in der Stille
+der Ohnmacht.
+
+Zum drittenmal erwacht sie. Verhaltenes Schluchzen, eine ganz ruhige
+Stimme umgeben sie. Weiche Kissen fallen auf ihre Glieder, und
+wohltuende Wärme steigt auf. Sie vernimmt die Stimme der Mutter und ihr
+Weinen.
+
+Sie will rufen, aber sie hat keinen Ton in der Kehle, sie will sich
+aufrichten, aber sie ist gebannt wie in spukhaften Träumen, da
+Verfolgung und Angst lähmend den Körper hemmen.
+
+»Es ist eine einfache Operation, gnädige Frau«, hört sie wieder
+erschreckend laut. Noch einmal versucht sie, sich zu stemmen, den
+Schleier über ihrem Bewußtsein zu zerreißen. Aufzuspringen --
+
+Stöhnen der Mutter und jetzt tonlos, leise der Vater: »Sie sind sicher,
+daß der Schrecken es unterbrochen hat und daß eine Operation nötig
+ist?«
+
+Sie hat jedes Wort verstanden, sie erfaßt den Sinn und liegt dennoch
+ausgestreckt, hilflos; hat keinen Ton, keine Bewegung. Sie wartet auf
+die Fortsetzung des Gespräches. War nicht eine Frage gestellt? Doch es
+folgt keine Antwort.
+
+Dröhnend kehrt abermals kurzes Bewußtsein zurück.
+
+»Noch heute. Ich habe den Krankenwagen schon bestellt.« Wieder der
+ruhige laute Klang inmitten des Brausens in ihren Ohren.
+
+»Sie hat die Augen geöffnet«, sagt eine vertraute Stimme.
+
+»Mutter --« Sie sieht sekundenlang das schmerzverzerrte, besorgte
+Gesicht der Mutter; groß, blaß, mit wirren Haaren Da fühlt sie ihren
+Körper hart in die Kissen fallen, und alles ist ausgelöscht.
+
+Dann rollen Räder, ein Motor singt, rhythmisch surrend.
+
+»Ach Sonne und die grünen Blätter«, flüstert die Kranke erwachend.
+
+»Ja, mein Kind, es ist Sommer!«
+
+Sie blickt sich um und ist ganz wach. Weiße Wände umgeben sie, ein
+Fenster leuchtet oben an der niedrigen Wand. Bäume, in lauten Straßen
+gerade aufgerichtet, eilen vorbei.
+
+»Wohin fahren wir?«
+
+»In die Klinik, mein Kind.«
+
+»Ist das ein Krankenwagen?«
+
+»Ja.«
+
+»Es ist schön mit der Sonne draußen und den Bäumen.«
+
+»Erkennst du mich, Adelheid?«
+
+»Ja, Mutter.«
+
+»Wir sind da«, hört sie eine fremde Stimme. Krankenschwestern beugen
+sich zu ihr herab. Sie fühlt sich hochgehoben, durch die warme Luft
+einer hellen Straße getragen.
+
+Ganz deutlich verfolgt sie nun den Weg durch die dämmrige Kühle des
+Flurs. Türen werden geöffnet, ein Fahrstuhl bewegt sich aufwärts. Es
+ist schön, still zu liegen, ohne Gefühl, ohne Gedanken. Nur die Augen
+sehen, die Ohren hören.
+
+»Wie kühl sind die Betten, Mutter«, sagt sie, behaglich ausgestreckt,
+ohne Wunsch und Willen.
+
+Der Arzt beklopft ihre Wangen mit väterlicher Geste.
+
+»Na also«, vernimmt sie seine gesunde kräftige Stimme. »Wir wollen ihr
+bis morgen früh Ruhe lassen. Merken Sie vor, Schwester, als erste.«
+
+Dann versinkt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.
+
+Sie erwacht von aufsteigender Kälte in ihren Gliedern. Nacht umgibt
+sie: Finsternis und Stille. Sie schließt die Augen und versinkt von
+neuem in Halbschlaf, indes das nervöse Frösteln sich unaufhaltsam
+ausbreitet, bis im heftigen Schüttelfrost ihre Lippen zittern, die
+Zähne aufeinanderschlagen.
+
+Ihre Finger sind ohne Gefühl, wie vereist. Sie tastet zur Seite, als
+suche sie Wärme, Beistand und stößt hart gegen die gestrichene Wand.
+
+Plötzlich weiß sie, daß sie allein im kahlen Zimmer eines Krankenhauses
+liegt. Sie entsinnt sich, daß ihre Tochter tot ist und daß man ihr
+morgen früh das zweite Kind nehmen wird. Vielleicht ist es der von
+ihnen beiden so sehnsüchtig erwartete Sohn. Nun ist er in ihr gestorben
+und breitet die Eiseskälte in ihrem kranken Körper aus.
+
+Sie schreit laut auf, ihre Stimme hallt von den kahlen Wänden wider und
+kommt kläglich, leer zu ihr zurück.
+
+Helles Licht blendet ihre weit aufgerissenen Augen. Eine Schwester
+betastet sie, fühlt ihren Puls.
+
+»Ich gebe Ihnen etwas Heißes zu trinken, gnädige Frau. Dann werden Sie
+wieder warm.«
+
+Die klare, gesunde Stimme, die körperliche Nähe eines aufrechtstehenden
+und schreitenden Menschen, das harte Licht über Stuhl, Tisch und Wänden
+schrecken den gräßlichen Nachtspuk zurück. Die Kranke sieht sich wieder
+als sorgsam betreute Patientin. Der Arzt vom Nachtdienst erscheint und
+blickt ihr in das tränenüberströmte Gesicht. Er stellt ohne Staunen
+fest, daß leichtes Fieber eingesetzt habe.
+
+»Sie sollen sehen, wie Ihnen der heiße Tee gut tun wird«, sagt er
+leise, mit sonorem Klang. Sein Gesicht ist jung, von straffer Haut
+überspannt. Die Brauen sind wie ein gerader Strich über schmalen
+dunklen Augen. Sie erinnern Adelheid an ihren Mann.
+
+So glatt war damals seine Stirn, als noch niemand ihre Liebe erriet, so
+strahlend und dunkel blickten seine Augen, von den Lidern bis zu einem
+Spalt verdeckt, wenn er sie lächelnd grüßte; sie, die Tochter seines
+Chefs, die seine Nähe suchte.
+
+Die Schwester stützt ihren Kopf, und sie schluckt gierig den heißen
+Trank, den sie brennend durch den erkalteten Körper strömen fühlt.
+
+Sie fällt in die Kissen zurück, der Arzt lächelt ihr abschiednehmend
+zu, die Tür klappt leise. Sie blickt erschreckt auf. Gedämpftes Licht
+ist im Raum, die Schwester sitzt still neben der verhüllten Lampe mit
+einem Buch auf den Knien.
+
+»Sie müssen versuchen, zu schlafen, gnädige Frau«, ruft die Schwester
+aufmerksam herüber.
+
+Ihr Kopf glüht; prickelnd beginnen ihre Glieder zu brennen, wie in
+erster Wärme nach abtötendem Frost.
+
+Eine Erinnerung steigt auf: sie liegt frierend im Hotelzimmer und
+fühlt gleichfalls mählich leichtes Fieber im erstarrten Körper sich
+ausbreiten ...
+
+In Arosa war es, in jenem schneereichen Januar, da sie und Joachim
+Becker ihre erste gemeinsame Reise unternahmen, ihre Hochzeitsreise.
+Lachend, in munteren Gesprächen promenierten die sorglosen,
+lebensfrohen Menschen vor den großen Hotels. Der Schnee knirschte unter
+ihren Schritten, er leuchtete ringsum; über den Dächern im Tal und mit
+blauem Schimmer von den Bergen. Die Sonnenstrahlen fielen wärmend durch
+die klare Luft. Bobsleighs sausten lautlos in der Ferne zu Tal.
+
+Junge Mädchen in bunten Jacken, ihre Begleiter mit rotbraunen
+Gesichtern über weißen Sweatern zogen die Rodelschlitten hinter sich
+her, hatten die Skier geschultert und eilten zu den Sportplätzen.
+Kunstläufer schleiften ihre schwungvollen Bogen über das spiegelnde
+Eis.
+
+Hier hatte Adelheid Friemann einst mit ihren Eltern still beobachtend
+gestanden und davon geträumt, wie sie mitleben, mitjagen würde auf den
+weißen Bahnen, unter lauten jubelnden Schreien, wenn auch sie einen
+Begleiter an der Seite hätte. Groß mußte er sein, schön, energisch.
+Damals schon hatte sie an den Prokuristen ihres Vaters gedacht, den sie
+nicht vergessen konnte, seitdem sie ihn einmal auf dem langen Korridor
+im ernsten Geschäftshaus hatte vorbeieilen sehen.
+
+Und dann stand sie an derselben Rodelbahn, Joachim Becker an ihrer
+Seite. Ihr Mädchentraum, ihr sehnlicher Wunsch war erfüllt. Aber sie
+waren wieder nur stille Beobachter. Keine überschäumende Lebensfreude
+trieb sie an. Joachim Becker sah mit spöttischen Blicken in das
+Getriebe und dachte an seine Arbeit.
+
+»Wollen wir uns nicht auch einen Schlitten nehmen?« hatte sie
+schüchtern, mit verhaltener mädchenhafter Freude am Spiel gefragt.
+
+»Nein,« hatte er fast brüsk erwidert, »ich habe keine Neigung, mich mit
+diesen Nichtstuern herumzutollen.«
+
+Sie mußte zugeben, daß er zu ernst, zu bedeutsam für diese kindischen
+Spiele war. Ihre Liebe stellte sich willig auf seine Gedankengänge ein,
+und sie begann, die flirtende Jugend gleichfalls mit Überlegenheit zu
+kritisieren. Aber sie fühlte sich einsam und nicht mehr jung.
+
+Ihr Mann bekam seine Arbeit nachgesandt. Täglich war sein erster Gang
+zum Postempfang. Er nahm die dicken Briefe mit den Plänen und den
+Offerten für den Hafenbau und ging in sein Zimmer. Sie stellte sich
+indessen ans Fenster und sah auf die sorglose fröhliche Jugend herab.
+
+Die lauten Stimmen, die harten Schritte der Sportschuhe in den
+Korridoren störten den jungen Direktor in seiner Arbeit. Er wurde
+nervös und reizbar.
+
+»Wollen wir uns nicht auch Skier geben lassen und Ausflüge machen,
+um dem Lärm zu entgehen?« fragte sie wieder, als er über die Störung
+ungehalten war.
+
+»Du weißt anscheinend nicht, daß ich in meinem Leben noch keine Zeit
+hatte, mich mit diesem Sport abzugeben. Das ist etwas für diejenigen,
+die in jungen Jahren genießen und nicht arbeiten«, hatte er, nicht ohne
+Bitterkeit, geantwortet.
+
+»Aber du könntest es doch jetzt lernen«, warf sie ein.
+
+Wie, hier sollte er sich vor diesem Volk produzieren und sich auslachen
+lassen? Sie glaube wohl selbst nicht daran, daß er dazu fähig wäre.
+
+Auch das sah sie schließlich vollkommen ein.
+
+Doch eines Tages hatte sie die drückende Stille und Enge ihres Zimmers
+nicht länger ertragen. Die hellen Stimmen vor den Fenstern lockten;
+sie galten nicht ihr. Sie hatte immer wieder die Briefe ihrer Mutter
+gelesen, die Mitteilungen lebenslustiger Freundinnen, sie hatte
+versucht, sich in Bücher zu versenken, indes ihr Mann im Nebenraum
+nervös arbeitete und es nicht erwarten konnte, wieder zu Hause zu
+sein, in seinem Hafenterrain, wo man die Häuser bereits abriß und die
+Mehrzahl der Bäume fällte, um seinem Werke Platz zu machen.
+
+Sie vernahm seine ruhelosen Schritte, sie wußte, welches Opfer er ihr
+brachte, indem er die für die Hochzeitsreise festgelegte Zeit hier in
+Ungeduld verlor.
+
+Da war sie trotzig zu ihm hineingegangen. Sie hatte ihn auffordern
+wollen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Heftige Vorwürfe
+sollten ihn für den Fall der Ablehnung treffen. Doch als sie ihn
+mit soviel Ernst und Eifer in seine Arbeit vertieft sah, sagte sie
+bescheiden:
+
+»Du kannst mich wohl jetzt nicht begleiten?«
+
+Und um seinen Kampf zwischen Pflicht und Wunsch zu beenden, war sie
+allein hinausgegangen, zu den jungen, in Gemeinsamkeit fröhlichen
+Menschen.
+
+Sie ließ sich Schneeschuhe geben und eilte scheu durch die belebten
+Promenaden zu den Abhängen.
+
+Aber die große Stille hatte ihr nicht die gewünschte Harmonie gegeben.
+Bitterkeit überfiel sie.
+
+Mußte sich in solchen Stunden nicht Mißtrauen einschleichen? Der
+Gedanke lag nicht fern, daß er sie nur ihres Geldes wegen genommen
+hatte, weil sie ihn so hingegeben liebte. Sie konnte ihre Gefühle von
+jeher schlecht verbergen.
+
+Die Eltern hatten sie wohl warnend darauf aufmerksam gemacht, daß
+diese Möglichkeit gegeben wäre. Sie verschwiegen ihr auch nicht, daß
+er Beziehungen zu einer anderen, gleichfalls vermögenden jungen Dame
+unterhielt.
+
+Nahm er denn ihren Reichtum in Anspruch? Nein, er ging in seinen alten
+Kleidern umher, die er schon trug, als sie ihn kennenlernte. Gewiß,
+sie waren nicht schlecht. Doch er hätte sich diesem internationalen
+Publikum anpassen können, damit er nicht aus dem Rahmen fiel. Er blieb
+bescheiden in seinen Ansprüchen. Er sehnte sich von diesem Platz der
+Begüterten fort. Die Table d'hote störte ihn, der ganze Reichtum war
+ihm offensichtlich lästig. Er war der Mann der Arbeit geblieben.
+
+Es ließ ihn auch gleichgültig, daß die Frauen ihm oft und lange
+nachsahen. Nur Adelheid haben diese Blicke stets in ungewöhnlichem Maße
+bewegt, obgleich ihr Anteil an Joachim Becker dadurch weder größer noch
+geringer wurde. Sie ließen ihre Liebe sehnsüchtiger und schmerzlicher
+aufflammen.
+
+So hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, während sie die Anhöhen
+erklomm und von den schrägen Flächen herabglitt. Die Sonne senkte sich
+plötzlich. Die Berge in der Ferne verschwammen. Erste Lichter flammten
+auf. Ihre Füße wurden müde und schwer. Kaum konnte sie noch die Höhe
+erklettern, und dann glaubte sie, die Richtung zu verlieren.
+
+Sie schnallte die Schneeschuhe ab, als sie endlich auf einen
+ausgetretenen Weg gelangte, denn sie vermochte diese Last nicht mehr
+zu heben. Den Versuch, sie auf der Schulter zu tragen, gab sie bald
+auf. Sie warf sie in den Schnee. Ihre Beine waren nun befreit, aber wie
+abgestorben. Sie begann zu frösteln, die Zähne schlugen aufeinander --
+wie in dieser Nacht, da die Erinnerungen wieder lebendig werden.
+
+Wie jetzt die Wärme in ihrem Körper sich brennend ausbreitet, das Blut
+in die Schläfen drängt und ihre Mundhöhle ausdörrt, so hatte sie damals
+im fremden Hotelzimmer gelegen, am Anfang ihrer Ehe, als die große
+Einsamkeit begann.
+
+Ihre Gedanken arbeiten unablässig weiter. Sie liegt mit geschlossenen
+Augen da, die Glieder gerade ausgestreckt, die Arme eng an den Körper
+gepreßt. Die Kissen lasten wie ungeheure luftgefüllte Volumen dennoch
+schwer auf ihr, so daß sie sich nicht zu bewegen vermag. Sie sinkt
+immer tiefer und schwerer hinab und glaubt, die Matratze müsse unter
+ihrer Last brechen.
+
+Sturzbachgleich fallen die Erinnerungen in ihr fieberndes Hirn. Alle
+einsamen Stunden rotten sich zusammen, sie gewinnen phantastische
+Formen, sie werden gleichsam körperlich und klagen den großen
+Schuldigen an: den Hafen!
+
+Der Hafen mit seinen bleckenden kalten Wasserspiegeln und mit dem
+grausamen schwarzen Kran! Seine Eisenarme wachsen ins Unermeßliche, sie
+recken sich ihr entgegen.
+
+Sie haben ihr Joachim Becker genommen, sie haben ihr die Tochter
+entrissen, sie verlangen nach dem zweiten Kinde, das sie tot in ihrem
+kranken Körper birgt.
+
+Sie schreit wiederum laut auf und fühlt, wie ihr eigener Ruf sie in
+ihrer Glut fröstelnd erstarren läßt. Fahles Morgenlicht umgibt sie,
+ihre Schultern werden sanft hochgehoben. Der Rand eines Glases ist vor
+ihren Lippen. Sie schlürft eine bittere Flüssigkeit langsam herab und
+blickt in das graue übernächtige Gesicht der Krankenschwester.
+
+»Der Hafen«, flüstert sie entsetzt und liegt wieder ausgestreckt, allen
+Schrecknissen neuer Fieberphantasien preisgegeben.
+
+Aber mählich beruhigt sich ihr krankes Blut, und sekundenlang erhellt
+vollkommene Klarheit ihren verwirrten Geist. Als eine große heilsame
+Erkenntnis steht es vor ihr: »Der Hafen allein ist schuld!«
+
+Damit dieser Riesenbottich der großen Stadt zum Leben erwache, nahm
+Joachim Becker ihre Liebe an, stürzte er sie und sich selbst in
+Einsamkeit und Qual.
+
+Nun, da der Hafen mit allen seinen Schiffen und Kränen atmet und sich
+rührt, hebt er seine Arme, seine unheimlichen schwarzen Kranarme, um
+sie alle zu zermalmen.
+
+Sie weiß, daß die Vision zerrinnt, wenn sie die Augen öffnet, doch sie
+ist nicht mehr imstande, die Lider zu heben. Lähmendes Gift schleicht
+durch ihren Körper und versenkt sie in einen kurzen betäubenden Schlaf.
+
+Schmerzhaft grell, von Licht umstrahlt, fühlt sie sich, wieder
+erwachend, hochgehoben und auf ein hartes Lager gebettet. Sie vernimmt
+das elastische Rollen von Rädern, sieht lange weiße Korridore und
+erkennt, daß sie nun in den Operationssaal gefahren wird. Sie kann sich
+nicht wehren, das Gift hat ihre Glieder gelähmt. Sie ist hilflos und
+ohne Willen.
+
+Der Laut vielfacher Stimmen, das Klirren der Instrumente,
+Wasserrauschen hallt hart von den kühlen Wänden zurück und dringt in
+den Rhythmus ihres Blutes. Sie schmeckt das bittersüße und kühlende
+Narkotikum und sinkt immer tiefer in ein dunkel brausendes Chaos
+hinein.
+
+»Zählen Sie!« vernimmt sie eine Stimme hart und nah.
+
+Sie vermag den Mund nicht zu öffnen. Aber immer geräumiger wird
+mit jedem tiefen Atemzuge die unwirkliche Welt. Da beginnt mit
+leuchtenden Farben und leichten Melodien fernste Vergangenheit vor ihr
+aufzuklaffen: sie selbst, Adelheid Friemann im duftigen Tüllkleid, ganz
+jung und ohne Schwere, schwebt in fließenden Tänzen; Alfred Bernhard an
+ihrer Seite, und Helene Uhl, die lachende Freundin, gleitet mit ihrem
+Bruder Felix vorbei.
+
+Von weit her, unendlich gezogen, als tropfen sie nur langsam in ihr
+Bewußtsein, hört sie die Worte:
+
+»Vorsichtig! Denken Sie an das schwache Herz der kleinen Frau -- Frau
+-- Frau --«
+
+Das Wort wird zum gedehnten Gesang, es nimmt kein Ende; die sphärischen
+Melodien verströmen darin und brechen plötzlich klirrend ab. --
+
+Adelheid Becker kehrt mählich, aus unsagbar süßem Schweben über
+wehenden Luftwellen, in Bewußtheit und zu neuem Leben zurück.
+
+Die Stimme der Mutter nimmt sie milde, heimatlich auf.
+
+Sie öffnet die Augen.
+
+Bleich, in Zartheit und Liebe verklärt, ist das Antlitz der Mutter vor
+ihrem ersten Blick.
+
+»Wir haben getanzt, Mutter. Helene Uhl war da, Alfred Bernhard und
+Felix. Es war so schön.«
+
+Sie spricht noch mühselig und langsam, ihre Stimme aber ist kindlich
+hoch und hell.
+
+Die Geräusche rücken immer näher zu ihr heran; sie fühlt die Lippen der
+Mutter auf ihren Händen.
+
+»Ist noch jemand hier?« fragt sie, als ahne sie die Nähe des Vaters und
+ihres Mannes.
+
+»Ja«, vernimmt sie Joachim Beckers Antwort.
+
+Sie versucht sich aufzurichten, doch die Hände der Krankenschwester
+drücken sie sanft in die Kissen zurück. Da erspäht sie aus halb
+geöffneten Augen sein herabgeneigtes Gesicht. Prüfend, erstaunt gleitet
+ihr Blick über die Falten auf seiner Stirn, zu der senkrechten Kerbe,
+die wie eine Narbe tief zwischen die Brauen schneidet, und bleibt auf
+den trüben, fast entzündeten Augen haften.
+
+Ihre Lider fallen müde herab. Joachim Becker richtet sich schwankend
+auf. Sie hat kein Wort für ihn.
+
+Dann fühlt sie den Druck einer breiten weichen Hand auf ihrer Stirn.
+Vertraute Wärme dringt in ihre Haut ein. Der Atem des Vaters streift
+ihr Gesicht.
+
+Sie öffnet die Augen und lächelt ihm zu.
+
+Joachim Becker ist so vermessen oder so trostbedürftig, daß er sich in
+dieser Stunde auch nach einem Lächeln Adelheids sehnt. Er stellt sich
+noch einmal neben ihr Bett und küßt ihre Hand. Da schließt sie wieder
+die Augen und flüstert, von Grauen erfaßt:
+
+»Der Hafen! Nun weiß ich es: der Hafen ist schuld.«
+
+Und weil sie immer wieder bei seinem Anblick erregt wird, muß man ihren
+Mann bitten, ihr in der nächsten Zeit fernzubleiben, zumal noch die
+Nachricht vom Tode Felix Friemanns ihr bevorsteht.
+
+Zwei Wochen später kann sie bereits in die Wohnung ihrer Eltern
+übergeführt werden. Notlügen von einer Reise des Bruders lassen sich
+nicht länger fortsetzen, aber man braucht ihr auch die Wahrheit
+nicht zu sagen, denn im Hause ihrer Eltern, in dieser Heimstätte
+unversiegbarer Liebe und engsten Zusammenhalts, teilt sich die
+Schrecknis vom Tode des einen wie in mystischer Verbundenheit dem Blute
+des anderen mit.
+
+Und Adelheid findet, in das leere Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt,
+die ersten Tränen seit dem Tode ihrer Tochter.
+
+
+
+
+ Der Abschied
+
+
+Joachim Becker irrt ruhelos in seinem verlassenen Haus umher. Adelheid
+ist zu ihren Eltern heimgekehrt; man bat ihn, zu warten, bis sie nach
+ihm verlange. Aber sie ruft ihn nicht.
+
+Er bleibt auf dem Treppenabsatz im Vestibül stehen und denkt: hier
+stand sie, mit ihrer schönen kleinen Tochter im Arm, deren traurige,
+große Augen ihm fragend -- oder unbewußt anklagend? -- nachblickten.
+Die winzigen Hände winkten, und Adelheids mütterlich-stilles Lächeln
+leuchtete neben dem ernsten Kindergesicht.
+
+Er stellt sich an den hohen Kamin in ihrem Zimmer und gedenkt des
+Abends nach dem Theaterbesuch, da er alles so klar gesehen hatte und
+dennoch schwieg.
+
+Und wenn er zwischen zwei Konferenzen am Schreibtisch seines
+Arbeitszimmers sitzt, deckt er zuweilen die Hand über die Augen. Scham
+entbrennt in seinem zerquälten Gesicht, und alle falschen Gesten fallen
+von ihm ab.
+
+Drei Wochen sind vergangen, und Adelheid hat noch nicht nach ihm
+verlangt. Seine Selbstvorwürfe werden mit jedem Tage heftiger,
+Mutlosigkeit überfällt ihn. Dieser tüchtige junge Generaldirektor, der
+so ausgezeichnete und grandiose Pläne zu entwerfen versteht, hat Plan
+und Ziel für sein eigenes Leben verloren.
+
+Eines Tages geht Kommerzienrat Friemann in das Arbeitszimmer seines
+Schwiegersohnes und bleibt einen Augenblick in der Mitte des großen
+Raumes stehen.
+
+Joachim Becker denkt, daß er das gleiche energiegesammelte Gesicht habe
+wie einst, als er einen für sie alle entscheidenden Schritt unternahm.
+Damals sagte er ohne Einleitung mit festem Blick: »Ich habe gehört, daß
+meine Tochter Sie liebt. Wie stellen Sie sich dazu?« Joachim Becker
+stand auf und sagte entschlossen, ohne die Augen zu senken: »Ich bitte
+um ihre Hand.«
+
+Heute kann er dem Blick seines Schwiegervaters nicht offen begegnen.
+Und der Kommerzienrat sagt, während seine tonlose Stimme leise
+schwankt:
+
+»Meine Tochter hält es für gut, daß die Scheidung eingeleitet wird.«
+
+Joachim Becker ist aufgesprungen. Er steht ein wenig gebeugt da und
+stützt eine Hand auf die Schreibtischplatte.
+
+»Kann ich sie nicht selbst sprechen?« fragte er leise, ohne
+hochzublicken.
+
+»Sie will dich erst wiedersehen, wenn die Scheidung vollzogen ist.«
+
+Darauf vermag er nichts zu erwidern. Unwillkürlich bleibt der Ton
+dieser Worte noch in seinen Ohren hängen. Klang die vertrauliche Anrede
+nicht zögernd?
+
+»Ich habe bereits mit Rechtsanwalt Bernhard gesprochen. Er hat die
+Vertretung abgelehnt.«
+
+Er sieht erschreckt auf. Scheut man sich schon, für ihn tätig zu sein?
+Sagen sich jetzt alle von ihm los?
+
+»Er kann es weder für dich noch für Adelheid übernehmen und gibt vor,
+daß er euch beiden menschlich zu nahe stehe. Er hat einen Kollegen
+empfohlen, und du wirst dich wohl selbst nach einem Rechtsvertreter
+umsehen? Ich nehme an, daß du gegen Adelheids Vorschlag nichts
+einzuwenden hast und daß wir uns alle Erörterungen sparen können.«
+
+Der Kommerzienrat wendet sich ohne ein versöhnendes Wort um. Er hat
+nicht nur seinen Erben und das einzige Enkelkind verloren, nein: nun
+gibt er auch den auf, der ihm allmählich ein zweiter Sohn werden
+sollte. So wie er die Hoffnung nicht sinken ließ, daß ihm der Sohn auch
+noch ein tüchtiger Mitarbeiter würde, so glaubte er bis jetzt, daß der
+durch die Arbeit ihm Verbundene auch innerlich der Seine werden könnte.
+
+Er geht nun leer davon, mit schwerfälligen Schritten, aber er ist nicht
+so grausam, ohne einen letzten Blick zu scheiden. Sein unermüdlicher
+Helfer der Arbeit steht noch halbgebeugt da. Das Kinn ist ihm auf die
+Brust gesunken.
+
+Da sagt der Kommerzienrat leise: »Adelheid hat mir ausdrücklich einen
+Gruß für dich aufgetragen.«
+
+Diese Botschaft hatte er verschweigen wollen! Er richtet sie im letzten
+Augenblick mit großer Mühe aus.
+
+Die Tür klappt. Joachim Becker hebt den Kopf. So hat er sich seine
+Befreiung aus der erzwungenen Ehe kaum vorgestellt.
+
+Er denkt an Adelheids Worte, die letzten, die er aus ihrem Munde
+vernahm: »Der Hafen ist schuld!« Aber jetzt weiß er, wer der wahre
+Schuldige ist. Er ist nicht mehr so feige, die Schuld auf sein Werk
+abzuwälzen. Nun nimmt er alle Anklagen freimütig auf seine Schultern,
+und er kennt keine Schonung mit sich selbst.
+
+Doch auch das Schicksal hat nicht viel Erbarmen mit ihm, es erspart
+ihm keine Demütigungen und keine Enttäuschungen. Denn noch ein anderer
+kommt nach einigen Tagen in sein Arbeitszimmer, um ihm eine wichtige
+Mitteilung zu machen: der Kapitän.
+
+Nun müsse er um seinen Abschied bitten, sagt er ohne viele Umschweife.
+Seine alte Reederei habe wieder Verwendung für ihn, und aus bestimmten
+Gründen könne er nicht lange warten.
+
+Der junge Generaldirektor lehnt stumm in seinem Sessel und nimmt die
+Mitteilung als eine gerechte Strafe hin. Er glaubt die Gründe zu
+kennen, die den Kapitän zu einem schnellen Abschied zwingen. Kann es
+etwas anderes sein, als daß er mit Irmgard Pohl einig geworden ist und
+sie so bald wie möglich von der Nähe des Hafens fortführen will, damit
+sie keinen unliebsamen Begegnungen mehr ausgesetzt ist?
+
+Es scheint, als habe Joachim Becker ganz im geheimen gehofft, er könne
+sich noch wiedererringen, was er einst, von seinen Ideen besessen,
+so leichtsinnig aufgab, denn sein Gesicht ist nun besonders grau und
+verfallen.
+
+Seine Stimme klingt brüchig, während er die bedauernden Worte über den
+Abschied des Kapitäns ausspricht.
+
+»Ich habe soeben mit Herrn Kommerzienrat Friemann gesprochen. Er will
+sich noch heute mit Ihnen beraten und die Beschlüsse des Vorstandes
+herbeiführen«, sagt der Kapitän und erhebt sich, um zunächst wieder in
+seinen Hafen zurückzukehren.
+
+Er hält sich nicht länger auf, als unbedingt nötig ist. Sein Händedruck
+ist zwar kräftig wie immer, aber er vermeidet es, den Blicken Joachim
+Beckers zu begegnen.
+
+Nun steht dem Generaldirektor also noch eine geschäftliche Unterredung
+mit seinem Schwiegervater bevor, der ihm bald wieder ein Fremder sein
+wird. Er geht lange in seinem Zimmer auf und ab, und dann hat er seinen
+Entschluß gefaßt.
+
+Er begibt sich in das Bureau des Kommerzienrats und sagt:
+
+»Da meine vorbereitenden Arbeiten in der Generaldirektion so gut wie
+beendet sind, möchte ich um den Posten des Kapitäns bitten.«
+
+Der Kommerzienrat ist nicht sehr erstaunt, aber er fragt:
+
+»Und wer soll dieses alles hier übernehmen?«
+
+Joachim Becker schweigt.
+
+»Dann werde ich dem Aufsichtsrat vorschlagen, daß du die
+Generaldirektion in den Hafen hinübernimmst, denn ich bin jetzt zu alt
+für solche Aufgaben, und sonst ist niemand mehr da.«
+
+So hatte er also gehofft, sein Sohn könne dereinst selbst dafür
+befähigt sein. Er wendet sich zur Seite, und Joachim Becker kann ihm
+nicht einmal zum Dank für die Erfüllung seines Wunsches die Hand
+drücken. -- -- --
+
+Wie rasch ist ein Mensch entbehrlich, besonders wenn er so bescheiden
+seines Amtes waltet, wie der Kapitän!
+
+Er kann nach wenigen Wochen schon seine Pflichten in die Hände des
+Nachfolgers legen und Abschied nehmen.
+
+Es ist wieder August. Genau zwei Jahre habe er am Steuer dieses
+Riesenschiffes gestanden, sagte der Kapitän in seiner Abschiedsrede.
+
+Daß er in Wahrheit kein Schiff gelenkt hatte, mußte er wohl erfahren.
+Die Welt war nicht wie sonst an ihm vorbeigeglitten, während er
+feststand und nach allen Seiten unbeteiligt Ausschau hielt. Er hatte
+keine Planken unter den Füßen gehabt.
+
+Nein, er war in seinem Hafen unruhig umhergelaufen, und dann hatte er
+ihn sogar verlassen, um Besuche beim Nachbarn zu machen. Da war die
+Welt wieder dicht an ihn herangerückt, sie nahm ihn auf und wirbelte
+ihn wie die anderen herum, und er verlor wie sie den Stand in der
+Mitte.
+
+Nun macht er sich auf, um den ersten Abschiedsbesuch abzustatten. Die
+Stunde des Arbeitsschlusses in der Mühle scheint ihm geeignet dazu.
+Vielleicht könnte man auf der Bank im Garten sitzen und doch noch
+Gelegenheit finden, einige Worte unter vier Augen zu sprechen.
+
+Er trifft Herrn Pohl mit seiner Tochter noch im Bureau an. Herr Reiche
+sitzt bei ihnen, und sie beraten zu dritt eine Angelegenheit der
+Brotfabrik.
+
+Der Kapitän bedauert es sehr, sie bei dieser wichtigen Arbeit zu
+stören, er wolle sie nicht lange aufhalten, beim Abschied könne man
+sich kurz fassen.
+
+Herr Pohl steht auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wie,
+das wäre wohl noch schöner, wenn er sich auf diese Weise von ihm
+verabschieden sollte! Er drückt dem Kapitän beide Hände und meint, daß
+er ihn heute nicht so rasch freigeben würde.
+
+»Ich denke, wir werden noch ein Glas Wein miteinander trinken, wie
+seinerzeit, als Sie den ersten Besuch bei uns machten?« fügt er
+herzlich hinzu.
+
+Der Kapitän muß sich leider einen längeren Aufenthalt versagen. Er sei
+für heute abend von Kommerzienrat Friemann eingeladen.
+
+Er schenkt den letzten Abend nicht den Zufriedenen, sondern den
+Einsamen, vom Schicksal Geschlagenen, denn der Kommerzienrat ist nun
+allein in seinem großen Haus und dürfte etwas Gesellschaft gebrauchen.
+Frau und Tochter sind im Bade, und nur stille Ablenkung kann ihn
+zeitweise den Sohn vergessen lassen, der das Haus einst mit Lärm und
+Fröhlichkeit erfüllte.
+
+Herr Reiche will in der kurzen Zeit, die dem Kapitän hier noch
+verbleibt, nicht mit seinen Arbeiten störend dazwischen sitzen. Er
+verabschiedet sich vom Kapitän, der auch ihn immer zufriedengestellt
+hatte.
+
+Der Kapitän sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen Papieren
+geruhig und selbstbewußt abzieht.
+
+Herr Pohl fängt den Blick auf und sagt: »Ja, der ist hier nun glücklich
+und gut aufgehoben.« Aber er bereut seine Worte sofort, weil der
+Kapitän so ertappt zusammenzuckt, als habe man ihm diesen Gedanken von
+der Stirn gelesen und ihm, dem Mann in der Mitte, gar Neid zugetraut.
+
+Irmgard hat bisher schweigend auf ihrem Platz im alten Ledersofa
+gesessen. Plötzlich steht sie neben dem Kapitän. Sie nimmt ihn am Arm
+und sagt:
+
+»Nun dürfen wir aber keine Zeit mehr verlieren. Sie müssen gleich mit
+hinüberkommen, damit wir noch etwas plaudern können.«
+
+Der Kapitän lacht über das ganze Gesicht, so daß die trockene braune
+Haut sich in unzählige kleine Falten legt. Einen so guten Empfang hat
+er, weiß Gott, nicht erwartet.
+
+Er fühlt Irmgards warmen runden Arm, der von keinem Stoff verhüllt ist.
+Sie hat sich eingehakt, ihr Kleid berührt ihn in der Bewegung und
+er spürt den Duft ihrer Haare ganz nahe an seinem Gesicht. Doch als
+sie ihn bis zum Ausgang gezogen hat, läßt sie die Tür für den Vater
+geöffnet, und dann hängt sie sich auf der anderen Seite in den Arm des
+Vaters. So gehen sie zu dritt über den Hof und haben sechs Augen und
+sechs Ohren.
+
+Wie sollte da der Kapitän seine Rede anbringen, die er sich noch für
+die letzte Stunde aufhob? Er verstand sich nie auf die Frauen. Zweimal
+versuchte er es, ihnen sein Herz zu öffnen. Aber er hat es beide Male
+nicht richtig angefangen. Nun gibt er den aussichtslosen Versuch auf.
+
+›Spät bin ich alter Trottel dahinter gekommen, daß sie mir ausweicht.
+Diese Geste des Mitleids erst mußte mir alles verraten‹, denkt er nun
+bitter.
+
+Er trinkt noch ein Glas Wein mit den dreien, von denen Frau Pohl
+seinen Fortgang am offensichtlichsten und sehr wortreich bedauert.
+Dann schüttelt er allen -- auch dem eigenwilligen kleinen Michael --
+herzlich die Hände und winkt sogar von der Föhrbrücke aus noch einmal
+zurück.
+
+Es ist gut, daß die Stunde für den Abendbesuch sehr nahegerückt ist
+und er in seiner einsamen Wohnung nicht lange zu verweilen braucht.
+Sie hatte in letzter Zeit zu viel alte schmerzliche Erinnerungen
+aufgestört. Denn sein Weg führte ihn immer über einen Platz, auf dem
+ein junger Mensch sein Leben zerschmetterte. Er war fünfundzwanzig
+Jahre alt, genau so alt wie eine Frau, die auch einer Schuld wegen ihr
+Leben wegwerfen mußte.
+
+Der Kapitän blickte fest auf die Hafenwirtschaft oder über die Kähne
+hinweg, irgendwohin, wenn er diesen Fleck überschritt. Es war nichts
+zu sehen als heller Asphalt wie überall, aber er zuckte zusammen, wenn
+sein Fuß darübertrat, und das mußte die Nerven des kräftigsten Mannes
+auf die Dauer zermürben.
+
+Wollte er das Fenster schließen, um mit seiner Geige allein zu sein, so
+irrte sein Blick unwillkürlich dorthin. Er ging vom Fenster zurück und
+ließ die Geige im Kasten. So blieb er ohne Trost und ohne Ruhe.
+
+Und nun macht er seinen letzten Abschiedsbesuch bei einem, der auch
+ruhelos im großen schönen Haus nach einem Anker sucht.
+
+Er wird vom Kommerzienrat mit stummer Herzlichkeit empfangen und
+muß bei seinem Händedruck unwillkürlich an Herrn Pohl denken. In
+Erscheinung und Wesensart grundverschieden, haben die beiden ein
+Gemeinsames: sie lebten -- während der eine Geld aufhäufte und
+der andere nur seine Pflicht erfüllte -- niemals für sich und
+verschwendeten ihre einmalige scheue Zuneigung, ihr rückhaltloses
+Vertrauen an ihren Gegensatz, an Joachim Becker, der noch nie etwas
+anderes als sich selbst und sein Ziel sah. Nun wenden sie sich in der
+gleichen Enttäuschung resignierend dem zu, der nicht beglückt und
+nicht verletzt, der in seiner stets gleichbleibenden Bereitschaft
+zu Teilnahme und Gerechtigkeit gern da gesehen wird, wo er weder
+überschäumende Freude noch den ersten erbitterten Groll durch sein
+Gleichmaß beschämen kann.
+
+Der Kapitän ist sich seiner Rolle schmerzhaft bewußt, aber da sie ihm
+nicht abgenommen wird, und man ihm seinen Eingang in den ungerechten
+schwankenden Kampf der Gefühle verwehrt, waltet er weiter still seines
+Amtes.
+
+Er lobt die Küche des Kommerzienrats, seine gut gelagerten Weine
+und erzählt von den lukullischen Genüssen anderer Völker, von
+erfrischenden und berauschenden Getränken in aller Welt, von einem
+kleinen Spezialgebiet seines vielfältigen Wissens, während er bemerkt,
+daß der Kommerzienrat nur zeitweise seine langatmigen, ungewürzten
+Schilderungen verfolgt. Er verstummt nicht, denn die ermüdenden Reden,
+die keine Antwort und kein anhaltendes Interesse beanspruchen, ja
+dem Zuhörer leichte Nebengedanken erlauben, tragen oft Lastendes und
+Quälendes unmerklich fort und leiten in eine besinnliche Stille
+hinüber.
+
+Nach dem Essen stellt sich auch Rechtsanwalt Bernhard ein. Er bekommt,
+mit einem gewissen Gewohnheitsrecht, einen kleinen Imbiß nachserviert,
+und dann gehen die drei in das Rauchzimmer, wo selbst der junge Alfred
+Bernhard, der getreue Tanzstundenfreund Frau Adelheids, sich dem
+langsamen Genuß der kommerzienrätlichen Zigarren hinzugeben bemüht.
+
+In seinem Bureau sitzt nun nicht mehr eine einzige Stenotypistin, die
+mit Handarbeiten die Arbeitsstunden umzubringen versucht. Nein, er hat
+einen eigenen Bureauvorsteher und einen Stab von Schreibfräuleins, die
+den ganzen Tag gut ausgeklügelte und dennoch mit sicherem Geschmack
+parierende Schriftsätze in Scheidungssachen schreiben. Er ist gewiß
+nicht durch einen blinden Zufall, sondern durch eine offensichtliche
+Begabung allmählich ein Spezialist in Ehescheidungen geworden. Seine
+friedliebende Natur, die unermüdlich bestrebt ist, Ausgleich und
+reibungslose Auseinandersetzung herbeizuführen, selbst wenn anscheinend
+unüberbrückbare Hindernisse entgegenstehen, erwarb ihm den guten Ruf.
+Man sucht ihn bereits und hält ihn in bester Erinnerung, weil er das
+unerquickliche Ende ohne Schrecken zu finden weiß.
+
+Er bewies seine diplomatischen Künste im Prozeß der Hafengesellschaft
+gegen Michael Pohl, den er drei Jahre ohne unnötige Dissonanzen in
+der Schwebe zu halten verstand, bis er an seinem eigenen Widerspruch
+zerrann. Er wußte selbst einen Querkopf wie den Bäckermeister Reiche
+davon zu überzeugen, daß man recht haben kann und dennoch sein Unrecht
+zugeben muß. So führt er immer seine Parteien langsam und ohne
+kleinliches Gezänk -- mit einer Geduld, die nervöse Kollegen fast
+pathologisch nennen -- zum gewünschten Ziel. Wenn es auch zuweilen
+in neuer Versöhnung besteht, so verdient er daran nicht geringere
+Honorare, weil er es sich zum weisen Prinzip macht, diese Akten gut zu
+verwahren. Er weiß, daß solcherart Klienten nicht ohne Anhänglichkeit
+sind.
+
+So hat er in seiner Praxis Gelegenheit zu manchen Beobachtungen
+gefunden, die er auch im Privatleben anzuwenden weiß. Wie hätten
+ihm also die Anzeichen für den Bruch einer ihn so besonders
+interessierenden Ehe entgehen können? Zumal er die Tanzstundenfreundin,
+die in seinen Gedanken die scheue Adelheid Friemann blieb, nicht aus
+den Augen ließ.
+
+Vielleicht sind viele seiner guten Erfolge in anderen Ehescheidungen
+darauf zurückzuführen, daß er so intensiv immer nur an den einen Fall
+dachte, den nun endlich ein Kollege bearbeitet. Man sagt ihm nach,
+daß er mit besonderem Geschick stets die Schuld der männlichen Partei
+übertrug, so daß er hauptsächlich die Unschuldigen vertrat. Aber die
+Klientin, die er mit so unermüdlicher Geduld erwartete, schickte er
+dennoch zur Konkurrenz. Nein, in dieser »Sache« hätte er keinen Finger
+rühren können.
+
+Es ist seine große Tragik, daß er in den eigenen Angelegenheiten von
+den beruflichen Fertigkeiten verlassen ist. Wie redegewandt kann er vor
+dem Richter oder in seinen Schriftsätzen für die Interessen anderer
+eintreten, und wie stumm war er geblieben, als Adelheids Gefühle noch
+nicht abgeirrt waren. Er könnte nun mit Recht hoffnungsvoller und
+ruhiger in die Zukunft blicken, denn man kann annehmen, daß sie seine
+Treue noch einmal anerkennen wird. Doch je näher der Termin ihrer
+Freiheit heranrückt, um so nervöser wird Alfred Bernhard, der wieder
+alle Qualen der Tanzstundenzeit erlebt. Er hat noch jeden Tag in der
+Erinnerung, an dem er die Gelegenheit und das richtige Wort versäumte,
+bis sie Joachim Becker kennenlernte und er einsah, daß es zu spät
+geworden war.
+
+Nun zieht er hier in scheinbarer Ruhe an der schweren Zigarre, lauscht
+zerstreut den Gesprächen der beiden »alten Herren« und denkt mit banger
+Freude an den Herbst, der Adelheid wieder hierherführen wird.
+
+»Und doch sind solche Krankheiten oft heilsam,« hört er den Kapitän
+sagen, »sie befreien den Menschen nicht nur körperlich, sie lassen ihn
+nach einiger Zeit auch seelisch genesen. Wir müßten alle ab und zu nach
+einer gründlichen Aufräumung der alten Stoffe wieder neu beginnen.«
+
+»Ich glaube, daß Sie darin noch zu optimistisch sind, lieber Kapitän«,
+erwidert der Kommerzienrat, während er den Blick in die Luft richtet.
+»Bei jungen Leuten mag das zutreffen. Vielleicht sind Sie dafür auch
+noch jung genug. Aber unsereins --«
+
+Der Kommerzienrat schiebt seinen Körper zur anderen Seite des Sessels
+und stützt den Arm mit der hochgehobenen Zigarre schwer auf die Lehne.
+
+»Sehen Sie, ich habe auch gedacht: du wirst zunächst nur Geld
+verdienen, und dann fängst du von neuem an. Es ist nicht mein
+Jugendtraum gewesen, mit Getreide zu handeln, hochfliegende Pläne
+habe ich allerdings auch nicht gehabt. Im Gegenteil, sie waren sehr
+bescheiden und standen in einem gewissen Zusammenhang mit meinem
+Gewerbe. Ich habe nämlich das Getreide geliebt. Aber nicht auf dem
+Ladentisch und nicht an der Börse. In die Erde wollte ich es versenken.
+Säen wollte ich es, sein Wachstum still verfolgen, von Gott und dem
+Wetter abhängig sein und nicht von den Schwankungen, die uns die
+Trusts und die Spekulanten diktieren. Ja, man hat es oft satt gehabt
+und sich Geduld gepredigt, weil man glaubte, noch warten zu müssen.
+Aber die gewohnte Haut wächst einem schließlich so fest an den Leib,
+daß man sie nicht mehr herunterstreifen kann. Immer weiter schiebt man
+den Zeitpunkt. Erst sollte es mindestens ein kleiner Bauernhof sein,
+dann ein Rittergut, und schließlich wollte man das, was man sich hier
+so mühsam in einem ganzen Leben erwarb, auch nicht aufgeben und den
+Kindern vererben, ehe man sich zurückzieht. Und nun --«
+
+Er wirft sich wieder auf die linke, dem Kapitän abgewandte Seite des
+Sessels und läßt den Arm mit der kalten Zigarre sinken. Der Kapitän
+sucht nach einigen wohlgefügten und geeigneten Worten, um über die
+Situation hinwegzuhelfen. Der Kommerzienrat jedoch spricht mit neuem
+Anlauf weiter:
+
+»Je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so mehr komme ich dahinter,
+daß der Junge, der Felix, gar nicht hierher gepaßt hat. Das war zu
+groß und zu unruhig für ihn. Er hat sich mit seinem lebhaften Geist für
+alles interessiert. So kam es, daß er seine Kräfte zersplitterte und
+daß er nichts zu Ende denken konnte. Und so durfte er auch sein Leben
+nicht zu Ende leben.«
+
+Er schweigt. Seine beiden Zuhörer finden keine Entgegnung. Der Kapitän
+denkt: ›Wäre ich nicht auf dem Sprung, ihn für immer zu verlassen, so
+würde er kaum das alles in meiner Gegenwart erzählen. Man gibt seine
+geheimsten Erkenntnisse nicht dem preis, den man täglich wiedersehen
+kann.‹
+
+Oder sind die Worte an Rechtsanwalt Bernhard gerichtet, den der
+Kommerzienrat schon fast zur Familie rechnet und der beizeiten erfahren
+soll, welche Fehler er zu vermeiden hat?
+
+»Er hätte in das einfache Leben gepaßt, das ich für mich reservieren
+wollte«, fügt der Kommerzienrat mit gepreßter Stimme hinzu. Es scheint
+doch, als spräche er nur, um sich von den Selbstvorwürfen laut zu
+befreien.
+
+»Sie haben, soweit ich beurteilen kann, immer das Beste für Ihre Kinder
+gewollt und sie selbst wählen lassen«, sagt der Kapitän tröstend.
+
+»Gewiß«, erwidert der Kommerzienrat. »Scheinbar haben sie selbst
+gewählt. Aber ihr Wille gehörte ja nicht ihnen. Er war durch die
+Erziehung und die Umgebung, die ich ihnen schuf, beeinflußt. Sie trafen
+also eine Wahl, die ich ihnen indirekt aufzwang und die nicht einmal
+meiner wahren Neigung entsprach. Ich selbst war mit meinem Herzen
+immer bei der Scholle, die Kinder aber verpflanzte ich hierher, wo sie
+ebensowenig Wurzeln fassen konnten wie ich. Und es hätte doch sehr
+nahe gelegen, daß sie nach mir oder meiner Frau arteten, die in ihrer
+Bescheidenheit überhaupt keine eigenen Wünsche mehr hat. Oder glauben
+Sie, daß der Junge aus dem Leben gegangen wäre, wenn ihn etwas stark
+genug gefesselt hätte?«
+
+»Es war eine Gefühlswallung, die in der Erregtheit über den ersten
+Unglücksfall leider niemand schnell genug hemmte«, erwidert der
+Kapitän.
+
+»Können Sie sich vorstellen, daß zum Beispiel mein Schwiegersohn
+dasselbe getan hätte, wenn er sich die Schuld an einem großen Unglück
+hätte zuschreiben müssen?«
+
+»Nein.«
+
+»Und warum nicht?«
+
+Das ist eine schwere Frage an den Kapitän. Er findet keine neutrale
+Antwort und schweigt.
+
+»Dann will ich es Ihnen verraten,« sagt der Kommerzienrat, »weil ihn
+die selbstgewählte Arbeit fesselt. Ich glaube, das ist die stärkste
+Bindung an das Leben. Die Arbeit, der man sich mit Liebe hingibt, kann
+niemals enttäuschen. Sie holt aus sich selbst die neue Kraft, während
+die erzwungene Arbeit ständig ermüdet.«
+
+»Und wenn sie vom Ehrgeiz angetrieben wird?« fragt der Kapitän zögernd.
+
+»Es war nicht Ehrgeiz,« erwidert der Kommerzienrat, »seine Liebe zur
+~Arbeit~ war echt. Über alles andere hat er uns und -- ich glaube
+-- auch sich selbst getäuscht.«
+
+Der Kapitän fühlt sich zum zweitenmal beschämt. Vater und Tochter, die
+vielleicht mehr Grund gehabt hätten, Joachim Becker zu verurteilen,
+müssen ihn Gerechtigkeit lehren.
+
+»Verzeihen Sie«, sagt er leise. »Ich habe ihn als Menschen zu wenig
+gekannt.«
+
+Er sieht ein, daß es höchste Zeit für ihn ist, vom Schauplatz der
+Gefühle endgültig abzutreten und seinen festen Stand in der Mitte nicht
+mehr zu verlassen. --
+
+Am nächsten Tage werden die alten Möbel zum Seiteneingang des
+Verwaltungsgebäudes wieder hinausgetragen. Der kleine Herr mit dem
+braunen Gesicht und dem gespreizten Gang, den Frau Reiche damals
+durchaus nicht für den neuen Hafendirektor halten wollte, hält seine
+Liste in der Hand und prüft wiederum, ob alles in Ordnung sei.
+
+Dann geht er still für immer aus dem Hafentor hinaus ...
+
+Frau Reiche kann ihn diesmal nicht beobachten, sie ist Inhaberin eines
+Zigarrengeschäfts und hat mindestens für einige Zeit einen eleganten
+jungen Geschäftsführer.
+
+In der Kantine sind neue Leute, die nun für den Generaldirektor selbst
+das Essen zu beschaffen haben. Fräulein Spandau muß sich neben einer
+anderen Sekretärin an zweiter Stelle einfügen. Sie sah dem scheidenden
+Kapitän mit großer Trauer nach, denn sie war immer mit ihm zufrieden.
+Aber sie ist von der Art, die mit der Treue und Dankbarkeit eines guten
+Hundes jedem Herrn dient.
+
+Vielleicht ist Joachim Becker in dieser Wohnung noch einsamer als sein
+Vorgänger, denn neben seinem Schreibtisch steht kein Geigenkasten, den
+er in den Abendstunden öffnen kann. Dafür hat er sich einige Bücher
+hingelegt, die ihm die Liebe der Menschen ersetzen sollen.
+
+Seine »Stützpunkte« an der Küste und im Binnenlande sind errichtet;
+er hat sich mit Hilfe seiner erweiterten Tankanlage das Benzinmonopol
+für die Stadt erobert; man baut ihm einen großen Güterbahnhof zur
+Unterstützung neben seine Freiladeplätze. Er braucht nicht mehr in den
+Hafen zu fahren, um die geleistete Arbeit zu betrachten. Er kann sie
+nun von seinen Fenstern aus fast überschauen. Doch wenn sein Blick auf
+einen Kran fällt, beißt er die Zähne zusammen.
+
+An einem der letzten warmen Herbsttage, als der Generaldirektor nach
+Arbeitsschluß ein gerichtliches Dokument weggeschlossen hat und in
+seinem Zimmer wieder ruhelose Wanderungen unternimmt, fährt ein Wagen
+im Hafen vor, und Rechtsanwalt Bernhard springt heraus.
+
+Er schließt nicht den Wagenschlag, sondern hebt eine Hand und hilft
+Frau Adelheid Becker beim Aussteigen.
+
+Da ist sie also noch einmal im Hafen. Sie blickt sich aufatmend um, sie
+sieht auch einen Kran, aber sie zuckt nicht zusammen. Jetzt ist sie
+so weit, daß sie der Welt wieder gerade ins Gesicht blicken kann. So
+sind die Frauen! Die Männer beißen die Zähne zusammen und machen den
+vergeblichen Versuch, etwas zu unterdrücken; die Frauen richten sich
+auf und fangen von neuem an.
+
+Frau Adelheid nickt Rechtsanwalt Bernhard zu und sagt:
+
+»Erwarten Sie mich hier, ich will allein mit ihm sprechen.«
+
+Rechtsanwalt Bernhard verneigt sich und hat seine Freude daran, ihr
+nachzublicken, wie sie mit festen Schritten in das Verwaltungsgebäude
+hineingeht.
+
+Joachim Becker öffnet ihr selbst. Frau Adelheid muß das erste Wort
+finden, denn dieser forsche und tatkräftige Generaldirektor steht ganz
+ratlos da und schweigt.
+
+»Du hast doch nicht gedacht, daß ich es schlecht mit dir meine, weil
+ich solange nicht kam?« fragt sie, während sie ihm die Hand hinhält,
+die er nicht ergreift.
+
+»Hat dir mein Vater nicht bestellt --« beginnt sie noch einmal, nun
+schon wieder etwas ängstlich.
+
+Da faßt er nach beiden Händen und zieht sie in das Zimmer.
+
+»Doch,« stammelt er, »doch! Das hat er bestellt. Es war der einzige
+Trost, der mir blieb.«
+
+»Gott sei Dank!« sagt sie, »ich habe es ihm doch auch so erklärt, daß
+nur ich daran schuld war.«
+
+»Woran sollst du schuld gewesen sein?« fragt er in höchstem Erstaunen.
+
+Sie betrachtet ihre Handschuhe. »An unserer Ehe«, meint sie leise.
+
+Dann sieht sie ihm wieder ins Gesicht und sagt:
+
+»Ich wußte, daß du damals so gut wie verlobt warst. Trotzdem hatte ich
+es mir in den Kopf gesetzt, dich für mich zu gewinnen. Wenn es mir
+nicht gelang, so lag es daran, daß du zu aufrichtig warst. Du hast
+niemals geheuchelt, so daß ich dich nur noch immer mehr lieben mußte.
+Wenn du besonders gut zu mir warst, so hatte ich dich für kurze Zeit
+mit meiner Liebe bezwungen, doch in deinem Herzen bist du einer anderen
+treu geblieben.«
+
+Sie ist sehr rot geworden und blickt starr gegen die Fensterscheiben.
+Er schweigt.
+
+»Ich hätte Achtung davor haben sollen, anstatt dich zu quälen«, spricht
+sie weiter. »Aber da war unsere Tochter --«
+
+Ihre Stimme beginnt nun doch zu schwanken. Joachim Becker ist so
+hilflos, daß er ihr nicht einmal beisteht, sondern sie weiter nach
+Worten suchen läßt.
+
+Frau Adelheid sieht, wie es um ihn bestellt ist, und da findet sie
+selbst die Kraft, beiden zu helfen.
+
+»Das ist jetzt alles vorbei, und ich denke, daß wir nun, nachdem uns
+nichts mehr äußerlich bindet, gute Freunde werden könnten.«
+
+Sie reicht ihm ihre kleine Hand, von der sie noch rasch den Handschuh
+abgezogen hat, damit er den warmen Druck ganz unmittelbar verspüren
+kann.
+
+Er neigt sich so heftig darüber, daß sie etwas atemlos sagen muß:
+
+»Unten wartet Rechtsanwalt Bernhard, er wollte dich auch begrüßen.«
+
+Sie gehen gemeinsam hinunter, und wieder freut sich Joachim Becker, dem
+jungen Rechtsanwalt in die guten, etwas verträumten Augen zu blicken.
+
+Er hilft Frau Adelheid in den Wagen, und wie er schon die Tür schließen
+will, beugt er sich noch einmal vor und sieht ihr mit einem dankbaren
+Lächeln ins Gesicht.
+
+Dann rollt der Wagen davon. Der Wächter schließt das Tor, und Joachim
+Becker ist wieder allein in seinem Hafen.
+
+Er geht am Wasser entlang; grüßt die Schiffer, die mit ihren Pfeifen
+neben der Kajüte stehen, und wandert zu den Lagerhallen.
+
+Vor dem großen Kran bleibt er stehen. Er beißt nicht mehr die Zähne
+zusammen.
+
+Er sieht zu ihm auf und sagt:
+
+»Einen grausameren und gewaltigeren Mahner konnte man mir nicht
+hinstellen als dich!« --
+
+Rechtsanwalt Bernhard sitzt immer noch stumm neben Frau Adelheid
+im Wagen und sieht mit Schrecken, daß sie sich dem Villenviertel
+bedenklich nähern. Sicherlich ist es für das richtige Wort noch viel zu
+früh, aber an diesem entscheidenden Tage, an dem sie ihm so gewaltig
+imponiert, müßte er ihr doch mindestens sagen, welche Verehrung er ihr
+entgegenbringt. Er weiß aus seiner ganzen Praxis keine einzige Frau,
+die soviel Seelengröße gezeigt hätte wie sie.
+
+Sie starrt mit ihren schönen dunklen Augen ununterbrochen auf den
+Rücken des Chauffeurs. Alfred Bernhard kann sich nicht denken, daß
+ihr gerade dieser Anblick ein Vergnügen bereitet, er weiß jedoch kein
+Mittel, um sie abzulenken.
+
+Plötzlich platzt er damit heraus:
+
+»Wissen Sie noch, Adelheid, wie wir damals nach der ersten Tanzstunde
+zum ›Historischen Gasthof‹ fuhren?«
+
+»Ja.« Sie zieht den starren Blick erschreckt ein und betrachtet die
+herbstlich bunten Bäume in den Gärten, die sich nun jenseits der Straße
+mit ihren prunkvollen Villen im Hintergrund ausdehnen.
+
+»Es war auch so ein warmer Herbsttag wie heute«, setzt er fort, während
+er bemerkt, daß sie an der nächsten Kurve in ihre Straße einbiegen.
+»Helene Uhl war damals mit und -- und --«
+
+»Ja, Felix war auch dabei. Ich entsinne mich noch genau«, sagt sie
+tapfer, nachdem er stockte, diesen Namen auszusprechen. »Während meiner
+Krankheit habe ich einmal geträumt, daß wir tanzten. Sie und ich und
+Felix mit Helene Uhl. Es war sehr schön.« Sie spricht dieses »schön«
+wieder so kindlich verzückt aus wie damals beim Erwachen aus der
+Narkose, als sie im Halbbewußtsein der Mutter davon erzählte.
+
+Das hohe Gitter der Friemannschen Villa ist bereits zu sehen, da
+springt Alfred Bernhard plötzlich auf und sagt zum Chauffeur, während
+sich seine Stimme fast überschlägt:
+
+»Fahren Sie zum ›Historischen Gasthof‹!«
+
+Adelheid sieht ihm erstaunt zu, aber als er sich neben ihr niederläßt,
+sagt sie, wieder vollkommen gefaßt:
+
+»Ach, das ist wirklich eine gute Idee.«
+
+Dann sitzen sie eine Weile stumm da und beobachten den Chauffeur bei
+seinen Bemühungen, den Wagen zu wenden. Alfred Bernhard fühlt, wie
+die Hitze, die im entscheidenden Augenblick in ihm aufstieg, langsam
+verebbt. Während sie wieder auf geraden Straßen dahingleiten, gelingt
+es ihm sogar, anregende Gesprächsstoffe zu finden, die sie zuweilen
+veranlassen, ihn anzusehen oder ihm ein Lächeln zu schenken.
+
+Dann steigen sie vor dem Gasthof aus, der zwischen den alten Bäumen
+hervorlugt und an diesem herbstlichen Wochentage anscheinend keine
+anderen Besucher als sie beide angelockt hat. Adelheid bleibt vor dem
+Eingang stehen und blickt zu der Inschrift mit den verschnörkelten
+alten Buchstaben hoch.
+
+»So haben Sie auch damals hier gestanden und die Tafel entziffert«,
+sagt er erinnerungsselig.
+
+»Ja, und dann haben Sie mir die Jahreszahl ›übersetzt‹, weil ich die
+römischen Ziffern niemals lesen kann.« Sie sieht ihn dabei mit diesem
+reizenden, sorglosen Lächeln an, nach dem er sich so lange gesehnt hat.
+
+»Achtzehnhundertachtundvierzig ist das«, erwidert er, ohne den Blick
+von ihrem Gesicht fortzunehmen, das nach seiner Ansicht noch genau so
+jung aussieht wie damals vor sechs Jahren.
+
+Sie errötet auch wieder, weil die anhaltende Betrachtung ihrer
+bescheidenen Person sie immer verlegen macht. Dann gehen sie über die
+alten Fliesen des Flurs zum Garten, der hinter dem Hause liegt. In
+stummer Vereinbarung steuern sie sofort auf den gleichen Tisch zu, an
+dem sie damals zu viert gesessen hatten. Felix Friemann, der zu jener
+Zeit in die langgliedrige lustige Helene Uhl verliebt war, hatte den
+Platz ausgesucht, der ganz im Hintergrund, zwischen der historischen
+Eiche und einer hohen Hecke, versteckt ist. Er war immer findig im
+Ausspüren solcher Gelegenheiten, und es liegt nahe, daß die beiden nun
+wieder an ihn denken.
+
+»Und wie mag es Helene Uhl wohl jetzt gehen?« fragt Adelheid
+gedankenschwer.
+
+»Sie ist verheiratet.«
+
+»Ja, ich weiß, sie hat zwei Kinder. Man erzählte es einmal. Ich habe
+sie kaum gesehen, seit Felix sich nicht mehr für sie interessierte.«
+
+Ein Mädchen kommt aus dem Haus. Rechtsanwalt Bernhard bestellt Kaffee
+und Kuchen.
+
+»Sie ist neulich bei mir gewesen«, sagt er, nachdem das Mädchen
+gegangen ist.
+
+»Wer?«
+
+»Helene Uhl.«
+
+»Helene Uhl, bei Ihnen in der Praxis?« fragt Adelheid leise, fast im
+Flüsterton.
+
+Er nickt. »Sie will sich scheiden lassen.«
+
+»Und die Kinder?«
+
+»Ich habe ihr eben deswegen zugeredet, es doch noch weiter zu
+versuchen. Aber sie sagte, dann müßte sie seelisch zugrunde gehen. Ihr
+Mann ist ihr nicht treu.«
+
+»Vielleicht hätte sie doch unseren Felix nehmen sollen. Dann wäre alles
+anders gekommen.« Sie sitzt mit geschlossenen Augen da und mag sowohl
+an Schwester Emmi wie an den furchtbaren Kran denken.
+
+»Ja«, erwidert Alfred Bernhard und müht sich um irgendein passendes
+Wort ab, das noch hinzugefügt werden müßte, damit sie wieder die Augen
+öffnet und ihn ansieht. Und dann sagt er ganz leise, während die Stimme
+bei einzelnen Silben den Ton versagt:
+
+»Manchmal ist die erste Liebe die richtige, und man weiß es nicht.«
+
+»Ja«, erwidert sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hat sich gegen das
+rauhe Holz der breiten Bank zurückgelehnt und reicht ihm ihre Hand hin.
+Er sitzt in einigem Abstand neben ihr, sie braucht nicht nach ihm zu
+tasten, er greift sofort mit beiden Händen zu.
+
+Als sie seine brennenden Lippen auf ihren kühlen Fingern spürt, öffnet
+sie die Augen und blickt auf den herabgeneigten Kopf mit dem knabenhaft
+schlanken Nacken. Sie hat sich hochgerichtet und sitzt einen Augenblick
+mit steifem Rücken da, während sie ihm die Hand zart zu entziehen
+sucht. Er gibt sie frei, aber sein Kopf sinkt auf ihre Knie herab, und
+sie spürt den heißen Atem durch den Stoff ihres Kleides.
+
+Da fährt sie mit kurzen, zarten Bewegungen über sein volles Haar,
+und wie er das Gesicht zu ihr aufhebt, strahlt sie ihn mit ihrem
+mütterlich-sanften Lächeln an, dem Joachim Becker schmerzlich nachsann,
+als sie ihm verloren war.
+
+Für Alfred Bernhard sind die sechs Jahre ausgelöscht, er ist wieder
+so jung und stumm wie damals. Er weiß, daß es jetzt keiner Worte mehr
+bedarf.
+
+
+
+
+ Die Einweihung
+
+
+Im nächsten Frühjahr kann neben der Mühle von Michael Pohl die große
+Brotfabrik eröffnet werden, die Spenderin des täglichen Brotes für die
+ganze Stadt.
+
+Man veranstaltet kein Fest und ladet auch keine Gäste. Die Teigmassen
+wälzen sich aus den großen Knetmaschinen, sie rollen geformt aus einem
+Räderwerke heraus und verschwinden gleichzeitig zu Hunderten in den
+großen Öfen.
+
+Da gleiten schon die braunen Laibe herab, und dort ziehen die nächsten
+rohen Formen hinein.
+
+Meister Reiche nimmt das erste heiße Brot in seine abgehärteten Hände
+und legt es auf eine Schüssel. Dann geht er damit hinaus, über den
+großen Platz, an Mühle und Speicher vorbei zum Wohnhaus des Müllers.
+
+Michael Pohl sitzt mit seiner Familie am Mittagstisch, da tritt Meister
+Reiche mit der Schüssel ein und sagt feierlich:
+
+»Das erste Brot!«
+
+Michael Pohl erhebt sich und mit ihm auch seine Frau und seine Tochter,
+nur der jetzt vierjährige Michael bleibt auf seinem Stühlchen sitzen
+und sieht der Szene mit großer Spannung zu.
+
+Sie sind alle von der Feierlichkeit dieses Augenblicks durchdrungen.
+
+Michael Pohl sagt:
+
+»Wir wollen gemeinsam davon essen.«
+
+Frau Pohl reicht ihm ein Messer, er schneidet vier Stücke von dem
+heißen Laib und spricht einige kurze Worte mit seinem Herrgott. Sie
+falten alle die Hände, und dann nehmen sie das Brot.
+
+Sie verzehren es wie das heilige Abendmahl.
+
+Meister Reiche reibt mit seinen großen Fäusten an den Augen, Frau Pohl
+aber gibt ihren Tränen freien Lauf, sie reicht ihrem Manne die Hand und
+läßt sich in seine Arme ziehen.
+
+Dann sagt sie: »Ich will auch unserem Sohne von dem heiligen Brot
+geben.«
+
+Und sie steckt ihm einen Bissen in den Mund, obgleich sie weiß, daß er
+sich daran den Magen verdirbt. --
+
+Wenige Wochen später ist der Hafen zur offiziellen Feier der Einweihung
+gerüstet. Aus dem ganzen Lande sind die Gäste geladen. Fahnen wehen
+über allen Gebäuden, und auf den Gewässern liegen die Kähne und
+Schleppdampfer in dichten Reihen.
+
+Man hat die Schiffer lange darauf vorbereitet, daß es erwünscht wäre,
+wenn am 1. Mai recht viele von ihnen hier anlegten und sich den
+staunenden Gästen präsentierten.
+
+Gegen elf Uhr fahren die Wagen vor. Sie müssen hinter dem Tore halten,
+und bald ist die Straße bis zur Föhrbrücke gesperrt. Immer neue
+Menschenmengen strömen herein. Sie kommen einzeln und in Gruppen: die
+Herren von der Regierung und von den Kommunen, von Handel, Industrie
+und Gewerbe, die Schaulustigen und die Damen.
+
+Vor dem Verwaltungsgebäude ist eine geschmückte Rampe errichtet. Hier
+soll der Hafen gewissermaßen aus der Taufe gehoben werden. Die Reden
+sind vorbereitet, und die Schiffer auf dem Wasser hinter dem Rednerpult
+setzen sich neben ihre bekränzten und bewimpelten Kajüten und denken,
+daß sie diesmal auch etwas zu hören bekommen.
+
+Die Gäste promenieren und sehen sich staunend um, bis sie an der Kanzel
+versammelt werden, weil der erste Redner erscheint.
+
+Es ist der Oberbürgermeister, der sie im Hafen begrüßt und dann
+nicht minder erhebende Worte spricht als vor vier Jahren zum ersten
+Spatenstich.
+
+Dann folgt der Vertreter der Regierung, und das ist diesmal der
+Handelsminister selbst.
+
+Es reden die Exponenten von Industrie, Handel und Finanz, und die
+Zuhörer werden schon etwas müde, als Joachim Becker, der junge
+Generaldirektor und Anreger zu diesem Werk, die Schlußworte spricht.
+
+Er faßt sich sehr kurz. Er sagt, daß er nicht viel Worte zu verlieren
+brauche, denn heute sprechen die Erfolge selbst. Er ladet zu einer
+Besichtigung der Hafenanlagen ein, dann werde jeder sehen, daß
+dieser neue große Binnenhafen ein wichtiger Faktor im deutschen
+Wirtschaftsleben sei, der seine Existenzberechtigung bewiesen habe.
+
+Er spricht diesmal nicht von Kampf, Mut und Ausdauer, nicht vom
+»Größten«, das alles andere übertrumpfen soll, oder von einer
+Weltmacht. Er sagt »Urteilt selbst«, dankt für das Interesse und
+verneigt sich.
+
+Dreißig große, mit Nummern bemalte Schilder stehen da, die von den
+Bureaudienern und Boten der Generaldirektion an hohen Stangen getragen
+werden; ebenso viele Führer, die mit dem Hafen vertraut sind, haben die
+Pflicht, für die Einteilung der Erschienenen in Gruppen zu sorgen und
+ihnen die Anlagen zu erklären.
+
+Da finden sich nun diejenigen zusammen, die im Rang zueinander
+gehören, eine besondere Gruppe ist für die Presse gebildet, und die
+Schaulustigen suchen sich die Gesellschaft, die ihnen gerade gefällt.
+
+Meister Reiche zum Beispiel, den man auch geladen hat, ist zufällig
+neben Fräulein Spandau gelandet. Sie lassen sich die technischen Wunder
+erklären, obgleich sie ihnen nicht fremd sind. Aber sie bleiben oft ein
+wenig zurück und halten eine Privatbesichtigung.
+
+Im Getreidespeicher, da, wo Meister Reiche vor mehr als zwei Jahren
+die ersten Körner fallen sah, hält er sich längere Zeit auf. Er spricht
+in seiner schwerfälligen, etwas stockenden Art von den eigentümlichen
+Gefühlen in jener Stunde, und Fräulein Spandau hört ihm andächtig zu.
+
+»Und was würden Sie sagen,« fragt er zum Schluß, »wenn nun ein Mann vor
+Ihnen steht, der über sich selber wieder Herr und Meister ist?«
+
+Fräulein Spandau sieht ihn so erstaunt an, als wüßte sie nicht, worauf
+er hinaus wolle, obgleich eine stille Ahnung wohl in ihr dämmern mag.
+
+Die Teilnehmer ihrer Gruppe kommen unter lebhaftem Geplauder von der
+Besichtigung der oberen Stockwerke schon wieder zurück. Die beiden
+lassen sie vorbeiziehen, und Fräulein Spandau sagt:
+
+»Nun, ein Meister waren Sie trotzdem immer geblieben.«
+
+»So meinte ich es nicht. Ich wollte sagen, daß ich wieder ein freier
+Mann bin und möchte gern wissen, ob Ihnen das gefällt.«
+
+»Herr Reiche«, sagt Fräulein Spandau errötend.
+
+»Und was hier auf dem Papier steht,« er klopft auf die Brusttasche,
+»das von der unsauberen Sache in meiner Ehescheidung, würde Sie das
+wohl stören?« fragt er, während er ihre Hand ergreift. Er mag wohl an
+die Störung selbst nicht recht glauben, denn sonst würde er ihr nicht
+so treuherzig und siegesgewiß in die Augen schauen.
+
+Fräulein Spandau errötet noch tiefer. Sie blüht geradezu auf, so daß
+sie hübsch und gesund aussieht.
+
+»Herr Reiche«, flüstert sie noch einmal. Er nimmt es als eine passende
+Antwort hin. --
+
+Joachim Becker zeigt sich bei jeder Gruppe und spielt den
+liebenswürdigen Gastgeber. Es ist für einen Boten, der ihm ein
+Telegramm überbringen soll, nicht leicht, ihn zu finden, weil er sich
+immer wieder an einer anderen Stelle aufhält.
+
+Endlich ist die Sendung übergeben. Joachim Becker geht zur Seite, um
+ungestört lesen zu können. Seine Augen werden immer heller und klarer,
+während sie auf den nüchternen Buchstaben ruhn.
+
+Dann eilt er mit seinen leichten schwingenden Schritten davon und sucht
+den Kommerzienrat. Er winkt ihn beiseite und übergibt ihm das
+Telegramm.
+
+»Es ist aus Venedig«, sagt er, während er lächelnd auf die gesenkten
+Augen seines ehemaligen Schwiegervaters sieht.
+
+Der Kommerzienrat liest:
+
+»Generaldirektor Joachim Becker. Gratulieren zur Einweihung des Hafens
+und wünschen von Herzen Glück und Heil. Alfred Bernhard und Frau
+Adelheid.«
+
+Er faltet das Papier langsam und sorgfältig zusammen, so daß es
+aussieht, als käme es eben von der Postanstalt. Dann reicht er es
+Joachim Becker zurück, und weil seine Hand zittert, fällt es zur Erde.
+Joachim Becker hebt es auf. Wie er sich wieder hochrichtet, das Gesicht
+vom Bücken etwas gerötet, sagt der Kommerzienrat leise:
+
+»Dann will ich dir auch noch dazu gratulieren, daß dir alles so gut
+gelungen ist.«
+
+Joachim Becker steckt das Telegramm in die Tasche und geht damit eine
+Weile tatenlos umher. In seinem energischen schmalen Gesicht, auf der
+klaren hohen Stirn ist ein ungewohntes stilles Leuchten. Er greift noch
+einmal nach dem Papier, und er mag dabei denken, daß ~eine~ Schuld
+nun ausgestrichen sei.
+
+Wie er dem Justizrat Bernhard begegnet, wird er so kindisch in seiner
+Freude, daß er ihm das Telegramm zeigt und einleitend sagt:
+
+»Ihr Neffe hat mir aus Venedig telegraphiert. Sie glauben nicht, wie
+ich mich darüber freue.«
+
+»So, ist er jetzt in Venedig?« fragt der Justizrat. Dann gibt er ihm
+das Papier zurück und meint: »Ja, er ist ein braver Bursche, der
+Alfred. Ich glaube, daß er noch ein gesuchter Rechtsanwalt wird.«
+
+Dann gehen sie, ein jeder seines Wegs. Der Justizrat ist zwar
+diesmal befriedigt, weil er die Rede des Oberbürgermeisters vorher
+durchgesehen hat, aber er denkt: ›Ganz richtig ist das nicht, daß der
+Junge dem ersten Mann seiner Frau gratuliert. Nun wollen sie wohl
+gar gesellschaftlich miteinander verkehren? Es wird doch immer noch
+allerhand Vorsicht außer acht gelassen.‹ Und er schüttelt bedenklich
+sein graues Haupt.
+
+Redakteur Undlet und der ausländische Pressevertreter, mit dem er sich
+damals, beim ersten Spatenstich, zusammenfand, ist auch wieder da. Sie
+haben inzwischen beide die Blätter gewechselt, aber sonst sind sie die
+gleichen geblieben.
+
+»Was sagen Sie nun?« fragt Undlet interessiert.
+
+»Hm. Sie haben ganz Tüchtiges geleistet. Etwas bescheidener sind sie
+geworden.«
+
+»Bescheidener? Ich denke doch, daß sie in kürzester Zeit ausgeführt
+haben, was sie versprachen.«
+
+»Ich meine nur, daß sie jetzt nicht mehr soviel Worte machen.«
+
+»Ja, so ist das,« meint Redakteur Undlet, »wenn man erst gezeigt hat,
+was man kann, darf man schweigen. Vorher werden einem die besten Worte
+nicht geglaubt.«
+
+Sie gehen zur langgestreckten, mit Girlanden geschmückten Lagerhalle,
+wo die Tafeln für die Gäste gedeckt sind.
+
+Man läßt sich nieder, ißt und hört sich noch einige Reden an.
+
+Dann fahren die ersten Wagen vor, der Kommerzienrat und Joachim
+Becker begleiten die prominenten Gäste bis zum Ausgang. Schließlich
+verabschieden sie sich voneinander, und der Kommerzienrat fragt:
+
+»Du kommst doch heute abend zum Festessen ins Hotel?«
+
+»Wenn du es mir nicht übelnehmen würdest,« sagt Joachim Becker, »möchte
+ich heute gern allein bleiben.«
+
+»Nein, gewiß nicht. Ich werde dich bei den Herren entschuldigen.«
+
+Auf dem Rückweg begegnet dem Generaldirektor Schwester Emmi.
+
+Sie trägt heute nicht ihre einfache Tracht, nein, sie ist mit ihrer
+Eleganz wahrhaftig mancher hochgestellten Dame überlegen, wenn auch an
+ihrer Seite nur Herr Karcher geht.
+
+Dieser Herr Karcher, er ist mit großer Freude ihrer Einladung, sie
+beim Feste zu begleiten, gefolgt, und nun wandert er neben ihr her,
+als wäre das selbstverständlich und gar nicht eine große und besondere
+Vergünstigung. Zwar sind mit der Generaldirektion viele junge Männer
+in den Hafen gekommen. Sie rufen Schwester Emmi zuweilen einige
+Scherzworte zu, denen sie in der alten schlagfertigen Frische begegnet,
+doch sie hat keinen gefunden, der ihr ständig auf den Fersen folgt wie
+seinerzeit Herr Gregor und der +Dr.+ Felix Friemann.
+
+Nun betrachtet Herr Karcher sie beinahe als einen festen Besitz, und
+es ist merkwürdig: irgend etwas fehlt ihm dabei. Wenn sie mit Herrn
+Gregor oder +Dr.+ Friemann tändelte, so hat sich sein Herz immer
+so wehmütig zusammengezogen, aber es war ein unvergleichlich schöner,
+süßer Schmerz, der ihn den ganzen Tag begleitete und seinem Leben eine
+melancholische Melodie gab.
+
+Dieser Schmerz ist heute, da er von ihr bevorzugt wird, wie
+ausgelöscht, und dem leidgewohnten unvernünftigen Herzen fehlt ein
+treuer Gast.
+
+Wie nun Joachim Becker den beiden entgegenkommt, sieht Schwester Emmi
+rasch prüfend an sich herab. Sie zieht die Handschuhe glatt und hebt
+die Lackspitze eines Schuhs bis hoch oben zum Seidenstrumpf, um einen
+winzigen Fleck fortzuputzen. Dann befeuchtet sie die Lippen und geht
+dem Generaldirektor mit einem reizenden Lächeln entgegen.
+
+Joachim Becker begrüßt sie sehr liebenswürdig und drückt ihr sogar die
+Hand.
+
+»Ja, Schwester Emmi,« sagt er, »nun, da die Einweihungsarbeiten vorüber
+sind, werden wir beide uns einmal zusammensetzen und versuchen, wie wir
+nach dem Entwurf von +Dr.+ Friemann die Fürsorgestelle erweitern
+können.«
+
+Dann plaudern sie noch ein wenig. Herr Karcher steht schweigsam
+daneben, und siehe: da ist er wieder, der unvergleichlich schöne, süße
+Schmerz. --
+
+Das große Fest im Hafen kann auch dem Nachbarn nicht entgehen. Die
+offiziellen Nachrichten dringen überall hin, und für die Verbreitung
+der internen Mitteilungen in der Familie Pohl hat Schwester Emmi wieder
+gesorgt, seitdem der Kapitän nicht mehr als gern gesehener Gast
+empfangen werden kann.
+
+Während Irmgard Pohl mit ihrem Vater zum Mittagessen über den
+Platz geht, muß sie auch einen Blick zu den lustig wehenden Fahnen
+hinüberwerfen.
+
+Sie bleibt stehen und sagt: »Vater, wenn Joachim Becker einmal
+wiederkehrte, um uns zur Versöhnung die Hand zu reichen, käme er dann
+als Sieger oder als Besiegter?«
+
+»Als Sieger!« sagt Michael Pohl so schnell, als wäre er auf die Antwort
+vorbereitet gewesen.
+
+»Und sein Sohn?« fragt Irmgard leise.
+
+Der Mühlenbesitzer sieht sie eine Weile schweigend an. Dann sagt er:
+»Auch der Sieger kehrt in sein Land mit Verlusten zurück. Wer sich in
+den Kampf einläßt, muß ihn in jedem Falle mitbezahlen.« --
+
+Als auch der letzte Gast verschwand, spaziert Joachim Becker noch ein
+wenig in seinem Hafen umher. Die Arbeit ist noch in vollem Betrieb,
+denn eines Festes wegen darf die Tätigkeit nicht ruhn. Die Angestellten
+haben auch ihr Freibier bekommen, und nun führen sie ihren Arbeitstag
+zu Ende.
+
+Joachim Becker bleibt neben dem Verwaltungsgebäude stehen und denkt
+an die alten Linden, die hier einstmals wuchsen. Über dem zweiten
+Hafenbecken sieht er eine Kirche und ein Fräuleinstift.
+
+Unter diesen Bäumen ist er damals auf- und abgegangen mit so
+hochfliegenden Gedanken, daß er manchmal selbst davor erschrak. Oft war
+er nicht allein gewesen, die Wärme und der Duft Irmgard Pohls hatten
+ihn verwirrt, so daß seine Pläne in die Ferne gerückt und ihm noch
+wahnwitziger erschienen waren. Er, der Prokurist einer Getreidefirma,
+hatte vor die Gewaltigen der Stadt treten wollen, um ihnen zu sagen:
+»Ich werde euch einen Hafen bauen!«
+
+Wenn er so recht mutlos geworden war und gedacht hatte: »In deinem
+ganzen Leben wirst du das nicht fertigbringen«, hatte er zuweilen
+eine weiche Frauenhand gefühlt, und Irmgard Pohl mit ihrer festen
+zuversichtlichen Stimme hatte gesagt:
+
+»Ich glaube an deine Kraft, und ich weiß, daß du dich durchsetzen
+wirst!«
+
+Dann war der Plan wieder näher gerückt, und er hatte mit seinen
+Gedanken weiter daran bauen können.
+
+Noch nicht fünf Jahre später steht er nun hier und blickt auf seinen
+fertigen Hafen.
+
+Er geht zum Hafentor, als wolle er sein Werk auch von außen betrachten.
+
+Aber ohne zurückzuschauen, lenkt er seine Schritte zielsicher zur Seite
+und wandert über die Föhrbrücke und an der Brotfabrik, der Mühle und
+dem Getreidespeicher entlang.
+
+Das ist ein weiter Weg, und er will gar kein Ende nehmen.
+
+Ob man wohl von den Fenstern des Wohnhauses sehen kann, wie er mit
+seinen festen Schritten daherkommt?
+
+Nun ist er am Gartentor. Er schreitet an Frau Pohls gepflegtem Rasen
+vorbei, und wie er vor dem Hause endlich angelangt ist, öffnet sich die
+Tür.
+
+Michael Pohl steht auf der Schwelle. Er reicht ihm stumm die Hand und
+führt ihn in das Haus.
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***
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+ Der Hafen | Project Gutenberg
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und
+Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich
+offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.</p>
+<p class="p0">Worte in Antiqua sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+<p class="p0">Der Einband wurde vom Bearbeiter umgestaltet und in die Public Domain eingebracht.</p>
+<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.</p>.
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp49" id="cover">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p class="s3 p2 center">Else Rabe / Der Hafen</p>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="p6 s5 center">Dieses Buch ist als erster Band der neunten Jahresreihe für die<br>
+Mitglieder des Volksverbandes der Bücherfreunde hergestellt<br>
+worden und wird nur an diese abgegeben. Der Druck ist in <br>
+Walbaum-Fraktur durch die Spamersche Buchdruckerei in<br>
+Leipzig erfolgt. Der Entwurf des Einbandes stammt von Walter<br>
+Schulze-Keller. Das echte Ziegenleder lieferte die Lederfabrik<br>
+Carl Simon Söhne in Kirn (Nahe). Gebunden wurde das Buch<br>
+von der Buchbinderei-Abteilung des Volksverbandes der<br>
+Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H.</p>
+</div>
+
+<p class="p4 center">Nachdruck verboten</p>
+<p class="s5 center"><em class="antiqua">Copyright 1927, by Volksverband der Bücherfreunde<br>
+Wegweiser-Verlag G. m. b. H., Berlin</em></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+
+<div class="chapter">
+
+<h1>Der Hafen</h1><br>
+<p class="s3 center">Roman</p><br>
+<p class="center">von</p><br>
+<p class="s2 center"><b>Else Rabe</b><br>
+<b>*</b></p><br>
+
+<figure class="figcenter illowe6" id="illu-003_2">
+ <img class="w100" src="images/illu-003.jpg" alt="signet">
+</figure>
+
+<p class="center">1927</p>
+
+<hr>
+
+<p class="center">Volksverband der Bücherfreunde<br>
+Wegweiser-Verlag G. m. b. H.<br>
+Berlin</p>
+
+</div>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<h2>Inhalt</h2>
+</div>
+
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+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><em class="antiqua">Vita somnium breve</em></td>
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+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">Der Aufsichtsrat</td>
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+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+<tr>
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+<tr>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+<tr>
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+<tr>
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+<tr>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+</tr>
+<tr>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+<td class="tdl">Das Fieber</td>
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+<tr>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">Die Einweihung</td>
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+</tr>
+</table>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_erste_Spatenstich">Der erste Spatenstich</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i001" src="images/drop-i001.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>ch habe keinen Augenblick Zeit und bin für niemand mehr zu sprechen!«
+sagt Joachim Becker abwehrend, noch ehe er ein Wort gehört hat.</p>
+
+<p>»Es ist die Frau Gemahlin«, stammelt der Mann an der Tür verwirrt.</p>
+
+<p>Das macht auf den jungen Direktor Becker durchaus keinen Eindruck. Er
+sagt nur in gedämpfterem Tone: »Dann lasse ich bitten,« und wühlt in
+seinen Papieren, so daß er verhindert ist, seiner Frau entgegenzugehen.
+Sie bleibt mit erwartungsvollem Lächeln im Hintergrund stehen.</p>
+
+<p>»Du hast es sehr gut gemeint,« sagt er nachsichtig, wie er die Spannung
+in ihrem jungen blassen Gesicht sieht, »doch du solltest wissen, was
+dieser Tag für mich bedeutet, und daß ich keine Zeit habe, mich dir zu
+widmen.«</p>
+
+<p>›Weil ich das weiß, bin ich hierhergekommen, denn gerade heute müßte
+mein Platz an deiner Seite sein‹, hätte sie darauf erwidern sollen.
+Aber Adelheid ist nicht der Mensch, der aussprechen kann, was er denkt.
+Zu ihrem Unglück jedoch sagen ihre runden braunen Augen alles, was ihr
+Mann nicht hören will.</p>
+
+<p>»Ich habe mit Herrn Gregor noch auf dem Wege Wichtiges zu besprechen
+und muß dort die offiziellen Empfänge<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> leiten. Ich will deinen Vater
+fragen, ob du dich ihm anschließen kannst.«</p>
+
+<p>Er ruft den Kommerzienrat an und sagt, ohne seinen Namen zu nennen:
+»Adelheid ist in meinem Zimmer.« Da wird er schon unterbrochen und
+schweigt, denn sein Schwiegervater ist der einzige Mensch, der ihm das
+Wort abschneiden darf.</p>
+
+<p>Wenige Augenblicke später wird die Verbindungstür zum Nebenzimmer,
+dem kleinen Konferenzraum, aufgerissen, und die runde Gestalt des
+Kommerzienrats kugelt herein.</p>
+
+<p>Sein breites bartloses Gesicht mit der vom Haarausfall erhöhten Stirn
+leuchtet in der angenehmen Überraschung, die nur seine Familie ihm
+bereiten kann.</p>
+
+<p>»Das ist mir eine Freude, Adelheid, dich hier zu sehen!« Er schließt
+sie in seine Arme, und die junge Frau liegt ohne Rücksicht auf ihren
+Hut, der sehr verbogen wird, einen Augenblick ganz still.</p>
+
+<p>Joachim Becker schreitet nervös sein Zimmer ab. Er hat im Gang das
+verhaltene Vibrieren eines Rennpferdes. Aber dem strengen Gesicht
+mit der hohen Stirnwölbung über den grauen Augen ist keine Regung zu
+entnehmen.</p>
+
+<p>Wie er nun stehenbleibt und mit den nervösen langen Fingern über seine
+aschblonde Haarmähne streicht, während das schmale gespaltene Kinn sich
+wie zum Sprechen bewegt, scheint er seinem Schwiegervater fremd und
+bedrückend im auffallenden Gegensatz zu ihm und seiner Tochter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+
+<p>Der Kommerzienrat rückt Adelheid den Hut zurecht und zupft an ihrem
+seidenen Mantel.</p>
+
+<p>»Schön hast du dich gemacht, da wird die Mama ihre Freude an dir haben.
+Ist das der Mantel, den ihr gestern gekauft habt?«</p>
+
+<p>»Ja,« sagt sie glücklich, »daß du dich dafür interessierst!«</p>
+
+<p>»Das wäre ja noch schöner. Mir haben die Kleider der Mama immer Freude
+gemacht.« Bei diesen Worten kann Kommerzienrat Friemann einen kleinen
+Seitenblick zum Schwiegersohn nicht vermeiden. Aber herzlich fügt er
+hinzu: »Der Hut steht dir übrigens auch ausgezeichnet.«</p>
+
+<p>Jetzt hat die junge Frau den Mut, ihren Mann mit einem Lächeln
+anzublicken. Zu ihrem Unglück erscheint Herr Gregor in der Tür. Er will
+sofort wieder verschwinden, da er die Familienszene sieht, Joachim
+Becker hält ihn mit lautem Zuruf zurück, so daß der Kommerzienrat sich
+kurz verabschiedet und seine Tochter zum Wagen begleitet.</p>
+
+<p>Sie fahren zu jenem freien Platz abseits der Stadt, wo zwischen
+alten Bäumen und abgerissenen Mauern der Fluß und zwei Kanäle fast
+zusammenstoßen. Eine Gruppe von Männern und Frauen ist an diesem milden
+Frühlingstage hierher geladen worden, um sich einige Reden anzuhören.</p>
+
+<p>Zuerst spricht der Oberbürgermeister persönlich zur Ehre des Tages.</p>
+
+<p>Es sei die wichtigste Aufgabe der Städte, führt er unter anderem
+aus, für den Ausbau der Wasserwege zu sorgen. Die<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> Bedeutung der
+Binnenschiffahrt sei von den großen Städten im Lande noch nicht
+richtig eingeschätzt, doch diese Stadt, die er zu vertreten die Ehre
+habe, wisse, was nun zu tun sei. Wenn das Stadtparlament beschlossen
+habe, den Ausbau und die Verwaltung ihres Hafens einem Konsortium zu
+überlassen, so sei dies vom wirtschaftlichen Standpunkt notwendig
+geworden. Die Privatwirtschaft könne mit freieren Händen arbeiten als
+die Bureaukratie.</p>
+
+<p>Hier wird unter den geladenen Gästen und einem Teil der Presse eine
+kleine katarrhalische Verstimmung fühlbar, aber das Oberhaupt der Stadt
+fährt mit erhobener Stimme fort:</p>
+
+<p>»Die Verpachtung unserer Ladestraßen an das von Herrn Kommerzienrat
+Friemann geführte Konsortium unter Beteiligung der Stadt wird uns zu
+einem Hafen verhelfen, den wir uns mit kommunalen Mitteln nicht leisten
+können. Im Interesse unserer Bürgerschaft und in der Erkenntnis, daß
+der Riesenbedarf unserer Stadt durch das zwar weitverzweigte, doch für
+die fernere Zukunft unzulängliche Eisenbahnnetz nicht zu bewältigen
+sei, ist dem Angebot mit großer Majorität zugestimmt worden. Noch
+haben wir keinen Hafen, noch sind wir eingeengt durch Schleusen und
+schmale Kanäle, aber diese Schranken werden fallen, — die Leistungen
+der technisch-wissenschaftlichen Wasserwirtschaft im Verein mit
+kaufmännischem Fernblick und Unternehmungsgeist werden unsere Stadt
+in kurzem zu einem der bedeutendsten Binnenhafenplätze des Kontinents
+erheben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
+
+<p>Lebhafter Beifall stimmt diesen Schlußworten zu.</p>
+
+<p>Justizrat Bernhard, der Syndikus der Stadt, nimmt seinen Neffen,
+Rechtsanwalt Bernhard jr., zur Seite und meint: »Es ist allerhand
+Vorsicht außer acht gelassen — vom juristischen Standpunkt allerhand
+Vorsicht! Man mußte hier vor der Presse nochmals betonen, daß es
+sich nur um eine Pacht für neunzig Jahre handelt. Man durfte den
+Kommerzienrat Friemann nicht allein erwähnen. Er vertritt die Majorität
+— gut! Aber ›er‹ — das ist der Handel, sagen wir getrost, der
+Getreidehandel. Was meinen nun die Banken dazu? Sie haben ebenso
+gutes Geld gegeben, ja, sie werden für die Kredite sorgen, — die
+Banken durften nicht ausgeschaltet werden. Und die Industrie, die
+Eisenindustrie, die sich nach schweren Kämpfen auch beteiligt hat?
+Die Reedereien — ich meine die Flußschiffahrt, denn die anderen
+haben sie nicht bekommen — wo bleiben diese Interessen? Siehst du,
+mein Junge, das sind die taktischen Fehler, die bei uns immer wieder
+gemacht werden. Man hätte <em class="gesperrt">mir</em> die Rede vorlegen sollen, der
+<em class="gesperrt">Jurist</em> muß sie vorher bearbeiten —«</p>
+
+<p>»Ja, gewiß, aber wollen wir nicht die anderen Reden hören?«</p>
+
+<p>»Die wirst du heute abend in der Zeitung lesen. Wir wollen uns ein
+wenig umsehen, ehe die offizielle Führung beginnt.«</p>
+
+<p>Und der Justizrat zieht seinen Neffen mit dem Recht des Protektors, der
+dem Anfänger mit seinen Beziehungen die Wege ebnet, zum Kanal hinüber.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p>
+
+<p>Einige Schleppkähne, die zur Feier des Tages bewimpelt sind, liegen
+an der Kaimauer und strecken ihren berußten langen Leib den milden
+Mittagsstrahlen hin. Vor den Kajüten haben die Frauen ihre Blumentöpfe
+zum Luftholen ausgesetzt.</p>
+
+<p>Ein Säugling, auf einem hellen Tuch über den Planken ausgestreckt,
+kräht einem Pudel entgegen; die Frau eines Schiffseigners sitzt
+kartoffelschälend vor der Tür.</p>
+
+<p>Die Schiffer, in ihren besten blauen Jacken, mit Hochglanz über der
+braunen geschabten Haut, stehen in der Nähe der Versammelten und fangen
+ehrfürchtig ein paar vom Wind verwehte Worte auf.</p>
+
+<p>»Und die Eisenbahn?« fragt der Justizrat. »Das waren doch wohl Angriffe
+auf die Eisenbahn. Man hat noch keine Verträge mit ihr geschlossen, man
+wird sie brauchen, aber man stößt sie vor den Kopf.«</p>
+
+<p>Der junge Rechtsanwalt sieht dem Spiel des Säuglings zu, seine braunen
+Augen über den gerundeten roten Wangen sind blank und von innen erwärmt.</p>
+
+<p>»Ich dachte,« bringt er leise und stockend hervor, »daß es schöner
+wäre, auf solchem Kahn lautlos durch die deutsche Landschaft zu fahren,
+als hier Prozesse zu führen und Reden zu hören.«</p>
+
+<p>»Diese Leute«, gibt der Justizrat rasch zurück, »sind ein kleines Rad
+im großen Werk, du bist ein größeres. Warum willst du geringer werden?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p>
+
+<p>Er hat den Hut abgenommen und den breiten gelichteten Graukopf der
+linden Luft preisgegeben. Darum sind seine Worte milde und fast ohne
+Zurechtweisung.</p>
+
+<p>Plötzlich kommt Bewegung in seine kleine gedrungene Gestalt. Er rückt
+den Kneifer zurecht und ist von der angespanntesten Aufmerksamkeit
+ergriffen.</p>
+
+<p>»Das ist sehr interessant, das ist außerordentlich interessant«,
+murmelt er hingerissen. Alfred Bernhard kann nicht umhin, der
+Blickrichtung seines Onkels zu folgen.</p>
+
+<p>Er sieht nichts weiter als einen Wagen vor dem Wohnhaus der Mühle, die
+mit ihren Mehl- und Getreidespeichern direkt in den Kanal hineinblickt.
+Das Haus ist einstöckig, mit einem kleinen Vorgarten und bunten
+Blumenkästen vor den Fenstern. Es steht etwas abseits auf dem großen
+Platze, der den Winkel zwischen beiden Kanälen bildet.</p>
+
+<p>»Du hast nicht gesehen, wer ausgestiegen ist?« fragt der Justizrat.</p>
+
+<p>»Nein.«</p>
+
+<p>»Aber du weißt, welche Bedeutung der Mühlenbesitzer dort drüben für
+den Hafen hat? Er ist dein erster Prozeßgegner. An diesem Dickschädel
+sollst du dir sozusagen deine Sporen verdienen.«</p>
+
+<p>»Er ist der einzige der Privatbesitzer, der sein Terrain nicht
+verkaufen wollte?«</p>
+
+<p>»Richtig! Die Akten will dir Direktor Becker morgen selbst übergeben.
+Es ist eine persönliche, eine Vertrauensangelegenheit.<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Und wenn ich
+dir jetzt sage, wer soeben dort hineingegangen ist, wirst du ermessen,
+was für eine heikle Aufgabe dir bevorsteht. Also die Person war eine
+Frau, eine Frau mit einer großen Tasche.«</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhards verständnisloses Gesicht beweist dem Justizrat,
+daß seine feinen Anspielungen durchaus nicht verstanden werden.</p>
+
+<p>»Du weißt also nicht, daß dieser Becker im Hause des Müllers gern
+gesehen war, als er noch der Tochter den Hof machte, während er dem
+Vater Friemanns Getreide verkaufte. Hier war er zu seinen großen
+Hafenplänen angeregt worden. Er ist ein Kerl, das kann man nicht anders
+sagen, wie man auch sonst über ihn denken mag. In seinem Kopfe ist das
+ganze Projekt entstanden, das heute so durchführbar erscheint, während
+man anfangs darüber gelacht hat. Wie aus dem Erdboden geschossen war
+er plötzlich da, dieser Prokurist im Hause Friemann. Er legte seine
+Pläne vor, löste die Verlobung mit Fräulein Pohl, heiratete die Tochter
+seines Chefs und brachte die maßgebenden Geldkreise zusammen. Heute
+nun wird der erste Spatenstich vorgenommen. Das ist alles in kaum neun
+Monaten geschehen, du kannst es dir ausrechnen, denn eben ist drüben
+die Frau mit der großen Tasche ausgestiegen. Das ist wieder so ein Witz
+des Schicksals, daß hier und dort seine Werke an einem Tage zu leben
+beginnen.« Der Justizrat lacht kichernd und verstohlen, als habe er
+selbst diesen Witz erfunden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p>
+
+<p>Alfred Bernhard ist noch etwas benommen. Es wird ihm nicht recht klar,
+ob er die Anspielungen richtig aufgefaßt hat.</p>
+
+<p>»Also dort drüben ist auch eine Tochter und — und die Feindseligkeit
+des Müllers ist persönlicher Natur?«</p>
+
+<p>»Allerdings. Damit mußt du rechnen. Da wirst du deinen Hebel ansetzen.«</p>
+
+<p>»Das wird die Arbeit sehr erschweren. Unter diesen Verhältnissen ist
+wohl mit einem endlosen Prozeß zu rechnen. Meines Erachtens wird man
+den Mann nicht zwingen können, zu verkaufen. Und wenn er hartnäckig
+bleibt —«</p>
+
+<p>»Er wird, mein Lieber, er wird. So etwas vergißt ein Vater nicht. Es
+sind ehrenhafte, gutsituierte Leute, die Tochter von ausgezeichnetem
+Charakter, wie man sagt. Aber so etwas kommt in den besten Familien
+vor.«</p>
+
+<p>»Ich denke an Adelheid Friemann. Wir sind doch zusammen in die
+Tanzstunde gegangen —«</p>
+
+<p>»Ja, ja,« meint der Justizrat, »aber ich glaube, der Becker spricht.«</p>
+
+<p>Joachim Becker ist bereits bei den Schlußworten. Sein schmales Gesicht
+ist sehr blaß und sehr belebt. Die Stimme, durchdringend, mit vollem
+Klang, hat einen Stich ins Kommandohafte.</p>
+
+<p>»Es soll sich nicht darum handeln, die Güter nach Hamburg oder Stettin
+zu verladen, sondern direkt nach Südamerika oder China. Nicht einen
+Umschlagshafen wollen wir schaffen, sondern eine Zentrale für den
+deutschen Weltverkehr,<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> nicht einen Hafen, der dem eigenen Bedarf
+genügt, sondern einen Stapelplatz für den Transithandel, der einfach
+nicht mehr auszuschalten ist. Unsere Speicher und Lagerhallen, die
+in allerkürzester Zeit auf diesem kahlen Boden aufwachsen werden,
+sollen alle Waren und jede Menge aufnehmen, die überhaupt eingelagert
+werden können. Unsere Getreidespeicher werden die vollkommensten
+auf dem Kontinent sein, mit allen technischen Errungenschaften der
+Neuzeit. Tankanlagen und eigene Tankschiffe stehen bald zur Verfügung.
+Eilverkehre, die uns dauernd in schnellster Verbindung mit den großen
+Seehäfen halten, verschaffen uns Unabhängigkeit, größte Leistungskraft.
+Die Weltmeere stehen uns offen, durch unseren Hafen stellen wir uns auf
+den großen wirtschaftlichen Kampfplatz der Welt, den wir mit Ausdauer
+und Mut behaupten werden.«</p>
+
+<p>Direktor Becker verneigt sich unter dem üblichen Beifall, der jeder
+Rede folgte, und führt nun den symbolischen ersten Spatenstich aus, das
+heißt, er legt die Hand auf einen Hebel des großen Löffelbaggers, der
+mit dem ersten Stich gleich zwei Kubikmeter Boden aushebt und in die
+bereitstehende Kipplori schüttet.</p>
+
+<p>Ja, das ist tüchtige und schnelle Arbeit! Die Gäste sehen staunend
+und bewundernd zu. Joachim Beckers lange sehnige Gestalt ist über die
+Grube geneigt. Er läßt den gefüllten Wagen gleich davonrollen, und
+wie er jetzt aufblickt, direkt in die erwartungsvollen Gesichter der
+Zuschauer, sind seine grauen Augen strahlend, knabenhaft jung.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span></p>
+
+<p>Frau Adelheid drückt heftig den Arm ihrer Mutter. Und die
+Kommerzienrätin, der das Stehen etwas schwer fällt — sie hat
+denselben ein wenig breiten Unterkörper wie ihre Tochter —, führt das
+Taschentuch an die Augen.</p>
+
+<p>Der Vertreter einiger ausländischer Zeitungen, der gleich mehrere
+Länder bedient, schreitet mit Redakteur Undlet das abgesteckte Gelände
+für das erste Hafenbecken ab und meint mißbilligend: »Ein tüchtiger
+Mann, aber zuviel Worte. Zu ausholend! Diese Deutschen haben immer
+gleich das Wort ›Welt‹ und ›Kampf‹ im Munde. Sehr falsch, taktisch sehr
+falsch. Ich habe es Ihnen von jeher gesagt: keine Diplomaten.«</p>
+
+<p>»Übersehen Sie nicht den Unternehmungsgeist, den verblüffenden,
+den gefährlichen Unternehmungsgeist! Das ist hier eine Stadt ohne
+Industrie, mitten im Lande, abseits von den großen Schiffahrtswegen,
+doch sie wagen es, solche Pläne nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu
+finanzieren. Und was sagen Sie zu den Behörden? Sie öffnen der freien
+Privatwirtschaft die Wege. Das ist Großzügigkeit, Weitblick, Freiheit!
+Das ist einfach nicht zu übersehen. Man kann die Augen nicht offen
+genug halten.«</p>
+
+<p>Joachim Becker erklärt der Gruppe mit den Damen das Gelände; Herr
+Gregor, seine rechte Hand, führt die Herren von der Presse.</p>
+
+<p>»Drei Hafenbecken sind zunächst geplant, für das vierte, das
+wichtigste, zwischen beiden Kanälen, ist das Terrain noch<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> nicht frei.
+Man wird es in kürzester Zeit auch in Angriff nehmen können«, meint
+Herr Gregor zuversichtlich.</p>
+
+<p>Kommerzienrat Friemann, der es immer verstanden hat, mit seinen beiden
+Ohren nach zwei Richtungen zu hören, wirft mit seiner ruhigen, betont
+gemessenen Stimme, die ihm nur für geschäftliche Zwecke zur Verfügung
+steht, ein, daß dieses Becken noch nicht benötigt werde und für die
+fernere Zukunft vorbestimmt sei. Drei Hafenbecken im Anfang genügen.
+Man wolle rentabel wirtschaften vom ersten Tage an. Schon jetzt werde
+gearbeitet. Die Ladestraßen sind sofort übernommen worden, neue Kunden
+bereits geworben.</p>
+
+<p>Dann geht er still und unauffällig zu den Herren von den Banken und der
+Flußschiffahrt hinüber, um auch hier das Seine zu tun.</p>
+
+<p>Der Bagger ist nicht abgestellt worden. Es macht einen guten und
+betriebsamen Eindruck, daß in diesem abseitigen Winkel, der einem Hafen
+von Weltbedeutung Platz machen soll, schon ein wenig Lärm zu hören ist.
+Eine Menge Arbeiter taucht plötzlich auf, die Loris rollen hin und her,
+und die ausgebaggerte Grube wird rapide tiefer und breiter. Braun und
+fett ist jetzt die herausgehobene Erde, und es riecht nach Mutterboden,
+dem trächtigen Stoff für Reife und Ernte.</p>
+
+<p>Die Gäste werden nun ein wenig müde vom Zuhören und Schauen, obgleich
+außer einem alten Lagerschuppen, den Überresten einer Kirche und
+einigen halb abgerissenen Wohnhäusern<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> — nicht zu vergessen: ein
+paar alten Linden — wenig zu sehen ist. Besonders die Damen bekommen
+abgespannte Züge, und Kommerzienrat Friemann ergreift die Gelegenheit,
+alle Versammelten zu einem kleinen Imbiß zu laden.</p>
+
+<p>Herr Gregor eilt voraus, um die langen Tafeln unter den Linden zu
+überprüfen. Vor jedem Stuhl ist ein Teller mit belegten Broten
+aufgestellt, und einige Männer stehen bereit, um das Bier einzuschenken.</p>
+
+<p>Junge Mädchen vom Personal des Kommerzienrats sind mit einer kleinen
+Festschrift und gedruckten Informationen für die Presse postiert.</p>
+
+<p>Die Gesellschaft naht plaudernd, in kleine Gruppen aufgelöst; die
+ernsten, bedeutungsvollen Mienen sind zu konziliantem Lächeln, bei
+diesem und jenem auch zu einem recht privaten, mittäglich hungrigen
+Ausdruck übergegangen.</p>
+
+<p>Frau Adelheid hüpft ungeniert an mehreren laut sprechenden Herren von
+der Stadt vorbei, um wieder in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Er
+war vom Oberbürgermeister in ein Gespräch gezogen worden und hält nun
+nach den wichtigsten Persönlichkeiten Ausschau.</p>
+
+<p>Sie ist erst zwei Monate verheiratet und hat zuweilen noch recht
+mädchenhafte Bewegungen. Die Stadträtin Meerboom wird dabei ein wenig
+unsanft gestreift und sagt mit ihrer harten, im Stadthaus erprobten
+Stimme: »Nein, meine Tochter nehme ich zu solchen Anlässen nicht mit.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span></p>
+
+<p>»Ach, gnädige Frau«, ruft Justizrat Bernhard aus, bei dem Adelheid nun
+angelangt ist, und er freut sich mit vielen überschwenglichen Worten
+der Begegnung.</p>
+
+<p>Sein Neffe ist sehr rot geworden, als die junge Frau ihm die Hand
+reicht, und Adelheid sagt wie zur Entschuldigung: »Ja, wir haben in der
+Tanzstunde miteinander getanzt.«</p>
+
+<p>Dann wird sie traurig, denn ihr Mann und die Eltern scheinen spurlos
+verschwunden. Sie hat das unendlich schmerzliche Gefühl eines Kindes,
+das sich verlaufen hat und der tiefen Vereinsamung urplötzlich
+schreckhaft gewahr wird.</p>
+
+<p>Das im Verhältnis zur kleinen Figur etwas zu große, jugendlich
+gerundete Gesicht mit den weichen dunklen Haaren wird in solchen
+Stimmungen immer ganz und gar von den großen sprechenden Augen
+beherrscht. Rechtsanwalt Bernhard hat das Empfinden, daß er ihre Hand
+ergreifen und sie zu den Eltern zurückführen müsse.</p>
+
+<p>Da hellt sich ihr Gesicht auf, es ist ihr wie im Traum, daß Joachim
+Becker, ihr Mann, mit seinen langen festen Schritten auf sie zukommt,
+ihre zitternde Hand küßt und nach der Begrüßung der beiden Herren
+besorgt sagt: »Habe ich dich endlich gefunden!«</p>
+
+<p>Er führt sie zu einer der langen Tafeln, wo der Kommerzienrat und seine
+Frau ihr herzlich entgegenlächeln, auch der Oberbürgermeister ist da
+und die Stadträtin Meerboom, aber sie sind lange nicht mehr so streng,
+und Adelheid beißt<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> mutig in die belegten Brote, die man in die Hand
+nehmen muß, weil es nur ein ganz zwangloser Imbiß sein soll.</p>
+
+<p>Man plaudert sehr lebhaft, die Herren rufen laut und lustig nach
+Bier, schieben ihre leeren Teller beiseite und bekommen reichliche
+Nachfüllung. Direktor Becker lächelt befriedigt, er hängt immer mit
+einem Blicke an Herrn Gregor, der das Ganze überwacht; doch es ist
+nichts auszusetzen.</p>
+
+<p>»Oh, dafür war auch gesorgt,« antwortet er auf eine Frage der
+Stadträtin, »bei Regenwetter hätten wir drüben in der kleinen
+Lagerhalle gedeckt.«</p>
+
+<p>Da wagt auch Adelheid eine Bemerkung: »Aber die Waren,« sagt sie,
+»wohin hättet ihr dann die Waren geschafft?«</p>
+
+<p>»Beiseite geschoben,« meint er mit leisem Lächeln, »wie man es beim
+Tanzvergnügen mit den Tischen und Stühlen macht.«</p>
+
+<p>»Es ist also noch nicht der Rede wert, was augenblicklich lagert?«
+fragt Herr Undlet, der durch ein Versehen an diese Tafel geraten ist.</p>
+
+<p>»Nein,« sagt Joachim Becker kurz, »wir haben erst heute mit dem Betrieb
+begonnen.«</p>
+
+<p>Und Adelheid hat das beklommene Gefühl, daß sie doch wieder etwas
+gesagt hat, was nicht in der Ordnung war. Sie kann ihre Brötchen beim
+besten Willen nicht aufessen, obgleich andere schon beim dritten Teller
+angelangt sind und das Bier anfängt, knapp zu werden, weil man mit
+diesem Durst trotz aller Voraussicht nicht gerechnet hat.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p>
+
+<p>Die Herren von der Presse ziehen sich zurück, auch einige Wagen fahren
+vor, und die Tischreihen lichten sich allmählich.</p>
+
+<p>Auf den Schleppkähnen sitzen die Schiffer mit ihren Pfeifen vor der
+Kajüte. Mühlenbesitzer Pohl geleitet die Frau mit der großen Tasche vor
+die Tür. Er bleibt einen Augenblick im Vorgarten stehen, seine grauen
+Haare werden von einer leichten Brise zerzaust. Dann geht er mit festen
+Schritten, ohne sich umzusehen, zurück.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Feind">Der Feind</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i002" src="images/drop-i002.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>rmgard Pohl hat sich mit einem Buch ans Fenster gesetzt und ein wenig
+zu lesen versucht. Aber es ist eigenartig: wenn sie untätig dasitzt
+und ihre Gedanken spielen lassen will, dann wird es leer in ihrem Kopf
+und traurig im Herzen, oder ein Karussell dreht sich so lange, bis sie
+zu verzweifeln beginnt. Doch wenn sie ein paar Zeilen über eine fremde
+Welt gelesen hat, dann findet sie wieder in geordneter Weise zu sich
+selbst zurück. Sie legt das Buch bald in den Schoß, blickt gedankenvoll
+zum Fenster hinaus und fühlt, daß in ihr etwas vorgeht, das nur geweckt
+zu werden brauchte.</p>
+
+<p>Nicht die gewünschte Frühlingssonne liegt vor dem Fenster: das Gras
+ist naß und blank, auf den Kanal spritzt der Regen, daß die langweilig
+glatte Fläche in Blasen und Kreisen bewegt wird, und der bemehlte
+Getreidespeicher erscheint noch stumpfer und farbloser vor dem
+schmutzigweißen Himmel als sonst.</p>
+
+<p>Es ist nicht wegzuleugnen, daß ihr Leben nun eine ganz andere Richtung
+nehmen muß. Sie hat ihr Krankenlager nach langen trüben Wochen zum
+erstenmal verlassen, als ein Mensch, der bald wieder mitzählen wird.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p>
+
+<p>Die junge blonde Säuglingsschwester steckt ihren kleinen Wuschelkopf
+zur Tür herein und fragt hell und freundlich wie alle Tage:</p>
+
+<p>»Nun, geht es uns gut? Das ist reizend!«</p>
+
+<p>Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Irmgard lächelt zaghaft; sie hat
+es fast verlernt. Ihre Züge sind scharf und spitz geworden, und erst
+jetzt, da sie lächelt und die leicht irisierenden Augen in die Tiefe
+des Zimmers richtet, ist wieder etwas von dem weichen Charme früherer
+Tage spürbar geworden.</p>
+
+<p>»Sie haben mir die Haare so straff hinter die Ohren gestrichen, ich
+glaube, ich sehe scheußlich aus. Könnten Sie mir nicht endlich einen
+Spiegel geben?«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank, sie fängt an, eitel zu werden. Das ist ein herrliches
+Zeichen der Genesung«, ruft Schwester Emmi erfreut aus. »Aber mit dem
+Spiegel hat es noch Zeit. Ziehen wir diese Haare ein wenig hervor,
+so — ach, es ist ja eine reizende braune Welle. Gleich sieht unsere
+Patientin gesünder aus.«</p>
+
+<p>Sie freut sich und hüpft vergnügt um die Kranke herum.</p>
+
+<p>»Sie sind wirklich ein Labsal für verzweifelte Menschen«, sagt Irmgard
+herzlich.</p>
+
+<p>»Ja, wenn man nur seinen Platz ausfüllt und seiner Pflicht nachkommt.
+Mehr hat noch kein Mensch von mir verlangt.« Sie zieht den Mund halb
+lächelnd, halb schmerzlich herab. Auch ihre Nase ist dabei ein wenig
+schief gezogen, und<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> sie ist trotz den aufgebauschten gelbblonden
+Haaren gar nicht mehr quicklebendig, sondern grau wie ein Regentag.</p>
+
+<p>Aber da reckt sich die kleine schmale Person gleich wieder, sie hebt
+die Lackspitze ihres zierlichen Schuhs und sagt: »Damit bin ich nun
+unten gewesen. Sie gehen mir jetzt bestimmt aus dem Leim.« Und dabei
+lacht sie, als sei es ein Vergnügen, seine Schuhe zu verderben.</p>
+
+<p>»Ja, daran sind nur unsere aufgeweichten Wege schuld«, meint Irmgard,
+in dem Gefühl, auch ihrerseits etwas sagen zu müssen. »Aber was hatten
+Sie denn unten zu tun?«</p>
+
+<p>»Ach, offengestanden, ich bekam nur Lust, die Nase in den Regen zu
+stecken.«</p>
+
+<p>»Vielleicht ist zufällig jemand vorbeigegangen, der auch seine Nase
+spazierenführen mußte?« fragt Irmgard lächelnd, ihre Züge sind nun sehr
+erschlafft.</p>
+
+<p>»Ach ja, da werden viele gewesen sein. Doch unsere Patientin wollen wir
+nun wieder in die Federbetten stecken.«</p>
+
+<p>Irmgard hat nichts dagegen einzuwenden. Sie läßt sich von den festen
+kleinen Händen der Schwester hochheben und stützen. Dann liegt sie
+wieder im Bett und denkt, daß sie für den neuen Flug in das Leben
+noch nicht tauglich sei. Auch der Blick aus dem Fenster hat ihr
+noch nicht den Weg in die Zukunft eröffnet, der durch einen neuen
+kleinen Erdenbürger bestimmt wird. Sie hebt sich alle Fragen und
+Auseinandersetzungen für einen späteren Tag auf. Nur den Knaben wünscht
+sie noch einmal zu sehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>»Ist es nicht, als könnte er schon hören?« fragt sie, »wenn ich ihn
+anriefe, so würde er sich vielleicht rühren.«</p>
+
+<p>»Nein, so weit ist es noch nicht. Außerdem — er hat doch noch keinen
+Namen, wie soll er Sie denn verstehen?« Und Schwester Emmi lacht
+herzlich über ihren eigenen Witz.</p>
+
+<p>In Irmgard aber weckt das wieder nur traurige Erinnerungen. Sie blickt
+den Säugling lange an und fragt dann leise:</p>
+
+<p>»Hat mein Vater sich noch immer nicht geäußert?«</p>
+
+<p>»Nein. Er meinte, ich solle Sie nach dem Namen fragen, wenn Sie sich
+etwas wohler fühlen.«</p>
+
+<p>»Und hat mein Vater auch Interesse für das Kind gezeigt?«</p>
+
+<p>»O ja. Wenn er zufällig vorbeigekommen ist, hat er es betrachtet und
+gesagt, was die Ansicht sämtlicher Männer ist: daß in diesem Alter die
+Menschen alle gleich aussehen.«</p>
+
+<p>»Aber das kann man doch nicht mehr sagen, nicht wahr? Hat es nicht die
+unverkennbaren Pohlschen Züge: die starken Backenknochen und Vaters
+tiefliegende Augen?«</p>
+
+<p>»Mit einiger Phantasie kann man es so sehen.«</p>
+
+<p>»Ach, ich spreche gewiß wieder wie alle Mütter«, meint Irmgard traurig
+lächelnd.</p>
+
+<p>»Gott sei Dank ja! Sie unterscheiden sich darin nicht eine Spur von
+ihnen. Und das ist herrlich. Das ist doch wirklich ganz prächtig.«</p>
+
+<p>Sie nimmt den blassen schönen Kopf zwischen beide Hände und legt ihn
+in die Kissen zurück. Dabei sind ihre Finger von<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> zärtlichem Druck,
+und plötzlich hat sie für eine Sekunde ihr kleines Gesicht an Irmgards
+Wange gelehnt.</p>
+
+<p>»Weil Sie so tapfer und geduldig sind«, sagt sie gleichsam zur
+Entschuldigung, als sie das Kind aufnimmt und hinausbringt. —</p>
+
+<p>Einige Tage später ist Irmgard schon richtig aufgestanden. Sie konnte
+sich selbst ankleiden, ist im Zimmer umhergegangen und hat sich wieder
+an das Fenster gesetzt, das auf den Kanal hinausgeht.</p>
+
+<p>An diesem Tage liegt wirklich Sonne auf allen Dingen, und Irmgard
+denkt, daß nun das neue Leben beginne, für das sie die richtige gesunde
+Einstellung braucht.</p>
+
+<p>Sie ruft Schwester Emmi und sagt kurz entschlossen:</p>
+
+<p>»Sie müssen sich hierher setzen und mir einige Fragen beantworten. Ich
+hasse das Halbe und Kranke und muß es vollkommen abstreifen, wenn ich
+wieder mit beiden Beinen im Leben stehen soll.«</p>
+
+<p>Sie freut sich über ihre eigene Kraft, und Schwester Emmi sagt ein
+wenig gekränkt: »Ja, jetzt werden Sie wohl wieder alles in die Hand
+nehmen wollen.«</p>
+
+<p>Sie empfindet eine Abneigung gegen die Frauen, die immer fest und
+unbeirrt handeln und ihre Ziele und Wege deutlich vor sich sehen. Sie
+hat ihre kleine Person immer vom Schicksal vorwärtsstoßen lassen, wie
+es gerade sein mußte.</p>
+
+<p>Irmgard ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie das
+verschlossene Gesicht der anderen bemerken könnte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
+
+<p>»Es gibt soviel Unausgesprochenes in diesem Haus. Dann scheint
+etwas in mir schief gerückt, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis
+es geradesteht. Da ist zum Beispiel der Vater. Er spricht gut und
+freundlich mit mir, aber ich sehe ihn selten, und er ist jetzt noch
+verschlossener als früher. Wir hatten uns bisher immer ohne Worte
+verstanden, aber seitdem uns beiden das angetan wurde, dieser —
+Vertrauensbruch, weiß ich nicht, wie er es trägt. Sie aber haben ihn
+alle Tage gesehen, besonders in der ersten Zeit, und können mir einen
+Fingerzeig geben.«</p>
+
+<p>»Leider kann ich Ihnen wenig sagen. Er war fast immer in seinem Kontor
+oder in der Mühle. Nur zu den Mahlzeiten ist er hier gewesen, hat sich
+sehr ruhig nach allem erkundigt und sonst kaum ein Wort gesprochen.«</p>
+
+<p>»Aber wenn er drüben im Hafen die Tätigkeit sah — die vielen
+Menschen, die jetzt dort arbeiten, und die lauten Maschinen, die ganze
+geräuschvolle Geschäftigkeit, die ihn tagaus, tagein an seinen Ärger
+erinnern muß —«</p>
+
+<p>Sie spricht nicht zu Ende und sieht die Schwester erwartungsvoll an.</p>
+
+<p>»Ach, er ist doch den Lärm von seiner Mühle her gewöhnt. Auf einen Mann
+hat das sicher eine andere Wirkung.« Schwester Emmi beginnt, sich bei
+diesen Erörterungen zu langweilen. Das scheint ihr alles nicht so des
+Nachdenkens wert.</p>
+
+<p>»Sehen Sie,« sagt Irmgard wieder, »ich habe mir damals, nachdem ich
+den ersten Schmerz über diese große Demütigung<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> und Untreue überwunden
+hatte, immer wieder vorgehalten, daß ich keinen Haß in mir aufkommen
+lassen darf. Denn wie soll ich einmal sein Kind lieben, wenn ich ihn
+selbst nur hassen kann? Es bleibt doch ein Teil von ihm, so sehr man
+sich auch einzureden sucht, daß es nur von der eigenen Artung ist.
+Man möchte feige sein und seinen Namen für immer aus dem Gedächtnis
+streichen, aber wie können wir Joachim Becker jemals vergessen, der uns
+so viel gegeben und so viel genommen hat? Und nun baut er uns seine
+großen Projekte, für die wir uns damals so sehr interessiert haben,
+direkt vor den Augen auf, und es ist nichts wegzuleugnen. Können Sie
+das verstehen?«</p>
+
+<p>»Ja, das kann ich verstehen: daß es schwer ist, und daß Sie sehr mutig
+sind.«</p>
+
+<p>»Es ist nur der Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht gehöre ich zu den
+Frauen, die sich nur einmal ganz erschließen können, denn sonst hätte
+ich das wohl nicht getan. Oder glauben Sie, daß ich leichtfertig oder
+im wahren Sinne unmoralisch bin, weil ich ihm in meiner Liebe nichts
+versagen konnte?«</p>
+
+<p>»Nein, beileibe nicht. Wie die Menschen auch darüber denken mögen, wer
+Sie kennt —«</p>
+
+<p>»Ja, wissen Sie, ich habe schon manchmal gedacht, daß es gut sei, wie
+es sich letzten Endes zugetragen hat. Denn nun habe ich doch ein klein
+wenig Anteil an ihm, den ich nur noch in seinem Kinde lieben werde.
+Darin will ich die Kraft finden, um ihn selbst ganz aus meinem Herzen
+auszustreichen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p>
+
+<p>»Wenn Sie das können! Ich würde ihn, offengestanden, grenzenlos hassen
+und mich an ihm rächen — bei der ersten Gelegenheit.« Sie sagt es
+triumphierend, herausfordernd, denn sie ist stolz auf ihr lebhaftes
+Temperament.</p>
+
+<p>»Und nun müssen Sie mir noch berichten, wie es der Mutter geht«,
+sagt Irmgard ablenkend, denn sie erkennt wieder, daß sie von ihren
+Mitschwestern nur verstanden wird, wenn sie selbst schwach und beirrbar
+ist. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie es oben aussieht.«</p>
+
+<p>»Oben« ist das Zimmer von Frau Pohl, die seit fünf Jahren gelähmt und
+mit verwirrtem Geist ein verdämmerndes Dasein führt. Von der späten
+Geburt des lange ersehnten Stammhalters geschwächt, hatte sie der nach
+wenigen Wochen erfolgte Tod des Knaben so getroffen, daß sie nicht
+wieder aufstehen konnte. In ihrem Geiste aber hat sie den Knaben zu
+neuem Leben geweckt. Wenn sie in ihrer Einsamkeit zu dem Kinde spricht,
+scheint sie mit ihrem Schicksal zufrieden und der Gegenwart in einer
+anderen Weise nahegerückt.</p>
+
+<p>»Haben Sie ihr gesagt, daß ich krank sei? Und wie hat sie es
+aufgenommen?«</p>
+
+<p>»Zuerst wollte sie an Ihre Krankheit nicht glauben. Sie wurde sehr böse
+und meinte: die Arbeit ist ihr zuviel geworden, auf der Stelle soll sie
+herkommen und mir Antwort stehen.«</p>
+
+<p>»Ja, sie kann sehr böse werden.«</p>
+
+<p>»Als ich ihr dann aber klarmachte, daß ich zu Ihrer Pflege<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> geholt
+sei, und sie fragte, ob sie denn nicht feststellen könne, daß ich nach
+Medizin rieche, erwiderte sie, nun wolle sie aufstehen und ihre Tochter
+pflegen.«</p>
+
+<p>»Sie wollte mich pflegen?« Irmgard ist ganz glücklich darüber.</p>
+
+<p>»Das sagte sie. Natürlich konnte sie sich nicht rühren, und dann sprach
+sie nicht mehr darüber. Einmal erzählte ich ihr, daß Sie bald aufstehen
+würden, aber sie gab mir keine Antwort. Doch etwas anderes hatte mich
+beängstigt, und ich sprach mit Herrn Pohl darüber.«</p>
+
+<p>»Was war es?« fragt Irmgard ungeduldig. »Hat sie das Kind gehört? Sie
+haben doch nicht davon gesprochen?«</p>
+
+<p>»Nein, es war ja verabredet, daß sie davon nichts erfährt. Aber sie
+sagte: ›Hört Ihr denn nicht, wie mein Michael schreit? Ihr laßt ihn
+liegen und kümmert Euch nicht um ihn.‹ Und das hat sie immer wieder
+geklagt, dabei zuckte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte
+sie aufspringen und nach dem Rechten sehen. Schließlich wurde sie sehr
+erregt, hat mich ausgescholten und gedroht, mich zu entlassen, wenn ich
+nicht besser für ihr Kind sorge.«</p>
+
+<p>»Mein Gott,« flüstert Irmgard, »hat sie nicht danach verlangt, es zu
+sehen?«</p>
+
+<p>»Das hat sie nicht. Aber ich dachte schon — ich weiß nicht, was Sie
+davon halten — ich dachte, solche Kranken sind durch Täuschungen
+manchmal zu heilen. Wenn man ihr z. B. das Kind wirklich —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+
+<p>»Nein, nein, wollen Sie ihr mein Kind geben, dieser Kranken? Nein, das
+ist heller Wahnsinn!«</p>
+
+<p>»Ich meinte es nur gut, denn es ist doch schließlich Ihre Mutter. Herr
+Pohl sagte, wenn Sie einverstanden wären, könnte man immer noch mit dem
+Arzt darüber sprechen«, gibt die Schwester verstimmt zurück.</p>
+
+<p>»Ist das seine Ansicht gewesen?« Irmgard schließt die Augen und lehnt
+müde im Sessel. »Darüber muß ich erst nachdenken. Ich will die Mutter
+selbst gesehen und gesprochen haben«, flüstert sie.</p>
+
+<p>»Gewiß, es war ja auch nur ein Vorschlag für später. Aber ich werde Sie
+jetzt verlassen, da kommt ein junger Mann durch den Garten, und das
+Mädchen ist ausgegangen.«</p>
+
+<p>Irmgard glaubt, nur eine Sekunde allein gewesen zu sein, als die
+Schwester schon wieder zurückkommt und sagt: »Es war ein Rechtsanwalt
+Bernhard von der Hafengesellschaft, er wollte Herrn Pohl sprechen. Ich
+habe ihn ins Kontor hinübergeschickt.«</p>
+
+<p>»Von der Hafengesellschaft —«, stammelt Irmgard, und sie sieht dem
+jungen Rechtsanwalt nach, wie er mit seiner Aktentasche durch den
+Garten geht und zur Mühle hinübersteuert.</p>
+
+<p>Die Schwester hat das Zimmer wieder verlassen, und Irmgard verfolgt den
+Rechtsanwalt so lange, bis er in der Tür des Kontors verschwindet. Da
+wirft sie die Hände vor das Gesicht und schluchzt verzweifelt auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p>
+
+<p>Sie hatte sich mit ihrem klaren Verstand einen so schönen Plan
+zurechtgelegt und kluge, vernünftige Worte gesprochen, aber beim ersten
+unmittelbaren Anstoß von außen her fällt ihr ganzes Kartengebäude
+zusammen, und sie ist nicht beherrschter und reifer als Schwester Emmi
+mit ihrem Temperament.</p>
+
+<p>Hier über diesen Weg ist auch er gegangen, und sie hat ihm von dem
+gleichen Platz aus nachgesehen, wie er mit seinen langen Schritten
+fest und federnd über den knirschenden Kies marschierte und an der
+Gartenpforte zu ihr hinaufwinkte. Oder war es wegzuleugnen, daß sie
+wie zwei übermütige Kinder hier um diesen runden Tisch jagten, bis sie
+atemlos stehenblieb und ausrief: »Nein, du hast ja doch die längeren
+Beine.« Dann ließ sie sich rückwärts fallen und wurde aufgefangen.
+Er aber sagte mit seiner weichen Stimme, die sie einmal zu ihrem
+Erschrecken, als er beim Ausladen des Getreides seine Befehle gab, kaum
+erkannte: »Warum versuchst du nur immer wieder, mir davonzulaufen, da
+du mir doch nicht entgehen kannst?«</p>
+
+<p>Nein, sie konnte ihm nicht entgehen, und hier denkt sie nun an ihn und
+findet keinen Weg, der von ihm fortführen könnte. —</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard hat sich im Bureau nach Herrn Pohl erkundigt.
+Man sagt ihm, daß er im Betrieb gesucht werden müsse, und läßt ihn im
+Privatkontor warten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<p>Dort zieht er seine Akten hervor und überlegt noch einmal die ganze
+aussichtslose Angelegenheit.</p>
+
+<p>Seitdem Direktor Becker ihm seine persönlichen Erklärungen gegeben hat,
+sieht er erst ein, auf welcher lächerlichen Begründung dieser Prozeß
+aufgebaut werden soll.</p>
+
+<p>Wie hier, so hatte er auch bei der Hafengesellschaft lange warten
+müssen, bis er von Joachim Becker empfangen wurde. Oh, er ist noch
+nicht der begehrte Mann, den man in seinem Anwaltsbureau aufsucht
+und unter großen Versprechungen bittet, sich mit dem berühmten
+Scharfblick eines Streitfalls anzunehmen. Sein junges Schreibfräulein
+wartet auf Arbeit, liest Romane und stichelt an einer Handarbeit
+in einer ganz impertinenten Weise. Er hat die sämtlichen Akten des
+Falles Hafengesellschaft kontra Pohl abschreiben lassen, aber die
+Schreibmaschine ist doch wieder zur Ruhe gekommen, und er muß das
+ersehnte Klappern vermissen.</p>
+
+<p>Da ist es etwas anderes im Hause Friemann, wo Joachim Becker die
+Geschäfte der Hafengesellschaft besorgt. Auf den langen Korridoren ist
+ein Gehen und Kommen, und die jungen Damen mit ihren Schreibblocks und
+gespitzten Bleistiften jagen nur so zu den Türen hinein und heraus.</p>
+
+<p>Er wird von betreßten Dienern in ein großes Wartezimmer geleitet, wo
+schon etwa ein Dutzend Männer sitzen, die den Hafendirektor sprechen
+wollen. Herr Gregor kommt herein, lässig und elegant, und sagt in
+seiner gedehnten Art, wobei er immer den Rücken ein wenig beugt:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p>
+
+<p>»Guten Tag, Herr Doktor. Ja, Sie sind vorgemerkt, ich habe die Akten
+schon weitergegeben. Aber augenblicklich ist noch eine Konferenz.«</p>
+
+<p>»So, haben <em class="gesperrt">Sie</em> die Akten gehabt?« entfährt es dem Rechtsanwalt,
+der glaubte, mit einer ganz persönlichen und diskreten Angelegenheit
+betraut zu werden.</p>
+
+<p>»Ja, das liegt alles bei mir«, bemerkt Herr Gregor nicht ohne Betonung,
+und er begrüßt einen neu hinzugekommenen Herrn.</p>
+
+<p>»Sie dürften kein Glück haben,« sagt er zu ihm, »denn heute werden
+nur die Vorgemerkten empfangen. Der Kalender ist bis unten hin
+vollgeschrieben, und Sie stehen nicht mit darauf. Aber Sie können mit
+mir sprechen, ich will sehen, was sich machen läßt.«</p>
+
+<p>Dann sucht er sich einen Herrn ganz außer der Reihe heraus und
+verschwindet mit ihm in seinem Zimmer.</p>
+
+<p>Dieser Gregor ist dem Rechtsanwalt im höchsten Grade unsympathisch.
+Er gebärdet sich vor den Lieferanten, die sich um die Aufträge für
+den Hafen bemühen, als wäre er der Direktor selber, und man kann sich
+ausrechnen, welche Prozente dabei für ihn abfallen.</p>
+
+<p>Da ist Joachim Becker doch ein anderer Mann, obgleich der Rechtsanwalt
+sich auch hier seine eigenen Gedanken macht. Aber wenn man ihm
+gegenübertritt, so muß man schließlich doch seiner ganzen Art und
+Erscheinung zustimmen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span></p>
+
+<p>Nachdem <em class="antiqua">Dr.</em> Bernhard etwa eine Stunde auf den Hafendirektor
+gewartet hatte, ist die Reihe auch an ihn gekommen. Herr Gregor
+erscheint so eilig, wie es sein Temperament erlaubt, und sagt: »Bitte,
+Herr Doktor, nehmen wir gleich diesen Eingang. Der Herr Direktor ist
+schon sehr ungeduldig.«</p>
+
+<p>Joachim Becker sitzt an seinem Schreibtisch und telephoniert.</p>
+
+<p>»Bestellen Sie meiner Frau,« hört der Rechtsanwalt, »daß ich heute
+nicht zu Tisch kommen kann, und besorgen Sie mir ein paar Brötchen.«</p>
+
+<p>Dann wirft er den Bleistift, mit dem er nervös auf die Platte geklopft
+hat, hin und sagt zum Rechtsanwalt: »Bitte. Ja, also hier sind die
+Akten. Dieser Prozeß ist für uns von großer Wichtigkeit und muß bald
+ausgetragen werden. Die Kosten spielen keine Rolle, aber es ist
+nötig, daß die Sache richtig angefaßt wird. Sind Sie über den Gegner
+informiert?«</p>
+
+<p>»Nein,« erwidert der Rechtsanwalt, »ich weiß nur so viel, daß es sich
+um das Terrain am Verbindungskanal handelt.«</p>
+
+<p>»Ja, dieser Platz war eigentlich für unseren Getreidehafen gedacht. Das
+unter uns — die ganze Angelegenheit ist überhaupt streng diskreter
+Natur.« Dabei sieht er den Rechtsanwalt durchdringend an, und auch im
+weiteren Verlauf der Unterredung fliegen seine kalten klaren Blicke
+blitzschnell auf sein Gegenüber, wenn dieser es am wenigsten erwartet.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p>
+
+<p>Dann führt der Direktor in stichwortartiger Kürze das Weitere aus.
+Einmal sagt er: »Ein persönlicher Konflikt, der in keinem Fall in
+die Angelegenheit hineingehört, entstand dadurch, daß ich meine
+inoffizielle Verlobung mit Fräulein Pohl löste.«</p>
+
+<p>Damit hat er ein für allemal seinen Standpunkt in dieser Hinsicht
+klargelegt.</p>
+
+<p>»Und hier ist die Vollmacht, die uns eine Angriffsmöglichkeit bietet.«</p>
+
+<p>Der Rechtsanwalt liest: »Ich erkläre mich bereit, mein Grundstück
+zwischen der Föhrbrücke und dem Verbindungskanal für die
+Zwecke eines Hafenbaus zur Verfügung zu stellen, wenn mir im
+Falle einer privatwirtschaftlichen Verwaltung eine angemessene
+Beteiligungsmöglichkeit geboten wird. Für die Vorverhandlungen in
+meinem Auftrage bevollmächtige ich Herrn Joachim Becker —«</p>
+
+<p>Noch ehe er zu Ende lesen konnte, erklärt der Direktor weiter: »Dies
+Dokument war als Vollmacht gedacht und ist später zurückgezogen worden.
+Die vorangehende Erklärung war mitbestimmend für die Bildung des
+Konsortiums und hat auch den Magistrat zur Entscheidung veranlaßt. Eine
+Beteiligung wurde angeboten, zu Konzessionen sind wir noch bereit. Also
+muß die jetzige Weigerung unbedingt angefochten werden.«</p>
+
+<p>»Sollten vielleicht die Voraussetzungen für die Beteiligung inzwischen
+—«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span></p>
+
+<p>»Das ist gleichgültig, das geht uns nichts an.«</p>
+
+<p>»Vom juristischen Standpunkt —«</p>
+
+<p>»Kommen Sie mir nicht mit Formelkram. Beweisen Sie Ihre Tüchtigkeit,
+indem Sie im Notfalle eine Ausnahme konstruieren, einen Präzedenzfall
+schaffen. Bitte, hier sind die Akten. Herr Gregor steht Ihnen wegen
+Ihrer Bevollmächtigung und anderer Einzelheiten jederzeit zur
+Verfügung.«</p>
+
+<p>Er klingelt nach dem nächsten Besucher, nicht ohne den Rechtsanwalt
+noch mit einem gewinnenden Lächeln einige Schritte geleitet zu haben.</p>
+
+<p>Man war trotz allem in dem Gefühl fortgegangen, einer zwar strengen,
+aber im Grunde liebenswürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein ...</p>
+
+<p>Nun sitzt der Rechtsanwalt im Bureau des Gegners und erkennt als
+einzige aussichtsvolle Möglichkeit einen Vergleich mit den bewilligten
+größeren Konzessionen. Er ist keine Kampfnatur und hat wenig Lust, sich
+hier hinter Paragraphen und versteckten Fallen zu verschanzen, um mit
+List und krummen Wegen zu siegen.</p>
+
+<p>Aber vielleicht wird jetzt ein Angestellter hereinkommen und sagen, daß
+Herr Pohl keine Zeit habe oder ihn nicht zu empfangen beabsichtige.</p>
+
+<p>Er sieht in seiner Beklommenheit ein wenig im Raume mit den gelben
+Möbeln und den alten Stichen an den Wänden umher.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p>
+
+<p>Das Bild eines Mannes mit tiefliegenden Augen, starken Backenknochen
+und einem vollen weichen Kinn über dem Vatermörder ist ohne Zweifel
+der Begründer der Mühle; eine auf Holz gemalte Windmühle zeigt den
+anfänglichen Besitz. Stahlstiche stellen kleinere Speicher und
+Mühlenbetriebe dar, und auf einer Zeichnung, offenbar ein Entwurf des
+Bauherrn, sieht man die beiden zweistöckigen Gebäude in ihrer heutigen
+Gestalt.</p>
+
+<p>Er bleibt vor einer Photographie stehen, die das Hafenterrain mit der
+Kirche, dem Fräuleinstift und einigen kleinen Häusern neben den alten
+Linden zeigt, so wie es noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, ehe
+das Konsortium kam und alles niederreißen ließ. Nun dringt das Geräusch
+der großen Bagger und der Lärm der Arbeiter bis in diesen einsamen Raum.</p>
+
+<p>Dem Rechtsanwalt erscheint die Wartezeit endlos, er ist sehr nervös,
+als der Mühlenbesitzer, in einer grauen Joppe und hohen Stiefeln,
+endlich eintritt, die Mütze auf einen Haken neben der Tür hängt und ihn
+zum Schreibtisch bittet.</p>
+
+<p>Er läßt sich im runden Sessel nieder und ersucht ihn nur mit einem
+Blick aus seinen ruhigen hellen Augen zum Sprechen.</p>
+
+<p>Der Rechtsanwalt redet hastig und viel. Er erkennt, daß es schwerer
+ist, vor diesem schweigsamen, reifen Mann zu sprechen, der jeder Pause
+mit stummer Aufmerksamkeit begegnet, als vor dem jungen Hafendirektor
+das Wenige zu sagen, das dieser in seiner Ungeduld zuläßt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p>
+
+<p>Als er endlich glaubt, nichts mehr hinzufügen zu können, hat er das
+verzweifelte Gefühl, alles verdorben zu haben. Er blickt verlegen auf
+die vollen grauen Haare des Mannes, die sich in einer breiten Welle von
+der gebräunten Haut abheben, und wartet nun endlich auf eine Antwort.</p>
+
+<p>»Das ist alles recht, was Sie hier sagen. Aber Sie sind nicht ganz im
+Bilde. Nehmen Sie an, daß jemand zu Ihnen spricht: ›Sie haben da eine
+schöne Tasche, die ich gern kaufen möchte.‹ Und Sie antworten: ›Nein,
+verkaufen will ich sie nicht, weil für mich wertvolle persönliche
+Erinnerungen damit verknüpft sind; aber weil ich Vertrauen zu Ihnen
+habe, können Sie die Tasche gern in Gebrauch nehmen und gleichsam
+als Ihr Eigentum betrachten, ebenso wie es das meine bleibt.‹ Der
+andere nimmt die Tasche mit und schickt Ihnen am nächsten Tage das
+Geld dafür, gut den doppelten Wert. Schließlich läßt er sich sogar
+auf Verhandlungen ein und sagt: ›Ein wenig darfst du an der Tasche
+teilhaben, wenn du dich diesen und jenen Bedingungen unterwirfst.‹
+Sagen Sie einmal, wie würde Ihnen das gefallen?«</p>
+
+<p>Er sieht den Rechtsanwalt lange an. Dieser hat die Absicht, nun
+gleichfalls zu schweigen, bis der andere genügend gesprochen hat. Aber
+er fühlt sich sehr unbehaglich dabei.</p>
+
+<p>Nach einer endlos scheinenden Pause setzt der Mühlenbesitzer langsam
+fort:</p>
+
+<p>»Auf diese einfache Weise nur kann ich das verstehen. Wenn Herr Becker
+damals gesagt hätte: Herr Pohl, mit<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> unserem Plan ›klein anfangen und
+groß aufhören‹ geht es heutzutage doch nicht. Die schnelle Entwicklung
+unseres technischen Zeitalters verlangt imponierende Projekte,
+die sofort auszuführen sind. Dazu brauchen wir andere Gelder, die
+Beteiligung der Spitzen aller Kreise. Wollen wir es nicht so und
+so versuchen? Aber er geht mit meiner Vollmacht umher, verschafft
+sich Einfluß durch Einheirat in die Geldkreise, stellt sein Projekt
+auf eine andere Basis und läßt dann anfragen: wieviel ist dir mein
+Vertrauensbruch wert? Wissen Sie, wie ich darüber denke?«</p>
+
+<p>Der Rechtsanwalt sieht ihn erwartungsvoll, mit einer zagen Hoffnung, an.</p>
+
+<p>»Schaffen Sie mir erst einen anständigen Menschen zurück. Dann können
+wir verhandeln. — Und nun strengen Sie Ihren Prozeß an.«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Katastrophe">Die Katastrophe</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-d001" src="images/drop-d001.jpg" alt="d">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>as erste, was im Hafengelände fertiggestellt wird, ist eine Mauer um
+das ganze Terrain — bis auf die Seite, die der Pohlschen Mühle am
+anderen Ufer zugewandt ist. Hier muß man den Zugang zum Kanal offen
+halten, und der Feind behält einen Überblick auf die Fortschritte im
+Baugelände.</p>
+
+<p>Gleichzeitig wird ein schöner Backsteinbau mit Giebeln und einer
+verdeckten Veranda für die Hafenwirtschaft errichtet, und zwar direkt
+am großen Hauptportal. Mehrere hundert Arbeiter kommen und gehen
+täglich durch dieses Tor, und sie müssen auch essen und trinken.</p>
+
+<p>Nachdem der Kantinenwirt eingezogen war, ist auch für Herrn Gregor,
+den Vertrauensmann der Hafengesellschaft, im Wirtschaftsgebäude ein
+Schlafzimmer eingerichtet worden.</p>
+
+<p>Wer zum Tor hinein will, muß sich ausweisen, das Wächterhaus ist Tag
+und Nacht besetzt.</p>
+
+<p>Es ergibt sich nun, daß Schwester Emmi eines Abends zufällig vor dem
+Tore steht, als Herr Gregor heimkehrt.</p>
+
+<p>»Wollten Sie vielleicht hier hinein?« fragt Herr Gregor, nachdem er sie
+längere Zeit betrachtet hat.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
+
+<p>»Ach nein«, gibt sie schüchtern und sehr verlegen zurück. »Ich
+wollte nur Frau Reiche rufen und bitten, mir eine Flasche Selter
+herauszubringen. Es ist für eine Kranke, und die Läden sind schon
+geschlossen.«</p>
+
+<p>»Aber bitte, dann kommen Sie nur mit hinein«, sagt Herr Gregor galant
+und führt sie am wachsamen Auge des Torwarts ungehindert vorbei.</p>
+
+<p>Nein, Herr Gregor hat es nicht nötig, sich selbst und seine Begleitung
+auszuweisen. Er ist eine Respektsperson, die hier gleich nach dem
+Hafendirektor eingeschätzt wird.</p>
+
+<p>Seine Liebenswürdigkeit geht so weit, daß er Schwester Emmi bis in den
+Kantinenraum begleitet, der um diese späte Abendstunde nur von einigen
+Herren des Tiefbauamts besucht ist, und er ruft gut gelaunt: »Hier,
+Frau Reiche, bringe ich Ihnen Besuch.«</p>
+
+<p>Schwester Emmi sagt tief errötend: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wie
+ich dem Herrn dafür danken soll.« Damit ist zart angedeutet, daß Herr
+Gregor sich ihr noch nicht vorgestellt hat.</p>
+
+<p>Leider wird der gewünschte Erfolg nicht erreicht, denn der elegante
+junge Mann läßt sich in einer Ecke nieder und bestellt sein Abendbrot.
+Frau Reiche erscheint mit der Selterflasche, und Schwester Emmis
+Mission wäre beendet.</p>
+
+<p>»Vielen, vielen Dank,« flüstert die hübsche kleine Krankenschwester,
+»könnten Sie mir wohl noch — ach, mein Gott«, unterbricht sie sich mit
+einem Griff nach dem Kopf, und sie<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> muß sich auf einen Stuhl fallen
+lassen, »— um ein Glas Wasser wollte ich bitten.« Sie ist wirklich
+einer Ohnmacht nahe.</p>
+
+<p>»Lieber Gott«, ruft die junge Wirtin mit den feuchten dunklen Augen.
+»Das macht die schwere Arbeit, die so eine Krankenpflegerin zu leisten
+hat.«</p>
+
+<p>Herr Gregor begnügt sich damit, die Szene aus einiger Entfernung zu
+beobachten. Er kennt die Frauen und darf von seiner Unwiderstehlichkeit
+überzeugt sein. Es ist ihm ein behagliches Gefühl, Anlaß dieser kleinen
+Szene zu sein, denn darüber braucht nach seiner Ansicht kein Zweifel zu
+bestehen.</p>
+
+<p>Schwester Emmi ist durch den Trank offensichtlich gestärkt. Sie erhebt
+sich schwankend und sagt mit einem kleinen Rundblick: »Ja, es war heute
+ein besonders schwerer Tag.«</p>
+
+<p>Frau Reiche hat allzulange den Wunsch gehabt, über die Ereignisse
+in der Mühle unterrichtet zu werden; darum kann sie es auf keinen
+Fall zulassen, daß dieses arme schwache Geschöpf sich schon allein
+auf den Weg begibt. Sie gießt ihr eine Limonade ein und setzt sich
+mit an den Tisch. Ihr volles blasses Gesicht ist von angespanntester
+Aufmerksamkeit erfüllt.</p>
+
+<p>Schwester Emmi muß sich schließlich zu kleinen Konzessionen
+herbeilassen, aber sie äußert sich so vorsichtig wie nur möglich. Als
+Herr Gregor ein paarmal den Namen Pohl gehört hat, beendet er seine
+Mahlzeit. Wie es dem kleinen Fräulein nun gehe, fragt er, während er
+Frau Reiche das Abendbrot bezahlt. Dabei neigt er den schmalen Rücken,
+daß<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> seine schwarzen Augen verwirrend nahe über Schwester Emmi leuchten.</p>
+
+<p>»O danke, es ist bedeutend besser.« Sie behauptet, nun gehen zu müssen.
+»Aber wird man mich auch herauslassen?« fragt sie schelmisch lächelnd.</p>
+
+<p>»Ohne meine Begleitung sicher nicht«, meint Herr Gregor. Und sie machen
+sich auf den Weg.</p>
+
+<p>»Kommen Sie nur herüber, wenn Sie sich einsam fühlen«, sagt Frau Reiche
+zum Abschied. »Der Herr Gregor wird es schon erlauben.«</p>
+
+<p>Weil die Luft sehr mild und anregend wirkt, gehen die beiden noch
+einige Minuten am Kanal spazieren.</p>
+
+<p>Als Schwester Emmi in ihrem Zimmer angelangt ist und die Selterflasche
+weggestellt hat, denkt sie, daß sie zwar noch nicht viel erreicht habe,
+aber es beständen doch allerhand Aussichten durch die neue Verbindung.</p>
+
+<p>Nun ist ihre Arbeit in diesem Hause bald beendet, und das Wanderleben
+beginnt von neuem. Welche reizbare Dame und welcher krebsrote Säugling
+mochte nun auf sie warten? Nein, dann wäre es doch besser, wenn bei so
+einer großen und mächtigen Firma irgendein Posten für sie geschaffen
+würde und ihr Freiheit und Beständigkeit gäbe. Es geht nicht mehr an,
+daß man in den Tag hineinlebt, ohne ein wenig an die Zukunft zu denken.
+—</p>
+
+<p>Herr Gregor ist von dem Abend wenig befriedigt. Es langweilt ihn doch
+allmählich, seine Tage in Frau Reiches Gesellschaft<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> zu beschließen,
+während draußen das Leben auf ihn wartet. Frau Reiche ist ohne
+Zweifel eine sehr adrette Frau, und ihre feuchten Augen sind nicht zu
+verschmähen, aber wenn man von der Kultur des Zeitalters bis in die
+Fingerspitzen erfüllt ist, bleiben eine Kantinenwirtin oder eine kleine
+wasserstoffblonde Säuglingsschwester nichts weiter als Surrogate.</p>
+
+<p>So geht er denn mit trüben Gedanken noch ein wenig im umfriedeten
+Hafengelände spazieren. Die Erdwälle um die aufgerissenen drei
+Baugruben mit den gerüstartigen Armen der hohen mechanischen Greifer
+bereiten ihm in ihrer dunklen Schwere Unbehagen. Er blickt in eines der
+Becken hinab, in dem man schon mit der Grundwasserabsenkung beschäftigt
+ist, und sieht das Licht des Mondes im lehmigen Naß sich spiegeln.
+Nein, das sind keine Bilder für seine empfindsamen Nerven.</p>
+
+<p>Er geht wieder zu Frau Reiche und hört sich ihre Lamentationen an.</p>
+
+<p>»Keinen Tropfen Alkohol! Auf die Dauer — das habe ich meinem Mann
+gleich gesagt — kann das nicht rentabel sein. Die Arbeiter haben
+zuerst über die Limonaden und die Milch ihre Witze gemacht und es mit
+dem Malzbier versucht, aber jetzt schimpfen sie, und einer nach dem
+anderen geht über die Straße in die Wirtschaft und trägt dem Manne das
+Geld hin«, klagt sie verzweifelt.</p>
+
+<p>»Aber sie dürfen doch das Gelände während der Arbeitszeit nicht
+verlassen. Ich werde mit den Wächtern sprechen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p>
+
+<p>»Ach, das hat ja gar keinen Zweck. Sie gehen in der Freizeit und nach
+Arbeitsschluß doch hin, und neulich habe ich sogar beobachtet, wie
+einer ein Bierfaß auf einem Wagen mitgebracht und im Schuppen abgeladen
+hat. Das war bestimmt kein Lagergut, aber uns wird auf die Finger
+gesehen.«</p>
+
+<p>Herr Gregor lächelt. »Da sieht man, wie der Durst erfinderisch macht.
+Der Durst und die Liebe, Frau Reiche, daran ist nicht zu zweifeln. Ich
+will versuchen, ob sich bei Gelegenheit wenigstens die Erlaubnis für
+den Bierausschank durchdrücken läßt. Doch nun werde ich müde, man geht
+hier eben mit den Hühnern zu Bett. Wo ist denn Ihr Mann, wieder in
+einer Versammlung?«</p>
+
+<p>»Ach der, wissen Sie, seitdem wir die Bäckerei aufgegeben haben, ist
+er kein richtiger Mensch mehr. Er könnte hier ein so schönes Leben
+führen, aber nun hat er sich auch aufs Trinken verlegt, und weil er zu
+Hause nichts hat, muß er eben zu anderen gehn. — Also ich bringe Ihnen
+nachher noch frisches Wasser hinauf, die Herren Bauräte wollen schon
+zahlen«, flüstert sie, während sie die prallen weißen Arme über der
+Brust verschränkt. —</p>
+
+<p>Herr Gregor hat lange keine Gelegenheit, das Alkoholverbot bei Joachim
+Becker zur Sprache zu bringen. Zuviel wichtige Dinge liegen vor, die
+den jungen Direktor bis in den späten Abend beschäftigen und sein
+ungeduldiges Wesen allmählich schwer erträglich machen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span></p>
+
+<p>Sein Sekretär ist längst nicht mehr über alle Vorgänge unterrichtet.
+Es werden neue Ressorts besetzt, andere verantwortliche Kräfte
+herangezogen, die Aussicht haben, aufzusteigen, während der junge Herr
+Gregor nur ein Handlanger bleibt. Seine Einkünfte sind nicht geringer,
+seine Machtstellung nach außen bleibt unbeschränkt — man bemüht sich
+um seine Gunst —, aber er ist nicht zufrieden.</p>
+
+<p>Eines kleinen Triumphes konnte er sich heute unvermutet erfreuen, er
+vermochte seine Genugtuung darüber schwer zu unterdrücken. Da hatte man
+nun wochenlang Konferenzen mit den Bauräten und fremden Kommissionen
+im engen Kreise abgehalten: geheimnisvolle Pakete wurden von den
+Herren persönlich gebracht und wieder mitgenommen, auf dem langen
+Konferenztisch waren Brocken von Erde und Steinen zurückgeblieben. Sie
+glaubten, ihr Geheimnis gut bewahrt zu haben, und heute stand es in der
+Zeitung.</p>
+
+<p>Herr Gregor strich den Artikel rot an und legte ihn Joachim Becker
+wortlos auf den Tisch. So, nun sollte man sehen, daß ihm nichts
+entgehen konnte.</p>
+
+<p>Er wurde nicht gerufen, aber Kommerzienrat Friemann war von seiner
+Rumänienreise zurückgekehrt und sofort in das Zimmer des Hafendirektors
+gegangen.</p>
+
+<p>»Von der Reise zurück?« ruft sein Schwiegersohn überrascht.</p>
+
+<p>»Ja«, sagt der Kommerzienrat und wirft einen prüfenden Blick umher.
+»Man hat auch gleich etwas Neues erfahren.<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> Da habe ich mir zum
+Beispiel unterwegs eine Zeitung gekauft —«</p>
+
+<p>»Ach, meinst du dieses Gefasel hier?« Joachim Becker stößt mit dem
+Finger verächtlich auf den angestrichenen Artikel.</p>
+
+<p>»Allerdings. Was sind das für Erzfunde, und warum hat man mir nichts
+mitgeteilt?«</p>
+
+<p>»Weil es unwesentlich ist. Sie sind nur im Südbecken bemerkt worden,
+während wir im ersten Becken sogar auf Moorboden stoßen und im zweiten
+bereits mit Schwimmbaggern arbeiten. Das Südbecken, das eine Breite von
+sechzig Metern bekommt, enthält die Vorkommen am Ende der südlichen
+Breitseite, außerdem sind es unreine Erze, die erst aufbereitet werden
+müssen. Die Hauptader zieht sich in das dahinterliegende Gelände. Was
+in unserem Becken gefunden wird, ist nicht der Rede wert. Wenn die
+Zeitung fordert, wir sollen die Arbeit einstellen und die Erze fördern,
+so ist das heller Wahnsinn.«</p>
+
+<p>»Wem gehört das dahinterliegende Gelände?«</p>
+
+<p>»Es sind Felder, die augenblicklich noch bestellt werden. Sie sind
+mir vor einigen Wochen bis zum anstoßenden fiskalischen Grund für die
+spätere Erweiterung der Hafenanlagen billig angeboten worden, und ich
+habe sie während deiner Abwesenheit mit Einwilligung unseres Vorstandes
+gekauft, um sie im nächsten Frühjahr als Fußballplätze für die Arbeiter
+einrichten zu lassen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p>
+
+<p>»So, du kaufst Fußballplätze für die Arbeiter! Die Herren vom
+Aufsichtsrat aber fragen an, warum wir nicht die Erze fördern, um
+Geld hereinzubekommen«, sagt der Kommerzienrat nicht ohne Schärfe.
+Er ist im Grunde sehr zufrieden mit der Auskunft, denn so viel hätte
+er nicht einmal erwartet: daß man sich das wertvolle Gelände gleich
+sichern würde. Aber was ist das für ein Gerede von den Fußballplätzen?
+Diese Art Menschen muß ihre raffinierten Geschäftszüge immer mit einem
+idealistischen Mantel bekleiden. Er selbst hätte mit Stolz darauf
+gepocht, wenn ihm der schnelle Kauf noch vor Bekanntwerden der Erzfunde
+gelungen wäre.</p>
+
+<p>Joachim Becker ist sehr blaß geworden. »Wir wollen einen Hafen
+verwalten und keine Erze fördern«, sagt er ruhig.</p>
+
+<p>»Deswegen kann man das neue Gelände richtig ausnutzen«, gibt der
+Kommerzienrat zurück.</p>
+
+<p>»Wenn der Aufsichtsrat es durchaus verschachern will, so steht es ihm
+frei.«</p>
+
+<p>Über das gelbe fette Gesicht des Kommerzienrats zieht eine flüchtige
+Röte. Seine runden Augen, die denen seiner Tochter so verblüffend
+gleichen, werden in der Erregung ebenso starr und ausdruckslos, wie sie
+bei Adelheid beweglich und sprechend sind, woraus man schließen kann,
+daß sie auch vom Verstand zu lenken sind, denn sie verbergen alle seine
+Gefühle.</p>
+
+<p>»Du benutzt das Geld nur zum Ausgeben. Aber das Konsortium muß es
+heranschaffen. Wir wollen auch einnehmen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p>
+
+<p>»Der Hafenbetrieb wird es bringen.«</p>
+
+<p>»Das ist Zukunftsmusik. Wir müssen die Tatsachen nutzen. So kommen
+wir nicht weiter. Die Verträge mit der Eisenbahn sind auch noch nicht
+abgeschlossen. Wir können ohne den Gleisanschluß nicht arbeiten, wenn
+die Speicher fertig sind.«</p>
+
+<p>»Wir werden schon rechtzeitig einig werden. Ich arbeite mit Hochdruck,
+aber man macht mir Schwierigkeiten wegen Lappalien und kommt mit
+bureaukratischem Formelkram dazwischen.«</p>
+
+<p>»Eins der Aufsichtsratsmitglieder von den Banken wird demnächst eine
+Gesellschaft geben und einige Herren von der Bahn einladen.«</p>
+
+<p>»Ich dachte, daß es bei <em class="gesperrt">uns</em> auch auf dem geraden Wege gehen
+kann«, gibt Joachim Becker erregt zurück.</p>
+
+<p>»Mit diesem Draufgängertum kommst du nicht weiter! Das ist der legale
+Weg, die Verhandlungen ein wenig zu glätten. Du erkundigst dich wohl
+nach den maßgebenden Herren und legst mir die Liste vor.«</p>
+
+<p>Der andere gibt keine Antwort, aber er macht sich eine Notiz.</p>
+
+<p>An der Tür wendet sich der Kommerzienrat noch einmal um.</p>
+
+<p>»Übrigens,« meint er nun jovial und nicht mehr kühl geschäftlich wie
+während der ganzen Unterredung, »wir sind heute abend allein, ihr kommt
+wohl ein wenig herüber?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span></p>
+
+<p>»Ich habe sehr viel zu tun«, sagt sein Schwiegersohn mit einem Blick
+auf den Notizblock; aber wie er dann in das breite Gesicht mit den
+warmen Augen des Familienvaters sieht, fügt er entgegenkommender hinzu:
+»Doch ich will sehen, wie ich es einrichten kann.«</p>
+
+<p>Er hat das Verlangen, sich Bewegung zu machen und frische Luft zu
+atmen. Darum bestellt er seinen Wagen und fährt in den Hafen. Herr
+Gregor begleitet ihn.</p>
+
+<p>Nun schreitet die Arbeit in der Höhe und in der Tiefe fort, daß es eine
+Freude ist, seine Augen überallhin schweifen zu lassen. Das werktätige
+Spektakeln der Arbeiter und das Rattern der Maschinen wirken beruhigend
+auf seine Nerven.</p>
+
+<p>»Was wird hier ausgeladen?« fragt er am Kanal den Aufseher.</p>
+
+<p>»Es sind die Dynamitladungen für die Sprengungen im Südbecken«, gibt
+der Mann zurück.</p>
+
+<p>»Wo sollen sie gelagert werden?«</p>
+
+<p>»Ja — hier im Schuppen, da wir noch nichts anderes haben.«</p>
+
+<p>»Wollt ihr die Sprengstoffe in den Holzschuppen geben? Die Keller
+im Getreidespeicher sind fertig. Wir haben sie feuersicher ausbauen
+lassen. Warum wird daran nicht gedacht?«</p>
+
+<p>Herr Gregor stellt fest, daß dieser Mensch alles sieht und immer
+den richtigen Ausweg weiß. Er muß ihn gegen sein inneres Sträuben
+imponierend finden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p>
+
+<p>Dann sucht der Direktor den Oberbaurat Steffens auf, der die Hochbauten
+leitet.</p>
+
+<p>»Wir müssen mit dem Getreidespeicher schneller weiterkommen. Ich sehe,
+Sie sind noch beim zweiten Stock. Die Firma Friemann hat zehntausend
+Tonnen Getreide von der neuen Ernte in Rumänien zu erwarten. Sie
+muß wissen, daß sie es hier lagern kann, ehe sie die Ladungen auf
+den Weg bringt. Zum Herbst also soll der Getreidespeicher mit allen
+Inneneinrichtungen in Betrieb genommen werden. Wir werden die
+Doppelschichten verstärken müssen. Was meinen Sie?«</p>
+
+<p>Direktor Becker hat es sich angewöhnt, nach Erteilung seiner knappen
+Befehle die maßgebenden Herren in dieser Weise um ihre Meinung zu
+bitten. Daß sie stets übereinstimmend lautet, ist selbstverständlich,
+und er hat die wegen seiner Jugend entstandenen Feindseligkeiten,
+besonders von seiten der städtischen höheren Beamten, einfach im Keime
+erstickt.</p>
+
+<p>Nein, es scheint dem jungen Unternehmungsgeist wahrhaftig nicht schwer,
+mit den Menschen fertig zu werden, wenn man nur die Augen offenhielt
+und — die nötige Macht in die Hände bekam. Ob diese Rechnung auch
+immer richtig aufgehen würde?</p>
+
+<p>Für jeden Fall hat Joachim Becker sich hier, wo ihm das letzte Wort
+zu sagen bleibt, wieder Kraft geholt. Nun kann er in sein Bureau
+zurückfahren und weiterarbeiten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p>
+
+<p>Irmgard Pohl sieht ihn, wie er in seinen Wagen steigt. Sie ist zum
+ersten Male vor das Haus gegangen und betrachtet es als eine Probe auf
+ihre inneren und äußeren Kräfte, daß sie zuerst dem Menschen begegnet,
+der ihr Gleichgewicht am meisten erschüttern kann.</p>
+
+<p>Aber nun will sie mit den Leistungen ihrer Energie noch weiterkommen:
+sie geht zu ihrer Mutter hinauf, um den alten Kampf mit der
+fürchterlichen Krankheit aufzunehmen, die geheimnisvoll und ohne
+Angriffsmöglichkeiten ist.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Mutter«, sagt sie mit ihrer hellen festen Stimme. »Nun bin
+ich wieder gesund.«</p>
+
+<p>»Ja,« erwidert Frau Pohl weinerlich gedehnt, »bist du krank gewesen?«</p>
+
+<p>»Hat die Schwester es dir denn nicht gesagt?«</p>
+
+<p>»Vielleicht hat sie es auch gesagt. Sie kann nur immer schwatzen und
+hier herumstehen. Aber auf mein Kind gebt ihr nicht acht.« Ihr Gesicht
+ist hart und unduldsam. »Wirst du dir jetzt mehr Mühe geben und
+arbeiten, wie es sich gehört?«</p>
+
+<p>»Aber gewiß, Mutter, das will ich tun. Wir arbeiten alle, soviel es
+geht. Hörst du die Maschinen und die Arbeiter? Da ist keiner träge.«</p>
+
+<p>»Ich kann es ja nicht kontrollieren. Der Vater und du, ihr könnt es mir
+wohl sagen, aber ich denke mir mein Teil. Ihr habt immer Ruhe, hier zu
+stehen und eure Zeit totzuschlagen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p>
+
+<p>»Aber wir müssen doch nach dir sehen und uns um dich kümmern. Ich will
+dir dein Bett richten.«</p>
+
+<p>»Mich laßt nur in Frieden, um mich ist es nicht schade«, gibt die
+Gelähmte zurück. Aber sie läßt es schweigend geschehen, daß die Tochter
+ihren elenden steifen Körper aufrichtet und die Kissen glättet. Dann
+verfällt sie wieder in die alte Apathie und gibt keine Antwort mehr.</p>
+
+<p>Irmgard geht müde die Treppen hinab. Immer ist sie, von Mitleid und
+Liebe erfüllt, mit einem Herzen, das sich restlos verschenken will,
+hinaufgegangen und entmutigt zurückgekommen. Fünf Jahre lang, und nun
+ist sie einundzwanzig Jahre alt.</p>
+
+<p>Im Kopfe dieser Frau hatten auch in gesunden Tagen nur zwei Gedanken
+Platz: die Arbeit und der Sohn. Sie hat ihrem Mann und der Tochter das
+Leben damit verdunkelt und sich selbst zur Sklavin gemacht, und als der
+Sohn endlich kam und ihr wieder genommen wurde, sind sie zur fixen Idee
+geworden: die Arbeit und der Sohn ...</p>
+
+<p>Wie Irmgard in die Küche gehen will, um auch hier nach dem Rechten zu
+sehen, wird ihr plötzlich die Tür aus der Hand gerissen.</p>
+
+<p>Ein furchtbares Getöse fliegt durch das Haus, die Luft dröhnt gegen
+die Fensterscheiben, daß sie klirrend zerspringen; ein neuer, noch
+stärkerer Knall droht Irmgard den Kopf zu sprengen. Halb irrsinnig
+rennt sie gegen den Hintereingang. Die offene Tür ist aus den Angeln
+gerissen, Geröll liegt auf<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> dem Wege, und als Irmgard aufblickt, sieht
+sie an der Stelle, wo der halbfertige Getreidespeicher stand, eine
+Rauchsäule, die aus Schutthaufen und leeren Eisengerüsten weht.</p>
+
+<p>Schwester Emmi kommt auf ihren hochhackigen Schuhen stolpernd gerannt.</p>
+
+<p>»Eine Explosion«, schreit sie mit schriller Stimme. »Ich will
+Verbandzeug holen und helfen —« fügt sie atemlos hinzu.</p>
+
+<p>Irmgard, die ihr entgegengeht, fällt die Mutter ein.</p>
+
+<p>»Und das Kind«, ruft sie entsetzt. Sie stürzt in ihr Schlafzimmer,
+reißt den Säugling aus den Betten. Er schläft und stemmt sich mit
+erwachender Kraft gegen ihren Arm.</p>
+
+<p>Sie möchte laut lachen und weinen zugleich. Da sieht sie eine Gestalt
+neben dem Kinderbett liegen.</p>
+
+<p>»Frau Pohl« — stammelt die Schwester, die in ihrer Verwirrung Irmgard
+gefolgt war. Sie werden beide von einem mystischen Schauer erfaßt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Vita_somnium_breve"><em class="antiqua">Vita somnium breve</em></h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-d003" src="images/drop-d003.jpg" alt="d">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>ie Frauen heben die Ohnmächtige auf und legen sie über das Bett. Und
+siehe: die Glieder sind leicht und gelöst, sie lassen sich biegen und
+bewegen. Der Schrecken hat die Gelähmte von ihrem Bann befreit. Sie,
+die seit fünf Jahren das Bett nicht verlassen hat, konnte die Treppen
+hinabgehen, und erst hier, neben dem Kinde, das sie für ihren Sohn
+hielt, brach sie zusammen.</p>
+
+<p>Sie massieren den kalten Körper, packen ihn in angewärmte Decken. Das
+Blut beginnt zu kreisen, leise rührt sich die Kranke, sie hebt einen
+Arm, sie öffnet die Augen. Ihr Blick aber ist nicht ausdruckslos und
+ohne Richtung. Er umfaßt die Tochter, und leise, zärtlich fragt sie:</p>
+
+<p>»Bist du es, Irmgard?«</p>
+
+<p>»Ja, Mutter.« Es ist seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie aus diesem
+Munde ihren Namen hört.</p>
+
+<p>»Wie geht es unserem Michael?«</p>
+
+<p>»Er ist gesund, Mutter.«</p>
+
+<p>»Willst du ihn mir einmal geben, meinen kleinen Sohn?« Und es ist
+wiederum seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie nach dem Kinde
+verlangt. Ihre Stimme klingt sanft, erfüllt vom bangen Gefühl für das
+mütterlich verschenkte Leben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p>
+
+<p>Irmgard Pohl nimmt zitternd den Knaben, Joachim Beckers Sohn, aus den
+Kissen und legt ihn der Mutter in den Arm.</p>
+
+<p>»Er schläft, immer schläft er,« flüstert die Kranke, »er wird stark und
+gesund werden, ich habe es gewußt.«</p>
+
+<p>Sie lehnt ihr mageres Gesicht hingegeben an den warmen kleinen Leib.</p>
+
+<p>»Und nun leg' ihn wieder hierher, daß er in meiner Nähe bleibt, dann
+will ich schlafen. Ich bin noch sehr müde und schwach. Er hat mir so
+viel Kräfte genommen, unser Stammhalter« fügt sie schmerzlich lächelnd
+hinzu.</p>
+
+<p>Fünf Jahre sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht, hier liegt ihr Sohn
+voll Leben und Wärme, und sie wendet sich auf die Seite zu dem langen,
+erquickenden Schlaf, der die jungen Mütter nach ihrer großen Stunde
+umfängt.</p>
+
+<p>»Ich habe es geahnt, daß sie damit zu heilen ist«, flüstert Schwester
+Emmi, als sie die Tür hinter sich schließen, Irmgard und sie, die sich
+nun zur Wirklichkeit zurückfinden.</p>
+
+<p>Sie suchen Verbandzeug und Tücher, soviel die Schwester tragen kann,
+und dann geht sie hinüber zur Unfallstätte, während Irmgard hier Wache
+hält und auf den Vater wartet.</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer ist in der Stadt gewesen, während das Unglück
+geschah. Auf dem Heimwege, in der Bahn, wird bereits davon gesprochen.
+Und er eilt mit schwachen Füßen über die Föhrbrücke, er, der so kräftig
+in seinen hohen Stiefeln<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> zu stapfen gewohnt ist. Aber sein Haus steht
+da, hell und mit bunten Fensterrahmen, auch sein Speicher steht und
+seine Mühle.</p>
+
+<p>Nun erst blickt er auf die Verwüstungen im Nachbargelände. Ist es
+nicht, als hätte Gottes Hand diesen Bau von Stein und Eisen umgelegt,
+der wie ein Denkmal für verlorenes Menschentum vor seinen Augen
+aufgewachsen war? Gleich einer großen mahnenden Faust ragen die
+verbogenen Eisensparren über dem verfallenen Gestein. Und Michael Pohl
+streicht allen Haß aus seinem Herzen.</p>
+
+<p>Irmgard geht ihrem Vater entgegen und berichtet flüsternd von dem
+Vorfall im eigenen Hause.</p>
+
+<p>»Nun können wir ihm seinen Namen geben«, sagt sie zum Schluß. »Er heißt
+Michael.«</p>
+
+<p>Als die Schwester endlich bei der Unglücksstätte anlangt, sind schon
+Ärzte und freiwillige Helfer da. Sie reißen ihr die Tücher aus den
+Händen und geben ihr Arbeit, soviel sie nur schaffen kann.</p>
+
+<p>Auch die Neugierigen fehlen nicht und die Reporter, die bei solchen
+Ereignissen immer zufällig in der Nähe sind. Sie haben den Schaden
+bereits gezählt und stürzen an das Telephon der Hafenwirtschaft. Frau
+Reiche richtet die Zimmer und Betten für die Verwundeten.</p>
+
+<p>»Großes Explosionsunglück beim Hafenbau!« melden die Extrablätter in
+der Stadt, und die Maschinen stampfen es schon in die Abendausgaben.
+»15 Tote! 46 Verwundete.<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> Der halbfertige Getreidespeicher zerstört!
+Das Nordbecken von den Trümmern verschüttet! Millionenschaden!
+Untersuchungen über die Ursache sind im Gange.«</p>
+
+<p>Joachim Becker war kaum vom Hafen zurückgekehrt, als ihm das Unglück
+gemeldet wurde.</p>
+
+<p>Nun steht er wieder an der Stelle, wo er vor einer Stunde seine
+Befehle gab, und spürt zum ersten Male in seinem jungen, von Arbeit
+und Erfolgen prall erfüllten Leben den Hammer eines unerbittlichen
+Geschickes.</p>
+
+<p>Und zum ersten Male ist ein Stillstand in ihm eingetreten. Er findet
+sich im alten Schuppen, der mit seinen Holzwänden noch unbeschädigt an
+die Vergangenheit gemahnt, und sieht der flinken blonden Schwester zu,
+die lautlos an den Opfern vorbeihuscht und ihre Zahl auf einem Zettel
+notiert.</p>
+
+<p>»Es sind bis jetzt 28 Tote«, haucht sie beklommen an der Tür. Joachim
+Becker nimmt es unbewußt auf und richtet seine entspannten Augen, die
+in dem hellen offenen Gesicht sich dunkelnd vertiefen, über das Gelände
+mit den Trümmerhaufen, dem zerwühlten Becken, das wie ein Krater
+schwarz und naß die Arbeitenden verschluckt hat; er sieht die aufgeregt
+hastenden Menschen, die Krankenwagen, die Verwundeten und die Toten.</p>
+
+<p>Und er sieht noch einmal das fertige Werk seiner wirklichkeitsnahen
+Träume: eine Reihe von langen und breiten Hafenbecken mit
+Tausend-Tonnen-Schiffen in vier Reihen, Speicher und Verladebrücken,
+die schwarz aufragenden Arme<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> der Krane, das Turmhaus der Verwaltung,
+den Freihafen mit seinen direkten Ladungen aus aller Welt. Daneben
+aber die Siedlungen für die dem Teufel Alkohol entronnenen
+Arbeiter, helle Häuser mit Blumen in den Gärten, die Badehallen und
+Schwimmanstalten, die Spielplätze für die Kinder und die Sportwiesen
+für die menschgewordenen Sklaven der Arbeit. Nein, nicht mehr Sklaven
+sieht er: freie Menschen, dem Lichte zurückgegeben, den uralten Straßen
+— den Wasserwegen mit der staubfreien Luft und den grünen Ufern —
+wiedergeschenkt.</p>
+
+<p>Hier aber liegen seine ersten Helfer: in die Erde gewühlt, unter
+Trümmern begraben, verstümmelt für die letzte kurze Strecke ihres
+Lebens; von Schmerzen verzerrt.</p>
+
+<p>Er folgt ohne Bewußtheit der Krankenschwester, die hier eine
+schluchzende Frau in den Arm nimmt und tröstet, dort einem Verwundeten
+den Verband anlegt. Er findet sich in der Hafenwirtschaft, im großen
+Raum mit eilig gerichteten Krankenlagern und sieht, wie seine »freien
+Menschen« auf Bahren gepackt und zu den Krankenwagen davongetragen
+werden. Er sitzt auf einer Kiste und betrachtet die leichten Bewegungen
+der Schwester, die das Verbandzeug zurechtlegt und auf weitere
+Verwundete wartet. Er hört seine eigene Stimme wie die eines Fremden,
+als er fragt:</p>
+
+<p>»Sind Sie von der Rettungsstation?«</p>
+
+<p>»Nein,« gibt Schwester Emmi leise zur Antwort, »ich war in der Nähe,
+als das Unglück geschah.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p>
+
+<p>»Wir werden wohl noch oft solche Hilfe brauchen«, sagt er müde. »Wenn
+Sie wollen, können Sie zu uns kommen — für unsere Fürsorgestelle«,
+fügt er, nach dem ersten aufbauenden Gedanken, hinzu.</p>
+
+<p>Schwester Emmi neigt sich über ihre Verbandrollen. Man gibt ihr ein
+Amt, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, und man fragt nicht:
+wer bist du, woher kommst du, was hast du gelernt und — wie steht es
+mit den moralischen Qualitäten für den Posten? Man sagt: wenn <em class="gesperrt">du
+willst</em> — Und sie blickt mit ihren tränenüberströmten Augen zu
+Joachim Becker empor. Da steht er rasch auf und verläßt wortlos den
+Raum.</p>
+
+<p>Wie sie später, nachdem alle Verwundeten in die Krankenhäuser geschafft
+und die Toten aufgebahrt sind, am Hafendirektor vorbeikommt, wagt sie
+nicht mehr, ihm zu danken.</p>
+
+<p>Er diktiert einem Manne: »38 Tote, 75 Verwundete. Erste Explosion beim
+Ausladen im Tor des Getreidespeichers. Ursache nicht aufgeklärt. Durch
+Entzündung der auf dem Wagen befindlichen restlichen Sprengstoffe
+ein Teil des Nordbeckens verschüttet. Die feuersicheren fertigen
+Kelleranlagen des Speichers fast unversehrt. Materialschaden nicht
+bedeutend.«</p>
+
+<p>Schwester Emmi schlüpft scheu vorbei.</p>
+
+<p>Aber vor Irmgard Pohl ist sie in ihrer Erregung ungehemmt. Sie
+berichtet unter Tränen — nicht mehr von dem, das die vielen betraf.
+Sie hatte ihnen geholfen, wortlos,<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> selbstverständlich. Nun aber steht
+ihr eigenes Schicksal im Vordergrund.</p>
+
+<p>»Als er sich umdrehte,« sagt sie, »so plötzlich, daß sein Gesicht nicht
+mehr zu sehen war, da wußte ich, daß ich diesen Menschen doch niemals
+hassen könnte.«</p>
+
+<p>Und mit den Gefühlen der Angestellten vor dem höchsten Vorgesetzten
+fügt sie hinzu: »Ich glaube, daß er weinen kann wie wir.«</p>
+
+<p>Irmgard Pohl streicht mit ihrer ruhigen Hand über die Haare der
+Schwester. »Ich wußte es, daß er kein schlechter Mensch ist«, sagt sie
+leise. »Wenn ihm doch Gott alles zum Guten führen wollte!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Aufsichtsrat">Der Aufsichtsrat</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-d002" src="images/drop-d002.jpg" alt="D">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>as ist ausgezeichnet«, sagt Kommerzienrat Friemann zu Bankdirektor
+Ellgers, indem er ihn mit einer Handbewegung in sein Zimmer ladet.</p>
+
+<p>»Wir haben zwei Minuten Zeit zum Plaudern«, meint der Finanzmatador mit
+seiner brüchigen Stimme, als seien zwei Minuten das größte Zeitopfer,
+das er zu vergeben habe. »Wir fangen doch pünktlich an?«</p>
+
+<p>»Gewiß, allerdings«, versichert der Kommerzienrat. Er weiß, daß die
+Konferenzen mit Direktor Ellgers auf die Sekunde zu beginnen haben.</p>
+
+<p>Das fleckige Greisengesicht des Bankdirektors mit dem gefärbten
+schwarzen Bart erwartet unbewegt die zwanglosen Erklärungen des andern.
+Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat es nicht nötig, Fragen zu
+stellen, die ihm vor der Sitzung zu beantworten sind.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat beeilt sich, im gewünschten Plauderton das Nötige zu
+sagen.</p>
+
+<p>»Also dieser Becker,« beginnt er, »es ist doch ein Teufelskerl! Da hat
+er nun in aller Stille, als die ersten Erzfunde geheimgehalten wurden,
+das ganze private Gelände aufgekauft.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p>
+
+<p>»Für die Hafengesellschaft!« wirft Ellgers kurz und mit dem Ton der
+Selbstverständlichkeit ein.</p>
+
+<p>»Natürlich, natürlich, für die Hafengesellschaft. Die Sache hat einen
+Pappenstiel gekostet, so daß der Vorstand es in der Eile unter sich
+abmachen konnte. Nun bietet man den vierzigfachen Betrag. Und warum?«</p>
+
+<p>Direktor Ellgers sieht ihn ungerührt an.</p>
+
+<p>»Weil die Presse zuviel Geschrei darum macht«, beantwortet der
+Kommerzienrat die Frage selbst. »Sie sehen einen neuen riesenhaften
+Industriebezirk und behandeln die Sache mit einer geradezu
+ausschweifenden Phantasie.«</p>
+
+<p>»Hm, ausschweifende Phantasie«, wiederholt Ellgers. »Da wollen wir uns
+jetzt in das Sitzungszimmer begeben.«</p>
+
+<p>Kommerzienrat Friemann zieht höflich seine Taschenuhr.</p>
+
+<p>»Richtig. — Rauchen Sie eine von diesen Zigarren?«</p>
+
+<p>»Danke.« Ellgers bedient sich und steckt die Zigarre in sein Etui.</p>
+
+<p>Im Sitzungszimmer sind bis auf Stadtrat Richter, der abgerufen wurde,
+sämtliche Herren versammelt.</p>
+
+<p>Direktor Ellgers ist nicht dafür, Zeit zu verlieren. Er begibt sich auf
+seinen Platz am Kopf des Tisches und eröffnet die Sitzung:</p>
+
+<p>»Obgleich der zweite stellvertretende Vorsitzende, Herr Stadtrat
+Richter, erst einige Minuten später erscheint, eröffne ich die Sitzung.
+Herr Kommerzienrat Friemann, der stellvertretende Vorsitzende, hat
+uns in einer wichtigen Angelegenheit<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> zusammengerufen und gibt seine
+Erklärungen durch Hafendirektor Becker ab.«</p>
+
+<p>Joachim Becker bittet zunächst die Anwesenden, in stummer Würdigung
+der bei dem Hafenbau verunglückten Helfer und Mitarbeiter sich von den
+Plätzen zu erheben.</p>
+
+<p>Kommerzienrat Friemann blickt seinen Schwiegersohn hilflos warnend an.
+Seine Ansicht ist, daß dieser junge Dachs nicht nachholen dürfte, was
+der erste Vorsitzende unterließ. Wieviel Mühe muß er wieder aufwenden,
+um diesen Fehler gutzumachen!</p>
+
+<p>Die Herren erheben sich in ungeordneter Reihe, die einen zögernd, die
+anderen ruckartig, Direktor Ellgers mit einem kurzen scharfen Blick auf
+den Hafendirektor.</p>
+
+<p>Joachim Becker läßt seine Augen mit überlegener Ruhe die Reihen
+entlangschweifen. Er hat seinen Platz neben dem leeren Stuhl des
+Stadtvertreters, gegenüber <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann, dem Mitinhaber der
+Privatbank, und Kommerzienrat Friemann. Er stellt fest, daß die meisten
+Herren es vorziehen, ihre Blicke während seiner Rede der Tischplatte
+anzuvertrauen.</p>
+
+<p>Er spricht zunächst von dem Unglück und gibt Aufschluß über die genaue
+Zahl der Opfer. Entschädigungen an Verletzte und Hinterbliebene
+seien nicht zu zahlen, da alles ordnungsgemäß durch Versicherungen
+gedeckt war. Nur dem Nachbarn, Mühlenbesitzer Pohl, seien zersprungene
+Fensterscheiben und Beschädigungen am Hause zu ersetzen. Dann<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> erörtert
+er eingehend die Ursache. Er selbst habe die Anordnung gegeben, die
+Sprengstoffe im fertigen feuersicheren Keller des Getreidespeichers zu
+lagern. Die Explosion sei im Haupteingang, wahrscheinlich durch eine
+Unvorsichtigkeit während des Ausladens, entstanden.</p>
+
+<p>»Wir sehen daran, wie wenig der Mensch seinem Schicksal entrinnen kann.
+Hätten wir den falschen Weg gewählt und die Ladung im alten, abseits
+gelegenen Holzschuppen untergebracht, so wäre das fahrlässig gehandelt
+gewesen, doch wir hätten Menschenleben geschont und großen Schaden
+verhütet«, sagt er weiter mit bewegter Stimme. Aber er fühlt wieder die
+starren, warnenden Blicke des Kommerzienrats und sieht, wie <em class="antiqua">Dr</em>.
+Immermann mit dem Bleistift auf seinem Papier immer das gleiche Wort
+malt.</p>
+
+<p>»Erze« entziffert er. Fünfmal, sechsmal das Wort »Erze«. Und es trifft
+ihn wie ein Peitschenhieb.</p>
+
+<p>Dann spricht er vom zerstörten Getreidespeicher, vom Nordbecken.
+Daran sei zuerst und mit nicht zu überbietender Leistungsfähigkeit
+gearbeitet worden. Beide sollten bereits im Herbst in Betrieb genommen
+werden, während man an den übrigen Hoch- und Tiefbauten in Ruhe
+weitergearbeitet hätte.</p>
+
+<p>Kommerzienrat Friemann, der nun auch auf seinem Notizblock zu malen
+begonnen hat, räuspert sich und schreibt mit dicken Buchstaben seinen
+Namen auf das Papier.</p>
+
+<p>»Friemann — Getreide en gros« liest Joachim Becker, unwillkürlich
+darauf hingelenkt, und er fährt fort:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p>
+
+<p>»Die größten Verluste erleidet dadurch der Getreidehandel.« Der
+Kommerzienrat legt seinen Bleistift hin.</p>
+
+<p>»Die Aufräumungsarbeiten werden zuviel Zeit erfordern, wir müssen daher
+unseren Plan, zuerst den Getreidehafen fertigzustellen, aufgeben. Durch
+die von der Firma Friemann zufallenden bedeutenden Getreideladungen
+wären unsere Einrichtungen gleich zu Anfang vollkommen ausgenutzt
+worden. Der Schaden trifft nun noch empfindlicher die Firma Friemann
+als uns. Wir werden uns zunächst dem Bau des Mittelbeckens mit
+den Lagerhallen und Zollspeichern zuwenden. Da der Winter hemmend
+dazwischentritt, ist mit der Eröffnung erst im nächsten Frühjahr zu
+rechnen.«</p>
+
+<p>Der erste Vorsitzende sieht mit unverkennbarer Ungeduld auf, und
+Kommerzienrat Friemann gibt seinem Schwiegersohn ein Zeichen, daß er zu
+sprechen wünsche.</p>
+
+<p>Nach den lauten, klingenden Worten Joachim Beckers wirkt seine
+gedämpfte Stimme besonders tonlos, aber gereift und zuverlässig.</p>
+
+<p>»Der entstandene Schaden,« führt er aus, »die verhinderte ersprießliche
+Lagertätigkeit, die geeignet gewesen wäre, selbst im Winter bereits die
+Unterhaltskosten zu decken, sind zwar sehr bedauerlich, ein glücklicher
+Ausgleich aber wird sie uns verschmerzen lassen. Wir haben nicht nur
+die Möglichkeit, die durch das Unglück ausfallende Summe zu decken,
+sondern sogar einen ganz erheblichen Überschuß zu erzielen. Und das,
+meine Herren, das durch die Erzvorkommen und<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> durch das geschickte
+Eingreifen der Hafendirektion, die sich das wertvolle Gelände, soweit
+es sich in Privatbesitz befand, für einen geradezu lächerlichen
+Kaufpreis sicherte. Man bietet uns dafür den vierzigfachen Betrag. Herr
+Direktor Becker wird Ihnen darüber berichten.«</p>
+
+<p>Ein befreiendes Aufatmen ist allgemein spürbar.</p>
+
+<p>Und Joachim Becker beginnt damit, daß die Förderung im Becken selbst
+gering sei.</p>
+
+<p>»Warum wurden dann die großen Mengen Dynamit benötigt?« wirft Direktor
+Othwig — der Vertreter der Spedition — ein.</p>
+
+<p>Joachim Becker war im ersten Augenblick bereit zu fragen, ob man seinen
+Worten mißtraue, aber er sieht in das Gesicht seines Schwiegervaters
+und antwortet:</p>
+
+<p>»Geringfügig ist die Ausbeute, weil es sich um Pocherze handelt, die
+nur in einem schmalen Streifen, aber in der ganzen Beckenlänge von
+fünfhundert Metern auftreten. Das Vorkommen fällt schräg ab und wird
+nach den bisherigen Untersuchungen auf dem benachbarten Gelände in
+einer Tiefe erscheinen, die vielleicht eine rentable Ausbeute möglich
+erscheinen läßt.«</p>
+
+<p>Joachim Becker verliest die Protokolle der Untersuchungskommission
+und geht nach Erörterung des Geländekaufs auf die günstigen Angebote
+über. Bis auf die Verhüttungs-Aktiengesellschaft, die allerdings
+erst kürzlich durch eine Fehlspekulation eine Einbuße erlitten habe,
+handle es sich nur<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> um neue und zum Teil zweifelhafte Unternehmen. Er
+gibt die Namen bekannt und vertritt die Ansicht, daß man die Angebote
+der seriösen Firmen abwarten müsse, die sich erst nach eingehenden
+Untersuchungen äußern wollen.</p>
+
+<p>Direktor Gidli von der Flußschiffahrt meint, daß der Kurzentschlossene
+vorzuziehen sei, und beantragt eine Debatte über die Angebote.</p>
+
+<p>Joachim Becker fragt Direktor Haarland von der Eisenindustrie, ob er
+sich als Mitglied des Konsortiums zunächst ein Vorrecht sichern wolle.</p>
+
+<p>Direktor Haarland, der einzige, der in seinem Stuhl, anscheinend
+gelangweilt, zurückgelehnt liegt und die langen Beine ausstreckt, winkt
+mit einem Augenzwinkern und einer kaum spürbaren Bewegung seines großen
+Kopfes ab.</p>
+
+<p>Stadtrat Richter ist jetzt hinzugekommen, und die Beratung über die
+Angebote wird eröffnet. Bankdirektor Ellgers bricht sie kurz ab mit dem
+Antrag, sofort eine Ausschreibung vorzunehmen und in jedem Fall der
+Verhüttungs-Aktiengesellschaft den Zuschlag zu geben, bei sofortiger
+Barzahlung.</p>
+
+<p>Joachim Becker erhebt impulsiv die Hand, und Kommerzienrat Friemann
+beeilt sich, den Antrag zu unterstützen. Er wird ohne Zwischenfall
+einstimmig angenommen.</p>
+
+<p>Stadtrat Richter bittet, im Interesse der Stadt, die wegen der
+Verpachtung der Ladestraßen ohnehin schon genug angegriffen werde,
+dafür Sorge zu tragen, daß die Mitteilungen<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> über das Unglück gemildert
+würden. Man habe eine Sensation daraus gemacht, und nicht nur das
+Ansehen der Stadt, die doch an der Hafengesellschaft beteiligt sei,
+sondern auch die Idee von der Notwendigkeit des Hafens leide darunter.</p>
+
+<p>Direktor Kohan meinte, daß die Presse eine selbständige Macht sei, die
+sich nicht gebrauchen lasse, wie man Lust habe, aber Kommerzienrat
+Friemann findet auch hier einen glücklichen Ausgleich.</p>
+
+<p>»Gewisse Angriffe sind uns eine Zeitlang sogar nützlich gewesen,«
+sagt er zur allgemeinen Überraschung, »ja, ich betone: nützlich,
+und zwar aus folgendem Grunde: die Eisenbahn hat noch immer nicht
+ihre Zustimmung zu den vorgeschlagenen Verträgen gegeben. Sie macht
+Schwierigkeiten, weil sie uns fürchtet. Gewiß, unsere Frachten sind
+billiger, und über die Leistungsfähigkeit gegenüber der Bahn wollen
+wir heute noch nicht zuviel sagen, aber wir brauchen den Bahnanschluß.
+Nun wird gegen uns Stimmung gemacht, man bekommt den Eindruck, daß es
+mit uns doch nicht so zu gehen scheine, wie man nach den Projekten
+erwartet hatte, und — die Eisenbahn gibt es langsam auf, in uns eine
+gefährliche Konkurrenz zu sehen. Sie wird gefügiger. Wir stehen kurz
+vor dem Vertragsabschluß. Wenn diese Frage geklärt ist, wird sich das
+Weitere schon finden.«</p>
+
+<p>Dieser Friemann, dieser mit allen Wassern gewaschene Getreidehändler,
+er weiß doch wahrhaftig auch das Negative so zu nutzen, daß es zum
+Vorteil gereicht. Man kann sich ihm<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> anvertrauen und erwarten, daß
+er den in der Diplomatie allzu unerfahrenen Schwiegersohn noch
+erziehen werde. Jedenfalls ist man geneigt, die Verdienste um
+die Hafengesellschaft ihm allein zuzuschreiben — seinem wachen
+Geschäftsgeist, seiner unübertrefflichen Geschicklichkeit.</p>
+
+<p>Man geht vollkommen beruhigt zum nächsten Punkt der Tagesordnung
+über, und Joachim Becker spricht von dem Beteiligungsangebot der
+Seehafenreedereien. Die Bedingungen sind unannehmbar, die Leute in den
+Seehäfen nutzen ihre Macht.</p>
+
+<p>»Sie müssen ihre Überlegenheit verlieren,« sagt er mit erhobener
+Stimme, »das aber ist nur möglich, wenn sie eine Gegenmacht spüren,
+wenn sie wissen, daß wir nicht auf Tod und Leben von ihnen abhängig
+sind. Darum brauchen wir unsere Stützpunkte. An der Nord- und Ostsee
+sind noch andere Häfen, kleine Küstenstädte, deren Lage sich ausnutzen
+läßt. Zum Teil haben sie noch nicht einmal einen Freihafen. Sie werden
+von den Kommunen verwaltet, erfordern Zuschüsse und sind ihren Bürgern
+sogar eine Last. Wenn wir aber unsere Hand darauflegen und die zum Teil
+schon recht leistungsfähig ausgebauten, aber kaufmännisch schlecht
+verwalteten Häfen zu unseren Stützpunkten machen, so erlangen wir
+unsere Unabhängigkeit. Ebenso wie die weitsichtige und gutberatene
+hiesige Stadtvertretung den Ausbau ihres Hafens der Privatwirtschaft
+überließ, so werden auch diese Städte dem Gedanken nicht unzugänglich
+sein. Ich bitte Sie daher,<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> sich schon heute darüber schlüssig zu
+werden, ob wir diesen Weg beschreiten wollen, und mir die nötigen
+Mittel zu bewilligen.«</p>
+
+<p>Er nennt die betreffenden Hafenplätze und erwartet die Meinungen.</p>
+
+<p><em class="antiqua">Dr.</em> Immermann, der bei den Sitzungen stets den Eindruck
+hervorruft, als ob er im Schlafe unter hypnotischem Zwang den Bleistift
+führe, meint, ohne seine Kritzeleien zu unterlassen:</p>
+
+<p>»Ich halte den Zeitpunkt für verfrüht. Erst müssen wir selbst
+verdienen.«</p>
+
+<p>Joachim Becker fährt im alten Fluß seiner Rede fort: »Ganz abgesehen
+davon, daß wir durch einen ersten Schritt auf diesem Wege schon jetzt
+den großen Seehäfen unsere Taktik verraten müssen, damit sie ihre
+Bedingungen ändern, ist es notwendig, zu handeln, ehe unsere hiesigen
+Erfolge sichtbar werden. Wenn wir erst gezeigt haben, wie es gemacht
+wird, und daß wir gut auf unsere Rechnung kommen, werden sich andere
+Geldleute finden, die ihre Hand auf die übrigen Häfen legen oder
+mindestens die Forderungen der Kommunen in die Höhe schrauben.«</p>
+
+<p>»Oder die Kommunen machen es selbst nach unserem Rezept«, wirft Herr
+Kohan ein. Über die starren Gesichter der Tafelrunde zieht der Schimmer
+eines Lächelns.</p>
+
+<p>»Ich verlange nicht schon heute die Bereitstellung der Summe, ich
+will nur wissen, ob ich damit rechnen kann, um<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> rechtzeitig mit der
+Bearbeitung zu beginnen. Ich würde sofort zuverlässige Mitarbeiter
+an den betreffenden Plätzen damit beauftragen, zunächst die
+Unzufriedenheit mit dem jetzigen Zustand in der Öffentlichkeit und der
+Stadtvertretung zu schüren und dann das Wort ›Privatwirtschaft‹ in
+die Debatte zu werfen. Dann brauchen wir noch geraume Zeit, bis alle
+maßgebenden Kreise die richtige Meinung davon erhalten haben, und wenn
+das Feld dann so weit bereitet ist, können wir auf eine Aufforderung
+hin unsere niedrigsten Gebote machen.«</p>
+
+<p>Der Hafendirektor, der damals vor dem gleichen Auditorium das Projekt
+für den Hafen dieser Stadt auseinandersetzte, blickt sich ein wenig um,
+wie man die Erweiterung seines eigenen Planes aufnehme und ob er diesen
+Zahlenmaschinen endlich einmal imponiere.</p>
+
+<p>Aber nur Herr Kohan starrt ihn durch seine dicken Brillengläser an. Der
+halbgeöffnete Mund, im gepflegten rosigen Gesicht mit dem weißen Haar
+und Bart, verrät ebenso Verständnislosigkeit wie Bewunderung. Sonst
+sieht er ringsum undurchdringliche Masken.</p>
+
+<p>»Dazu kommen«, setzt er fort, »noch drei Binnenplätze mit fertig
+ausgebauten Häfen, die wir für den Umschlag benötigen.«</p>
+
+<p>»Welche sind das?« fragt Herr Gidli mit großem Eifer.</p>
+
+<p>Joachim Becker nennt sie und fügt lächelnd hinzu: »Ihre Strecken kommen
+für uns nicht in Frage.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
+
+<p>»Die halten wir auch besetzt«, beeilt sich Herr Gidli, der Vertreter
+der Flußschiffahrt, zu bemerken.</p>
+
+<p>»Welche Höchstsumme wird erforderlich?« fragt Bankdirektor Ellgers.</p>
+
+<p>»Zehn Millionen. Die Abnahme kann sich auf vier Jahre, also bis zur
+vollkommenen Fertigstellung unseres Hafens, erstrecken.«</p>
+
+<p>»Ich bin für den Antrag und bitte um Abstimmung.«</p>
+
+<p>Der Antrag wird angenommen.</p>
+
+<p>Kommerzienrat Prüfer vom Importhandel hält es für angezeigt, trotz den
+Unfallrenten etwas für die Hinterbliebenen zu tun, und schlägt eine
+Sammlung vor. Die Hafengesellschaft solle als erste zehntausend Mark
+zeichnen, für seine Firma stelle er tausend Mark zur Verfügung.</p>
+
+<p>Joachim Becker sieht überrascht auf. Ein menschliches Gefühl? Aber das
+kleine spitzbärtige Gesicht Prüfers ist nicht zu enträtseln.</p>
+
+<p>Der allgemeinen stummen Zurückhaltung schließt sich nur Direktor Gidli
+nicht an. Er meint: »Ist denn das nötig?«</p>
+
+<p>Kommerzienrat Prüfer sagt, als wäre die Frage nicht gestellt worden:
+»Im Interesse der öffentlichen Meinung sollte die Sammlung durch die
+Zeitung vor sich gehen.«</p>
+
+<p>Bankdirektor Ellgers klopft nervös mit dem Bleistift auf die
+Tischplatte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span></p>
+
+<p>»Wir sollten uns mit diesen Lappalien nicht aufhalten,« sagt er
+ungeduldig, »ich bin für Annahme und zeichne für meine Bank tausend
+Mark.«</p>
+
+<p>Sämtliche Herren folgen, bis auf Direktor Gidli, der erst seine
+Gesellschaft fragen muß.</p>
+
+<p>Damit ist die Sitzung beendet.</p>
+
+<p>Bankdirektor Ellgers verabschiedet sich sofort. Friemann begleitet ihn
+zur Tür. Auch Generaldirektor Jäckel, der noch den Zug für eine andere
+Sitzung erreichen will, ist in Eile. Er hat sich an den Debatten nicht
+mit einem einzigen Wort beteiligt, behauptet aber, einen Mordsdurst
+bekommen zu haben.</p>
+
+<p>»Wir sehen Sie doch am nächsten Donnerstag?« fragt ihn der
+Kommerzienrat unter Händedrücken. Auch <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann wird noch
+einmal erinnert.</p>
+
+<p>»Wissen Sie,« sagt der Kommerzienrat, während er sich im Hinausgehen
+in Immermanns kraftlosen Arm hängt, »meine Frau kann ohne die kleinen
+Gesellschaften im Hause nicht mehr leben. Sie behauptet, sie bekäme
+sonst keine Menschen zu sehen. Wir vom Alltag zählen nicht zu den
+Menschen.«</p>
+
+<p>»Ja, die Frauen sind verwöhnt«, sagt <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann mit seiner
+dünnen Stimme.</p>
+
+<p>Auch am anderen Ende des Konferenztisches beginnen die Herren sich zu
+regen. Direktor Haarland richtet sich aus seiner bequemen Lage auf und
+reckt den breiten Oberkörper, die Hände in den Hosentaschen.</p>
+
+<p>»Ja, wissen Sie,« ruft er zu Direktor Othwig hinüber,<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> der mit
+Kommerzialrat Mödl vom Boxsport spricht, »in England ist das doch etwas
+anderes. Da spielt der Amateur eine viel wichtigere Rolle, und ein
+Berufsboxer wird zu den vornehmsten Herrengesellschaften geladen. Hier
+aber bringt man ihn mit seinen Damen zusammen.«</p>
+
+<p>Er zieht seine Amateurboxerfäuste aus der Tasche und verabschiedet sich
+von einigen Herren.</p>
+
+<p>»Sagen Sie mir nur,« fragt ihn Direktor Gidli, »wie halten Sie sich so
+in Form? Sind Sie für Massage?«</p>
+
+<p>»Dampfbäder«, sagt Haarland lächelnd. »Dampfbäder! Zweimal in der
+Woche!«</p>
+
+<p>»Ja, sehen Sie, das kann ich doch wieder mit meinem Herzen nicht.«</p>
+
+<p>»Da bleibt nichts als Hunger«, meint der Kommerzialrat mit dröhnendem
+Gelächter.</p>
+
+<p>»Also neulich haben wir ein paar hohe Herren mit ihren Damen laden
+müssen,« sagt Direktor Koch zu einer anderen Gruppe, »aber meine Frau
+hat acht Tage nicht schlafen können. Sie behauptet, die steifen Damen
+hätten ihren eleganten Gästen moralische Ohrfeigen erteilt.«</p>
+
+<p>»Aber die Damen von heute,« sagt Kommerzienrat Prüfer achselzuckend,
+»manchmal weiß man wirklich nicht, ob sie zur Gesellschaft —«</p>
+
+<p>Direktor Haarland stößt ihn sanft ins Kreuz, weil Herr Kohan
+hinzukommt, der sich wegen seiner modernen jungen Frau immer Angriffen
+ausgesetzt fühlt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+
+<p>»— der Herren oder der Damen gehören. Die heutige Vermännlichung —«</p>
+
+<p>Kommerzialrat Mödl zieht ihn mit lautem Gelächter fort. »Also, da habe
+ich neulich einen Fall erlebt —« und sie verschwinden schmunzelnd auf
+dem Korridor.</p>
+
+<p>Haarland verabschiedet sich von Joachim Becker.</p>
+
+<p>»Man muß nur den Nacken steif halten«, sagt er, als habe er es nötig,
+aufmunternd zu sprechen. »Ich habe es mit Boxen erreicht.«</p>
+
+<p>Dabei zeigt er seine Fäuste und die gesunden weißen Zähne im braunen
+Gesicht.</p>
+
+<p>Joachim Becker geht in sein Arbeitszimmer.</p>
+
+<p>Die Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder verlieren sich vor seiner Tür.
+Es ist später Nachmittag, die Dämmerung legt sich ganz plötzlich über
+den großen Raum.</p>
+
+<p>Einen Augenblick sitzt er ausruhend in seinem Sessel, dann dreht er das
+Licht an und klingelt seiner Sekretärin.</p>
+
+<p>Mechanisch beginnt er, von dem großen Stoß der Papiere auf seinem
+Tische das Wichtigste herunterzunehmen und zu diktieren.</p>
+
+<p>Gegen seine Gewohnheit hebt er plötzlich den Blick. Er sieht, über
+die Finger der Schreibenden, in das schmale erschlaffte Gesicht der
+Sekretärin.</p>
+
+<p>Es kommt ihm auf einmal mahnend zum Bewußtsein, daß dieses langsam
+welkende Wesen ihm gegenüber in den letzten Monaten täglich bis in
+die späten Abendstunden zu<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> seiner Verfügung stand — daß sie auch
+ein Anrecht auf das Leben habe. Er selbst hat, seitdem er von seinem
+Projekt besessen ist, nur Arbeit gekannt und rücksichtslos Arbeit
+gefordert. Nun empfindet er dumpf, daß es für andere Menschen noch
+irgendwelche Freuden geben mag, die nicht in diesem Hause zu finden
+sind.</p>
+
+<p>Er bricht das Diktat plötzlich ab.</p>
+
+<p>»Wir wollen für heute Schluß machen. Gehen Sie auch nach Haus.«</p>
+
+<p>»Ich habe noch das Protokoll —«</p>
+
+<p>»Lassen Sie Protokolle und Briefe. Schließen Sie alles ab, und denken
+Sie nicht daran.«</p>
+
+<p>Sie sieht überrascht auf. »Dann: guten Abend«, sagt sie leise lächelnd.</p>
+
+<p>Wie sie zur Tür geht, mit leichten Schritten, während das Kleid um ihre
+Beine schwingt, sieht er in ihr zum erstenmal nicht nur die fleißige
+Mitarbeiterin. Und er hat ein eigenes Gefühl dabei.</p>
+
+<p>Sie ist auch eine Frau, sagt er sich, als er ihren Duft noch leise
+verspürt. Es gibt also noch lebendige Wesen, die ihren Körper wie eine
+Kostbarkeit auf zierlichen Füßen tragen, die mit weichen Händen nach
+den Dingen greifen und sanfte Worte sprechen —</p>
+
+<p>Adelheid fällt ihm nicht nur ein, sie ist ihm greifbar nahe. Ihre
+ängstlichen runden Augen sehen ihn an. Er springt auf, ungeduldig,
+freudig, und beschließt, auszugleichen<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> — zu verschenken, was so
+dankbar hingenommen wird.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat kommt herein, um sich zu verabschieden und Grüße für
+Adelheid aufzutragen.</p>
+
+<p>»Hat die Katastrophe sie auch nicht zu sehr aufgeregt? Du weißt, bei
+jungen Frauen in diesem Zustand — Ist der Arzt heute dagewesen?«</p>
+
+<p>Sein Schwiegersohn kann diese Fragen nicht beantworten. Er hat bisher
+keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Aber nun will er alles
+nachholen.</p>
+
+<p>Lag nicht immer schon etwas mütterlich Schweres und Sanftes in
+Adelheids Wesen? Er hat das Verlangen, den Kopf an ihre Knie zu
+schmiegen und sich trösten zu lassen wie von einer Mutter. ›Das Kind im
+Manne?‹ fragt er sich in leisem Selbstspott. Vor wenigen Stunden noch
+wäre ihm die Situation lächerlich erschienen.</p>
+
+<p>Er schickt Herrn Gregor nach Hause und fragt ihn, ob er ins Theater
+gehen wolle. Hier seien zwei Eintrittskarten. Gesellschaft würde er
+wohl finden? Nein, deswegen würde Herr Gregor nicht in Verlegenheit
+kommen. Er dankt mit indiskretem Lächeln.</p>
+
+<p>Joachim Becker hatte sich zum erstenmal seit Wochen dazu entschlossen,
+heute mit Adelheid in die Oper zu gehen. Aber nun will er sie nicht
+unter fremde Menschen führen.</p>
+
+<p>Er hatte noch nie Zeit, sich für Kunst zu interessieren, er versteht
+nichts davon. Wenn er sich ablenken wollte, sah er<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> sich ein Lustspiel
+oder eine Operette an, aber er verspürte stets einen schalen Geschmack
+danach, es reute ihn der Zeitverlust. Nun will er Adelheid die Freude
+bereiten, mit ihr allein zu Haus zu bleiben, einen ganzen Abend nur ihr
+zu widmen; gut und milde zu sein.</p>
+
+<p>Er hatte noch niemals daran gedacht, seiner Frau ohne äußeren Anlaß
+Blumen oder andere Aufmerksamkeiten mitzubringen, auch heute hält er
+sich nicht damit auf. Aber er kommt mit einem vollen Herzen. Und das
+scheint ihm so ungeheuer viel, daß der Gedanke an materielle Geschenke
+ihm absonderlich vorgekommen wäre.</p>
+
+<p>Während er im Wagen seinem Hause entgegenrollt, dünkt ihn die familiäre
+Sorgfalt und Rücksichtnahme des Kommerzienrats längst nicht mehr
+lächerlich wie sonst. Auch er freut sich auf sein Familienleben.</p>
+
+<p>Adelheid erwartet ihn bereits im fertigen Staat für den Theaterbesuch.
+Ihre Mutter sitzt in ihrem Zimmer und erzählt vom letzten Opernabend.</p>
+
+<p>»Selbst Frau Bankdirektor Ellgers war da, die doch aus hygienischen
+Gründen nur selten ihr bazillenfreies Haus verläßt«, sagt sie, als ihr
+Schwiegersohn eintritt.</p>
+
+<p>»Ich freue mich so sehr, daß ihr endlich einmal miteinander ausgeht«,
+ruft sie nach der Begrüßung aus. »Adelheid hat sonst so gar nichts
+von ihrem Leben. Und bald wird sie sich nicht mehr öffentlich zeigen
+wollen.«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt Joachim Becker beklommen bei dem Gedanken<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> an die
+verschenkten Theaterkarten. »Ich hatte aber gerade heute den Vorschlag
+machen wollen, zu Haus zu bleiben. Wir beide ganz allein, Adelheid und
+ich. Die Sitzung hat mich sehr angestrengt, und ich bin so lange nicht
+mit Adelheid allein gewesen.«</p>
+
+<p>»Ich wollte euch ohnehin bald verlassen, denn Papa wird wohl jetzt auch
+zu Hause sein. Aber meine Ansicht ist, daß Adelheid die Ablenkung gut
+tun würde«, sagt die Kommerzienrätin mit abgewandtem Gesicht. Sie sucht
+ihren Mantel und rüstet sich, um dieses Haus rasch zu verlassen, in dem
+ihr so deutlich gesagt wird, daß man allein sein will.</p>
+
+<p>»Was meinst du, Adelheid?« fragt Joachim Becker leise, indem er seine
+Hand auf ihre Schulter legt.</p>
+
+<p>Sie blickt hilflos auf, und weil die Mutter ihr den Rücken wendet und
+sie ihr Gesicht nicht sieht, wird sie ängstlich. Sie erhebt sich, so
+daß die Hand ihres Mannes herabfällt, und geht zu ihrer Mutter hinüber.</p>
+
+<p>»Nein, Mutter,« sagt sie, »so darfst du nicht weggehen.« Die
+Kommerzienrätin schließt den Arm um ihre Tochter, und beide Frauen
+gehen wortlos hinaus.</p>
+
+<p>Da fühlt Joachim Becker, wieviel Leid er hier schon unbewußt veranlaßt
+hat, und daß keine Brücke hinüberführt. Heute nicht — vielleicht in
+der Zukunft?</p>
+
+<p>Er geht in sein Zimmer hinüber und denkt lange, verworren über
+seine Handlungen nach, er, der immer so klar<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> und folgerichtig,
+so gut organisiert zu denken vermochte. Er glaubt, hier und da in
+schwachen Umrissen Fehler zu erkennen. Seine große Sicherheit, seine
+Zielbewußtheit fällt von ihm ab, er ist trostbedürftig wie ein Kind.</p>
+
+<p>Und fühlt zum erstenmal in seinem Leben die große quälende Einsamkeit
+...</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Mutter">Die Mutter</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i003" src="images/drop-i003.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>rmgard Pohl geht vor das Haus. Die Luft in den Zimmern ist stickig.
+Ohne Abkühlung selbst in der Nacht. Dazu der Geruch von Medizin und
+Krankheit, der in alle Zimmer dringt, seitdem Frau Pohl in die unteren
+Räume übergesiedelt ist.</p>
+
+<p>Jetzt, gegen Abend, weht ein Luftzug vom Wasser herüber. Die Mühle und
+die Speicher wirken noch bestaubter als sonst, und auch die Pflanzen im
+kleinen Vorgarten des Wohnhauses werden trocken und stumpf.</p>
+
+<p>Die Geräusche vom Hafen sind nun ferner gerückt. Einige Arbeiter
+werkeln am zerstörten Getreidespeicher, dessen verstümmelter Bau wieder
+abgetragen werden muß. Die neue Arbeit aber wird am südlicher gelegenen
+Mittelbecken geleistet. Die wimmelnden Massen der Arbeitenden, die
+kleinen Kippwagen und die Arbeitsautos wirken von der Mühle aus
+spielerisch klein. Silhouettenhaft gezeichnet sieht Irmgard die
+Vorgänge durch die verdickte, vom letzten Sonnenleuchten glitzernde
+Luft.</p>
+
+<p>Sie setzt sich auf die Bank vor dem Haus, müde und des vielen Lärmens
+überdrüssig. Auch an der Mühle wird nun<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> gebaut. Herr Pohl läßt den
+Speicher aufstocken und einen Flügel am Müllereigebäude anbauen. Die
+Arbeiter sind gegangen, doch die Steine und Bottiche stehen umher,
+die Gerüstbalken liegen vor dem Speicher und zerstören den ruhigen
+Eindruck, der auf diesem Gelände bisher bewahrt geblieben war.</p>
+
+<p>Es ist kaum vorstellbar, daß noch vor einem Jahr die Vögel in Scharen
+auf den Feldern drüben niedergingen und sich holten, was von der Ernte
+zurückgeblieben war. Daß die alten Linden ihren weichen Duft mit den
+warmen Südwinden über den Kanal hinweg zur Mühle sandten. Daß Kinder
+auf den Wiesen spielten, und daß zwischen ihnen ein paar weiße Ziegen
+mit gesenkten Köpfen dahintrotteten. Dort, wo jetzt die tiefen Gruben
+sind und neue Speicher aus der Erde wachsen.</p>
+
+<p>Wenn man des Abends vor das Haus trat und über den Kanal hinwegblickte,
+war eine ebene Fläche, soweit das Auge reichte. Nur zur Linken
+dunkelten die breiten Wipfel der Linden und verdeckten das
+Fräuleinstift, dessen Pensionäre man niemals zu Gesicht bekam. Die Rufe
+heller Kinderstimmen wehten zuweilen herüber, und dann konnte man ganz
+gedämpft irgendwelche dunklen, schweren Kirchenglocken aus dem Innern
+der Stadt vernehmen. So still war es in diesem Winkel, wo nun der neue
+Hafen entsteht.</p>
+
+<p>Aber hatte Irmgard sich damals dieser Stille vollkommen bewußt gefreut?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span></p>
+
+<p>Sie bückt sich und fegt mit der Hand über das blaue Blumenbeet,
+aus dessen dichten kleinen Blüten dabei ein heller Hauch von Staub
+auffliegt. Sie sucht immer eine Beschäftigung, wenn peinliche Gedanken
+sie bedrängen, trotzdem sie längst weiß, daß sie sich zu anderer Zeit
+doch wieder melden und auf die Dauer nicht abzuwenden sind.</p>
+
+<p>Nein, sie hatte die Ruhe als einen hinterwäldlerischen Zustand
+hingenommen und mit Joachim Becker von dem großen Hafen geträumt.</p>
+
+<p>Einige Rosen am hohen Stock in der Mitte des runden Beetes hängen
+welk herab. Irmgard nimmt einen der sammetweichen kühlen Köpfe sachte
+mit der Handfläche auf. Sie kann nicht übersehen, daß der Rosenstock
+an einen runden Stab gebunden ist, einen grünen Stab mit weißer
+Spitze, den Joachim Becker im vorigen Jahr mit seinem Taschenmesser
+zurechtschnitt und in knabenhaftem Eifer farbig überpinselte.</p>
+
+<p>Sie zieht die Hand von der Rose fort. Schwer sinkt sie vornüber, und
+dann segeln die hellen Blätter nach allen Seiten in die blauen Blumen
+hinein.</p>
+
+<p>Irmgard wendet sich brüsk ab. Vor der Tür stockt sie einen Augenblick.
+Sie will das Haus meiden, um von der Mutter nicht gehört und gerufen zu
+werden. Mit kleinen Schritten schleppt sie sich um das Gebäude herum
+und geht durch den Gemüsegarten zum Mittelweg.</p>
+
+<p>Hier und im Hof sind noch Kalkspritzer von den Ausbesserungsarbeiten
+am Hintereingang zu sehen. Michael Pohl<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> hatte alles sofort auf
+eigene Kosten wiederherstellen lassen und sich auch wegen der
+zersprungenen Fensterscheiben nicht mit Ersatzansprüchen gemeldet.
+Eines Tages war jedoch Rechtsanwalt Bernhard erschienen und hatte um
+die Rechnungen gebeten, da die Hafengesellschaft selbstverständlich
+alles ersetzen werde. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, persönlich
+vorzusprechen, weil er immer noch auf einen gütlichen Ausgleich in der
+Prozeßangelegenheit hoffte. Michael Pohl sprach mit keinem Wort davon.</p>
+
+<p>Das Mädchen in der Küche hört die Schritte auf dem Kies. Sie setzt
+einen Teller klappernd nieder und steckt den Kopf aus dem Fenster.</p>
+
+<p>»Sie schlafen beide«, flüstert sie. Sie gönnt Irmgard die kurze
+Ruhepause.</p>
+
+<p>Irmgard nickt ihr zu und geht durch die kleine Pforte zu den Wiesen
+hinaus, die sich bis zum Verbindungskanal erstrecken. Dort, in der Nähe
+des Wassers, setzt sie sich, mit dem Rücken gegen das Hafengelände, auf
+den Rasen, den sie kühl und frisch auf der Handfläche fühlt.</p>
+
+<p>Sie kann hier noch vom Mädchen gesehen und im Notfall gerufen werden,
+wenn einer von den »beiden« erwachen und sie brauchen sollte. Diese
+beiden, die jetzt ihr ganzes Leben ausfüllen sollten: die Mutter und
+das Kind.</p>
+
+<p>Der Knabe ist gesund und gedeiht, obgleich er mit der Flasche
+großgezogen werden muß, und die Mutter erholt sich mit fast
+beängstigender Eile. Sie kann es nicht erwarten,<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> wieder überall selbst
+zur Stelle zu sein und die Zügel fester in die Hand zu nehmen.</p>
+
+<p>Ihre abgezehrten Glieder werden elektrisiert und massiert, und wenn sie
+nicht zuweilen bei heimlichen Versuchen erfahren hätte, daß Energie
+und Unrast allein ihr die alte Kraft nicht wiedergeben, so würde sie
+wohl noch heftiger über all diese »teuren und überflüssigen Prozeduren
+an einem alten Weibe« schelten. So aber begnügt sie sich mit einem
+gutmütig-ungeduldigen Protest, soweit es sich um ihre eigene Person
+handelt.</p>
+
+<p>Streng jedoch und ohne Duldung jeglichen Widerspruchs ist sie wieder in
+ihrem Kommando über den Haushalt und die Wartung des Sohns.</p>
+
+<p>Irmgard hat es sich in den langen einsamen Monaten vor der Geburt des
+Knaben angewöhnt, oft mit den Händen im Schoß untätig dazusitzen und in
+sich hineinzulauschen. Erst waren es die Erinnerungen, von denen sie
+willenlos aus der traurigen Gegenwart fortgetragen wurde. Dann spürte
+sie das mählich pochende Leben, und sie malte sich die Zukunft als
+Mutter dieses neuen Menschen aus.</p>
+
+<p>Schließlich mußte sie es ertragen, daß sie ihren Vater und sich
+selbst vor seinen Leuten und vor den wenigen Menschen, mit denen sie
+gelegentlich zusammenkamen, dadurch in Unehre bringen würde. Sie hatte
+nie viel von der Meinung derjenigen gehalten, die nach den allgemeinen
+Gesetzen urteilen. Und nun begann sie, in ihrer Mutterschaft eine große
+und<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> mutige Mission zu sehen. Erst als sie so weit in ihren inneren
+Kämpfen gekommen war, beschloß sie, sich dem Vater zu offenbaren.</p>
+
+<p>Sie kannte ihn von jeher als einen Eigenbrötler, der sich auch nicht
+viel um die herkömmlichen Ansichten kümmerte, aber sie wußte, wie tief
+er durch den Abfall Joachim Beckers verletzt wurde. Trotzdem hatte sie
+diese Aussprache als eine Befreiung von der Bitternis und dem stummen
+Nebeneinander mit dem Vater erhofft.</p>
+
+<p>Sie vergaß, daß sie selbst sich nach quälendsten Wirrnissen zu der
+neuen Anschauung durchringen mußte, und daß sie den Vater vor eine ganz
+unerwartete Tatsache stellte. Und vollkommen hatte sie, in ihre Liebe
+zu Joachim Becker verstrickt, übersehen, welchen großen Vertrauensbruch
+der Vater nun auch auf ihrer Seite darin erblicken mußte.</p>
+
+<p>Wie sie nun, bleich und schon ein wenig entstellt, dem Vater am Tisch
+gegenübersaß und fast ohne Stocken davon zu sprechen begann, war ihr
+allmählich, über der fürchterlichen Veränderung in seinem Gesicht, die
+ganze Tragweite zum Bewußtsein gekommen.</p>
+
+<p>Sie konnte plötzlich alle zurechtgelegten großen und kühnen Worte nicht
+finden, ihre Mundhöhle zog sich bitter zusammen, und die Magenkrämpfe,
+an denen sie in letzter Zeit so viel gelitten hatte, setzten wieder
+ein. So saß sie vor ihm, stumm, mit schmerzverzerrten Zügen. Ihre Hände
+tasteten krampfhaft über die Decke. Da verschwammen die Umrisse seines<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span>
+Kopfes vor ihren Augen. Sie ahnte nur seinen erstarrten Blick.</p>
+
+<p>Erst war es, als ob er ihr Gesicht damit gläsern machte, sie spürte
+kein Leben mehr darin, und dann fühlte sie ihn auf den Händen. Sie
+hielt sie plötzlich ganz still, aber sein Blick lag immer noch darauf.
+Und da schämte sie sich unwillkürlich ihrer Hände, die gelb und mager
+geworden waren. Sie zog sie vom Tisch herab und wußte keinen Grund
+dafür. Sie hörte eine Tür fallen und war allein im Raum ...</p>
+
+<p>Später hatte er ihr den Arzt geschickt, der über ihren Zustand
+unterrichtet war. Er untersuchte sie und verschrieb ihr
+Stärkungsmittel. Aber der Vater und sie haben bis zu ihrer Niederkunft
+niemals »davon« gesprochen. Noch jetzt muß Irmgard die Augen schließen,
+wenn sie daran denkt, wie sie sich schämte, wenn der Blick des Vaters
+unversehens auf ihre veränderte Gestalt fiel.</p>
+
+<p>Die erste stumme Annäherung glaubte sie zu fühlen, als sie ihm nach der
+Katastrophe im Hafengelände entgegenging und sagte, welchen Namen man
+dem Knaben geben müsse. Da hatte sie noch nicht gewußt, was sie damit
+unternahm. Die große Erregung an jenem Tag und die Freude über die
+Erlösung der Mutter veranlaßten sie ohne Überlegung zum Verzicht ihrer
+Rechte.</p>
+
+<p>Als es dem Vater nicht mehr entgehen konnte, wie schwer es ihr fiel,
+den Knaben als unbestrittenen Besitz der Mutter zu betrachten und ihr
+in allen kategorischen Weisungen willenlos<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> zu folgen, hatte er endlich
+offen mit ihr darüber geredet. In seiner knappen und schweren Art
+begann er zunächst mit großen Pausen und dann ohne falsche Scheu über
+alles zu sprechen, was seit Joachim Beckers Zeit zwischen ihnen lag. So
+lange hatte er gebraucht, um es zu verarbeiten.</p>
+
+<p>Zum Schluß nahm er sie in seine Arme und sprach beruhigend auf sie ein.
+Er sagte im Grunde nicht mehr als der Arzt, Schwester Emmi und gewiß
+manche anderen, die ein Urteil darüber hatten: daß es so am besten für
+sie alle sei, und daß ihr der Knabe innerlich nicht weniger gehöre,
+wenn sie ihn nach außen als Bruder anerkennen müsse.</p>
+
+<p>Aber sie empfand den Druck seiner breiten warmen Hand auf ihrer
+Schulter, sie durfte ihren Kopf wieder an seine Wange lehnen, und dann
+hatte er wie in den Kindertagen mit seinem großen weißen Taschentuch
+die Tränen von ihrem zuckenden Gesicht gewischt. —</p>
+
+<p>Die kleinen stehenden Wolken verlieren allmählich ihr rotes Leuchten,
+das vom Westen her über den Himmel gezogen ist. Irmgard gibt sich noch
+eine kurze Frist, indem sie das Schwinden des gelben Scheins hinter
+einer dunklen Wolkengruppe abwartet, dann steht sie auf, um zu ihren
+»beiden« zu gehen.</p>
+
+<p>Das Mädchen flüstert ihr an der Küchentür zu: »Sie ist schon lange
+wach. Ich habe ihr gesagt, daß Sie Besorgungen machen.«</p>
+
+<p>Irmgard will etwas erwidern, aber sie sieht schließlich selbst ein,
+daß man der Mutter keine anderen Erklärungen<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> geben kann, denn sie
+wird niemals die Menschen verstehen, denen zuweilen die Hände im Schoß
+liegen bleiben.</p>
+
+<p>Sie hört ihre Stimme im Schlafzimmer und weiß, daß sie sich das
+Kind ins Bett reichen ließ. Und wieder verliert sich ihre brennende
+Sehnsucht nach dem Knaben, weil sie ihn in den Händen der Mutter weiß.
+Nur in den wenigen Minuten, da sie unbeobachtet ganz allein mit ihm
+sein kann, wird er zu ihrem Besitz.</p>
+
+<p>Entschlossen würgt sie alle Bitterkeit hinab und geht mit
+beschleunigten, festeren Schritten ins Zimmer, als ein Mensch, der
+unter Zwang eine schlechte Rolle spielt.</p>
+
+<p>Hier wartet so viel Arbeit auf sie, daß sie sich schnell wieder
+zurechtfindet. Schwester Emmi hatte die Hafengesellschaft nicht auf
+ihre Dienste warten lassen, und nun fehlt sie ihr sowohl bei der Arbeit
+wie mit ihrem heiteren Wesen.</p>
+
+<p>»Meine Zukunft«, sagte sie immer, wenn sie von ihrem neuen Posten
+sprach. Sie war klug genug, Joachim Becker nicht zu verraten, daß ihre
+jüngste Vergangenheit bei Irmgard Pohl und seinem Sohne war. Irmgard
+hatte sie aber außerdem gebeten, über diese Tätigkeit zu schweigen.</p>
+
+<p>»Denn vielleicht weiß er gar nichts davon«, fügte sie mit einem Blick
+auf den kleinen Michael errötend hinzu.</p>
+
+<p>Frau Pohl war es recht, daß die kleine blonde Schwester bald das Haus
+verließ, denn erstens hält sie eine Pflegerin für überflüssig, wenn
+eine erwachsene Tochter im Hause weilt, und zweitens kann sie keine
+Sympathien für Schwester Emmi<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> gewinnen. Sie ist mit ihrer stillen und
+zielbewußten Tochter zufriedener, vermeidet es aber streng, sich davon
+etwas anmerken zu lassen.</p>
+
+<p>Irmgard kann ihr eine gute Nachricht bringen: die Masseuse ist am
+Nachmittag dagewesen, um zu sagen, daß der Arzt für den nächsten Morgen
+die ersten Gehversuche erlaubt habe.</p>
+
+<p>Während die Mutter in ihrer Freude weinend und lachend das Kind an
+ihr hageres Gesicht preßt und in sein erschrecktes Schreien mit
+überschwenglichen Koseworten hineinredet, wird sie wieder die hilflose
+und schwergeprüfte Kranke, der Irmgard sich von neuem verbunden fühlt.
+—</p>
+
+<p>Als sich Frau Pohl — mehrere Wochen später — schon an Stöcken in der
+Wohnung bewegen kann, öffnet sie eines Abends die Tür zum Zimmer ihrer
+Tochter, um ihr einen Auftrag zu geben. Sie glaubt erst, daß sie nicht
+im halbdämmrigen Raume sei. Doch da richtet sich Irmgard erschreckt vom
+zerwühlten Bett auf und starrt ihr blaß und verweint entgegen.</p>
+
+<p>Es ist, als käme Frau Pohl in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß es
+noch etwas anderes als ihre Krankheit und die Pflege des Knaben in der
+Welt gibt. Sie läßt sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Einer ihrer
+Stöcke fällt polternd zur Erde.</p>
+
+<p>Unwillkürlich erwartet sie, daß er ihr von der Tochter heraufgereicht
+wird. Irmgard ist aber vorher hinausgerannt und hat das Haus verlassen.
+Ohne Überlegung ergriff sie im<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Korridor Mantel und Hut. Sie eilt durch
+den Vorgarten, über den Mühlenplatz und die Föhrbrücke zu den belebten
+Straßen.</p>
+
+<p>Die Menschen gleiten wie Schatten an ihr vorbei. Sie erkennt ihre
+Umrisse kaum. Aber sie schämt sich vor ihnen.</p>
+
+<p>Sie verachtet sich selbst, ihre Schwäche und innere Zerrissenheit. Aber
+sie geht, wie oft in den letzten Tagen, den gleichen Weg. Den falschen
+Weg zu Joachim Becker, anstatt von ihm fortzustreben.</p>
+
+<p>Der herbstliche, feuchte Wind kühlt ihre brennenden Augen. Die ersten
+Nebel verdicken am Abend die Luft, die grau und schwer um die Häuser
+schleicht.</p>
+
+<p>Irmgard steigt in eine Straßenbahn und fährt in die Vorstadt, zu
+Joachim Beckers Haus. Wie vieles andere über ihren Chef, so hat
+Schwester Emmi ihr auch seine Wohnung verraten. Und Irmgard Pohl, die
+in ihrer Zurückhaltung alle kleinlichen Berichte über die Nebenmenschen
+bisher von sich fernhielt, verstrickte sich immer tiefer. Sie
+verschlang jeden Klatsch über den Hafendirektor, der von Herrn Gregor
+über Frau Reiche zu Schwester Emmi gelangte.</p>
+
+<p>Und dann begann sie mit diesen abendlichen Fahrten.</p>
+
+<p>Sie steigt an der Endstation der Bahn aus und geht durch die
+dunklen, breiten Straßen des Villenviertels. Es ist zur Zeit des
+Geschäftsschlusses. Die Stille wird in kurzen Abständen von den
+lichtschießenden Autos zerschnitten, durch deren Luftdruck das verwehte
+braune Laub nach den Seiten<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> flieht wie Hühner auf der Dorfstraße.
+Modriger Geruch steigt zuweilen aus den Gärten auf.</p>
+
+<p>Irmgard lehnt gegen rauhes Eisengitter und blickt zu dem Grundstück
+hinüber: ein niedriges Landhaus ist tief in den Garten hineingebaut und
+wird von alten Bäumen fast verdeckt.</p>
+
+<p>Sie wartet auf den Wagen. Joachim Becker wird aussteigen. Sie darf,
+im Dunkel verborgen, die Umrisse seiner Gestalt, seine flinken,
+elastischen Bewegungen erkennen und dann — unglücklicher als zuvor —
+in die Trostlosigkeit ihres zerstörten Lebens zurückkehren.</p>
+
+<p>Sie unternahm diesen erniedrigenden Weg zum erstenmal, als sie sich
+endlich entschlossen hatte, ihren Sohn nicht mehr zu lieben, sondern
+als Eigentum der Mutter zu betrachten. Frau Pohl sollte nicht mehr
+darüber schelten, daß sie die Pflege des Knaben der häuslichen Arbeit
+vorzog, sie sollte ihr nicht mehr mit eifersüchtigen Blicken folgen,
+wenn sie das Kind in den Armen hielt.</p>
+
+<p>Aber als die Arbeit sie gegen Abend entließ, überfielen sie die alten
+Erinnerungen noch drängender, lebendiger. In Gedanken ging sie ihm
+entgegen, stand wie heute vor seinem Haus, um ihm körperlich näher zu
+sein.</p>
+
+<p>Der herbstliche Sturm, der ihr den Hut fast von den Haaren zieht,
+erinnert sie wieder an ihre Spaziergänge mit Joachim Becker. Sie waren
+damals barhäuptig am Abend bis zum alten Kanal gelaufen. Über die
+feuchten Wiesen, am<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Wasser entlang, das an die Kaimauern klatschend
+schwankte. Ganz oben, am Verbindungskanal, standen noch Bäume, die sich
+im Sturm bogen und rauschten wie Meereswellen.</p>
+
+<p>In dieses Brausen und Feilen des Windes waren sie übermütig
+hineingestapft. Sie lachten, riefen. Sie freuten sich, daß ihre Stimmen
+ohne Kraft schienen, sosehr sie sich auch bemühten. Sie wateten mit
+schleudernden Bewegungen im dickgeschichteten raschelnden Laub und
+suchten herabgefallene Kastanien. Sie freuten sich an der glatten
+sattbraunen Frucht im weißen Bett ihrer grüngehäuteten Hülle.</p>
+
+<p>Er warf die Kastanien in hohem Bogen zum Wasser hinüber. Sie stand
+mit mütterlich mildem Lächeln daneben und freute sich seiner
+weitausholenden, federnden Schwungkraft.</p>
+
+<p>Einmal hatte sie gesagt: »Es ist unbeschreiblich schön, dich nur in
+meiner Nähe so gelöst und knabenhaft zu wissen. Wenn ich mir deine
+strenge und energische Haltung im Bureau oder vor den Arbeitern
+vorstelle, dann bin ich sehr stolz darüber, daß ich dich so verwandeln
+kann.«</p>
+
+<p>»Aber ich habe es doch nicht verstanden,« sagt sie sich nun, »denn
+sonst hätte er mich nicht verlassen können. Oder er müßte leiden wie
+ich.« Da sie jetzt nichts mehr mit ihm gemeinsam hat, möchte sie durch
+Qual und Einsamkeit mit ihm verbunden sein.</p>
+
+<p>Sie beginnt zu frösteln. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Während des
+Wartens verliert sie vollkommen das Bewußtsein davon, wie gedemütigt
+und erbärmlich sie hier steht.<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> Wenn sie ihn gesehen hatte, zuweilen
+nur seinen Schatten — einmal trug der Wind den Klang seiner Stimme
+herüber —, hatte sie sich leer und erniedrigt gefühlt.</p>
+
+<p>Ein schaler Geschmack bleibt von der erregenden Sehnsucht zurück. Sie
+will umkehren, weil die Automobile immer wieder vorbeifahren, weil sie
+keine Hoffnung mehr hat, ihn zu sehen. Und bleibt doch, bis endlich
+das Verhalten eines Motors als vertrautes Geräusch herüberdringt. Sie
+kann in schräger Linie hinüberblicken und verfolgen, wie Joachim Becker
+aussteigt.</p>
+
+<p>Er trägt einen Koffer in der Hand — der Chauffeur holt einen größeren
+und schweren von seinem Sitz herab — und dann beugt Joachim Becker
+sich noch einmal zum Wagenschlag, und seine Frau steigt aus.</p>
+
+<p>Sie geht langsam, schwerfällig. Ihre kleine Gestalt ist ungefüge, und
+er stützt sie mit der Behutsamkeit, die man an Kranke und Gebrechliche
+wendet.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl schließt die Augen und lehnt sich fast taumelnd gegen das
+Gitter. Ihre Nerven sind so überreizt, daß sie lautlos mit verzerrtem
+Gesicht vor sich hinlacht. Ja, wie konnte sie so vernarrt sein und noch
+eine innere Gemeinschaft mit ihm suchen, der nun mit einer anderen Frau
+glücklich ist. Mit dieser Frau, die ihm Kinder schenken wird, die seine
+und ihre Züge tragen. Er wird diese Kinder lieben, in denen er sich
+selbst wiederfindet, und er wird eine Episode vergessen, die auf dem
+Wege zu seinem Aufstieg lag.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p>
+
+<p>Ist sie endlich aus ihrer Verwirrung erwacht? Sie entfernt sich rasch
+von dieser Straße, mit dem Bewußtsein, sie nie wieder zu betreten.</p>
+
+<p>Sie legt den weiten Weg zu Fuß zurück und kommt müde, zerschlagen zu
+Haus an. Ihre Augen brennen in den Höhlen und sind wie leer. Sie geht
+sofort in ihr Zimmer. Und zum erstenmal seit Monaten fällt sie in einen
+tiefen traumlosen Schlaf. —</p>
+
+<p>Frau Pohl liegt wach in den Kissen und lauscht. Sie ist wieder in ihrem
+alten Eheschlafzimmer gebettet und legt sich schon am frühen Abend
+nieder, weil die ungewohnte Bewegung sie noch allzusehr ermüdet. Aber
+erst, wenn ihr Mann neben ihr liegt, wird sie ruhig und kann schlafen.</p>
+
+<p>Nun lauscht sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, sie glaubt, selbst
+den zarten Hauch aus dem Kinderbett zu vernehmen, und sie könnte
+einschlafen, weil ihr Haus wohlbestellt ist, denn auch Irmgards
+Heimkehr war ihr nicht entgangen.</p>
+
+<p>Aber da ist etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie hat nach der
+stummen Begegnung mit ihrer Tochter angefangen, in ihrem Gedächtnis zu
+suchen.</p>
+
+<p>Man hat ihr gesagt, daß sie lange krank war und daß Lücken in ihre
+Erinnerung gerissen sind. Sie kann ausrechnen, daß ihre Krankheit nur
+wenige Monate währte, denn der Knabe ist nun ein halbes Jahr alt.</p>
+
+<p>Aber ihren verwirrten Gedanken drängen sich Bilder und Geräusche auf,
+die unendlich lange zurückliegen, während die<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> jüngste Vergangenheit
+spurlos verwischt ist. Immer wieder dröhnen in ihren Ohren die dunklen
+Schläge jener Uhr, die ihr Vater zu Hause in unheimlichem Eifer
+stimmte, damit sie dem reinen Klang der Kirchenglocken gleichen. Er
+hatte sich in den Wahn verstiegen, daß seine Sünden erst dann von
+ihm genommen würden, wenn auch der letzte unreine Ton aus der alten
+Uhr verschwunden wäre. Sie hört sein halblautes Beten und seine
+Selbstgespräche. Sie geht durch die Zimmer der alten Wohnung, sie
+spricht mit dem Vater und bittet ihn, endlich aufzuhören, denn keine
+Glocke könne heller schlagen als seine Uhr. Und kein Mensch könne das
+länger mit anhören.</p>
+
+<p>Sie sieht seine glänzenden Fanatikeraugen so deutlich und irisierend,
+als müßte er jetzt in das Zimmer treten und ächzend auf den Stuhl
+steigen, um wiederum an der Uhr zu drehen und sie schlagen zu lassen.
+Sie selbst aber ist nicht älter als Irmgard und geht zuweilen in ein
+dunkles Zimmer, um aus ihrer Einsamkeit heraus zu weinen.</p>
+
+<p>Mächtiger und quälender schlagen die Töne in das Brausen ihrer Ohren.
+Das Blut schießt brennend in ihren Kopf, und ihre Glieder erstarren
+unter den dicken Federbetten.</p>
+
+<p>Endlich erträgt sie es nicht länger. Sie weckt ihren Mann. Verstört
+wacht Michael Pohl auf. Er verdrängt alle Besorgnis aus seinem Blick,
+während er sich zu ihr hinüberneigt und sie behutsam fragt.</p>
+
+<p>»Willst du Vaters Uhr forttragen, damit sie mich nicht länger quält?«
+bittet sie ihn.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p>
+
+<p>Michael Pohl weiß nicht, welche Antwort er ihr geben soll, denn die Uhr
+ist niemals in seinem Hause gewesen.</p>
+
+<p>»Die Uhr ist nicht hier«, sagt er schließlich. »Deine erregten Nerven
+täuschen sie dir vor. Du bist noch zu anfällig nach der langen
+Krankheit und wirst dich künftig nicht so überanstrengen.«</p>
+
+<p>»Ja, das sind die fixen Ideen, an denen der Vater zugrunde gegangen ist
+und die ich dir nun als Erbe ins Haus gebracht habe. Jetzt hat es schon
+unsere Tochter angesteckt. Sie sitzt im dunklen Zimmer und weint.«</p>
+
+<p>»Irmgard hat einen ganz gewöhnlichen Liebeskummer wie viele junge
+Mädchen. Sie ist gesund und vernünftig und wird es überwinden. Aber
+sieh: bei dir ist es anders. Du hast so viel Schweres erlebt, daß es
+dich wieder überfallen muß, wenn du krank und schwach bist.«</p>
+
+<p>Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich nach dem
+Kummer der Tochter näher zu erkundigen.</p>
+
+<p>»Aber in meiner Erinnerung ist ein Abgrund«, flüstert sie und versucht
+sich aufzurichten. Er ist ihr behilflich und stützt sie durch
+Kissenberge im Rücken.</p>
+
+<p>»Du kannst nur allmählich zurückfinden.« Er hält ihre Hände fest, die
+unter seiner Wärme wieder ruhig werden. »Vor allen Dingen darfst du es
+nicht erzwingen wollen, du mußt geduldig warten, bis alles von selbst
+wiederkehrt.«</p>
+
+<p>»Ja«, erwidert sie gehorsam. »Nur das eine mußt du mir sagen: der Vater
+ist tot?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p>
+
+<p>»Seit fünfundzwanzig Jahren!« bestätigt er.</p>
+
+<p>»Und daß mein Bruder bei seiner Bank die große Summe unterschlagen hat
+und daß du alles bezahltest, das ist kein Traum?«</p>
+
+<p>Michael Pohl überlegt einen Augenblick und sagt schließlich lachend:</p>
+
+<p>»Was sind das für alte Sachen! Auch das ist fünfundzwanzig Jahre her.«</p>
+
+<p>»Siehst du, das habe ich gewußt. Das ist kein Traum gewesen. Ich habe
+so viel Unglück über dich gebracht. Und nun bin ich krank und kann
+nicht sparen und arbeiten, um dir alles wieder einzubringen.«</p>
+
+<p>Sie hat ihm damit zum erstenmal nach so viel Jahren eine Erklärung für
+ihren Arbeitsfanatismus gegeben, der ihm so oft zur Last geworden war.</p>
+
+<p>Er setzt ihr auseinander, daß sie reich seien, sehr reich. Er zählt ihr
+die Werte seiner Mühle und des Grundstücks auf. Ja, sie hätten mehr
+Geld, als sie verbrauchen könnten. Und wenn sie wolle, so würde er hier
+sofort alles verkaufen und sie in ein herrliches Schloß setzen, wie sie
+es sich damals träumte, als sie beide noch jung waren.</p>
+
+<p>»Gott hat mich für meinen Hochmut bitter gestraft«, sagt sie abwehrend.
+»Ich bin schuld daran, daß mein Bruder das getan hat. Ich habe ihn zu
+sehr geliebt und verwöhnt und mit meinen Plänen vergiftet.«</p>
+
+<p>»Du warst nur wenige Jahre älter als er, und man<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> konnte von dir noch
+nicht verlangen, daß du ihn allein erziehst, zumal du auch ohne Mutter
+aufgewachsen warst. Er war nicht schlecht und hat seine leichtsinnige
+Handlung bereut. Ich bin fest davon überzeugt, daß er drüben ein neues
+Leben angefangen hat. Wir haben nur nichts mehr von ihm gehört, weil du
+nicht wolltest, daß er uns schreibt.«</p>
+
+<p>»Nein,« sagt sie, »dein Leben sollte nicht noch einmal das eines
+Verbrechers kreuzen.«</p>
+
+<p>Er fühlt wieder ihre unbeugsame Strenge und versucht, ihre Gedanken von
+diesen Erinnerungen abzulenken.</p>
+
+<p>Allmählich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Er hält ihre Hand fest und
+erkennt an dem sachte nachlassenden Druck ihr Versinken in den Schlaf.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="In_Erwartung">In Erwartung</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-a001" src="images/drop-a001.jpg" alt="A">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>ls im nächsten Frühjahr das erste Hafenbecken mit den langgestreckten,
+niedrigen Lagerhallen fertiggestellt war und Waren aus aller Herren
+Ländern eintrafen, um ausgeladen oder umgeladen zu werden, konnte man
+wohl von der eigentlichen Eröffnung des Hafenbetriebs reden. Aber man
+machte nicht viel Wesens davon.</p>
+
+<p>Joachim Becker fährt nach wie vor an jedem Morgen in den Hafen und
+sieht nach dem Rechten, nicht nur bei den Bauten, sondern auch bei den
+neuen Aufgaben des Hafens, bei der positiven Arbeit, auf die er lange
+genug gewartet hat.</p>
+
+<p>Er stellt sich neben den Lademeister und sieht ihm schweigend eine
+Weile zu, bis der Mann irre wird und einen Fehler begeht; dann hat
+der Direktor Gelegenheit, zu zeigen, was er alles sieht und was er
+versteht. Ja, man hat Respekt vor ihm, das muß man sagen, man läßt sich
+durch seine Gegenwart unsicher machen. Und Joachim Becker findet, daß
+so alles in Ordnung ist.</p>
+
+<p>Er geht auch zum Kontoristen in das kleine Bureau der Lagerhalle und
+sagt gutgelaunt:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span></p>
+
+<p>»Na, bald werden Sie es nicht mehr allein schaffen, was? Wenn im
+Verwaltungsgebäude die ersten beiden Stockwerke fertig sind, ziehen wir
+dort ein. Dann können sie an den weiteren Etagen über unseren Köpfen
+fortbauen.«</p>
+
+<p>»Ach,« meint der Beamte ehrfürchtig, »zieht dann die Direktion hier
+ein?«</p>
+
+<p>»Die Direktion?« Joachim Becker lacht. »Nein, die Direktion bleibt, wo
+sie ist. Aber hier werden wir eine Verwaltung einrichten müssen.«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt Herr Karcher verständnisvoll, und es liegt ihm fern, zu
+denken, daß er dann einen besseren Posten einnehmen könnte. Er hat
+zwanzig Jahre die Papiere und Bücher in Lagergeschäften ordnungsgemäß
+geführt, und er trägt ein Verzeichnis aller Waren und ihrer
+unmöglichsten dialektischen und fremdländischen Bezeichnungen im Kopf.
+Er kannte sich immer in seinen Dokumenten aus, und darauf ist er stolz.
+Mehr verlangt er von seinem bescheidenen Leben nicht.</p>
+
+<p>Aber nun sieht er manchmal zum Gerüst des Verwaltungsgebäudes hinüber
+und denkt mit Bestürzung: es wächst und wächst. Er ist mit dem jetzigen
+Zustand so zufrieden und hätte bei Gott keine Veränderung gewünscht.</p>
+
+<p>Wenn er morgens mit seinem Handbuch zum Hafenbecken kommt, um die
+Eingänge zu notieren, liegen die Kähne mit den dunklen schweren Leibern
+in der Sonne. Kinder und<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> Hunde laufen auf dem Deck umher, und die
+Schiffer ziehen ihre Mützen.</p>
+
+<p>»Guten Morgen, Herr Karcher,« sagen sie freundlich und zutraulich und
+»Ja, das ist ein Frühlingstag«. Das sagen sie an jedem Frühlingstage.</p>
+
+<p>Und Herr Karcher meint, während er die schmalen Schultern wohlig
+hochzieht und die Hände reibt: »Ja, das laß ich mir gefallen,« und »Ist
+dort, wo Ihr gestern wart, auch schon der Frühling eingezogen?«</p>
+
+<p>Dann erzählen sie, wie der Frühling zehn oder zwanzig Meilen weiter
+aussieht, und Herr Karcher hört andächtig zu, bis er plötzlich seiner
+Kladde gedenkt und einzutragen beginnt.</p>
+
+<p>Dort drüben aber wächst das Verwaltungsgebäude mit jedem Tag, und dann
+wird die Verwaltung einziehen und ein anderes Regiment führen. Herr
+Karcher beginnt unter den Strahlen der Frühlingssonne zu frösteln,
+und wenn die Fürsorgeschwester nicht im Hafen wäre, so könnte er der
+Melancholie verfallen.</p>
+
+<p>Aber Schwester Emmi kommt in ihrem blaugestreiften Kleid auf zierlichen
+Füßen daher wie ein Morgengruß und sagt in ihrer stets prächtigen Laune:</p>
+
+<p>»Uff! Das hätten wir getan!«</p>
+
+<p>»Guten Morgen«, pflegt Herr Karcher dann erst ermahnend zu sprechen.
+»Was hätten wir getan?«</p>
+
+<p>»Guten Morgen«, ruft sie nachträglich, während sie sich<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> auf seine
+Tischkante setzt. »Eben so unsere ersten Pflichten: eine Suppe auf
+einen Kahn getragen und ein Kind angezogen und — na so weiter. Einen
+Finger habe ich heute noch nicht verbunden.«</p>
+
+<p>»Aber hier ist eine Wunde zu heilen«, sagt Herr Gregor, der nun auch
+auf der Bildfläche erscheint. Er hält ihr seine Wange hin, die einen
+schmalen Riß sehen läßt.</p>
+
+<p>»Nein, Rasierschnitte unterliegen nicht der Fürsorge«, wendet sie ein,
+und dabei gibt sie ihm einen kleinen Klaps auf die Schramme.</p>
+
+<p>»Finden Sie,« fragt sie Herrn Karcher, »daß es schön ist, wenn ein
+Mann sein Gesicht pudert? Und wann, glauben Sie wohl, ist dieser
+leichtsinnige junge Herr heute nacht heimgekommen?«</p>
+
+<p>»Sind Sie so gut unterrichtet?« fragt Herr Karcher, während Herr Gregor
+geschmeichelt an seinen Nägeln putzt.</p>
+
+<p>»Jawohl,« erwidert sie, »denn ich kann es in meinem Zimmer deutlich
+hören. Und auch Frau Reiche hat ihn kontrolliert. Er ist nämlich heute
+nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Der Morgenwächter hat ihn
+erst eingelassen.«</p>
+
+<p>»Aha! Daher die Informationen!« stellt Herr Gregor fest.</p>
+
+<p>»Und dieser Mann ist so naiv, Herrn Gregor für den tüchtigsten Beamten
+des Hafens zu halten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p>
+
+<p>Herr Gregor räuspert sich respektfordernd.</p>
+
+<p>»Er sagte nämlich: ›Herr Gregor hat heute um fünf Uhr schon den Hafen
+inspiziert.‹«</p>
+
+<p>»Dieses Rhinozeros!« entfährt es dem jungen Mann, den man für würdig
+hält, so lange Objekt der Unterhaltung zu sein.</p>
+
+<p>Aber da wird Herr Karcher plötzlich ernst und sagt: »Übrigens hat schon
+jemand von der Direktion nach Ihnen gefragt.«</p>
+
+<p>»So — die haben auch nichts Wichtigeres zu tun!«</p>
+
+<p>Schwester Emmi macht ein sehr bestürztes Gesicht.</p>
+
+<p>»Wer hat nach ihm gefragt? War es der Direktor selbst?«</p>
+
+<p>»Nein, der Direktor ist seit gestern verreist. Er ist ins Ausland
+gefahren«, sagt Herr Gregor.</p>
+
+<p>»Seine Sekretärin könnte es gewesen sein«, meint Herr Karcher.</p>
+
+<p>»So, diese Pute geht das gar nichts an, wann ich komme.«</p>
+
+<p>»Also eine Frauenstimme. Das ist nur gut«, sagt Schwester Emmi. Ihr
+Gesicht hellt sich wieder auf. »Aber jetzt gehen Sie wohl, Herr Gregor?«</p>
+
+<p>»Wenn ich hier im Hafen mit meinen Arbeiten fertig bin, werde ich
+gehen. Diese Herrschaften bilden sich wohl ein, daß ich nur der
+Pünktlichkeitskontrolle wegen erst ins Stadtbureau fahre und dann für
+die Hafenarbeiten extra wieder herkomme. Diese Bureaukraten —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p>
+
+<p>Er vollendet den Satz nicht, sondern steht an der Tür, um draußen
+weiterzusprechen, in der Erwartung, daß Schwester Emmi ihm folgt. Aber
+sie bleibt auf der Tischkante sitzen und blickt ihm bekümmert nach.</p>
+
+<p>»Ich dachte, Sie wollten auch an die Arbeit —« sagt er enttäuscht.
+Sein langes Gesicht ist grau und übernächtig.</p>
+
+<p>»Oh, ich habe heute schon mancherlei getan, aber nun muß ich hier wegen
+der Unterstützung der kranken Schifferfrau mit der Kasse telephonieren.
+Sie soll nämlich in ein Krankenhaus.«</p>
+
+<p>»Ich glaubte, bei Frau Reiche wäre dafür auch ein Telephon.«</p>
+
+<p>»Ach ja, aber jetzt bin ich hier.«</p>
+
+<p>»Na, dann viel Vergnügen!« Herr Gregor schmettert wütend die Tür ins
+Schloß und trottet allein am Kai entlang der Hafenwirtschaft zu. Dieser
+Schürzenjäger kann keine zehn Schritte mehr ohne weibliche Begleitung
+gehn, und er ist unzufrieden mit allem, was Röcke trägt.</p>
+
+<p>Schwester Emmi springt vom Schreibtisch herunter und lauscht angespannt
+auf seine Schritte.</p>
+
+<p>»Warum sind Sie denn nicht mitgegangen?« fragt Herr Karcher, während er
+sich wieder mit seinen Eintragungen in den Büchern beschäftigt.</p>
+
+<p>»Ach, weil ich nicht wollte.«</p>
+
+<p>Dann schlüpft sie zum Fenster und drückt sich die Nase<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> an den Scheiben
+platt, um bis ans Ende des Hafenbeckens und bis zur Kantine zu sehen.</p>
+
+<p>»Und dann«, sagt sie nach einer ganzen Weile, nachdem Herr Gregor
+endlich durch das Hauptportal verschwunden ist, »und dann will er immer
+noch dieses und jenes erzählen und hält sich auf, und im Bureau warten
+sie auf ihn. Meinen Sie wirklich, daß es nur die Sekretärin war? Wollte
+sie etwas Bestimmtes von ihm?«</p>
+
+<p>»Es kann auch jemand von der Personalabteilung gewesen sein. Aber das
+war sicher nur wegen der üblichen Kontrolle. Vielleicht wollte man auch
+hören, ob ich auf meinem Posten sei.«</p>
+
+<p>»Nein, das wollte man sicher nicht. Sind Sie in Ihrem Leben schon
+einmal zu spät gekommen, Herr Karcher?«</p>
+
+<p>»Ja, einmal in zwanzig Jahren.«</p>
+
+<p>»Aber da hat sicherlich ein schwerer Grund vorgelegen?«</p>
+
+<p>»Es war an dem Tage, da meine Frau starb.«</p>
+
+<p>»Ach. Und da sind Sie noch ins Bureau gegangen?«</p>
+
+<p>Herr Karcher sieht auf seinen Federhalter und sagt langsam: »Als ich
+das Haus verließ, hat sie noch gelebt. Aber ich war sehr unruhig und
+kam zurück und ging zur Nachbarin und dachte auf der Straße daran, daß
+ich wieder etwas vergessen hatte, und da bin ich fünf Minuten zu spät
+gekommen.«</p>
+
+<p>»Fünf Minuten? Ach, da hat sich doch niemand darüber aufgehalten?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span></p>
+
+<p>»Doch. Der Vorsteher wurde wütend und brummte: ›Da fängt der auch schon
+an.‹ Er war knurrig und mochte mich gar nicht sehen, bis dann die
+Nachbarin kam und sagte, daß meine Frau gestorben sei.«</p>
+
+<p>»Da hat er wohl eine Erklärung gehabt?«</p>
+
+<p>»Jedenfalls.«</p>
+
+<p>»Wie lange liegt das zurück, Herr Karcher?«</p>
+
+<p>»Zehn Jahre.«</p>
+
+<p>»Zehn Jahre. Und seitdem sind Sie immer allein? Ach, du lieber Gott, es
+ist doch wirklich wahr, da fehlt wieder ein Knopf!«</p>
+
+<p>»Ja, ich habe ihn eingesteckt.«</p>
+
+<p>»Dann geben Sie ihn nur her, man wird sich doch so eines armen
+Junggesellen annehmen müssen.« Sie zieht schon einen schwarzen Faden
+und eine Nadel aus ihrer Schürzentasche.</p>
+
+<p>»Nein, so etwas! Was sind Sie für ein hilfreiches und praktisches
+Menschenkind! Haben Sie das immer so zur Hand?«</p>
+
+<p>»Aber gewiß! Bei meinen Kindern auf den Kähnen und bei den vielen
+Leuten hier im Hafen gibt es stets allerhand zu nähen. So, nun ist
+der Schaden bald repariert. Und diese kleine Stelle wollen wir auch
+gleich etwas zusammenziehen. — Wissen Sie, das ist das Herrliche an
+meiner Arbeit hier, daß ich sie mir suchen darf. Nachdem der Direktor
+mich damals engagiert hatte, bin ich zu ihm hingefahren und habe<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> ihn
+gefragt, was ich denn nun zu tun hätte. ›Ja,‹ sagte er, ›das weiß
+<em class="gesperrt">ich</em> doch nicht, das werden <em class="gesperrt">Sie</em> finden müssen. Im Hafen
+sind viele Menschen bei der Arbeit, denen etwas passieren kann. Sie
+können den Finger quetschen oder krank werden, und wenn einer besonders
+schlecht aussieht, dann könnte so eine Frau wie Sie ihn vielleicht
+fragen, was ihm fehlt.‹ Das hat er wirklich gesagt. Und dann meinte er
+noch: ›Vergessen Sie nicht die Leute auf den Kähnen. Die Schiffer mit
+ihren Familien sollen sich bei uns wohlfühlen. Sie müssen sich eben
+immer vor Augen halten, daß Sie die Fürsorgestelle sind.‹ Und dabei
+betonte er das Wort ›Fürsorge‹ so besonders. Unterwegs, in der Bahn,
+mußte ich immerfort darüber nachdenken. Schließlich habe ich mir das
+Wort in zwei Teile zerlegt, und da kam ich dahinter. ›Für Sorge‹ soll
+ich da sein, für alle Sorgen, um sie zu vertreiben. Und daran will ich
+mich eben immer halten.«</p>
+
+<p>»Vielleicht hat das Wort aber die Bedeutung von Vorsorge; also
+vorsorgen, vorbeugen gewissermaßen sollen Sie«, meint Herr Karcher,
+während er auf ihre flinken Finger sieht.</p>
+
+<p>Sie läßt die Nadel im Stoff stecken und macht ein sehr nachdenkliches
+Gesicht.</p>
+
+<p>»Nun haben Sie mir alles umgeworfen, und ich kann wieder von neuem
+anfangen, darüber zu grübeln. Sie mögen auch recht haben. Vorbeugen,
+sehen Sie, das kann auch in seiner Absicht gewesen sein. Denn wie
+der Direktor<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> mich draußen einmal traf, sagte er: ›Die Kinder der
+Schiffer laufen hier zwischen den Bauten herum, es könnte ihnen etwas
+passieren. Vielleicht haben Sie eine Beschäftigung für sie, Spiele oder
+Handarbeiten, damit sie auf einem Platz gesammelt sind.‹ Ja, an was er
+alles denkt. Damit also haben wir dem Unglück vorgebeugt.«</p>
+
+<p>Jetzt reißt sie den Faden ab und ist mit ihrer Arbeit fertig.</p>
+
+<p>»War das auch eine dienstliche Verrichtung?« fragt Herr Karcher
+lächelnd.</p>
+
+<p>»Da müßte ich erst bei der Direktion anfragen.« Sie lacht schelmisch
+und steckt das Nähzeug wieder in die Tasche. »Ja, nun will ich gehn.«
+Sie nickt ihm kameradschaftlich zu und verschwindet hinter der Tür.
+Das beabsichtigte Telephongespräch wird sie wohl doch bei Frau Reiche
+führen.</p>
+
+<p>Herr Karcher ist wieder mit seinen Büchern allein und betrachtet den
+festgenähten Knopf. Aber vor dem Fenster sieht er etwas Helles, und das
+ist Schwester Emmis blaugestreiftes Kleid. Ihr wasserstoffblondes Haar
+hat dunkle Flecken, weil sie es in seiner natürlichen Farbe nachwachsen
+läßt. Herr Karcher findet das sehr schön. Plötzlich springt er hoch,
+reißt beide Fensterflügel auf, daß die neue Ölfarbe kracht, und ruft
+hinaus:</p>
+
+<p>»Ich habe ja den Dank vergessen!«</p>
+
+<p>Dann schlägt er das Fenster wieder zu und hat den Dank durchaus noch
+nicht nachgeholt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p>
+
+<p>Schwester Emmi lacht und wehrt mit großen Armbewegungen ab. Dann geht
+sie wieder ihres Weges, und Herr Karcher beugt sich über seine Bücher.</p>
+
+<p>So schön könnte es also auch weiterhin in seinem kleinen Kontor sein,
+wenn nicht plötzlich eine neue Nachricht bombenartig hereingeplatzt
+wäre.</p>
+
+<p>Wer es zuerst erzählt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls
+ist ein jeder mit dem Gerücht beschäftigt, daß ein neuer Hafendirektor
+einziehen soll.</p>
+
+<p>Und Joachim Becker? Er ist für die höhere Politik vorgesehen,
+als Außenminister des Hafens gewissermaßen. Er übernimmt die
+Generaldirektion in der Stadt und hat im Hafen seinen Direktor.
+Ja, diese Hafengesellschaft, sie hat erst <em class="gesperrt">ein</em> Becken,
+aber <em class="gesperrt">zwei</em> Direktoren, und davon ist der eine sogar ein
+Generaldirektor und der andere ein richtiger Kapitän.</p>
+
+<p>»Ein Kap'tein?« fragt Schiffer Martens ungläubig.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt Lagerverwalter Scholz, »das habe ich gehört, und aus einem
+großen Seehafen soll er kommen.«</p>
+
+<p>»Düwel! Dann ist er auf den Riesenschiffens über den Großen Teich
+gefahren. Dat is mien Mann!«</p>
+
+<p>Und er freut sich ordentlich auf seinen großen Kollegen.</p>
+
+<p>Auch der Bodenmeister Ulrich erwartet gern den neuen Mann. Nun würde
+doch einer kommen, der seiner würdig wäre, einer, der auch die Welt
+gesehen hat und nicht wie dieser hier immer mit der Nase in der Heimat
+geblieben ist<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> und dabei doch klugschnacken will. Ja, Ulrich ist ein
+weitgereister Mann. Er war für einen großen Spediteur in Saloniki
+tätig, und in Rustschuk hat er einen Getreidespeicher mit Elevatoren
+und allem modernen Kram bedient. Ach, sogar in Konstantinopel ist er
+gewesen, und wenn er von den Harems erzählt, die er in seinem Leben
+schon gesehen hat, dann sperren die anderen die Mäuler nur so auf.</p>
+
+<p>Aber daran liegt ihm wenig. Nun würde doch einer kommen, mit dem er
+auch ein Wort in einer anderen Sprache reden könnte, denn so ein
+Kapitän versteht natürlich alle Sprachen, zum Beispiel Französisch.
+Und über das Technische könnte man sich mit ihm richtig fachmännisch
+unterhalten, über Schiffsbecherwerke und Saugförderanlagen und Krane,
+über die ganze Ausrüstung, die ein moderner Getreidespeicher heutzutage
+braucht. Ulrich zweifelt keinen Augenblick daran, daß ein Mann, der in
+der Welt herumgekommen ist, davon etwas versteht.</p>
+
+<p>Er sieht im Geiste den halbfertigen Getreidespeicher in seiner
+vollkommenen Größe und mit allen maschinellen Anlagen ausgestattet.
+Dann ist seine Zeit angebrochen, denn dafür ist er bestimmt, und
+er wartet nur darauf. Nun aber kommt der Kapitän, der dafür sorgen
+muß, daß der Bau beschleunigt wird, und daß es ein richtiger und
+sehenswerter Hafen wird.</p>
+
+<p>So freut sich auch der Bodenmeister Ulrich auf den Kapitän.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p>
+
+<p>Aber da sind einige im Hafen, die ihm mit großer Sorge entgegensehen.</p>
+
+<p>»Brauchen wir schon einen Aufpasser hier im Hafen?« fragt Frau Reiche
+ihren Mann. »Ich meine, es ist doch bisher ganz gut so gegangen.«</p>
+
+<p>»Wenn die Direktion es für richtig hält, so mag es schon stimmen«,
+meint der ehemalige Bäckermeister und jetzige Kantinenwirt. Sein
+blasses, aufgeschwemmtes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen
+und dem roten Schnurrbart ist in letzter Zeit etwas eingefallen, denn
+er hat es nun mit Selterwasser und Milch versucht, und das ist nicht
+das richtige Getränk für einen Mann, der zu vergessen hat, daß er das
+beste Brot im ganzen Stadtviertel backen konnte, und der nun hinter dem
+Schanktisch stehen muß, weil es die Frau so will.</p>
+
+<p>»Mag es schon stimmen,« macht sie ihm mit verzogenem Mund nach, »mag es
+schon stimmen! Du bist auch so einer, der alles für richtig findet, was
+die Obrigkeit anordnet, ohne einmal selber darüber nachzudenken. Ich
+bin der Ansicht, wir brauchen noch keinen Kapitän. Dazu sind wir hier
+noch viel zu klein. Aber der Direktor Becker weiß nicht mehr, wo er
+hinaus soll mit seinen hohen Plänen, und wenn man ihn sprechen will, so
+hat er keine Zeit.«</p>
+
+<p>»Das ist auch richtig so. Unsereins hat in seinem Bureau nichts zu
+suchen. Was er uns zu sagen hat, läßt er uns schon durch Herrn Gregor
+bestellen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
+
+<p>»Na, und ist es nicht immer sehr gut gegangen mit Herrn Gregor?« fragt
+sie triumphierend. »Brauchen wir einen neuen Mann? Warum können sie
+denn dem Herrn Gregor nicht den Posten geben?«</p>
+
+<p>»Dafür werden sie schon ihre Gründe haben«, sagt ihr Mann und verläßt
+den Raum.</p>
+
+<p>»Esel«, ruft sie ihm wütend nach. Nein, sie ist gar nicht zufrieden mit
+dem angekündigten neuen Mann.</p>
+
+<p>Und darin stimmt ihr selbst Herr Gregor zu, der in den letzten Monaten
+nicht immer ihre Ansichten teilte, und der recht schwer zu lenken war.</p>
+
+<p>»Das wird hier ja recht gemütlich werden«, sagt er zu Herrn Karcher,
+der über seinen Büchern sitzt und alle Prophezeiungen vom neuen Mann
+über sich ergehen läßt.</p>
+
+<p>»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragt Herr Karcher.</p>
+
+<p>»Nein, den hat noch niemand gesehen. Der Becker hat ihn auf seiner
+Reise getroffen, er soll von den Reedereien empfohlen sein.«</p>
+
+<p>»Von den Seehafenreedereien?« fragt Herr Karcher, als wüßte er, daß
+diese Empfehlung dann etwas zu bedeuten habe.</p>
+
+<p>»Jedenfalls von den Seehafenreedereien, denn der Kommerzienrat und der
+Becker haben dauernd in den Seehäfen Besprechungen gehabt.«</p>
+
+<p>›Was bist du doch für ein kurzsichtiger Mann‹, apostrophiert Herr
+Karcher sich selbst mit Beschämung. ›Da denkst<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> du, es könnte alles
+so bleiben, wie es ist: mit einem halbstündigen Morgenbesuch des
+Direktors, mit Herrn Gregor und Schwester Emmi. Doch mit dem Kapitän
+und den Reedereien wird es schon seine besondere Bewandtnis haben. In
+<em class="gesperrt">die</em> Pläne siehst du nicht hinein, aber für die Weiterentwicklung
+des Hafens und für dieses ganze Riesenprojekt werden sie schon
+ungeheuer viel bedeuten. Wenn es nach dir ginge, könnte man die ganzen
+in den Hafen gesteckten Millionen in den Schornstein schreiben‹. Er ist
+bereit, sich den Beschlüssen der obersten Leitung ohne Kritik zu fügen.</p>
+
+<p>»Der wird schon der rechte schneidige Mann sein«, setzt Herr Gregor
+seinen Gedankengang fort. »Da der Becker ihn ausgesucht hat, ist er
+sicher einer von seinem Kaliber: hochmütig, scharf und kurz angebunden.«</p>
+
+<p>Herr Karcher schweigt.</p>
+
+<p>»Aber es mag auch sein,« überlegt Herr Gregor weiter, »daß er das
+Gegenteil davon ist: ein Duckmäuser. Denn man kann vermuten, daß der
+Becker nicht einen von seiner Art neben sich duldet, das gäbe ja eine
+unliebsame Konkurrenz. Und wenn man der Schwiegersohn ist, darf man
+sich schon einen persönlichen Geschmack leisten.«</p>
+
+<p>»Ja, Herr Gregor,« meint der andere, während er, über den eigenen
+Mut errötend, auf seinen Federhalter starrt, »Sie sind wie der
+Kammerdiener, der seinen Herrn in Unterhosen sieht. Sie wollen
+nicht die Größe an ihm erkennen, weil Sie ihn zu sehr aus der Nähe
+betrachten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p>
+
+<p>Herr Gregor starrt den kleinen Mann verblüfft an. Er begreift den
+Sinn seiner Worte erst allmählich, sie waren aus diesem Munde gar zu
+überraschend gekommen. Nun möchte er sich am liebsten in Positur setzen
+und solche Bemerkungen aufs strengste untersagen, aber er überlegt, daß
+er jetzt einige Freunde im Hafen sehr nötig gebrauchen wird, da der
+Feind im Anrücken ist. Denn nur so und nicht anders kann er den Kapitän
+betrachten.</p>
+
+<p>»Auf jeden Fall,« schließt er seine Erwägungen, ohne der unpassenden
+Äußerung Beachtung zu schenken, »auf jeden Fall haben wir dann einen
+Schnüffler mehr.«</p>
+
+<p>Auch Schwester Emmi fürchtet sich ein wenig vor dem neuen Mann.
+Zuallererst denkt sie daran, wie dann dem armen Herrn Gregor zugesetzt
+würde, der nun, nach der Rückkehr Joachim Beckers, zwar pünktlicher
+geworden ist, aber doch jede Kontrolle haßt. Ja, er ist ein freier
+Mann, ein Herrenmensch, aber man erkennt nicht seine besondere Art an,
+und darum grollt die kleine Schwester dem Direktor, so sehr sie ihn
+auch sonst zu schätzen gezwungen ist.</p>
+
+<p>Und wie würde es bei dem neuen Kapitän um ihre eigene Tätigkeit
+bestellt sein? Ob es dann auch heißen würde: die Arbeit müssen Sie
+selbst finden? Ach, sie hat soviel gefunden, und bis zum späten Abend
+ist sie auf den Beinen.</p>
+
+<p>Im Winter hat sie ganz allein dafür gesorgt, daß die Schifferkinder vom
+Winterlager auch die Schule besuchten<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> und für das im Sommer versäumte
+Pensum Nachhilfen erhielten. Ihr ist es zu verdanken, daß vom entfernt
+gelegenen Südbecken, in dem wegen der Sprengungen die meisten Gefahren
+für die Arbeiter lauern, eine direkte Telephonleitung in ihre kleine
+Wohnung gelegt wurde, damit sie bei Unfällen sofort gerufen werden
+kann. Sie ist immer schnell zur Hand gewesen und hat manchem die erste
+Hilfe geleistet. Selbst auf das Gelände der Verhüttungsgesellschaft,
+die im kleinen mit der Förderung der Erze begonnen hat, war sie schon
+geholt worden, und sie ist eher erschienen als der Arzt von der
+Rettungsstation, der ihren fachmännischen Verband rühmte.</p>
+
+<p>Jetzt hat sie den Bauarbeitern sagen lassen, wer schwächliche Kinder
+habe, solle es melden, sie werde für eine Unterbringung in den
+Ferienkolonien sorgen, denn sie hat die Unterstützung der Stadt. Für
+einige Kinder des Hafenpersonals aber, das immer eine bevorzugte
+Stellung einnimmt, weil es doch die eigentlichen Angehörigen des Hafens
+sind, hat sie bei einem Dorfschullehrer in ihrer Heimat einen schönen
+Ferienaufenthalt gesichert. Joachim Becker setzte ihr einen bestimmten
+Betrag dafür aus, als sie ihm zaghaft den Vorschlag machte, und sie hat
+lange gerechnet und überlegt und das Geld gut verteilt. Das Lob des
+Direktors, der mit seinen kühlen grauen Augen immer kurz in ihr Gesicht
+blickt, wenn sie von ihren Plänen spricht, ließ sie erröten. Sehr
+aufgeregt und ängstlich ist sie stets in das Stadtbureau gefahren,<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span>
+wenn sie ein besonderes Anliegen hatte, aber auf dem Heimweg war sie
+immer von großem Stolz und Glück erfüllt.</p>
+
+<p>Wenn sie sich um Herrn Gregors leibliches und seelisches Wohl ein wenig
+besorgt zeigt und ihm zuweilen abends noch einige Blumen ins Zimmer
+trägt, auch wenn er nicht zu Hause ist — und er ist abends oft nicht
+da —, so erfüllt sie doch menschliche Pflichten an ihrem nächsten
+Nachbarn, denn sie wohnen im Gebäude der Hafenwirtschaft Tür an Tür.
+Sie sucht ihn auf diese Weise ans Haus zu fesseln, damit er am nächsten
+Tage seinen Aufgaben für die Hafengesellschaft um so besser nachkomme,
+und wenn sie ihn auch einmal begleitet, so geschieht das nur, weil
+sie ihn vor schlechter Gesellschaft bewahren will. Ist das nicht eine
+Motivierung, die sich auch vor dem neuen Kapitän sehen lassen kann?</p>
+
+<p>Und daß Frau Reiche, die Kantinenwirtin, die in der ersten Zeit ihre
+Freundin war, sich nun als Feindin entpuppte, verdankt sie nur ihren
+Bemühungen, Herrn Gregor dem verderblichen Einfluß zu entziehen! Doch
+das ist ein Kapitel für sich.</p>
+
+<p>Sie ist nicht im reinen darüber, ob der neue Mann etwas Gutes oder
+Böses in ihr Leben hineinbringen werde, und weil sie weder mit Herrn
+Gregor noch mit Frau Reiche, die ihn beide als den Feind betrachten,
+in Ruhe darüber sprechen kann, und weil auch Herr Karcher nur von
+Respektsgefühlen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> erfüllt ist, ohne sich eine eigene Meinung zu
+erlauben, hat sie das Bedürfnis, zur Mühle hinüberzugehen, um mit
+Irmgard Pohl zu plaudern oder gar einige Worte von Herrn Pohl selbst zu
+hören.</p>
+
+<p>Seitdem sie in den Hafen übergesiedelt ist, hat es sie oft zur Mühle
+hingezogen, und sie ist das verbindende Element zwischen Hafen und
+Mühle, obgleich Rechtsanwalt Bernhard seinen Prozeß in der ersten
+Instanz verloren hat und an die Einsicht eines höheren Gerichtshofes
+appelliert.</p>
+
+<p>Irmgard sitzt auf der Bank vor dem Hause und zeigt dem kleinen Michael
+die Blumenpracht des Gartens. Sie spricht mit dem Knaben, der eben
+ein Jahr alt geworden ist, wie mit einem Erwachsenen und bekommt ein
+lustiges Krähen und Jauchzen zur Antwort.</p>
+
+<p>›Wie langsam entwickelt sich so ein Menschenleben,‹ denkt sie, während
+sie das Kind im Arm hält, ›und wie schnell wachsen die menschlichen
+Werke!‹ Sie blickt zum Hafen hinüber: dort hat der Getreidespeicher
+sein drittes Stockwerk wieder erreicht, im Hafenbecken liegen die
+Flußschiffe in zwei Reihen, und die Kräne recken vor den Lagerhallen
+ihre schwarzen Arme in die Höhe.</p>
+
+<p>Das ist etwas Fertiges in sich, etwas Hochgewachsenes und vollkommen
+Ausgestattetes, an dem nichts mehr zu verbessern scheint, aber ein
+Mensch ist in der gleichen Zeit nur einige Zentimeter gewachsen, er hat
+kaum sprechen und gehen gelernt, und wenn er schließlich zweiundzwanzig
+Jahre alt ist<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> wie Irmgard Pohl, dann glaubt er wieder am Anfang zu
+stehen und beginnt erst an seiner Inneneinrichtung zu bauen.</p>
+
+<p>Sie wird in ihren Gedankengängen von Schwester Emmi unterbrochen, die
+den Knaben mit entzückten Lauten begrüßt.</p>
+
+<p>»Nein, wie er wieder gewachsen ist!« ruft sie einmal über das andere,
+»und was für ein reizender und gesunder Kerl!«</p>
+
+<p>Sie setzt sich auf den schöngepflegten Rasen und nimmt das Kind in
+ihren Schoß. Während sie mit dem Kleinen spielt, erzählt sie vom
+erwarteten neuen Mann im Hafen. Dabei lacht sie und neckt den Knaben.
+So einen lustigen Kameraden hat er nicht alle Tage, und er weiß die
+Minuten mit genießerischer Freude auszukosten.</p>
+
+<p>Frau Pohl tritt, von dem Lärm angezogen, vor die Tür und sieht
+mißbilligend auf die Zerstörung ihres Gartens, denn nach ihrer
+Auffassung ist die grüne Rasenfläche nur für den Anblick bestimmt. Sie
+kann sich seit einigen Wochen schon ohne Stock bewegen.</p>
+
+<p>Schwester Emmi will aufstehen, um sie zu begrüßen, denn sie hat sehr
+viel Respekt vor der hochgewachsenen Frau mit den harten Gesichtszügen,
+die ihr immer noch als Wesen einer anderen Welt erscheint. Ihre
+unbewußte Abneigung gegen die Wiederauferstandene sucht sie durch eine
+besonders erzwungene Freundlichkeit und Aufgeräumtheit zu verbergen.<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span>
+Aber nun kann sie ihr nicht einmal entgegengehen, denn der kleine
+Tyrann will seinen Platz nicht aufgeben und beginnt zu schreien, sobald
+sie sich erheben will.</p>
+
+<p>So ruft sie einen lauten Gruß hinüber und lacht. Frau Pohl nickt kaum
+merklich und sagt zu ihrer Tochter:</p>
+
+<p>»Ich wollte dich zum Kaffee rufen, du benachrichtigst wohl den Vater?«
+Sie hat keine Einladung für den Gast.</p>
+
+<p>»Ja, gern«, sagt Irmgard freundlich. »Schwester Emmi wird uns
+Gesellschaft leisten. Wir wollen doch noch ein wenig plaudern.«</p>
+
+<p>»Soll ich zu Herrn Pohl hinüberspringen?« fragt die Schwester, die gern
+aus dem Gesichtskreis der unfreundlichen Frau verschwinden möchte.</p>
+
+<p>»Ach ja,« sagt Irmgard, »das ist lieb von Ihnen«, und sie nimmt ihr
+den Knaben ab, der sich über die Folgen der Veränderung noch nicht
+schlüssig ist und schweigt.</p>
+
+<p>»Gib mir den Jungen«, sagt Frau Pohl rasch, und sie geht mit dem
+schreienden Kind ins Haus.</p>
+
+<p>»Aber kommen Sie auch zurück!« ruft Irmgard der Schwester nach. Sie
+kennt den ersten Eindruck, den Fremde von der Mutter gern schnell
+wieder davontragen.</p>
+
+<p>Schwester Emmi winkt ihr beruhigend zu und verschwindet im Kontor der
+Mühle.</p>
+
+<p>»Ei sieh da!« ruft der Mühlenbesitzer aus, als sie nach zaghaftem
+Klopfen in sein Zimmer tritt. »Kehrt unsere Schwester reumütig zurück?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p>
+
+<p>»Ach ja,« sagt sie, auf den Scherz eingehend, »und nun will ich Sie zum
+Kaffee abholen.«</p>
+
+<p>Er erhebt sich und geht ihr entgegen.</p>
+
+<p>»Da soll ich wohl gleich mitkommen?«</p>
+
+<p>»Sofort, wie ein Verhafteter!«</p>
+
+<p>Er nimmt seine Mütze vom Haken und öffnet der Schwester die Tür.</p>
+
+<p>Schwester Emmi will den kurzen Weg rasch für eine Aussprache nutzen und
+beginnt zu plaudern.</p>
+
+<p>»Wissen Sie, Herr Pohl, Ihr Vorschlag neulich mit der kleinen
+Apotheke im Schuppen am Südbecken war wirklich sehr gut. Die
+Verhüttungsgesellschaft hat sich daran beteiligt, weil sie es doch so
+weit bis zur nächsten Hilfsstelle hat und noch gar keine richtigen
+Gebäude besitzt. Nun ist das für alle eine sehr große Erleichterung,
+denn gerade dort passiert doch mal dieses und jenes.«</p>
+
+<p>»So. Findet denn die Verhüttungsgesellschaft da drüben schon Erze?«</p>
+
+<p>»Ja, das muß man annehmen. Aber was meinen Sie, Herr Pohl,« schießt sie
+nun auf ihr Ziel zu, »was wird das wohl für ein Mensch sein, dieser
+neue Kapitän, den wir jetzt bekommen sollen?«</p>
+
+<p>»Bekommt ihr einen Kapitän?«</p>
+
+<p>»Ja, einen neuen Hafendirektor, der bei uns wohnen soll und auch sein
+Bureau im Hafen haben wird. Das Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude haben
+sie schon dafür<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> eingerichtet, jetzt arbeiten sie an der Wohnung im
+ersten Stock.«</p>
+
+<p>»So. Was soll denn nun der andere Direktor?«</p>
+
+<p>»Der wird Generaldirektor im Stadtbureau. Aber was meinen Sie, wie kann
+das werden mit so einem Kapitän im Hafen?«</p>
+
+<p>»Hm, da müßte man den Mann schon gesehen haben.«</p>
+
+<p>Ach ja, da hatte er recht, was sollte man jetzt schon sagen können?
+Sie stellt auch gar zu törichte Fragen an diesen reifen und erfahrenen
+Mann. Aber er hört sie geduldig an und gibt sogar eine Antwort darauf.</p>
+
+<p>Sie sind im Haus angelangt, und Schwester Emmi hätte sich auf den
+Kaffee am schönen runden Tisch sicherlich sehr gefreut, wenn noch alles
+so wie damals gewesen wäre, als Frau Pohl »oben« lag und am Leben der
+Gegenwart keinen Anteil nahm.</p>
+
+<p>Nun sind über das Sofa und den Lehnstuhl am Fenster die alten
+Häkeldecken gebreitet, die Irmgard damals entfernt hatte, Nippes,
+Tischchen und anderer kleiner Hausrat hat das Zimmer so gefüllt, daß
+man sich nicht zu rühren wagt.</p>
+
+<p>Schwester Emmi fühlt sich sehr unbehaglich. Sie beobachtet verstohlen
+die beiden Frauen und stellt fest, daß Irmgard die Züge und die hohe
+schmale Figur der Mutter hat. Aber was bei der alten Frau, die eine
+Greisin scheint, obgleich sie noch nicht fünfzig Jahre zählt, hart<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> und
+streng gebildet ist, wirkt bei Irmgard weich und ausgeglichen.</p>
+
+<p>›Was hat sie doch jetzt für ein liebes freundliches Gesicht‹, denkt
+die Schwester, wenn sie Irmgard Pohl betrachtet, die nun wieder ganz
+verjüngt wirkt. Sie empfindet den Kontrast neben der schweigsamen
+Frau wohltuend und erwärmend. Die schönen goldbraunen Augen Irmgards
+streifen besorgt ihre Mutter und bleiben mit großer Zärtlichkeit am
+Gesicht des Vaters haften.</p>
+
+<p>Die Unterhaltung bewegt sich fast nur zwischen Irmgard und der
+Schwester. Sie sprechen von den Eigenheiten und drolligen Bemerkungen
+des kleinen Michael. Während der Mahlzeiten muß er im Schlafzimmer
+bleiben, denn Frau Pohl ist nicht für Unruhe und Unregelmäßigkeiten bei
+Tisch.</p>
+
+<p>Dann unterhalten sie sich von den Aufgaben der Fürsorgestelle. Herr
+Pohl erkundigt sich nach den Ferienkindern und lobt Schwester Emmis
+Eifer und Erfolge. Sie ist sehr stolz darüber.</p>
+
+<p>Frau Pohl vertritt die Ansicht, daß solche Fürsorge für die
+verwahrlosten Kinder der Arbeiter, die es gar nicht besser haben
+wollen, übertrieben sei, und sieht Schwester Emmi mißbilligend an.</p>
+
+<p>Die Schwester blickt auf Vater und Tochter, aber weil beide
+rücksichtsvoll schweigen, entgegnet sie nur, daß »ihre« Leute Ausnahmen
+seien. Dann verabschiedet sie sich bald, weil ihre Pflichten warten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p>
+
+<p>Irmgard nimmt ihr das Versprechen ab, wiederzukommen, aber Frau Pohl
+sagt zu ihrer Tochter, als Schwester Emmi gegangen ist:</p>
+
+<p>»Diese Person scheint nicht der geeignete Umgang für dich. Sie
+macht einen leichtsinnigen Eindruck und kann dich nicht zum Guten
+beeinflussen.«</p>
+
+<p>»Ach, Mutter,« sagt Irmgard, »hast du so wenig Vertrauen zu mir? Aber
+wenn du wegen meines Umganges besorgt bist, will ich mich am besten an
+den Vater halten. — Nimmst du mich mit?« fragt sie den Mühlenbesitzer,
+der sich erhoben hat, um wieder in sein Kontor zu gehen.</p>
+
+<p>»Ich dachte, du deckst hier den Tisch ab«, sagt Frau Pohl.</p>
+
+<p>»Sie kann mir im Kontor bei den schriftlichen Arbeiten helfen«, meint
+Herr Pohl einlenkend.</p>
+
+<p>Irmgard ist ihm so dankbar für diese Worte, daß sie um seinetwillen
+rasch in die Küche läuft und das Hausmädchen holt, damit es der Mutter
+bei der Arbeit hilft.</p>
+
+<p>Im Vorgarten hat sie den Vater bereits wieder eingeholt. Sie hängt sich
+in seinen Arm und fragt ihn:</p>
+
+<p>»Könntest du mich nicht in deinem Bureau einstellen? Ich will auch gern
+noch einen Handelskursus mitmachen.«</p>
+
+<p>Da bleibt er stehen und sieht ihr in das erwartungsvolle Gesicht:</p>
+
+<p>»Siehst du, das habe ich auch gedacht!«</p>
+
+<p>Und wie zwei gute Kameraden gehen sie Arm in Arm weiter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p>
+
+<p>Irmgard läßt sich in seinem Privatkontor auf das alte schwarze
+Ledersofa fallen, das sie schon als Kind zu stillen Träumereien
+aufgenommen hatte, während der Vater an seinem Schreibtisch arbeitete
+oder die Zeitung las.</p>
+
+<p>In diesem Raum hat sich der Mühlenbesitzer von jeher am wohlsten
+gefühlt, denn drüben im Wohnhaus fand er keine Harmonie. Dort wird
+wieder von morgens bis abends nach einem unerschütterlichen, strengen
+Arbeitsplan gefegt, gewaschen, genäht, und keine Hand darf ruhn. Wie
+soll da die Seele Einkehr halten und ein Herz das andere finden? Aber
+er hat es aufgegeben, ein Prediger in der Wüste zu sein.</p>
+
+<p>Michael Pohl dreht sich auf seinem Arbeitssessel um und blickt zu
+seiner Tochter hinüber, die mit verschränkten Armen lächelnd vor sich
+hinträumt.</p>
+
+<p>»Was meinst du,« fragt er, »wie sollte man sich in einem solchen Fall
+verhalten?« Und er liest ihr einen Geschäftsbrief vor.</p>
+
+<p>Es ist nicht das erstemal, daß er sie um einen Rat fragt, und seht an:
+so eine Frau findet manchmal den besseren Weg und scheint klüger als
+zwei Männer zusammen.</p>
+
+<p>»Ja, so könnte man es machen«, sagt er befriedigt. Er dreht sich wieder
+um und überläßt sie weiter ihren Grübeleien.</p>
+
+<p>Sie denkt, wie es wohl mit einem Generaldirektor und einem Kapitän im
+unfertigen Hafen gehen würde, und sie<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> versucht, sich ein Bild von
+diesem Kapitän zu machen, der Joachim Becker zur Seite gestellt wird.</p>
+
+<p>Darin aber stimmt sie mit allen überein, die den neuen Mann als Freund
+oder Feind erwarten: Ein richtiger Kapitän muß es sein, groß, mit
+wiegendem Gang und breiten Schultern, mit hellen blauen Augen und in
+einem dunkelblauen Anzug.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Kapitaen">Der Kapitän</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-a002" src="images/drop-a002.jpg" alt="A">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>m Nachmittag vor dem 1. August, dem Tage, der für den Einzug
+des Kapitäns bestimmt ist, werden einige Möbel und Kisten am
+Verwaltungsgebäude abgeladen. Wer gerade vorbeikommt, wirft einen Blick
+darauf, und es sind nicht wenige, die zufällig diesen Weg nehmen.</p>
+
+<p>Der größere Teil dieses Hauses ist noch von Gerüsten umgeben, aber
+der linke Seitenflügel wird bereits überdacht, während der turmartige
+Mittelbau und der rechte Flügel noch nicht die vierte Etage erreichen.</p>
+
+<p>Der fast fertige linke Teil hat einen besonderen Eingang an der Seite
+erhalten, direkt gegenüber der Hafenwirtschaft. Hier steht der Wagen,
+und Frau Reiche kann von ihrem Fenster aus jedes einzelne Stück
+betrachten.</p>
+
+<p>»Es sind alles sehr einfache und alte Sachen«, sagt sie zu ihrem
+Küchenmädchen. Sie beobachtet den kleinen dunklen Herrn, der mit
+einem Verzeichnis in der Hand das Ausladen der Möbel verfolgt und mit
+gespreizten Schritten hinaufrennt, um die Aufstellung zu überwachen.</p>
+
+<p>Der leere Möbelwagen fährt davon; der kleine Herr schließt die Wohnung
+ab und geht auch hinaus, ohne in der<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> Hafenwirtschaft eingekehrt zu
+sein, Frau Reiche ist sehr enttäuscht; sie hätte durch ihn gern einiges
+über den Kapitän erfahren.</p>
+
+<p>Nach der Ablösung bestellt der Tageswächter eine Flasche Malzbier bei
+Frau Reiche.</p>
+
+<p>Ehe er die Flasche ansetzt, um sie in einem Zuge auszutrinken, sagt er:</p>
+
+<p>»Na, Frau Reiche, haben Sie den Kapitän gesehen?«</p>
+
+<p>»Den Kapitän?« fragt sie erstaunt. »Nein, ist er hier gewesen?« Sie
+kann es gar nicht erwarten, daß die Flasche leer wird und der Mann
+weiterberichtet.</p>
+
+<p>»Er hat doch hier vor der Tür gestanden beim Ausladen der Möbel.«</p>
+
+<p>»Der Möbel?« fragt sie ungläubig. »Sie meinen doch nicht den kleinen
+Mann mit der Liste?«</p>
+
+<p>»Ob er eine Liste hatte, weiß ich nicht. Aber so ein kleiner dunkler
+Herr ist es gewesen.«</p>
+
+<p>»Nein, mein Lieber«, sagt sie entschieden. »Ein Kapitän ist das nicht
+gewesen.«</p>
+
+<p>»Aber er hat sich ausgewiesen. ›Kapitän v. Hollmann‹ hat auf der Karte
+gestanden, vom Direktor Becker unterschrieben.«</p>
+
+<p>»Dann war es eben ein Beauftragter von ihm«, stellt sie fest, nun ganz
+sicher geworden.</p>
+
+<p>»Na, das mag ja sein, aber wenn's richtig wäre, dürfte nur der Kapitän
+selber die Karte haben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<p>Wie leicht läßt sich der Mann von der Ansicht einer Frau, die etwas mit
+Bestimmtheit zu sagen versteht, überzeugen! Der Wächter geht nun mit
+der sicheren Meinung nach Haus, daß der Kapitän doch blaue Augen und
+einen blauen Anzug hat.</p>
+
+<p>Aber Herr Gregor muß am Abend bestätigen, daß der Kapitän ein kleiner
+Herr mit steifen Beinen in einem grauen Anzug ist. Ja, ein schmales
+brünettes Gesicht hat er und dunkle Haare auch, darin stimmt er in der
+Beschreibung mit Frau Reiche überein, denn Herr Gregor sah ihn heute
+früh im Stadtbureau.</p>
+
+<p>»Das will ein Kapitän sein«, ruft Frau Reiche ein paarmal aus, und sie
+holt sogar ihren Mann herbei, um ihm zu berichten, daß sie als erste
+den Kapitän gesehen hat. So aufgeräumt und lustig ist sie lange nicht
+gewesen wie an diesem Abend. Immer wieder deckt sie komische Seiten
+dieses Mannes auf, der mit einer Liste in der Hand hinter seinen Möbeln
+hergerannt war, und der ein Kapitän sein soll.</p>
+
+<p>Sie wird vor Freude darüber so unvorsichtig, daß sie in Gegenwart ihres
+Mannes Herrn Gregor auf die Schulter schlägt und mit einem zärtlichen
+Blick ihrer feuchten Augen versichert:</p>
+
+<p>»Na, dann habe ich keine Sorge mehr!« Mit dem Kapitän wollte sie fertig
+werden!</p>
+
+<p>Herr Gregor hat einen Zettel mitgebracht, der am Wächterhaus befestigt
+wird. Darauf steht zu lesen, daß alle abkömmlichen<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> Hafenbeamten
+und -arbeiter sowie die Herren Bauleiter zu einer Besprechung am 1.
+August um 11 Uhr vormittags von Generaldirektor Becker in den großen
+Kantinenraum gebeten werden.</p>
+
+<p>Wer seinen Platz verlassen kann, erscheint am nächsten Tage pünktlich
+und guckt sich den neuen Hafendirektor an. Der junge Generaldirektor
+stellt ihn mit einer kurzen Rede vor.</p>
+
+<p>»Jeder, der Wünsche und Beschwerden hat, wird gebeten, sich an die
+Hafendirektion zu wenden. Die oberste Leitung bleibt nach wie vor bei
+der Generaldirektion in der Stadt.« Das sind seine letzten Worte.</p>
+
+<p>Auch der Kapitän spricht — mit einer zerbrochenen Stimme, als kämpfe
+er gegen einen heftigen Sturm — einiges zur eigenen Einführung. Er
+hoffe und wolle und so weiter. Es ist nichts von Belang; die schweigend
+abziehende Versammlung hat jedenfalls Neues daraus nicht entnommen.</p>
+
+<p>Vor der Tür verweilen sie noch einen Augenblick und sehen einander an.</p>
+
+<p>»Tja«, sagt wohl der eine oder andere.</p>
+
+<p>»Nun, wir wollen erst einmal abwarten!« Damit scheint zunächst die Ruhe
+und Ordnung im Hafen wiederhergestellt.</p>
+
+<p>Joachim Becker ist dann mit dem Kapitän ins Verwaltungsgebäude
+hinübergegangen, sie sind durch die leeren Bureauräume des
+Erdgeschosses gewandert, die der Kapitän<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> nun allmählich mit seinem
+Personal beleben soll. An der Treppe zum oberen Stockwerk sagt der
+Generaldirektor:</p>
+
+<p>»Meine Frau kommt also heute nachmittag, um Ihnen in der Einrichtungs-
+und Bedienungsfrage ein wenig zu raten. Sie wollte es sich nicht nehmen
+lassen.«</p>
+
+<p>»Das ist sehr liebenswürdig,« sagt der Kapitän, »das ist ganz reizend«,
+und er reibt seine trocknen Hände, daß es raschelt.</p>
+
+<p>»Ich habe Rechtsanwalt Bernhard gebeten, meine Frau zu begleiten.
+Er ist ein Freund der Familie Friemann und kann Sie als unser
+Rechtsbeistand gleichzeitig über einige juristische Fragen flüchtig
+unterrichten.«</p>
+
+<p>»Rechtsanwalt Bernhard«, wiederholt der Kapitän, um sich den Namen
+einzuprägen. »Sehr schön, sehr schön!«</p>
+
+<p>Sie gehen um die Schmalseite des fertigen Hafenbeckens herum, das
+gerade vor dem Verwaltungsgebäude endet, und spazieren am Kai entlang.</p>
+
+<p>Generaldirektor Becker, der soeben von einer Reise aus England
+zurückgekehrt ist, zieht eine Pfeife aus der Tasche, stopft sie
+geschickt mit einer Hand, während er die Linke in der Hosentasche
+hält, und steckt sie in den Mundwinkel. Er sieht dabei fast wie ein
+leibhaftiger Engländer aus.</p>
+
+<p>»Ja«, sagt er, »die englischen Häfen. Davon können wir noch viel
+lernen.«</p>
+
+<p>Vor der Lagerhalle I bleiben sie stehen, um dem Lagerkontoristen einen
+Besuch zu machen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p>
+
+<p>Herr Karcher springt beim Eintritt der beiden Herren von seinem Stuhl
+auf, und siehe da: er ist nicht viel kleiner als der Kapitän.</p>
+
+<p>Sie beratschlagen kurz, ob es besser sei, Herrn Karcher hierzulassen
+oder in das Verwaltungsgebäude hinüberzunehmen, doch der Kapitän ist
+dafür, daß alles beim alten bleibt.</p>
+
+<p>Der Generaldirektor muß sich nun verabschieden und empfiehlt dem
+Kapitän Herrn Karcher zur weiteren Führung. Aber der Kapitän will sich
+selbst orientieren.</p>
+
+<p>Er begleitet Joachim Becker vor die Tür und beginnt seinen Rundgang
+beim Bodenmeister Ulrich in der Lagerhalle II.</p>
+
+<p>Nun ist der große Augenblick für den weltgereisten Herrscher des
+künftigen Getreidespeichers gekommen.</p>
+
+<p>»Also Sie sind der Getreidefachmann«, sagt der Kapitän auf eine
+diesbezügliche Bemerkung hin.</p>
+
+<p>»Ja,« erwidert der Bodenmeister mit strammer Haltung, »im Hafen von
+Rustschuk bin ich zehn Jahre tätig gewesen.«</p>
+
+<p>»Ei sieh da, Rustschuk!« ruft der Kapitän gutgelaunt aus. »Da ist ein
+hübsches Schloß. Und an neunundzwanzig Moscheen kann man sich mehrere
+Tage lang nicht sattsehen. — Rustschuk«, wiederholt er in freundlicher
+Erinnerung, während er vorangeht und die Lagerwaren betrachtet.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p>
+
+<p>Bodenmeister Ulrich folgt ihm stumm, betroffen. Vom großen Donauhafen
+wollte er sprechen, von seinem technischen Wissen, aber die Moscheen
+hat er nicht gezählt. Einsilbig erklärt er die Art der eingelagerten
+Waren, und als der Kapitän die Halle verläßt, sieht er ihm
+kopfschüttelnd nach.</p>
+
+<p>Nun kommt die Lagerhalle mit den Ölen und Fetten an die Reihe, auch
+das große Freilager an Kohlen und Schrott wird besichtigt, der Kapitän
+sieht sich alles eingehend an und sagt:</p>
+
+<p>»Sehr schön, sehr schön.«</p>
+
+<p>Dann bleibt er noch eine Weile beim Lademeister stehen und unterhält
+sich mit ihm. Zum Schluß sagt er:</p>
+
+<p>»Ja, da will ich Sie also nicht länger von der Arbeit abhalten«, und
+geht weiter.</p>
+
+<p>Er stellt sich nicht hin und sieht den Leuten zu, bis sie unsichere
+Hände bekommen. Er spricht sie an und plaudert mit ihnen.</p>
+
+<p>Selbst mit dem kleinen flachsblonden Tom vom Schiffer Jensen will er
+sich unterhalten. Der verschmitzte Bengel ist gerade der Schwester Emmi
+davongelaufen, um zu seinem Pudel auf des Vaters Kahn zu flüchten.</p>
+
+<p>»Na, was machst du denn hier?« fragt der Kapitän mit seiner heiseren
+Stimme, lächelnd.</p>
+
+<p>Das ist wohl nicht der richtige Verkehrston für Tom, denn er rennt
+brüllend weiter. Es gelingt Schwester Emmi,<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> ihn vor der Flucht auf
+den Kahn zu erreichen, denn hier wird ausgeladen, und da hat ein
+vierjähriger Bengel nichts zu schaffen.</p>
+
+<p>»Warum ist er denn fortgelaufen?« fragt der Kapitän die Schwester.</p>
+
+<p>»Er ist heute noch nicht gewaschen, denn seine Mutter liegt im
+Krankenhaus. Wie ich mich umdrehte, um den Schwamm zu nehmen, rannte er
+davon.«</p>
+
+<p>Diese wilde Wasserratte, der Tom, auf dem Wasser geboren und immer dem
+Wasser nahe, vor einem nassen Schwamm hat er Angst. Der Kapitän lacht.</p>
+
+<p>»Sie gehören auch zum Hafen?« fragt er.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt Schwester Emmi, »ich bin die Fürsorgeschwester.«</p>
+
+<p>»So, so, da haben Sie ja eine schöne Aufgabe. Vielleicht besuchen Sie
+mich einmal heute nachmittag, damit wir uns darüber unterhalten können.«</p>
+
+<p>Schwester Emmi bekommt Herzklopfen. Natürlich kann man sich darüber
+unterhalten, da gibt es viel zu berichten, aber warum nicht gleich,
+warum erst nachmittags, so daß sie bis dahin vor Angst vergeht?</p>
+
+<p>»Um welche Zeit, bitte?« fragt sie.</p>
+
+<p>»Nun, so gegen sieben.«</p>
+
+<p>Der Lademeister sieht einen Augenblick auf. Es geht ihn ja nichts an,
+aber er denkt: bisher war hier im allgemeinen um vier Uhr Schluß für
+diejenigen, die frühmorgens<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> angetreten sind, und Schwester Emmi ist
+immer mit den ersten auf den Beinen. Jedenfalls wollte er einmal mit
+seiner Frau darüber sprechen, was das für eine Art sei, ein junges
+Mädchen um sieben Uhr in die Wohnung zu bestellen, denn ein Bureau ist
+noch nicht vorhanden.</p>
+
+<p>Zwei Stunden später bereits hat der Kapitän mit der Generaldirektion
+telephoniert und Möbel für zwei Bureaus angefordert, dazu eine
+Sekretärin. Denn nun weiß er, was er im Hafen zu tun hat.</p>
+
+<p>Als nachmittags um fünf Uhr Frau Generaldirektor Adelheid Becker mit
+Rechtsanwalt Bernhard im Hafen vorfährt, wird sie bereits im neuen
+Privatkontor des Hafendirektors empfangen. Ja, das ist schnelle Arbeit!</p>
+
+<p>Frau Adelheid kann sich gar nicht fassen, so erstaunt ist sie über die
+vielen Fortschritte im Hafen. Sie hat ihn seit der Geburt ihrer Tochter
+nicht gesehen.</p>
+
+<p>»So, ein Töchterchen?« fragt der Kapitän, mit einem Blick auf ihr
+kindliches rundes Gesicht.</p>
+
+<p>Sie errötet. »Ja,« sagt sie, »ich bin sehr glücklich darüber. Aber mein
+Mann wollte eigentlich einen Sohn.«</p>
+
+<p>»Es ist ein reizendes Kind«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Es hat ganz
+und gar die Augen der Mutter.«</p>
+
+<p>»Das sind die Friemannschen Augen,« sagt Frau Adelheid, »sie sehen bei
+dem Kinde so traurig aus. Aber das verliert sich wohl.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span></p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard findet, daß Frau Adelheids Augen auch nicht
+lustiger sind, ja sie dünken ihn sogar sehr traurig, und es wird
+immer schlimmer damit. Als er die junge Frau abholte, waren die Lider
+verdächtig gerötet, und Rechtsanwalt Bernhard gäbe viel darum, wenn er
+das strahlende Lächeln der Adelheid Friemann aus der Tanzstundenzeit
+nur ein einziges Mal wiedersehen könnte.</p>
+
+<p>»Wissen Sie noch,« fragt er, um sie abzulenken, »als wir zum ersten
+Spatenstich hier waren?«</p>
+
+<p>»Ach ja«, ruft sie begeistert aus. »Das war hier alles ebene Erde mit
+ein paar Bäumen. Und — ach, was meinen Sie wohl, Herr Doktor, wo mag
+das gewesen sein — der Platz mit den Linden und den langen Tafeln, wo
+wir nach der Feier gefrühstückt haben?«</p>
+
+<p>Ihr Gesicht ist selig verklärt, während sie zum Fenster hinausspäht und
+den Platz sucht, zu dem ihr Mann sie damals geführt hatte, als sie sich
+so glücklich geborgen fühlte, nachdem sie vorher wie ein verirrtes Kind
+war.</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard überlegt. Plötzlich sagt er sehr laut und selbst
+überrascht:</p>
+
+<p>»Ja, denken Sie, das war hier, genau hier, wo wir jetzt stehen. Man hat
+das Verwaltungsgebäude auf diesen Platz gebaut. Ich weiß es bestimmt,
+denn wir hatten den Blick auf den Kanal und die —«</p>
+
+<p>Er stockt, denn er wollte sagen »die Mühle«, aber gerade in diesem
+Augenblick will er Frau Adelheid nicht an die<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> Nachbarn erinnern, über
+deren Bedeutung sie sicher unterrichtet ist.</p>
+
+<p>Darum sagt er weiter: »Und die lange Tafel, an der wir die belegten
+Brote aßen, hat vielleicht gerade hier gestanden, einen Meter unter uns
+auf der weichen Erde. Ich weiß noch, wie Sie mit Ihrem schmalen Absatz
+fast eingesunken waren, so locker war die Erde.«</p>
+
+<p>»Ja, wissen Sie das?« fragt sie gedankenlos. Es fällt ihr nicht einmal
+auf, daß Rechtsanwalt Bernhard damals anscheinend gar zu genau ihre
+Füße betrachtet hat, so erfüllt ist sie von dem beseligenden Gefühl,
+auf diesem Platz zu stehen.</p>
+
+<p>»Und später,« sagt sie dann, um sich endlich von der Erinnerung
+loszureißen, »später war ich einmal hier, da habe ich nur Löcher
+gesehen. Überall wurde die Erde aufgerissen, aber es war noch kein
+Wasser im Hafenbecken, und noch nicht <em class="gesperrt">ein</em> Gebäude wuchs heraus.
+Seitdem bin ich, offen gestanden, nicht hier gewesen.«</p>
+
+<p>Sie sprach die letzten Worte etwas leiser, als sei es ihr peinlich, das
+eingestehen zu müssen.</p>
+
+<p>»Dann darf ich hoffen,« sagt der Kapitän verbindlich, »daß Sie durch
+mich heute einen willkommenen Anlaß zum Besuch fanden?«</p>
+
+<p>»Ach ja«, erwidert sie, von neuem errötend. Sie fühlt sich so erkannt.</p>
+
+<p>Der Kapitän bietet ihr eine Führung durch den Hafen an. Sie wehrt ab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
+
+<p>»Nein,« sagt sie, »dann wird man von den Menschen so angestarrt. Ich
+kann es auch von hier sehen.«</p>
+
+<p>Das Klingeln des Telephons befreit sie in diesem Augenblick aus
+ihrer Verlegenheit, denn nun wird der Kapitän von ihr abgelenkt, und
+Rechtsanwalt Bernhard ist ihr schon etwas vertrauter. Sie stellen sich
+ans Fenster, während der Kapitän in den Apparat spricht.</p>
+
+<p>Plötzlich hört Frau Adelheid ihn sagen: »Gewiß, Herr Kommerzienrat,
+also morgen früh.«</p>
+
+<p>»Ach — Papa,« ruft sie aus und macht unwillkürlich mit erhobenem Arm
+einen Schritt zum Telephon.</p>
+
+<p>Der Kapitän hat sie verstanden und bittet den Kommerzienrat, einen
+Augenblick zu warten.</p>
+
+<p>Sie nimmt den Hörer.</p>
+
+<p>»Ja, ich bin hier — Papa — Adelheid.« Sie sagt diese Worte mit
+ganz kleiner schüchterner Stimme, wie ein Kind, das zum erstenmal
+telephoniert.</p>
+
+<p>Die beiden Herren sind höflich zur Seite getreten. Der Kapitän
+erkundigt sich nach den Prozessen, der Rechtsanwalt ist jedoch dafür,
+in dieser Angelegenheit an einem anderen Tage vorzusprechen.</p>
+
+<p>»Ja — ja,« sagt Frau Adelheid nun mit fast ersticktem Ton.
+Rechtsanwalt Bernhard sieht plötzlich das vermißte reizende Lächeln auf
+ihrem heißen Gesicht. Es hält noch an, als sie den Hörer hinlegt und
+sagt: »Papa kommt sofort hierher.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p>
+
+<p>Dann setzt sie eine ernste hausfrauliche Miene auf und erwähnt den
+eigentlichen Zweck ihres Besuches: dem Kapitän behilflich zu sein. Sie
+fragt, ob er schon einen Tapezierer für seine Wohnung habe, und wie es
+mit der Reinigung stehe.</p>
+
+<p>Er dankt ihr sehr herzlich, die Vorhänge und Gardinen habe heute
+nachmittag — soeben, ehe sie erschien — der Dekorateur befestigt, der
+mit den Geschäftsmöbeln kam. Die Reinigung könne die Frau übernehmen,
+die drüben im Lager das Kontor versehe.</p>
+
+<p>»Ich dachte an eine Wirtschafterin, die man Ihnen besorgen könnte, des
+Essens wegen«, sagt sie hilfsbereit.</p>
+
+<p>Nein, das sei nicht nötig. Er würde in der Kantine essen.</p>
+
+<p>»Ach, Sie sind ja ein sehr anspruchsloser und praktischer Junggeselle.«</p>
+
+<p>»Ja, das wird man mit der Zeit«, sagt er; aber weil sie sehr enttäuscht
+scheint, und damit sie den Zweck ihres Besuches nicht verfehlt habe,
+meint er, daß er in anderen Fragen gern ihren Rat erbeten hätte, in
+Geschmacksfragen bezüglich der Einrichtung. Ob er ihr die Wohnung
+zeigen dürfe.</p>
+
+<p>»Ach ja.« Sie ist sehr erleichtert, und nun gehen sie zu dritt in die
+erste Etage.</p>
+
+<p>Frau Adelheid gefällt alles sehr gut. Sie haben das Eßzimmer und das
+Arbeitszimmer besichtigt. In den Schlafraum<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> hat sie nur durch die
+offene Tür einen scheuen Blick geworfen.</p>
+
+<p>»Diese schönen alten Möbel,« sagt sie vor dem breiten
+Mahagoni-Schreibtisch, »sie haben sicherlich einen großen Wert.«</p>
+
+<p>»Das kann sein. Für mich sind es jedenfalls kostbare Erinnerungen. Sie
+stammen noch von meiner Mutter.«</p>
+
+<p>»Sie sind musikalisch?« fragt Rechtsanwalt Bernhard, mit einem Blick
+auf den Geigenkasten.</p>
+
+<p>»Ein wenig. Nur für den Hausgebrauch«, meint der Kapitän. Er geht sehr
+schnell über das Thema hinweg und fragt Frau Adelheid, ob nach ihrer
+Ansicht dieses Bild richtig hänge.</p>
+
+<p>»Das Bild hängt sehr schön so, es wirkt sogar ganz ausgezeichnet an
+dieser Stelle.« Nein, hier kann Frau Adelheid nichts verbessern. Sie
+merkt, daß der Kapitän ihr nur gefällig sein wollte.</p>
+
+<p>Zum Glück fährt in diesem Augenblick der Wagen des Kommerzienrats vor.
+Sie entschuldigt sich bei dem Kapitän und eilt die Treppen hinab, um
+ihren Vater zu begrüßen. Die beiden Herren folgen langsam. Rechtsanwalt
+Bernhard möchte sich gern über die moderne Musik mit dem Kapitän
+unterhalten; er sei sehr musikalisch. Aber der Kapitän spricht lieber
+von etwas anderem.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat ist ausgezeichneter Laune. Er hat sich in den Arm
+seiner Tochter gehakt und schlägt eine gemeinsame<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Besichtigung des
+Hafens vor. Nun hat Frau Adelheid keine Angst mehr, sie läßt sich
+alles eingehend erklären, obgleich sie immer wieder eingestehen muß,
+daß sie nicht viel davon begreift. Aber das Ganze macht auf sie einen
+gewaltigen Eindruck.</p>
+
+<p>Selbst dem Kommerzienrat imponieren die Fortschritte. Er spricht sich
+lobend dem Kapitän gegenüber aus, der doch daran noch gar keinen Anteil
+hat.</p>
+
+<p>»Ja, und wenn mein Sohn seinen Doktor gemacht hat,« sagt er mit
+väterlichem Stolz, »dann kann er bei Ihnen als Volontär eintreten, Herr
+Kapitän.«</p>
+
+<p>»Papa, er hat ihn noch nicht gemacht«, warnt Adelheid mit
+abergläubischer Ängstlichkeit.</p>
+
+<p>»Er <em class="gesperrt">wird</em> ihn machen, mein Kind,« meint er lächelnd, »in zwei
+Monaten haben wir ein Telegramm.«</p>
+
+<p>Wenn er jetzt seine kleinen dicken Hände frei hätte, so würde er sie
+vor Vergnügen ineinander legen, wie es zu Hause, im Familienkreis,
+seine Art ist. Aber da er seine Tochter eingehakt hat, begnügt er sich
+damit, ihren Arm ein wenig zu drücken. Er ist, weiß Gott, der beste und
+dankbarste Vater, den man sich denken kann.</p>
+
+<p>»Ihr Sohn ist Nationalökonom?« fragt der Kapitän, um auch etwas zu
+sagen.</p>
+
+<p>»Ja, erst hatte er sich zwar allzusehr für die schönen Künste
+interessiert, wie das so in diesem Alter üblich ist, aber schließlich
+wandte er sich doch einer gesünderen Kunst zu.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p>
+
+<p>Der Kommerzienrat lacht, und der Kapitän stimmt höflich ein.</p>
+
+<p>»Heutzutage werden die jungen Leute mit den tiefgründigen
+Kunstgesprächen geradezu aufgepäppelt, dafür haben sie es aber auch
+schneller überwunden«, fügt der Kommerzienrat hinzu.</p>
+
+<p>»Ja, das mag sein«, meint der Kapitän, er macht nicht den Eindruck, als
+ob er in solchen Fragen kompetent sei.</p>
+
+<p>Schließlich fährt der Kommerzienrat mit seiner Tochter nach Hause, und
+Rechtsanwalt Bernhard, der dem Wagen lange nachblickt, kann nun dem
+Kapitän über die juristischen Angelegenheiten berichten.</p>
+
+<p>Pünktlich um sieben Uhr findet sich Schwester Emmi im Bureau des
+Kapitäns ein.</p>
+
+<p>»Also, bitte, setzen Sie sich, Fräulein — wie war doch Ihr Name?«</p>
+
+<p>»Schwester Emmi.«</p>
+
+<p>»Also — Schwester Emmi — und erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten. Wo
+sind Sie ausgebildet worden?«</p>
+
+<p>Schwester Emmi wird ganz zaghaft. Mein Gott, wann soll sie beginnen?
+Bei ihrer Geburt? Wo sie ausgebildet wurde? Sie ist doch eigentlich
+Säuglingsschwester. Aber das wird sie ihm nicht sagen. Sie wird seine
+Frage einfach überhören. Über ihre Vergangenheit spricht sie nicht
+gern. Von ihren Arbeiten im Hafen jedoch will sie erzählen. Natürlich<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span>
+wird sie an einer ganz falschen Stelle anfangen, sie weiß es genau.
+Doch da sie etwas sagen muß, so redet sie darauf los, kunterbunt
+durcheinander. Sie zählt alles auf, was sie bisher getan hat; dabei
+merkt sie erst, daß es, so einfach summiert, gar nicht bedeutend wirkt.
+Im Gegenteil, es ist sogar sehr wenig. Sie versucht, die gequetschten
+Finger und verstauchten Füße zu zählen, die herausgezogenen Holz-
+und Eisensplitter werden nicht vergessen, und die verwundete Hand
+des Maurers Johannes rechnet sie als fünf kranke Finger. Aber dann
+ist sie am Ende, und sie hat das Gefühl, daß nun alles verloren
+sei. In Gottes Namen! Und wenn sie wieder zurückgehen muß zu den
+egoistisch-glücklichen jungen Müttern und den hungrigen Ehemännern, so
+soll es ihr auch gleich sein. Diese Qual hält sie nicht länger aus.</p>
+
+<p>Aber der Kapitän sagt: »Sehr schön, sehr schön.«</p>
+
+<p>Und dann läuft er im Zimmer umher, immer auf und ab, mit seinen
+gespreizten steifen Beinen und erzählt auch etwas — von einem
+Professor und einem wissenschaftlichen Institut, von klinischen
+Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen, von Lehrschwestern und
+so weiter. Die Schwester versteht nur die Hälfte davon, und sie weiß
+nicht, wohin das alles führen soll.</p>
+
+<p>Schließlich hört sie überhaupt nicht mehr hin. Sie sieht den Kapitän
+scheinbar andächtig und aufmerksam an und hat dabei ihre eigenen
+Gedanken. Ob dieser Mann, der hier<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> so ledern und langweilig etwas von
+Gott und der Welt erzählt, ob er wohl schon einmal verheiratet war?</p>
+
+<p>Sie hat so ein Gefühl dafür, sie kann es nicht erklären, ihr Instinkt
+sagt ihr, daß dieser Kapitän mit den schmalen steifen Gliedern und
+den langen dunkelbehaarten Händen kein echter Junggeselle sei. Nun —
+wenn ihm eine Frau etwa davongelaufen sein sollte, so kann sie das
+vollkommen verstehen. Während sie seine glatt und glänzend gebürsteten
+dünnen Haare betrachtet, muß sie an Herrn Gregors vollen schwarzen
+Schopf denken, und der Vergleich fällt nicht zu des Kapitäns Gunsten
+aus. Da ist ihr doch ein weiches gepudertes Gesicht noch lieber als
+dieser kantige Kopf mit der gebräunten trockenen Haut.</p>
+
+<p>Endlich scheint der Kapitän mit seiner Rede fertig zu sein. Schwester
+Emmi warf einige Male ein »Ja« und »Gewiß« dazwischen, aber sie hat
+sich dabei nur nach dem Tonfall seiner Stimme gerichtet. Jetzt kann sie
+endlich wieder einen Satz dem Sinne nach erfassen, es ist, als wäre der
+Kapitän damit zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt. Er sagt:</p>
+
+<p>»Der Herr Generaldirektor erzählt mir, daß Sie Ihre Sache bisher sehr
+gut gemacht haben. Also lassen wir zunächst alles beim alten.«</p>
+
+<p>Großer Gott, dann ist es ja überstanden! Schwester Emmi atmet
+erleichtert auf und erhebt sich. Sie hat in ihrer Freude das Wörtchen
+»zunächst« ganz überhört.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p>
+
+<p>Der Kapitän drückt ihr fast schmerzhaft die Hand und begleitet sie zur
+Tür. Er selbst geht in seine Wohnung hinauf.</p>
+
+<p>Schwester Emmi blickt geblendet in die Helle des milden Sommerabends.</p>
+
+<p>Schiffer Jensen und Karle Töndern sitzen vor ihren Selterflaschen neben
+der Veranda. Sie grüßen die Schwester mit einem Griff an die Mützen und
+mit einem recht vertraulichen Zwinkern. Ja, ja, blitzen die listigen
+Augen, die jungen Mädchen werden nach sieben Uhr empfangen.</p>
+
+<p>Schwester Emmi sieht an der Hafenuhr, daß sie länger als eine halbe
+Stunde beim Kapitän war. Ihr Herz ist so angefüllt, daß sie es
+irgendwo ausschütten muß. Für dieses Geschenk ist am besten Irmgard
+Pohl geeignet; die hört sich alles schweigend an, ohne gleich von sich
+selbst zu sprechen — wie Frau Reiche oder Herr Gregor —, und dann
+findet sie sogar noch einige ruhige Worte, die man mit nach Hause
+nehmen kann. So geht sie wieder zum »feindlichen« Nachbarn hinüber.</p>
+
+<p>Schiffer Jensen und Karle Töndern starren zu den Fenstern der
+Kapitänswohnung hinauf, denn ihre Köpfe sind mit diesem Problem noch
+nicht fertig geworden. Sie stammen beide von der Wasserkante, und da
+dauert es immer eine Weile, bis sie etwas zu Ende gedacht haben.</p>
+
+<p>Plötzlich senken sie ihre Blicke sehr interessiert auf ihre
+Selterflaschen, denn oben — an einem Fenster — ist der Kapitän
+erschienen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p>Er hat nur das Fenster geschlossen. Das an diesem milden und schönen
+Sommerabend!</p>
+
+<p>Die beiden haben ihrer neugierigen Blicke wegen kein ganz reines
+Gewissen, aber sie denken: Wir werden wohl hier sitzen dürfen!
+Schließlich ist die Kantine doch für uns da!</p>
+
+<p>Wie sie sich noch damit beschäftigen, vernehmen sie etwas Merkwürdiges:
+langgezogene Töne, wie ferne Musik.</p>
+
+<p>»Hörst du das auch?« fragt Karle Töndern.</p>
+
+<p>»Ja, freilich hör' ich das«, sagt Schiffer Jensen etwas ungeduldig. Er
+muß plötzlich an seine Frau denken, die immer noch im Krankenhaus liegt
+und die nächste Fahrt wieder nicht mitmachen kann.</p>
+
+<p>»Es ist eine Violine, mein' ich«, sagt Karle Töndern.</p>
+
+<p>»Ja, das mag sein«, erwidert Schiffer Jensen. Ihm wird immer wehmütiger
+ums Herz. Daran ist nur die verdammte traurige Musik schuld. Nun
+liegt der Tom wieder allein in der Kabuse. Aber weggeben? Da soll die
+Schwester sich nur ja keine Mühe machen. Diese blauen Augen, die in
+Toms Gesicht stecken, gibt es nur noch einmal in der Welt, und die hat
+Toms Mutter. Und wenn Schiffer Jensens Frau im Krankenhaus liegt, dann
+muß Schiffer Jensens Tom immer auf dem Kahn bleiben, denn ohne diesen
+blonden Schopf läßt sich der Kahn von keinem Schlepper ziehen. Das ist
+so gewiß, wie Schiffer Jensen jetzt hier sitzt und mit dem Ärmel über
+die Augen wischt.</p>
+
+<p>»Und es kommt aus der Wohnung vom Kapitän«, sagt Karle Töndern.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p>
+
+<p>»Hm«, macht Schiffer Jensen, denn nun bringt er keinen Ton mehr heraus.</p>
+
+<p>Aber da sagt auch Karle Töndern nichts mehr, und sie sitzen und horchen
+und sind ganz still.</p>
+
+<p>Bis wieder ein Fenster geöffnet wird und der Kapitän nach einiger Zeit
+unten in der Tür erscheint. Da stehen sie auf und ziehen ihre Mützen.</p>
+
+<p>Der Kapitän nickt ihnen zu und geht mit seinem gespreizten steifen Gang
+zum Hafenbecken und immer weiter bis zum Kanal hinunter.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Verhaftung">Die Verhaftung</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-b" src="images/drop-b.jpg" alt="B">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">B</span>ei der Familie Friemann ist wirklich das Telegramm eingegangen:
+»Doktor bestanden. Gratuliere. Felix.«</p>
+
+<p>Das sieht diesem Bengel, diesem Erzschelm ähnlich, daß er dazu seinen
+Eltern gratuliert, anstatt seinerseits die Gratulation abzuwarten.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat war sich zwar längst über die angemessene Belohnung
+dieses tüchtigen Jungen einig, aber er beruft dennoch Frau und Tochter
+zusammen, um sich mit ihnen zu beraten. Joachim Becker ist zu sehr mit
+seinen wichtigen Aufgaben für den Hafen beschäftigt, als daß er an
+solchem Familienrat teilnehmen könnte.</p>
+
+<p>Die vom Kommerzienrat vorgeschlagene Nordlandreise findet auch den
+Beifall der Frauen, aber die Mutter des tüchtigen Kandidaten will
+deswegen nicht auf eine kleine Festlichkeit verzichten, ganz im
+engsten Kreise der Familie. Weil die allernächste Verwandtschaft recht
+ausgedehnt ist, kommt man immerhin auf dreißig Personen.</p>
+
+<p>Wann aber durfte man den Jungen zu Haus erwarten? Natürlich sollte
+er den Feiern seiner Studienkollegen nicht entzogen werden, doch
+konnte er nicht Nachricht geben, dieser<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> unverbesserliche Schlingel,
+dieser Tausendkerl und Hallodri? Der Kommerzienrat findet immer mehr
+freundliche Schimpfnamen für seinen ungeratenen Sohn.</p>
+
+<p>Währenddessen hebt draußen im Park der Villa ein großer Spektakel an.
+Die Kommerzienrätin müßte nicht die Mutter ihres Sohnes sein, wenn sie
+diese Stimme nicht erkennen sollte. Mit einem Aufschrei stürzt sie zur
+Tür, sie rennt so schnell die Treppen hinab, als es ihre geschwollenen
+Beine gestatten.</p>
+
+<p>Rasch ist die ganze Familie im Vestibül. Hier steht ein baumlanger Kerl
+und sagt begütigend: »Aber, aber, meine Herrschaften!« Dabei kollern
+ihm die Tränen über die weichen Backen, und er muß sich dauernd bücken,
+um jemand zu umarmen. Das ist der junge <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann.</p>
+
+<p>»F. F.« fügt er gern nach der Vorstellung seinem Namen hinzu, denn
+er ist, wie sein Vater, ein Freund von Witzen. Die Studiengenossen
+nannten ihn die »Gaslaterne«. Sein weißes kugelrundes Gesicht mit den
+Friemannschen Augen hinter den blitzenden Brillengläsern, meinten sie,
+sei die Milchglaskugel, die lange dünne Figur der Laternenpfahl. Die
+Jugend ist grausam und spottet gern über die Kuriositäten der Mutter
+Natur.</p>
+
+<p>Wer jedoch damit Felix Friemann ärgern will, kommt nicht an den
+rechten Mann! Er lacht wie über einen guten Witz und sagt in seiner
+überhasteten Sprache: »Gewiß, ich will mich bessern, gewiß.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p>
+
+<p>Er hat die Eigenart, daß er in der Eile des Sprechens einige Silben
+verschluckt. Weil er aber seinen Zuhörern diese schlechte Verständigung
+nicht zumuten will, hat er sich daran gewöhnt, ein paar Worte, die
+vielleicht verlorengegangen sein könnten, nachträglich zu wiederholen.</p>
+
+<p>Wer Geduld mit ihm hat oder ihn gar liebt, findet sich in dem
+Kauderwelsch ganz gut zurecht. Doch es ist merkwürdig: vor solchen
+Naturen befleißigt er sich einer ganz ausgezeichneten und normalen
+Sprechweise.</p>
+
+<p>Und die drei glücklichen Menschen, die ihn nun mit Begeisterung und
+Rührung begrüßen, brauchen sich weder über Wortverluste noch über
+Wiederholungen zu beklagen.</p>
+
+<p>Der junge Doktor ist mit allem einverstanden, mit dem Familienfest und
+mit der Nordlandreise. Wann hätte er die Vorschläge seines prächtigen
+Vaters nicht großartig gefunden?</p>
+
+<p>Die bevorstehende Arbeit im Hafen kann er kaum erwarten.</p>
+
+<p>»Denke dir, meine Kommilitonen lachten, als ich ihnen erzählte, was
+wir hier für einen Hafen bauen. Aber neulich hat mein Professor
+doch wahrhaftig einmal im Kolleg das Projekt erwähnt. Na, ich habe
+euch ja gleich darüber telegraphiert. Er fand es phänomenal und —
+durchführbar!«</p>
+
+<p>»Wenn so ein Theoretiker das schon durchführbar findet, nicht wahr?«
+fragt der Kommerzienrat lachend. »Nun will<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> ich dir auch gleich
+verraten, daß ich dem Professor durch die Hafengesellschaft ein
+ausgezeichnetes Exposé einschicken ließ.«</p>
+
+<p>»Also, das ist die Veranlassung gewesen?« fragt der Sohn ehrfurchtsvoll
+und erstaunt.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt die Kommerzienrätin stolz, »was unser Papa alles zustande
+bringt! Er belehrt sogar die Professoren.«</p>
+
+<p>Hier sind vier Menschen, die mit allem einverstanden und zufrieden
+sind, die sich nichts Besseres mehr wünschen.</p>
+
+<p>Was ist so ein unschlüssiger Schürzenjäger wie Herr Gregor dagegen
+für ein unglücklicher Mensch! Nun treibt er die Tyrannei im Hause
+Reiche tatsächlich doch auf die äußerste Spitze, und man kann nicht
+voraussagen, wie lange die verliebte Kantinenwirtin sich das noch
+gefallen läßt.</p>
+
+<p>Er findet ihr Essen miserabel, aber sie sagt nicht: »Sie haben ja schon
+seit mehreren Monaten nichts mehr dafür bezahlt.« Sie flüstert: »Wenn
+es angebrannt ist, so wirst du wohl am besten wissen, woran das liegt.«</p>
+
+<p>Was erwidert darauf Herr Gregor? Er schlägt mit der flachen Hand auf
+den Tisch und steht auf. An der Tür sagt er verächtlich: »Was haben Sie
+wieder für eine schmutzige Schürze umgebunden?«</p>
+
+<p>Es hilft Frau Reiche nichts, daß sie sofort eine schneeweiße breite
+Schürze holt, und daß sie sich abends in ihrem besten Kleid auf die
+Veranda setzt. Da muß sie zuweilen den Kopf auf die Arme werfen und
+heftig schluchzen. Und sie<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> beruhigt sich erst, wenn sie endlich den
+festen Entschluß gefaßt hat, Schwester Emmi Salzsäure ins Gesicht zu
+gießen.</p>
+
+<p>Ihr Mann muß immer öfter hinter dem Schanktisch stehen und in seiner
+schwerfälligen Art Selterwasser und Milch verkaufen. Früher hat Frau
+Reiche in der Küche das beste Essen zustande gebracht und dabei immer
+noch Zeit gefunden, mit den Gästen ein freundliches Wort zu wechseln.</p>
+
+<p>Jetzt hat nicht nur die Güte des Essens nachgelassen, die
+Kantinenbesucher finden auch die Bedienung nicht flink und freundlich
+genug. Der ehemalige Bäckermeister ist kein redseliger Mann, und mit
+den guten Eigenschaften seiner Frau kann er sich freilich nicht messen.
+Deswegen ist er auch schon sehr bescheiden geworden.</p>
+
+<p>Seine Frau versteht es, gut einzukaufen und mit den Lieferanten fertig
+zu werden, sie eignet sich prächtig dafür, solchem großen Betrieb
+vorzustehen, ohne es jemals geübt zu haben; er aber kann nur das, was
+er in seinen Jugendjahren gelernt hat: Brot und Semmeln backen. Schon
+mit dem Kuchen hat es immer etwas gehapert, der war den Leuten nicht
+fein genug.</p>
+
+<p>So begnügt er sich nun damit, das zu tun, was seine Frau ihm befiehlt,
+und er hat keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leibe, denn sonst würde er
+sich dagegen sträuben, zur Bewachung der Wirtschaftsräume in einer
+Kammer hinter der<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> Kantine zu schlafen, während seine Frau das schöne
+große Schlafzimmer im ersten Stock allein gar nicht ausnutzen kann.</p>
+
+<p>Seitdem die Küchenmädchen in der Hafenwirtschaft mit Frau Reiche nicht
+mehr zurechtkommen und alle acht Tage wechseln, hat Fräulein Spandau,
+die neue Sekretärin des Hafendirektors, sich daran gewöhnt, das
+Mittagessen für den Kapitän selbst abzuholen. Dabei hat sie auch immer
+noch ein freundliches Wort für den Kantinenwirt, ja manchmal kann sie
+ein paar Minuten bei ihm stehen, während das Essen eingefüllt wird,
+und sich dafür interessieren, wie es in einer mustergültigen Bäckerei
+zugehen muß. Sie ist nicht die Spur eingebildet auf ihren Posten, denn
+sonst würde sie nicht freiwillig mit einem Tablett in der Hand über den
+Platz gehen, was einer Sekretärin wirklich nicht zukommt.</p>
+
+<p>Der Kapitän weiß solchen Liebesdienst auch nach Gebühr zu schätzen.</p>
+
+<p>Er spricht den »besten Dank« immer doppelt aus, und obgleich er im
+Laufe der Monate sich schon daran gewöhnt haben sollte, so steckt immer
+auch etwas Verlegenheit hinter seinem Ton.</p>
+
+<p>Ja, Fräulein Spandau ist nun schon einige Monate im Hafen. Die Zeit
+verfliegt so rasch, daß man es selbst kaum merkt. Man geht durch das
+Tor des Hafens an einem Wächter vorbei und neben dem Gesicht eines
+anderen Mannes<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> hinter dem Guckloch wieder hinaus, und siehe da: ein
+Tag ist um. Wenn man jedoch am nächsten Abend einmal um sich schaut,
+so hat der Turm des Verwaltungsgebäudes plötzlich sein siebentes
+Stockwerk aufgesetzt, das zweite Hafenbecken ist von fertigen Kaimauern
+eingefaßt, und der Getreidespeicher — ja, der Getreidespeicher sieht
+aus, als stände er fix und fertig da.</p>
+
+<p>Aber wer das glaubt, der versteht nichts von einem modernen richtigen
+Getreidespeicher, der ist ein Laie, eins der verächtlichsten Geschöpfe,
+die für den Bodenmeister Ulrich existieren. Denn nun sind erst
+die wahren Künstler an der Arbeit, die Ingenieure, die den ganzen
+technischen Apparat einbauen.</p>
+
+<p>Dem Bodenmeister Ulrich lacht das Herz im Leibe, wenn er das mit
+ansieht. Auch mit dem neuen Hafendirektor hat er sich wieder
+ausgesöhnt, denn er ist inzwischen dahintergekommen, daß der Kapitän
+nicht nur Moscheen im Kopf hat, er versteht auch sonst etwas von den
+Angelegenheiten eines Hafens.</p>
+
+<p>Nun gibt es Menschen mit einem geweiteten Horizont, die sehen sich
+nicht nur innerhalb der Mauern des Hafens um, die blicken darüber
+hinaus zu den Nachbarn links und rechts. Und man muß staunen, was da
+alles vor sich geht.</p>
+
+<p>Der Müller hat zwar schon immer einen Getreidespeicher, eine Mühle
+und ein schmuckes kleines Wohnhaus jenseits des<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Kanals gehabt, doch
+ist der Speicher nicht um zwei Stockwerke höher geworden? Und wenn
+der Bodenmeister Ulrich sich so sehr viel auf das kommende Becherwerk
+und die Getreideheber einbildet, so soll er nur schweigen: der
+Mühlenbesitzer Pohl hat das alles längst. Er holt sich sein Getreide,
+das direkt aus Rumänien und Rußland kommt, damit selbst aus den
+Kähnen, und wenn es gebraucht wird, geht es ebenso maschinell in die
+Mühle hinüber. Da gibt es keine gebückten Menschen, die schwere Säcke
+hin- und herschleppen. Ein fleißiger Kran holt auch die Mehlsäcke aus
+der Etage heraus, in der sie gerade liegen, und führt sie zu einem
+Schiff hinüber, wenn sie dafür bestimmt sind, auf dem Wasserwege
+weiterzureisen. Was jedoch auf den Bahnhof oder in die Stadt befördert
+werden soll, wird auf Wagen geladen, denn Eisenbahnwaggons fahren an
+der Mühle noch nicht vor. Nein, über einen Gleisanschluß verfügt der
+Müller nicht. So weit hat er es nicht gebracht.</p>
+
+<p>Gleisanschlüsse sind nur im Hafen. Da stehen sogar eigene Lokomotiven
+in einer Halle, die laut zischen und pfeifen, wenn sie angeheizt
+werden, und die vielen Gleise geben dem Hafen ein recht industrielles
+Aussehen. Natürlich sind auch schon ein paar Kräne da, und wenn die
+Freilagerplätze mit Kohle oder verrostetem alten Eisen in hohen Bergen
+geradezu überschüttet sind, so kann sich ein einzelner Müller mit
+seinem Betrieb nicht allzu stolz daneben sehen lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p>
+
+<p>Trotzdem schöpft er seinen Vorteil aus der Nachbarschaft des Hafens,
+und er hätte weder einen Anbau an seine Mühle gebraucht noch soviel
+Lagergetreide in seinen Räumen, wenn der erste Getreidespeicher des
+Hafens nicht in die Luft geflogen, sondern rechtzeitig fertiggestellt
+worden wäre.</p>
+
+<p>So aber mußte man erst die anderen langgestreckten und flachen
+Lagerhallen bauen, und die Firma Friemann, Getreide <em class="antiqua">en gros</em>,
+lagert ihre Riesensendungen für Übersee so lange in den Seehäfen.</p>
+
+<p>Wer etwa die Ansicht vertritt, daß dieser Verlust ein Unglück für
+den Binnenhafen sei, hat nicht den raffinierten Scharfsinn des
+Kommerzienrats erkannt, denn nun besitzt man gute Freunde am offenen
+Meer und die besten Verträge in der Tasche.</p>
+
+<p>Ja, auch Generaldirektor Becker hat fleißig gearbeitet. Er ist auf
+mehreren Auslandsreisen gewesen, aber er hat es auch nicht verschmäht,
+einige kleine unbedeutende Häfen an der Wasserkante und im Binnenlande
+zu besuchen, und wenn man hin und wieder in die Zeitung sieht, so
+kann man lesen, daß die Hafengesellschaft auch anderwärts tüchtig ist
+und den Kommunen ihre Lasten abnimmt. Joachim Becker hat mit einigen
+strategischen Stützpunkten seine Stellung befestigt.</p>
+
+<p>Nun ist auch sein Schwager im Hafen, der sich in das große und
+weitverzweigte Gebiet einer Hafenbewirtschaftung einzuarbeiten
+versucht und dabei ebensoviel Lust wie Unfähigkeit<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> beweist. Aber der
+Generaldirektor ist weder ärgerlich noch traurig darüber, es kann nicht
+allein tüchtige Menschen in der Welt geben. Nur, daß der Kerl noch
+nicht richtig zu sprechen vermag, macht ihn nervös, denn man hat nicht
+Zeit, nach jedem Satz zweimal zu fragen.</p>
+
+<p>Die englische Shagpfeife hat er im übrigen inzwischen über Bord
+geworfen, denn sie ist ihm bei der Arbeit hinderlich. Dazu gehört
+die gleichmütige Ruhe der Engländer, und die ist ihm nicht gegeben.
+Außerdem fand er in der Zusammenarbeit mit seinen technischen und
+wissenschaftlichen Beratern an den Einrichtungen der Engländer dieses
+und jenes auszusetzen und zu verbessern.</p>
+
+<p>Inzwischen ist er auch in den Vereinigten Staaten gewesen, und nun
+imponieren ihm neben der gewaltigen Organisation die großartigen
+sozialen Einrichtungen der Amerikaner. Sie haben ihn seinem
+Steckenpferd, der Fürsorge, wieder mit vollen Segeln zugeführt.</p>
+
+<p>Die Fußballplätze und Schwimmanlagen schweben ihm wieder vor, doch
+wenn er zum Nachbar im südlichen Gelände hinüberblickt, so beschleicht
+ihn ein scheußliches Unbehagen. Da, wo seine freien Menschen ihre
+Siedlungen errichten und den Körper in sportlicher Übung kräftigen
+sollten, werden nun von der Verhüttungsgesellschaft Erze gefördert.</p>
+
+<p>Ja, werden denn wirklich Erze zutage gebracht? Man sollte es wohl
+annehmen, denn sie geben die Versuche nicht auf.<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Zwar herrschte
+zuweilen wochenlang, ja einmal sogar monatelang peinliche Arbeitsruhe,
+aber dann hatte sich anscheinend doch wieder ein Gesellschafter
+gefunden, der sein Geld in dieser aussichtsreichen Sache anlegen
+wollte, und die Sachverständigen rückten wieder an.</p>
+
+<p>Joachim Becker ist zum zweitenmal in seinem Leben feige und geht nicht
+hin, um sich nach den Resultaten zu erkundigen. Es scheint nicht
+immer leicht, seine privaten Gefühle mit beruflichen Interessen in
+Einklang zu bringen, selbst wenn man sonst ohne Furcht und Falsch ist.
+Die persönliche und sehr peinliche Angelegenheit, in der er sich zum
+erstenmal nach einer unredlichen Tat feige verbarg, glaubt der junge
+Generaldirektor zwar vollkommen aus seiner Erinnerung ausgestrichen zu
+haben.</p>
+
+<p>Nur einige Konsequenzen wollen ihn noch dafür strafen, denn nun
+fordert das Schicksal zur Vergeltung weitere Unaufrichtigkeit und
+Heuchelei. Und weil er diesen beiden Götzen gerade in seinem engsten
+Familienkreise dienen soll, so ist es am besten, wiederum zu flüchten
+und in der Arbeit unterzutauchen. Das besorgt er nun bis zur letzten
+Möglichkeit.</p>
+
+<p>Herr Gregor muß noch mehr als früher unter seiner Unduldsamkeit leiden,
+denn jetzt fängt Joachim Becker an, unzufrieden mit ihm zu werden.
+Dieser junge Sekretär treibt Luxus in Anzügen, Krawatten und seidenen
+Strümpfen, sieht übernächtig aus und dünkt sich für jede Arbeit zu gut.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p>
+
+<p>Dabei hat er ein Tätigkeitsfeld, das jedem alten Beamten schmeicheln
+würde. Seine Hauptbeschäftigung ist immer noch die Bearbeitung der
+Lieferverträge für den Hafenbau. Mit seinem flinken, merkantilen
+Verständnis für die Ausnutzung der Konjunktur und die Finanzlage der
+Bewerber hat er besonders im Anfang gute Resultate erzielt.</p>
+
+<p>Nun aber wird er unvorsichtig und nachlässig, und auf seinem
+Schreibtisch liegen die Papiere wüst durcheinander, so daß sich
+bestimmt kein Mensch mehr herausfinden kann.</p>
+
+<p>Der Generaldirektor stellt sich ärgerlich neben den Tisch und sagt:
+»Wer diese Unordnung auf dem Schreibtisch einreißen läßt, der hat sie
+auch im Kopf.« Dann geht er in das Kalkulationsbüro und erkundigt sich
+nach diesem und jenem.</p>
+
+<p>Herr Gregor hat zufällig auf einem der langen breiten Korridore zu tun
+und sieht Joachim Becker auch in die Hauptbuchhaltung hineingehen.</p>
+
+<p>Ein Kollege fragt Herrn Gregor, ob er etwas verloren habe.</p>
+
+<p>»Nein,« gibt er zur Antwort, »aber mir fällt eben ein, daß ich etwas
+vergaß.« Damit geht er wieder zurück.</p>
+
+<p>Vor dem Zimmer der Sekretärin bleibt er noch einmal mit zerfurchter
+Stirn stehen. Er hat Schweres zu denken, man sieht es ihm an, und seine
+Hände sind ganz feucht. Dann geht er hinein.</p>
+
+<p>»Sie haben wohl nicht die gestrigen Zahlungsanweisungen noch hier? Ich
+sehe eben, daß ich mich verrechnet haben muß«, sagt er mit belegter
+Stimme.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p>
+
+<p>»Nein,« erwidert die Sekretärin, »ich habe sie heute morgen
+weitergegeben. Vielleicht liegen sie noch in der Kasse.«</p>
+
+<p>»Ja, danke, ich will sehen, daß ich sie dort vergleichen kann.« Er
+bleibt unschlüssig stehen.</p>
+
+<p>»Sie werden sich aber beeilen müssen, denn es ist gleich
+Geschäftsschluß, und die Kasse öffnet ihre Schränke nicht noch einmal.«</p>
+
+<p>»Richtig,« sagt er, »dann will ich es noch rasch versuchen.«</p>
+
+<p>Er schießt nicht gleich auf den Kassenschalter zu, sondern geht mit
+schleppenden Schritten bis an das Ende des langen Korridors. Wie er um
+die Ecke biegen will, bemerkt er mit halbem Blick den Generaldirektor
+und den Hauptbuchhalter vor der Tür des Kassenraumes. Er schnellt
+sofort zurück; man sah ihn nicht, denn die beiden sind in eine leise
+und angeregte Unterhaltung allzusehr vertieft.</p>
+
+<p>Herr Gregor will nun mit seinen Anweisungen nichts mehr zu tun haben.
+Er holt Mantel und Hut und verläßt das Haus.</p>
+
+<p>Drei Stunden später trifft er vor dem Hauptportal des Hafens Schwester
+Emmi, die wieder einmal einen Besuch in der Mühle gemacht hat. Sie kann
+jetzt nicht zu jeder Stunde hinüberlaufen, denn Irmgard Pohl ist eine
+Angestellte, an Zeit und Ort gebunden. Wenn sie auch im Kontor ihres
+Vaters arbeitet, so hat sie doch keine andere<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Vergünstigung, als daß
+sie zu den Mahlzeiten ins Wohnhaus gehen darf, denn ihr Gehalt muß sie
+sich ehrlich und redlich verdienen.</p>
+
+<p>So benutzt Schwester Emmi die Abendstunden, um sich Rat und Teilnahme
+zu holen. Sie ist sehr angeregter Stimmung, denn nun hat Irmgard Pohl
+ihr endlich versprochen, den ersten Besuch im Hafen zu machen, um sich
+die kleine Wohnung der Fürsorgeschwester anzusehen.</p>
+
+<p>»Wenn Sie glauben, daß ich gegen fünf Uhr niemand treffen kann,« sagte
+sie, »so will ich auf eine Viertelstunde kommen.«</p>
+
+<p>Schwester Emmi wird ihr alle ihre hübschen Kleinigkeiten zeigen: den
+selbstgefertigten Frisiertisch mit Mullvorhängen und Fläschchen und
+Büchsen, die hübschen Kissen aus Seidenresten, Stickereien und andere
+Handarbeiten, denn ihre flinken Hände sind zu allem geschickt, sie
+können niemals ruhen.</p>
+
+<p>Selbst in Herrn Gregors Gesellschaft bleibt sie nicht untätig, denn an
+seiner Kleidung ist immer etwas zu verbessern. Frau Reiche, die sich
+gegen Bezahlung für diese Arbeiten verpflichtete, ist längst nicht mehr
+zuverlässig genug; sie hat es sogar fertig gebracht, ein Paar seidene
+Strümpfe, die Schwester Emmi ihm zum Geburtstag schenkte, vollständig
+zu zerschneiden.</p>
+
+<p>Wenn aber die praktische Arbeit geleistet ist, so folgt die viel
+schwerere Aufgabe: Herrn Gregor zu trösten und zu zerstreuen;<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> er wird
+immer nervöser von dem schweren und aufreibenden Dienst und kann oft
+sehr mißgestimmt oder mutlos sein.</p>
+
+<p>Sie sieht es ihm heute sofort an, daß es schlimm um ihn steht, darum
+zwitschert sie von allen lustigen Dingen, die ihr einfallen; sie macht
+Witze und lacht selbst darüber. Sobald der schwache Schimmer eines
+Lächelns über sein blasses leidendes Gesicht huscht, ist sie sehr
+glücklich. Sie wirft nicht sobald die Flinte ins Korn, und ihre Geduld
+rührt selbst Herrn Gregor.</p>
+
+<p>Er hat schon gegessen und fragt, ob er bei Schwester Emmi eine Tasse
+heißen Tee trinken dürfe. Es ist mitten im Winter, und ein mitfühlender
+Mensch kann wohl verstehen, daß man auf einer Straßenbahnfahrt
+durchfriert und Verlangen nach einem freundlichen warmen Zimmer hat.
+Die großen Herren haben ihre bequemen Wagen, die andern aber, denen
+jede Möglichkeit zum Aufstieg abgeschnitten wird, obgleich sie auch
+nicht weniger verstehen, sie müssen sehen, wo sie bleiben.</p>
+
+<p>Ach, sie ist durch Herrn Gregors scharfe Augen über die
+Ungerechtigkeiten in dieser Welt aufgeklärt worden und kann manchmal
+recht erbittert und unzufrieden sein. Doch sie hütet sich wohl,
+solche Gefühle zu offenbaren, denn wer erst einmal als sonnige Natur
+verschrien ist, hat nicht mehr das Recht, sich anders zu zeigen.</p>
+
+<p>So bewirtet sie Herrn Gregor mit heißem Tee und freundlichen Worten.
+Sie rauchen auch eine Zigarette miteinander,<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> und als endlich eine
+richtige Unterhaltung in Gang kommt, hat sie sogar ihre Angst vor Frau
+Reiche vergessen, die angedroht hat, den Kapitän zu holen, wenn die
+Fürsorgeschwester noch einmal Herrenbesuch in ihrem Zimmer empfängt.</p>
+
+<p>»Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die mich ganz zermürben,« sagt
+Herr Gregor, »Sorgen mögen auch daran schuld sein.«</p>
+
+<p>»Aber was sollten Sie denn für Sorgen haben? Da ist doch kein Mensch,
+der Ihnen etwas zuleide tut, und Angehörige haben Sie auch nicht. Ja,
+wenn ich an Schiffer Jensen denke, dem im Herbst die Frau gestorben
+ist. Jetzt lebt er ganz allein mit dem kleinen Tom, und das Schlimmste
+ist, daß er nun, während er im Winterlager liegt, nicht durch Arbeit
+und Abwechslung abgelenkt wird und immerfort daran denken muß. Sie
+haben doch Ihre Arbeit und ein schönes Einkommen dazu.«</p>
+
+<p>Das mit dem Einkommen hat sie nicht ohne einen Zweck gesagt, sie
+erwähnt es in letzter Zeit öfter. Ist es nötig, daß ein einzelner
+Mensch ganz allein davon lebt und sich einen Anzug nach dem anderen
+kauft? Nicht genug damit, er trägt sein Geld auch noch in die Bars
+und Tanzlokale, und es kommt vor, daß er sich kleine Summen von
+Schwester Emmi oder Frau Reiche leihen muß, wenn er in augenblicklicher
+Verlegenheit ist.</p>
+
+<p>Wäre es für so einen Menschen nicht besser, eine solide und praktische
+Frau zu heiraten, die ihn ans Haus fesselt und<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> sein Heim gut
+verwaltet? Sie hätte nichts dagegen, Frau Gregor zu werden, und aus
+keinem andern Grunde behandelt sie ihn zuweilen schlecht, wenn er mehr
+Entgegenkommen erwartet. Sie weiß, was man tun muß, um von einem Mann
+geachtet oder gar geheiratet zu werden, und sie ist, seitdem sie die
+Fürsorgestelle im Hafen hat, ihren Vorsätzen treu geblieben.</p>
+
+<p>Fand sie nicht erst kurz zuvor eine Bestätigung für die Richtigkeit
+ihrer Erkenntnis, da selbst bei einer Irmgard Pohl keine Ausnahme
+gemacht wurde? Sie hat ein weites Herz, doch jetzt ist sie
+fünfundzwanzig Jahre alt, und da muß eine Frau mindestens wissen, was
+sie will.</p>
+
+<p>»Nein,« sagt Herr Gregor mit schwachem Lächeln, »solche Sorgen habe
+ich nicht. Sie sind ja auch immer gut zu mir, darüber kann ich nicht
+klagen.«</p>
+
+<p>Das klingt fast wie eine Werbung. Schwester Emmi rückt auch nicht ab,
+während seine kalte Hand nach ihr tastet.</p>
+
+<p>»Aber ich hatte sehr schwere Geldverluste. Ein Rechenfehler, den ich
+nicht rechtzeitig bemerkt habe. Später fehlte mir der Mut, es zu
+melden, und nun muß ich den Verlust tragen.«</p>
+
+<p>»Das ist ja empörend«, ruft sie geradezu erregt aus. »Verlangt man auch
+noch von Ihnen, daß Sie Geld zusetzen? Nein, das dürfen Sie sich nicht
+gefallen lassen!«</p>
+
+<p>»Ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst daran schuld sei, weil ich es nicht
+rechtzeitig meldete. Jetzt würde man es mir einfach nicht glauben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p>
+
+<p>»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist das eine bodenlose
+Ungerechtigkeit.«</p>
+
+<p>»Ja, das glaube ich, daß Sie das nicht verstehen. Es ist auch zu
+kompliziert, als daß ich es Ihnen auseinandersetzen könnte. Es muß sich
+in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen entscheiden, was daraus
+wird. Dann darf ich wohl alles erwarten, wenn ich es nicht vorher
+gutmachen kann. Doch das Schlimmste wird sein, daß ich mir dann eine
+Kugel durch den Kopf schießen muß.«</p>
+
+<p>»Großer Gott, was sagen Sie da?« Sie ist aufgesprungen und läuft ganz
+entsetzt in ihrem kleinen Zimmer umher.</p>
+
+<p>»Ist es denn so schlimm?« flüstert sie, während sie vor ihm
+stehenbleibt und die Hand auf seine Schulter legt.</p>
+
+<p>Da wirft er den Kopf nach vorn und stöhnt laut und gurgelnd auf. Die
+Spannung der entsetzlichen letzten Wochen mit den fortdauernden kleinen
+Unterschlagungen, von denen eine immer die andere nach sich zog, die
+Erregung des heutigen Tages, da er sich entdeckt glaubt, das alles löst
+sich in einem Schluchzen auf.</p>
+
+<p>Die Tränen fließen an seinen schmalen blassen Fingern vorbei auf den
+empfindlichen Anzug. Aber er nimmt keine Rücksicht darauf, er ist nun
+am Ende seiner Kraft. Auch die betäubenden Vergnügungen in den lauten
+Lokalen, die ihn seine verzweifelte Lage doch nicht vergessen ließen,
+der übermäßige Genuß von Alkohol und Zigaretten, der versäumte<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Schlaf,
+das alles rächt sich nun, so daß er nicht mehr Herr über sich selbst
+werden kann.</p>
+
+<p>Schwester Emmi versucht es immer wieder mit freundlichen und tröstenden
+Worten, sie streichelt seinen Rücken, die vollen schwarzen Haare, und
+sie ist selbst ganz verzweifelt, weil sie ihm damit nicht helfen kann.</p>
+
+<p>Endlich stützt sie die Arme auf den Tisch, gräbt die Finger in ihren
+blonden Haarschopf und beginnt krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen.
+Sie überlegt so angestrengt, daß ihr Gesicht ganz zerknittert ist.</p>
+
+<p>Mein Gott, es müßte ihm doch irgendwie zu helfen sein. Gibt es nicht
+unzählige reiche Leute, die einem tüchtigen Menschen mit ein paar
+Brocken ihres großen Vermögens das Leben retten könnten? Sie wollte
+den sehen, der es fertigbrächte, ihn durch seine Weigerung einfach zu
+töten, wenn sie ihm die Lage schilderte, wie sie wirklich ist.</p>
+
+<p>Bei diesem Gedanken kommt ihr der großartige Einfall. Sie schreit
+geradezu auf vor Freude. Ja, das war ein Ausweg, sie wollte es tun!</p>
+
+<p>Sie packt Herrn Gregor bei den Schultern.</p>
+
+<p>»Hören Sie doch, ich kann Ihnen helfen! Sagen Sie mir, wieviel es ist.«</p>
+
+<p>Herr Gregor schüttelt sie ab und flüchtet in eine Ecke des Zimmers. Er
+dreht ihr den Rücken und trocknet mit einem seidenen Taschentuch seine
+Tränen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p>
+
+<p>»Was werden Sie nur von mir denken, daß Sie mich in diesem Zustande
+sehen? Sie müssen mich verachten«, stammelt er.</p>
+
+<p>»Nein,« sagt sie, »ich verachte Sie nicht. Ich habe sogar den
+Generaldirektor weinen sehen, damals bei der großen Katastrophe. Er
+drehte sich um, wie Sie eben, aber an seinen Schultern habe ich es
+erkannt, daß er weinte. Nun müssen Sie mir wieder Ihr Gesicht zeigen,
+hier ist ein Schwamm, und dann sagen Sie mir, wie hoch die Summe ist,
+damit ich Ihnen helfen kann.«</p>
+
+<p>Und weil er sich so ungeschickt mit ihrem Schwamm anstellt, wäscht sie
+ihm das Gesicht wie dem kleinen Tom und trocknet es mit ihrem Handtuch.
+Als er sie nun mit einem zagen Lächeln im rotgeriebenen Gesicht
+ansieht, erinnert er gar nicht mehr an den gepuderten und blasierten
+jungen Mann von einst, er ist ein großer hilfsbedürftiger Junge, und
+sie gibt ihm plötzlich einen schallenden Kuß auf die kühlen Lippen. Da
+packt er sie und will sie nicht wieder loslassen.</p>
+
+<p>»Sie müssen vernünftig werden,« mahnt sie, »Sie sollen mir die Summe
+nennen, damit ich Ihnen helfen kann.«</p>
+
+<p>»Du kannst mir doch nicht mehr helfen. Es ist jetzt zu spät. Aber
+allein lassen darfst du mich heute nicht, denn sonst bringe ich mich
+um.«</p>
+
+<p>Schwester Emmi läßt keinen Menschen sehenden Auges in den Tod gehen. —
+—</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p>
+
+<p>Am nächsten Vormittag kommt sie mit sehr blassem Gesicht zu Herrn
+Karcher ins Bureau.</p>
+
+<p>»Darf ich hier telephonieren?« fragt sie.</p>
+
+<p>»Ja«, erwidert er. »Aber sind Sie krank?«</p>
+
+<p>»Ach nein«, wehrt sie ab. »Ich habe nur ein sehr wichtiges
+Telephongespräch, dann bin ich immer vor Aufregung ganz blaß.«</p>
+
+<p>Herr Karcher schweigt, er beobachtet sie über seinen Federhalter
+hinweg, während sie im Telephonbuch blättert.</p>
+
+<p>Nachdem sich der Teilnehmer gemeldet hat, bittet sie, mit Herrn Stein
+persönlich zu verbinden. Herr Karcher will nicht indiskret sein, doch
+es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte anzuhören, denn sie
+steht direkt neben seinem Tisch.</p>
+
+<p>»Verreist?« stammelt sie fast tonlos. »Ja — aber — ja, wann kommt
+er zurück? Heute abend? Ach danke, nein.« Sie scheint zum Schluß noch
+etwas erleichtert.</p>
+
+<p>»Das ist doch Pech, nicht wahr?« sagt sie erklärend zu Herrn Karcher,
+»wenn man einen Menschen in so wichtiger Angelegenheit sprechen will,
+und er ist verreist.«</p>
+
+<p>»Ja, das ist unangenehm. Dann kommen Sie heute abend noch einmal?«</p>
+
+<p>»Ach ja. Aber ich habe gar nicht gefragt, um welche Zeit er zurückkommt
+und ob ich ihn noch im Bureau antreffe. Das war nämlich in seinem
+Geschäft. Mein Gott, wie dumm ich bin. Das kommt alles davon, daß ich
+mich immer so aufrege,<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> wenn ich telephoniere. Was mache ich denn
+jetzt? Können Sie mir einen Rat geben?«</p>
+
+<p>»Vielleicht rufen Sie da noch einmal an?« schlägt Herr Karcher
+schüchtern vor.</p>
+
+<p>»Nein, nein. Dann will ich lieber heute nachmittag wiederkommen. —
+Wenn es Ihnen recht ist.«</p>
+
+<p>»Mir ist es immer recht, Schwester Emmi. Sehr recht ist es mir. Aber
+Sie haben einen Kummer, Schwester Emmi. Kann ich Ihnen nicht irgendwie
+beistehen?«</p>
+
+<p>»Was Sie denken! Es ist wirklich nichts«, meint sie mit erzwungenem
+Lächeln.</p>
+
+<p>»Sie haben mir die Knöpfe angenäht und mir manchmal warmes Essen
+gebracht, Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Warum kann ich Ihnen
+nicht etwas davon vergelten?«</p>
+
+<p>»Ach, das können Sie doch nicht«, ruft sie ganz verzweifelt aus, so daß
+sich ihre Stimme überschlägt.</p>
+
+<p>Dann rennt sie ohne Gruß davon. Herr Karcher sieht sie am Fenster
+vorbeiflüchten. Der kalte Nordwind zerrt an ihren blonden Haaren, daß
+sie ganz zottelig um ihr kleines Gesicht wehen.</p>
+
+<p>Am Nachmittag kommt sie wieder. Sie ist jetzt viel gefaßter, nur ihre
+Hand zittert, wie sie nach dem Hörer greift.</p>
+
+<p>Herr Stein ist noch nicht zurück. Er wird um sechs Uhr erwartet.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p>
+
+<p>Da läßt sie sich mit der Generaldirektion verbinden. Sie will Herrn
+Gregor sprechen. Herr Gregor sei nicht da, wird ihr geantwortet.</p>
+
+<p>»Er ist nur nicht in seinem Zimmer, meinen Sie?« gibt sie gereizt
+zurück.</p>
+
+<p>»Nein, er ist heute überhaupt nicht gekommen.«</p>
+
+<p>»Das ist doch nicht möglich,« sagt sie empört, »er ist doch heute
+morgen ins Bureau gegangen —«</p>
+
+<p>Aber da wirft sie den Hörer hin, als ob er ihr die Finger verbrenne.
+Was hat sie denn da für eine Dummheit gemacht? Wenn er nicht ins Bureau
+gegangen ist, so hatte er wohl seine Gründe dafür, und es wäre keinem
+Menschen etwas Besonderes aufgefallen, wenn sie nicht jetzt darauf
+aufmerksam gemacht hätte. Ihr blieb es vorbehalten, ihn zu verraten.</p>
+
+<p>Sie rennt in dem kleinen Kontor zwischen Tür und Schreibtisch umher und
+ringt die Hände.</p>
+
+<p>Herr Karcher hat das Telephon in Ordnung gebracht und sieht stumm und
+hilflos in sein Kontobuch. Es ist fünf Uhr und seine Arbeitszeit war
+vor einer Stunde beendet. Er mußte länger bleiben, weil Schwester Emmi
+telephonieren wollte. Was hätte sie denn sonst anfangen sollen? —</p>
+
+<p>Vor dem Hafentor steht Irmgard Pohl, die um fünf Uhr eingeladen war.
+Sie denkt keinen Augenblick daran, daß Schwester Emmi sie vergessen
+haben könnte; es werden wichtige<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Arbeiten genug vorliegen, die sie
+verhindern, ihr entgegenzugehen.</p>
+
+<p>Das Warten in der schönen klaren Winterluft wäre auch nicht so
+unangenehm, wenn sie nicht fürchten müßte, Joachim Becker zu begegnen
+und wenn nicht ein breiter untersetzter Herr mit einem kräftigen
+Schnurrbart gleichfalls in der Nähe des Wächterhauses spazierenginge.
+Sie weicht zwar seinen Blicken aus, aber sie fühlt, daß sie von Kopf
+bis Fuß gemustert wird.</p>
+
+<p>Hinter dem Tor, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, erscheint immer
+wieder ein kleiner Herr mit gespreiztem Gang, der gleichfalls jemand
+erwartet. Wenn er auf seinem merkwürdigen Spaziergang in die Nähe
+des Tores kommt, kann er sie sehen, obgleich sie sich Mühe gibt, ihm
+auszuweichen. Irmgard weiß nach Schwester Emmis Beschreibungen, daß es
+der Kapitän ist, sie hat ihn auch oft genug vom Mühlenplatz, jenseits
+des Kanals, bemerkt, ebenso wie er bei gelegentlichen Blicken zum
+Nachbarn die Mühle und ihre Angehörigen wohl beobachten kann.</p>
+
+<p>Als er wieder in die Nähe des Tores kommt, gibt sie endlich das Spiel
+auf. Sie geht zum Wächter und fragt nach der Fürsorgeschwester, so daß
+der Kapitän es hören kann.</p>
+
+<p>»Wollen Sie hier hinein?« fragt der Kapitän.</p>
+
+<p>Ja, wenn es erlaubt sei und sie Schwester Emmi sprechen könne. Und weil
+sie glaubt, daß man sich hier als Besucher<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> ausweisen muß, fügt sie
+hinzu: »Ich bin Ihre Nachbarin, Irmgard Pohl.«</p>
+
+<p>»Ah so,« sagt der Kapitän verbindlich, »das ist sehr interessant.« Und
+dann stellt er sich vor. Sie wird hier ganz und gar als Dame behandelt,
+obgleich sie nur die Fürsorgeschwester besuchen will.</p>
+
+<p>Er bittet sie in sein Bureau und sendet jemand aus, der Schwester Emmi
+an ihre vernachlässigten Pflichten als Gastgeberin erinnern soll.</p>
+
+<p>Inzwischen plaudert er mit Irmgard Pohl, als wäre ihm nicht bekannt,
+daß sie zum Feinde gehöre. Er habe schon lange die Absicht gehabt,
+ihrem Vater einen Besuch zu machen, und er werde, wenn es erlaubt sei,
+in den nächsten Tagen vorsprechen.</p>
+
+<p>Irmgard kennt nicht die Absichten der Hafengesellschaft — man hatte
+bisher nur Rechtsanwalt Bernhard gesandt —, aber sie verspricht, ihren
+Vater auf den Besuch des Kapitäns vorzubereiten.</p>
+
+<p>Sie ist erleichtert, als endlich Schwester Emmi erscheint, die nicht
+zu versichern braucht, daß sie über der vielen Arbeit die Einladung
+vergessen habe — man sieht es ihr an, wie sehr sie überanstrengt und
+durch den Schrecken über ihre Nachlässigkeit verstört ist.</p>
+
+<p>Irmgard dankt dem Kapitän und will die Teestunde bei Schwester Emmi auf
+einen anderen Tag verlegen. Doch sie wird mit vielen Worten überredet,
+zu bleiben. Die Schwester<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> plaudert unaufhörlich, sie kann gar kein
+Ende damit finden, sich zu entschuldigen und Erklärungen über ihre
+Vergeßlichkeit abzugeben.</p>
+
+<p>Was hatte sie ihr alles zeigen wollen! Aber nun ist nicht einmal Gebäck
+im Haus, und Irmgard muß selbst dafür sorgen, daß sie eine Tasse Tee
+erhält, denn Schwester Emmi ist sehr zerstreut und läuft wie ein
+Irrwisch umher, ohne etwas fertigzubringen. Auf dem Tisch liegen noch
+Zigarettenreste, und das Zimmer ist nicht aufgeräumt. So empfängt man
+einen Besuch, auf den man sich lange gefreut hat.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl hat wohl gemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, es
+liegt jedoch nicht in ihrer Art, zu fragen. Sie erzählt von dem kleinen
+Michael und stellt fest, daß der Kapitän ein sehr liebenswürdiger Herr
+sei. Es war kaum ihre Absicht, sich im Hafen offiziell empfangen zu
+lassen, aber sie darf mit der freundlichen Aufnahme zufrieden sein.</p>
+
+<p>Schwester Emmi hat sich inzwischen etwas erholt. Sie kann sogar darüber
+scherzen, was sie für eine schlechte Hausfrau sei.</p>
+
+<p>Als sie sich zum Tee niedergelassen haben, wird die Tür aufgerissen,
+und Herr Gregor stürzt herein.</p>
+
+<p>»Kannst du mir eine Reisetasche leihen?« fragt er Schwester Emmi
+hastig, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, »ich muß sofort
+geschäftlich verreisen.«</p>
+
+<p>Seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, und er sieht nicht, daß
+noch jemand im Zimmer ist. Irmgard Pohl blickt peinlich berührt in ihre
+Teetasse.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span></p>
+
+<p>Schwester Emmi geht schweigend zum Schrank und reicht ihm einen kleinen
+Koffer. Er reißt ihn ihr aus der Hand und läuft wortlos davon.</p>
+
+<p>Die Schwester bringt auch jetzt noch keinen Ton hervor. Aber in ihrem
+Gesicht zuckt und kämpft es, daß Irmgard Pohl es kaum mit ansehen kann.</p>
+
+<p>Dann hört man draußen Schritte. Schwester Emmi läuft zur Tür und horcht
+angespannt. Plötzlich reißt sie die Tür auf.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick geht der Kapitän mit zwei Herren vorbei. Der eine
+ist breit und untersetzt, mit einem kräftigen Schnurrbart. Sie öffnen,
+ohne anzuklopfen, Herrn Gregors Tür und verschwinden.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl versucht, Schwester Emmi, die am Türpfosten lehnt, in das
+Zimmer zu ziehen. Doch sie ist wie taub, sie stemmt sich gegen alle
+milden Versuche und bleibt so lange im Korridor, bis einer der beiden
+Herren mit Herrn Gregor vorbeikommt. Der andere folgt an der Seite des
+Kapitäns.</p>
+
+<p>Schwester Emmi starrt auf die Handschellen, die man Herrn Gregor
+angelegt hat. Der Kapitän bleibt vor ihr stehen.</p>
+
+<p>»Der Herr Kommissar will nur die Personalien aufnehmen,« sagt er
+höflich, »weil Sie die Nachbarin sind. Dürfen wir nähertreten?«</p>
+
+<p>In diesem Augenblick bemerkt er Irmgard Pohl. Er bittet, die Störung zu
+entschuldigen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p>
+
+<p>Irmgard, die mit Herzklopfen den Vorgang verfolgt hat und den Herrn
+wiedererkennt, der sie vor dem Hafeneingang beobachtet hat, steht auf
+und sagt:</p>
+
+<p>»Bitte. Ich wollte ohnehin gehen.«</p>
+
+<p>»Darf ich vorher auch Ihre Personalien feststellen?« fragt der Beamte.</p>
+
+<p>Sie fährt erschreckt zusammen.</p>
+
+<p>»Ich habe doch mit der Angelegenheit nichts zu tun«, stammelt sie. »Ich
+bin heute zum erstenmal hier.«</p>
+
+<p>Bei dem Gedanken, daß ihre Personalien in das Protokoll aufgenommen
+und Joachim Becker vorgelegt werden könnten, packt sie der Mut der
+Verzweiflung. Sie will ihren Namen auf keinen Fall preisgeben und sieht
+den Kapitän hilfeflehend an.</p>
+
+<p>Er aber meint: »Es ist lediglich eine Formsache. Die Akten sind
+vollkommen diskret.«</p>
+
+<p>»Nein, nein«, ruft sie aus. »Ich lasse meinen Namen nicht mit
+hineinziehen!«</p>
+
+<p>Da erwacht endlich Schwester Emmi aus ihrer Erstarrung.</p>
+
+<p>»Ich kann es beschwören, daß die Dame Herrn Gregor nicht gekannt
+hat und daß sie heute zum erstenmal hier ist. Sie ist eine frühere
+Patientin von mir. Ich bin die Fürsorgeschwester vom Hafen.«</p>
+
+<p>Das sind die ersten Worte, die sie seit Herrn Gregors plötzlichem
+Auftreten und seiner Verhaftung spricht, und sie gelten wieder einer
+hilfreichen Tat.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p>
+
+<p>Die beiden Herren schweigen.</p>
+
+<p>»Im übrigen«, fügt sie mutig hinzu, »weiß der Herr Kapitän den Namen,
+und er wird sich denken können, daß die Dame mit der Sache nichts zu
+schaffen hat.«</p>
+
+<p>Der Kommissar sieht ihn fragend an.</p>
+
+<p>»Wenn Sie auf die Personalien verzichten wollen?« fragt er den Kapitän,
+als dieser sich nicht äußert.</p>
+
+<p>»Da Sie es selbst vorschlagen — ja.«</p>
+
+<p>Irmgard Pohl darf den Schauplatz verlassen. Sie blickt Schwester Emmi
+dankerfüllt an. Dann eilt sie mit kurzem Gruß davon.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Mann_in_der_Mitte">Der Mann in der Mitte</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-a004" src="images/drop-a004.jpg" alt="A">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>uf der Föhrbrücke kehrt sie wieder um. Sie kann in dieser Erregung
+unmöglich ihren Eltern begegnen.</p>
+
+<p>Ihr Gesicht brennt, und sie ist von heftigem Groll gegen den Kapitän
+erfüllt. Während sie abenddunkle Straßen aufsucht, um ihre Gedanken
+zu ordnen, wird ihre Abneigung gegen ihn immer stärker. Wohl hat er
+sie sehr liebenswürdig empfangen, obgleich sie kein Verlangen danach
+hatte, seine Bekanntschaft zu machen, aber als es darauf ankam, ihr
+beizustehen, versagte er.</p>
+
+<p>Wie hätte Joachim Becker sich in dieser Situation benommen? Oh, er wäre
+der Zumutung des Kommissars sofort ganz energisch begegnet. Er hätte
+sie wie ein Ritter geschützt. Der Kapitän jedoch stand zwischen beiden
+Parteien und wollte niemand zu nahe treten.</p>
+
+<p>Sie haßt diese lauen Menschen, sie haßt den Kapitän. Nur der Gedanke an
+Schwester Emmis treue Bereitschaft söhnt sie wieder aus.</p>
+
+<p>Sie beginnt, sich von ihrem Groll gegen den Kapitän abzuwenden und über
+Schwester Emmis Schicksal nachzudenken. Das ist ein armer schwacher
+Mensch, der in seiner<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> Liebe zu den anderen wirklich sehr weit geht.
+Hat sie sich nicht zuviel mit diesem eleganten, blassen Herrn Gregor
+abgegeben, der nun verhaftet werden mußte?</p>
+
+<p>Irmgard Pohl weiß nicht, welches Vergehen dem Herrn Gregor vorgeworfen
+wird, aber so viel stand fest, daß er von Schwester Emmi eine
+Reisetasche forderte und flüchten wollte. Er kam einfach in ihr Zimmer
+und sagte »Du« zu ihr.</p>
+
+<p>Frau Pohl hatte wohl recht damit, daß die blonde Fürsorgeschwester
+leichtsinnig sei und keinen moralischen Halt habe. Doch warum sollte
+sie diesen Menschen nicht auf ihre Art lieben?</p>
+
+<p>Da steht sie nun mutig vor den beiden Herren, läßt sich ausfragen und
+gibt klare Antworten, ihr Freund aber ist mit Handschellen abgeführt
+worden, und wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer geht, so begegnet sie
+ihm weder auf dem Korridor noch unten im Hafen. Sie wird ihn nirgends
+mehr treffen, denn er sitzt hinter dicken Mauern und hat viel Zeit,
+über seine Vergehen und über Schwester Emmis Liebe nachzusinnen.</p>
+
+<p>Während Irmgard Pohl ihren Beruhigungsspaziergang fortsetzt und an das
+Protokoll denkt, in dem nun ihr Name nicht verzeichnet ist, fällt ihr
+ein, daß auch eine Reisetasche für das Verfahren von Bedeutung sein
+kann. Hat der Verhaftete sie nicht für die Flucht benutzen wollen? Sie
+gehört ihm nicht, und wer sie ihm gegeben hat, macht sich der<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Beihilfe
+schuldig. Oh, das kluge Fräulein Pohl, das eine Handelsschule besucht
+hat und jetzt Sekretärin in der Mühle ihres Vaters ist, vermag sehr
+logisch zu denken, was sonst nicht Frauenart ist.</p>
+
+<p>Sie verfügt nun wieder über ihren klaren Verstand und hat alle Folgen
+eines Strafverfahrens vor Augen. Man liest nicht ohne Gewinst die
+Zeitungen und vernimmt von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen. Wer
+weiß außer ihr, daß Herr Gregor den Koffer für eine Geschäftsreise
+forderte und sonst kein Wort darüber verlor?</p>
+
+<p>Schwester Emmi hatte ihren Besuch mutig vor dem Protokoll gerettet. Was
+aber tat Irmgard Pohl? Sie dachte nur an die Rettung ihres Namens und
+rannte davon.</p>
+
+<p>Wie lächerlich erscheint ihr jetzt ihre Furcht vor Joachim Becker. Hat
+er damals daran gedacht, daß sie ihren guten Ruf verlieren könnte?
+Nein, er ließ sie im Stich und sorgte für sich selbst. Warum sollte
+ihr Name nicht im Protokoll stehen? Weil es der Name ihres Vaters ist?
+Michael Pohl ist es gleichgültig, was mit seinem Namen geschieht, wenn
+man nur vor sich selber ein anständiger Mensch bleibt und die eigene
+Achtung behält.</p>
+
+<p>Und darum muß sie nun zurückgehen und sich als Entlastungszeugin für
+Schwester Emmi melden.</p>
+
+<p>Sie wird am Hafentor ohne weiteres eingelassen, denn der Kapitän selbst
+hatte es ja erlaubt. Obgleich sie daran zweifelt, die Herren noch in
+Schwester Emmis Zimmer zu<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> treffen, nimmt sie doch ihren Weg zunächst
+in das Gebäude der Hafenwirtschaft.</p>
+
+<p>Auf der Treppe begegnet ihr Frau Reiche. Irmgard hat zwar noch nicht
+die Bekanntschaft mit der Kantinenwirtin gemacht, aber nach Schwester
+Emmis lebhaften Erzählungen ist ihr keine wichtige Person des Hafens
+fremd.</p>
+
+<p>Frau Reiche hat rote geschwollene Augen.</p>
+
+<p>»Zu wem wollen Sie?« fragt sie mit harter Stimme.</p>
+
+<p>»Zur Fürsorgeschwester.«</p>
+
+<p>»Da brauchen Sie gar nicht weiterzugehen, die ist fortgegangen«, gibt
+die Kantinenwirtin zurück.</p>
+
+<p>»Und der Kapitän ist auch nicht oben?« fragt Irmgard. Das ist eine
+gar zu dumme Frage. Was sollte der Kapitän allein in Schwester Emmis
+Wohnung? Sie hat durch das verstörte Gesicht und die rauhe Stimme der
+Frau ihre Fassung wieder etwas verloren.</p>
+
+<p>»Das Bureau ist drüben. Hier hat der Kapitän noch nie gewohnt.«</p>
+
+<p>Wie Irmgard schon an der Haustür ist, ruft die Frau ihr keifend nach:
+»Wird denn gar keine Ruhe im Haus? Kommen schon fremde Weiber hierher
+und schnüffeln in den Korridoren?«</p>
+
+<p>Irmgard läßt die Tür entsetzt zufallen und eilt zum Verwaltungsgebäude
+hinüber. Die Bureauräume im Erdgeschoß sind schon verdunkelt, nur aus
+der Wohnung des Kapitäns<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> dringt Licht. Sie geht kurz entschlossen
+hinauf und klingelt an seiner Tür.</p>
+
+<p>Der Kapitän öffnet selbst und ist gar nicht erstaunt, sie
+wiederzusehen. An diesem ereignisreichen Tag ist man auf alles gefaßt.</p>
+
+<p>Er fragt, ob sie mit in das Bureau hinuntergehen oder nähertreten wolle.</p>
+
+<p>Nein, sie möchte ihn nur einen Augenblick sprechen. Er führt sie in
+sein Arbeitszimmer.</p>
+
+<p>Da ist der große alte Mahagonischreibtisch, beleuchtet vom runden
+Schein einer grünbeschirmten Lampe. Auf einem Stuhl daneben steht der
+geöffnete Geigenkasten.</p>
+
+<p>»Ich habe Sie gestört«, sagt Irmgard entschuldigend. »Ich wollte Ihnen
+nur einige Worte sagen. Es betrifft Schwester Emmi.«</p>
+
+<p>»Aber wollen Sie nicht ablegen?« sagt er. »Gestört haben Sie mich
+nicht. Sehen Sie, ich bin immer allein. Ich wollte mir eben meinen Tee
+bereiten. Ich glaube, ich muß mir doch noch eine Wirtschafterin nehmen.«</p>
+
+<p>Indem er über seine Angelegenheiten plaudert, läßt er ihr Zeit, sich
+zu sammeln. Sie kann ihm plötzlich doch nicht mehr grollen, diesem
+einsamen Mann mit dem Geigenkasten.</p>
+
+<p>Während sie sich umwendet, um ihr Taschentuch aus dem Mantel zu
+nehmen, den er auf den Diwan gelegt hat, schließt er rasch den Kasten
+und stellt ihn hinter<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> den Schreibtisch. Dann bietet er ihr den frei
+gewordenen Stuhl an.</p>
+
+<p>So, nun wird er wieder kühl, fast geschäftsmäßig. Es scheint
+wahrhaftig, als wäre es in seinen Augen eine Schande, wenn ein
+Hafendirektor Geige spielt. Er schließt seine Gefühle fest ein und geht
+im Zimmer umher, als sei nun alles in Ordnung.</p>
+
+<p>Irmgard bringt ihr Anliegen vor und berichtet von dem Koffer.</p>
+
+<p>»So,« sagt der Kapitän, »der Koffer gehört der Fürsorgeschwester? Das
+ist sicherlich noch nicht bekannt. Ich werde es jedenfalls melden. Und
+ob wir Sie brauchen, das steht noch nicht fest. Für alle Fälle danke
+ich Ihnen.«</p>
+
+<p>Nun wäre Irmgards Mission beendet, aber sie steht nicht auf, um ihn zu
+verlassen.</p>
+
+<p>»Wenn der Koffer bis jetzt keine Rolle gespielt hat,« meint sie
+unschlüssig, »so brauchen wir das Verfahren damit vielleicht nicht
+zu komplizieren. Schwester Emmi hat also anscheinend bisher mit der
+Angelegenheit nichts zu tun. Könnte man denn nicht alles beim alten
+lassen? Warum sollen wir sie unnötig hineinziehen?«</p>
+
+<p>Sie redet sehr vertraut mit ihm. Sie sagt »wir« und schließt ihn in
+eine Partei ein, in die er als Direktor des Hafens wohl nicht gehört.
+Das empfindet sie im Augenblick, da sie zu Ende gesprochen hat.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>Der Kapitän nimmt auch gleich die richtige Stellung ein.</p>
+
+<p>»Was Sie mir gemeldet haben,« sagt er, »muß ich weitergeben. Das übrige
+wollen wir den Gerichten überlassen.«</p>
+
+<p>»Ja,« erwidert sie nicht ohne Vorwurf, aber mit schwachem Lächeln, »Sie
+müssen sich schon als neutrale Person in die Mitte stellen. Aber der
+Schwester habe ich vielleicht mit meiner nachträglichen Meldung keinen
+guten Dienst geleistet.«</p>
+
+<p>»Das können wir nicht wissen. Und warum soll sie ihre Tasche nicht
+zurückerhalten? Es ist nur schade, daß Sie vorhin fortgegangen waren,
+denn dann hätten wir Widersprüche vermieden.«</p>
+
+<p>»Widersprüche?« fragt Irmgard ängstlich. Sie weiß, daß Frauen in der
+Notlage immer zuerst zu einer Lüge greifen. Was mochte also Schwester
+Emmi ausgesagt haben?</p>
+
+<p>»Sie meinten vorhin, daß ich mich in die Mitte stelle. Damit haben
+Sie recht. In diesem Fall gehöre ich dahin, und ich kann Ihnen nicht
+die Erklärungen geben, die Sie vielleicht wünschen. Ihren Besuch
+darf ich nicht ungeschehen machen, wenn Sie mir deswegen vielleicht
+auch grollen. Sie sehen, wie unrecht es war, vorhin von der Mitte
+abzuweichen und Ihnen die Vernehmung zu ersparen.«</p>
+
+<p>»Ach, sind Sie da schon von der Mitte abgewichen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p>
+
+<p>Er überhört durchaus nicht die Ironie in ihrer Frage. Sein Gesicht
+scheint, soweit es überhaupt Gefühlsregungen verraten kann, traurig und
+verfallen.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt er, »wir Menschen in der Mitte werden verachtet, weil wir
+es keinem recht machen — weder dem einen noch dem anderen. Wir haben
+keine Feinde, aber wir verschaffen uns auch keine Freunde.«</p>
+
+<p>Er erhebt sich und tritt damit aus dem Lichtkreis der Lampe. Dann nimmt
+er seine Wanderung im Zimmer wieder auf und spricht weiter:</p>
+
+<p>»Wer fragt danach, <em class="gesperrt">warum</em> es ein Mensch für richtig hält, immer
+in der Mitte zu stehen und damit niemand unrecht zu tun? Wir würden
+einander viel Ärger und Leiden ersparen, wenn wir uns alle daran halten
+wollten.«</p>
+
+<p>Irmgard muß an Joachim Becker denken, der niemals in der Mitte steht,
+sondern immer auf der einen Seite, während er der anderen Unrecht
+zufügt. Und sie selbst gehört zu der leidenden Partei. Hätte er aber
+sonst diesen Hafen gegründet?</p>
+
+<p>»Wohin sollte das führen?« fragt sie den Kapitän. »Wäre dann ein Cäsar
+oder ein Napoleon möglich? Und wo blieben ihre ungeheuren Taten?
+Ich denke mir, daß jedes große Werk ein Opfer auf der anderen Seite
+fordert.«</p>
+
+<p>»Es gibt robuste Naturen, denen es möglich ist, die Konsequenzen
+ihrer einseitigen Handlungen zu tragen. Es steht<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> mir fern, sie
+zu verurteilen, denn ich sehe ihren Standpunkt ebenso wie den der
+Schwachen.«</p>
+
+<p>»Richtig,« sagt Irmgard bitter, die jedes Wort als einen Hieb auf
+Joachim Becker empfindet, »Sie dürfen ja nicht nur die Mittelmäßigkeit
+verteidigen, Sie haben sich die Aufgabe gestellt, zwischen allen
+Parteien zu stehen.«</p>
+
+<p>Sie wird ungerecht, ja, ihre Worte sind fast beleidigend, aber sie
+spricht zu einem Mann, der auch ihre Ansicht verstehen muß. Was darf
+sie ihm nicht alles sagen! Wird er nicht letzten Endes jedes Wort ruhig
+hinnehmen müssen und verständnisvoll verzeihen? Die harten Worte kommen
+aus einem schwachen oder starken Gefühl; er aber steht über allen
+Schwankungen des Herzens und hat seinen Standpunkt in der Mitte.</p>
+
+<p>»Ach, wie schwer muß es sein, diesem Vorsatz treu zu bleiben!« fügt sie
+seufzend hinzu, während sie aufsteht und sich verabschieden will.</p>
+
+<p>Sie hat kein Erbarmen mit diesem einsamen Menschen, der gehetzt im
+Zimmer umherrennt und durchaus nicht den Eindruck hervorruft, als seien
+seine Empfindungen klar und geebnet.</p>
+
+<p>»Bitte, bleiben Sie noch«, sagt er, ohne seine Wanderung zu
+unterbrechen. »Sie wollen mich kränken. Sie sind grausam, und ich
+weiß nicht, womit ich mir das verdiente. Haben Sie nicht darüber
+nachgedacht, daß das, was Sie die Mittelmäßigkeit nennen, nach schweren
+Kämpfen aus Stärke und<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Schwäche erwachsen kann? Wie viele Ursachen
+dürften dafür vorhanden sein! Es gibt Erlebnisse, die das Wesen eines
+Menschen von Grund auf verändern. Ich will nicht von mir sprechen, es
+liegt mir fern, Sie damit zu langweilen. Aber nehmen wir ein Beispiel
+an. Ich will es so wählen, daß auch Sie als Frau es verstehen können:</p>
+
+<p>Ein Mann glaubt, sehr geliebt zu werden. Er selbst — nun lassen wir
+das. Er vertraut ihr und begibt sich auf eine weite Reise. Er fährt
+in fremde Erdteile, vielleicht, weil es sein Beruf erfordert oder
+weil es ihm Spaß macht. Jedenfalls bleibt er sehr lange fort, und er
+hat keinen Grund, seiner Frau zu mißtrauen. Er zweifelt niemals an
+ihrer Treue, darum trifft es ihn so unvermittelt, als sie ihm selbst
+gesteht, ihn betrogen zu haben. Sie hat keine äußere Ursache, es ihm
+zu sagen, ihr Gewissen treibt sie dazu, weil sie innerlich wieder zu
+ihm zurückgefunden hat. Der Mann gehört aber nicht zu den Neutralen,
+die auch die Schwächen der anderen verstehen. Nein, er sieht nur seine
+Seite, das an ihm begangene Unrecht, das getäuschte Vertrauen. Mit
+dem Recht des Starken verurteilt er, ja, er ist ohne Gnade, und die
+Frau geht ganz verzweifelt fort. Vielleicht wissen Sie, wie grausam
+ein Mensch sein kann, wenn er nur sein eigenes Herz schlagen fühlt und
+nicht auch das Herz des anderen. Aber dann kommt die Stunde, da sich
+plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt.«</p>
+
+<p>Der Kapitän bleibt stehen und blickt Irmgard Pohl mit<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> verlorenen
+Blicken an. Nein, er sieht nicht das fremde junge Mädchen, das zu ihm
+gekommen ist, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, er arbeitet an
+seinem »Beispiel«. Und er geht wieder mit gespreiztem Gang im Zimmer
+umher, während er die Hände auf dem Rücken fest ineinanderlegt.</p>
+
+<p>»Kaum ist sie fortgegangen, so daß er die Einsamkeit spürt, da sieht
+er auch die andere Seite. Er stellt sich wieder nicht in die Mitte,
+er springt zum anderen Extrem hinüber. Da beginnt er nun mit der
+Verteidigung der jungen Frau, die er selbst dem vielfältigen Leben
+schutzlos gegenübergestellt hat. Sie war jung und hat gefehlt, aber
+sie macht kein Hehl daraus, sie bekennt offen ihr Unrecht. Wie muß sie
+dem Manne vertraut haben, und welche Größe hat sie von ihm erwartet,
+da sie seiner Verzeihung so gewiß war. Er aber jagt sie davon. So sind
+die Menschen: wie man soeben den anderen verurteilt hat, so richtet
+man nun sich selbst. Wir finden keinen guten Weg dazwischen. Er will
+sie zurückholen, doch er weiß nicht, wo er sie suchen soll. Und er
+irrt eine ganze Nacht am Hafen, an den Fleeten, an jedem Wasser und
+auf allen Brücken umher und weiß sich keinen Rat. Am Morgen treibt ihn
+seine Verzweiflung in irgendeine Kirche, ihn, der keine Konfessionen
+kannte und kein Gebet, nur sein Vertrauen auf die eigene Kraft. Er
+bittet irgendeinen Gott, ihm zu helfen. Er legt ein Gelübde ab, eine
+Beichte, er faltet die Hände, er kniet, er will allen Religionen
+gerecht werden, um den wahren Gott zu finden, der ihm helfen<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> kann.
+Aber wie er nach Hause kommt, hat die Frau das Leben weggeworfen, das
+sie neu beginnen wollte und das er ihr zerstört hat — —«</p>
+
+<p>Der Kapitän bricht plötzlich ab, ohne seine Stimme zu senken, als
+wollte er etwas hinzufügen. Doch er schweigt. Er rückt ein Bild an der
+Wand zurecht, eine afrikanische Landschaft, die mit seiner Erzählung
+nichts zu schaffen hat. Man sieht, daß ihn selbst sein Beispiel nichts
+angeht, es berührt ihn nicht, er kann sich sogar wieder mit einer
+afrikanischen Landschaft beschäftigen, er ist ja der Mann in der Mitte.
+Nur, daß er die Schlußfolgerung aus seiner Erzählung nicht mehr gezogen
+hat, war ihm dabei entgangen.</p>
+
+<p>Aber das ist nicht nötig. Seine Zuhörerin hat ihn auch so verstanden.
+Sie erhebt sich und sagt: »Ja, da will ich jetzt gehen. Verzeihen Sie
+mir.«</p>
+
+<p>»Ach, wollen Sie gehen?« fragt er lächelnd. »Nein, ich habe nichts zu
+verzeihen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater, und wenn es
+recht ist, so will ich ihm demnächst meine Aufwartung machen.«</p>
+
+<p>Er begleitet sie bis zur Haustür und dankt ihr für den Besuch.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl geht langsam zum Hafentor. Wieviel stürmt auf einen jungen
+Menschen ein, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird! Soll man
+sich nun noch mit den fremden Schicksalen beschäftigen? Sie ist fast
+erdrückt unter der Last ihrer Gedanken und Gefühle.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>Wie schön war es sonst, in solchen Stunden Schwester Emmi zu begegnen,
+die plaudert und mit ihrem erheiternden Lachen alle schweren Gedanken
+davonjagt. Eine leichte und sonnige Natur ist viel wert, aber nun kommt
+Schwester Emmi kurz vor der Föhrbrücke Irmgard Pohl entgegen, und ihr
+Gesicht scheint grau und alt.</p>
+
+<p>»Haben Sie mich gesucht?« fragt sie, während sie bei der Anstrengung zu
+einem Lächeln den rechten Mundwinkel herabzieht.</p>
+
+<p>»Ja«, sagt Irmgard, obgleich es nicht ganz den Tatsachen entspricht.
+»Wo sind Sie gewesen? Sie sehen elend aus. Warum bleiben Sie nicht zu
+Hause?«</p>
+
+<p>»Ach, ich mußte einen wichtigen Besuch machen. Bei einem Herrn Stein
+war ich, dem Mann einer früheren Patientin. Aber er hatte heute keine
+Zeit für mich, er war eben von der Reise gekommen. Das hätte ich
+mir denken können, nicht wahr? Ich weiß nicht, wo ich heute meine
+Überlegung habe, ich mache alles verkehrt.«</p>
+
+<p>Irmgard sieht ihr prüfend in die starren Augen. ›Warum erzählt sie mir
+das alles mit diesem unheimlichen Gesicht?‹ denkt sie. Nun forscht sie
+weiter, um Schwester Emmi Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen und
+aus ihrer Erstarrung herauszufinden.</p>
+
+<p>»Was wollten Sie von diesem Herrn Stein? Mußten Sie ihn noch heute
+sprechen?«</p>
+
+<p>»Ja«, antwortet die Schwester. »Es mußte sofort sein,<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> obgleich es
+schon zu spät ist. Aber vielleicht kann ich ihn doch noch retten.«</p>
+
+<p>»Meinen Sie Herrn Gregor?«</p>
+
+<p>»Ja.«</p>
+
+<p>»Was kann dieser Herr Stein für ihn tun? Handelt es sich um Geld?«</p>
+
+<p>»Ja.«</p>
+
+<p>»Und Sie glauben, daß Sie es von dem Herrn bekommen, wenn Sie abends in
+sein Bureau gehen?«</p>
+
+<p>»Er hat es mir nicht direkt abgeschlagen, er meinte, falls ich morgen
+abend käme, wenn er Zeit hätte, dann könnten wir in Ruhe darüber
+sprechen.«</p>
+
+<p>»Wollen Sie nicht zu mir hinüberkommen? Wir gehen gleich in mein
+Zimmer, damit uns niemand stört. Hier können wir nicht stehenbleiben«,
+sagt Irmgard Pohl.</p>
+
+<p>Sie nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Schwester beim Arm und
+führt sie über die Föhrbrücke zur Mühle.</p>
+
+<p>Unterwegs sagt die Schwester, die vor Kälte zittert: »Es ist so
+furchtbar, daß ich morgen noch zu diesem Menschen gehen muß. Aber das
+ist die einzige Rettung.«</p>
+
+<p>Im warmen Zimmer bettet Irmgard sie auf den Diwan, und dann beginnt
+sie, mit milden und zärtlichen Worten auf sie einzureden. Wenn sie doch
+weinen könnte, denkt sie, das wäre gut.</p>
+
+<p>Als das alles nicht hilft, versucht sie es auf eine andere Weise.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
+
+<p>»Was haben Sie sich denn gedacht?« sagt sie streng. »Wollen Sie sich an
+diesen Herrn Stein verkaufen, um einen Menschen zu retten, der nicht
+das geringste Opfer wert ist?«</p>
+
+<p>Die Schwester springt erregt auf. Es ist, als wollte sie davonstürzen,
+aber dann wirft sie sich auf die Erde und weint, laut und
+leidenschaftlich. Alle Demütigungen, die Angst, die zurückgedrängten
+Tränen lösen sich auf in diesem befreienden Schluchzen.</p>
+
+<p>Als sie sich müde geweint hat, bettet Irmgard sie wieder auf den Diwan,
+dann geht sie hinunter zu den Eltern.</p>
+
+<p>»Kommst du endlich?« sagt Frau Pohl vorwurfsvoll. Sie ist mit einer
+Häkelei beschäftigt, während der Mühlenbesitzer seine Zeitung liest.</p>
+
+<p>Hier sitzen zwei Menschen wie in friedlichem Kreis um einen runden
+Tisch und sind nur vom Schicksal ihrer eigenen kleinen Familie
+umschlossen.</p>
+
+<p>»Ich habe Schwester Emmi mitgebracht«, sagt Irmgard, während sie ihren
+Vater bittend ansieht. »Drüben ist in ihrer Gegenwart ein Angestellter
+verhaftet worden. Sie wurde dadurch so erregt, daß ich sie nicht allein
+lassen wollte.«</p>
+
+<p>Frau Pohl steht auf.</p>
+
+<p>»Dann will ich euch etwas Abendbrot besorgen«, sagt sie.</p>
+
+<p>Seitdem ihre Tochter in der Mühle eine geregelte Tätigkeit hat, wird
+sie von Frau Pohl als selbständiger Mensch behandelt, der sich seine
+Gäste mitbringen darf, und der sein<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> Essen zu fordern hat, wenn er das
+Haus betritt. Frau Pohl versäumt niemals ihre Pflichten.</p>
+
+<p>Irmgard geht zu ihrem Vater. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und
+lehnt stumm den Kopf an seine Schulter. Der Mühlenbesitzer legt die
+Zeitung hin und schließt den Arm um seine Tochter.</p>
+
+<p>So sitzen sie, bis Irmgard die Schritte der Mutter hört. Sollte man
+es wohl für möglich halten, daß eine Mutter auf ihre eigene Tochter
+eifersüchtig ist?</p>
+
+<p>Wie Irmgard dem mißtrauischen Blick Frau Pohls begegnet, denkt sie, wie
+schön es wäre, wenn noch einige Menschen so in der Mitte ständen wie
+der Kapitän.</p>
+
+<p>Aber sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie es in vielen Fällen
+gutheißen würde.</p>
+
+<p>Als sie in ihr Zimmer hinaufkommt, ist Schwester Emmi nach ganz kurzer
+Ruhe erwacht und von neuen Sorgen erfüllt.</p>
+
+<p>»Nun wird man mich entlassen«, sagt sie verzweifelt. »Ich habe zwar
+gesagt, daß ich Herrn Gregor heute überhaupt nicht gesehen hätte, aber
+Frau Reiche wird dafür sorgen, daß man mich davonjagt.« Die ganze
+Trostlosigkeit ihres Wanderlebens liegt wieder vor ihr.</p>
+
+<p>»Nein,« sagt Irmgard, »der Kapitän wird niemals zugeben, daß man Sie
+entläßt. Davon dürfen Sie fest überzeugt sein.«</p>
+
+<p>»Haben Sie ihn gesprochen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p>
+
+<p>»Ja.«</p>
+
+<p>»Und er hat es Ihnen gesagt?«</p>
+
+<p>»Es war so gut, als hätte er genau das gesagt.«</p>
+
+<p>Und wiederum ist sie froh, daß sie sich auf den Mann in der Mitte
+verlassen kann.</p>
+
+<p>Wer könnte dem Kapitän vorwerfen, daß er jemals von diesem Platz
+gewichen wäre?</p>
+
+<p>Wenn die Kantinenwirtin bei ihm erscheint und mit sittlicher Entrüstung
+meldet, daß sie am frühen Morgen einen Herrn aus dem Zimmer der
+Fürsorgeschwester kommen sah, so sagt er nicht: »Dieser Skandal! Ich
+werde die Schwester verwarnen oder entlassen.« Aber er fragt auch
+nicht: »Warum werden Sie durch diesen Vorgang so erregt? Hätten Sie es
+lieber gesehen, wenn der Herr aus einer anderen Tür gegangen wäre?«</p>
+
+<p>Nein, er sagt: »So. Ich werde es in Ordnung bringen.« Dann geht alles
+seinen alten Gang, und durch eine Verhaftung ist jede Wiederholung des
+beanstandeten Besuches unmöglich geworden, so daß sich das Weitere
+erübrigt.</p>
+
+<p>Er macht auch dem Mühlenbesitzer Pohl den versprochenen Besuch, als
+habe er keine Ahnung davon, daß die Hafengesellschaft mit ihm einen
+Prozeß führe.</p>
+
+<p>»Ich komme mit einer Bitte«, sagt der Kapitän, ohne Herrn Pohl Zeit zu
+anderen Erörterungen zu lassen. »Sie haben hier einen großen schönen
+Speicher, und wir wissen<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> nicht, wo wir unsere Getreideladungen lassen
+sollen. Könnten Sie uns nicht vorübergehend aushelfen?«</p>
+
+<p>»Der Speicher war ursprünglich nur für meinen eigenen Bedarf bestimmt,
+aber nun habe ich seit Bestehen des Hafens schon oft ausgeholfen. Es
+ist für manchen sehr günstig, sein Getreide bei mir zu lassen.«</p>
+
+<p>»Sie werden doch keinen Unterschied machen?«</p>
+
+<p>»Nein,« sagt Herr Pohl lächelnd, »warum sollte ich meine Prozeßgegner
+schlechter behandeln?«</p>
+
+<p>Die Zeit geht über so vieles heilend hinweg, man muß nun über eine
+erbitterte Feindschaft lächeln.</p>
+
+<p>»Also können wir einen Vertrag abschließen?« fragt der Kapitän.</p>
+
+<p>»Nein, um Gottes willen keine Verträge. Kommen Sie, wenn Sie meinen
+Speicher brauchen, und ich will zusehen, wie ich einem so großen
+Unternehmen helfen kann.«</p>
+
+<p>Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Händedruck. Während die
+Prozeßgegner vor den Gerichten ihre Sache weiter verfechten, schließen
+sie daheim friedlich ihre Geschäfte ab. Und das ist keinem anderen zu
+verdanken als dem Kapitän, dem Mann in der Mitte.</p>
+
+<p>Oder der Bäckermeister Reiche, Kantinenwirt im Hafen, spricht bei ihm
+vor und dreht lange verlegen an seiner Mütze, bis er endlich mit der
+Sprache herausrückt.</p>
+
+<p>Also: er halte dieses Leben nicht länger aus, er sei Handwerker und
+nicht Schankwirt. Und wenn das nicht bald ein<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Ende nähme, so wüßte
+er nicht, was noch geschehen könnte. Er bittet um die Erlaubnis, das
+Recht für die Bewirtschaftung der Kantine mit seinem eigenen geringen
+Inventar verkaufen zu dürfen, damit er wieder imstande sei, sich eine
+Bäckerei anzuschaffen.</p>
+
+<p>»Was sagt Ihre Frau dazu?« fragt der Kapitän.</p>
+
+<p>»Meine Frau?« wiederholt Herr Reiche, »sie trägt die Zigaretten und das
+Essen aus der Kantine in das Untersuchungsgefängnis und verschenkt mein
+Geld an fremde Menschen.«</p>
+
+<p>»Sie ist in der Wirtschaft sehr tüchtig, und man scheint allgemein
+zufrieden mit ihrer Küche zu sein«, sagt der Kapitän. »Wollen Sie
+es nicht auf eine andere Art mit ihr versuchen? Was Ihre Bäckerei
+betrifft, so will ich Ihnen natürlich nichts in den Weg stellen.«</p>
+
+<p>Wie Herr Reiche im Vorzimmer an Fräulein Spandau, der stillen
+Sekretärin, vorbeikommt, sieht er sehr zufrieden aus, als habe der
+Kapitän ihm geholfen. Fräulein Spandau nickt ihm lächelnd zu, sie wird
+es zwar sehr bedauern, wenn sie mit ihm nicht mehr jeden Tag um ein Uhr
+ein paar Worte wechseln kann, doch sie freut sich in seinem Interesse,
+daß er zu seinem Beruf zurückkehren darf.</p>
+
+<p>Fräulein Spandau hat ein blasses flaches Gesicht und dünne aschblonde
+Haare, sie ist nicht hübsch, nein, das ist sie nicht. Aber sie
+konnte noch nie einem Menschen ihr Mitgefühl versagen. Sie hat sechs
+Geschwister und eine kranke<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Mutter. Wenn sie heimkommt, beginnt sie zu
+kochen, zu waschen und zu nähen, und sie ist immer froh, wenn ihr nicht
+weniger als fünf Stunden Schlaf verbleiben. Eine geordnete Bäckerei
+mit weißgestrichenen Regalen und frischen Broten scheint ihr wie das
+Paradies, der zufriedene Bäckermeister mit der großen, weißen Schürze
+wie der gute Petrus, auch wenn er Sommersprossen und rote Haare hat.</p>
+
+<p>Wird Reiche nun in das Paradies einziehen? Ach — an Fräulein Spandau
+vorbei geht auch die Kantinenwirtin zum Kapitän, diesmal in eigener
+Angelegenheit. Auch sie kehrt befriedigt zurück. Und es bleibt alles
+beim alten. Der Kapitän hat seinen Platz in der Mitte nicht verlassen.</p>
+
+<p>Selbst ein Herr Gregor hatte niemals Grund, sich über den anfangs
+so gefürchteten Kapitän zu beklagen. Herr Gregor gehörte zur
+Generaldirektion und der Kapitän zum Hafen, und so ging jeder seiner
+Wege, bis die Verhaftung erfolgte und Herrn Gregors Posten frei wurde.</p>
+
+<p>Warum sollte der junge <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann nicht auf diesem Platz
+seine guten Kenntnisse erproben? Hatte er sich nicht seit Monaten im
+Hafen bewährt? Oder konnte jemand Klagen des Kapitäns nachweisen?</p>
+
+<p>Die Frage war wichtig genug, um einen Besuch des Generaldirektors beim
+Kapitän herbeizuführen.</p>
+
+<p>Fräulein Spandau lauscht ängstlich auf die laute Stimme Joachim
+Beckers.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p>
+
+<p>»Können Sie mir auch nur <em class="gesperrt">einen</em> praktischen Erfolg nachweisen?«
+fragt er erregt.</p>
+
+<p>»Er steht am Anfang«, sagt der Kapitän. »Wir müssen Nachsicht üben.«</p>
+
+<p>»Nachsicht, Nachsicht! Ich brauche praktische Arbeiter. Ich muß
+Positives leisten und kann mich nicht mit Theorien abgeben.«</p>
+
+<p>»Seine Ideen sind nicht schlecht«, wendet der Kapitän ein. »Er macht
+zuweilen Vorschläge, die bei ihm überraschen.«</p>
+
+<p>»Haben Sie schon <em class="gesperrt">einen</em> davon ausführen können?«</p>
+
+<p>»Nein, das nicht, weil er noch nicht fähig war, über die Idee hinaus
+einen Plan auszuarbeiten. Vielleicht lassen wir ihm Zeit dafür.«</p>
+
+<p>»Bitte«, sagt der Generaldirektor kurz. »Dann beantragen Sie seine
+Weiterarbeit mit der Begründung, daß er Ihnen unentbehrlich sei.«</p>
+
+<p>So wurde auch diese Frage zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat sucht selbst den Kapitän auf, um ihm zu gestehen, wie
+sehr er sich über die Erfolge seines Sohnes freue.</p>
+
+<p>Der Kapitän meint: »Ja, er wird sich mit dem Hafen entwickeln können.
+Hier bei der praktischen Arbeit findet er am besten den Übergang aus
+den Theorien.«</p>
+
+<p>»So ist es«, sagt der Kommerzienrat nun vollkommen befriedigt, weil er
+sieht, daß der Kapitän seinen Platz in der<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Mitte behauptet. »Wir haben
+uns früher unsere Ansichten aus der Praxis gebildet, heute ist es wohl
+so, daß man mit ihnen hineingeht und versucht, ob sie auch passen.«</p>
+
+<p>Seine Kritik versagt selbst vor dem Sohne nicht, aber er ist geneigt,
+den Zeitgeist für das negative Resultat verantwortlich zu machen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Vergangenheit">Die Vergangenheit</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-w001" src="images/drop-w001.jpg" alt="W">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">W</span>enige Wochen nach seinem ersten Besuch ist der Kapitän genötigt, noch
+einmal in der Mühle vorzusprechen.</p>
+
+<p>Es handelt sich um eine große und wichtige Getreideladung, die während
+unsachgemäßer Lagerung gelitten hat und gereinigt werden soll, ehe sie
+weitergeht.</p>
+
+<p>Herr Pohl hat zwar zurzeit wenig Raum. Aber er erklärt sich schließlich
+bereit, seine Einrichtungen dafür zur Verfügung zu stellen, wenn der
+Kapitän die Arbeit überwachen läßt.</p>
+
+<p>Der Kapitän will selbst von Zeit zu Zeit das Getreide prüfen. So kommt
+es, daß er nun oft jenseits des Kanals zu sehen ist.</p>
+
+<p>Wenn er Irmgard Pohl begegnet, so grüßt er sie mit seinem eckigen
+Hutschwenken wie einen alten Freund. Sie hat keine Zeit, sich in eine
+Unterhaltung mit ihm einzulassen, wenn er im dienstlichen Eifer um
+das Bureau der Mühle stapft. Er nimmt ein Lächeln von ihr mit in das
+Gebrumm der Maschinen, und sie sagt bei Tisch zum Vater:</p>
+
+<p>»Ich habe den Kapitän eben hier getroffen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p>
+
+<p>»Ja«, erwidert er. »Der hat jetzt öfter bei uns zu tun.«</p>
+
+<p>Frau Pohl erkundigt sich nach dem Mann, welche Stellung er im Hafen
+bekleide, und — nach kurzer Pause — ob er verheiratet sei.</p>
+
+<p>Vater und Tochter wechseln einen raschen Blick. Sie geben ihr Auskunft,
+und sie mag daraus entnehmen, daß sie es mit dem ersten und wichtigsten
+Mann im Hafen, nach dem Kommerzienrat, zu tun habe, denn Joachim Becker
+wird in stillem Einvernehmen nicht erwähnt.</p>
+
+<p>»Siehst du«, sagt Herr Pohl auf dem Weg ins Bureau zu seiner Tochter.
+»Die Mutter hat einen Heiratskandidaten für dich.«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt Irmgard. »Sie beschäftigt sich jetzt damit. Neulich fragte
+sie mich, wie alt ich sei. Sie war lange sehr nachdenklich, als ich es
+ihr wahrheitsgemäß gesagt hatte. Es wird immer schwerer, ihre Fragen zu
+beantworten.«</p>
+
+<p>Herr Pohl nickt. »Sie möchte, daß du mehr unter junge Leute kommst, und
+erklärte sich sogar bereit, Gäste zu bewirten.«</p>
+
+<p>Sie sind vor dem Bureau angekommen. Irmgard macht keine Anstalten, zu
+ihm hineinzugehen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wendet sich halb
+zu ihrer Tür, dann sagt sie, ehe sie im Hauptkontor verschwindet:</p>
+
+<p>»Wenn ihr wollt, könnt ihr ja den Kapitän einladen!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p>
+
+<p>Michael Pohl sieht ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach und geht
+mit unzufriedenem Gesicht zu seinem Schreibtisch.</p>
+
+<p>Der Kapitän ist ihm nicht unsympathisch. Seinetwegen war er auch der
+Hafengesellschaft entgegengekommen, denn er kann einem guten Menschen
+schwer etwas abschlagen, während er sich die schlechten peinlich vom
+Halse hält.</p>
+
+<p>Und gern sieht er es nicht mit an, wie die Tochter im Bureau sitzt und
+sich daheim überflüssig fühlt.</p>
+
+<p>Der Kapitän wäre ihm als Gesellschafter bei einer guten Zigarre
+gleichfalls recht. Aber nun kann er die Einladung verteufelt schwer
+anbringen.</p>
+
+<p>Er legt die Hand wuchtig auf den Tisch. Seine Stirn hat sich bedenklich
+gerötet.</p>
+
+<p>Zum Kuckuck, soll er seine Tochter jetzt vielleicht öffentlich
+ausbieten? Nein, mit <em class="gesperrt">seiner</em> Einladung kommt der Kapitän nicht in
+sein Haus. Das ist seine Ansicht, klipp und klar.</p>
+
+<p>Und er begegnet dem Hafendirektor, der ihm bisher wahrhaftig keinen
+Anlaß zu Klagen gab, von nun an mit kühlen, fast finsteren Mienen.</p>
+
+<p>Die Arbeiten sind auch beendet, die Abrechnungen erledigt. Der Kapitän
+hatte sich mehr als nötig selbst darum bemüht. Nun dürfte er eine Weile
+auf der anderen Seite des Kanals bleiben. Herr Pohl atmet erleichtert
+auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
+
+<p>Irmgard Pohl hat selbst eingesehen, daß ihr einige Abwechslung gut
+täte. Sie will zunächst einmal in ein Konzert gehen. Der Vater kann
+sich noch immer nicht entschließen, seine Frau an den Abenden allein
+zu lassen, sonst hätte er sie vielleicht begleitet, wie er es früher
+zuweilen tat, bis Joachim Becker ihr ein besserer Gesellschafter wurde.</p>
+
+<p>Er hilft ihr in den Pelz und begleitet sie bis zum Tor. Ihr Gesicht
+ist von innen erwärmt, und wie sie nun, hoch und schmal, mit behenden
+Schritten von ihm fortgeht, sieht er ihr mit unverhülltem Vaterstolz
+nach.</p>
+
+<p>Der Konzertsaal ist nicht sehr weit entfernt. Irmgard nimmt den Weg
+als willkommenen Spaziergang. Es ist unvermeidlich, daß sie wieder
+Erinnerungen nachhängt, denn sie hatte am Anfang ihrer Bekanntschaft
+mit Joachim Becker auch einige Male versucht, ihn für gute Musik zu
+interessieren. Er verstand wenig davon, ließ sich aber willig führen,
+und dann waren sie taumlig von den Tönen durch die Straßen gesegelt.
+Im Frühjahr und im Sommer fanden sie später andere Verwendung für ihre
+Abende. Irmgard hatte jedoch schon viele Pläne für den neuen Winter
+geschmiedet, der dann so trostlos und einsam verlief.</p>
+
+<p>Bei solchen Träumereien achtet man nicht auf die Umwelt. Der Kapitän,
+der ihr entgegenkommt, kann ungesehen umkehren und eine ganze Weile
+hinter ihr hergehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p>
+
+<p>Vielleicht überlegt er, ob er sie noch ansprechen soll. Er zögert
+sehr lange. Das mag an ihrem leichten und wiegenden Gang liegen. Sie
+hat nicht sonderlich kleine, aber sehr schmale Füße, die sie in ihrer
+Verträumtheit langsam über das bereifte Pflaster führt.</p>
+
+<p>»Werden Ihnen in diesen dünnen Schuhen nicht die Füße erfrieren?«
+sagt er schließlich dicht neben ihr, während er die Hand aus der
+Manteltasche zieht, um sie nach dieser burschikosen Anrede zu begrüßen.</p>
+
+<p>Er hat sie selbstverständlich sehr erschreckt. Aber sie geht rasch
+auf seinen Ton ein und sagt: »Wie hätten Sie die schönen neuen Schuhe
+bewundern können, wenn sie in solchen Ungetümen von Überschuhen
+steckten?«</p>
+
+<p>Sie mögen beide jetzt zu gleicher Zeit erkennen, daß das der geeignete
+Verkehrston für sie ist. Menschen mit Enttäuschungen, die nicht
+verbittern wollen, wählen gern den leichten Spott zum Verdecken ihrer
+Grundstimmung.</p>
+
+<p>Nun haben sie das richtige Fahrwasser gewonnen und langen in munterer
+Unterhaltung vor dem Konzerthaus an. Der Kapitän macht keine Anstalten,
+sich zu verabschieden.</p>
+
+<p>Sie sieht ihn belustigt an: »Ja, wollen Sie denn auch hierher?«</p>
+
+<p>»Nein, das heißt ja, jetzt will ich es auch. Sie haben mich auf eine
+ausgezeichnete Idee gebracht.«</p>
+
+<p>Sie ist einen Augenblick verlegen und bleibt stehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
+
+<p>»Ich hoffe doch, Sie wissen, mit wem Sie hier hineingehen, und daß es
+für Sie peinlich sein kann?« fragt sie und fühlt, wie ihr die Röte
+langsam ins Gesicht steigt.</p>
+
+<p>»Ich weiß, was ich tue«, sagt er fast ärgerlich. »Und ich wüßte mir
+keine angenehmere Gesellschaft.« Seine Worte verlieren dabei den Sinn
+eines Komplimentes.</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht verstimmen wollen. Zuweilen muß
+man sich selbst daran erinnern, damit man nicht zu übermütig wird.
+Natürlich werden Sie wissen, was Sie zu unternehmen haben, um keinen
+Menschen zu kränken.«</p>
+
+<p>»Wovon sprechen Sie, Fräulein Pohl?« fragt er plötzlich sehr streng.</p>
+
+<p>»Wovon?« fragt sie verwirrt. »Von dem, was Sie ebenso wissen wie alle
+anderen, die mich kennen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß die
+Menschen über das Unangenehme schweigen. Nur das Angenehme behalten sie
+für sich. Warum soll ich diskreter sein als die anderen, zumal es sich
+hier um mich selbst handelt?«</p>
+
+<p>»Nur mit dem Unterschied, daß Sie heute noch darüber sprechen, während
+die anderen längst schweigen. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich
+versuche, den Nachbarplatz zu bekommen.«</p>
+
+<p>Sie folgt der Aufforderung wie ein gestraftes Schulmädchen. Als sie
+von ihrer Tasche hochblickt und die strengen Falten in seinem Gesicht
+bemerkt, muß sie lächeln. Sie weiß<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> keine Erklärung dafür, daß sie sich
+auf einmal unsäglich erleichtert fühlt.</p>
+
+<p>Er geht stumm neben ihr her, während sie sich der Billettkasse nähern.
+Sie ist ihm so dankbar und möchte ihm irgend etwas Gutes sagen.</p>
+
+<p>Während sie ihn betrachtet, wie er zum Schalter herabgeneigt ist und in
+seiner etwas umständlichen Art verhandelt, muß sie daran denken, daß
+ihr die Achtung der Menschen doch nicht so gleichgültig ist, wie sie
+es sich immer eingeredet hatte. Es ist sehr schön, zu wissen, daß man
+trotzdem nicht von ihnen gerichtet wurde.</p>
+
+<p>Der Kapitän kommt zurück. Er hat drei Karten in der Hand.</p>
+
+<p>»Der Nachbarplatz war schon vergeben«, sagt er und blickt unschlüssig
+auf die unverwendbare Karte.</p>
+
+<p>»Geben Sie, bitte!« sagt sie. Er läßt sich die Karte aus der Hand
+nehmen. Sie steckt sie in ihre Handtasche. »Die hebe ich mir auf zum
+Andenken an einen guten Mann.«</p>
+
+<p>»Sie sollten sie lieber einem armen Menschen schenken, der sich keine
+Musik leisten kann«, erwidert er, auch jetzt nicht ohne Strenge.</p>
+
+<p>»Mein Gott, Herr Schulmeister, nun könnten Sie wieder etwas
+freundlicher sein. Natürlich haben Sie recht.« Sie sieht sich suchend
+um.</p>
+
+<p>Er lächelt. »Gehen wir wieder vor den Eingang! Hier haben die Leute
+schon das Geld in der Hand.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p>
+
+<p>An der Tür begegnet ihnen ein junger Mensch mit rotgefrorenen Händen.
+Ein armer Musikstudent vielleicht.</p>
+
+<p>Irmgard geht schüchtern auf ihn zu und sagt leise: »Ach verzeihen Sie,
+wollen Sie vielleicht ...«</p>
+
+<p>Sie hält ihm die Karte hin. Aber ehe sie ausgesprochen hat, sagt er
+barsch: »Danke«, und geht beschleunigt weiter.</p>
+
+<p>Erschreckt zieht sie die Hand zurück und gesellt sich kleinlaut
+zum Kapitän. Der hebt die Schultern hoch, wie jemand, der einen
+Bubenstreich ausgeheckt hat und nun flüchtet. Er nimmt ihren Arm, und
+sie schlüpfen vor die Tür.</p>
+
+<p>»Aber das haben Sie ja ganz verkehrt angefangen«, sagt er draußen mit
+seinem aufgeräumten trocknen Lachen. »Der Mann hat natürlich gedacht,
+daß er Ihnen die Karte abkaufen soll, und er hat höchstens das Geld für
+die Galerie. Soll ich es einmal versuchen?«</p>
+
+<p>»Bitte, wenn Sie es besser verstehen!«</p>
+
+<p>Sie beobachten nun beide die Passanten. Ein paarmal sieht der Kapitän
+sie fragend an.</p>
+
+<p>»Sie können doch nicht irgendeinem Mann, der vielleicht zu einem
+Rendezvous gehen will, eine Konzertkarte aufschwatzen!« Jetzt lacht sie
+ihn aus, weil er es auch nicht geschickter anzufangen weiß.</p>
+
+<p>Zufällig fahren gerade viele Autos vor. Elegante, plaudernde Menschen
+gehen in das Tor. Es ist inzwischen spät geworden. Sie müssen eilen, um
+den Beginn nicht zu versäumen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p>
+
+<p>Er gibt es auf. »Ich habe mir das Verschenken wirklich leichter
+gedacht«, sagt er resignierend.</p>
+
+<p>Schließlich nimmt sie die Karte wieder an sich, und sie begeben sich
+hinein.</p>
+
+<p>»Ach ja, Beethoven kann man immer wieder hören«, sagt eine Frau
+sehr laut neben ihnen, als wolle sie sich vor aller Öffentlichkeit
+entschuldigen, daß sie noch zu so alter Musik geht.</p>
+
+<p>Die beiden sehen sich belustigt an. Sie sind in der Laune, die alles
+mit einem heitern Spott betrachtet.</p>
+
+<p>Aber dann sitzen sie auf ihren Plätzen und werden schon bei den ersten
+Tönen, die vom Stimmen der Instrumente in das schwatzende Publikum
+fallen, sehr still.</p>
+
+<p>In der Pause gehen sie lange schweigsam auf und ab. Nach diesem
+gemeinsamen Erlebnis will ihr neuer Verkehrston doch nicht mehr passen.</p>
+
+<p>Endlich beginnt er das Gespräch damit: »Ja, die Deutschen müssen sich
+bei der Musik immer etwas denken. Sie machen sich zu jeder Symphonie
+und selbst zu den Walzern einen Text.«</p>
+
+<p>Irmgard, die von den Tönen sehr angeregt wird und noch im tiefen
+Nachdenken ist, sagt:</p>
+
+<p>»Sie sprechen von den Deutschen, als gehörten Sie nicht dazu.«</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie, ich habe mich nicht korrekt genug ausgedrückt, ich
+hätte sagen müssen ›wir‹ Deutschen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span></p>
+
+<p>»Ja, sehen Sie, das klingt schon mehr nach persönlichem Bekenntnis, und
+darum vermeiden Sie es.« Sie kann es sich selbst nicht erklären, warum
+sie ihm jetzt seine Schwäche vorhalten muß.</p>
+
+<p>»Sie haben recht,« erwidert er, »man gewöhnt sich daran, seine Gefühle
+vor den Menschen zu verbergen.«</p>
+
+<p>Sie sehen einander einen Augenblick schweigend an. Da sagt sie
+unvermittelt:</p>
+
+<p>»Sie haben eine Geige, und ich würde gern wieder Klavier spielen, wenn
+Sie manchmal zur Begleitung herüberkämen.«</p>
+
+<p>Er wird nicht verlegen, wie es sonst seine Art ist, wenn man sein
+Steckenpferd erwähnt.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt er, »das will ich gern tun. Bestimmen Sie die Stunde!«</p>
+
+<p>Dann beginnt er, ehe sie geantwortet hat, sehr ausführlich davon
+zu erzählen, wie andere Völker die Musik auffassen, die Südländer
+etwa oder die Chinesen. Am wenigsten könne man als Europäer bei der
+Negermusik etwas empfinden.</p>
+
+<p>Sie hört ihm sehr unaufmerksam zu. Er hat einen gleichmäßigen,
+einschläfernden Tonfall. Es wäre ihr viel lieber, wenn er jetzt
+schwiege.</p>
+
+<p>Sie muß daran denken, daß Joachim Becker sie niemals durch seine
+Anwesenheit oder durch überflüssige Worte störte wie dieser gebildete
+und rücksichtsvolle Mann, der von der<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Musik sehr erschüttert ist
+und trotzdem so viele Worte macht. Aber sie ist gerecht genug, sich
+einzugestehen, daß der ungeliebte Mensch eben nichts zur Zufriedenheit
+machen kann, der geliebte aber selbst nach den schlechtesten Handlungen
+noch in guter Erinnerung bleibt.</p>
+
+<p>Die Musik läßt sie diese Betrachtungen wieder vergessen. Und am Schluß,
+nach dem ernüchternden Handgemenge an der Garderobe, sind sie wieder in
+ihrem Fahrwasser. Irmgard wird viel betrachtet, der Kapitän nimmt mit
+ironischen Bemerkungen davon Notiz.</p>
+
+<p>Sie hat unwillkürlich das Gefühl, daß sie noch etwas an ihm gutzumachen
+habe. Es muß ihr immer erst einfallen, sie ist gewissermaßen mit dem
+Verstande und nicht mit dem Herzen gut zu ihm.</p>
+
+<p>»Sie sind sehr weit gereist und haben viele Menschen und Gebräuche
+kennengelernt. Auch mein Vater wird sich auf eine Unterhaltung mit
+Ihnen freuen. Kommen Sie morgen abend!« sagt sie freundlich.</p>
+
+<p>»Danke, gern.«</p>
+
+<p>»Gegen sieben, zu einem Imbiß?«</p>
+
+<p>»Ja, wie Sie bestimmen. Noch weiß ich nicht, wo ich heute etwas zu
+essen bekomme.«</p>
+
+<p>»Mein Gott«, ruft sie erschreckt aus. »Haben Sie heute abend noch nicht
+gegessen?«</p>
+
+<p>»Ich wußte doch nicht, daß mir nur Musik vorgesetzt wird«, erwidert er
+lächelnd.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<p>»Aber für heute kann ich Sie nicht einladen.«</p>
+
+<p>»Beileibe nicht. Doch wenn Sie mir noch bei einem Abendbrot
+Gesellschaft leisten würden ...«</p>
+
+<p>»Nein«, sagt sie entschlossen.</p>
+
+<p>»Das ist sehr schroff. Die jungen Damen sind heute so selbständig, daß
+ich nicht glaubte, gegen die guten Sitten zu verstoßen.«</p>
+
+<p>»Gewiß nicht!« erwidert sie. »Frauen, die einen guten Ruf haben,
+dürften es vielleicht annehmen, die mit einem schlechten noch eher.
+Aber wer sich sein Ansehen zurückerobern muß —«</p>
+
+<p>»Ja, kommen Sie nur, Sie Moralistin!« Er läßt sie den Satz nicht zu
+Ende sprechen und begleitet sie unter vielen Erzählungen und Scherzen
+nach Haus.</p>
+
+<p>»Im übrigen haben Sie ja Tee zu Haus, und in der Kantine wird auch noch
+etwas für Sie zu essen sein«, sagt sie einmal zwischendurch. Er stellt
+fest, daß sie sich sehr besorgt mit seinem Hunger beschäftigt, und wird
+immer lebhafter.</p>
+
+<p>An der Föhrbrücke verabschieden sie sich. Sie fühlt seinen schmerzhaft
+festen Händedruck noch, als sie in das erhellte Wohnzimmer tritt, wo
+sie den Vater über der Zeitung antrifft.</p>
+
+<p>Er geht ihr entgegen und hilft ihr beim Ablegen. Es fällt ihr auf, daß
+er sehr ernst ist. Sie war auch von ihm mit vielen guten Wünschen und
+unter Scherzen entlassen worden. Es<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> scheint ihr, daß alle Menschen
+heute gut und heiter waren.</p>
+
+<p>Sie legt daher ihren Arm um seine Schulter und lehnt das heiße Gesicht
+an seine Wange.</p>
+
+<p>»Noch mein Kamerad?« fragt sie.</p>
+
+<p>»Ja«, sagt er lächelnd. Er selbst hatte ihr vor kurzem nach einer
+tüchtigen Arbeit im Bureau diesen Titel gegeben. Nun bekommt er ihn
+zurück.</p>
+
+<p>Er erkundigt sich, ob sie Hunger habe, und macht eine Bewegung zur Tür,
+als wolle er sie selbst noch bewirten.</p>
+
+<p>Sie lehnt ab und beginnt zu berichten. Sie habe den Kapitän getroffen.
+Er sei auch im Konzert gewesen. Unwillkürlich sagt sie nicht, daß er
+ihretwegen mitgekommen sei. Sie überlegt, wovon sie zuerst erzählen
+solle, vom Eindruck der Musik, vom Publikum oder vom Kapitän. Sie ist
+ungewöhnlich plauderlustig und in einem inneren Gleichgewicht, wie sie
+es seit Joachim Beckers Zeit nicht mehr kannte.</p>
+
+<p>Ein Geräusch, das vom Schlafzimmer herüberdringt, läßt sie aufhorchen.</p>
+
+<p>Herr Pohl rückt verlegen auf seinem Sofa.</p>
+
+<p>»Es ist der Junge«, sagt er zögernd. »Wir haben den Arzt schon kommen
+lassen. Er hustet und hat leichtes Fieber.«</p>
+
+<p>Irmgard starrt ihn fassungslos an. Hier sitzt sie in ihrem silbergrauen
+leichten Kleid, so reizvoll wie seit Jahren nicht, und wird mit dieser
+Nachricht empfangen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p>
+
+<p>Sie ist nicht traurig, sondern fast ärgerlich. Als habe man ihr
+rücksichtslos ein Vergnügen verdorben.</p>
+
+<p>»Es wird irgendeine gewöhnliche Kinderkrankheit sein«, meint Herr Pohl
+beruhigend.</p>
+
+<p>»Dann werde ich mich umziehen und die Mutter ablösen«, sagt sie still.</p>
+
+<p>»Nein.« Er hält sie auf ihrem Stuhl zurück. »Ich wollte ohnehin in
+diesen Tagen mit dir über die Mutter reden. Sie wird jetzt niemand zum
+Knaben lassen. Du kennst ihren Eifer.«</p>
+
+<p>Er schweigt und holt dann sehr weit aus: »Wie du weißt, stammt ihr
+Vater aus einer Hugenottenfamilie, und dieser Fanatismus mag ihnen von
+den Ahnen her im Blute liegen. Wir können nicht dagegen ankämpfen.
+Denn durch Widerstand unterstützen wir ihren Wahn. Nun scheint sich
+in letzter Zeit ihr Erinnerungsvermögen viel mehr gestärkt zu haben,
+als wir ahnen. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß sie der Wahrheit
+schon sehr nahe ist, aber absichtlich nicht mehr fragt, weil sie sich
+fürchtet.«</p>
+
+<p>Irmgard, die immer eine so aufmerksame Zuhörerin war, schweift mit
+ihren Gedanken ab und vermag der Rede des Vaters nicht mit Interesse
+zu folgen. Die vielfältigen Klänge des Orchesters, sanfte Tonfolgen,
+Beethovensche Akkorde mit ihren dunklen Untertönen liegen ihr in den
+Ohren. Sie hat Mühe, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben. Es drängt sie,
+einherzugehen, leicht, mit schwebendem Rhythmus im Gang.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p>
+
+<p>Sie versteht nicht, warum der Vater gerade heute mit ihr darüber
+sprechen muß. Merkt er nicht, daß sie in die »Welt« zurückgekehrt ist,
+daß sie endlich, endlich mit der Vergangenheit abschließen will? Großer
+Gott, daß sie einmal von Krankheit, Wahn und Kindersorge nichts hören
+möchte?</p>
+
+<p>Sie blickt, ein wenig verträumt und gleichzeitig trotzig, in eine Ecke
+des Zimmers, am Vater vorbei und sagt, mit einer fremden kühlen Stimme:
+»Was soll ich denn tun? Ich kann ja verreisen, wenn du willst. Ja —«</p>
+
+<p>Sie springt auf und geht nun doch im Zimmer umher.</p>
+
+<p>»Reisen! Ich werde mir die Welt ansehen. Du sagtest neulich, der Mensch
+muß seine alte Umgebung verlassen, um neu anfangen zu können. Gut, ich
+will mir die Welt ansehen!«</p>
+
+<p>Sie hat die Arme auf dem Rücken ineinandergelegt und bleibt plötzlich
+vor dem Vater stehen, während der weite silbrige Rock noch um ihre
+schmalen Beine schwebt.</p>
+
+<p>»Komm einmal hierher!« sagt Herr Pohl in gutmütig befehlendem Ton
+und macht ihr den Sofaplatz an seiner Seite frei. Etwas an seiner
+Tochter gefällt ihm nicht. Es ist ein Zuviel in den Bewegungen, eine
+Übertreibung im Ton.</p>
+
+<p>Er legt die Hand um ihre abfallenden Hüften und zuckt unwillkürlich vor
+der weichen Seide zusammen, die seine Fingerspitzen so unendlich lange
+nicht berührten. Wieviel<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Härte und Strenge, wieviel Entsagung ist doch
+immer in seinem Hause gewesen, wo nur die Arbeit regiert. Er zieht die
+Finger wieder fort und rückt ein wenig ab.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt er langsam, »du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und das
+ganze Leben liegt noch vor dir. Wir beide, deine Mutter und ich, sind
+nun so weit —« Er stockt.</p>
+
+<p>»Nein, nicht erst jetzt«, setzt er mit leichter Bitterkeit fort. »Wir
+waren immer so, daß wir nicht uns selbst, sondern den Pflichten lebten.
+Man kann auch darin zu Egoisten werden. Man bildet sich ein, für die
+anderen, für die Kinder etwa, zu leben, und hat sich rücksichtslos an
+die Arbeit gehalten, um den Mangel an Lebensfreude nicht einzugestehen.
+Siehst du, darin haben wir an dir gesündigt.«</p>
+
+<p>»Das darfst du von dir nicht sagen, denn du bist immer gut gewesen. Und
+mit dir konnte man auch manchmal lustig sein.«</p>
+
+<p>»Manchmal!« wiederholt er. In seinem großen braunen Gesicht mit den
+grauen, aufschimmernden Haaren, ist irgend etwas schief gezogen. Er
+versucht krampfhaft, es fortzulächeln. »Was ich dir bisher in diesem
+Arbeitshof geboten habe, war nicht die Freude.«</p>
+
+<p>»Vater, fast ein Jahr lang bin ich sehr glücklich und jung gewesen. Und
+wenn es dann anders kam, so war ich daran schuld.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p>
+
+<p>»Nein,« erwidert er, »jetzt weiß ich, daß wir schuld sind. Mußtest
+du in jener Zeit nicht von zwanzig Jahren ohne Zärtlichkeit und
+Lebensfreude erlöst werden und alles einholen, was in dir ungehoben
+blieb? Wenn wir ein klares Glas aus kalter Luft in die Wärme tragen,
+so wird es blind. Aber bleibt es nicht blank, wenn es das Klima nicht
+wechselt? Die Kinder, die Wärme und Heiterkeit in reichem Maße bei den
+Eltern haben, werden selten in Gefühlsüberschwang geraten, der die
+Grenzen verliert.«</p>
+
+<p>Irmgard lehnt den Kopf gegen das Polster und läßt ungehindert aus den
+weitgeöffneten, lächelnden Augen Tränen tropfen.</p>
+
+<p>»Und nun sehe ich mit an, wie du dich um den Knaben quälst. Du wärst
+vielleicht so weit, ihn der Mutter allein zu überlassen, weil er ihr
+einziger Lebensinhalt ist und du jung und gesund genug wärst, um noch
+auf ein eigenes Leben zu hoffen. Erst wenn man von sich selbst nichts
+mehr erwartet, versenkt man sich vollkommen in seine Kinder. Aber
+da ist dir von uns dieses Pflichtbewußtsein eingeimpft. Du glaubst,
+die Achtung vor dir verlieren zu müssen, wenn du dich mit deinen
+Muttergefühlen von ihm befreist.«</p>
+
+<p>Er spricht das alles vor sich hin, während sie still neben ihm sitzt.
+Jetzt wendet er sich um und blickt offen in ihr tränenüberströmtes
+heißes Gesicht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
+
+<p>»Glaubst du,« fragt sie, während sie die Augen langsam schließt, »daß
+es nicht unnatürlich wäre, wenn ich, wenn ich —«</p>
+
+<p>»Wenn du lebensfreudig genug wärst, um mit der Vergangenheit
+abzuschließen?«</p>
+
+<p>Er versucht, zu lächeln und in leicht scherzendem Ton zu sprechen. »Du
+gibst uns das — das Produkt unserer falschen Erziehung als Tribut
+zurück und beginnst, dein junges Leben neu und richtig aufzubauen.
+Jetzt wissen wir wohl, wie wir es machen müssen?«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt sie leise. »Alle Sorgen werden heute von mir fortgenommen.«</p>
+
+<p>Sie denkt an den Kapitän, an die bewundernden Blicke der fremden
+Menschen, an die Musik, die von ferne wieder aufklingt, an ihre eigenen
+leichten wiegenden Schritte.</p>
+
+<p>Sie springt auf und gleitet mit den Händen über die weiche Seide ihres
+Kleides, während sie sich in der Mitte des Zimmers hinstellt und mit
+glänzenden Augen in die Luft blickt.</p>
+
+<p>»Jetzt —« sagt sie, als wäre sie voller Unternehmungslust, »jetzt muß
+ich wohl schlafen gehen.«</p>
+
+<p>Herr Pohl steht auch auf und will sie zur Tür begleiten. Da schlingt
+sie ihren Arm noch einmal um ihn und eilt davon.</p>
+
+<p>Er lauscht gedankenvoll ihren Schritten. Dann nimmt er langsam die Hand
+von der Klinke.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p>
+
+<p>›Wir wissen wohl, wie wir es jetzt machen müssen,‹ denkt er, ›aber wir
+haben nicht selbst die Entscheidung —‹</p>
+
+<p>Es ist fast Mitternacht. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche
+mehr herüber. Er faltet seine Zeitung zusammen und geht hinein. —</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Sohn">Der Sohn</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i004" src="images/drop-i004.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">J</span>oachim Becker erscheint am nächsten Morgen im Verwaltungsgebäude, um
+mit dem Hafendirektor einiges zu besprechen.</p>
+
+<p>Der Kapitän muß von Fräulein Spandau erst gesucht werden. Der
+Generaldirektor geht solange in sein Zimmer, setzt sich vor den
+Schreibtisch und kann es sich nicht versagen, in die umherliegenden
+Papiere einen Blick zu werfen.</p>
+
+<p>Er ist so vertieft, daß er fast aufschreckt, als das Telephon neben ihm
+rasselt. Er nimmt den Hörer ab und murmelt ärgerlich ein »Hallo« in den
+Apparat.</p>
+
+<p>»Herr Kapitän?« hört er eine fragende Stimme.</p>
+
+<p>Er weiß nicht sofort, woher ihm dieser Tonfall bekannt ist, aber er ist
+irgendwie davon betroffen und verliert so weit seine kühle Überlegung,
+daß er möglichst tonlos in der Art des Kapitäns ein »Ja« murmelt.</p>
+
+<p>»Hier Irmgard Pohl«, vernimmt er nun, und es fällt ihm ein, daß er noch
+niemals mit ihr telephoniert hat. Ihre Stimme wirkt in der Verwandlung
+durch den Draht sehr tief und voll.</p>
+
+<p>Seine Herzschläge werden heftiger und rascher. Er ist ärgerlich
+darüber, zumal ihm bewußt wird, daß er jetzt nicht länger hören darf,
+was für ihn nicht bestimmt ist.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p>
+
+<p>»Ich muß Sie leider bitten, Herr Kapitän, heute nicht zu kommen. Unser
+Michael hat den Keuchhusten. Wir möchten doch vermeiden, daß Sie die
+Krankheit etwa zu den Kindern der Schiffer im Hafen bringen —«</p>
+
+<p>Er wirft den Hörer hin und rennt erregt im Zimmer umher.</p>
+
+<p>›Ist es nötig,‹ denkt er, ›daß der Kapitän mehr als das Geschäftliche
+drüben erledigt? Was hat er mit der Tochter zu tun? Und was sind das
+für Kinderkrankheiten drüben? Wie kommen Kinder in die Mühle?‹</p>
+
+<p>Er wird immer ärgerlicher, weil er hier vor etwas Fremdem steht, vor
+einer Tatsache, die so unerwartet über ihn herfällt. Und weil er fühlt,
+daß das Vergangene ihn doch nicht so unberührt läßt. Wäre er sonst
+dermaßen erregt? Er ist unerklärlicherweise voller Zorn auf den Kapitän.</p>
+
+<p>Der kommt ahnungslos herein, begrüßt ihn mit dem stets freundlichen
+Lächeln im braunen, hageren Gesicht und spricht gleich von den
+geschäftlichen Dingen.</p>
+
+<p>Joachim Becker hört unaufmerksam zu. Er ist sehr nervös und muß sich
+zusammennehmen, um nicht ungerechte, ärgerliche Bemerkungen zu machen.
+Außerdem fürchtet er das erneute Klingeln des Telephons.</p>
+
+<p>Die Sache ist ihm verdammt peinlich. Er sieht ein, daß er nicht
+schweigend darüber hinweggehen kann. Schließlich sagt er:</p>
+
+<p>»Übrigens — ich habe da vorhin eine telephonische Bestellung für Sie
+entgegengenommen. Von der Mühle drüben<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> hat jemand angerufen, Sie
+möchten nicht hinkommen, es hätte jemand den Keuchhusten —«</p>
+
+<p>Er ärgert sich über das doppelte »jemand«, das ihm zu betont
+unpersönlich scheint. Dem Kapitän kann es nicht entgangen sein.</p>
+
+<p>»Das ist ja sehr unangenehm,« meint der Kapitän, »sehr unangenehm.«</p>
+
+<p>»Na, Sie werden sich doch nicht gleich den Keuchhusten holen«, sagt der
+Generaldirektor laut, mit übertriebenem Gelächter.</p>
+
+<p>Der Kapitän lächelt höflich. »Nicht für mich natürlich. Ja, das tut mir
+sehr leid.«</p>
+
+<p>Joachim Becker erhofft immer noch eine Erklärung. Er kann das Gefühl
+nicht loswerden, daß der Kapitän sie ihm absichtlich vorenthält.</p>
+
+<p>»Da drüben sind anscheinend Kinder? Ich dächte doch, daß Erwachsene
+keinen Keuchhusten haben?« fragt er endlich.</p>
+
+<p>»Allerdings nicht«, meint der Kapitän lächelnd. »Ja, ein Sohn ist da.
+Ein Knabe, von etwa zwei Jahren glaube ich.«</p>
+
+<p>»So —« Der Generaldirektor fühlt, daß seine Ohren brennen und wendet
+sich halb ab. In seiner Verlegenheit zieht er die Uhr und sucht seine
+Aktentasche, um in sein Stadtbureau zurückzukehren.</p>
+
+<p>Obgleich das konziliante Lächeln im verschlossenen Gesicht des Kapitäns
+ihn bis zum Äußersten reizt, gibt er ihm sehr liebenswürdig zum
+Abschied die Hand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span></p>
+
+<p>»Ja, was mir eben einfällt«, sagt er an der Tür. »War die alte Frau
+Pohl drüben nicht gelähmt?«</p>
+
+<p>»Ich hörte auch einmal davon«, erwidert der Kapitän. »Soviel ich weiß,
+ist sie jetzt gesund.«</p>
+
+<p>»Soso, das ist ja sehr erfreulich.« Er geht mit langen Schritten, ohne
+sich umzusehen, zu seinem Wagen.</p>
+
+<p>Unterwegs rückt er auf den Polstern hin und her. Plötzlich lacht er
+nervös auf.</p>
+
+<p>Der Chauffeur macht eine kleine Bewegung, als fühle er sich angerufen,
+fährt aber in steifer Haltung weiter.</p>
+
+<p>›Zum Teufel!‹ denkt der Generaldirektor, ›was ist das für eine
+verrückte Geschichte! Ich könnte doch wahrhaftig fast den Kerl da vorn
+fragen, ob es möglich ist, daß ein altes Weib von beinahe fünfzig
+Jahren, das lange Zeit gelähmt und wahnsinnig war, noch Kinder kriegen
+kann.‹</p>
+
+<p>Und dann rechnet er und überlegt, ob in seiner Umgebung nicht ein
+einziger Mensch ist, der es ihm gesagt haben könnte, wenn dieser Junge
+wirklich — Er stellt fest, daß er ganz allein ist und daß alle, denen
+es etwa bekannt war, gerade ihm gegenüber diskret schweigen mußten.</p>
+
+<p>Auch der Kapitän ist mit dem Gespräch nicht zufrieden. Er kann nur
+annehmen, daß Irmgard Pohl ihm selbst die Mitteilung machen wollte.
+Und nun sollte sie mit dem gesprochen haben, den sie gerade jetzt zu
+vergessen im Begriff ist?</p>
+
+<p>Während er nervös umherläuft und überlegt, was er zu unternehmen habe,
+vergißt er sogar, daß er nun um den<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> Besuch gebracht wird. Er war hier
+in heiterer Stimmung spazierengegangen und hatte sich darauf gefreut.</p>
+
+<p>Da liegen seine Papiere und warten auf ihn. Er hat im Grunde keine
+Zeit, sich während des Dienstes mit persönlichen Dingen abzugeben. Aber
+er nimmt langsam den schief eingehängten Hörer ab und läßt sich mit
+Irmgard Pohl verbinden.</p>
+
+<p>Sie meldet sich von der Wohnung aus, und er glaubt zu entnehmen, daß
+sie in Ungeduld sei.</p>
+
+<p>»Hier v. Hollmann«, sagt er so laut, daß seine heisere Stimme mehr
+Klang bekommt. Wenn er telephoniert, so ist es auch immer, als riefe er
+gegen einen mächtigen Sturm, der ihm die Verständigung erschwert.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl scheint im ersten Augenblick nicht zu wissen, mit wem sie
+es zu tun hat, denn sie kannte ihn immer nur als den »Kapitän«. Dann
+begrüßt sie ihn sehr herzlich und bedauert, daß die Verbindung vorhin
+gestört worden sei.</p>
+
+<p>Ja, das bedaure er auch sehr lebhaft, noch mehr jedoch die Mitteilung
+von der Erkrankung des Knaben.</p>
+
+<p>So, nun ist er im Bilde. Er atmet erleichtert auf. Aber blitzschnell
+fährt es ihm doch durch den Kopf, während er sich nach Fräulein Pohls
+Befinden erkundigt, daß der Generaldirektor aus irgendwelchen Gründen
+eine Täuschung beging.</p>
+
+<p>Noch weiß er nicht, ob zu persönlichen oder geschäftlichen Zwecken.
+Jedenfalls findet er, daß es nicht leicht ist, diesem Mann gegenüber
+immer gerecht zu bleiben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
+
+<p>Irmgard nimmt alle guten Wünsche des Kapitäns entgegen und vertröstet
+ihn mit ihrer Musikstunde auf spätere Wochen. —</p>
+
+<p>Es ist nicht mehr viel von der gestrigen heiteren und leichten Stimmung
+in ihr. Und wenn zuweilen noch einige Harmonien in ihr Ohr klingen, so
+werden sie bald von dem furchtbaren Stickhusten des kleinen Kranken
+zerstört.</p>
+
+<p>Frau Pohl, die während der ganzen Nacht in ihrer Angst nicht schlafen
+konnte, hat sich nun hinlegen müssen und der Tochter die Pflege des
+Kindes nicht ohne Sorge überlassen.</p>
+
+<p>Irmgard nimmt bei jedem Anfall den kleinen zuckenden Körper in ihre
+Arme, und die Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie diese Qual
+miterlebt.</p>
+
+<p>Seine hellblonden geringelten Haare kleben naß auf dem Kopf, das
+Gesicht ist rot und verquollen. Er hat nun das Alter erreicht, in
+dem jedes Kind Freude bereitet. Fest und drollig trippelte er auf
+seinen stämmigen Beinchen umher, seine Stimme war hell, die Aussprache
+eigenwillig und ein steter Anlaß zu Belustigungen.</p>
+
+<p>Noch nie ist so viel in der Familie Pohl gelacht worden wie in den
+letzten Monaten, während sich sein Sprachtalent entwickelte.</p>
+
+<p>Irmgard glaubt, daß sie diesen reizenden, munteren Burschen keineswegs
+weniger lieben würde, wenn er ihr Bruder oder gar ein fremdes Kind
+wäre. Daß er von offener und heiterer Art ist, kann ihm in diesem Alter
+schon nachgesagt<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> werden. Wer sollte wohl solch einen Knaben, der
+außerdem schön und anschmiegsam ist, nicht in sein Herz schließen?</p>
+
+<p>Man kann nicht übersehen, daß er nach Michael Pohl geraten ist. Nun,
+da sein Kopf durch das Fieber breiter scheint und die Augen tiefer in
+die Höhlen gesunken sind, tritt die Ähnlichkeit noch markanter hervor.
+Irmgard denkt, wenn es wahr sei, daß die Gefühle der Mutter Einfluß auf
+die Entwicklung der Kinder gewönnen, so wäre hier ein Beweis dafür,
+denn sie hatte in jener Zeit fast mehr um den Vater als um Joachim
+Becker gelitten.</p>
+
+<p>Nur der schmale Mund, die Unduldsamkeit und der herrische Ton in der
+hellen, lauten Stimme mochten von ihm herrühren. Noch lieben sie alle
+diese Eigenschaften an ihm und freuen sich ihres kleinen Tyrannen.</p>
+
+<p>Jetzt aber liegt er still in den Kissen, sein Atem geht pfeifend und
+hastig, und wenn er hochgehoben wird, so schlingt er seine Arme fest um
+Irmgards Hals und preßt das zerquälte heiße Gesicht gegen ihre Wange.</p>
+
+<p>Irmgard ist zu gesund und vernünftig, um auf den Gedanken zu kommen,
+daß der Knabe nun so leiden müsse, weil sie gestern im Begriff war, ihn
+aufzugeben, oder weil es sie im letzten Jahr immer weniger schmerzte,
+wenn die Mutter ihn allein für sich in Anspruch nahm.</p>
+
+<p>Doch sie hat keine Sehnsucht mehr nach der »Welt«, sie nimmt es als
+eine Mahnung hin, daß trotz allem in diesem Hause der Pflichterfüllung
+ihr Platz sei. Sie weiß<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> wieder, daß sie im Grunde eine ernste und
+arbeitsame Natur ist, die nur zuweilen feiertäglich beschwingt und
+gelöst sein will. In der Erinnerung an diesen Abend der Klänge und
+der Heiterkeit erkennt sie gleichzeitig, daß sie solcher Stunden auch
+bedarf, um nicht wie die Mutter über ihrem Tagewerk zu erkalten.</p>
+
+<p>Sie beschließt, sobald der Knabe wieder gesund sei — der Gedanke an
+eine ernstliche Gefahr liegt ihr vollkommen fern —, den Kapitän zu
+bitten, daß er sie wieder in ein Konzert oder Theater begleite. —</p>
+
+<p>Als die Krankheit des Kindes sich steigerte und heftigere Formen
+gewann, ließ Schwester Emmi es sich nicht nehmen, zu Herrn Pohl in
+das Bureau hinüberzugehen, um dort einige Ratschläge aus ihrer Praxis
+niederzulegen. In die Wohnung wollte sie sich »ihrer Kinder wegen«
+nicht begeben, so gern sie persönlich geholfen hätte.</p>
+
+<p>Herr Pohl drückt ihr immer wieder die Hand. Er läuft in diesen Tagen
+unruhig und mit vielen Umwegen in seinem Betriebe umher und kann nicht
+still in seinem Schreibtischsessel sitzen. Nun schreibt er alles
+getreulich auf, was Schwester Emmi ihm diktiert, und sagt kaum ein Wort.</p>
+
+<p>Das wäre wohl das letzte, daß er diesen kleinen Kerl verlieren sollte,
+den er allmählich ohne viel Aufhebens in sein altes, viel getäuschtes
+Herz aufnahm.</p>
+
+<p>Er begleitet Schwester Emmi bis vor die Tür und gibt beim Abschied ihre
+kleine feste Hand langsam frei. Wie er<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> durch den dunklen Korridor zu
+seinem Zimmer zurückgeht, stützt er sich ein paarmal mit der Handfläche
+schwer gegen die Wand. —</p>
+
+<p>Vor der Kantine begegnet Schwester Emmi dem Generaldirektor. Sie
+will ihm flink ausweichen, aber er tritt ihr entgegen und sagt sehr
+ungehalten:</p>
+
+<p>»Ich sehe, Sie verlassen hier Ihren Platz!«</p>
+
+<p>Sie glaubt, daß er sah, woher sie kam, und greift rasch zu einer Lüge.</p>
+
+<p>»Ich hatte nur in der Mühle für die Verwaltung etwas auszurichten«,
+stammelt sie.</p>
+
+<p>»So. Sie von der Fürsorge hätten am wenigsten Ursache, die ansteckende
+Krankheit von drüben hierher zu verschleppen. Oder ist die Gefahr
+vorüber?« fügt er etwas milder hinzu.</p>
+
+<p>Es fällt ihr ein, daß es sich doch eigentlich um seinen eigenen Sohn
+handele und daß die Besorgnis ihr vor dem Generaldirektor zur Ehre
+gereichen müsse. Sie antwortet daher mit betrübtem Blick:</p>
+
+<p>»Leider nein. Es steht sehr schlimm.«</p>
+
+<p>Unwillkürlich sieht sie dabei verlegen zu Boden, und da sie in
+Anwesenheit von Vorgesetzten immer ein wenig verwirrt ist, zieht ein
+roter Schein über ihr kleines Gesicht.</p>
+
+<p>Der Generaldirektor ist seit dem Telephongespräch in dieser
+Angelegenheit mißtrauisch geworden. Er vermutet überall Mitwisser,
+hämischen Klatsch. Im übrigen aber hofft er noch, daß seine
+wahnwitzige Hypothese falsch sein könne. Er bringt<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> sich selbst in
+schiefe Situationen, um endlich aus der scheußlichen Ungewißheit
+herauszukommen. Vielleicht hat er zage vermutet, bei diesem Gespräch,
+das zu einer glatten Zurechtweisung der armen Fürsorgeschwester wurde,
+etwas zu erfahren.</p>
+
+<p>Ärgerlich wendet er sich ab und geht in das Verwaltungsgebäude.</p>
+
+<p>Am Schluß der geschäftlichen Besprechung mit dem Kapitän sagt er:</p>
+
+<p>»Ich sah vorhin die Fürsorgeschwester von der Mühle kommen. Was hat
+gerade sie dort zu suchen, wo die ansteckende Krankheit ist? Hatten Sie
+keinen anderen Boten?«</p>
+
+<p>Es verstimmt ihn, daß er nicht sofort davon sprach, sondern nervös
+während der geschäftlichen Auseinandersetzung die geschickteste
+Formulierung suchte. Seine Worte klingen daher schroffer, als es in
+seiner Absicht lag.</p>
+
+<p>Der Kapitän ist nicht geneigt, sich von einem Vorwurf, zu dem keine
+Veranlassung vorliegt, auf Kosten eines Angestellten zu befreien.
+Außerdem weiß er nun, worauf Joachim Becker hinauswill.</p>
+
+<p>»Ja,« meint er leichthin, während er mit den Händen auf dem Rücken in
+die Mitte des Raumes stelzt, »sie ist drüben bekannt, die Schwester
+Emmi. Sie hat seinerzeit Fräulein Pohl gepflegt. Übrigens haben Sie
+wohl auch nicht gewußt, daß sie eigentlich gelernte Säuglingsschwester
+ist?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p>
+
+<p>»Nein«, sagt der Generaldirektor verdutzt. Nun hat er seine Gewißheit.
+Auf so viel Aufklärung war er nicht einmal gefaßt. »Sie macht doch
+ihre Sache bei unserer Fürsorge ganz gut?« bringt er, immer noch sehr
+barsch, hervor.</p>
+
+<p>»Allerdings, ausgezeichnet«, erwidert der Kapitän, der nun seine
+Stiefelspitzen beguckt. »Die Kenntnisse schaden durchaus nicht. Warum
+sollen sie nicht auch hier im Hafen noch zu verwerten sein?«</p>
+
+<p>Er lacht wie über einen Witz. Der Generaldirektor nimmt es als eine
+geschmacklose Anspielung und verabschiedet sich zum erstenmal von
+diesem korrekten Mitarbeiter, ohne ihm die Hand zu reichen. — — —</p>
+
+<p>Eines Nachts, nachdem Frau Pohl in ununterbrochener Pflege um das Leben
+des kleinen Kranken gekämpft hat, wird sie wieder von dieser Vision
+erschreckt: ein Kind, noch unausgeprägt in seinen Formen, vielleicht
+erst wenige Tage alt, liegt ohne Atem in ihrem Arm; sie lauscht, tastet
+und kann die Starrheit des winzigen Körpers mit ihrer eigenen Wärme
+nicht lösen.</p>
+
+<p>Unmittelbar anschließend erscheint ihr dann diese beängstigende
+Barriere, die undurchdringliche Wand vor dem Abgrund in ihrer
+Erinnerung.</p>
+
+<p>Sie weiß nichts mit diesem Bild zu beginnen, denn da liegt ihr Kind
+mit den Zügen Michael Pohls, und es fehlt ihr jede Ordnung in ihrem
+Gedächtnis.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p>
+
+<p>Sie beugt sich zu dem Knaben herab und lauscht, dicht am fiebernden
+Körper, seinem geschwächten Herzschlag. Periodisch wiederkehrende
+Erstickungsanfälle, wohl vierzig an diesem Tag, haben den kleinen
+Organismus vollkommen erschüttert.</p>
+
+<p>Frau Pohl starrt mit ihren heißen, fanatischen Augen angespannt auf die
+Uhr. Sie hat sich die Zeit für den nächsten Anfall ausgerechnet. Die
+Sekunden schleichen. Aber der Zeiger rührt sich, rückt fürchterlich
+vorwärts.</p>
+
+<p>Das Brausen und Feilen des Blutes in ihrem Kopf, die gleichmäßigen
+Atemzüge ihres Mannes, der — hilfsbereit — angekleidet auf seinem
+Bett liegt, das Ticken der Uhr scheinen ihr lärmende Geräusche in der
+nächtlichen Stille.</p>
+
+<p>Der Knabe wirft sich herum. Frau Pohl umklammert das Gitter des Bettes,
+vornübergebeugt, atemlos.</p>
+
+<p>Den Körper gestrafft, jedes Gefühl, jeden Gedanken ausgeschaltet, alle
+Kräfte im wartenden Blick, im Lauschen des Ohrs gesammelt, so verharrt
+sie ohne Gefühl für Zeit und Raum.</p>
+
+<p>Sie nimmt wahr, wie die Atemzüge allmählich reiner und gemäßigter
+werden, wie der Körper sich beruhigt, wie die fiebernde Röte schwindet.</p>
+
+<p>Unvermittelt entsinnt sie sich der Uhr. Überschreitet der Zeiger nun
+die Zahl, ohne daß die Stille von jenem grauenhaften Bellen und Stöhnen
+des Kindes gestört wird?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span></p>
+
+<p>Sie wendet ihr Gesicht zum Zifferblatt. Es verschwimmt, grau, mit einem
+tanzenden Zahlenkreis, vor ihrem Blick. Sie hebt die Hände über die
+Augen und starrt fassungslos auf die Uhr. Zwei Stunden sind vergangen,
+zwei Stunden war ihr eigenes Dasein ausgeschaltet, zwei Stunden bereits
+beginnt der Knabe zu genesen.</p>
+
+<p>Sie preßt die Zähne gegen ihren Handrücken, um nicht vor Freude zu
+schreien. Sie weint lautlos, mit krampfhaft unterdrücktem Schluchzen,
+während sie in der Mitte des Zimmers steht, hager, abgezehrt, mit ihrem
+glühenden, eingefallenen Gesicht.</p>
+
+<p>Dann setzt sie sich auf den Stuhl neben das Kinderbett und schläft
+augenblicklich ein, die Hände im Schoß, den Kopf zur Seite geneigt, die
+rissigen Lippen leicht geöffnet. —</p>
+
+<p>Im Morgengrauen erwacht Michael Pohl. Die Kleider kleben an seinem
+Körper. Die Glieder sind schwer, ohne Gefühl.</p>
+
+<p>Ein schwaches, leise stöhnendes Husten läßt ihn erschreckt hochfahren.
+Mit stechendem Schmerz fühlt er das Blut von der raschen Bewegung in
+den Schläfen aufwallen und verebben.</p>
+
+<p>Er geht zum Kinderbett hinüber. Auch Frau Pohl ist von dem Geräusch
+schreckhaft erwacht. Sie beugt sich über den Knaben und hebt das
+Gesicht zu ihrem Mann wieder auf.</p>
+
+<p>»Er hat im Schlaf gehustet«, flüstert sie, mit einem weichen Lächeln im
+ausgeruhten Gesicht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
+
+<p>Ihre Blicke haften ineinander, sekundenlang. Michael Pohl berührt
+sachte ihre Schultern. Da fährt sie zusammen.</p>
+
+<p>»Wieder habe ich es gesehen«, flüstert sie ängstlich. »Jetzt, in diesem
+Augenblick, ganz deutlich.«</p>
+
+<p>Er löscht das Licht und führt sie in das Nebenzimmer. Blaugraue
+nebelverhüllte Morgenluft ist hinter den Fenstern.</p>
+
+<p>Während Frau Pohl starr geradeaus blickt, beginnt er, sie vorsichtig
+auszufragen.</p>
+
+<p>Sie erzählt von der Vision.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt er, den Blick ruhig, zwingend auf ihre Augen gerichtet, »das
+war dein Sohn! Und der Knabe nebenan, den du dir heute nacht ins Leben
+zurückgerettet hast, ist Irmgards Sohn. Aber nun gehört er dir, als
+wäre er dein eigener.«</p>
+
+<p>Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Steif wendet sie ihn dem Fenster zu
+und starrt wieder in ihre Erinnerung zurück.</p>
+
+<p>»Wie lange war ich krank?« fragt sie mühselig, tonlos.</p>
+
+<p>»Fünf Jahre.«</p>
+
+<p>»Fünf Jahre ...« wiederholt sie langsam.</p>
+
+<p>Michael Pohl nimmt ihre kalten, zuckenden Hände auf.</p>
+
+<p>»Alles,« flüstert sie hastig, »alles mußt du mir erzählen!«</p>
+
+<p>Und er berichtet langsam, was sie zunächst zu fassen vermag, bis
+mählich ihre Augen ruhig werden und sie alle Zusammenhänge erkennt.</p>
+
+<p>Sie äußert sich nicht. Sie lehnt stumm den Kopf an seine Schulter und
+schließt die Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p>
+
+<p>Er streicht zärtlich über ihre stumpfen braunen Haare mit den grauen
+Streifen und atmet leichter, befreit. Ob jetzt das Leben auch für sie
+beide noch einmal beginnt? — — —</p>
+
+<p>Nun weiß Joachim Becker, welche Bewandtnis es mit dem Knaben in der
+Mühle hat, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Laufen nicht genug
+Kinder in der Welt umher, die von ihren Vätern niemals gesehen wurden,
+ja, von deren Existenz die Erzeuger keine Ahnung haben? Es wäre
+wirklich keine Ursache, diese Angelegenheit allzu wichtig zu nehmen.</p>
+
+<p>Aber daß er gerade jetzt auch von der Krankheit erfahren mußte,
+kompliziert den Fall. Schließlich ist er ein fühlender Mensch, und
+wenn jemand schwer darniederliegt, kann er ihm seine Teilnahme nicht
+versagen. Er malt sich aus, was der Verlust für Irmgard Pohl bedeuten
+müßte, denn an ein Kind von fast zwei Jahren hat man sich immerhin
+gewöhnt. Schon aus diesem Grunde hätte er gern gewußt, wie es mit dem
+Knaben steht.</p>
+
+<p>Er findet eine geschäftliche Angelegenheit, die sofort mit dem
+Kapitän besprochen werden kann. Also fährt er wieder in den Hafen
+und sieht sich dort gelegentlich auch nach Schwester Emmi um. Man
+könnte ihr heute ein freundliches Wort geben, obgleich ihm der Gedanke
+nicht angenehm ist, daß sie recht viel von seinen rein privaten
+Angelegenheiten weiß.</p>
+
+<p>Schwester Emmi wird ihn wohl rechtzeitig erspäht haben. Sie läuft nicht
+ein zweites Mal blind in Ungelegenheiten<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> hinein. Aber der Kapitän ist
+da, freundlich und höflich wie immer. Joachim Becker sieht ein, daß er
+ihm neulich Unrecht getan hat.</p>
+
+<p>Er drückt ihm kräftig die Hand und bietet ihm von seinen Zigaretten an,
+während sie sich über die Fortschritte am Bau ihres Getreidespeichers
+unterhalten.</p>
+
+<p>»Nun werden wir es bald nicht mehr nötig haben, unser Getreide drüben
+einzulagern.«</p>
+
+<p>»Wie steht es übrigens jetzt mit der Ansteckungsgefahr? Es wäre mir
+sehr peinlich, wenn einer der Schiffer, die hier im Winterlager sind,
+dadurch mit seinen Kindern Sorgen bekäme«, meint der Generaldirektor
+bei dieser Gelegenheit. Es gelingt ihm der beabsichtigte leichte Ton.</p>
+
+<p>Vielleicht ist der Kapitän der Ansicht, daß die Sorge um die Kinder
+der Schiffer erst an zweiter Stelle käme. Er rückt ein wenig an seinem
+Stuhl und erwidert:</p>
+
+<p>»Wie solche Krankheiten manchmal verschleppt werden können, ist
+nicht abzusehen. Ich habe mich gestern telephonisch erkundigt und
+die betrübliche Nachricht erhalten, daß der Junge in größter Gefahr
+schwebt. Ob die Krisis jetzt überwunden ist, weiß ich nicht.«</p>
+
+<p>Wenn er mehr Erbarmen mit Joachim Becker hätte, der so vortrefflich
+seine Vatergefühle verbirgt, dann würde er vielleicht seiner Sekretärin
+Auftrag gegeben haben, anzufragen, wie es jetzt »drüben« steht. Der
+Generaldirektor hätte eine beruhigende Nachricht mitnehmen können, wenn
+sie auch<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> sonst ohne Wert für ihn wäre. Doch der Kapitän unternimmt
+nicht mehr, als für einen neutralen Mann nötig ist.</p>
+
+<p>Joachim Becker drückt sein Bedauern über den traurigen Fall aus und
+wendet sich wieder den geschäftlichen Dingen zu.</p>
+
+<p>Nachdem er sich verabschiedet hat, läßt der Kapitän sich sofort mit
+Irmgard Pohl verbinden, um seinerseits Gewißheit zu gewinnen.</p>
+
+<p>»So, das ist ja ausgezeichnet, ausgezeichnet!« antwortet er auf die
+gute Auskunft hin. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, den Arm mit dem
+Hörer aufgestützt, als wolle er sich noch lange in dieser angenehmen
+Weise unterhalten.</p>
+
+<p>»Da gratuliere ich uns allen!« ruft er hinterher.</p>
+
+<p>»Ja, mir auch«, antwortet er auf Irmgards Frage, »denn ich habe doch
+die Einladung nicht vergessen.«</p>
+
+<p>Er plaudert im gleichen angeregten Ton weiter: Gewiß, eine Woche würde
+er sich gern gedulden, auch etwas länger, wenn es sein müßte.</p>
+
+<p>Dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Stimme wird noch lauter, weil
+er den Ton sehr tief aus der Kehle holen muß.</p>
+
+<p>Wie? Verreisen? Wie lange? Ein ganzes Jahr? In die Schweiz? Er habe
+doch recht gehört: sie selbst? Ja, dann wünsche er alles Gute. Ach,
+in ein paar Wochen erst? Gewiß, dann hätte er noch Gelegenheit, sich
+persönlich zu verabschieden. Demnach also auf Wiedersehen! Und eine
+Empfehlung an die Eltern!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span></p>
+
+<p>Er legt den Hörer langsam hin. Sein schmales kantiges Gesicht mit den
+vielen Falten in der braunen, trocknen Haut sieht nicht befreiter aus
+als das Joachim Beckers, der vor wenigen Minuten diesen Raum verließ.</p>
+
+<p>Aber auch diese Woche vergeht, und er begibt sich eines Abends gegen
+sieben Uhr auf den kurzen Weg zum Nachbarn. Seine Geige ist natürlich
+zu Hause geblieben, denn nun hat es ja keinen Zweck, damit zu beginnen.</p>
+
+<p>Frau Pohl lernt er noch immer nicht kennen, weil sie der
+Luftveränderung wegen mit dem Knaben verreist ist. Das sei ein gutes
+Mittel gegen diese Krankheit, meinte Irmgard Pohl am Vormittag,
+gelegentlich der telephonisch ausgesprochenen Einladung. Damit wäre
+übrigens auch die Ansteckungsgefahr für »seine Kinder« beseitigt.</p>
+
+<p>Er wird von Vater und Tochter sehr liebenswürdig empfangen. Sie
+essen gemeinsam, und der Kapitän bestreitet hauptsächlich die Kosten
+der Unterhaltung. Das kann nicht schwer für ihn sein, da er soviel
+auf seinen weiten Reisen erlebte. Auch von der Schweiz erzählt er.
+Vielleicht dürfe er ihr für die Reise einige Ratschläge geben.</p>
+
+<p>»Ach, stellen Sie sich meine Reise nur nicht als eine wechselvolle
+Vergnügungsfahrt vor, wie sie sich für einen Mann gestalten mag!« sagt
+Irmgard Pohl lachend. »Wir haben an ein Institut geschrieben, wo ich
+mich ein Jahr lang in praktischen Dingen und in Sprachen üben und mit
+jungen Menschen etwas Sport treiben kann. Der Vater findet,<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> daß ich
+hier zu wenig Bewegung habe und daß er zu alt für mich sei.«</p>
+
+<p>»Ja, das ist wahr,« meint Herr Pohl, »Jugend gehört zu Jugend. Wir
+haben es uns reiflich überlegt. Und so wird es das Beste für alle sein.«</p>
+
+<p>»Da haben Sie recht«, bestätigt der Kapitän. »Da haben Sie vollkommen
+recht.«</p>
+
+<p>Dann wird er etwas einsilbig. Das Essen ist abgeräumt. Sie sitzen um
+den runden Tisch, Herr Pohl in seiner Sofaecke, und Irmgard findet es
+an der Zeit, mit Wein und Gebäck aufzuwarten.</p>
+
+<p>Herr Pohl sagt: »Wir wollen auf das Wohl unserer beiden
+Familienmitglieder anstoßen, die heute nicht bei uns sind.«</p>
+
+<p>Er sieht fast unternehmungslustig aus und läßt es sich nicht nehmen,
+von den »beiden« zu erzählen. Er habe sie gestern zu seinem jüngeren
+Bruder, dem Arzt, aufs Land gebracht. Da hätten sie die nötige
+Luftveränderung und ständige Pflege.</p>
+
+<p>»Und Ihre Tochter wollen Sie auch noch fortschicken?« Der Kapitän
+scheint mit so viel Veränderungen in der Familie wenig zufrieden zu
+sein.</p>
+
+<p>»Erst müssen die beiden zurückkommen«, meint Irmgard Pohl einlenkend.
+»Das kann drei bis vier Wochen dauern. Ich werde wohl erst im April
+fahren.«</p>
+
+<p>»So, im April«, meint der Kapitän. »Das sind ja fast zwei Monate bis
+dahin.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span></p>
+
+<p>Er wird wieder aufgeräumter. Zum Schluß ist es noch ein freundlicher
+und angenehmer Abend.</p>
+
+<p>Herr Pohl begleitet seinen Gast ziemlich spät bis zum Tor hinter der
+Mühle und sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen festen
+steifen Schritten zu seiner einsamen Wohnung im riesengroßen dunklen
+Verwaltungsgebäude hinüberstapft.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Das_Brot">Das Brot</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-n" src="images/drop-n.jpg" alt="N">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">N</span>un ist auch der Tag gekommen, an dem der fertige Getreidespeicher
+seiner Bestimmung übergeben werden kann.</p>
+
+<p>Das zweite Hafenbecken ist vollendet, und die gewaltigen Konturen des
+Speichers zeichnen sich auf seinem neuen Wasserspiegel ab.</p>
+
+<p>Der erste Kahn mit einer russischen Getreideladung wird hereingelassen,
+und das ist ein großer und erhebender Augenblick.</p>
+
+<p>Sogar Kommerzienrat Friemann erschien, um diesem Vorgang beizuwohnen,
+der die ersprießliche Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Hafen
+einleitet. Auch der Generaldirektor nahm sich die Zeit, die er diesem
+Entwicklungsstadium seines Hafens schuldig ist.</p>
+
+<p>Er stellt sich zu den Ingenieuren, die nun ihre Arbeit zu übergeben
+haben, und freut sich ihres Eifers.</p>
+
+<p>Bodenmeister Ulrich steht neben dem Kapitän. Er hat die Augen fest
+auf das Hebelbrett der Antriebsmotoren gerichtet, das er von nun an
+bedienen wird. Heute übernehmen es noch die Ingenieure.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p>
+
+<p>Die langen Schläuche der Saugförderanlage werden in den Kahn
+hinabgelassen, die Maschinen beginnen zu rattern.</p>
+
+<p>Auch Herr Karcher ist herbeigekommen, um ehrfürchtig das fertige Werk
+der Technik zu bestaunen. Er stellt sich in der Nähe Schwester Emmis
+auf, die von Felix Friemann in ein Gespräch gezogen wird. Es ist wieder
+Frühling, und Schwester Emmi hat ein frischgewaschenes, hellblau
+gestreiftes Kleid an, dazu eine blendend weiße Latzschürze, die sich
+über dem Busen zierlich wölbt.</p>
+
+<p>»Es fängt an«, ruft sie aus. Sie ist die erste, die in den Speicher
+eilt. Da steht schon der Bäckermeister Reiche und betrachtet die
+ankommenden Getreidekörner mit feuchten Augen. Sie fallen in schmaler
+Reihe aus den Rohren auf den Boden des Speichers herab und bilden
+niedrige Häufchen, von einer Staubwolke umwogt.</p>
+
+<p>Aber seht, wie sie wachsen! Als der Kommerzienrat mit Joachim Becker
+und dem Kapitän hinzutritt, sind es richtige Hügel geworden, die sich
+in der Höhe und Breite vergrößern. Und wer Geduld hat zu warten,
+kann es erleben, wie der Speicher sich füllt, wie es an den Wänden
+hochklettert und die Räume überschwemmt. Nun sieht man keinen Fußboden
+mehr, die Flut der kleinen prallen Körner wächst an den eisernen
+Pfosten hoch, die den Raum wie Säulengänge teilen, sie steigt bis zu
+den Fenstern hinauf, die dicht unter der Decke liegen, sie ist schwer
+und reif wie ein fruchtbarer Segen im neuen Haus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>»Wir wollen uns auch das Becherwerk und die Bandförderung ansehen«,
+sagt der Kommerzienrat. Er hat einst das Getreide kiloweise verhandelt,
+und hier ist nun sein Getreidespeicher, der über 30000 Tonnen loses
+Getreide faßt.</p>
+
+<p>Sie gehen zu den blitzschnell eilenden Bändern, die das Getreide
+davontragen und verteilen. Während die Motoren surren, eilen die Körner
+in dünner Schicht unter einer fliehenden grauen Wolke von Staub dahin,
+aber wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, so sind sie wie Gold.</p>
+
+<p>Felix Friemann, der den Gefühlen seines Vaters ferner steht, geht mit
+Schwester Emmi wieder zu den Kähnen hinaus, um mit ihr zu plaudern.
+Auch er hat seine Freude an ihrem Lachen und an ihren hellen flinken
+Worten. Herr Karcher zieht sich langsam in sein Lagerkontor zurück.</p>
+
+<p>»Nun habe ich mein Exposé über die Erweiterung und Organisation unserer
+Fürsorgeeinrichtungen bei der Generaldirektion abgegeben«, sagt
+<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann zu Schwester Emmi.</p>
+
+<p>»Ach, schriftlich haben Sie das sogar gemacht! Mein Gott, was wird uns
+das für Umwälzungen bringen! Muß man dann die Finger auf eine modernere
+oder wissenschaftlichere Weise verbinden?«</p>
+
+<p>Nein, sie nimmt die Wichtigtuerei dieses Kommerzienratssohnes durchaus
+nicht ernst.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p>
+
+<p>»Nun, das gerade nicht! Doch es werden Abteilungen und Untergruppen
+eingerichtet, und Sie sind dann nicht mehr die allmächtige Schwester
+Emmi, sondern einfach Schwester eins.«</p>
+
+<p>»Herrjeh, wer wird dann Schwester dreizehn?« Sie will sich ausschütten
+vor Lachen.</p>
+
+<p>»So weit wollen wir noch nicht gehen. Wir könnten getrost noch eine
+Schwester Anni oder Elli bekommen, die liebenswürdiger sind als Sie, —
+die Anni oder Elli.«</p>
+
+<p>Ihr Spott hat ihn etwas verwirrt, denn er fängt schon an, einzelne
+Worte zu wiederholen.</p>
+
+<p>»Viel Vergnügen!« ruft sie aus. Sie blickt mit ihren lustigen Augen zu
+ihm hoch und hebt sich auf die Fußspitzen, um auch seine übertriebene
+Länge zu verspotten. »Die können Sie wirklich gebrauchen, die Anni oder
+Elli«, sagt sie noch lachend, während sie bereits enteilt.</p>
+
+<p>Felix Friemann sieht ihr traurig nach. Er muß sich schon von einer
+kleinen Fürsorgeschwester auslachen lassen, er will sich bessern, das
+will er gewiß.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat und Joachim Becker sehen sich auch sonst noch den
+Hafen an, dann fahren sie gemeinsam in das Stadtbureau zurück. Felix
+Friemann kann die beiden im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch mit
+seinen langen Beinen einholen und seinen Schwager bitten, an Adelheid
+und seine Tochter Grüße zu bestellen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p>
+
+<p>Als alle Besucher fortgegangen sind und auch die Ingenieure mit dem
+Kapitän im Verwaltungsgebäude verschwanden, steht der Bäckermeister
+Reiche immer noch vor den Getreidemassen des Speichers und ist in
+tiefes Nachdenken versunken.</p>
+
+<p>Er bückt sich und nimmt die Körner so voll in seine große helle Hand,
+daß sie zwischen den Fingern herausdringen, dann läßt er sie fallen,
+und wenn die Faust wieder leer ist, wird er von neuem traurig.</p>
+
+<p>Schließlich muß er den Speicher verlassen. Bodenmeister Ulrich wird
+ungeduldig, er will endlich unumschränkter Herrscher in seinem Reiche
+sein. Die Befehle an die Arbeiter sind knapp und bestimmt, als spräche
+Joachim Becker mit ihnen.</p>
+
+<p>Herr Reiche geht langsam und schwerfällig bis an das Ende des
+Hafenbeckens und um die Schmalseite herum zum Kanal, der den Hafen von
+der Mühle trennt.</p>
+
+<p>Da steht der Speicher des Müllers, er ist nicht weniger vollkommen,
+nur etwas kleiner und älter. Daneben arbeitet die Mühle, die aus den
+prallen goldenen Körnern das Mehl bereitet. Und in der Stadt sind die
+vielen Meister, die ihr Brot davon backen. Sie holen es glühendheiß
+aus den Öfen, aber sie nehmen es trotzdem für den Bruchteil einer
+Sekunde zwischen die Hände und fühlen den elastischen goldbraunen Laib.
+Der ehemalige Bäckermeister glaubt den frischen sauer-süßen Duft zu
+verspüren, dann denkt er an die Selter- und<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> Malzbierflaschen und an
+die Milchgläser, die er täglich mit einer langen Bürste reinigt.</p>
+
+<p>Er ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und findet keinen Weg aus
+seiner Not.</p>
+
+<p>Nun fällt sein Blick auf einen Wagen, der neben der Mühle mit Säcken
+beladen wird. Er gehört einer großen Bäckerei, die sich ihr Mehl selbst
+holt und dabei den Zwischenhändler und die Rollfuhrspesen spart.</p>
+
+<p>Herr Reiche beginnt, krampfhaft zu überlegen. Wenn man nun hier, direkt
+neben der Mühle — zum Beispiel da, wo jetzt der Wagen steht — eine
+Bäckerei errichtete, dann fielen nicht nur die Zwischenhändler und die
+Rollfuhrkosten, sondern auch das eigene Fuhrwerk fort.</p>
+
+<p>Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine ganze Woche lang, Tag und Nacht.
+Beim Gläserspülen greift er plötzlich nach irgendeinem Fetzen Papier
+und rechnet. Und wenn er des Nachts erwacht, so hält ihn die Grübelei
+stundenlang fest. Dabei sieht er nicht übernächtig aus, nein, im
+Gegenteil: prall und frisch. Seine Ohren sind stets rot angeglüht,
+seine Augen glänzen, nur in den Bewegungen scheint er sehr zerstreut.</p>
+
+<p>Endlich faßt er einen Entschluß. Er zieht zum Erstaunen seiner Frau
+mitten an einem Wochentage seine besten Kleider an und geht fort. Zur
+Stunde des Arbeitsschlusses, als in der Kantine wieder viel zu tun ist,
+geht er, ohne eine Erklärung abzugeben, davon.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p>
+
+<p>Er hat keinen weiten Weg. An der Föhrbrücke biegt er links ab zum
+Mühlengrundstück. Dort läßt er sich beim Mühlenbesitzer Pohl selbst
+melden. Er wird in das Privatkontor geführt, und seine Ohren brennen
+wie Feuer.</p>
+
+<p>Michael Pohl fordert ihn — was er bei jedem Besucher zu tun pflegt,
+ob es nun der Kapitän oder der Kantinenwirt ist — mit einer stummen
+Handbewegung auf, im alten Sessel gegenüber seinem Schreibtisch
+Platz zu nehmen. Dann wartet er geduldig den Anfang der Rede ab. Er
+zeigt weder Neugierde noch Erstaunen, denn er ist schon an manchen
+eigenartigen Besuch, besonders aus dem Hafen, gewöhnt.</p>
+
+<p>»Herr Pohl,« beginnt der Bäckermeister, »wenn ich so die Mühle sehe und
+die Getreidespeicher im Hafen und hier, da kommt mir so eine Idee —
+der Herr Pohl wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist.
+Hier ist das Getreide, sage ich mir, und das Mehl —«</p>
+
+<p>Er bricht seine Rede ab, um die Hauptsache nachzutragen:</p>
+
+<p>»Ich bin nämlich Bäckermeister von Beruf, aber nun verwalte ich die
+Kantine im Hafen —«</p>
+
+<p>Diese Worte, die ihm als geschickte Umschreibung des Wortes
+»Kantinenwirt« gefallen, hatte er sich mit großer Mühe zurechtgelegt,
+und nun sind sie wirklich richtig und glatt herausgekommen. Er ist
+geradezu glücklich darüber, stellt sich noch regelrecht mit seinem
+Namen vor und hat den Mut, weiterzusprechen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p>
+
+<p>»— das Mehl, sage ich mir, und die Bäcker, die das Brot backen, müssen
+es erst in die Stadt fahren oder sie bekommen es von anderwärts oder
+vom Zwischenhändler — der Herr Pohl werden mich schon verstehen?«</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer nickt.</p>
+
+<p>»Nun sage ich mir, wie wäre es, wenn man das Mehl gleich hier verbacken
+würde? An Ort und Stelle. Dicht neben der Mühle. Da ist ein freier
+Platz, ich meine auf dem Grundstück vom Herrn Pohl, und wenn ich so
+rechne und rechne, so denke ich, daß das Brot mindestens um fünf
+Pfennig für das Stück billiger werden könnte als anderswo.«</p>
+
+<p>Er sieht den Mühlenbesitzer erwartungsvoll an. In seinem Kopfe braust
+es, als säße er im Maschinenraum des Getreidespeichers, direkt neben
+den fünfzig Antriebsmotoren.</p>
+
+<p>Mühlenbesitzer Pohl schweigt eine ganze Weile, dann sagt er langsam:</p>
+
+<p>»Der Gedanke ist nicht schlecht. Wie hatten Sie sich das weiter
+gedacht?«</p>
+
+<p>Der Bäckermeister richtet sich in seinem Sessel auf und macht erst
+einmal einen tiefen Atemzug. Jetzt fürchtet er sich nicht mehr. Die
+Details sind ihm außerdem geläufiger als die einleitende Rede. Er
+holt einen Zettel hervor, auf dem er die Resultate seiner Rechnereien
+abgeschrieben hat, und erklärt.</p>
+
+<p>»Wer sollte nun die Bäckerei errichten?« fragt Herr Pohl.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span></p>
+
+<p>»Wenn der Herr Pohl sich beteiligen würden? Mit einer Kleinigkeit und
+mit meiner Arbeitskraft könnte ich wohl mitmachen.«</p>
+
+<p>»Und wer würde die Ersparnis von fünf Pfennig gewinnen, da die
+Brotpreise einheitlich geregelt sind?«</p>
+
+<p>»Der Herr Pohl dürfen nicht denken, daß es mir um den Profit zu tun
+ist. Die Regelung will ich dem Herrn Pohl selber überlassen. Wenn
+ich nur meine alte Arbeit wiederbekomme. Das Brotbacken war mir das
+liebste, die Kinkerlitzchen überlasse ich den anderen.«</p>
+
+<p>»Ja, Herr Reiche, das wollen wir uns mal beide durch den Kopf gehen
+lassen. Haben Sie noch zu einem anderen Menschen davon gesprochen?«</p>
+
+<p>»Keiner Seele habe ich ein Sterbenswörtchen gesagt.«</p>
+
+<p>»Dann wollen wir zunächst auch weiter darüber schweigen. Und Sie kommen
+morgen um die gleiche Zeit noch einmal her.«</p>
+
+<p>Sie trennen sich mit einem kräftigen Händedruck.</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer steht am Fenster und sieht dem Manne nach, wie er
+mit schweren wiegenden Schritten über den Mühlenplatz geht.</p>
+
+<p>Es gab eine Zeit, da der Bäckermeister Reiche sich für seinen neuen,
+von der Frau ersehnten Beruf die nötige Trinkfestigkeit holen mußte. Er
+hatte keinen Geschmack am Alkohol, aber wenn man ihn ausschenken soll,
+muß man ihn auch trinken können. So übte er sich eine ganze Weile<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span>
+darin, und als er die alkoholfreie Kantine bekam, war ihm das Trinken
+zur Gewohnheit geworden. Nun hat er wieder einen festen gleichmäßigen
+Gang und sogar Ideen im Kopf.</p>
+
+<p>»Der Mann weiß gar nicht, was er hier für einen Plan aufgerollt hat«,
+sagt der Mühlenbesitzer vor sich hin. — »Der Herr Pohl wollen es mir
+nicht verübeln, wenn es nicht recht ist«, hört er im Geiste noch einmal
+den Bäckermeister sagen. Michael Pohl schüttelt den Kopf und denkt nun
+erst gründlich über die Sache nach.</p>
+
+<p>Dann geht er in das große Kontor hinüber und ruft seine Tochter.</p>
+
+<p>Noch ist sie hier in seinem Bureau, und er kann sie um ihren Rat
+fragen. Aber in wenigen Tagen will sie ihre Reise antreten, und er weiß
+noch nicht, wie er dann ohne seinen Kompagnon auskommen soll.</p>
+
+<p>Sie setzt sich im Privatkontor auf ihren angestammten Platz im
+Ledersofa und sieht ihren Vater interessiert an.</p>
+
+<p>Michael Pohl erzählt ihr von der Idee des Bäckermeisters. Aus der
+Bäckerei ist eine Brotfabrik geworden, die Brote zählen nicht nach
+Hunderten, sondern nach vielen Tausenden, und die fünf Pfennig
+Ersparnis für jedes Brot will er den Konsumenten überlassen, denn es
+bleibt immer noch Verdienst genug.</p>
+
+<p>»Hier ist das Getreide,« sagt der Mühlenbesitzer, »hier das Mehl und da
+das Brot für die ganze Stadt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span></p>
+
+<p>Irmgard ist aufgesprungen. Sie sieht ihren Vater mit leuchtenden Augen
+an.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt sie, »Vater, das ist fast so groß wie damals das Projekt vom
+Hafen.«</p>
+
+<p>Michael Pohl lächelt. »Nun, ganz so hoch wollen wir uns nicht
+versteigen. Und vorläufig sieht unser Plan noch genau so schwierig aus
+wie die Idee vom Hafen vor drei Jahren.«</p>
+
+<p>»Mein Gott,« sagt Irmgard, »was sollen dann die vielen Bäcker machen,
+wenn wir das Brot allein backen wollen?«</p>
+
+<p>»Sie können es mit dem gleichen Verdienst verkaufen, als wenn sie es
+selbst gebacken hätten. Aber sie werden natürlich ihr Handwerk nicht
+aufgeben wollen, um Händler zu werden. Du siehst, daß hier schon eine
+Schwierigkeit ist.«</p>
+
+<p>Wie flink denkt nun eine Frau!</p>
+
+<p>»Warum sollten sie nicht ihre Semmeln und Kuchen backen wie bisher?
+Wenn ich an unseren Bäcker denke, der ein ganz besonderes Brot
+bereitet, mit einem Geschmack, den man sonst nirgends wiederfindet,
+dann sage ich mir, es könnte doch jeder seine Spezialitäten
+weiterführen. Man zahlt dann gern etwas mehr, wenn man es sich leisten
+kann. Wir aber backen hier nur das billige Einheitsbrot, das tägliche
+Brot des Volkes, kurz: <em class="gesperrt">das</em> Brot.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
+
+<p>Michael Pohl sieht sie befriedigt an. »Nun bleibt nur die Frage, wer
+der Unternehmer wird, und wie man es den Beteiligten klar macht. Ich
+meine die Produzenten, die den Gewinn dem Volke überlassen sollen.«</p>
+
+<p>»Ist das Projekt für einen einzelnen zu groß?«</p>
+
+<p>»Das auch, obgleich ich außer meinem freien Grund und Boden reichlich
+Kapital dazugeben könnte.«</p>
+
+<p>»Könntest du das?«</p>
+
+<p>»Gewiß, die Mühle entwickelt sich von Jahr zu Jahr und wirft größere
+Gewinne ab, unsere Ansprüche bleiben die gleichen. Nun ersetzest du mir
+sogar noch eine Arbeitskraft, und deine Mutter kennt nur ihre peinliche
+Pflichterfüllung. Ich habe das Geld nicht im Hafen unterbringen können,
+dazu war es zu wenig, jetzt muß ich es endlich für unseren Sohn
+anlegen.«</p>
+
+<p>»Aber —?« fragt Irmgard Pohl.</p>
+
+<p>»Aber für eine Brotfabrik, die den Bedarf der ganzen Stadt decken soll,
+brauchen wir die Unterstützung der Kommune oder der Allgemeinheit. Das
+ist ein volkswirtschaftliches Unternehmen, für das wir uns keine Feinde
+aufladen dürfen.«</p>
+
+<p>»Wer sollte wohl feindlich gesinnt sein, wenn es sich darum handelt,
+der Allgemeinheit das Brot zu verbilligen?«</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer lacht. »Wer? Die Konkurrenz, die Rechthaber, der
+Neid, die Zwietracht. Es beständen viele Beweggründe.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span></p>
+
+<p>»Das Hafenprojekt hat sich auch verwirklichen lassen.«</p>
+
+<p>»Da handelte es sich nur darum, Interessenten zu finden, die durch
+den gleichen Gedanken geeint werden: Geld zu verdienen. Dieses Motiv
+versöhnt die heftigsten Feinde. Nun aber sollen wir für einen ideellen
+Zweck werben. Meinst du, daß die Inhaber der bereits bestehenden
+Brotfabriken mit der Verbilligung einverstanden sind? Was geht sie das
+Volk an, wenn sie von ihrem Verdienst einbüßen?«</p>
+
+<p>»Ja, müssen wir darum den Mut verlieren?«</p>
+
+<p>»Nein, gewiß nicht. Wir wollen es versuchen. Das wäre sicherlich ein
+großer Erfolg, unter so viel Köpfen eine Einigung zu erzielen. Es gälte
+fast mehr als die Verbilligung des Brotes.«</p>
+
+<p>»Siehst du, da ist wieder der alte Schwärmer. Gott sei Dank! Ach, weißt
+du, ich bin ganz stolz, daß wir nun auch so ein großartiges Projekt
+haben.«</p>
+
+<p>Michael Pohl nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und lacht.</p>
+
+<p>»Man möchte es durchaus mit einem anderen aufnehmen!« Und mit
+liebevoller Resignation fügt er hinzu: »Daran erkenne ich doch wieder
+die Frau.«</p>
+
+<p>Sie schreibt ihm seine Briefe und ist ihm ein guter Kamerad, aber sie
+verfehlt doch dabei ihren besten Daseinszweck.</p>
+
+<p>Als der Bäckermeister am nächsten Tage wiederkommt, kann der
+Mühlenbesitzer ihn mit <em class="gesperrt">seinen</em> Berechnungen empfangen. Er
+zieht seine tüchtige Mitarbeiterin zu den Beratungen<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> hinzu, und sie
+beleuchten das Projekt von allen Seiten. Da wird nichts übersehen, und
+ihr Fachmann, der schwerfällige Bäckermeister, kann immer wieder neue
+Momente ins Treffen führen.</p>
+
+<p>Zum Schluß sind sie dahin einig geworden, daß die beiden Männer
+zunächst eine Orientierungsreise unternehmen, um ähnliche Anlagen in
+anderen Städten zu besichtigen. Dann wollen sie sich an die zunächst
+Interessierten, die Bäckermeister, wenden.</p>
+
+<p>Frau Reiche hat die Augen gehörig geöffnet, als ihr Mann ihr kurz und
+bündig erklärte, daß er eine Reise zu unternehmen gedenke. Es liegt
+ihm fern, auf ihre Fragen etwa zu erwidern: »Ich habe dich auch nicht
+gefragt, was du mit deinen Besuchen im Gefängnis bezweckst.« Nein, er
+läßt sie nun ihres Weges gehen und macht seine Reise für sich.</p>
+
+<p>Nur daß er auch Fräulein Spandau keine Auskunft darüber geben kann,
+geht nicht ganz nach seinem Herzen. Sie sieht ihn mit ihren müden Augen
+stumm fragend an, und er sagt: »Auf Wiedersehen, Fräulein Spandau, wenn
+ich zurück bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes erzählen.«</p>
+
+<p>Das befriedigt sie nicht weniger, als wenn er ihr ein prächtiges
+Geschenk versprochen hätte.</p>
+
+<p>Wem wäre nicht eine Veränderung am Kantinenwirt Reiche aufgefallen,
+als er von seiner Reise wieder heimgelangte? Er hatte eine andere Art,
+zu gehen und zu sprechen,<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> und er stellte sich nicht mehr hinter den
+Schanktisch, — dieses Amt überließ er seiner Frau.</p>
+
+<p>Aber das geschah beileibe nicht, weil er sich zu gut dafür dünkte,
+sondern einzig und allein, weil er keine Zeit dafür fand. Wenn er nicht
+seine geheimen Besprechungen mit dem Mühlenbesitzer hatte, so mußte
+er mit dem Innungsmeister konferieren oder in den Versammlungen Reden
+halten. Selbst vor dem Ersten Bürgermeister hat er eines Tages mit
+Mühlenbesitzer Pohl und einigen Abgeordneten der Bäckerinnung gesessen.</p>
+
+<p>Er ist plötzlich ein geachteter Mann, man hört geduldig und ernst auf
+seine Worte. Und auch dem Mühlenbesitzer gegenüber hat er ein anderes
+Auftreten. Er sagt zum Beispiel: »Richtig, Herr Pohl, da haben Sie
+wieder recht.«</p>
+
+<p>Wo ist der geduckte Kantinenwirt, der einmal sagte: »Der Herr Pohl
+wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist?«</p>
+
+<p>Doch hier kann man wieder sehen, was der Prophet in seinem Vaterlande
+gilt. Hat Frau Reiche etwas von der Größe ihres Mannes verspürt? Nein,
+sie sagt: »Wie lange soll dieses Faulenzerleben noch dauern? Wenn das
+Konferenzen sind, mit denen du dich aufhältst, dann verwalte ich hier
+ein Hotel.«</p>
+
+<p>Als der Streit in der Bäckerinnung so lebhaft geworden war, daß die
+Hilfe der Zeitungen angerufen wurde, da schreckte man nicht davor
+zurück, dem Bäckermeister Reiche<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> vorzuwerfen, daß er nichts weiter als
+ein Kantinenwirt sei. Vom Mühlenbesitzer Pohl jedoch wußte man, daß
+seine Beteiligung beim Hafen seinerzeit abgelehnt wurde; man ist nicht
+geneigt, ihn nun an einer Brotfabrik profitieren zu lassen.</p>
+
+<p>Wenn man keine sachlichen Bedenken finden kann, so gibt es der
+persönlichen genug.</p>
+
+<p>Aber nun ist auch der Trotz in Michael Pohl erwacht. Er sagt zu Herrn
+Reiche: »Sie können solange in meiner Mühle arbeiten.« Und er bietet
+ihm einen Posten an.</p>
+
+<p>»Was,« sagt Frau Reiche, »du willst eine Brotfabrik gründen? Hätte ich
+dir in deiner Bäckerei nicht die Brote verkauft, dann lägen sie heute
+noch da.« Sie hat noch immer keine Achtung vor ihrem Mann und ist nicht
+geneigt, ihren Platz in der Kantine zu verlassen.</p>
+
+<p>Herr Reiche verabschiedet sich von Fräulein Spandau, nachdem er die
+Vermittlung des Kapitäns in Anspruch genommen hat, und sagt:</p>
+
+<p>»Ich lasse ihr alles hier, so wie es ist. Ich habe meine beiden Fäuste
+zur Arbeit. Und wenn Sie einmal in der Mühle zu tun haben, so fragen
+Sie nach Lagerverwalter Reiche. Dann wird es schon recht sein.«</p>
+
+<p>Inzwischen beleuchten die Zeitungen das Problem und suchen die Parteien
+zu orientieren.</p>
+
+<p>»Wie lange wird die Verbilligung anhalten?« fragen die einen. »Wenn den
+Meistern die Arbeit genommen ist, gehen<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> die Preise wieder in die Höhe,
+und die Großunternehmer allein stecken den Gewinn ein.«</p>
+
+<p>»Man hat es auf zwei Berufe abgesehen«, klagen einige andere. »Der
+Zwischenhandel und das Transportgewerbe sollen ausgeschaltet werden«,
+und man rechnet den Interessenten vor, welche Schädigung das für sie
+bedeutet.</p>
+
+<p>»Nun soll auch das gute ehrliche Handwerk unterjocht und versklavt
+werden.« — »Das ist der Beginn der Vertrustung.« — »Das Kapital reißt
+nun auch die Macht über das tägliche Brot an sich.« — So und ähnlich
+lauten die Schlagworte, die auch von den Bäckermeistern aufgenommen
+werden.</p>
+
+<p>Nur eine zaghafte Stimme vertritt die Ansicht, daß es der Stadt
+zur Ehre gereichen würde, wenn man in dieser Frage eine Einigung
+ohne Gewalt erzielte. Aber sie verknüpft diese einfache praktische
+Angelegenheit mit ihren Idealen und macht sich selbst lächerlich. Denn
+was hat eine Brotfabrik mit dem ewigen Frieden zu schaffen?</p>
+
+<p>Verliert der Mühlenbesitzer den Mut darüber? Nein, er verliert ihn
+nicht; er war nicht ohne Vorbereitung in den Kampf eingetreten. Er
+bietet sein Geld und eine gute Idee an, und wenn sie es ablehnen, so
+wissen sie nicht, was sie tun. Er wäre nicht der erste, dem man seine
+Gaben vor die Füße wirft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p>
+
+<p>Ein anderer beginnt allmählich, im Kampfe zu verzagen. Er ist auf einen
+vorübergehenden Posten gestellt worden in Erwartung der großartigen
+Gründung; die Wartezeit erstreckt sich auf zwei Monate, drei Monate, es
+wird Herbst, und noch bezieht er mit bedrücktem Gewissen sein Gehalt
+als Lagerverwalter in einer Mühle und nicht als Meister in einer
+Brotfabrik. Was nutzt es ihm, daß er sich mit der modernen Technik
+vertraut macht und im stillen eine neue Lehrzeit in den verzwickten
+Büchern beginnt? Es ist nur gut, daß ein Fräulein Spandau eines Tages
+den Lagerverwalter Reiche aufsucht und ihn fragt, ob man das Mehl in
+der Mühle auch pfundweise kaufen könne.</p>
+
+<p>Nein, damit kann er nicht dienen, doch wenn er sie nach Hause begleiten
+dürfe und sie sich noch für die Sache eines Mannes interessiere, den
+man so lächerlich finde, so wolle er ihr einiges erzählen.</p>
+
+<p>Sie hat dagegen nichts einzuwenden und hört ihm auf dem weiten Wege mit
+großem Interesse zu, obgleich er zuletzt sehr verbittert und mutlos ist.</p>
+
+<p>»Ach ja,« sagt sie zum Abschied, »wenn Sie es doch durchsetzen könnten!
+Wir brauchen zu Hause täglich ein Brot, das sind fünf Pfennig pro
+Tag und ein und eine halbe Mark im Monat. Sie glauben nicht, was das
+bedeutet, da wir alle von meinem Gehalt leben müssen.«</p>
+
+<p>Ihr blasses Gesicht mit der dünnen unklaren Haut ist so<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> vertrauensvoll
+zu ihm emporgewandt, daß es ihm wieder einen Ruck gibt, und er
+verspricht, nichts unversucht zu lassen.</p>
+
+<p>Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, denkt er auf dem Heimwege, wenn
+man denen nicht helfen dürfte, die es so dringend brauchen.</p>
+
+<p>Er spricht noch einmal mit dem Mühlenbesitzer darüber, und sie fangen
+die Sache von einer anderen Seite an. Michael Pohl, der doch genug
+Lehrgeld gezahlt haben sollte, gibt wieder eine schriftliche Erklärung
+ab.</p>
+
+<p>Sie wirkt nicht gleich wie der wunderbare Stab vor dem Zauberberg, aber
+dieser und jener läßt sich doch herbei, einen Blick auf das Dokument zu
+werfen und ein wenig darüber nachzudenken. Da soll nun die Bäckerinnung
+als Unternehmerin auftreten, und der Mühlenbesitzer will ihr die Mittel
+vorstrecken. Jeder Meister in der Stadt ist Teilhaber der großen Fabrik
+und hat schließlich auch eine Stimme ins Gewicht zu werfen.</p>
+
+<p>»Wenn ich das gleiche verdiene und weniger Arbeit habe, so soll es mir
+recht sein«, meint nun der Bequeme, während der Arbeitsame befriedigt
+feststellt, daß man ihm trotzdem seine Tätigkeit läßt.</p>
+
+<p>»Und wer sich das richtig überlegt, muß sich sagen, daß vom billigeren
+Brot mehr gegessen wird«, wirft Lagerverwalter Reiche in einer
+Versammlung ein. »Das Brot, das die eigene Familie ißt, fällt auch
+nicht unter den Tisch,<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> es muß ebenso gerechnet werden, als ob es
+verkauft wird, und das sind fünf Pfennig für das Stück.«</p>
+
+<p>In dieser Versammlung trägt er noch nicht den Sieg davon, aber als der
+Winter den Hafen wieder im Bann hält und auf dem Kanal vor der Mühle
+die Oberfläche glitzert und knackt, hat er endlich eine Abstimmung mit
+Stimmenmehrheit erreicht.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Scheidung">Die Scheidung</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-e" src="images/drop-e.jpg" alt="E">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">E</span>r eilt in seinem Überschwang zur Mühle, mit der Absicht, den
+Mühlenbesitzer sogar aus dem Bett zu holen, um ihm die freudige
+Botschaft zu überbringen. Sie besitzen zwar noch lange keine
+Brotfabrik, aber sie haben die Einigkeit. Er weiß, wieviel das dem
+Mühlenbesitzer Pohl gilt.</p>
+
+<p>Nun hätte er auch Lust, dem schmalen Fräulein Spandau zu sagen, daß sie
+in mindestens einem Jahr einundeinehalbe Mark monatlich sparen kann.
+Doch diese Freude muß er sich bis zum nächsten Morgen aufheben.</p>
+
+<p>So frei und kräftig hat er sich lange nicht gefühlt, wie auf dem
+Heimweg von der Versammlung. Wenn er es recht überlegt, so hat ein
+Druck auf ihm gelastet, seitdem er in den Hafen kam.</p>
+
+<p>Kurz vor der Föhrbrücke bemerkt er eine Frau, die mit wiegenden Hüften
+vor ihm hergeht und nicht viel Eile hat, vorwärtszukommen. Da sollte
+doch —! Wenn das nicht seine Frau ist!</p>
+
+<p>Er findet es nicht übel, daß er ihr an diesem Abend noch begegnet. Man
+könnte der Madame gleich zeigen, was man<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> für ein Kerl geworden ist,
+damit sie endlich einmal die richtige Meinung erhält.</p>
+
+<p>Er ist nicht nachtragend. Nein, das kann niemand behaupten. Sie hat
+ihn nicht nur betrogen und obendrein verspottet, weil er nicht zu den
+Männern gehört, die deswegen einen Mord begehen, sie hat ihn auch um
+seinen Beruf gebracht und ihm den Rest seiner Selbstachtung genommen.</p>
+
+<p>Aber nun sagt er »Guten Abend, Frau Reiche. Du hast anscheinend keine
+Lust, nach Hause zu gehen.«</p>
+
+<p>»Ach, du bist's«, sagt sie. »Ich habe gehört, du willst dich von mir
+scheiden lassen.«</p>
+
+<p>»Ich?« fragt er erstaunt. Auf diesen Gedanken war er bisher noch nicht
+gekommen, nun scheint er ihm nicht schlecht, ja er findet ihn plötzlich
+ausgezeichnet. Er muß unwillkürlich an Fräulein Spandau denken. Da
+könnte er für einen Menschen einstehen und ihm Freude bereiten, denn da
+wird alles dankbar angenommen. Ob sie wohl den Antrag eines Meisters in
+der größten Brotfabrik der Stadt ausschlagen würde?</p>
+
+<p>Er streicht in stolzer Freude den Schnurrbart hoch. Nun ist er wieder
+ein Mann, der auf sich hält und auch bei den Frauen einen Stein im
+Brett hat.</p>
+
+<p>Es ist ihm fast, als sähe selbst seine Frau ihn wieder wohlgefällig an.</p>
+
+<p>»Nun, ich habe so etwas gehört. Wenn es dir recht ist, könnten wir ja
+darüber reden. Neulich ist ein Rechtsanwalt<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> im Hafen gewesen, da habe
+ich die Gelegenheit wahrgenommen und ihn gefragt, was zu tun wäre.«</p>
+
+<p>»So —« meint er. »Dann wirst du ja besser Bescheid wissen und kannst
+mir Unterricht erteilen.« Er nimmt die Sache von der lustigen Seite,
+und das ist fast etwas kränkend für eine Frau.</p>
+
+<p>»Wir könnten gleich darüber sprechen,« schlägt sie vor, »dann ist die
+Sache abgemacht. Mein Bruder versieht die Wirtschaft, wie du gehört
+haben wirst. Wir können also hinaufgehen und alles in Ordnung bringen,
+wenn es dir recht ist.«</p>
+
+<p>Wie zahm sie geworden ist, denkt Herr Reiche. Sollte sie etwa schon
+von der Versammlung gehört haben? Nun will er sich erst einmal das
+Vergnügen erlauben und ihr erzählen, was er für ein Mann ist.</p>
+
+<p>»Ach, sieh einmal an«, sagt sie. »Was du nicht sagst. Wer hätte das
+für möglich gehalten? Darauf müssen wir von meinem selbstgemachten
+Kirschwasser trinken. Was meinst du dazu?«</p>
+
+<p>»Hm, das wäre ja wie eine Feier. Aber da wir doch miteinander zu reden
+haben —« Das hätte er sich wahrhaftig im Traume nicht einfallen
+lassen, daß er noch einmal ein freier lediger Mann würde. Es gibt doch
+wirklich ganz einfache Gedanken, auf die man erst gestoßen werden muß.
+Was wird das für ein Spaß sein, wenn man zu Fräulein Spandau sagen
+kann: »Es gibt gewisse Männer, die einmal verheiratet <em class="gesperrt">waren</em>.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span></p>
+
+<p>»Huh«, macht Frau Reiche fröstelnd. »Wie ist das schon wieder kalt!«
+Und sie hakt sich mit ihrem molligen Arm bei ihm ein, um sich zu
+erwärmen.</p>
+
+<p>»Die Madame wird sich einen Schaden antun«, sagt er gutmütig spottend
+über diese Äußerung einer ungewohnten Vertraulichkeit.</p>
+
+<p>Sie stößt ihn mit dem Ellenbogen an. »Jetzt, da wir uns scheiden lassen
+—« meint sie lachend.</p>
+
+<p>Allmählich geraten sie in eine Stimmung hinein, in der sie alles
+lächerlich finden. Sie setzen sich in ihrem alten Wohnzimmer über der
+Kantine auf das Sofa, trinken von dem Kirschwasser und stoßen »auf eine
+glückliche Scheidung« an.</p>
+
+<p>»Eigentlich,« sagt sie mit glucksendem Lachen, »wenn ich's mir
+überlege, warst du ein ganz guter Ehemann. Ja, man erkennt die Vorzüge
+erst, wenn es zu spät ist. Was meinst du wohl, wie ich daran gedacht
+habe, wenn ich hier so allein war?« Sie sieht ihn mit ihren feuchten
+Augen ermutigend an und rückt etwas näher.</p>
+
+<p>Der Bäckermeister hat wieder ganz rote Ohren, als wäre er in der
+Backstube beim Ausholen der Brote.</p>
+
+<p>»Es ist verteufelt heiß hier bei dir«, bringt er halberstickt hervor.</p>
+
+<p>»Meinst du?« fragt sie, und sie sieht ihn dabei so komisch an, daß sie
+wieder beide lachen müssen. Sie fährt ihm mit ihren Händen ins Gesicht
+und sagt: »Fühl' nur, wie kalt sie sind.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p>
+
+<p>Er gibt keine Antwort darauf. Er hat vollkommen vergessen, daß er sich
+vornahm, den Mühlenbesitzer aus dem Bett zu holen und einem blassen
+schmalen Bureaufräulein zu roten Backen und einem glücklichen Lächeln
+zu verhelfen, er schnappt plötzlich nach den kühlen Fingern vor seinem
+Mund und lacht.</p>
+
+<p>»Nein, Mann, bist du denn verrückt geworden?« fragt Frau Reiche. Aber
+er gibt jetzt erst recht keine Antwort mehr. —</p>
+
+<p>So ein Binnenhafen an einem dunklen Wintermorgen ist wie eine
+verwunschene Stadt.</p>
+
+<p>Der Wächter am Tore wird müde und wärmebedürftig. Er achtet darauf,
+daß seine Scheiben klar bleiben, denn sonst muß er das kleine Fenster
+öffnen oder vor die Tür seines winzigen Häuschens treten und die
+dunstige Wärme herauslassen.</p>
+
+<p>Aber gegen sieben Uhr morgens kommen noch nicht viele Menschen an ihm
+vorbei. Im Getreidespeicher rattern zwar schon wieder die Maschinen,
+und das Getreide beginnt seine unermüdliche Wanderung durch die
+Stockwerke. Es darf nicht zur Ruhe kommen, damit es nicht feucht
+oder muffig werde, und es bläst unterwegs seinen Staub in die Luft,
+daß Bodenmeister Ulrich und seine Helfer wie graue Figuren durch die
+Morgendämmerung wandern.</p>
+
+<p>Das Verwaltungsgebäude ist von den Gerüsten entkleidet. In den
+Seitenflügeln flammen die ersten Lichter auf, im<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Mittelteil jedoch,
+dem stolzen Turmbau, warten die grauen Räume auf die Tätigkeit der
+Maler.</p>
+
+<p>Das war eine andere Zeit, als die Arbeiter in Scharen herbeiströmten,
+auf die Gerüste kletterten und hinter Erdwällen verschwanden. Wie viele
+Gebäude mußten fertiggestellt werden, und nun stehen sie alle da! Mit
+verschneiten Dächern und vereinzelten Lichtern in den Fenstern.</p>
+
+<p>Aber die Hafenbecken — wo ist ihr Wasserspiegel? Er wird fast dicht
+bedeckt von den großen Kähnen, die hier ihr Winterlager aufgeschlagen
+haben, und darüber brauen die Nebel. Nur ein Becken ist wie ein langer
+und breiter leerer Schlund: der Südhafen, aus dem man die harte Füllung
+mit Dynamit sprengen mußte. Er hat noch keine Gebäude an den Seiten,
+und auf dem Nachbargelände stehen ein paar verschneite halb verfallene
+Holzschuppen. Ein Grundstücksmakler hat sein Schild danebengesetzt.</p>
+
+<p>Wenn die Hafengesellschaft ihre Tätigkeit am Südbecken
+einstellte, so hatte das andere Gründe als die Arbeitsruhe der
+Verhüttungsgesellschaft, die eines Tages Konkurs anmeldete und die
+Erze im Schoße der Mutter Erde ließ. Man kann einem großen Projekt
+zustimmen, doch man darf sich Zeit mit der Ausführung lassen. Zwei
+Hafenbecken sind im Anfang genug, und wenn das Konsortium seine Gelder
+zurückhält, so ist damit nicht gesagt, daß sie etwa knapp geworden
+wären. Aber sie verkünden dem<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Generaldirektor: Nun mußt du dir das
+dritte Hafenbecken erst verdienen!</p>
+
+<p>Das ist nicht leicht, zumal in den Wintermonaten, wenn die Schiffahrt
+ruht. Als der ehemalige Kantinenwirt an diesem dunklen Morgen aus der
+Tür der Hafenwirtschaft kommt, denkt er, daß hier immer noch Leben
+genug sei. Da fahren die großen Lastwagen schon die während eines
+langen Sommers aufgespeicherten Waren in die Stadt, die Lokomotiven
+schnauben und kreischen auf den vereisten Schienen und bringen neues
+Lagergut. Ja, diese treuen Eisenbahnstränge, sie sind doch etwas wert,
+sie tragen ihre Lasten das ganze Jahr und verlangen keinen Winterurlaub
+wie die anspruchsvollen Wasserstraßen.</p>
+
+<p>Der Bäckermeister schleicht mit scheuen Blicken neben den Wagen aus
+dem Tor; es ist ihm angenehm, daß er dabei vom Wächter übersehen wird.
+Er gehörte einst mit gutem Recht hierher, und in der Hafenwirtschaft
+ist immer noch seine Ehefrau; über eine Scheidung wollten sie zwar
+sprechen, aber nun haben sie es beide vergessen. Wenn er trotzdem mit
+schlechtem Gewissen seinen Weg zur Mühle fortsetzt, so sind seine
+Privatgefühle daran schuld.</p>
+
+<p>Er geht in sein Zimmer, das Michael Pohl ihm im Kontoranbau neben der
+Mühle zur Verfügung gestellt hat und wartet auf das Frühstück. Es wird
+ihm aus dem Wohnhaus gebracht. Man sorgt für ihn und nimmt sich seiner
+an, er jedoch kommt nicht mit einer guten Nachricht schnurstracks<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> zum
+Müller, sondern läuft erst einmal einem Weiberrock nach.</p>
+
+<p>Ein schlechter Patron bist du, sagt er vor sich hin, ein Schwächling,
+ein Weiberknecht. Er kann nichts damit ungeschehen machen.</p>
+
+<p>Um acht Uhr geht er ins Kontor hinunter, um sich beim Mühlenbesitzer zu
+melden. Er läuft ihm nicht mit »Halloh« und »Gute Botschaft« entgegen.
+Er meldet das Resultat der Abstimmung und hält seine Mütze in der Hand.</p>
+
+<p>Da spürt er einen kräftigen Schlag auf der Schulter, und ein herzlicher
+Händedruck rüttelt ihn wieder aus seiner Niedergeschlagenheit hoch.</p>
+
+<p>Ja, nun sollen sie wirklich das Brot für die ganze Stadt backen.</p>
+
+<p>»Aber das Schönste ist doch, daß sie einig geworden sind, — daß sie
+für einen guten Zweck und nicht für einen Profit einig geworden sind!«
+sagt der Mühlenbesitzer. Er beginnt, der Menschheit wieder seinen
+Kinderglauben zu schenken.</p>
+
+<p>Nun gibt es zu tun! Donnerlot, was muß nun alles überlegt und
+eingeleitet werden. Ein Winter ist kurz, wenn man eine so große Sache
+bis zur Grundsteinlegung bringen will. Im Frühling schon soll mit dem
+Bau begonnen werden. — — —</p>
+
+<p>Frühling im Hafen! Das ist wie Gesang. Ein stummes Dank- und Jubellied
+schwebt unter der blauen Kuppel des<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> Himmels. Hier stehen zwar viele
+Gebäude, ein Turmhaus sogar, und hohe Kräne recken ihre schwarzen Arme
+auf, doch man kann sich an das Kopfende eines Hafenbeckens stellen und
+Wasser, Himmel, Erde sehen, soweit das Auge reicht. Diese drei waren am
+Anfang der Welt, und hier sind sie noch und beginnen ein neues Leben.</p>
+
+<p>Steigst du aber bis in den zehnten Stock des Turms im
+Verwaltungsgebäude, so siehst du außerdem noch eine ganze große Stadt.
+Und dort drüben zieht sich ein silbernes Band. Das ist der Fluß dieser
+Stadt, an dem sie sich einstmals anbaute, weil es praktisch ist, diese
+Straße zu haben. Und da ist ein zweites Band. Das ist der alte Kanal.
+Und hier ein drittes: der Verbindungskanal.</p>
+
+<p>Nun sind sie aus ihrer Ruhe erwacht. Fleißige Schleppdampfer schicken
+ihre schmalen Rauchsäulen zu den weißen Himmelswolken empor, und hinter
+ihnen kommen sie in langer Reihe: die braven dunklen Kähne mit ihren
+Schätzen im tiefen breiten Bauch.</p>
+
+<p>Der Kapitän tritt aus der Tür und geht in einer ganz anderen Art über
+den Platz. Er stößt die Beine mit einer Lust in den warmen Tag hinein,
+daß man fast glaubt, die Gelenke knacken zu hören. Wie war er hier doch
+geschlichen mit seinem grauen Tuch um den Hals, in den Winterpaletot
+geduckt, und wenn er, von seinem Reißen geplagt, den Kopf drehen
+wollte, so ging es nicht, er mußte den ganzen steifen Körper wenden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p>
+
+<p>Nun reibt er die Hände und sagt »Guten Morgen, guten Morgen«, immer
+in einer anderen Tonart. Wenn die Natur ihre neuen lustigen Melodien
+singt, dann zieht auch der Mensch vielfältige Register.</p>
+
+<p>Schwester Emmi hat zum erstenmal ein helles Waschkleid an und läuft
+auf ihren zierlichen Lackschuhen zu den eben angelangten Kähnen am
+Zollspeicher. Felix Friemann verfolgt sie mit seinen langen Beinen aus
+weiter Entfernung und ruft: »Schwester eins, Schwester eins!«</p>
+
+<p>Aber sie hört ihn nicht. Sie stellt sich vor einem Kahn auf und ruft:
+»Tom!« Da rennt ein Pudel bellend zur Bordwand, ein blonder Knabenkopf
+stößt in die Höhe, und dann setzen sie beide, der Junge und der Hund,
+mit einem Sprung auf die Kaimauer.</p>
+
+<p>Schwester Emmi wird fast umgerannt, so stürmisch ist die Begrüßung des
+kleinen Tom, und so heftig zerrt der Pudel an ihrem Rock. Sie sind
+beide von ihrer ersten Ausfahrt zurückgekommen.</p>
+
+<p>»Ich glaube, Junge,« ruft die Schwester aus, »du bist inzwischen wieder
+größer geworden! Hast du dich heute auch schon gewaschen?«</p>
+
+<p>Nein, gewaschen scheint er noch nicht zu sein, aber er hat blitzblanke,
+saubere blaue Augen, und er ist seines Vaters Sohn!</p>
+
+<p>Nun hat auch Felix Friemann endlich bei Schwester Emmi Anker geworfen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span></p>
+
+<p>»Schwester eins«, sagt er atemlos. »Warum laufen Sie mir denn davon?«</p>
+
+<p>»Ach, Sie mit Ihrer eins. Wo ist denn die Schwester zwei?«</p>
+
+<p>»Wenn Sie nicht bald etwas netter werden, beantrage ich sie bestimmt.«</p>
+
+<p>»Ph — ich warte nur darauf.«</p>
+
+<p>»Aber ich habe Ihnen eine große Neuigkeit zu melden. Sie werden
+staunen!«</p>
+
+<p>»So? Ich staune schon gar nicht mehr. Sind Sie endlich zum Direktor der
+Fürsorgestelle ernannt?« fragt sie spitz.</p>
+
+<p>»Viel mehr! Ich schlage meine Sommerwohnung im Hafen auf!«</p>
+
+<p>»Was machen Sie?«</p>
+
+<p>»Ich ziehe in Herrn Gregors Zimmer.« Er sieht sie triumphierend an.</p>
+
+<p>»Meinetwegen —«</p>
+
+<p>»Freuen Sie sich denn gar nicht über den neuen Nachbarn?« fragt er
+traurig, als sie sich von Tom und seinem Pudel verabschiedet hat und
+weitergeht.</p>
+
+<p>»Was geht das mich an?« sagt sie mit bösem Gesicht. Und mit einem
+Würgen in der Kehle setzt sie hinzu: »Wenn ihr mich doch endlich in
+Ruhe lassen wolltet!«</p>
+
+<p>»Wen meinen Sie denn noch?«</p>
+
+<p>»Ach — ihr! Alle! Soll ich denn gar nicht zur Ruhe<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> kommen?« Sie
+geht in das Kontor der Lagerhalle und schlägt die Tür vor <em class="antiqua">Dr.</em>
+Friemanns Nase zu.</p>
+
+<p>»Sie sehen ja so böse aus«, sagt Herr Karcher, der mit immer
+gleichmäßiger Freundlichkeit ihre Morgenbesuche aufnimmt.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt sie, »am frühen Morgen wird man schon geärgert.«</p>
+
+<p>»Aber!« meint er bedauernd. Er fragt nicht; darum beichtet sie ihm
+auch alles, was ihr Herz bewegt. Er ist allmählich zu ihrem Vertrauten
+geworden, besonders wenn es sich um Telephongespräche handelt.</p>
+
+<p>»Was mache ich denn jetzt?« fragt sie. »Der Herr Gregor hat mir schon
+wieder geschrieben. Er denkt, daß sein erster Brief unterschlagen sei,
+weil ich ihm nicht antworte. Dabei schreibt er den Absender auf den
+Umschlag, und ich will mich hängen lassen, wenn die Reiche das nicht
+gesehen hat, denn die Schikanen gehen schon wieder an.«</p>
+
+<p>»Ja, ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist. Aber für Sie will ich es
+gern tun und zu ihm hingehn«, meint Herr Karcher zaghaft.</p>
+
+<p>»Oder soll ich ihm lieber schriftlich mitteilen, daß ich nichts mit ihm
+zu schaffen haben will?«</p>
+
+<p>»Das könnten Sie auch.«</p>
+
+<p>»Er schreibt, daß er sogar schon eine neue Stellung gefunden habe. Er
+muß doch etwas taugen, wenn man ihn<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> engagiert, obgleich er eben erst
+aus dem Gefängnis gekommen ist.«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt Herr Karcher, während er sich wieder mit den Eintragungen in
+seinen Büchern beschäftigt.</p>
+
+<p>Schwester Emmi sieht ihm eine Weile zu.</p>
+
+<p>»Als es ihm schlecht ging,« setzt sie ihren Gedankengang fort, »hat
+er sich von Frau Reiche helfen lassen. Jetzt will er nichts mehr von
+ihr wissen — Also ich werde ihm schreiben, daß er mich in Ruhe lassen
+soll.«</p>
+
+<p>Felix Friemann hat den Wiegemeister der Lagerhalle <em class="antiqua">II</em> in ein
+längeres Gespräch gezogen. Nun schließt er sich für den Rückweg der
+vorbeieilenden Schwester Emmi an.</p>
+
+<p>Sie muß sich nach allen Seiten wehren.</p>
+
+<p>Vor der Kantine begegnen sie Rechtsanwalt Bernhard, der direkt zur
+Mühle hinübergeht.</p>
+
+<p>Michael Pohl sieht diesem Beauftragten seines Prozeßgegners nicht mehr
+finster abwartend entgegen. Er winkt ihn freundlich herbei und ist
+ein wenig begierig, zu erfahren, was der Herr Generaldirektor nun im
+Schilde führt.</p>
+
+<p>»Heute komme ich nicht zu Ihnen«, sagt der Rechtsanwalt. Es ist ihm
+doch eine Erleichterung, diesen Mann nicht amtlich begrüßen zu dürfen.
+»Ich suche Herrn Reiche.«</p>
+
+<p>»Dann gehen Sie nur da hinein und lassen Sie sich in das Baukontor der
+neuen Brotfabrik führen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p>
+
+<p>»Ja«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Hier gehen große Dinge vor.«</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer lächelt. »Na, na,« meint er, »Sie sind doch andere
+Dimensionen gewöhnt. Sehen Sie, der Grund ist schon gelegt. Die
+Unterkellerung ist das schwierigste.«</p>
+
+<p>Sie bleiben eine Weile bei den Arbeiten stehen. Dann sucht der
+Rechtsanwalt Herrn Reiche auf, der in einem hübschen kleinen Bureau
+sitzt und seinen Besucher sogar ein wenig warten läßt, weil er mit dem
+Baumeister und einem Ingenieur einiges zu besprechen hat. Aber er ist
+noch nicht so verdorben, daß er deswegen ein Gespräch in die Länge
+zieht und sich mit wichtigen Konferenzen entschuldigt, nein, er beeilt
+sich und sieht es nicht gern, daß seinetwegen jemand warten muß.</p>
+
+<p>»Ich wollte wegen Ihrer Scheidung mit Ihnen sprechen«, meint der
+Rechtsanwalt. »Da ich gerade hier draußen zu tun hatte, glaubte ich, es
+sei am besten, wir bringen es gleich in Ordnung.«</p>
+
+<p>»Meinetwegen konnte es längst erledigt sein. Ich dachte, meine Frau
+besorgt das schon.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagt der Rechtsanwalt lächelnd, »so einfach ist das nicht. Sie
+müssen sich schon auch ein wenig bemühen. Zum Beispiel brauchen Sie
+einen Rechtsbeistand.«</p>
+
+<p>»Ich denke, Sie machen das?«</p>
+
+<p>»Hm, ich bin der Rechtsvertreter Ihrer Frau, also Ihr Gegner, doch ich
+kann Ihnen einen Kollegen empfehlen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p>
+
+<p>»Wissen Sie — dazu habe ich eigentlich keine Zeit. Aber es soll mir
+recht sein, wenn das endlich ins reine kommt.«</p>
+
+<p>»Na also. Sie wollen beide geschieden sein. Doch wir müssen erst einen
+Grund finden.«</p>
+
+<p>»Finden? Ist das vielleicht kein Grund, wenn meine Frau mit diesem
+Herrn Gregor die Ehe gebrochen hat?«</p>
+
+<p>»Tja, Ihre Frau behauptet, daß Sie in diesem Winter einmal bei ihr
+gewesen wären und die Sache verziehen hätten. Seitdem kann man ihr
+nichts nachweisen.«</p>
+
+<p>Der Bäckermeister will an diesen Wintertag nicht gern erinnert werden,
+er bekommt sogar rote Ohren bei der Erwähnung. Das ist doch wirklich
+eine komische Manier, davon zu einem Rechtsanwalt zu sprechen. Darum
+sagt er auch heftiger, als es sonst seine Art ist:</p>
+
+<p>»Verziehen? Nein, verziehen habe ich ihr das nicht.«</p>
+
+<p>»Nach dem Gesetz aber gilt es so, wenn Sie die Behauptung Ihrer Frau
+nicht widerlegen können, daß an jenem Abend —«</p>
+
+<p>»Herr Doktor,« sagt der Bäckermeister sehr aufgebracht, »wenn ich das
+jetzt so höre, da möchte ich meinen, daß meine Frau das damals schon
+gewußt hat.«</p>
+
+<p>»Das würde nichts am Tatbestand ändern, mein lieber Herr Reiche. Aber
+ich denke, daß wir uns einigen werden. Es ist ja auch nicht üblich, die
+Frau als schuldigen Teil bloßzustellen. Darum macht man es gewöhnlich
+so, daß der Mann<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> die Schuld übernimmt, da es nach dem Gesetz nun mal
+einer sein muß.«</p>
+
+<p>»Ich habe doch aber meiner Frau nichts zuleide getan. Oder ist es nach
+dem Gesetz anders zu nehmen?«</p>
+
+<p>»Nein, durchaus nicht, Herr Reiche. Im Gegenteil, Ihre Frau hat sich
+sehr lobend über Sie ausgesprochen. Das einfachste wird schon sein, wir
+konstruieren einen Ehebruch auf Ihrer Seite.«</p>
+
+<p>»Wer? Ich?« ruft Herr Reiche entrüstet aus. »Und wenn ich noch einmal
+heiraten will, welche Frau soll mich denn da nehmen, wenn ich ihr sage,
+weswegen meine erste Ehe geschieden ist? Nein, Herr Doktor, da muß sich
+das Gesetz schon etwas anderes ausdenken.«</p>
+
+<p>»Aber, lieber Reiche, das ist doch lediglich eine Formsache. Und
+außerdem brauchen Sie doch als Mann nicht solche Bedenken —«</p>
+
+<p>»Herr Doktor,« sagt Herr Reiche, während er sich erhebt, »wenn ich
+schon solche modernen Sachen wie Scheidung und so mitmache, deswegen
+bin ich noch kein schlechter Mann. Und wegen der anderen Sache, da muß
+ich erst noch mit jemand sprechen, ob sie keinen Anstoß daran nimmt.«</p>
+
+<p>»Wie meinten Sie?«</p>
+
+<p>»Daß ich's mir erst überlegen muß, meine ich, das mit der feinen Sache,
+die das Gesetz verlangt.«</p>
+
+<p>»Selbstverständlich, Herr Reiche, es drängt Sie niemand.<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Ich meinte
+nur, daß Sie selbst ein Interesse daran hätten, endlich geschieden zu
+werden.«</p>
+
+<p>Der Rechtsanwalt geht mit einem Schmunzeln im Mundwinkel davon. Er hat
+ja nun schon mancherlei Scheidungsfälle in seiner jungen Praxis gehabt,
+aber so ein kurioser Mann ist ihm noch nicht vorgekommen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Streik">Der Streik</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-w002" src="images/drop-w002.jpg" alt="W">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">W</span>eil Rechtsanwalt Bernhard nun schon gewissermaßen mit dem Hafen
+beschäftigt ist, fährt er gleich zur Generaldirektion ins Stadtbureau,
+um noch eine andere Angelegenheit ins reine zu bringen. Er läßt sich
+bei Joachim Becker melden und geht sofort auf sein Ziel los.</p>
+
+<p>»Nachdem nun mit Unterstützung der Stadt auf dem Pohlschen Grundstück
+die Brotfabrik errichtet wird, kann die Hafengesellschaft, an der
+die Stadt gleichfalls beteiligt ist, wohl nicht mehr gut den Prozeß
+weiterführen«, meint er einleitend.</p>
+
+<p>»Richtig«, ruft Joachim Becker aus. »Sie kommen gerade zurecht. Ich
+habe mit dem Vorstand schon darüber gesprochen. Wir wollen den Prozeß
+beenden. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß wir auch ohne dieses Stück
+arbeiten können. Wir dehnen uns nach Süden aus. Es wird da draußen ein
+neuer Güterbahnhof geplant, dann läßt es sich mit dem Gleisanschluß
+ganz gut machen.«</p>
+
+<p>»Das ist ja sehr schön«, sagt der Rechtsanwalt erfreut. Wie gut es doch
+geht, denkt er, wenn man sich erst an einen anderen Gedanken gewöhnt
+hat. Man versäumt die Gelegenheit,<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> eine unwürdige Feindschaft aus der
+Welt zu schaffen, nur weil man sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das
+scheinbar nicht auszutreiben ist.</p>
+
+<p>»Ja, wir wollen bis zum Herbst das dritte Hafenbecken fertigstellen.
+Inzwischen wird wohl auch das Gelände der Verhüttungsgesellschaft
+so weit im Preise gesunken sein, daß wir es zurückkaufen können. Im
+nächsten Frühjahr soll der Hafen unseren Plänen entsprechend vollendet
+sein. Dann wollen wir wieder ein Fest veranstalten.«</p>
+
+<p>Joachim Becker lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht den
+Rechtsanwalt mit strahlenden Augen an. Nun, da er seinem Ziel so viel
+näher ist, sind seine Blicke steter, die Bewegungen ruhiger.</p>
+
+<p>»Das wird wohl großartiger werden als die bescheidene Feier für den
+ersten Spatenstich«, wirft Rechtsanwalt Bernhard ein.</p>
+
+<p>»Das will ich meinen!« Der Generaldirektor erhebt sich noch immer
+nicht, um seinem Besucher das Ende der Konferenz anzudeuten, nein, er
+spielt mit seinem Brieföffner und malt sich anscheinend die Feier aus.</p>
+
+<p>»Übrigens«, meint er liebenswürdig, »hat meine Frau kürzlich
+festgestellt, daß Sie sich lange nicht bei uns sehen ließen. Wir wollen
+in der nächsten Woche einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter der
+Hafengesellschaft mit ihren Damen laden. Sie werden hoffentlich nicht
+fehlen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p>
+
+<p>Gewiß nicht. Rechtsanwalt Bernhard hat noch nie eine Gelegenheit
+versäumt, um Frau Adelheid wiederzusehen.</p>
+
+<p>Sie schütteln einander die Hände zum Abschied, da wird die Tür
+stürmisch geöffnet, und <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann stürzt in heftiger
+Erregung herein.</p>
+
+<p>»Die Arbeiter im Hafen wollen streiken,« bringt er unter großen
+Wortverlusten hervor, »die Arbeiter im Hafen —«, fügt er dafür noch
+einmal hinzu.</p>
+
+<p>»Was sagst du da?« ruft Joachim Becker aus. »Sind die Kerle
+verrückt geworden? Da müßte man doch gleich mit Maschinengewehren
+dazwischenfahren!«</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard macht ein sehr verlegenes, bedauerndes Gesicht
+und verschwindet lautlos.</p>
+
+<p>Joachim Becker bestellt sofort seinen Wagen; er will von seinem
+Schwager Näheres erfahren, denn die Nachricht trifft ihn ganz
+unerwartet.</p>
+
+<p>»Wir sind mitten in der besten Arbeit. Das ist ja geradezu eine
+Gemeinheit, sich diesen Termin dafür auszusuchen«, sagt er, im höchsten
+Grade erregt.</p>
+
+<p><em class="antiqua">Dr.</em> Friemann kann ihm leider keine Erklärungen geben. Er ist
+sofort hierher geeilt, um die Nachricht als erster zu bringen, und
+brennt nun darauf, sie auch zu seinem Vater zu tragen. Solch eine
+aufregende Angelegenheit ist ihm eine angenehme Abwechslung, obgleich
+sie seine Sprache verwirrt.</p>
+
+<p>Der Generaldirektor wendet sich verärgert ab. Er versucht immer wieder,
+seinem Schwager mit Nachsicht zu begegnen,<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> aber es will ihm nie
+gelingen. Er fällt sogar in seine alte Unduldsamkeit zurück, wenn er
+geschäftlich mit ihm zusammentrifft. Im Familienkreis dagegen findet er
+einen liebenswürdig-ironischen Plauderton.</p>
+
+<p>Er fährt in den Hafen und trifft eine Abordnung der Arbeiter im Zimmer
+des Kapitäns.</p>
+
+<p>Die Tätigkeit ist noch nicht eingestellt, doch man will sich dem
+beabsichtigten Streik der Transportarbeiter anschließen.</p>
+
+<p>»Was wollt ihr denn?« fragt der Generaldirektor. »Genügt euch die
+Bezahlung nicht?«</p>
+
+<p>»Uns wohl«, sagt Karle Töndern, der zum Sprachführer ernannt wurde.
+»Wir sind mit allem sehr zufrieden. Aber unsere Arbeitskollegen in der
+Stadt nicht.«</p>
+
+<p>»Ja, was geht das uns an! Deswegen könnt ihr doch eure Arbeit leisten
+und uns nicht in diese Verlegenheit bringen. Oder sind Sie nicht
+imstande, zu übersehen,« fragt er mit einem scharfen Blick auf Karle
+Töndern, »was ein Streik jetzt dem Hafen für einen Schaden bringt?«</p>
+
+<p>»Das sehen wir wohl ein,« meint Karle Töndern ruhig und fast etwas
+traurig, »es tut uns auch allen sehr leid, da wir zufrieden sind und
+über Tarif bezahlt werden. Aber wir können unsere Kollegen nicht im
+Stich lassen.«</p>
+
+<p>»Ihr seid doch im Grunde keine Transportarbeiter!«</p>
+
+<p>»Nein, das stimmt. Doch wir haben uns dem Verband angeschlossen, damit
+wir allein nicht so schwach sind, und nun müssen wir zusammenhalten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p>
+
+<p>Damit wir allein nicht so schwach sind! Mit diesen Worten ist Joachim
+Becker geschlagen. Er hat es an sich selbst erfahren, wie es auf den
+inneren Menschen wirkt, wenn er allein bleibt und sich an niemand
+anschließt. Man verliert den Mut oder man wird hart. Vielleicht gibt es
+noch eine dritte Möglichkeit, aber dazu muß man sehr stark sein. Diese
+Männer hier, in deren Beruf der einzelne nichts auszurichten vermag,
+sind nur stark in der Gesamtheit.</p>
+
+<p>Joachim Becker bekommt plötzlich Respekt vor dieser Geschlossenheit.
+›Das ist es, was uns fehlt, uns Neunmalklugen‹, denkt er. ›Wir haben
+nicht <em class="gesperrt">ein</em> Ziel, wir haben tausend Ziele, jeder ein anderes, und
+dabei vergessen wir das Wesentliche und zersplittern uns. Hier ist
+<em class="gesperrt">ein</em> einender Gedanke: sich gegenseitig stützen und treu bleiben.
+Dafür bringen sie sogar persönliche Opfer.‹</p>
+
+<p>Er hatte mit den alten Mitteln auffahren wollen: Entlassungen,
+Einstellung von Streikbrechern. Nun sagt er zum Kapitän:</p>
+
+<p>»Was können wir da unternehmen?«</p>
+
+<p>»Mit dem Arbeitgeberverband sprechen?« meint der Kapitän fragend.</p>
+
+<p>»Wir dachten uns, daß es vielleicht nicht lange dauert,« wendet Karle
+Töndern ein, »denn was der Hafen bezahlen kann, dachten wir, warum
+sollen das die anderen nicht auch können?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p>
+
+<p>›Was sagst du da in deiner Einfalt?‹ denkt Joachim Becker. ›Du machst
+mir klar, daß ich der Ungetreueste bin, daß ich meinen Genossen in den
+Rücken fiel. Weil ich eingesehen habe, daß die Löhne zu niedrig sind,
+und mir mit unterernährten Arbeitern nicht gedient ist, habe ich für
+<em class="gesperrt">mein</em> Teil gesorgt und die Löhne erhöht, anstatt zum Verband zu
+gehen und zu sagen: wir müssen es <em class="gesperrt">alle</em> so machen, oder warum
+könnt ihr es nicht? Nun muß ich bei Gott noch von meinen geringsten
+Arbeitern lernen und ihnen nacheifern.‹</p>
+
+<p>Hat er nicht vor einer halben Stunde erst gesagt: »Da müßte man mit
+Maschinengewehren dazwischenfahren?« Nun nimmt er demütig ihre Lehren
+entgegen und hat das eigenartige Gefühl, daß er trotzdem wieder ein
+Stück gewachsen sei.</p>
+
+<p>Er reicht den Männern die Hand und sagt: »Wir wollen deswegen keine
+Feinde sein, ich will versuchen, ob ich etwas ausrichten kann.«</p>
+
+<p>Da ziehen sie befriedigt ab und fürchten sich nicht einmal vor
+Lohnausfall und Sorgen.</p>
+
+<p>Bis zum Abend hat Joachim Becker, der nicht eher ruht, bis er eine
+Sache zu Ende durchgeführt hat, verschiedene Versuche unternommen.
+Er langt erschöpft und entmutigt zu Hause an und muß sich noch
+einem Gast widmen: Direktor Haarland, dem Amateurboxer und jüngsten
+Aufsichtsratsmitglied der Hafengesellschaft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p>
+
+<p>Die zarte junge Frau Haarlands, die den größten Teil des Jahres in
+Davos leben muß, hat sich an Frau Adelheid angeschlossen. Dann setzen
+sich die beiden Männer in das Rauchzimmer und plaudern.</p>
+
+<p>»Und wissen Sie, was man mir geantwortet hat?« sagt Joachim Becker zu
+Direktor Haarland, der sich in seinem Sessel wie auf einem Liegestuhl
+ausstreckt. »Als wäre das so ganz in der Ordnung, meinten sie:
+›Selbstverständlich zahlen viele über Tarif. Das steht jedem frei,
+aber wir wollen niemand dazu zwingen. Für die Allgemeinheit muß der
+alte Tarif erhalten bleiben.‹ Sie gebrauchten sogar noch das Wort
+Allgemeinheit!«</p>
+
+<p>Direktor Haarland lacht. »Haben Sie sich schon mal zur Allgemeinheit
+gezählt? Sehen Sie, das macht nämlich keiner. Für uns ist das bloß ein
+Wort. Im übrigen ist jeder ein ›Ich‹, eine Besonderheit, auf die er so
+recht stolz sein muß.«</p>
+
+<p>»Natürlich will man die Individualität nicht ausgeschaltet wissen, aber
+der Zusammenhalt, die Geschlossenheit!« ruft Joachim Becker aus.</p>
+
+<p>»Da muß ich Sie wieder was fragen: wenn einer Konkurs anmeldet, haben
+wir dann schon mal gesagt: Donnerwetter, eine betrübliche Lücke in
+unserer Phalanx, wieder einer weniger? Nee, wir sagen: Gott sei Dank,
+ein Konkurrent weg. Und wenn's nach uns ginge, so könnten 99 Prozent
+fallieren, dann bleibt eben die Chose für einen<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> ganz allein. Wissen
+Sie, ich kann das nur wieder mit meinem Boxsport vergleichen: man will
+dem Gegner nicht nur eine kleine Blessur beibringen wie etwa mit dem
+Florett, um seine Kunst zu zeigen, nein, man möchte ihn am liebsten für
+alle Zeiten kaputtschlagen. Dann ist man ihn los, den Kerl, und kann
+sich feiern lassen. Darin liegt nämlich der Witz: wir betreiben eine
+Sache nicht der Sache wegen, sondern um eines Endzwecks willen. Und der
+ist immer nur: Geld, Ruhm und alles, was sich damit kaufen läßt. Wir
+haben den Genuß am tätigen Leben verloren.«</p>
+
+<p>»Den Genuß am tätigen Leben —«, wiederholt Joachim Becker langsam.
+»Ja, das klingt geradezu paradox.« — — —</p>
+
+<p>Nun hat der Hafen also auch seinen Streik.</p>
+
+<p>Eine Explosionskatastrophe, der Konkurs eines Mitläufers,
+vorübergehende Arbeitseinstellung, ein Streik — das sind Beigaben,
+die wie Kinderkrankheiten hingenommen werden müssen. Man kann
+sie in vielfacher Weise erleben, sie schmieden das Werk wie die
+Schicksalsschläge den Menschen: der eine wird mutlos, der andere hart,
+der dritte aber trägt alles als einen Gewinn fort.</p>
+
+<p>Und wenn das Leben ihm so recht nach Herzenslust mitgespielt hat und
+wir begegnen ihm, so sagen wir: Siehe, ein Mensch!</p>
+
+<p>Joachim Becker hat von diesem Streik gleichfalls manches gelernt.
+Er mußte schon viele Wandlungen erleben. Er ist zum Beispiel einmal
+mit einer Shagpfeife herumgelaufen<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> und hat sich von den Engländern
+imponieren lassen, er bewunderte auch die Amerikaner und ließ in
+seinem Hafen ein Turmhaus bauen. Man kann nicht sagen, daß es
+gleich die Wolken kratzt, doch es hat so viel Räume, daß selbst die
+überorganisierteste Hafengesellschaft sie nicht auszufüllen vermöchte.</p>
+
+<p>Aber ebenso wie man eine Shagpfeife wegwerfen darf, weil sie nicht
+schmeckt, so kann man ein Verwaltungsgebäude vermieten, wenn man selbst
+nur einen halben Seitenflügel braucht.</p>
+
+<p>Joachim Becker hat es zwar einmal nicht erwarten können, ein Projekt
+in seiner vollen Größe sofort verwirklicht zu sehen, er ist nicht für
+langsame Entwicklungen, aber er findet letzten Endes doch noch einen
+gesunden Weg.</p>
+
+<p>Und das Schicksal straft ihn für seine Ungeduld, indem es ihn ein
+langsames Wachstum seines inneren Menschen erleben läßt.</p>
+
+<p>Hat er nicht seinen Arbeitern die Hände geschüttelt, obgleich sie ihm
+den Streik verkündeten? Jetzt rennt er wütend in seinem Hafen umher und
+möchte am liebsten jeden hinauswerfen oder verprügeln, der die Hände in
+den Taschen hält und sich müßig die vollen Kähne beguckt.</p>
+
+<p>Karle Töndern steht bei Schiffer Jensen und sagt:</p>
+
+<p>»Da liegst du nun fest mit deiner Ladung.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagt Schiffer Jensen, »da ist mal nichts zu machen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p>
+
+<p>Sie nehmen es beide wie eine Schicksalsfügung geduldig hin. Der Tod
+holt sich eine blonde junge Frau und kümmert sich nicht darum, wie dem
+Manne mit seinem kleinen Jungen nun zumute ist. Aber auch dann hadert
+Schiffer Jensen noch nicht einmal mit seinem Gott.</p>
+
+<p>Karle Töndern trottet zum Getreidespeicher hinüber. Da rattern die
+Maschinen ohne Unterbrechung. Bodenmeister Ulrich hält auf seinem
+Posten aus, er ist ungeheuer beschäftigt. Die Generaldirektion hat ihm
+zwar einige Helfer geschickt: Grünschnäbel aus dem Bureau, die ihm
+nur im Wege stehen, und ein paar Mechaniker, die vielleicht mit einer
+Wasserleitung fertig werden ... Doch mit einem Getreidespeicher...?
+Einen Getreidespeicher versteht nur er, Bodenmeister Ulrich.</p>
+
+<p>Hier vermag also Karle Töndern mit seinen gebundenen Händen auch nichts
+auszurichten, er macht einen großen Bogen um den Generaldirektor
+und den Kapitän und schlängelt sich in die Hafenwirtschaft hinein.
+Vielleicht kann er bei Frau Reiche ein wenig von seiner vielen Zeit
+loswerden. Er hört ihr lautes Kreischen schon vor der Tür.</p>
+
+<p>»Na, da kommt ja noch so ein Faulenzer!« ruft sie ihm entgegen. »Wenn
+es heute hier Alkohol gäbe, dann wärt ihr jetzt schon alle besoffen!«</p>
+
+<p>Sie machen ihre Witze und sind scheinbar ebenso guter Laune wie Frau
+Reiche, die sich in ihrer Ausgelassenheit<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> keinen Rat mehr weiß. Und
+nun bringt sie wahrhaftig ihr Kirschwasser an und traktiert alle Gäste.</p>
+
+<p>»Erstens ist das meine private Angelegenheit,« sagt sie zu ihrer
+Rechtfertigung, »und zweitens kann es mir ja jetzt schon ganz egal
+sein, da ich doch von hier weggehe.«</p>
+
+<p>Was? Hat man recht gehört? Das ist doch wirklich eine Nachricht, nicht
+weniger wichtig, als wenn der Generaldirektor selber demissionierte.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt sie mit stolzem, breitem Lachen, »ich werde jetzt geschieden
+und tausche die Kantine gegen ein Zigarrengeschäft.«</p>
+
+<p>Aha! Nun wissen sie Bescheid. Sie denken sich ihr Teil und sind nicht
+so engherzig, es für sich zu behalten.</p>
+
+<p>Ob sie wohl schon einen Geschäftsführer für den Zigarrenladen hätte?
+Einen mit seidenen Strümpfen und feinen Krawatten? Haha, dann wäre ja
+alles in Ordnung.</p>
+
+<p>»Wem es nicht paßt,« sagt Frau Reiche drohend, »dem kann ich auch nicht
+helfen!« Sie lachen, daß die Wände dröhnen. Ab und zu verschwindet
+einer von den Gästen ohne viel Aufhebens, aber dann ist gleich wieder
+ein anderer da, und die Unterhaltung bleibt weiter im Gange.</p>
+
+<p>Karle Töndern schiebt sich zur Tür hinaus. Er bohrt die Hände fest in
+die Taschen und macht das gleichmütigste Gesicht von der Welt.</p>
+
+<p>›Das allerschlimmste ist,‹ denkt er, ›daß man nicht weiß, wie man seine
+Zeit totschlagen soll.‹ Karle Töndern erlebt<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> seinen ersten Streik.
+Er ist seit zehn Jahren in der Stadt und hat immer seine Tätigkeit
+gehabt. Manchmal dachte er, du möchtest doch auch einmal die Straßen
+am Vormittag sehen; besonders im Winter, wenn er in der Dunkelheit zur
+Arbeitsstelle ging und wiederum im Dunkel nach Hause kam. Da konnte man
+sich die ganze Woche Frau und Kinder nicht im Tageslicht begucken.</p>
+
+<p>Aufrührerische Ideen hatte Karle Töndern noch nie gehabt, aber zuweilen
+meinte er doch: einen Werktag möchtest du mal für dich haben und dir
+die Welt zu jeder Stunde betrachten, besonders zwischen sieben und
+vier. Nun hat er diesen Tag.</p>
+
+<p>Er könnte sich zum Beispiel auf jene Bank setzen, die zwischen ein paar
+grünen Bäumen aufgestellt ist und den Großstädter zur Ruhe auffordert.
+Da dürfte er die Natur genießen und vielleicht auch den spielenden
+Kindern zuschauen. Aber was sieht er? Seine Frau, die daheim an den
+Kochtöpfen hantiert und nicht wagt, ein Stück Fleisch hineinzulegen.</p>
+
+<p>Sie glaubten gerade, eine schleppende Last, die durch Krankheiten der
+Kinder entstanden war, bald abschütteln zu können, da bringt der Streik
+neue Sorgen. Das zieht sich dann von Woche zu Woche hin, und wenn du
+denkst: ›den nächsten Lohn kannst du endlich einmal glatt einteilen,
+damit du für jeden Tag etwas hast,‹ da ist plötzlich der Winter
+eingezogen, und du brauchst Kohlen und warmes Zeug für die Kinder.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p>
+
+<p>Nein, auf dieser Bank ist doch kein schönes Verweilen. Da geht Karle
+Töndern lieber zum Verbandslokal und hört, was die anderen sagen. Man
+kann sie schon von weitem sehen, denn sie stehen auf der Straße umher,
+reden über dieses und jenes und warten.</p>
+
+<p>Von der Streiklage hat noch niemand Näheres gehört. Aber hier ist
+einer, der könnte heute seinen 25. Streik feiern.</p>
+
+<p>»Da kannst du mit mir noch gar nicht mit«, sagt ein anderer, und er
+lacht, ohne das Gesicht zu verziehen.</p>
+
+<p>Karle Töndern guckt einigen verstohlen auf die Beine und denkt: solche
+geflickten Hosen hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gehabt.
+Und dann unterhält er sich mit mehreren, die auch ihren ersten Streik
+erleben.</p>
+
+<p>Viele tragen dünne Rucksäcke auf dem Rücken, darin haben sie ihren
+Proviant für den ganzen Tag. Wenn jetzt die Parole erteilt wird »Arbeit
+aufnehmen«, dann können sie gleich hingehen, und für ihr Essen ist
+gesorgt.</p>
+
+<p>Manche haben sich schon etwas »Mut« geholt. Ihre Augen schwimmen, und
+sie sagen auch mal was Lustiges, worüber keiner lacht.</p>
+
+<p>Und da stehen sie alle und warten.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Begegnung">Die Begegnung</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-d004" src="images/drop-d004.jpg" alt="D">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>er Streik ist nach wenigen Tagen beigelegt worden und hat dem Hafen
+keinen nennenswerten Schaden gebracht.</p>
+
+<p>Beide Hafenbecken liegen voller Schiffe, und es ist wieder ein
+lebhaftes Getriebe an allen Kaimauern, in den Lagerhallen und auf den
+freien Plätzen.</p>
+
+<p>Irmgard Pohl muß, von ihrer Reise zurückgekehrt, feststellen, daß
+der großartige erste Eindruck durchaus nicht hinter dem Bild ihrer
+Erinnerung zurücksteht. Gewiß hat sich während ihrer Abwesenheit
+manches im Hafen geändert. Es wurde immer weiter gebaut, sogar ein
+drittes Hafenbecken kann bald in Betrieb genommen werden, und alles ist
+noch mächtiger, als es war. Aber welche Wandlungen sind diesseits des
+Kanals vor sich gegangen!</p>
+
+<p>Daß sie von Frau Pohl herzlich, ja sogar mit gerührtem Überschwang
+begrüßt wird, überrascht die Heimgekehrte ebenso wie die äußere
+Veränderung an der Mutter.</p>
+
+<p>Sie waren in diesem Jahr der ersten räumlichen Trennung in einen
+angeregten Briefwechsel hineingeraten, der alle Gegensätze zu
+überbrücken schien. Irmgard wußte jedoch, daß<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> die Mutter zu jenen
+Naturen gehört, die sich nur dem körperlich fernen, dem unsichtbaren
+Menschen ganz erschließen können, und sie fürchtete sich vor der
+Schranke, die sich bei der persönlichen Begegnung zwischen ihnen
+aufrichten würde.</p>
+
+<p>Und nun steht Frau Pohl neben ihr, den Arm ohne Scheu zärtlich um die
+Schultern der Tochter gelegt, mit einem mütterlich-weichen Lächeln im
+entspannten Gesicht, und aus den Augen ist endlich der starre Glanz
+gewichen.</p>
+
+<p>Sie eilt nicht gehetzt von einer Arbeit zur anderen, sondern sie läßt
+sich hier und da nieder und sieht zu, wie die Zeit langsamer davongeht.</p>
+
+<p>»Ja,« sagt sie fast entschuldigend, während sie sich wieder vom
+pausbäckigen und sehr dreibastigen Sohn tyrannisieren läßt, »so
+vertrödelt man seine Zeit«. Und dann kostet es sie einige Mühe, sich
+vom Stuhl zu trennen, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.</p>
+
+<p>Irmgard geht zum soundsovielten Male in den alten Räumen umher und
+feiert Wiedersehen. Ihre Bewegungen sind ausholender geworden, sie
+bewegt die Arme nach allen Seiten, und es scheint, als wären die Zimmer
+nun zu eng für sie.</p>
+
+<p>Zuweilen betrachtet sie den kleinen Michael, der bei der Begrüßung
+kein gutes Gedächtnis verriet, sondern seiner »Schwester« sehr
+eindringlich vorgestellt werden mußte. Sie sieht ihm von der Seite zu,
+wie er seine Spielsachen umherwirft,<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> und lauscht mit Vergnügen seinen
+Selbstgesprächen, aber sie muß es sich gefallen lassen, daß er ihre
+Beteiligung am Spiel zunächst noch ablehnt.</p>
+
+<p>Herr Pohl kommt zur Mittagsstunde herein und setzt sich in den Sessel
+am Fenster, mit einer gewohnten stillen Geste, als wäre es an der
+Tagesordnung, daß er hier erst eine Weile auf sein Essen wartet.</p>
+
+<p>Der Tisch ist noch nicht gedeckt, Irmgard sieht kopfschüttelnd auf die
+Uhr.</p>
+
+<p>»Sag' einmal, Vater,« fragt sie, mit übertriebenem Staunen, »verspätet
+man sich hier mit dem Essen?«</p>
+
+<p>Der Vater nimmt ihren Spott lächelnd hin. »Das kommt jetzt zuweilen
+vor,« meint er milde, »doch es ist sehr schön, indessen hier zu sitzen
+und ein wenig zu sich selbst zu kommen.«</p>
+
+<p>»Ja, ja,« sagt seine Tochter, während sie sich hinter ihm aufstellt und
+mit den Fingern über seine grauen Haare fährt, »es gehen große Dinge
+vor in einem Jahr.«</p>
+
+<p>Sie lacht übermütig und begibt sich wieder auf ihre unruhigen
+Entdeckungswanderungen.</p>
+
+<p>»Ich glaube, hier ist sogar etwas Staub liegengeblieben. Und wo sind
+denn nur die scheußlichen Nippessachen, die überall herumstehen
+mußten?« ruft sie aus einer Ecke des Zimmers zu ihm hinüber.</p>
+
+<p>»Die hat der Junge so nach und nach entzweigeschlagen«, erwidert Herr
+Pohl gutmütig lachend.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p>
+
+<p>Irmgard kann es sich nicht versagen, den Knaben in ihrer Freude darüber
+hochzuheben und mit einem Kuß zu belohnen. »Für die Rettung der Kunst«,
+meint sie belustigt.</p>
+
+<p>Aber der so jählings in seiner Beschäftigung Gestörte rächt sich dafür
+durch einen tüchtigen Griff in ihre Haare. Irmgard setzt ihn, ärgerlich
+über die Abwehr und den körperlichen Schmerz, barsch auf seinen Platz
+zurück.</p>
+
+<p>»Pfui, du bist ja ein ganz verzogener, brutaler Bengel geworden!«</p>
+
+<p>Der dreijährige Michael kann eine derartige Beleidigung nur mit einem
+fürchterlichen Gebrüll beantworten, das sein guter alter Kamerad, der
+Vater, besänftigen muß.</p>
+
+<p>Als er die letzten Seufzer auf seinem Knie verschluckt hat, meint
+Michael Pohl entschuldigend zu seiner Tochter:</p>
+
+<p>»Siehst du, so ist es: was wir dir an Strenge zuviel gaben, hat der
+Junge nun zu wenig. Man ist in der Jugend zu hart und im Alter zu
+milde. Wo ist das goldene Maß im Leben?«</p>
+
+<p>Irmgard ist wieder besänftigt. Sie muß unwillkürlich an den Kapitän
+denken und sagt nach einer Weile:</p>
+
+<p>»Wie geht es unserem gerechten Mann, dem Kapitän? Ich habe ihm auch
+zwei Karten geschickt.«</p>
+
+<p>Herr Pohl findet, daß zwei Karten nicht viel sind, aber er gibt seine
+Ansicht darüber nicht preis. Er wischt die Tränenspuren vom wieder
+strahlenden Gesicht seines kleinen Adoptivsohnes und erwidert:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span></p>
+
+<p>»Er hat oft am Abend hier bei uns gesessen. Ja, man kann wohl sagen,
+daß er immer noch so ist, wie er war. Wir drei haben uns recht gut
+verstanden. Die Mutter freute sich stets, wenn er kam, denn sonst ist
+es sehr still bei uns gewesen. Übrigens wurde der Prozeß mit dem Hafen
+jetzt aus der Welt geschafft. Da mag ebenfalls der Kapitän seine Hand
+im Spiele gehabt haben.«</p>
+
+<p>Irmgard ist zwar auch damit zufrieden, daß dieser unerquickliche Streit
+beseitigt wurde, aber sie sieht nicht ein, warum man das nur dem
+Kapitän anrechnen soll. Konnte nicht Joachim Becker inzwischen auch
+einsichtiger geworden sein?</p>
+
+<p>»Daß der Kapitän dich immer grüßen ließ, hat die Mutter dir wohl
+geschrieben?« fragt Herr Pohl nebenbei. »Wir haben ihn zu morgen abend
+eingeladen. Es ist dir doch recht?«</p>
+
+<p>Gewiß freut sie sich auch darauf, ihn wiederzusehen.</p>
+
+<p>»Ich habe mich doch sehr nach allem, was hier so rundherum ist,
+gesehnt«, fügt sie hinzu.</p>
+
+<p>Sie stellt sich ans Fenster und blickt in das lebhafte Getriebe am
+Mühlenplatz, auf die erweiterten Gebäude und das Getümmel um die
+Baugrube der neuen Brotfabrik. Sie denkt daran, wie sie damals nach
+Michaels Geburt hier saß und sich in das neue Leben nicht hineinfinden
+konnte. Und wie später ihre überreizten Nerven diesen Pulsschlag
+einer großen Stadt nicht vertragen wollten. Nun erlebt sie alles<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span>
+mit gesunden Sinnen und freut sich auf Arbeit und Kampf und auf die
+Überraschungen, die das Leben ihr noch zu bieten hat.</p>
+
+<p>Auch der Kapitän findet am nächsten Abend bei der Begrüßung, daß man
+ihr die gesunden Nerven und die Unternehmungslust ansehe. Er kann es
+nicht oft genug versichern.</p>
+
+<p>»Ja, Reisen wandeln den Menschen. Man sollte sich immer wieder einmal
+neue Luft um die Nase wehen lassen. Ich habe auch schon daran gedacht,
+daß es noch andere Häfen in der Welt gibt.«</p>
+
+<p>»Hier ist es doch sehr schön«, meint Irmgard Pohl. »Ich will jetzt zu
+Hause bleiben und wieder Vaters Kompagnon werden. Was soll eine Frau
+auch allein auf Reisen!«</p>
+
+<p>Ja, da habe sie recht. Darin muß der Kapitän ihr vollkommen zustimmen,
+eine Frau brauche einen Begleiter.</p>
+
+<p>»Und sie denken doch kaum im Ernst daran, uns zu verlassen?« fragt Frau
+Pohl nicht ohne Besorgnis.</p>
+
+<p>»Nein, nein, im Ernst noch nicht.« Für später hätte er daran gedacht.
+Aber es habe noch Zeit, noch bliebe er hier.</p>
+
+<p>Und dann erzählt er wieder von seinen Reisen, von den vielfältigen
+Wundern in der Welt. Er spricht sehr lange und ausführlich, in seiner
+gleichmäßigen absatzlosen Art und mit Anstrengung in der Stimme.
+Schließlich kommt er wieder zu dem Resultat, daß es gut sei, zu reisen.
+Doch nicht allein. Das sei für keinen gut. Am wenigsten in der Fremde.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span></p>
+
+<p>Es scheint schwer, zur rechten Zeit aufzuhören, wenn man in so gutem
+Fahrwasser ist. Irmgard, die sich vom Institut her an zeitiges
+Schlafengehen gewöhnt hat, wird sehr müde, als der Kapitän sich endlich
+verabschiedet.</p>
+
+<p>»Findest du nicht auch,« sagt sie zum Vater, der den Gast noch
+begleitet hat, »daß der Kapitän im letzten Jahr sehr gealtert ist?«</p>
+
+<p>»Nein,« erwidert Herr Pohl, »er blieb genau so, wie er war.«</p>
+
+<p>»Aber jedenfalls ist er nicht mehr der jüngste«, meint Irmgard Pohl,
+die jetzt einen anderen Maßstab anlegt. »Und seine arme Stimme hat er
+sich auch bald ganz ausgeschrien.«</p>
+
+<p>›So ist die Jugend!‹ denkt Herr Pohl resignierend und ein wenig bitter
+über so viel gedankenlose Grausamkeit. —</p>
+
+<p>Wer könnte dem Kapitän jetzt seine gute Laune verderben! Er rennt im
+Hafen umher, als gäbe es keinen Schreibtisch mit einem Telephon, mit
+Briefen und Verträgen, die auch bedacht sein wollen. Fräulein Spandau
+muß ihn immer wieder in den Lagerhallen, auf den Kähnen oder ganz
+hinten bei den Schrott- und Kohlenbergen suchen, weil er gleichzeitig
+im Verwaltungsgebäude verlangt wird.</p>
+
+<p>Um diesen Riesenbau macht er am liebsten einen recht großen Bogen. Er
+ist nie ein Freund von Schreibtischarbeit gewesen, lieber noch würde
+er beim Ausladen der Schiffe selbst mit anpacken. Am wohlsten aber
+war ihm immer, wenn<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> er Planken unter den Füßen fühlte, und wenn die
+Welt begann, sich fortzubewegen, langsam gleitend, während er selbst
+feststand und unangefochten in ihr Getümmel sah, bis er außer Sehweite
+war und nur das Meer in seiner gewaltigen Einsamkeit ihn umgab.</p>
+
+<p>Unangefochten? Der Kapitän reibt sich die Hände und rennt zum anderen
+Hafenbecken hinüber.</p>
+
+<p>Oh, nun, da der leidige Winter überwunden ist und die Frühlingssonne
+ihm den Rücken wärmt, will er sich auch wieder rühren und ein wenig
+mittummeln. Allzulange ist er Zuschauer gewesen. Auf seinem Posten in
+der Mitte.</p>
+
+<p>Nachdem er genügend seine Beine gerührt hat, geht er endlich zu seinem
+Bureau zurück. Vor der Kantine trifft er die Fürsorgeschwester.</p>
+
+<p>»Na, Schwester eins,« sagt er gutgelaunt, »nun denken Sie wohl schon
+wieder an Ihre Ferienkinder?«</p>
+
+<p>Sie lächelt. Der junge Friemann hat ihr einen schönen Spottnamen
+verschafft. Aber vom Kapitän will sie den Scherz gern hinnehmen.</p>
+
+<p>Ob sie auch wüßte, daß Herr Pohl mit seiner Tochter heute nachmittag
+den Hafen besichtigen werde, fragt der Kapitän, nach kurzer
+Unterhaltung über ihre Aufgaben und Sorgen.</p>
+
+<p>Nein, das wußte sie nicht. »Aber ich habe Fräulein Pohl auch schon
+begrüßt«, sagt sie. »Sie hat sich wirklich sehr verändert.<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> Ach, es ist
+wohl schön, wenn man sich ein ganzes Jahr erholen kann«, fügt sie mit
+einem kleinen Seufzer hinzu.</p>
+
+<p>Der Kapitän setzt seinen Weg fort. ›Ja, ja, der Neid der lieben
+Mitmenschen‹, denkt er dabei abschließend über die Fürsorgeschwester. —</p>
+
+<p>Joachim Becker fährt an diesem Nachmittag im Hafen vor und will mit
+gewohnter Eile in das Verwaltungsgebäude hineingehen, als er die Stimme
+des Kapitäns aus unmittelbarer Nähe vernimmt.</p>
+
+<p>Er wendet sich um und sieht ihn, wenige Schritte entfernt, im
+angeregten Gespräch mit seinen Gästen stehen.</p>
+
+<p>Es ist nicht schwer, den Mühlenbesitzer Pohl zu erkennen, zumal er
+den Hut in der Hand hält und sein großer Graukopf unter den Strahlen
+der rotglühenden Abendsonne silbrig aufleuchtet. Er dreht dem
+Verwaltungsgebäude den Rücken und hat von dem Ankömmling nichts gemerkt.</p>
+
+<p>Dem Kapitän konnte das Einfahren des bekannten Autos nicht entgehen.
+Er bleibt gleichfalls dem Hafenbecken zugewendet und spricht
+geflissentlich weiter.</p>
+
+<p>Nur Irmgard Pohl sieht sich, durch das Surren des Motors abgelenkt, in
+weiblicher Neugierde unwillkürlich um.</p>
+
+<p>Natürlich hat sie beim Betreten des Hafens daran gedacht, daß
+sie Joachim Becker zufällig begegnen könnte. Sie war sich auch
+über ihre stolze und abweisende Haltung, mit der sie ihm nun ihre
+Gleichgültigkeit dokumentieren mußte, vollkommen im klaren.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p>
+
+<p>Was aber sind alle Vorsätze? Sie fühlt in der plötzlichen Begegnung
+mit seinem Blick, daß ihr Genick steif wird, daß sie jede Gewalt über
+den Ausdruck ihrer Augen verliert. Ihr Blut schießt vom Herzen in
+die entspannten Glieder, es klopft in den Schläfen, und sie hat nur
+den beseligenden Gedanken, nicht allein zu sein in dieser gewaltigen
+Rebellion. Denn auch Joachim Becker steht sekundenlang auf seinen Platz
+geschmiedet und ist nicht imstande, den starren, ärgerlich-strengen
+Blick von ihr zu lösen.</p>
+
+<p>Erschreckend nah und mißtönig klingt plötzlich die Stimme des Kapitäns
+in Irmgards Ohren.</p>
+
+<p>»Sie fürchten doch nicht um Ihr helles Kleid, Fräulein Irmgard, wenn
+ich Ihnen jetzt auch noch die Kohlenverladestelle zeige?« fragt er und
+hat gar keinen Klang mehr in seiner gepreßten Stimme.</p>
+
+<p>Er redet sie aus unerklärlichen Gründen mit ihrem Vornamen an.
+Vielleicht weil er sich durch den Familienverkehr in seinen Gedanken
+daran gewöhnt hat.</p>
+
+<p>Sie wendet ihm ihr glühendes Gesicht zu, doch sie weiß keine Antwort zu
+geben, denn sie hat nicht ein einziges Wort seiner Frage verstanden.</p>
+
+<p>Der Kapitän beginnt, mit vielen fachwissenschaftlichen Ausdrücken von
+der Verladeanlage, von der Schutthöhe der Kohlenlagerung, von der
+Elektrohängebahn mit den Laufkatzen, von den Greifern und den fahrbaren
+Brücken und anderen wichtigen Einrichtungen im Führerton zu berichten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span></p>
+
+<p>Er versucht, seine Erklärungen ab und zu durch einen Scherz zu würzen.
+Doch wer sollte über so viel verzweifelten Humor lachen können?</p>
+
+<p>Seht: Michael Pohl lacht, als hätte er noch nie so gute Witze gehört.</p>
+
+<p>»Was bin ich weißer Müller gegen so viel schwarze Macht!« sagt er,
+gleichfalls bemüht, die Stimmung zu retten.</p>
+
+<p>Der Zustand des Kapitäns entgeht ihm ebensowenig wie das verwirrte
+Gesicht seiner Tochter. Im Zusammenhang mit dem Einfahren des
+Automobils kann er sich manches erklären.</p>
+
+<p>Er denkt: ist dieser Mann, dem auf die Dauer keiner seine Sympathie
+versagt, so lange einsam gewesen, so wird er auch noch einige Zeit
+warten können. Geduld dürfte er in seinem unsteten Dasein genügend
+gelernt haben.</p>
+
+<p>Ja, Geduldsübung ist dem Kapitän ohne Zweifel vertrauter als Joachim
+Becker, der im Zimmer des Hafendirektors wie ein gefangenes Tier
+umherrennt und die Fäuste ballt.</p>
+
+<p>Natürlich hat es keinen Sinn, hier zu warten, daß der Kapitän heute
+noch für geschäftliche Zwecke Zeit findet. Er führt seinen Besuch
+spazieren und kümmert sich nicht darum, daß man ihn zu sprechen wünscht.</p>
+
+<p>Trotzdem stellt sich der Generaldirektor ans Fenster, um zu verfolgen,
+wie weit der Kapitän sich vom Verwaltungsgebäude zu entfernen gedenkt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p>
+
+<p>Die drei gehen an der Kaimauer entlang, gemächlich und scheinbar
+in ständiger Unterhaltung. Der Kapitän weist zuweilen mit eckigen
+Bewegungen zu den Kränen und Laderampen hinüber, während er, schräg zu
+seinen Besuchern gewandt, die steifen Beine bewegt.</p>
+
+<p>Es ist noch zu erkennen, wie Michael Pohl, der breit und wuchtig
+neben ihm geht, beifällig mit dem Kopfe nickt. Diese stumme Geste der
+Zustimmung ist dem Beobachter am Fenster nicht fremd. Wie oft hat er
+zu seinen Plänen vom Hafen so genickt und ihn dabei mit den hellen,
+teilnahmsvollen Augen ernst angeblickt. Auch als Joachim Becker ihn
+damals, etwas verlegen über diese Situation, um seine Tochter bat,
+hatte er zunächst nur mit einem Nicken zugestimmt, ehe er seine Ansicht
+äußerte, daß es gut sei, noch zu warten, damit niemand sich bei einem
+so schwerwiegenden Schritt übereile.</p>
+
+<p>Das sind peinliche Gedankengänge, denen man sich lieber entzieht,
+wenn man kein reines Gewissen hat. Der Generaldirektor rennt wieder
+in die Tiefe des Zimmers. »Verfluchte Warterei«, murmelt er zwischen
+den Zähnen, während er mit langen Schritten über den Teppich eilt, die
+Hände fest in die Taschen gebohrt.</p>
+
+<p>Dann steht er wieder am Fenster und sieht doch noch Irmgard Pohl nach,
+ehe sie seinem Blickfeld entschwindet.</p>
+
+<p>Sie geht mit kleinen Schritten, die Arme eng an den Körper gepreßt, als
+fühle sie sich beobachtet und wisse nicht, wie sie sich bewegen soll.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span></p>
+
+<p>Er stellt möglichst sachlich fest, daß sie in allem noch so wie damals
+ist, in der Erscheinung wie im ruhigen Ausdruck des klaren Gesichts,
+das er vorhin, für einen Augenblick, wie etwas Verlorenes in sich
+aufnahm.</p>
+
+<p>Man sieht ihr nicht an, was sie hinter sich hat, denkt er, zum Teil
+seines Gewissens wegen beruhigt und gleichzeitig enttäuscht darüber, so
+leicht vergessen zu sein. Ja, sie scheint besser daran als er. Sie hat
+ihn überwunden, wenn sie auch noch bei seinem Anblick errötet.</p>
+
+<p>War sie nicht damals schon von dieser ausgeglichenen fraulich-gütigen
+Harmonie? Und blickten ihre klugen ernsten Augen nicht von jeher —
+in diesen jungen Jahren bereits — ruhig und milde, obgleich sie
+gleichzeitig mädchenhaft ausgelassen sein konnte und ihn sogar zu
+kindischen Spielen anregte? Sie stand daneben und lächelte, sie hatte
+ihren Spaß daran, ihn zu einem Popanz zu verwandeln, zu »ihrem großen
+Jungen«, wie sie mit mütterlicher Überlegenheit sagte.</p>
+
+<p>Aber er hatte dieser Jugendeselei ein Ende gemacht. Er durfte bei
+seinen großen Plänen keine Zeit mehr zu albernen Spielen haben. Eine
+ernste und vernünftige Ehe entsprach eher seiner Position. Besitzt er
+nicht eine gute Frau und eine hübsche kleine Tochter mit großen braunen
+Augen, die jeder bewundert, weil sie so »reizend melancholisch« sind?
+Nein, er hat wahrlich keine Ursache, unzufrieden zu sein.</p>
+
+<p>Die Zeit renkt auch alles weise zurecht. Der unangenehme Prozeß ist
+beendigt, nun geht sein Prozeßgegner sogar im<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> einstmals feindlichen
+Hafen spazieren. Und es sieht ganz danach aus, als wolle der zweite
+Hafendirektor, der Kapitän, die Tochter des Gegners heiraten und
+für alle Zeiten rehabilitieren. Obgleich sie diese Ehrenrettung
+nicht einmal nötig hätte, da ihr kluger Vater durch eine freundliche
+Vertuschung das Ansehen der Familie längst wieder aufgerichtet hat.</p>
+
+<p>Teufel nochmal, das hätte er diesem geraden Manne nicht einmal
+zugetraut! Aber man sieht: andere Leute unternehmen auch Winkelzüge im
+Interesse ihrer Reputation.</p>
+
+<p>Ja, er ist über die Vorgänge im Hause des Mühlenbesitzers unterrichtet.
+Länger als ein Jahr. Seit er die gräßliche Ungewißheit nicht mehr
+ertrug. Er mußte doch mindestens erfahren, ob sein Sohn noch am Leben
+war oder nicht. Wozu gab es Auskunfteien, Leute, die dazu da sind,
+Erkundigungen einzuziehen, damit man sich nicht durch unpassende Fragen
+seine Autorität verscherzt?</p>
+
+<p>Er bekommt seine laufenden Informationen und weiß nun, daß der
+Mühlenbesitzer nicht einen Enkel, sondern einen Adoptivsohn besitzt.
+Die Tochter wird auf ein Jahr fortgeschickt, und hier geht sie nun in
+seinem Hafen spazieren. Schön und jung, mit einem ansehnlichen und
+geduldigen Bewerber zur Seite.</p>
+
+<p>Der Kapitän wäre wohl der Mann, über den Schatten in der Vergangenheit
+einer Frau hinwegzusehen, dieser ewig Gerechte und Höfliche, den nichts
+aus dem Gleichgewicht bringen kann.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span></p>
+
+<p>Nun bekommt sie also noch ihren Hafendirektor und einen guten Namen
+dazu. »v. Hollmann« hat einen anderen Klang! Was ist er, der Sohn
+des kleinen Beamten, dagegen! Was half es ihm, daß er sich in den
+Nächten das bißchen Bildung und Wissen einpaukte, um sich Geltung zu
+verschaffen? Er war doch erst etwas geworden, nachdem er die verliebte
+Tochter eines Getreidehändlers zur Frau bekam.</p>
+
+<p>Und nimmt man ihn ernst? Lächelt man nicht im stillen über ihn und
+stellt hämisch fest, daß man mit dem Geld eines reichen Schwiegervaters
+ebensoviel erreichen könnte? Was nutzt ihm alle Arbeit, alle Energie?
+Wer erkennt seine wahren Leistungen an? Hat man darum so lange
+geschuftet, vom Morgen bis in die Nacht, ohne einzuhalten, ohne eine
+Freude, ohne Befriedigung, um jetzt hier das Fazit zu ziehen, daß alles
+vergebens war?</p>
+
+<p>Er bleibt in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände auf dem Rücken
+ineinandergelegt. Sein Mund ist hart, schmal und verkniffen, die
+senkrechte Falte zwischen den Augen wirkt wie eine Narbe.</p>
+
+<p>Sein Blick fällt auf den Schreibtisch des Kapitäns. Hier hat er
+damals ihre Stimme gehört, diesen ruhigen, volltönigen Klang. Einen
+Augenblick denkt er an den Duft der Linden. Er läßt sich in einen
+Sessel fallen und schließt die Augen. Das leise Rauschen in den Wipfeln
+der alten Bäume hängt ihm wieder in den Ohren, da er sich dieser Stimme
+entsinnt.<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> Es scheint ihm, als lägen die Erinnerungen ein Menschenalter
+und nicht knapp vier Jahre zurück.</p>
+
+<p>Der Kapitän! Joachim Becker kennt keinen Menschen, der soviel
+allgemeine Achtung und Sympathie genießt wie dieser stille und
+bescheidene Hafendirektor.</p>
+
+<p>Aus welchem Grunde sollte er wohl seit anderthalb Jahren in der
+Familie des Mühlenbesitzers verkehren und nun hier mit der Tochter
+spazierengehen?</p>
+
+<p>Selbstverständlich wird er nicht im Hafen bleiben, denn er wäre nicht
+der Mensch, der seine junge Frau durch den gebotenen gesellschaftlichen
+Verkehr in schiefe Situationen bringt. Die großen Reedereien, die
+ihn als Vertrauensmann für den Hafen empfahlen, würden auch eine
+angemessene andere Verwendung für ihn haben.</p>
+
+<p>Er kann seiner Frau etwas bieten! Er würde ihr die Welt zeigen und
+sie in seine angesehenen Kreise führen. Hatte er nicht die großen
+Passagierdampfer befehligt und auf die Weltmeere geführt, so daß
+weitgereiste Leute, die seinen Namen hören, respektvoll fragen: ›v.
+Hollmann, ist das nicht der Kapitän, der damals das und das Schiff
+fuhr?‹ Dieses Mannes entsinnt sich jeder gern.</p>
+
+<p>Wer aber weiß Gutes von <em class="gesperrt">ihm</em> zu sagen? Er besitzt keinen Freund,
+keinen Menschen, der das Recht dazu hätte, ihn zu verteidigen. Obgleich
+er stets nur das Beste wollte, seine Kräfte nicht vergeudete, immer nur
+an sein Werk dachte und niemals an sich selbst.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span></p>
+
+<p>Er preßt die Fäuste gegen die Augen und sitzt, die Ellenbogen auf die
+Knie gestützt, lange im fremden Zimmer, ohne jede Haltung und Würde.
+Wie er sich wieder aufrichtet, ist sein Gesicht blaß und verstört, mit
+roten Flecken auf der Stirn vom schmerzhaft festen Druck seiner eigenen
+Hände.</p>
+
+<p>Nun muß er aufstehen und sich zu seinem Wagen begeben. Er wird nach
+Hause fahren. Und alles ist noch so wie es war.</p>
+
+<p>Scheu, mit schlechtem Gewissen hetzt er durch den Korridor und vom
+großen Haupteingang des Verwaltungsgebäudes zu seinem Wagen.</p>
+
+<p>Er vermag an diesem Tage nicht mehr in das Bureau und zur Arbeit
+zurückzukehren. Er läßt sich in seine Wohnung fahren, um sich von
+dem einzigen Menschen, der immer gut und milde zu ihm war, von Frau
+Adelheid, aufrichten zu lassen.</p>
+
+<p>Sie ist nicht allein. Ihr Bruder leistet ihr Gesellschaft. Wenn
+Schwester Emmi im Hafen nicht für ihn zu sprechen ist und es also
+keinen Zweck hat, an dieser Stätte emsiger Arbeit länger als nötig zu
+verweilen, hält er sich gern bei seiner Schwester auf, die mit ihren
+einsamen Abenden so wenig anzufangen weiß.</p>
+
+<p>Sobald sie ihre Tochter zu Bett gebracht hat, überfällt sie ihre alte
+Melancholie, die sie ihrem stillen Kinde schon vererbt hat. Darum
+schließt sie sich gern den häufigen Theaterbesuchen<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> ihrer Verwandten
+an oder weilt bei den Eltern, während ihr Mann bis in die späten
+Abendstunden über der Arbeit sitzt. Oft sehen sie einander tagelang nur
+in Gesellschaft Fremder und sind abgespannt und einsilbig, wenn sie
+heimkehren.</p>
+
+<p>Man hat an diesem Abend beabsichtigt, ein Theater zu besuchen, eine
+sehenswerte Neueinstudierung, also eine Premiere gewissermaßen, die
+Felix Friemann sich nicht entgehen läßt. Seine Eltern folgen in
+diesem Punkte gern seiner Führung. Selbstverständlich trifft man auch
+Verwandte und Bekannte, und der Abend ist gut angewandt.</p>
+
+<p>Joachim Becker hat Frau Adelheid nicht nur mit seiner frühen Heimkehr
+überrascht und beglückt; er erklärt sich auch bereit, sie zu begleiten.</p>
+
+<p>Vom ungewohnten glänzenden und lauten Leben im Zuschauerraum verwirrt,
+sitzt er dann still in seiner Loge. Er fürchtet sich schon jetzt vor
+der Pause, vor den vielen geputzten Menschen, denen er begegnen wird
+und die mit höflichen und freundlichen Worten bedacht sein sollen.</p>
+
+<p>›Ist es nicht eine Ungerechtigkeit!‹ sagt er sich an diesem Tage, an
+dem eine Begegnung ihn so in seinem ganzen Wesen aufstören konnte, ›daß
+du in deinem Innern nicht zur Ruhe kommen sollst! Du fällst in alte
+Fehler zurück, wirst unzufrieden mit dir, und wenn du vorwärts blickst,
+so türmen sich Berge auf, die für andere scheinbar nicht bestehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p>
+
+<p>Aber was weißt du von deinen Mitmenschen und ihrem Tun? Einstmals
+glaubtest du, mit ihrem Studium fertig zu sein, und jetzt meldet sich
+der Drang, daß du einen nach dem anderen aufschließen möchtest und in
+seiner Seele erkennen.</p>
+
+<p>Warum ist es dir nicht gegeben, sie zu meistern wie der Kommerzienrat
+oder sie zu übersehen wie dein Schwager?</p>
+
+<p>Siehe, dieser <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, er hat die schönen Künste so
+vollständig in sich aufgenommen, daß er nun in jeder Gesellschaft
+darüber reden kann, er hat das Praktische studiert, und nun wird ihm
+durch eine kleine blonde Fürsorgeschwester ein angenehmer Kummer
+geschenkt. Sie ist ihm ein Ziel, zu dem nur der Weg Freuden bereitet;
+also seien wir nicht traurig, wenn es etwas länger währt. Ja, Felix
+Friemann ist ein fertiger Mensch, der mit sich und den anderen
+zufrieden ist.‹</p>
+
+<p>Joachim Becker, der junge Generaldirektor jedoch, der vor den Frauen
+und bei den Gesprächen über die schönen Künste errötet, weil er
+die einen so wenig kennt wie die anderen, sitzt steif da und weiß
+nicht, während er den Vorgängen lauscht, ob er in der Pause ein
+bedeutungsvolles oder ein bedenkliches Gesicht zeigen soll.</p>
+
+<p>Als sie schließlich in das Foyer gehen, hat er sich für seine alte
+kühle Maske entschieden.</p>
+
+<p>Felix Friemann gesellt sich zu ihnen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span></p>
+
+<p>»Dieser Ibsen hat seine Probleme wirklich manchmal sehr weit
+hergeholt«, meint er überlegen. »Auf Wildenten haben wir übrigens
+damals in Norwegen auch geschossen.«</p>
+
+<p>Die Familie Friemann begrüßt ihre Bekannten. Sie zeigen einander
+die berühmten Kritiker, und einige reden von dem »Stück«. Die
+Kommerzienrätin hat es sich zum Prinzip gemacht, nicht eher über eine
+Aufführung zu sprechen, als bis die Kritiken erschienen sind, und sie
+erwähnt frühere heftige Eindrücke.</p>
+
+<p>Auch Rechtsanwalt Bernhard ist da. Er will sich traurig zur Seite
+stellen, da er Frau Adelheid zärtlich an den Arm ihres Mannes gelehnt
+sieht, aber Joachim Becker geht ihm entgegen und begrüßt ihn mit
+ungeheuchelter Freude.</p>
+
+<p>›Das ist noch ein natürlicher Mensch,‹ denkt Joachim Becker, ›er hat
+sogar ein Herz.‹ Und sie verbringen zu dritt plaudernd die Pause, wobei
+jeder in einer anderen Art seine Rechnung findet.</p>
+
+<p>Obgleich Joachim Becker sich nach Stille und Dunkelheit sehnt und
+Ablenkung von allen quälenden Gedanken wohl gebrauchen könnte, fürchtet
+er sich vor der Fortsetzung des Spiels.</p>
+
+<p>Muß er denn an diesem Abend in seiner Unzufriedenheit so weit gehen,
+daß er in jeder verzerrten Gestalt sich selbst sieht? Er ist wahrhaftig
+am Ende mit seiner Nervenkraft und sehnt den nahen Sommer herbei. In
+diesem Jahre will er zum erstenmal wirklich ausspannen und mit seiner
+Frau helle<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> Sommertage irgendwo in den Bergen oder an der See verleben,
+damit er wieder zu Kräften und Selbstbewußtsein gelangt.</p>
+
+<p>Es ist, weiß Gott, lächerlich, hier Parallelen zu ziehen und sich
+mit diesem pathetischen Hjalmar Ekdal, diesem Photographen mit der
+Flatterkrawatte, zu vergleichen. Warum sollen gerade ihn die Vorgänge
+auf der Bühne etwas angehen, ihn so persönlich berühren, daß er der
+Selbstzerfleischung nahe ist?</p>
+
+<p>Ein hirnverbrannter Gedanke, heute in dieser Verfassung hierherzugehen!
+Laufen denn nicht soundsoviel andere auch in Gottes weiter Welt umher,
+die einen Schatten, einen dunklen Punkt in ihrem Leben haben, an den
+man am besten nicht rührt?</p>
+
+<p>Oh, er möchte wohl wissen, wie wenige es sind, die so einem
+Wahrheitsfanatiker wie Gregers Wehrle begegnen dürften, ohne mit der
+Wimper zu zucken oder gar ihr ganzes Lebensgebäude einstürzen zu sehen.</p>
+
+<p>Und sieht man es nicht an diesem Beispiel, wie verkehrt es ist, ans
+Tageslicht zu ziehen, was lieber verborgen bliebe? Man hat Fehler
+begangen, man sieht sie ein und vermeidet sie in Zukunft. Man hat
+einmal nicht anständig gehandelt. Aber kann man das aus der Welt
+schaffen? Ist es nicht vernünftiger, Geschehenes zu vergessen, um
+ungestört weiter zu kommen?</p>
+
+<p>Er hat mit seiner Frau niemals über seine Vergangenheit, über die
+Beziehungen zum Hause Pohl gesprochen. Vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span> haben ähnliche
+Wahrheitsfanatiker wie dieser Narr auf der Bühne sie aufgeklärt, so
+daß sie unnützen Gedanken nachhängt und öfter traurig und verweint
+ist als notwendig wäre. Denn das muß er sich eingestehen: schlecht
+behandelt hat er sie in ihrer mehr als dreijährigen Ehe nie. Er ist
+sehr beschäftigt, wälzt imposante Pläne, und es paßt nicht zu seiner
+großen Stellung, zu seinem verantwortlichen Posten als Generaldirektor
+eines Werkes von Weltbedeutung, daß er sich wie ein Täuberich benimmt.</p>
+
+<p>Da rühren sich wieder seine Gedanken von heute nachmittag: er durfte
+mit Irmgard Pohl nicht mehr jung und ausgelassen sein, weil es sich mit
+seinen großen Ideen nicht vereinbarte. Und nun meint er auch, daß er
+kein zärtlicher Ehemann sein darf, weil es zur strengen, energischen
+Haltung eines Generaldirektors, der sich Respekt und Autorität
+verschafft, nicht gehört. Ist es seine Pflicht, nur als Arbeitsmaschine
+zu funktionieren und sich niemals wie ein gewöhnlicher Mensch zu
+benehmen?</p>
+
+<p>Immer haftete er an den festgelegten Gesten, die zu seinem Amte
+gehören. Zwischendurch probierte er es einmal mit der Shagpfeife und
+mit der nachlässigen Haltung des Engländers, der seine Hände in den
+Hosentaschen hält. Aber er ließ es wieder und fand Gefallen am smarten
+Amerikaner, der nicht zu verblüffen ist und mit kühler Jovialität
+seinen Leuten begegnet. Eine Weile versuchte er es, in dieser Weise zum
+Beispiel seinen Angestellten entgegenzukommen, um von ihnen<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> nicht nur
+gefürchtet, sondern auch geliebt zu werden. Aber er hatte den Eindruck,
+daß man ihm den lässigeren Ton als Schwäche auslegen könnte. Und so
+kehrte er zu seiner alten Maske zurück: streng, energisch, militärisch
+korrekt. Um von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen, um sich
+nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, das ist es: er läuft mit einer
+Maske umher. Nur in den Stunden der Zerknirschung, der Schwäche, der
+Selbsterkenntnis fällt sie von ihm ab.</p>
+
+<p>Hat er nicht doch Berechtigung, sich mit diesem Photographen zu
+vergleichen, der sich auch eine männliche und selbstgefällige Pose
+zurechtgelegt hat wie so manche, denen man im Leben begegnet? Der
+Kommerzienrat zum Beispiel mit seiner betont soignierten Haltung im
+Geschäftsleben, während er daheim in seiner Familie nicht mehr als ein
+gutmütiger alter Trottel ist?</p>
+
+<p>Oh, wie grausam betrachtet er nun sich selbst. Gewiß, auch der
+Kommerzienrat hat seine Maske vor den Menschen, ebenso wie die vielen
+anderen, die der klugen Ansicht sind, daß man ohne sie im Lebenskampf
+nicht auskomme; daß man mißbraucht werde, wenn man der Allgemeinheit,
+den Konkurrenten, den Neidern, den lauernden Feinden den wahren
+Menschen zeige. Aber verwandeln sie sich nicht, ebenso wie der
+Kommerzienrat, zeitweise in ihr eigenes Wesen zurück?</p>
+
+<p>Wann jedoch ist er ein Mensch ohne jede falsche Geste? Wann und wo
+zeigt er seine wahren, seine geheimsten Empfindungen,<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> das Zarte, das
+auch in ihm sich regt, und seine Sehnsucht nach Wärme und Liebe?</p>
+
+<p>So wie dieser Hjalmar Ekdal soeben seine Haltung zu verlieren im
+Begriff war, als man ihm sein Lügenhaus enthüllte, so hat er heute
+nachmittag ohne jede Würde im Zimmer des Kapitäns gesessen und klar,
+entsetzlich klar erkannt, daß sein Ansehen, seine Arbeit, sein ganzes
+Leben in den letzten drei Jahren sich auf eine Lüge stützt.</p>
+
+<p>Und er ging nicht mit offenen Worten zu Frau Adelheid, um der Lüge ein
+Ende zu bereiten. Nein, wie dort auf der Bühne das Dokument wieder
+zusammengeklebt wird, das die Fortsetzung des alten Lebens erfordert,
+so war er zu seiner Frau zurückgegangen, als wäre nichts geschehen, als
+hätte nicht die wahre Erkenntnis ihm eben die Augen geöffnet.</p>
+
+<p>Das Licht flammt auf. Joachim Becker sieht in Adelheids
+tränenüberströmtes Gesicht. Rasch zieht er sie fort, ehe sie noch von
+der Familie mit Gesprächen und Abschiedsworten aufgehalten werden
+können. Sie nehmen irgendeinen Wagen, der vor der Türe steht, und
+fahren nach Hause. Unterwegs trocknet er ihre Tränen und küßt die
+kalten blassen Hände. Wieviel hat er an ihr gutzumachen. Es ist keine
+Pose, keine Lüge, wenn er ihr nun die Hände küßt und sie herzlicher
+behandelt als sonst. Nein, er ist ihr so unendlich dankbar für ihre
+Güte und Geduld. Gehört es nicht als erstes zu seinem neuen Leben, daß
+er ihr die warme Regung seines aufgestörten Herzens verrät?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span></p>
+
+<p>Nie war Frau Adelheid so schmerzhaft glücklich wie in dieser Stunde.</p>
+
+<p>Sie sprechen kein Wort, und erst zu Haus fragt Adelheid schüchtern-zart:</p>
+
+<p>»Darf ich dich zu einer Tasse Tee in meinem Zimmer einladen?«</p>
+
+<p>»Ja«, sagt er mit weicher Stimme, während er ihren treuen Augen dankbar
+begegnet.</p>
+
+<p>Er lehnt gegen den hohen Kamin und blickt in seine Vergangenheit,
+während Frau Adelheid mit stillen Bewegungen den Teetisch bereitet.</p>
+
+<p>Die freundlichen Bilder sind nicht mehr durch falsche Strenge oder
+Spottlust verzerrt. Sie sind hell und sprechen wie Erkenntnisse.
+Irmgard Pohl hält ihm die feste, kameradschaftlich treue Hand hin und
+sagt: ›Wie könnte ich an dir zweifeln? Das darfst du niemals denken!‹
+Und Michael Pohl ist in seiner Erinnerung wieder vertrauensvoll und
+gut zu ihm. Er schlägt ihn auf die Schultern und spricht: ›Ja, dann
+sage ich von heute an du zu dir!‹ In seinen hellen tiefliegenden Augen
+schimmert dabei seine geheime Zärtlichkeit.</p>
+
+<p>Joachim Becker sieht seine Fehler unerbittlich und klar. Sie sagen: Nun
+weißt du wohl, wie wir auszugleichen sind? Ja, das weiß er. Es ist so
+einfach: man ist fortan nur gut zu jedermann, man geht zu zwei Menschen
+und sagt: »Verzeiht!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span></p>
+
+<p>Adelheid ruft ihn an und berührt ihn am Arm. Ihre Augen sind ängstlich
+und traurig, denn sie weiß, daß er mit seinen Gedanken wieder nicht in
+ihrer Nähe weilt.</p>
+
+<p>Er blickt sie ganz verwirrt an. War nicht eben alles so einfach und
+klar? Er lacht bitter auf.</p>
+
+<p>Nein, nichts ist klar, denn das Geschehene ist nicht auszulöschen!
+Und eine Schurkerei bleibt eine Schurkerei. — Was sollte die
+rücksichtslose Wahrheit daran ändern?</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Kran">Der Kran</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-a003" src="images/drop-a003.jpg" alt="A">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>ls im dritten Hafenbecken nun auch ein Wasserspiegel glänzte und an
+den Kais eine Tankanlage für zwei Millionen Liter Benzin errichtet war,
+konnte man endlich sagen, daß hier ein fertiger Hafen sei.</p>
+
+<p>Im Norden ragt der mächtige Getreidespeicher, und schon wird die Frage
+aufgeworfen, ob er auch ausreichen werde. Es steht nur noch nicht fest,
+ob der Mühlenbesitzer Pohl, die Genossenschaft der Brotfabrik oder die
+Hafengesellschaft den neuen Speicher bauen. Diese drei muß man nun in
+einem Atemzuge nennen, denn sie gehören zusammen. Der Kapitän geht zum
+Beispiel zum Nachbarn hinüber und sagt:</p>
+
+<p>»Nun komme ich, um Ihrer Brotfabrik <em class="gesperrt">unseren</em> Speicher anzubieten.
+Vor nicht zu langer Zeit haben Sie uns ausgeholfen.« Und der mächtige
+Herr Pohl nimmt dankend an. Er ist nun ein Faktor, den niemand mehr
+übersehen darf.</p>
+
+<p>Aber bei ihm finden wir nur Getreide, Mehl und bald auch Brot — was
+ist jedoch im Hafen? An seinem Mittelbecken wird alles in Empfang
+genommen, eingelagert und verzollt, was aus dem Lande und aus fernsten
+Erdteilen nur herangeschafft werden kann. Da sind viele tausend
+Oxhoft<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span> Weine aus Frankreich und Spanien, Talg aus Skandinavien,
+Eier aus Holland, Tabak aus Bulgarien, Fleisch, Schmalz und Speck
+aus Amerika, Därme aus China, da sind alle Lebensmittel, die eine
+Riesenstadt braucht: Mehl, Kaffee, Kakao, Zucker, Butter, Öl, und ganze
+Dampferladungen von Heringen werden bis an die Decke der Schuppen
+gestapelt.</p>
+
+<p>Im Süden legen die flachen schweren Tankschiffe an, die Kesselwagen
+rollen hin und her, und wenn man einen Blick auf die große und
+imposante Kohlenverladeanlage wirft, dann glaubt man, in einem der
+berühmten Industriebezirke zu weilen und nicht im einfachen Binnenhafen
+einer großen Stadt, die sich in kurzer Zeit zum Stapelplatz für den
+ganzen Handel des Landes heraufgearbeitet hat.</p>
+
+<p>Nun ist die Mauer zum Gelände der verschollenen Verhüttungsgesellschaft
+gefallen, und die riesigen Freilagerplätze mit ihren Bergen von Kohle,
+Koks, Eisen, Sandsteinen, Zement, Holz und vielem anderen mehr sind
+dorthin verlegt.</p>
+
+<p>Es sieht alles so mächtig und imponierend aus, daß endlich die große
+Eröffnungsfeier veranstaltet werden könnte. Aber es scheint noch nicht
+genug zu sein.</p>
+
+<p>Man will jetzt den Riesenkran aufstellen, der alles in einem
+Binnenhafen Dagewesene überbieten soll. Dann erst dürfen die Gäste
+kommen. Wie man einen besonders schönen Blumenstrauß für den Ehrengast
+auf den Tisch stellt, so wird<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> der Kran für die erste öffentliche
+Besichtigung in den Hafen gepflanzt.</p>
+
+<p>Was weiß ein Laie von einem Kran? Wer aber zur Hafengesellschaft
+gehört, ist von der Wichtigkeit des Ereignisses erfüllt, als das
+Ungetüm nach mühevoller Arbeit endlich dasteht und seine Leistungen
+vollbringt.</p>
+
+<p>»Das ist ein Bulle, was?« sagt Karle Töndern bewundernd.</p>
+
+<p>Bodenmeister Ulrich meint: »In den Seehäfen, bei den großen Werften,
+gibt es noch andere Dinger. Die können einen ganzen großen Ozeandampfer
+heben.« Er weiß zwar nicht genau, ob das stimmt, aber es macht einen
+guten Eindruck.</p>
+
+<p>»Na,« sagt Schiffer Jensen, »meinen Kahn nimmt der jedenfalls mit
+Leichtigkeit hoch.« So wenig Respekt hat er vor seinem Kahn.</p>
+
+<p>Wer hätte gedacht, welche unheilvolle Bedeutung dieser Riesenkran,
+neben dem die anderen zahlreichen Kranarme wie Kinder wirken, noch
+erlangen sollte?</p>
+
+<p>Es war eine unglückliche Idee von Frau Adelheid, dem schwarzen Koloß,
+den ihr Bruder nicht genug preisen konnte, einen Besuch abzustatten.
+Als einen Wahnsinn jedoch bezeichnete man es später, daß sie auf
+diesen Weg ihre kleine Tochter mitnahm, die gerade laufen konnte und
+mit ihren runden Augen recht eigenartig in die Welt guckte. Wer diesen
+traurigen Ausdruck, der das hübsche Kindergesichtchen<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> so traumhaft
+verschleierte, gekannt hatte, meinte später, dem Kinde Frau Adelheids
+sei eine Ahnung seines fürchterlichen Geschicks schon von Geburt an
+mitgegeben.</p>
+
+<p>Kann man es aber der tapferen kleinen Frau Joachim Beckers verdenken,
+daß sie ihrer Tochter einen Eindruck von dem gigantischen Werk ihres
+Vaters vermitteln wollte? Sie verstand zwar noch nichts davon, sie
+plauderte in einem reizenden Kauderwelsch und war so ahnungslos, wie
+man es mit zwei Jahren noch ist. Doch sie könnte zuweilen fragen, ach,
+Kinder fragen so oft, sie fragen zum Beispiel nach ihrem Vater. Dann
+könnte sie also antworten:</p>
+
+<p>»Der ist dort, wo wir neulich waren, im Hafen, wo das viele Wasser ist
+und der große, große schwarze Zeiger!« Das würde sie verstehen. Darum
+nahm sie ihre kleine Tochter mit, als der vom Hafen fiebrig erfüllte
+<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann ihr keine Ruhe mehr ließ.</p>
+
+<p>Felix Friemann ist mit allen seinen Gedanken und Gefühlen im Hafen.
+Er könnte in einem prächtigen schloßartigen Hause bei seinen Eltern
+wohnen, er hätte sogar das Geld, auf einer Jacht im Mittelmeer zu
+kreuzen, aber er schlägt seine Sommerwohnung im Hafen auf und läuft
+immer noch einer kleinen standhaften Fürsorgeschwester nach. So ist der
+Mensch mit allen seinen Widersprüchen!</p>
+
+<p>Schließlich muß er wohl selbst am besten wissen, was ihm gefällt. Es
+macht ihm nun einmal Spaß, im Sommer eine Stunde früher aufzustehen und
+vor der Hafenwirtschaft zu<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> promenieren, damit er als erster der frisch
+gewaschenen und geputzten Schwester Emmi mit den Lackschuhen begegnet.</p>
+
+<p>Zuweilen fällt doch ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn ab,
+denn an manchen Tagen funkelt die Sonne gar zu blank über dem Hafen mit
+seinem Wasser und der herrlichen Weite, so daß eine Fürsorgeschwester
+ihren Frohsinn siegen läßt.</p>
+
+<p>Dann kann sie ein Liedchen summen oder die Arme recken, daß alle ihre
+zierlichen Formen sich unter dem hellen Kleide abzeichnen, und in den
+Frühlingstag hineinjubeln:</p>
+
+<p>»Ach, es gibt nichts Schöneres als Sonne im Hafen!«</p>
+
+<p>Das ist ihr zweiter Hafenfrühling, und drei Jahre ist es her, seitdem
+an einer langen Tafel unter den Linden der erste Spatenstich gefeiert
+wurde. Daran hatte Schwester Emmi noch nicht teilgenommen, aber für das
+Fest der Einweihung erträumt sie sich schon ein Kleid, einen Hut und
+Schuhe, die den Staat aller vornehmen Damen in den Schatten stellen
+sollen. Die Frau des Generaldirektors mit eingerechnet, denn Schwester
+Emmi hat gelegentlich festgestellt, daß Frau Adelheid ungeschickte Füße
+habe.</p>
+
+<p>Zuweilen kann Schwester Emmi zwar noch ihrem treuen Anbeter, dem
+<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, schnippische Antworten geben und ihn streng
+ersuchen, sie in Ruhe zu lassen. Sie ist sogar so grausam, sich über
+seinen Sprachfehler lustig zu machen.</p>
+
+<p>»Ist der Kapitän schon da, der Kapitän —« fragt sie ihn zum Beispiel
+mit spöttischem Augenblitzen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span></p>
+
+<p>Er aber blickt sie nur mit seinen Friemannschen Lichtern traurig an,
+und sein gesenkter runder Kopf auf dem langen dünnen Körper ist dann
+wahrhaftig so trostlos wie eine Gaslaterne, die am hellichten Tage
+brennt.</p>
+
+<p>Aber einmal sagte Schwester Emmi: »Bitte sehr, wenn Sie etwas von mir
+wollen — ich bin noch unverheiratet!«</p>
+
+<p>So, das war geradeheraus gesagt! Es fiel ihr nicht ein, sich aus purer
+Gutmütigkeit noch einmal zu opfern. Dafür waren ihre Erfahrungen zu
+teuer erkauft.</p>
+
+<p>Warum sollte sie nicht Frau <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann werden, wenn sie seiner
+Liebe würdig war? Ist sie vielleicht geringer oder weniger klug als
+diese lächerliche Bohnenstange? Oh, sie hat so wenig Achtung vor ihm,
+wie man es von der Frau, die einen Mann seines Geldes wegen heiratet,
+nur erwarten kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß sie aus diesem
+Manne noch etwas machen könnte, wenn es einmal soweit wäre. Sie würde
+schon seine Schätze würdig repräsentieren. In solch einem Anzuge und
+mit diesen Krawatten dürfte er dann auf keinen Fall mehr herumlaufen!
+Was ihren Toilettenaufwand aber betraf — Nun, das fällt in das Gebiet
+ihrer heimlichsten Träume, die sie keinem offenbart.</p>
+
+<p>Ob der <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann nicht eine gewisse Absicht damit verband,
+wenn er Frau Adelheid durchaus in den Hafen lotsen wollte und noch dazu
+mit dem Kinde? Es wäre eine so zwanglose Gelegenheit, sie mit Schwester
+Emmi bekanntzumachen,<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> um einen Bundesgenossen in der Familie zu haben,
+denn wenn er sich Schwester Emmi neben seinen Eltern vorstellt, so wird
+ihm doch himmelangst. Felix Friemann hat durchaus alles berechnet, er
+denkt sogar daran, daß Schwester Emmi bei Kindern sehr beliebt ist; sie
+würde sich also im Verkehr mit Frau Adelheids kleinem Mädchen besonders
+vorteilhaft ausnehmen.</p>
+
+<p>So kommt Frau Adelheid in den Hafen und zum großen unerbittlichen Kran.</p>
+
+<p>Der Kapitän empfängt sie am Wagenschlag und hilft ihr beim Aussteigen.
+Dann hebt er ihre kleine Tochter heraus. Er faßt sie behutsam um den
+schmalen Körper und spürt ihren frischen Atem, den unvergleichlich
+liebreizenden Duft gepflegter Kinderhaut.</p>
+
+<p>Was mochte in diesem steifbeinigen Kapitän wohl vorgehen, als das zarte
+Gesicht dabei seinen Kopf leise streifte? Ob er nicht auch zuweilen an
+weiche Kinderhände gedacht hatte, als er im letzten Winter so einsam
+und frierend hier hockte und so viel Hoffnungen auf den neuen Frühling
+und das Ende einer langen Reise setzte?</p>
+
+<p>Frau Adelheids Tochter in dem weißen duftigen Kleidchen begrüßt den
+Onkel Kapitän mit einem Knicks, der ihre Beine bis zum kurzen Saum des
+Spitzenröckchens verschwinden läßt. Sie kann fast von der Erde nicht
+wieder hochkommen. Dabei sind ihre runden dunklen Augen so ängstlich in
+die Höhe gerichtet, daß der Kapitän mit seinen spröden Händen<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> zärtlich
+über ihre seidenweichen Locken fährt. Dieser einsame und gesottene
+Junggeselle.</p>
+
+<p>Da kommt Felix Friemann gestikulierend an. Das ist eine vertraute
+Gestalt für die Kleine. Sie tappt ihm entgegen, und er hockt nieder, um
+sie mit seinen langen Armen aufzufangen.</p>
+
+<p>So, nun hat er sie in seinem Reich. Er bittet sich die Erlaubnis aus,
+die Nichte führen zu dürfen und trippelt mit ihr davon. Er muß sich
+ein wenig bücken, damit sein Arm bis zu dem winzigen Geschöpfchen
+herabreicht, und stolpert bei den zierlichen Schritten fast über seine
+dünnen Beine.</p>
+
+<p>Die Schiffer auf den Kähnen und die Hafenarbeiter stoßen einander an
+und ziehen die Gesichter krampfartig zusammen. Felix Friemann nickt
+ihnen zu und lacht. Da lachen sie auch. Und die kleine Tochter des
+Generaldirektors jauchzt und findet kein Ende mit ihren Fragen.</p>
+
+<p>Frau Adelheid und der Kapitän folgen langsam nach. Zuweilen bleiben sie
+stehen, um einiges zu besichtigen.</p>
+
+<p>Felix Friemann geht nun schon weit voraus. Er kann es nicht erwarten,
+der Kleinen Schwester Emmi und den großen Kran zu zeigen.</p>
+
+<p>»Ach,« sagt Frau Adelheid zum Kapitän, als er ihre Tochter lobt, »ich
+wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich sie nicht
+hätte.«</p>
+
+<p>Sie bleiben stehen und plaudern noch über etwas, das Frau Adelheid
+sehr bewegt. Sie hat sich im geselligen Verkehr,<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> der sie oft mit dem
+Kapitän zusammenführte, so vertrauensvoll an ihn angeschlossen, daß sie
+ihm manches Geheimnis ihres tapferen Herzens preisgibt.</p>
+
+<p>»In letzter Zeit«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln, »zeigt er viel mehr
+Interesse für sie. Er wird es wohl nie verschmerzen, daß er keinen Sohn
+hat und daß sie so gar nicht nach ihm geartet ist, aber denken Sie: er
+setzt sich mit ihr auf den Teppich und läßt sich an den Haaren zupfen
+und die Puppen zeigen. Neulich hat er eine Eisenbahn und ein kleines
+Schiff gekauft. Das hat er ihr dann alles erklärt, ach wissen Sie, so
+ungeschickt für Kinder, sie hat gar nichts verstanden und machte bald
+alles entzwei. Aber es war so schön, wie er da mit ihr saß und sprach
+und sprach, daß ich — ach, jetzt werden Sie mich sentimental finden.
+Ich mußte rasch hinausgehen und weinen.«</p>
+
+<p>Der Kapitän schweigt.</p>
+
+<p>»Manchmal«, erzählt sie weiter, »ist er zu lebhaft für sie. Er macht
+zu heftige Bewegungen oder er wird ungeduldig, weil sie ihn nicht
+versteht, dann weint sie und will von ihm fort. Das trifft ihn immer so
+hart, daß er schweigend in sein Zimmer geht und niemand sprechen mag.
+Zuweilen kann er das tagelang nicht vergessen, und ich zerbreche mir
+den Kopf, wie die Kleine ihn wieder versöhnen könnte.«</p>
+
+<p>»Aber es ist doch noch ein unvernünftiges Kind,« meint der Kapitän
+tröstend, »man darf ihm doch keinen Vorwurf machen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span></p>
+
+<p>»Nein, das darf man nicht.«</p>
+
+<p>»Ich glaube,« sagt der Kapitän langsam, während sein Blick Frau
+Adelheids blasses Gesicht mitleidsvoll streift, »ich glaube, ihm fehlt
+die Güte.«</p>
+
+<p>»Nein!« protestiert Frau Adelheid lebhaft, »nein — die Güte fehlt ihm
+nicht!«</p>
+
+<p>Der Kapitän sieht bestürzt zu Boden. Hat er nicht zum erstenmal seinen
+Platz in der Mitte verlassen?</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie mir,« sagt er leise, »Sie müssen es wohl besser wissen
+—«</p>
+
+<p>Indessen erklärt Felix Friemann dem Kinde den großen Zeiger, der in
+weitem Bogen seine Lasten herumführt und neben ihnen absetzt.</p>
+
+<p>»Sieh, da oben ist der Mann, der ihn lenkt. Er drückt auf einen Hebel,
+und da wandert das schwarze Ungeheuer wieder leer zum Schiff zurück.«</p>
+
+<p>Aber seine Nichte hat kein Interesse dafür. Vielleicht fürchtet sie
+sich auch vor dem Kran. Jedenfalls zieht sie das Gesicht weinerlich
+herab. Nicht einmal Schwester Emmis Überredungskunst gelingt es,
+ihr einen Begriff von der Großartigkeit der Hafeneinrichtungen
+beizubringen. Sie muß sich etwas anderes ausdenken, bis Frau Adelheid
+mit dem Kapitän nachkommen und ihre Tochter in Empfang nehmen wird.</p>
+
+<p>»Ach —,« sagt sie sehr wichtig, »ich habe ja etwas ganz Reizendes für
+dich. Das will ich dir sofort bringen —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span></p>
+
+<p>Die Kleine blickt ihr voll stummer Erwartung nach. Schwester Emmi kann
+einen gar zu verheißungsvollen Ton anschlagen.</p>
+
+<p>»Wohin, Schwester eins?« fragt <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, während er
+hinter ihr herrennt. Er hat sich so daran gewöhnt, Schwester Emmi
+nachzulaufen, daß er nun sogar das Kind im Stich läßt, um zu erfahren,
+wohin sie geht.</p>
+
+<p>Das kleine Geschöpf trippelt, sich selbst überlassen, wie ein verirrter
+Vogel umher und merkt nicht, was über ihm geschieht. Es sieht drüben
+an der Kaimauer etwas Helles aufblitzen und eilt hin, es sich zu
+holen. Die Sonne hat sich in ein paar Wasserpfützen gespiegelt, aber
+nun sind ihre Strahlen verdeckt, denn der große Arm des Drehkrans ist
+stehengeblieben und läßt langsam seine mächtige breite Ladung sinken.
+Vielleicht glaubt die Kleine, daß eine große Wolke über den Himmel
+ziehe. Sie setzt sich auf den sonnengewärmten Steinen des breiten Kais
+nieder und hält nach geeigneten Spielen Umschau. Doch es wird immer
+dunkler über ihr, und plötzlich, als ahne sie die Gefahr, beginnt sie
+leise zu weinen.</p>
+
+<p>Ein Arbeiter schreit mit rauher Stimme auf. Er stolpert über einen
+Kameraden und reckt beide Arme, um das Kind zu packen, die breite
+schwere Ladung anzuhalten oder was er sonst in seinem Wahnsinn zu
+tun gedenkt. Da hören auch die anderen einen kläglichen verlorenen
+Kinderschrei, und die Last hat sich herabgesenkt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span></p>
+
+<p>Heisere Kehlen rufen zu dem Manne im Portal hinauf, die Ketten beginnen
+wieder zu arbeiten; Felix Friemann packt die Männer bei den Schultern,
+schafft sich zu der verhängnisvollen Stelle Zutritt und erlebt als
+erster den grauenvollen Anblick, als der ungeheure, von schwarzen
+Ketten umschlungene Kasten langsam wieder hochgewunden wird.</p>
+
+<p>Schwester Emmi stürzt mit bleichem Gesicht herbei, sie ahnt, daß Felix
+Friemann eben in rasendem Lauf sie streifte, sehen konnte sie ihn
+nicht. Sie hält sich am Arm eines Arbeiters fest und legt die Hand vor
+die Augen.</p>
+
+<p>Frau Adelheid hört die Rufe, sie sieht ihren Bruder wie einen
+Besinnungslosen stumm vorbeieilen — der Kapitän und sie laufen in
+dumpfer Ahnung zu der Menschenansammlung. Niemand hätte diese Eile und
+Kraft vermutet, die Frau Adelheid vorwärts stößt — durch die Mauer der
+Arbeiter zum fürchterlichen Platz unter der schwebenden Last des Krans.</p>
+
+<p>Sie fällt steif gegen die hilflos blickenden Männer zurück. Man fängt
+sie auf, und nun kann man einer Ohnmächtigen helfen, ihr Kind wagt
+keine Hand mehr zu berühren.</p>
+
+<p>Schwester Emmi wird gerufen. Sie lehnte mutlos gegen die Mauer der
+Lagerhalle. Nun gibt sie Anordnung, Frau Adelheid zur Kantine zu
+tragen, denn hier sind keine Belebungsmittel, und es ist gut, wenn Frau
+Adelheid beim Erwachen den Kran nicht mehr sieht. Der Kapitän stimmt
+ihr mit wortlosem Nicken zu. Die Fürsorgeschwester kann wieder einmal
+zuerst klar denken und helfend eingreifen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span></p>
+
+<p>Felix Friemann fällt ihr auch wieder ein. Sie blickt sich um. Da sieht
+sie ihn weit drüben an der anderen Seite des Hafenbeckens in das
+Verwaltungsgebäude laufen.</p>
+
+<p>Hat er so viel Besinnung behalten, daß er nach einem Arzt telephoniert?
+Immer wieder blickt sie auf das Haus, während sie den Männern folgt,
+die Adelheid tragen.</p>
+
+<p>Plötzlich reißt sie die Arme hoch, schreit:</p>
+
+<p>»Da — da —«</p>
+
+<p>Der Kapitän, die Männer schrecken auf, sie folgen Schwester Emmis Blick
+bis oben zum Turm des Verwaltungsgebäudes. Dort, im zehnten Stockwerk,
+auf der Balustrade steht eine hohe schmale Gestalt, jetzt hängt sie in
+der Luft —, und sie schließen alle die Augen, um nichts mehr zu sehen.
+— — —</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Das_Fieber">Das Fieber</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-a005" src="images/drop-a005.jpg" alt="A">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>delheid vernimmt die besorgt fragende Stimme der Fürsorgeschwester.
+Aus weiter Ferne treffen sie gedämpfte Laute: Wasserrauschen,
+Stuhlrücken, die leisen Anordnungen des Kapitäns; Fragen, deren Sinn
+sie nicht erfaßt.</p>
+
+<p>Jemand sagt: »Aber sie hat doch die Augen geöffnet.« Da läßt sie die
+Lider sinken, wie man im Halbschlaf zu neuer Ruhe sich bereitet, wenn
+Stille und Finsternis der Nacht in das Unterbewußtsein drangen.</p>
+
+<p>Das Surren eines Motors, Stimmengewirr, Wagenrollen wecken sie
+wiederum, sie fühlt harte Polster unter ihrem Rücken und wird doch wie
+auf Wellen sanft bewegt. Heftiges Knattern, das vertraute Läuten einer
+Straßenbahn lassen sie aufschrecken. Sie schnellt hoch und findet sich
+sitzend im Auto, gegenüber dem Kapitän, der sie mit ausgestreckten
+Armen hält und auf die Polster zurücklegt. Schwester Emmis Stimme ist
+ganz nahe an ihrem Ohr. Dann verschwindet wiederum alles in der Stille
+der Ohnmacht.</p>
+
+<p>Zum drittenmal erwacht sie. Verhaltenes Schluchzen, eine ganz ruhige
+Stimme umgeben sie. Weiche Kissen fallen auf<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> ihre Glieder, und
+wohltuende Wärme steigt auf. Sie vernimmt die Stimme der Mutter und ihr
+Weinen.</p>
+
+<p>Sie will rufen, aber sie hat keinen Ton in der Kehle, sie will sich
+aufrichten, aber sie ist gebannt wie in spukhaften Träumen, da
+Verfolgung und Angst lähmend den Körper hemmen.</p>
+
+<p>»Es ist eine einfache Operation, gnädige Frau«, hört sie wieder
+erschreckend laut. Noch einmal versucht sie, sich zu stemmen, den
+Schleier über ihrem Bewußtsein zu zerreißen. Aufzuspringen —</p>
+
+<p>Stöhnen der Mutter und jetzt tonlos, leise der Vater: »Sie sind sicher,
+daß der Schrecken es unterbrochen hat und daß eine Operation nötig ist?«</p>
+
+<p>Sie hat jedes Wort verstanden, sie erfaßt den Sinn und liegt dennoch
+ausgestreckt, hilflos; hat keinen Ton, keine Bewegung. Sie wartet auf
+die Fortsetzung des Gespräches. War nicht eine Frage gestellt? Doch es
+folgt keine Antwort.</p>
+
+<p>Dröhnend kehrt abermals kurzes Bewußtsein zurück.</p>
+
+<p>»Noch heute. Ich habe den Krankenwagen schon bestellt.« Wieder der
+ruhige laute Klang inmitten des Brausens in ihren Ohren.</p>
+
+<p>»Sie hat die Augen geöffnet«, sagt eine vertraute Stimme.</p>
+
+<p>»Mutter —« Sie sieht sekundenlang das schmerzverzerrte, besorgte
+Gesicht der Mutter; groß, blaß, mit wirren Haaren<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> Da fühlt sie ihren
+Körper hart in die Kissen fallen, und alles ist ausgelöscht.</p>
+
+<p>Dann rollen Räder, ein Motor singt, rhythmisch surrend.</p>
+
+<p>»Ach Sonne und die grünen Blätter«, flüstert die Kranke erwachend.</p>
+
+<p>»Ja, mein Kind, es ist Sommer!«</p>
+
+<p>Sie blickt sich um und ist ganz wach. Weiße Wände umgeben sie, ein
+Fenster leuchtet oben an der niedrigen Wand. Bäume, in lauten Straßen
+gerade aufgerichtet, eilen vorbei.</p>
+
+<p>»Wohin fahren wir?«</p>
+
+<p>»In die Klinik, mein Kind.«</p>
+
+<p>»Ist das ein Krankenwagen?«</p>
+
+<p>»Ja.«</p>
+
+<p>»Es ist schön mit der Sonne draußen und den Bäumen.«</p>
+
+<p>»Erkennst du mich, Adelheid?«</p>
+
+<p>»Ja, Mutter.«</p>
+
+<p>»Wir sind da«, hört sie eine fremde Stimme. Krankenschwestern beugen
+sich zu ihr herab. Sie fühlt sich hochgehoben, durch die warme Luft
+einer hellen Straße getragen.</p>
+
+<p>Ganz deutlich verfolgt sie nun den Weg durch die dämmrige Kühle des
+Flurs. Türen werden geöffnet, ein Fahrstuhl bewegt sich aufwärts. Es
+ist schön, still zu liegen, ohne Gefühl, ohne Gedanken. Nur die Augen
+sehen, die Ohren hören.</p>
+
+<p>»Wie kühl sind die Betten, Mutter«, sagt sie, behaglich ausgestreckt,
+ohne Wunsch und Willen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span></p>
+
+<p>Der Arzt beklopft ihre Wangen mit väterlicher Geste.</p>
+
+<p>»Na also«, vernimmt sie seine gesunde kräftige Stimme. »Wir wollen ihr
+bis morgen früh Ruhe lassen. Merken Sie vor, Schwester, als erste.«</p>
+
+<p>Dann versinkt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.</p>
+
+<p>Sie erwacht von aufsteigender Kälte in ihren Gliedern. Nacht umgibt
+sie: Finsternis und Stille. Sie schließt die Augen und versinkt von
+neuem in Halbschlaf, indes das nervöse Frösteln sich unaufhaltsam
+ausbreitet, bis im heftigen Schüttelfrost ihre Lippen zittern, die
+Zähne aufeinanderschlagen.</p>
+
+<p>Ihre Finger sind ohne Gefühl, wie vereist. Sie tastet zur Seite, als
+suche sie Wärme, Beistand und stößt hart gegen die gestrichene Wand.</p>
+
+<p>Plötzlich weiß sie, daß sie allein im kahlen Zimmer eines Krankenhauses
+liegt. Sie entsinnt sich, daß ihre Tochter tot ist und daß man ihr
+morgen früh das zweite Kind nehmen wird. Vielleicht ist es der von
+ihnen beiden so sehnsüchtig erwartete Sohn. Nun ist er in ihr gestorben
+und breitet die Eiseskälte in ihrem kranken Körper aus.</p>
+
+<p>Sie schreit laut auf, ihre Stimme hallt von den kahlen Wänden wider und
+kommt kläglich, leer zu ihr zurück.</p>
+
+<p>Helles Licht blendet ihre weit aufgerissenen Augen. Eine Schwester
+betastet sie, fühlt ihren Puls.</p>
+
+<p>»Ich gebe Ihnen etwas Heißes zu trinken, gnädige Frau. Dann werden Sie
+wieder warm.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span></p>
+
+<p>Die klare, gesunde Stimme, die körperliche Nähe eines aufrechtstehenden
+und schreitenden Menschen, das harte Licht über Stuhl, Tisch und Wänden
+schrecken den gräßlichen Nachtspuk zurück. Die Kranke sieht sich wieder
+als sorgsam betreute Patientin. Der Arzt vom Nachtdienst erscheint und
+blickt ihr in das tränenüberströmte Gesicht. Er stellt ohne Staunen
+fest, daß leichtes Fieber eingesetzt habe.</p>
+
+<p>»Sie sollen sehen, wie Ihnen der heiße Tee gut tun wird«, sagt er
+leise, mit sonorem Klang. Sein Gesicht ist jung, von straffer Haut
+überspannt. Die Brauen sind wie ein gerader Strich über schmalen
+dunklen Augen. Sie erinnern Adelheid an ihren Mann.</p>
+
+<p>So glatt war damals seine Stirn, als noch niemand ihre Liebe erriet, so
+strahlend und dunkel blickten seine Augen, von den Lidern bis zu einem
+Spalt verdeckt, wenn er sie lächelnd grüßte; sie, die Tochter seines
+Chefs, die seine Nähe suchte.</p>
+
+<p>Die Schwester stützt ihren Kopf, und sie schluckt gierig den heißen
+Trank, den sie brennend durch den erkalteten Körper strömen fühlt.</p>
+
+<p>Sie fällt in die Kissen zurück, der Arzt lächelt ihr abschiednehmend
+zu, die Tür klappt leise. Sie blickt erschreckt auf. Gedämpftes Licht
+ist im Raum, die Schwester sitzt still neben der verhüllten Lampe mit
+einem Buch auf den Knien.</p>
+
+<p>»Sie müssen versuchen, zu schlafen, gnädige Frau«, ruft die Schwester
+aufmerksam herüber.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span></p>
+
+<p>Ihr Kopf glüht; prickelnd beginnen ihre Glieder zu brennen, wie in
+erster Wärme nach abtötendem Frost.</p>
+
+<p>Eine Erinnerung steigt auf: sie liegt frierend im Hotelzimmer und
+fühlt gleichfalls mählich leichtes Fieber im erstarrten Körper sich
+ausbreiten ...</p>
+
+<p>In Arosa war es, in jenem schneereichen Januar, da sie und Joachim
+Becker ihre erste gemeinsame Reise unternahmen, ihre Hochzeitsreise.
+Lachend, in munteren Gesprächen promenierten die sorglosen,
+lebensfrohen Menschen vor den großen Hotels. Der Schnee knirschte unter
+ihren Schritten, er leuchtete ringsum; über den Dächern im Tal und mit
+blauem Schimmer von den Bergen. Die Sonnenstrahlen fielen wärmend durch
+die klare Luft. Bobsleighs sausten lautlos in der Ferne zu Tal.</p>
+
+<p>Junge Mädchen in bunten Jacken, ihre Begleiter mit rotbraunen
+Gesichtern über weißen Sweatern zogen die Rodelschlitten hinter sich
+her, hatten die Skier geschultert und eilten zu den Sportplätzen.
+Kunstläufer schleiften ihre schwungvollen Bogen über das spiegelnde Eis.</p>
+
+<p>Hier hatte Adelheid Friemann einst mit ihren Eltern still beobachtend
+gestanden und davon geträumt, wie sie mitleben, mitjagen würde auf den
+weißen Bahnen, unter lauten jubelnden Schreien, wenn auch sie einen
+Begleiter an der Seite hätte. Groß mußte er sein, schön, energisch.
+Damals schon hatte sie an den Prokuristen ihres Vaters gedacht, den sie
+nicht vergessen konnte, seitdem sie ihn einmal auf dem<span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span> langen Korridor
+im ernsten Geschäftshaus hatte vorbeieilen sehen.</p>
+
+<p>Und dann stand sie an derselben Rodelbahn, Joachim Becker an ihrer
+Seite. Ihr Mädchentraum, ihr sehnlicher Wunsch war erfüllt. Aber sie
+waren wieder nur stille Beobachter. Keine überschäumende Lebensfreude
+trieb sie an. Joachim Becker sah mit spöttischen Blicken in das
+Getriebe und dachte an seine Arbeit.</p>
+
+<p>»Wollen wir uns nicht auch einen Schlitten nehmen?« hatte sie
+schüchtern, mit verhaltener mädchenhafter Freude am Spiel gefragt.</p>
+
+<p>»Nein,« hatte er fast brüsk erwidert, »ich habe keine Neigung, mich mit
+diesen Nichtstuern herumzutollen.«</p>
+
+<p>Sie mußte zugeben, daß er zu ernst, zu bedeutsam für diese kindischen
+Spiele war. Ihre Liebe stellte sich willig auf seine Gedankengänge ein,
+und sie begann, die flirtende Jugend gleichfalls mit Überlegenheit zu
+kritisieren. Aber sie fühlte sich einsam und nicht mehr jung.</p>
+
+<p>Ihr Mann bekam seine Arbeit nachgesandt. Täglich war sein erster Gang
+zum Postempfang. Er nahm die dicken Briefe mit den Plänen und den
+Offerten für den Hafenbau und ging in sein Zimmer. Sie stellte sich
+indessen ans Fenster und sah auf die sorglose fröhliche Jugend herab.</p>
+
+<p>Die lauten Stimmen, die harten Schritte der Sportschuhe in den
+Korridoren störten den jungen Direktor in seiner Arbeit. Er wurde
+nervös und reizbar.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span></p>
+
+<p>»Wollen wir uns nicht auch Skier geben lassen und Ausflüge machen,
+um dem Lärm zu entgehen?« fragte sie wieder, als er über die Störung
+ungehalten war.</p>
+
+<p>»Du weißt anscheinend nicht, daß ich in meinem Leben noch keine Zeit
+hatte, mich mit diesem Sport abzugeben. Das ist etwas für diejenigen,
+die in jungen Jahren genießen und nicht arbeiten«, hatte er, nicht ohne
+Bitterkeit, geantwortet.</p>
+
+<p>»Aber du könntest es doch jetzt lernen«, warf sie ein.</p>
+
+<p>Wie, hier sollte er sich vor diesem Volk produzieren und sich auslachen
+lassen? Sie glaube wohl selbst nicht daran, daß er dazu fähig wäre.</p>
+
+<p>Auch das sah sie schließlich vollkommen ein.</p>
+
+<p>Doch eines Tages hatte sie die drückende Stille und Enge ihres Zimmers
+nicht länger ertragen. Die hellen Stimmen vor den Fenstern lockten;
+sie galten nicht ihr. Sie hatte immer wieder die Briefe ihrer Mutter
+gelesen, die Mitteilungen lebenslustiger Freundinnen, sie hatte
+versucht, sich in Bücher zu versenken, indes ihr Mann im Nebenraum
+nervös arbeitete und es nicht erwarten konnte, wieder zu Hause zu
+sein, in seinem Hafenterrain, wo man die Häuser bereits abriß und die
+Mehrzahl der Bäume fällte, um seinem Werke Platz zu machen.</p>
+
+<p>Sie vernahm seine ruhelosen Schritte, sie wußte, welches Opfer er ihr
+brachte, indem er die für die Hochzeitsreise festgelegte Zeit hier in
+Ungeduld verlor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span></p>
+
+<p>Da war sie trotzig zu ihm hineingegangen. Sie hatte ihn auffordern
+wollen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Heftige Vorwürfe
+sollten ihn für den Fall der Ablehnung treffen. Doch als sie ihn
+mit soviel Ernst und Eifer in seine Arbeit vertieft sah, sagte sie
+bescheiden:</p>
+
+<p>»Du kannst mich wohl jetzt nicht begleiten?«</p>
+
+<p>Und um seinen Kampf zwischen Pflicht und Wunsch zu beenden, war sie
+allein hinausgegangen, zu den jungen, in Gemeinsamkeit fröhlichen
+Menschen.</p>
+
+<p>Sie ließ sich Schneeschuhe geben und eilte scheu durch die belebten
+Promenaden zu den Abhängen.</p>
+
+<p>Aber die große Stille hatte ihr nicht die gewünschte Harmonie gegeben.
+Bitterkeit überfiel sie.</p>
+
+<p>Mußte sich in solchen Stunden nicht Mißtrauen einschleichen? Der
+Gedanke lag nicht fern, daß er sie nur ihres Geldes wegen genommen
+hatte, weil sie ihn so hingegeben liebte. Sie konnte ihre Gefühle von
+jeher schlecht verbergen.</p>
+
+<p>Die Eltern hatten sie wohl warnend darauf aufmerksam gemacht, daß
+diese Möglichkeit gegeben wäre. Sie verschwiegen ihr auch nicht, daß
+er Beziehungen zu einer anderen, gleichfalls vermögenden jungen Dame
+unterhielt.</p>
+
+<p>Nahm er denn ihren Reichtum in Anspruch? Nein, er ging in seinen alten
+Kleidern umher, die er schon trug, als sie ihn kennenlernte. Gewiß,
+sie waren nicht schlecht. Doch er hätte sich diesem internationalen
+Publikum anpassen<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> können, damit er nicht aus dem Rahmen fiel. Er blieb
+bescheiden in seinen Ansprüchen. Er sehnte sich von diesem Platz der
+Begüterten fort. Die Table d'hote störte ihn, der ganze Reichtum war
+ihm offensichtlich lästig. Er war der Mann der Arbeit geblieben.</p>
+
+<p>Es ließ ihn auch gleichgültig, daß die Frauen ihm oft und lange
+nachsahen. Nur Adelheid haben diese Blicke stets in ungewöhnlichem Maße
+bewegt, obgleich ihr Anteil an Joachim Becker dadurch weder größer noch
+geringer wurde. Sie ließen ihre Liebe sehnsüchtiger und schmerzlicher
+aufflammen.</p>
+
+<p>So hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, während sie die Anhöhen
+erklomm und von den schrägen Flächen herabglitt. Die Sonne senkte sich
+plötzlich. Die Berge in der Ferne verschwammen. Erste Lichter flammten
+auf. Ihre Füße wurden müde und schwer. Kaum konnte sie noch die Höhe
+erklettern, und dann glaubte sie, die Richtung zu verlieren.</p>
+
+<p>Sie schnallte die Schneeschuhe ab, als sie endlich auf einen
+ausgetretenen Weg gelangte, denn sie vermochte diese Last nicht mehr
+zu heben. Den Versuch, sie auf der Schulter zu tragen, gab sie bald
+auf. Sie warf sie in den Schnee. Ihre Beine waren nun befreit, aber wie
+abgestorben. Sie begann zu frösteln, die Zähne schlugen aufeinander —
+wie in dieser Nacht, da die Erinnerungen wieder lebendig werden.</p>
+
+<p>Wie jetzt die Wärme in ihrem Körper sich brennend ausbreitet, das Blut
+in die Schläfen drängt und ihre Mundhöhle ausdörrt, so hatte sie damals
+im fremden Hotelzimmer<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span> gelegen, am Anfang ihrer Ehe, als die große
+Einsamkeit begann.</p>
+
+<p>Ihre Gedanken arbeiten unablässig weiter. Sie liegt mit geschlossenen
+Augen da, die Glieder gerade ausgestreckt, die Arme eng an den Körper
+gepreßt. Die Kissen lasten wie ungeheure luftgefüllte Volumen dennoch
+schwer auf ihr, so daß sie sich nicht zu bewegen vermag. Sie sinkt
+immer tiefer und schwerer hinab und glaubt, die Matratze müsse unter
+ihrer Last brechen.</p>
+
+<p>Sturzbachgleich fallen die Erinnerungen in ihr fieberndes Hirn. Alle
+einsamen Stunden rotten sich zusammen, sie gewinnen phantastische
+Formen, sie werden gleichsam körperlich und klagen den großen
+Schuldigen an: den Hafen!</p>
+
+<p>Der Hafen mit seinen bleckenden kalten Wasserspiegeln und mit dem
+grausamen schwarzen Kran! Seine Eisenarme wachsen ins Unermeßliche, sie
+recken sich ihr entgegen.</p>
+
+<p>Sie haben ihr Joachim Becker genommen, sie haben ihr die Tochter
+entrissen, sie verlangen nach dem zweiten Kinde, das sie tot in ihrem
+kranken Körper birgt.</p>
+
+<p>Sie schreit wiederum laut auf und fühlt, wie ihr eigener Ruf sie in
+ihrer Glut fröstelnd erstarren läßt. Fahles Morgenlicht umgibt sie,
+ihre Schultern werden sanft hochgehoben. Der Rand eines Glases ist vor
+ihren Lippen. Sie schlürft eine bittere Flüssigkeit langsam herab und
+blickt in das graue übernächtige Gesicht der Krankenschwester.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span></p>
+
+<p>»Der Hafen«, flüstert sie entsetzt und liegt wieder ausgestreckt, allen
+Schrecknissen neuer Fieberphantasien preisgegeben.</p>
+
+<p>Aber mählich beruhigt sich ihr krankes Blut, und sekundenlang erhellt
+vollkommene Klarheit ihren verwirrten Geist. Als eine große heilsame
+Erkenntnis steht es vor ihr: »Der Hafen allein ist schuld!«</p>
+
+<p>Damit dieser Riesenbottich der großen Stadt zum Leben erwache, nahm
+Joachim Becker ihre Liebe an, stürzte er sie und sich selbst in
+Einsamkeit und Qual.</p>
+
+<p>Nun, da der Hafen mit allen seinen Schiffen und Kränen atmet und sich
+rührt, hebt er seine Arme, seine unheimlichen schwarzen Kranarme, um
+sie alle zu zermalmen.</p>
+
+<p>Sie weiß, daß die Vision zerrinnt, wenn sie die Augen öffnet, doch sie
+ist nicht mehr imstande, die Lider zu heben. Lähmendes Gift schleicht
+durch ihren Körper und versenkt sie in einen kurzen betäubenden Schlaf.</p>
+
+<p>Schmerzhaft grell, von Licht umstrahlt, fühlt sie sich, wieder
+erwachend, hochgehoben und auf ein hartes Lager gebettet. Sie vernimmt
+das elastische Rollen von Rädern, sieht lange weiße Korridore und
+erkennt, daß sie nun in den Operationssaal gefahren wird. Sie kann sich
+nicht wehren, das Gift hat ihre Glieder gelähmt. Sie ist hilflos und
+ohne Willen.</p>
+
+<p>Der Laut vielfacher Stimmen, das Klirren der Instrumente,<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span>
+Wasserrauschen hallt hart von den kühlen Wänden zurück und dringt in
+den Rhythmus ihres Blutes. Sie schmeckt das bittersüße und kühlende
+Narkotikum und sinkt immer tiefer in ein dunkel brausendes Chaos hinein.</p>
+
+<p>»Zählen Sie!« vernimmt sie eine Stimme hart und nah.</p>
+
+<p>Sie vermag den Mund nicht zu öffnen. Aber immer geräumiger wird
+mit jedem tiefen Atemzuge die unwirkliche Welt. Da beginnt mit
+leuchtenden Farben und leichten Melodien fernste Vergangenheit vor ihr
+aufzuklaffen: sie selbst, Adelheid Friemann im duftigen Tüllkleid, ganz
+jung und ohne Schwere, schwebt in fließenden Tänzen; Alfred Bernhard an
+ihrer Seite, und Helene Uhl, die lachende Freundin, gleitet mit ihrem
+Bruder Felix vorbei.</p>
+
+<p>Von weit her, unendlich gezogen, als tropfen sie nur langsam in ihr
+Bewußtsein, hört sie die Worte:</p>
+
+<p>»Vorsichtig! Denken Sie an das schwache Herz der kleinen Frau — Frau
+— Frau —«</p>
+
+<p>Das Wort wird zum gedehnten Gesang, es nimmt kein Ende; die sphärischen
+Melodien verströmen darin und brechen plötzlich klirrend ab. —</p>
+
+<p>Adelheid Becker kehrt mählich, aus unsagbar süßem Schweben über
+wehenden Luftwellen, in Bewußtheit und zu neuem Leben zurück.</p>
+
+<p>Die Stimme der Mutter nimmt sie milde, heimatlich auf.</p>
+
+<p>Sie öffnet die Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span></p>
+
+<p>Bleich, in Zartheit und Liebe verklärt, ist das Antlitz der Mutter vor
+ihrem ersten Blick.</p>
+
+<p>»Wir haben getanzt, Mutter. Helene Uhl war da, Alfred Bernhard und
+Felix. Es war so schön.«</p>
+
+<p>Sie spricht noch mühselig und langsam, ihre Stimme aber ist kindlich
+hoch und hell.</p>
+
+<p>Die Geräusche rücken immer näher zu ihr heran; sie fühlt die Lippen der
+Mutter auf ihren Händen.</p>
+
+<p>»Ist noch jemand hier?« fragt sie, als ahne sie die Nähe des Vaters und
+ihres Mannes.</p>
+
+<p>»Ja«, vernimmt sie Joachim Beckers Antwort.</p>
+
+<p>Sie versucht sich aufzurichten, doch die Hände der Krankenschwester
+drücken sie sanft in die Kissen zurück. Da erspäht sie aus halb
+geöffneten Augen sein herabgeneigtes Gesicht. Prüfend, erstaunt gleitet
+ihr Blick über die Falten auf seiner Stirn, zu der senkrechten Kerbe,
+die wie eine Narbe tief zwischen die Brauen schneidet, und bleibt auf
+den trüben, fast entzündeten Augen haften.</p>
+
+<p>Ihre Lider fallen müde herab. Joachim Becker richtet sich schwankend
+auf. Sie hat kein Wort für ihn.</p>
+
+<p>Dann fühlt sie den Druck einer breiten weichen Hand auf ihrer Stirn.
+Vertraute Wärme dringt in ihre Haut ein. Der Atem des Vaters streift
+ihr Gesicht.</p>
+
+<p>Sie öffnet die Augen und lächelt ihm zu.</p>
+
+<p>Joachim Becker ist so vermessen oder so trostbedürftig, daß er sich in
+dieser Stunde auch nach einem Lächeln Adelheids<span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span> sehnt. Er stellt sich
+noch einmal neben ihr Bett und küßt ihre Hand. Da schließt sie wieder
+die Augen und flüstert, von Grauen erfaßt:</p>
+
+<p>»Der Hafen! Nun weiß ich es: der Hafen ist schuld.«</p>
+
+<p>Und weil sie immer wieder bei seinem Anblick erregt wird, muß man ihren
+Mann bitten, ihr in der nächsten Zeit fernzubleiben, zumal noch die
+Nachricht vom Tode Felix Friemanns ihr bevorsteht.</p>
+
+<p>Zwei Wochen später kann sie bereits in die Wohnung ihrer Eltern
+übergeführt werden. Notlügen von einer Reise des Bruders lassen sich
+nicht länger fortsetzen, aber man braucht ihr auch die Wahrheit
+nicht zu sagen, denn im Hause ihrer Eltern, in dieser Heimstätte
+unversiegbarer Liebe und engsten Zusammenhalts, teilt sich die
+Schrecknis vom Tode des einen wie in mystischer Verbundenheit dem Blute
+des anderen mit.</p>
+
+<p>Und Adelheid findet, in das leere Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt,
+die ersten Tränen seit dem Tode ihrer Tochter.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Abschied">Der Abschied</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i005" src="images/drop-i005.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">J</span>oachim Becker irrt ruhelos in seinem verlassenen Haus umher. Adelheid
+ist zu ihren Eltern heimgekehrt; man bat ihn, zu warten, bis sie nach
+ihm verlange. Aber sie ruft ihn nicht.</p>
+
+<p>Er bleibt auf dem Treppenabsatz im Vestibül stehen und denkt: hier
+stand sie, mit ihrer schönen kleinen Tochter im Arm, deren traurige,
+große Augen ihm fragend — oder unbewußt anklagend? — nachblickten.
+Die winzigen Hände winkten, und Adelheids mütterlich-stilles Lächeln
+leuchtete neben dem ernsten Kindergesicht.</p>
+
+<p>Er stellt sich an den hohen Kamin in ihrem Zimmer und gedenkt des
+Abends nach dem Theaterbesuch, da er alles so klar gesehen hatte und
+dennoch schwieg.</p>
+
+<p>Und wenn er zwischen zwei Konferenzen am Schreibtisch seines
+Arbeitszimmers sitzt, deckt er zuweilen die Hand über die Augen. Scham
+entbrennt in seinem zerquälten Gesicht, und alle falschen Gesten fallen
+von ihm ab.</p>
+
+<p>Drei Wochen sind vergangen, und Adelheid hat noch nicht nach ihm
+verlangt. Seine Selbstvorwürfe werden mit jedem Tage heftiger,
+Mutlosigkeit überfällt ihn. Dieser tüchtige junge Generaldirektor, der
+so ausgezeichnete und grandiose<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> Pläne zu entwerfen versteht, hat Plan
+und Ziel für sein eigenes Leben verloren.</p>
+
+<p>Eines Tages geht Kommerzienrat Friemann in das Arbeitszimmer seines
+Schwiegersohnes und bleibt einen Augenblick in der Mitte des großen
+Raumes stehen.</p>
+
+<p>Joachim Becker denkt, daß er das gleiche energiegesammelte Gesicht habe
+wie einst, als er einen für sie alle entscheidenden Schritt unternahm.
+Damals sagte er ohne Einleitung mit festem Blick: »Ich habe gehört, daß
+meine Tochter Sie liebt. Wie stellen Sie sich dazu?« Joachim Becker
+stand auf und sagte entschlossen, ohne die Augen zu senken: »Ich bitte
+um ihre Hand.«</p>
+
+<p>Heute kann er dem Blick seines Schwiegervaters nicht offen begegnen.
+Und der Kommerzienrat sagt, während seine tonlose Stimme leise schwankt:</p>
+
+<p>»Meine Tochter hält es für gut, daß die Scheidung eingeleitet wird.«</p>
+
+<p>Joachim Becker ist aufgesprungen. Er steht ein wenig gebeugt da und
+stützt eine Hand auf die Schreibtischplatte.</p>
+
+<p>»Kann ich sie nicht selbst sprechen?« fragte er leise, ohne
+hochzublicken.</p>
+
+<p>»Sie will dich erst wiedersehen, wenn die Scheidung vollzogen ist.«</p>
+
+<p>Darauf vermag er nichts zu erwidern. Unwillkürlich bleibt der Ton
+dieser Worte noch in seinen Ohren hängen. Klang die vertrauliche Anrede
+nicht zögernd?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span></p>
+
+<p>»Ich habe bereits mit Rechtsanwalt Bernhard gesprochen. Er hat die
+Vertretung abgelehnt.«</p>
+
+<p>Er sieht erschreckt auf. Scheut man sich schon, für ihn tätig zu sein?
+Sagen sich jetzt alle von ihm los?</p>
+
+<p>»Er kann es weder für dich noch für Adelheid übernehmen und gibt vor,
+daß er euch beiden menschlich zu nahe stehe. Er hat einen Kollegen
+empfohlen, und du wirst dich wohl selbst nach einem Rechtsvertreter
+umsehen? Ich nehme an, daß du gegen Adelheids Vorschlag nichts
+einzuwenden hast und daß wir uns alle Erörterungen sparen können.«</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat wendet sich ohne ein versöhnendes Wort um. Er hat
+nicht nur seinen Erben und das einzige Enkelkind verloren, nein: nun
+gibt er auch den auf, der ihm allmählich ein zweiter Sohn werden
+sollte. So wie er die Hoffnung nicht sinken ließ, daß ihm der Sohn auch
+noch ein tüchtiger Mitarbeiter würde, so glaubte er bis jetzt, daß der
+durch die Arbeit ihm Verbundene auch innerlich der Seine werden könnte.</p>
+
+<p>Er geht nun leer davon, mit schwerfälligen Schritten, aber er ist nicht
+so grausam, ohne einen letzten Blick zu scheiden. Sein unermüdlicher
+Helfer der Arbeit steht noch halbgebeugt da. Das Kinn ist ihm auf die
+Brust gesunken.</p>
+
+<p>Da sagt der Kommerzienrat leise: »Adelheid hat mir ausdrücklich einen
+Gruß für dich aufgetragen.«</p>
+
+<p>Diese Botschaft hatte er verschweigen wollen! Er richtet sie im letzten
+Augenblick mit großer Mühe aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span></p>
+
+<p>Die Tür klappt. Joachim Becker hebt den Kopf. So hat er sich seine
+Befreiung aus der erzwungenen Ehe kaum vorgestellt.</p>
+
+<p>Er denkt an Adelheids Worte, die letzten, die er aus ihrem Munde
+vernahm: »Der Hafen ist schuld!« Aber jetzt weiß er, wer der wahre
+Schuldige ist. Er ist nicht mehr so feige, die Schuld auf sein Werk
+abzuwälzen. Nun nimmt er alle Anklagen freimütig auf seine Schultern,
+und er kennt keine Schonung mit sich selbst.</p>
+
+<p>Doch auch das Schicksal hat nicht viel Erbarmen mit ihm, es erspart
+ihm keine Demütigungen und keine Enttäuschungen. Denn noch ein anderer
+kommt nach einigen Tagen in sein Arbeitszimmer, um ihm eine wichtige
+Mitteilung zu machen: der Kapitän.</p>
+
+<p>Nun müsse er um seinen Abschied bitten, sagt er ohne viele Umschweife.
+Seine alte Reederei habe wieder Verwendung für ihn, und aus bestimmten
+Gründen könne er nicht lange warten.</p>
+
+<p>Der junge Generaldirektor lehnt stumm in seinem Sessel und nimmt die
+Mitteilung als eine gerechte Strafe hin. Er glaubt die Gründe zu
+kennen, die den Kapitän zu einem schnellen Abschied zwingen. Kann es
+etwas anderes sein, als daß er mit Irmgard Pohl einig geworden ist und
+sie so bald wie möglich von der Nähe des Hafens fortführen will, damit
+sie keinen unliebsamen Begegnungen mehr ausgesetzt ist?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span></p>
+
+<p>Es scheint, als habe Joachim Becker ganz im geheimen gehofft, er könne
+sich noch wiedererringen, was er einst, von seinen Ideen besessen,
+so leichtsinnig aufgab, denn sein Gesicht ist nun besonders grau und
+verfallen.</p>
+
+<p>Seine Stimme klingt brüchig, während er die bedauernden Worte über den
+Abschied des Kapitäns ausspricht.</p>
+
+<p>»Ich habe soeben mit Herrn Kommerzienrat Friemann gesprochen. Er will
+sich noch heute mit Ihnen beraten und die Beschlüsse des Vorstandes
+herbeiführen«, sagt der Kapitän und erhebt sich, um zunächst wieder in
+seinen Hafen zurückzukehren.</p>
+
+<p>Er hält sich nicht länger auf, als unbedingt nötig ist. Sein Händedruck
+ist zwar kräftig wie immer, aber er vermeidet es, den Blicken Joachim
+Beckers zu begegnen.</p>
+
+<p>Nun steht dem Generaldirektor also noch eine geschäftliche Unterredung
+mit seinem Schwiegervater bevor, der ihm bald wieder ein Fremder sein
+wird. Er geht lange in seinem Zimmer auf und ab, und dann hat er seinen
+Entschluß gefaßt.</p>
+
+<p>Er begibt sich in das Bureau des Kommerzienrats und sagt:</p>
+
+<p>»Da meine vorbereitenden Arbeiten in der Generaldirektion so gut wie
+beendet sind, möchte ich um den Posten des Kapitäns bitten.«</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat ist nicht sehr erstaunt, aber er fragt:</p>
+
+<p>»Und wer soll dieses alles hier übernehmen?«</p>
+
+<p>Joachim Becker schweigt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span></p>
+
+<p>»Dann werde ich dem Aufsichtsrat vorschlagen, daß du die
+Generaldirektion in den Hafen hinübernimmst, denn ich bin jetzt zu alt
+für solche Aufgaben, und sonst ist niemand mehr da.«</p>
+
+<p>So hatte er also gehofft, sein Sohn könne dereinst selbst dafür
+befähigt sein. Er wendet sich zur Seite, und Joachim Becker kann ihm
+nicht einmal zum Dank für die Erfüllung seines Wunsches die Hand
+drücken. — — —</p>
+
+<p>Wie rasch ist ein Mensch entbehrlich, besonders wenn er so bescheiden
+seines Amtes waltet, wie der Kapitän!</p>
+
+<p>Er kann nach wenigen Wochen schon seine Pflichten in die Hände des
+Nachfolgers legen und Abschied nehmen.</p>
+
+<p>Es ist wieder August. Genau zwei Jahre habe er am Steuer dieses
+Riesenschiffes gestanden, sagte der Kapitän in seiner Abschiedsrede.</p>
+
+<p>Daß er in Wahrheit kein Schiff gelenkt hatte, mußte er wohl erfahren.
+Die Welt war nicht wie sonst an ihm vorbeigeglitten, während er
+feststand und nach allen Seiten unbeteiligt Ausschau hielt. Er hatte
+keine Planken unter den Füßen gehabt.</p>
+
+<p>Nein, er war in seinem Hafen unruhig umhergelaufen, und dann hatte er
+ihn sogar verlassen, um Besuche beim Nachbarn zu machen. Da war die
+Welt wieder dicht an ihn herangerückt, sie nahm ihn auf und wirbelte
+ihn wie die anderen herum, und er verlor wie sie den Stand in der
+Mitte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span></p>
+
+<p>Nun macht er sich auf, um den ersten Abschiedsbesuch abzustatten. Die
+Stunde des Arbeitsschlusses in der Mühle scheint ihm geeignet dazu.
+Vielleicht könnte man auf der Bank im Garten sitzen und doch noch
+Gelegenheit finden, einige Worte unter vier Augen zu sprechen.</p>
+
+<p>Er trifft Herrn Pohl mit seiner Tochter noch im Bureau an. Herr Reiche
+sitzt bei ihnen, und sie beraten zu dritt eine Angelegenheit der
+Brotfabrik.</p>
+
+<p>Der Kapitän bedauert es sehr, sie bei dieser wichtigen Arbeit zu
+stören, er wolle sie nicht lange aufhalten, beim Abschied könne man
+sich kurz fassen.</p>
+
+<p>Herr Pohl steht auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wie,
+das wäre wohl noch schöner, wenn er sich auf diese Weise von ihm
+verabschieden sollte! Er drückt dem Kapitän beide Hände und meint, daß
+er ihn heute nicht so rasch freigeben würde.</p>
+
+<p>»Ich denke, wir werden noch ein Glas Wein miteinander trinken, wie
+seinerzeit, als Sie den ersten Besuch bei uns machten?« fügt er
+herzlich hinzu.</p>
+
+<p>Der Kapitän muß sich leider einen längeren Aufenthalt versagen. Er sei
+für heute abend von Kommerzienrat Friemann eingeladen.</p>
+
+<p>Er schenkt den letzten Abend nicht den Zufriedenen, sondern den
+Einsamen, vom Schicksal Geschlagenen, denn der Kommerzienrat ist nun
+allein in seinem großen Haus und dürfte etwas Gesellschaft gebrauchen.
+Frau und Tochter sind<span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span> im Bade, und nur stille Ablenkung kann ihn
+zeitweise den Sohn vergessen lassen, der das Haus einst mit Lärm und
+Fröhlichkeit erfüllte.</p>
+
+<p>Herr Reiche will in der kurzen Zeit, die dem Kapitän hier noch
+verbleibt, nicht mit seinen Arbeiten störend dazwischen sitzen. Er
+verabschiedet sich vom Kapitän, der auch ihn immer zufriedengestellt
+hatte.</p>
+
+<p>Der Kapitän sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen Papieren
+geruhig und selbstbewußt abzieht.</p>
+
+<p>Herr Pohl fängt den Blick auf und sagt: »Ja, der ist hier nun glücklich
+und gut aufgehoben.« Aber er bereut seine Worte sofort, weil der
+Kapitän so ertappt zusammenzuckt, als habe man ihm diesen Gedanken von
+der Stirn gelesen und ihm, dem Mann in der Mitte, gar Neid zugetraut.</p>
+
+<p>Irmgard hat bisher schweigend auf ihrem Platz im alten Ledersofa
+gesessen. Plötzlich steht sie neben dem Kapitän. Sie nimmt ihn am Arm
+und sagt:</p>
+
+<p>»Nun dürfen wir aber keine Zeit mehr verlieren. Sie müssen gleich mit
+hinüberkommen, damit wir noch etwas plaudern können.«</p>
+
+<p>Der Kapitän lacht über das ganze Gesicht, so daß die trockene braune
+Haut sich in unzählige kleine Falten legt. Einen so guten Empfang hat
+er, weiß Gott, nicht erwartet.</p>
+
+<p>Er fühlt Irmgards warmen runden Arm, der von keinem Stoff verhüllt ist.
+Sie hat sich eingehakt, ihr Kleid berührt<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span> ihn in der Bewegung und
+er spürt den Duft ihrer Haare ganz nahe an seinem Gesicht. Doch als
+sie ihn bis zum Ausgang gezogen hat, läßt sie die Tür für den Vater
+geöffnet, und dann hängt sie sich auf der anderen Seite in den Arm des
+Vaters. So gehen sie zu dritt über den Hof und haben sechs Augen und
+sechs Ohren.</p>
+
+<p>Wie sollte da der Kapitän seine Rede anbringen, die er sich noch für
+die letzte Stunde aufhob? Er verstand sich nie auf die Frauen. Zweimal
+versuchte er es, ihnen sein Herz zu öffnen. Aber er hat es beide Male
+nicht richtig angefangen. Nun gibt er den aussichtslosen Versuch auf.</p>
+
+<p>›Spät bin ich alter Trottel dahinter gekommen, daß sie mir ausweicht.
+Diese Geste des Mitleids erst mußte mir alles verraten‹, denkt er nun
+bitter.</p>
+
+<p>Er trinkt noch ein Glas Wein mit den dreien, von denen Frau Pohl
+seinen Fortgang am offensichtlichsten und sehr wortreich bedauert.
+Dann schüttelt er allen — auch dem eigenwilligen kleinen Michael —
+herzlich die Hände und winkt sogar von der Föhrbrücke aus noch einmal
+zurück.</p>
+
+<p>Es ist gut, daß die Stunde für den Abendbesuch sehr nahegerückt ist
+und er in seiner einsamen Wohnung nicht lange zu verweilen braucht.
+Sie hatte in letzter Zeit zu viel alte schmerzliche Erinnerungen
+aufgestört. Denn sein Weg führte ihn immer über einen Platz, auf dem
+ein junger Mensch sein Leben zerschmetterte. Er war fünfundzwanzig
+Jahre alt,<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span> genau so alt wie eine Frau, die auch einer Schuld wegen ihr
+Leben wegwerfen mußte.</p>
+
+<p>Der Kapitän blickte fest auf die Hafenwirtschaft oder über die Kähne
+hinweg, irgendwohin, wenn er diesen Fleck überschritt. Es war nichts
+zu sehen als heller Asphalt wie überall, aber er zuckte zusammen, wenn
+sein Fuß darübertrat, und das mußte die Nerven des kräftigsten Mannes
+auf die Dauer zermürben.</p>
+
+<p>Wollte er das Fenster schließen, um mit seiner Geige allein zu sein, so
+irrte sein Blick unwillkürlich dorthin. Er ging vom Fenster zurück und
+ließ die Geige im Kasten. So blieb er ohne Trost und ohne Ruhe.</p>
+
+<p>Und nun macht er seinen letzten Abschiedsbesuch bei einem, der auch
+ruhelos im großen schönen Haus nach einem Anker sucht.</p>
+
+<p>Er wird vom Kommerzienrat mit stummer Herzlichkeit empfangen und
+muß bei seinem Händedruck unwillkürlich an Herrn Pohl denken. In
+Erscheinung und Wesensart grundverschieden, haben die beiden ein
+Gemeinsames: sie lebten — während der eine Geld aufhäufte und
+der andere nur seine Pflicht erfüllte — niemals für sich und
+verschwendeten ihre einmalige scheue Zuneigung, ihr rückhaltloses
+Vertrauen an ihren Gegensatz, an Joachim Becker, der noch nie etwas
+anderes als sich selbst und sein Ziel sah. Nun wenden sie sich in der
+gleichen Enttäuschung resignierend dem zu, der nicht beglückt und
+nicht verletzt, der in seiner stets gleichbleibenden<span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span> Bereitschaft
+zu Teilnahme und Gerechtigkeit gern da gesehen wird, wo er weder
+überschäumende Freude noch den ersten erbitterten Groll durch sein
+Gleichmaß beschämen kann.</p>
+
+<p>Der Kapitän ist sich seiner Rolle schmerzhaft bewußt, aber da sie ihm
+nicht abgenommen wird, und man ihm seinen Eingang in den ungerechten
+schwankenden Kampf der Gefühle verwehrt, waltet er weiter still seines
+Amtes.</p>
+
+<p>Er lobt die Küche des Kommerzienrats, seine gut gelagerten Weine
+und erzählt von den lukullischen Genüssen anderer Völker, von
+erfrischenden und berauschenden Getränken in aller Welt, von einem
+kleinen Spezialgebiet seines vielfältigen Wissens, während er bemerkt,
+daß der Kommerzienrat nur zeitweise seine langatmigen, ungewürzten
+Schilderungen verfolgt. Er verstummt nicht, denn die ermüdenden Reden,
+die keine Antwort und kein anhaltendes Interesse beanspruchen, ja
+dem Zuhörer leichte Nebengedanken erlauben, tragen oft Lastendes und
+Quälendes unmerklich fort und leiten in eine besinnliche Stille hinüber.</p>
+
+<p>Nach dem Essen stellt sich auch Rechtsanwalt Bernhard ein. Er bekommt,
+mit einem gewissen Gewohnheitsrecht, einen kleinen Imbiß nachserviert,
+und dann gehen die drei in das Rauchzimmer, wo selbst der junge Alfred
+Bernhard, der getreue Tanzstundenfreund Frau Adelheids, sich dem
+langsamen Genuß der kommerzienrätlichen Zigarren hinzugeben bemüht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span></p>
+
+<p>In seinem Bureau sitzt nun nicht mehr eine einzige Stenotypistin, die
+mit Handarbeiten die Arbeitsstunden umzubringen versucht. Nein, er hat
+einen eigenen Bureauvorsteher und einen Stab von Schreibfräuleins, die
+den ganzen Tag gut ausgeklügelte und dennoch mit sicherem Geschmack
+parierende Schriftsätze in Scheidungssachen schreiben. Er ist gewiß
+nicht durch einen blinden Zufall, sondern durch eine offensichtliche
+Begabung allmählich ein Spezialist in Ehescheidungen geworden. Seine
+friedliebende Natur, die unermüdlich bestrebt ist, Ausgleich und
+reibungslose Auseinandersetzung herbeizuführen, selbst wenn anscheinend
+unüberbrückbare Hindernisse entgegenstehen, erwarb ihm den guten Ruf.
+Man sucht ihn bereits und hält ihn in bester Erinnerung, weil er das
+unerquickliche Ende ohne Schrecken zu finden weiß.</p>
+
+<p>Er bewies seine diplomatischen Künste im Prozeß der Hafengesellschaft
+gegen Michael Pohl, den er drei Jahre ohne unnötige Dissonanzen in
+der Schwebe zu halten verstand, bis er an seinem eigenen Widerspruch
+zerrann. Er wußte selbst einen Querkopf wie den Bäckermeister Reiche
+davon zu überzeugen, daß man recht haben kann und dennoch sein Unrecht
+zugeben muß. So führt er immer seine Parteien langsam und ohne
+kleinliches Gezänk — mit einer Geduld, die nervöse Kollegen fast
+pathologisch nennen — zum gewünschten Ziel. Wenn es auch zuweilen
+in neuer Versöhnung besteht, so verdient er daran nicht geringere<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span>
+Honorare, weil er es sich zum weisen Prinzip macht, diese Akten gut zu
+verwahren. Er weiß, daß solcherart Klienten nicht ohne Anhänglichkeit
+sind.</p>
+
+<p>So hat er in seiner Praxis Gelegenheit zu manchen Beobachtungen
+gefunden, die er auch im Privatleben anzuwenden weiß. Wie hätten
+ihm also die Anzeichen für den Bruch einer ihn so besonders
+interessierenden Ehe entgehen können? Zumal er die Tanzstundenfreundin,
+die in seinen Gedanken die scheue Adelheid Friemann blieb, nicht aus
+den Augen ließ.</p>
+
+<p>Vielleicht sind viele seiner guten Erfolge in anderen Ehescheidungen
+darauf zurückzuführen, daß er so intensiv immer nur an den einen Fall
+dachte, den nun endlich ein Kollege bearbeitet. Man sagt ihm nach,
+daß er mit besonderem Geschick stets die Schuld der männlichen Partei
+übertrug, so daß er hauptsächlich die Unschuldigen vertrat. Aber die
+Klientin, die er mit so unermüdlicher Geduld erwartete, schickte er
+dennoch zur Konkurrenz. Nein, in dieser »Sache« hätte er keinen Finger
+rühren können.</p>
+
+<p>Es ist seine große Tragik, daß er in den eigenen Angelegenheiten von
+den beruflichen Fertigkeiten verlassen ist. Wie redegewandt kann er vor
+dem Richter oder in seinen Schriftsätzen für die Interessen anderer
+eintreten, und wie stumm war er geblieben, als Adelheids Gefühle noch
+nicht abgeirrt waren. Er könnte nun mit Recht hoffnungsvoller und
+ruhiger in die Zukunft blicken, denn man kann annehmen, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span> seine
+Treue noch einmal anerkennen wird. Doch je näher der Termin ihrer
+Freiheit heranrückt, um so nervöser wird Alfred Bernhard, der wieder
+alle Qualen der Tanzstundenzeit erlebt. Er hat noch jeden Tag in der
+Erinnerung, an dem er die Gelegenheit und das richtige Wort versäumte,
+bis sie Joachim Becker kennenlernte und er einsah, daß es zu spät
+geworden war.</p>
+
+<p>Nun zieht er hier in scheinbarer Ruhe an der schweren Zigarre, lauscht
+zerstreut den Gesprächen der beiden »alten Herren« und denkt mit banger
+Freude an den Herbst, der Adelheid wieder hierherführen wird.</p>
+
+<p>»Und doch sind solche Krankheiten oft heilsam,« hört er den Kapitän
+sagen, »sie befreien den Menschen nicht nur körperlich, sie lassen ihn
+nach einiger Zeit auch seelisch genesen. Wir müßten alle ab und zu nach
+einer gründlichen Aufräumung der alten Stoffe wieder neu beginnen.«</p>
+
+<p>»Ich glaube, daß Sie darin noch zu optimistisch sind, lieber Kapitän«,
+erwidert der Kommerzienrat, während er den Blick in die Luft richtet.
+»Bei jungen Leuten mag das zutreffen. Vielleicht sind Sie dafür auch
+noch jung genug. Aber unsereins —«</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat schiebt seinen Körper zur anderen Seite des Sessels
+und stützt den Arm mit der hochgehobenen Zigarre schwer auf die Lehne.</p>
+
+<p>»Sehen Sie, ich habe auch gedacht: du wirst zunächst nur Geld
+verdienen, und dann fängst du von neuem an. Es ist<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> nicht mein
+Jugendtraum gewesen, mit Getreide zu handeln, hochfliegende Pläne
+habe ich allerdings auch nicht gehabt. Im Gegenteil, sie waren sehr
+bescheiden und standen in einem gewissen Zusammenhang mit meinem
+Gewerbe. Ich habe nämlich das Getreide geliebt. Aber nicht auf dem
+Ladentisch und nicht an der Börse. In die Erde wollte ich es versenken.
+Säen wollte ich es, sein Wachstum still verfolgen, von Gott und dem
+Wetter abhängig sein und nicht von den Schwankungen, die uns die
+Trusts und die Spekulanten diktieren. Ja, man hat es oft satt gehabt
+und sich Geduld gepredigt, weil man glaubte, noch warten zu müssen.
+Aber die gewohnte Haut wächst einem schließlich so fest an den Leib,
+daß man sie nicht mehr herunterstreifen kann. Immer weiter schiebt man
+den Zeitpunkt. Erst sollte es mindestens ein kleiner Bauernhof sein,
+dann ein Rittergut, und schließlich wollte man das, was man sich hier
+so mühsam in einem ganzen Leben erwarb, auch nicht aufgeben und den
+Kindern vererben, ehe man sich zurückzieht. Und nun —«</p>
+
+<p>Er wirft sich wieder auf die linke, dem Kapitän abgewandte Seite des
+Sessels und läßt den Arm mit der kalten Zigarre sinken. Der Kapitän
+sucht nach einigen wohlgefügten und geeigneten Worten, um über die
+Situation hinwegzuhelfen. Der Kommerzienrat jedoch spricht mit neuem
+Anlauf weiter:</p>
+
+<p>»Je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so mehr komme ich dahinter,
+daß der Junge, der Felix, gar nicht hierher gepaßt<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> hat. Das war zu
+groß und zu unruhig für ihn. Er hat sich mit seinem lebhaften Geist für
+alles interessiert. So kam es, daß er seine Kräfte zersplitterte und
+daß er nichts zu Ende denken konnte. Und so durfte er auch sein Leben
+nicht zu Ende leben.«</p>
+
+<p>Er schweigt. Seine beiden Zuhörer finden keine Entgegnung. Der Kapitän
+denkt: ›Wäre ich nicht auf dem Sprung, ihn für immer zu verlassen, so
+würde er kaum das alles in meiner Gegenwart erzählen. Man gibt seine
+geheimsten Erkenntnisse nicht dem preis, den man täglich wiedersehen
+kann.‹</p>
+
+<p>Oder sind die Worte an Rechtsanwalt Bernhard gerichtet, den der
+Kommerzienrat schon fast zur Familie rechnet und der beizeiten erfahren
+soll, welche Fehler er zu vermeiden hat?</p>
+
+<p>»Er hätte in das einfache Leben gepaßt, das ich für mich reservieren
+wollte«, fügt der Kommerzienrat mit gepreßter Stimme hinzu. Es scheint
+doch, als spräche er nur, um sich von den Selbstvorwürfen laut zu
+befreien.</p>
+
+<p>»Sie haben, soweit ich beurteilen kann, immer das Beste für Ihre Kinder
+gewollt und sie selbst wählen lassen«, sagt der Kapitän tröstend.</p>
+
+<p>»Gewiß«, erwidert der Kommerzienrat. »Scheinbar haben sie selbst
+gewählt. Aber ihr Wille gehörte ja nicht ihnen. Er war durch die
+Erziehung und die Umgebung, die ich ihnen schuf, beeinflußt. Sie trafen
+also eine Wahl, die ich ihnen indirekt aufzwang und die nicht einmal
+meiner wahren Neigung<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> entsprach. Ich selbst war mit meinem Herzen
+immer bei der Scholle, die Kinder aber verpflanzte ich hierher, wo sie
+ebensowenig Wurzeln fassen konnten wie ich. Und es hätte doch sehr
+nahe gelegen, daß sie nach mir oder meiner Frau arteten, die in ihrer
+Bescheidenheit überhaupt keine eigenen Wünsche mehr hat. Oder glauben
+Sie, daß der Junge aus dem Leben gegangen wäre, wenn ihn etwas stark
+genug gefesselt hätte?«</p>
+
+<p>»Es war eine Gefühlswallung, die in der Erregtheit über den ersten
+Unglücksfall leider niemand schnell genug hemmte«, erwidert der Kapitän.</p>
+
+<p>»Können Sie sich vorstellen, daß zum Beispiel mein Schwiegersohn
+dasselbe getan hätte, wenn er sich die Schuld an einem großen Unglück
+hätte zuschreiben müssen?«</p>
+
+<p>»Nein.«</p>
+
+<p>»Und warum nicht?«</p>
+
+<p>Das ist eine schwere Frage an den Kapitän. Er findet keine neutrale
+Antwort und schweigt.</p>
+
+<p>»Dann will ich es Ihnen verraten,« sagt der Kommerzienrat, »weil ihn
+die selbstgewählte Arbeit fesselt. Ich glaube, das ist die stärkste
+Bindung an das Leben. Die Arbeit, der man sich mit Liebe hingibt, kann
+niemals enttäuschen. Sie holt aus sich selbst die neue Kraft, während
+die erzwungene Arbeit ständig ermüdet.«</p>
+
+<p>»Und wenn sie vom Ehrgeiz angetrieben wird?« fragt der Kapitän zögernd.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span></p>
+
+<p>»Es war nicht Ehrgeiz,« erwidert der Kommerzienrat, »seine Liebe zur
+<em class="gesperrt">Arbeit</em> war echt. Über alles andere hat er uns und — ich glaube
+— auch sich selbst getäuscht.«</p>
+
+<p>Der Kapitän fühlt sich zum zweitenmal beschämt. Vater und Tochter, die
+vielleicht mehr Grund gehabt hätten, Joachim Becker zu verurteilen,
+müssen ihn Gerechtigkeit lehren.</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie«, sagt er leise. »Ich habe ihn als Menschen zu wenig
+gekannt.«</p>
+
+<p>Er sieht ein, daß es höchste Zeit für ihn ist, vom Schauplatz der
+Gefühle endgültig abzutreten und seinen festen Stand in der Mitte nicht
+mehr zu verlassen. —</p>
+
+<p>Am nächsten Tage werden die alten Möbel zum Seiteneingang des
+Verwaltungsgebäudes wieder hinausgetragen. Der kleine Herr mit dem
+braunen Gesicht und dem gespreizten Gang, den Frau Reiche damals
+durchaus nicht für den neuen Hafendirektor halten wollte, hält seine
+Liste in der Hand und prüft wiederum, ob alles in Ordnung sei.</p>
+
+<p>Dann geht er still für immer aus dem Hafentor hinaus ...</p>
+
+<p>Frau Reiche kann ihn diesmal nicht beobachten, sie ist Inhaberin eines
+Zigarrengeschäfts und hat mindestens für einige Zeit einen eleganten
+jungen Geschäftsführer.</p>
+
+<p>In der Kantine sind neue Leute, die nun für den Generaldirektor selbst
+das Essen zu beschaffen haben. Fräulein Spandau muß sich neben einer
+anderen Sekretärin an zweiter Stelle einfügen. Sie sah dem scheidenden
+Kapitän mit großer Trauer nach, denn sie war immer mit ihm zufrieden.<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span>
+Aber sie ist von der Art, die mit der Treue und Dankbarkeit eines guten
+Hundes jedem Herrn dient.</p>
+
+<p>Vielleicht ist Joachim Becker in dieser Wohnung noch einsamer als sein
+Vorgänger, denn neben seinem Schreibtisch steht kein Geigenkasten, den
+er in den Abendstunden öffnen kann. Dafür hat er sich einige Bücher
+hingelegt, die ihm die Liebe der Menschen ersetzen sollen.</p>
+
+<p>Seine »Stützpunkte« an der Küste und im Binnenlande sind errichtet;
+er hat sich mit Hilfe seiner erweiterten Tankanlage das Benzinmonopol
+für die Stadt erobert; man baut ihm einen großen Güterbahnhof zur
+Unterstützung neben seine Freiladeplätze. Er braucht nicht mehr in den
+Hafen zu fahren, um die geleistete Arbeit zu betrachten. Er kann sie
+nun von seinen Fenstern aus fast überschauen. Doch wenn sein Blick auf
+einen Kran fällt, beißt er die Zähne zusammen.</p>
+
+<p>An einem der letzten warmen Herbsttage, als der Generaldirektor nach
+Arbeitsschluß ein gerichtliches Dokument weggeschlossen hat und in
+seinem Zimmer wieder ruhelose Wanderungen unternimmt, fährt ein Wagen
+im Hafen vor, und Rechtsanwalt Bernhard springt heraus.</p>
+
+<p>Er schließt nicht den Wagenschlag, sondern hebt eine Hand und hilft
+Frau Adelheid Becker beim Aussteigen.</p>
+
+<p>Da ist sie also noch einmal im Hafen. Sie blickt sich aufatmend um, sie
+sieht auch einen Kran, aber sie zuckt nicht zusammen. Jetzt ist sie
+so weit, daß sie der Welt wieder gerade ins Gesicht blicken kann. So
+sind die Frauen! Die Männer<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span> beißen die Zähne zusammen und machen den
+vergeblichen Versuch, etwas zu unterdrücken; die Frauen richten sich
+auf und fangen von neuem an.</p>
+
+<p>Frau Adelheid nickt Rechtsanwalt Bernhard zu und sagt:</p>
+
+<p>»Erwarten Sie mich hier, ich will allein mit ihm sprechen.«</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard verneigt sich und hat seine Freude daran, ihr
+nachzublicken, wie sie mit festen Schritten in das Verwaltungsgebäude
+hineingeht.</p>
+
+<p>Joachim Becker öffnet ihr selbst. Frau Adelheid muß das erste Wort
+finden, denn dieser forsche und tatkräftige Generaldirektor steht ganz
+ratlos da und schweigt.</p>
+
+<p>»Du hast doch nicht gedacht, daß ich es schlecht mit dir meine, weil
+ich solange nicht kam?« fragt sie, während sie ihm die Hand hinhält,
+die er nicht ergreift.</p>
+
+<p>»Hat dir mein Vater nicht bestellt —« beginnt sie noch einmal, nun
+schon wieder etwas ängstlich.</p>
+
+<p>Da faßt er nach beiden Händen und zieht sie in das Zimmer.</p>
+
+<p>»Doch,« stammelt er, »doch! Das hat er bestellt. Es war der einzige
+Trost, der mir blieb.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank!« sagt sie, »ich habe es ihm doch auch so erklärt, daß
+nur ich daran schuld war.«</p>
+
+<p>»Woran sollst du schuld gewesen sein?« fragt er in höchstem Erstaunen.</p>
+
+<p>Sie betrachtet ihre Handschuhe. »An unserer Ehe«, meint sie leise.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span></p>
+
+<p>Dann sieht sie ihm wieder ins Gesicht und sagt:</p>
+
+<p>»Ich wußte, daß du damals so gut wie verlobt warst. Trotzdem hatte ich
+es mir in den Kopf gesetzt, dich für mich zu gewinnen. Wenn es mir
+nicht gelang, so lag es daran, daß du zu aufrichtig warst. Du hast
+niemals geheuchelt, so daß ich dich nur noch immer mehr lieben mußte.
+Wenn du besonders gut zu mir warst, so hatte ich dich für kurze Zeit
+mit meiner Liebe bezwungen, doch in deinem Herzen bist du einer anderen
+treu geblieben.«</p>
+
+<p>Sie ist sehr rot geworden und blickt starr gegen die Fensterscheiben.
+Er schweigt.</p>
+
+<p>»Ich hätte Achtung davor haben sollen, anstatt dich zu quälen«, spricht
+sie weiter. »Aber da war unsere Tochter —«</p>
+
+<p>Ihre Stimme beginnt nun doch zu schwanken. Joachim Becker ist so
+hilflos, daß er ihr nicht einmal beisteht, sondern sie weiter nach
+Worten suchen läßt.</p>
+
+<p>Frau Adelheid sieht, wie es um ihn bestellt ist, und da findet sie
+selbst die Kraft, beiden zu helfen.</p>
+
+<p>»Das ist jetzt alles vorbei, und ich denke, daß wir nun, nachdem uns
+nichts mehr äußerlich bindet, gute Freunde werden könnten.«</p>
+
+<p>Sie reicht ihm ihre kleine Hand, von der sie noch rasch den Handschuh
+abgezogen hat, damit er den warmen Druck ganz unmittelbar verspüren
+kann.</p>
+
+<p>Er neigt sich so heftig darüber, daß sie etwas atemlos sagen muß:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span></p>
+
+<p>»Unten wartet Rechtsanwalt Bernhard, er wollte dich auch begrüßen.«</p>
+
+<p>Sie gehen gemeinsam hinunter, und wieder freut sich Joachim Becker, dem
+jungen Rechtsanwalt in die guten, etwas verträumten Augen zu blicken.</p>
+
+<p>Er hilft Frau Adelheid in den Wagen, und wie er schon die Tür schließen
+will, beugt er sich noch einmal vor und sieht ihr mit einem dankbaren
+Lächeln ins Gesicht.</p>
+
+<p>Dann rollt der Wagen davon. Der Wächter schließt das Tor, und Joachim
+Becker ist wieder allein in seinem Hafen.</p>
+
+<p>Er geht am Wasser entlang; grüßt die Schiffer, die mit ihren Pfeifen
+neben der Kajüte stehen, und wandert zu den Lagerhallen.</p>
+
+<p>Vor dem großen Kran bleibt er stehen. Er beißt nicht mehr die Zähne
+zusammen.</p>
+
+<p>Er sieht zu ihm auf und sagt:</p>
+
+<p>»Einen grausameren und gewaltigeren Mahner konnte man mir nicht
+hinstellen als dich!« —</p>
+
+<p>Rechtsanwalt Bernhard sitzt immer noch stumm neben Frau Adelheid
+im Wagen und sieht mit Schrecken, daß sie sich dem Villenviertel
+bedenklich nähern. Sicherlich ist es für das richtige Wort noch viel zu
+früh, aber an diesem entscheidenden Tage, an dem sie ihm so gewaltig
+imponiert, müßte er ihr doch mindestens sagen, welche Verehrung er ihr
+entgegenbringt. Er weiß aus seiner ganzen Praxis keine einzige Frau,
+die soviel Seelengröße gezeigt hätte wie sie.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span></p>
+
+<p>Sie starrt mit ihren schönen dunklen Augen ununterbrochen auf den
+Rücken des Chauffeurs. Alfred Bernhard kann sich nicht denken, daß
+ihr gerade dieser Anblick ein Vergnügen bereitet, er weiß jedoch kein
+Mittel, um sie abzulenken.</p>
+
+<p>Plötzlich platzt er damit heraus:</p>
+
+<p>»Wissen Sie noch, Adelheid, wie wir damals nach der ersten Tanzstunde
+zum ›Historischen Gasthof‹ fuhren?«</p>
+
+<p>»Ja.« Sie zieht den starren Blick erschreckt ein und betrachtet die
+herbstlich bunten Bäume in den Gärten, die sich nun jenseits der Straße
+mit ihren prunkvollen Villen im Hintergrund ausdehnen.</p>
+
+<p>»Es war auch so ein warmer Herbsttag wie heute«, setzt er fort, während
+er bemerkt, daß sie an der nächsten Kurve in ihre Straße einbiegen.
+»Helene Uhl war damals mit und — und —«</p>
+
+<p>»Ja, Felix war auch dabei. Ich entsinne mich noch genau«, sagt sie
+tapfer, nachdem er stockte, diesen Namen auszusprechen. »Während meiner
+Krankheit habe ich einmal geträumt, daß wir tanzten. Sie und ich und
+Felix mit Helene Uhl. Es war sehr schön.« Sie spricht dieses »schön«
+wieder so kindlich verzückt aus wie damals beim Erwachen aus der
+Narkose, als sie im Halbbewußtsein der Mutter davon erzählte.</p>
+
+<p>Das hohe Gitter der Friemannschen Villa ist bereits zu sehen, da
+springt Alfred Bernhard plötzlich auf und sagt zum Chauffeur, während
+sich seine Stimme fast überschlägt:</p>
+
+<p>»Fahren Sie zum ›Historischen Gasthof‹!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span></p>
+
+<p>Adelheid sieht ihm erstaunt zu, aber als er sich neben ihr niederläßt,
+sagt sie, wieder vollkommen gefaßt:</p>
+
+<p>»Ach, das ist wirklich eine gute Idee.«</p>
+
+<p>Dann sitzen sie eine Weile stumm da und beobachten den Chauffeur bei
+seinen Bemühungen, den Wagen zu wenden. Alfred Bernhard fühlt, wie
+die Hitze, die im entscheidenden Augenblick in ihm aufstieg, langsam
+verebbt. Während sie wieder auf geraden Straßen dahingleiten, gelingt
+es ihm sogar, anregende Gesprächsstoffe zu finden, die sie zuweilen
+veranlassen, ihn anzusehen oder ihm ein Lächeln zu schenken.</p>
+
+<p>Dann steigen sie vor dem Gasthof aus, der zwischen den alten Bäumen
+hervorlugt und an diesem herbstlichen Wochentage anscheinend keine
+anderen Besucher als sie beide angelockt hat. Adelheid bleibt vor dem
+Eingang stehen und blickt zu der Inschrift mit den verschnörkelten
+alten Buchstaben hoch.</p>
+
+<p>»So haben Sie auch damals hier gestanden und die Tafel entziffert«,
+sagt er erinnerungsselig.</p>
+
+<p>»Ja, und dann haben Sie mir die Jahreszahl ›übersetzt‹, weil ich die
+römischen Ziffern niemals lesen kann.« Sie sieht ihn dabei mit diesem
+reizenden, sorglosen Lächeln an, nach dem er sich so lange gesehnt hat.</p>
+
+<p>»Achtzehnhundertachtundvierzig ist das«, erwidert er, ohne den Blick
+von ihrem Gesicht fortzunehmen, das nach seiner Ansicht noch genau so
+jung aussieht wie damals vor sechs Jahren.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span></p>
+
+<p>Sie errötet auch wieder, weil die anhaltende Betrachtung ihrer
+bescheidenen Person sie immer verlegen macht. Dann gehen sie über die
+alten Fliesen des Flurs zum Garten, der hinter dem Hause liegt. In
+stummer Vereinbarung steuern sie sofort auf den gleichen Tisch zu, an
+dem sie damals zu viert gesessen hatten. Felix Friemann, der zu jener
+Zeit in die langgliedrige lustige Helene Uhl verliebt war, hatte den
+Platz ausgesucht, der ganz im Hintergrund, zwischen der historischen
+Eiche und einer hohen Hecke, versteckt ist. Er war immer findig im
+Ausspüren solcher Gelegenheiten, und es liegt nahe, daß die beiden nun
+wieder an ihn denken.</p>
+
+<p>»Und wie mag es Helene Uhl wohl jetzt gehen?« fragt Adelheid
+gedankenschwer.</p>
+
+<p>»Sie ist verheiratet.«</p>
+
+<p>»Ja, ich weiß, sie hat zwei Kinder. Man erzählte es einmal. Ich habe
+sie kaum gesehen, seit Felix sich nicht mehr für sie interessierte.«</p>
+
+<p>Ein Mädchen kommt aus dem Haus. Rechtsanwalt Bernhard bestellt Kaffee
+und Kuchen.</p>
+
+<p>»Sie ist neulich bei mir gewesen«, sagt er, nachdem das Mädchen
+gegangen ist.</p>
+
+<p>»Wer?«</p>
+
+<p>»Helene Uhl.«</p>
+
+<p>»Helene Uhl, bei Ihnen in der Praxis?« fragt Adelheid leise, fast im
+Flüsterton.</p>
+
+<p>Er nickt. »Sie will sich scheiden lassen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span></p>
+
+<p>»Und die Kinder?«</p>
+
+<p>»Ich habe ihr eben deswegen zugeredet, es doch noch weiter zu
+versuchen. Aber sie sagte, dann müßte sie seelisch zugrunde gehen. Ihr
+Mann ist ihr nicht treu.«</p>
+
+<p>»Vielleicht hätte sie doch unseren Felix nehmen sollen. Dann wäre alles
+anders gekommen.« Sie sitzt mit geschlossenen Augen da und mag sowohl
+an Schwester Emmi wie an den furchtbaren Kran denken.</p>
+
+<p>»Ja«, erwidert Alfred Bernhard und müht sich um irgendein passendes
+Wort ab, das noch hinzugefügt werden müßte, damit sie wieder die Augen
+öffnet und ihn ansieht. Und dann sagt er ganz leise, während die Stimme
+bei einzelnen Silben den Ton versagt:</p>
+
+<p>»Manchmal ist die erste Liebe die richtige, und man weiß es nicht.«</p>
+
+<p>»Ja«, erwidert sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hat sich gegen das
+rauhe Holz der breiten Bank zurückgelehnt und reicht ihm ihre Hand hin.
+Er sitzt in einigem Abstand neben ihr, sie braucht nicht nach ihm zu
+tasten, er greift sofort mit beiden Händen zu.</p>
+
+<p>Als sie seine brennenden Lippen auf ihren kühlen Fingern spürt, öffnet
+sie die Augen und blickt auf den herabgeneigten Kopf mit dem knabenhaft
+schlanken Nacken. Sie hat sich hochgerichtet und sitzt einen Augenblick
+mit steifem Rücken da, während sie ihm die Hand zart zu entziehen
+sucht. Er gibt sie frei, aber sein Kopf sinkt auf ihre Knie herab,<span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span> und
+sie spürt den heißen Atem durch den Stoff ihres Kleides.</p>
+
+<p>Da fährt sie mit kurzen, zarten Bewegungen über sein volles Haar,
+und wie er das Gesicht zu ihr aufhebt, strahlt sie ihn mit ihrem
+mütterlich-sanften Lächeln an, dem Joachim Becker schmerzlich nachsann,
+als sie ihm verloren war.</p>
+
+<p>Für Alfred Bernhard sind die sechs Jahre ausgelöscht, er ist wieder
+so jung und stumm wie damals. Er weiß, daß es jetzt keiner Worte mehr
+bedarf.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Einweihung">Die Einweihung</h2>
+</div>
+
+<div class="dc">
+ <img class="h3em" id="drop-i006" src="images/drop-i006.jpg" alt="I">
+</div>
+
+<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>m nächsten Frühjahr kann neben der Mühle von Michael Pohl die große
+Brotfabrik eröffnet werden, die Spenderin des täglichen Brotes für die
+ganze Stadt.</p>
+
+<p>Man veranstaltet kein Fest und ladet auch keine Gäste. Die Teigmassen
+wälzen sich aus den großen Knetmaschinen, sie rollen geformt aus einem
+Räderwerke heraus und verschwinden gleichzeitig zu Hunderten in den
+großen Öfen.</p>
+
+<p>Da gleiten schon die braunen Laibe herab, und dort ziehen die nächsten
+rohen Formen hinein.</p>
+
+<p>Meister Reiche nimmt das erste heiße Brot in seine abgehärteten Hände
+und legt es auf eine Schüssel. Dann geht er damit hinaus, über den
+großen Platz, an Mühle und Speicher vorbei zum Wohnhaus des Müllers.</p>
+
+<p>Michael Pohl sitzt mit seiner Familie am Mittagstisch, da tritt Meister
+Reiche mit der Schüssel ein und sagt feierlich:</p>
+
+<p>»Das erste Brot!«</p>
+
+<p>Michael Pohl erhebt sich und mit ihm auch seine Frau und seine Tochter,
+nur der jetzt vierjährige Michael bleibt<span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span> auf seinem Stühlchen sitzen
+und sieht der Szene mit großer Spannung zu.</p>
+
+<p>Sie sind alle von der Feierlichkeit dieses Augenblicks durchdrungen.</p>
+
+<p>Michael Pohl sagt:</p>
+
+<p>»Wir wollen gemeinsam davon essen.«</p>
+
+<p>Frau Pohl reicht ihm ein Messer, er schneidet vier Stücke von dem
+heißen Laib und spricht einige kurze Worte mit seinem Herrgott. Sie
+falten alle die Hände, und dann nehmen sie das Brot.</p>
+
+<p>Sie verzehren es wie das heilige Abendmahl.</p>
+
+<p>Meister Reiche reibt mit seinen großen Fäusten an den Augen, Frau Pohl
+aber gibt ihren Tränen freien Lauf, sie reicht ihrem Manne die Hand und
+läßt sich in seine Arme ziehen.</p>
+
+<p>Dann sagt sie: »Ich will auch unserem Sohne von dem heiligen Brot
+geben.«</p>
+
+<p>Und sie steckt ihm einen Bissen in den Mund, obgleich sie weiß, daß er
+sich daran den Magen verdirbt. —</p>
+
+<p>Wenige Wochen später ist der Hafen zur offiziellen Feier der Einweihung
+gerüstet. Aus dem ganzen Lande sind die Gäste geladen. Fahnen wehen
+über allen Gebäuden, und auf den Gewässern liegen die Kähne und
+Schleppdampfer in dichten Reihen.</p>
+
+<p>Man hat die Schiffer lange darauf vorbereitet, daß es erwünscht wäre,
+wenn am 1. Mai recht viele von ihnen<span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span> hier anlegten und sich den
+staunenden Gästen präsentierten.</p>
+
+<p>Gegen elf Uhr fahren die Wagen vor. Sie müssen hinter dem Tore halten,
+und bald ist die Straße bis zur Föhrbrücke gesperrt. Immer neue
+Menschenmengen strömen herein. Sie kommen einzeln und in Gruppen: die
+Herren von der Regierung und von den Kommunen, von Handel, Industrie
+und Gewerbe, die Schaulustigen und die Damen.</p>
+
+<p>Vor dem Verwaltungsgebäude ist eine geschmückte Rampe errichtet. Hier
+soll der Hafen gewissermaßen aus der Taufe gehoben werden. Die Reden
+sind vorbereitet, und die Schiffer auf dem Wasser hinter dem Rednerpult
+setzen sich neben ihre bekränzten und bewimpelten Kajüten und denken,
+daß sie diesmal auch etwas zu hören bekommen.</p>
+
+<p>Die Gäste promenieren und sehen sich staunend um, bis sie an der Kanzel
+versammelt werden, weil der erste Redner erscheint.</p>
+
+<p>Es ist der Oberbürgermeister, der sie im Hafen begrüßt und dann
+nicht minder erhebende Worte spricht als vor vier Jahren zum ersten
+Spatenstich.</p>
+
+<p>Dann folgt der Vertreter der Regierung, und das ist diesmal der
+Handelsminister selbst.</p>
+
+<p>Es reden die Exponenten von Industrie, Handel und Finanz, und die
+Zuhörer werden schon etwas müde, als Joachim Becker, der junge
+Generaldirektor und Anreger zu diesem Werk, die Schlußworte spricht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span></p>
+
+<p>Er faßt sich sehr kurz. Er sagt, daß er nicht viel Worte zu verlieren
+brauche, denn heute sprechen die Erfolge selbst. Er ladet zu einer
+Besichtigung der Hafenanlagen ein, dann werde jeder sehen, daß
+dieser neue große Binnenhafen ein wichtiger Faktor im deutschen
+Wirtschaftsleben sei, der seine Existenzberechtigung bewiesen habe.</p>
+
+<p>Er spricht diesmal nicht von Kampf, Mut und Ausdauer, nicht vom
+»Größten«, das alles andere übertrumpfen soll, oder von einer
+Weltmacht. Er sagt »Urteilt selbst«, dankt für das Interesse und
+verneigt sich.</p>
+
+<p>Dreißig große, mit Nummern bemalte Schilder stehen da, die von den
+Bureaudienern und Boten der Generaldirektion an hohen Stangen getragen
+werden; ebenso viele Führer, die mit dem Hafen vertraut sind, haben die
+Pflicht, für die Einteilung der Erschienenen in Gruppen zu sorgen und
+ihnen die Anlagen zu erklären.</p>
+
+<p>Da finden sich nun diejenigen zusammen, die im Rang zueinander
+gehören, eine besondere Gruppe ist für die Presse gebildet, und die
+Schaulustigen suchen sich die Gesellschaft, die ihnen gerade gefällt.</p>
+
+<p>Meister Reiche zum Beispiel, den man auch geladen hat, ist zufällig
+neben Fräulein Spandau gelandet. Sie lassen sich die technischen Wunder
+erklären, obgleich sie ihnen nicht fremd sind. Aber sie bleiben oft ein
+wenig zurück und halten eine Privatbesichtigung.</p>
+
+<p>Im Getreidespeicher, da, wo Meister Reiche vor mehr als<span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span> zwei Jahren
+die ersten Körner fallen sah, hält er sich längere Zeit auf. Er spricht
+in seiner schwerfälligen, etwas stockenden Art von den eigentümlichen
+Gefühlen in jener Stunde, und Fräulein Spandau hört ihm andächtig zu.</p>
+
+<p>»Und was würden Sie sagen,« fragt er zum Schluß, »wenn nun ein Mann vor
+Ihnen steht, der über sich selber wieder Herr und Meister ist?«</p>
+
+<p>Fräulein Spandau sieht ihn so erstaunt an, als wüßte sie nicht, worauf
+er hinaus wolle, obgleich eine stille Ahnung wohl in ihr dämmern mag.</p>
+
+<p>Die Teilnehmer ihrer Gruppe kommen unter lebhaftem Geplauder von der
+Besichtigung der oberen Stockwerke schon wieder zurück. Die beiden
+lassen sie vorbeiziehen, und Fräulein Spandau sagt:</p>
+
+<p>»Nun, ein Meister waren Sie trotzdem immer geblieben.«</p>
+
+<p>»So meinte ich es nicht. Ich wollte sagen, daß ich wieder ein freier
+Mann bin und möchte gern wissen, ob Ihnen das gefällt.«</p>
+
+<p>»Herr Reiche«, sagt Fräulein Spandau errötend.</p>
+
+<p>»Und was hier auf dem Papier steht,« er klopft auf die Brusttasche,
+»das von der unsauberen Sache in meiner Ehescheidung, würde Sie das
+wohl stören?« fragt er, während er ihre Hand ergreift. Er mag wohl an
+die Störung selbst nicht recht glauben, denn sonst würde er ihr nicht
+so treuherzig und siegesgewiß in die Augen schauen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span></p>
+
+<p>Fräulein Spandau errötet noch tiefer. Sie blüht geradezu auf, so daß
+sie hübsch und gesund aussieht.</p>
+
+<p>»Herr Reiche«, flüstert sie noch einmal. Er nimmt es als eine passende
+Antwort hin. —</p>
+
+<p>Joachim Becker zeigt sich bei jeder Gruppe und spielt den
+liebenswürdigen Gastgeber. Es ist für einen Boten, der ihm ein
+Telegramm überbringen soll, nicht leicht, ihn zu finden, weil er sich
+immer wieder an einer anderen Stelle aufhält.</p>
+
+<p>Endlich ist die Sendung übergeben. Joachim Becker geht zur Seite, um
+ungestört lesen zu können. Seine Augen werden immer heller und klarer,
+während sie auf den nüchternen Buchstaben ruhn.</p>
+
+<p>Dann eilt er mit seinen leichten schwingenden Schritten davon und sucht
+den Kommerzienrat. Er winkt ihn beiseite und übergibt ihm das Telegramm.</p>
+
+<p>»Es ist aus Venedig«, sagt er, während er lächelnd auf die gesenkten
+Augen seines ehemaligen Schwiegervaters sieht.</p>
+
+<p>Der Kommerzienrat liest:</p>
+
+<p>»Generaldirektor Joachim Becker. Gratulieren zur Einweihung des Hafens
+und wünschen von Herzen Glück und Heil. Alfred Bernhard und Frau
+Adelheid.«</p>
+
+<p>Er faltet das Papier langsam und sorgfältig zusammen, so daß es
+aussieht, als käme es eben von der Postanstalt. Dann reicht er es
+Joachim Becker zurück,<span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span> und weil seine Hand zittert, fällt es zur Erde.
+Joachim Becker hebt es auf. Wie er sich wieder hochrichtet, das Gesicht
+vom Bücken etwas gerötet, sagt der Kommerzienrat leise:</p>
+
+<p>»Dann will ich dir auch noch dazu gratulieren, daß dir alles so gut
+gelungen ist.«</p>
+
+<p>Joachim Becker steckt das Telegramm in die Tasche und geht damit eine
+Weile tatenlos umher. In seinem energischen schmalen Gesicht, auf der
+klaren hohen Stirn ist ein ungewohntes stilles Leuchten. Er greift noch
+einmal nach dem Papier, und er mag dabei denken, daß <em class="gesperrt">eine</em> Schuld
+nun ausgestrichen sei.</p>
+
+<p>Wie er dem Justizrat Bernhard begegnet, wird er so kindisch in seiner
+Freude, daß er ihm das Telegramm zeigt und einleitend sagt:</p>
+
+<p>»Ihr Neffe hat mir aus Venedig telegraphiert. Sie glauben nicht, wie
+ich mich darüber freue.«</p>
+
+<p>»So, ist er jetzt in Venedig?« fragt der Justizrat. Dann gibt er ihm
+das Papier zurück und meint: »Ja, er ist ein braver Bursche, der
+Alfred. Ich glaube, daß er noch ein gesuchter Rechtsanwalt wird.«</p>
+
+<p>Dann gehen sie, ein jeder seines Wegs. Der Justizrat ist zwar
+diesmal befriedigt, weil er die Rede des Oberbürgermeisters vorher
+durchgesehen hat, aber er denkt: ›Ganz richtig ist das nicht, daß der
+Junge dem ersten Mann seiner Frau gratuliert. Nun wollen sie wohl
+gar gesellschaftlich miteinander<span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span> verkehren? Es wird doch immer noch
+allerhand Vorsicht außer acht gelassen.‹ Und er schüttelt bedenklich
+sein graues Haupt.</p>
+
+<p>Redakteur Undlet und der ausländische Pressevertreter, mit dem er sich
+damals, beim ersten Spatenstich, zusammenfand, ist auch wieder da. Sie
+haben inzwischen beide die Blätter gewechselt, aber sonst sind sie die
+gleichen geblieben.</p>
+
+<p>»Was sagen Sie nun?« fragt Undlet interessiert.</p>
+
+<p>»Hm. Sie haben ganz Tüchtiges geleistet. Etwas bescheidener sind sie
+geworden.«</p>
+
+<p>»Bescheidener? Ich denke doch, daß sie in kürzester Zeit ausgeführt
+haben, was sie versprachen.«</p>
+
+<p>»Ich meine nur, daß sie jetzt nicht mehr soviel Worte machen.«</p>
+
+<p>»Ja, so ist das,« meint Redakteur Undlet, »wenn man erst gezeigt hat,
+was man kann, darf man schweigen. Vorher werden einem die besten Worte
+nicht geglaubt.«</p>
+
+<p>Sie gehen zur langgestreckten, mit Girlanden geschmückten Lagerhalle,
+wo die Tafeln für die Gäste gedeckt sind.</p>
+
+<p>Man läßt sich nieder, ißt und hört sich noch einige Reden an.</p>
+
+<p>Dann fahren die ersten Wagen vor, der Kommerzienrat und Joachim
+Becker begleiten die prominenten Gäste bis zum Ausgang. Schließlich
+verabschieden sie sich voneinander, und der Kommerzienrat fragt:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span></p>
+
+<p>»Du kommst doch heute abend zum Festessen ins Hotel?«</p>
+
+<p>»Wenn du es mir nicht übelnehmen würdest,« sagt Joachim Becker, »möchte
+ich heute gern allein bleiben.«</p>
+
+<p>»Nein, gewiß nicht. Ich werde dich bei den Herren entschuldigen.«</p>
+
+<p>Auf dem Rückweg begegnet dem Generaldirektor Schwester Emmi.</p>
+
+<p>Sie trägt heute nicht ihre einfache Tracht, nein, sie ist mit ihrer
+Eleganz wahrhaftig mancher hochgestellten Dame überlegen, wenn auch an
+ihrer Seite nur Herr Karcher geht.</p>
+
+<p>Dieser Herr Karcher, er ist mit großer Freude ihrer Einladung, sie
+beim Feste zu begleiten, gefolgt, und nun wandert er neben ihr her,
+als wäre das selbstverständlich und gar nicht eine große und besondere
+Vergünstigung. Zwar sind mit der Generaldirektion viele junge Männer
+in den Hafen gekommen. Sie rufen Schwester Emmi zuweilen einige
+Scherzworte zu, denen sie in der alten schlagfertigen Frische begegnet,
+doch sie hat keinen gefunden, der ihr ständig auf den Fersen folgt wie
+seinerzeit Herr Gregor und der <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann.</p>
+
+<p>Nun betrachtet Herr Karcher sie beinahe als einen festen Besitz, und
+es ist merkwürdig: irgend etwas fehlt ihm dabei. Wenn sie mit Herrn
+Gregor oder <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann tändelte, so hat sich sein Herz immer
+so wehmütig zusammengezogen, aber es war ein unvergleichlich schöner,
+süßer Schmerz, der<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> ihn den ganzen Tag begleitete und seinem Leben eine
+melancholische Melodie gab.</p>
+
+<p>Dieser Schmerz ist heute, da er von ihr bevorzugt wird, wie
+ausgelöscht, und dem leidgewohnten unvernünftigen Herzen fehlt ein
+treuer Gast.</p>
+
+<p>Wie nun Joachim Becker den beiden entgegenkommt, sieht Schwester Emmi
+rasch prüfend an sich herab. Sie zieht die Handschuhe glatt und hebt
+die Lackspitze eines Schuhs bis hoch oben zum Seidenstrumpf, um einen
+winzigen Fleck fortzuputzen. Dann befeuchtet sie die Lippen und geht
+dem Generaldirektor mit einem reizenden Lächeln entgegen.</p>
+
+<p>Joachim Becker begrüßt sie sehr liebenswürdig und drückt ihr sogar die
+Hand.</p>
+
+<p>»Ja, Schwester Emmi,« sagt er, »nun, da die Einweihungsarbeiten vorüber
+sind, werden wir beide uns einmal zusammensetzen und versuchen, wie wir
+nach dem Entwurf von <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann die Fürsorgestelle erweitern
+können.«</p>
+
+<p>Dann plaudern sie noch ein wenig. Herr Karcher steht schweigsam
+daneben, und siehe: da ist er wieder, der unvergleichlich schöne, süße
+Schmerz. —</p>
+
+<p>Das große Fest im Hafen kann auch dem Nachbarn nicht entgehen. Die
+offiziellen Nachrichten dringen überall hin, und für die Verbreitung
+der internen Mitteilungen in der Familie Pohl hat Schwester Emmi wieder
+gesorgt, seitdem<span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span> der Kapitän nicht mehr als gern gesehener Gast
+empfangen werden kann.</p>
+
+<p>Während Irmgard Pohl mit ihrem Vater zum Mittagessen über den
+Platz geht, muß sie auch einen Blick zu den lustig wehenden Fahnen
+hinüberwerfen.</p>
+
+<p>Sie bleibt stehen und sagt: »Vater, wenn Joachim Becker einmal
+wiederkehrte, um uns zur Versöhnung die Hand zu reichen, käme er dann
+als Sieger oder als Besiegter?«</p>
+
+<p>»Als Sieger!« sagt Michael Pohl so schnell, als wäre er auf die Antwort
+vorbereitet gewesen.</p>
+
+<p>»Und sein Sohn?« fragt Irmgard leise.</p>
+
+<p>Der Mühlenbesitzer sieht sie eine Weile schweigend an. Dann sagt er:
+»Auch der Sieger kehrt in sein Land mit Verlusten zurück. Wer sich in
+den Kampf einläßt, muß ihn in jedem Falle mitbezahlen.« —</p>
+
+<p>Als auch der letzte Gast verschwand, spaziert Joachim Becker noch ein
+wenig in seinem Hafen umher. Die Arbeit ist noch in vollem Betrieb,
+denn eines Festes wegen darf die Tätigkeit nicht ruhn. Die Angestellten
+haben auch ihr Freibier bekommen, und nun führen sie ihren Arbeitstag
+zu Ende.</p>
+
+<p>Joachim Becker bleibt neben dem Verwaltungsgebäude stehen und denkt
+an die alten Linden, die hier einstmals wuchsen. Über dem zweiten
+Hafenbecken sieht er eine Kirche und ein Fräuleinstift.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span></p>
+
+<p>Unter diesen Bäumen ist er damals auf- und abgegangen mit so
+hochfliegenden Gedanken, daß er manchmal selbst davor erschrak. Oft war
+er nicht allein gewesen, die Wärme und der Duft Irmgard Pohls hatten
+ihn verwirrt, so daß seine Pläne in die Ferne gerückt und ihm noch
+wahnwitziger erschienen waren. Er, der Prokurist einer Getreidefirma,
+hatte vor die Gewaltigen der Stadt treten wollen, um ihnen zu sagen:
+»Ich werde euch einen Hafen bauen!«</p>
+
+<p>Wenn er so recht mutlos geworden war und gedacht hatte: »In deinem
+ganzen Leben wirst du das nicht fertigbringen«, hatte er zuweilen
+eine weiche Frauenhand gefühlt, und Irmgard Pohl mit ihrer festen
+zuversichtlichen Stimme hatte gesagt:</p>
+
+<p>»Ich glaube an deine Kraft, und ich weiß, daß du dich durchsetzen
+wirst!«</p>
+
+<p>Dann war der Plan wieder näher gerückt, und er hatte mit seinen
+Gedanken weiter daran bauen können.</p>
+
+<p>Noch nicht fünf Jahre später steht er nun hier und blickt auf seinen
+fertigen Hafen.</p>
+
+<p>Er geht zum Hafentor, als wolle er sein Werk auch von außen betrachten.</p>
+
+<p>Aber ohne zurückzuschauen, lenkt er seine Schritte zielsicher zur Seite
+und wandert über die Föhrbrücke und an der Brotfabrik, der Mühle und
+dem Getreidespeicher entlang.</p>
+
+<p>Das ist ein weiter Weg, und er will gar kein Ende nehmen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span></p>
+
+<p>Ob man wohl von den Fenstern des Wohnhauses sehen kann, wie er mit
+seinen festen Schritten daherkommt?</p>
+
+<p>Nun ist er am Gartentor. Er schreitet an Frau Pohls gepflegtem Rasen
+vorbei, und wie er vor dem Hause endlich angelangt ist, öffnet sich die
+Tür.</p>
+
+<p>Michael Pohl steht auf der Schwelle. Er reicht ihm stumm die Hand und
+führt ihn in das Haus.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***</div>
+ </body>
+</html>
+
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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