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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-17 12:21:04 -0800 |
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Der Druck ist in Walbaum-Fraktur + durch die Spamersche Buchdruckerei in Leipzig erfolgt. Der Entwurf + des Einbandes stammt von Walter Schulze-Keller. Das echte Ziegenleder + lieferte die Lederfabrik Carl Simon Söhne in Kirn (Nahe). Gebunden + wurde das Buch von der Buchbinderei-Abteilung des Volksverbandes der + Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H. + + + Nachdruck verboten + +Copyright 1927, by Volksverband der Bücherfreunde + Wegweiser-Verlag G. m. b. H., Berlin+ + + + + + Der Hafen + + + Roman + + von + + Else Rabe + + * + + [Illustration] + + 1927 + + Volksverband der Bücherfreunde + Wegweiser-Verlag G. m. b. H. + Berlin + + + + + Inhalt + + + Der erste Spatenstich 5 + + Der Feind 21 + + Die Katastrophe 40 + + +Vita somnium breve+ 55 + + Der Aufsichtsrat 62 + + Die Mutter 82 + + In Erwartung 101 + + Der Kapitän 128 + + Die Verhaftung 149 + + Der Mann in der Mitte 178 + + Die Vergangenheit 200 + + Der Sohn 219 + + Das Brot 239 + + Die Scheidung 259 + + Der Streik 276 + + Die Begegnung 289 + + Der Kran 315 + + Das Fieber 328 + + Der Abschied 343 + + Die Einweihung 370 + + + + + Der erste Spatenstich + + +»Ich habe keinen Augenblick Zeit und bin für niemand mehr zu sprechen!« +sagt Joachim Becker abwehrend, noch ehe er ein Wort gehört hat. + +»Es ist die Frau Gemahlin«, stammelt der Mann an der Tür verwirrt. + +Das macht auf den jungen Direktor Becker durchaus keinen Eindruck. Er +sagt nur in gedämpfterem Tone: »Dann lasse ich bitten,« und wühlt in +seinen Papieren, so daß er verhindert ist, seiner Frau entgegenzugehen. +Sie bleibt mit erwartungsvollem Lächeln im Hintergrund stehen. + +»Du hast es sehr gut gemeint,« sagt er nachsichtig, wie er die Spannung +in ihrem jungen blassen Gesicht sieht, »doch du solltest wissen, was +dieser Tag für mich bedeutet, und daß ich keine Zeit habe, mich dir zu +widmen.« + +›Weil ich das weiß, bin ich hierhergekommen, denn gerade heute müßte +mein Platz an deiner Seite sein‹, hätte sie darauf erwidern sollen. +Aber Adelheid ist nicht der Mensch, der aussprechen kann, was er denkt. +Zu ihrem Unglück jedoch sagen ihre runden braunen Augen alles, was ihr +Mann nicht hören will. + +»Ich habe mit Herrn Gregor noch auf dem Wege Wichtiges zu besprechen +und muß dort die offiziellen Empfänge leiten. Ich will deinen Vater +fragen, ob du dich ihm anschließen kannst.« + +Er ruft den Kommerzienrat an und sagt, ohne seinen Namen zu nennen: +»Adelheid ist in meinem Zimmer.« Da wird er schon unterbrochen und +schweigt, denn sein Schwiegervater ist der einzige Mensch, der ihm das +Wort abschneiden darf. + +Wenige Augenblicke später wird die Verbindungstür zum Nebenzimmer, +dem kleinen Konferenzraum, aufgerissen, und die runde Gestalt des +Kommerzienrats kugelt herein. + +Sein breites bartloses Gesicht mit der vom Haarausfall erhöhten Stirn +leuchtet in der angenehmen Überraschung, die nur seine Familie ihm +bereiten kann. + +»Das ist mir eine Freude, Adelheid, dich hier zu sehen!« Er schließt +sie in seine Arme, und die junge Frau liegt ohne Rücksicht auf ihren +Hut, der sehr verbogen wird, einen Augenblick ganz still. + +Joachim Becker schreitet nervös sein Zimmer ab. Er hat im Gang das +verhaltene Vibrieren eines Rennpferdes. Aber dem strengen Gesicht +mit der hohen Stirnwölbung über den grauen Augen ist keine Regung zu +entnehmen. + +Wie er nun stehenbleibt und mit den nervösen langen Fingern über seine +aschblonde Haarmähne streicht, während das schmale gespaltene Kinn sich +wie zum Sprechen bewegt, scheint er seinem Schwiegervater fremd und +bedrückend im auffallenden Gegensatz zu ihm und seiner Tochter. + +Der Kommerzienrat rückt Adelheid den Hut zurecht und zupft an ihrem +seidenen Mantel. + +»Schön hast du dich gemacht, da wird die Mama ihre Freude an dir haben. +Ist das der Mantel, den ihr gestern gekauft habt?« + +»Ja,« sagt sie glücklich, »daß du dich dafür interessierst!« + +»Das wäre ja noch schöner. Mir haben die Kleider der Mama immer Freude +gemacht.« Bei diesen Worten kann Kommerzienrat Friemann einen kleinen +Seitenblick zum Schwiegersohn nicht vermeiden. Aber herzlich fügt er +hinzu: »Der Hut steht dir übrigens auch ausgezeichnet.« + +Jetzt hat die junge Frau den Mut, ihren Mann mit einem Lächeln +anzublicken. Zu ihrem Unglück erscheint Herr Gregor in der Tür. Er will +sofort wieder verschwinden, da er die Familienszene sieht, Joachim +Becker hält ihn mit lautem Zuruf zurück, so daß der Kommerzienrat sich +kurz verabschiedet und seine Tochter zum Wagen begleitet. + +Sie fahren zu jenem freien Platz abseits der Stadt, wo zwischen +alten Bäumen und abgerissenen Mauern der Fluß und zwei Kanäle fast +zusammenstoßen. Eine Gruppe von Männern und Frauen ist an diesem milden +Frühlingstage hierher geladen worden, um sich einige Reden anzuhören. + +Zuerst spricht der Oberbürgermeister persönlich zur Ehre des Tages. + +Es sei die wichtigste Aufgabe der Städte, führt er unter anderem +aus, für den Ausbau der Wasserwege zu sorgen. Die Bedeutung der +Binnenschiffahrt sei von den großen Städten im Lande noch nicht +richtig eingeschätzt, doch diese Stadt, die er zu vertreten die Ehre +habe, wisse, was nun zu tun sei. Wenn das Stadtparlament beschlossen +habe, den Ausbau und die Verwaltung ihres Hafens einem Konsortium zu +überlassen, so sei dies vom wirtschaftlichen Standpunkt notwendig +geworden. Die Privatwirtschaft könne mit freieren Händen arbeiten als +die Bureaukratie. + +Hier wird unter den geladenen Gästen und einem Teil der Presse eine +kleine katarrhalische Verstimmung fühlbar, aber das Oberhaupt der Stadt +fährt mit erhobener Stimme fort: + +»Die Verpachtung unserer Ladestraßen an das von Herrn Kommerzienrat +Friemann geführte Konsortium unter Beteiligung der Stadt wird uns zu +einem Hafen verhelfen, den wir uns mit kommunalen Mitteln nicht leisten +können. Im Interesse unserer Bürgerschaft und in der Erkenntnis, daß +der Riesenbedarf unserer Stadt durch das zwar weitverzweigte, doch für +die fernere Zukunft unzulängliche Eisenbahnnetz nicht zu bewältigen +sei, ist dem Angebot mit großer Majorität zugestimmt worden. Noch +haben wir keinen Hafen, noch sind wir eingeengt durch Schleusen und +schmale Kanäle, aber diese Schranken werden fallen, -- die Leistungen +der technisch-wissenschaftlichen Wasserwirtschaft im Verein mit +kaufmännischem Fernblick und Unternehmungsgeist werden unsere Stadt +in kurzem zu einem der bedeutendsten Binnenhafenplätze des Kontinents +erheben.« + +Lebhafter Beifall stimmt diesen Schlußworten zu. + +Justizrat Bernhard, der Syndikus der Stadt, nimmt seinen Neffen, +Rechtsanwalt Bernhard jr., zur Seite und meint: »Es ist allerhand +Vorsicht außer acht gelassen -- vom juristischen Standpunkt allerhand +Vorsicht! Man mußte hier vor der Presse nochmals betonen, daß es +sich nur um eine Pacht für neunzig Jahre handelt. Man durfte den +Kommerzienrat Friemann nicht allein erwähnen. Er vertritt die Majorität +-- gut! Aber ›er‹ -- das ist der Handel, sagen wir getrost, der +Getreidehandel. Was meinen nun die Banken dazu? Sie haben ebenso +gutes Geld gegeben, ja, sie werden für die Kredite sorgen, -- die +Banken durften nicht ausgeschaltet werden. Und die Industrie, die +Eisenindustrie, die sich nach schweren Kämpfen auch beteiligt hat? +Die Reedereien -- ich meine die Flußschiffahrt, denn die anderen +haben sie nicht bekommen -- wo bleiben diese Interessen? Siehst du, +mein Junge, das sind die taktischen Fehler, die bei uns immer wieder +gemacht werden. Man hätte ~mir~ die Rede vorlegen sollen, der +~Jurist~ muß sie vorher bearbeiten --« + +»Ja, gewiß, aber wollen wir nicht die anderen Reden hören?« + +»Die wirst du heute abend in der Zeitung lesen. Wir wollen uns ein +wenig umsehen, ehe die offizielle Führung beginnt.« + +Und der Justizrat zieht seinen Neffen mit dem Recht des Protektors, der +dem Anfänger mit seinen Beziehungen die Wege ebnet, zum Kanal hinüber. + +Einige Schleppkähne, die zur Feier des Tages bewimpelt sind, liegen +an der Kaimauer und strecken ihren berußten langen Leib den milden +Mittagsstrahlen hin. Vor den Kajüten haben die Frauen ihre Blumentöpfe +zum Luftholen ausgesetzt. + +Ein Säugling, auf einem hellen Tuch über den Planken ausgestreckt, +kräht einem Pudel entgegen; die Frau eines Schiffseigners sitzt +kartoffelschälend vor der Tür. + +Die Schiffer, in ihren besten blauen Jacken, mit Hochglanz über der +braunen geschabten Haut, stehen in der Nähe der Versammelten und fangen +ehrfürchtig ein paar vom Wind verwehte Worte auf. + +»Und die Eisenbahn?« fragt der Justizrat. »Das waren doch wohl Angriffe +auf die Eisenbahn. Man hat noch keine Verträge mit ihr geschlossen, man +wird sie brauchen, aber man stößt sie vor den Kopf.« + +Der junge Rechtsanwalt sieht dem Spiel des Säuglings zu, seine braunen +Augen über den gerundeten roten Wangen sind blank und von innen +erwärmt. + +»Ich dachte,« bringt er leise und stockend hervor, »daß es schöner +wäre, auf solchem Kahn lautlos durch die deutsche Landschaft zu fahren, +als hier Prozesse zu führen und Reden zu hören.« + +»Diese Leute«, gibt der Justizrat rasch zurück, »sind ein kleines Rad +im großen Werk, du bist ein größeres. Warum willst du geringer werden?« + +Er hat den Hut abgenommen und den breiten gelichteten Graukopf der +linden Luft preisgegeben. Darum sind seine Worte milde und fast ohne +Zurechtweisung. + +Plötzlich kommt Bewegung in seine kleine gedrungene Gestalt. Er rückt +den Kneifer zurecht und ist von der angespanntesten Aufmerksamkeit +ergriffen. + +»Das ist sehr interessant, das ist außerordentlich interessant«, +murmelt er hingerissen. Alfred Bernhard kann nicht umhin, der +Blickrichtung seines Onkels zu folgen. + +Er sieht nichts weiter als einen Wagen vor dem Wohnhaus der Mühle, die +mit ihren Mehl- und Getreidespeichern direkt in den Kanal hineinblickt. +Das Haus ist einstöckig, mit einem kleinen Vorgarten und bunten +Blumenkästen vor den Fenstern. Es steht etwas abseits auf dem großen +Platze, der den Winkel zwischen beiden Kanälen bildet. + +»Du hast nicht gesehen, wer ausgestiegen ist?« fragt der Justizrat. + +»Nein.« + +»Aber du weißt, welche Bedeutung der Mühlenbesitzer dort drüben für +den Hafen hat? Er ist dein erster Prozeßgegner. An diesem Dickschädel +sollst du dir sozusagen deine Sporen verdienen.« + +»Er ist der einzige der Privatbesitzer, der sein Terrain nicht +verkaufen wollte?« + +»Richtig! Die Akten will dir Direktor Becker morgen selbst übergeben. +Es ist eine persönliche, eine Vertrauensangelegenheit. Und wenn ich +dir jetzt sage, wer soeben dort hineingegangen ist, wirst du ermessen, +was für eine heikle Aufgabe dir bevorsteht. Also die Person war eine +Frau, eine Frau mit einer großen Tasche.« + +Rechtsanwalt Bernhards verständnisloses Gesicht beweist dem Justizrat, +daß seine feinen Anspielungen durchaus nicht verstanden werden. + +»Du weißt also nicht, daß dieser Becker im Hause des Müllers gern +gesehen war, als er noch der Tochter den Hof machte, während er dem +Vater Friemanns Getreide verkaufte. Hier war er zu seinen großen +Hafenplänen angeregt worden. Er ist ein Kerl, das kann man nicht anders +sagen, wie man auch sonst über ihn denken mag. In seinem Kopfe ist das +ganze Projekt entstanden, das heute so durchführbar erscheint, während +man anfangs darüber gelacht hat. Wie aus dem Erdboden geschossen war +er plötzlich da, dieser Prokurist im Hause Friemann. Er legte seine +Pläne vor, löste die Verlobung mit Fräulein Pohl, heiratete die Tochter +seines Chefs und brachte die maßgebenden Geldkreise zusammen. Heute +nun wird der erste Spatenstich vorgenommen. Das ist alles in kaum neun +Monaten geschehen, du kannst es dir ausrechnen, denn eben ist drüben +die Frau mit der großen Tasche ausgestiegen. Das ist wieder so ein Witz +des Schicksals, daß hier und dort seine Werke an einem Tage zu leben +beginnen.« Der Justizrat lacht kichernd und verstohlen, als habe er +selbst diesen Witz erfunden. + +Alfred Bernhard ist noch etwas benommen. Es wird ihm nicht recht klar, +ob er die Anspielungen richtig aufgefaßt hat. + +»Also dort drüben ist auch eine Tochter und -- und die Feindseligkeit +des Müllers ist persönlicher Natur?« + +»Allerdings. Damit mußt du rechnen. Da wirst du deinen Hebel ansetzen.« + +»Das wird die Arbeit sehr erschweren. Unter diesen Verhältnissen ist +wohl mit einem endlosen Prozeß zu rechnen. Meines Erachtens wird man +den Mann nicht zwingen können, zu verkaufen. Und wenn er hartnäckig +bleibt --« + +»Er wird, mein Lieber, er wird. So etwas vergißt ein Vater nicht. Es +sind ehrenhafte, gutsituierte Leute, die Tochter von ausgezeichnetem +Charakter, wie man sagt. Aber so etwas kommt in den besten Familien +vor.« + +»Ich denke an Adelheid Friemann. Wir sind doch zusammen in die +Tanzstunde gegangen --« + +»Ja, ja,« meint der Justizrat, »aber ich glaube, der Becker spricht.« + +Joachim Becker ist bereits bei den Schlußworten. Sein schmales Gesicht +ist sehr blaß und sehr belebt. Die Stimme, durchdringend, mit vollem +Klang, hat einen Stich ins Kommandohafte. + +»Es soll sich nicht darum handeln, die Güter nach Hamburg oder Stettin +zu verladen, sondern direkt nach Südamerika oder China. Nicht einen +Umschlagshafen wollen wir schaffen, sondern eine Zentrale für den +deutschen Weltverkehr, nicht einen Hafen, der dem eigenen Bedarf +genügt, sondern einen Stapelplatz für den Transithandel, der einfach +nicht mehr auszuschalten ist. Unsere Speicher und Lagerhallen, die +in allerkürzester Zeit auf diesem kahlen Boden aufwachsen werden, +sollen alle Waren und jede Menge aufnehmen, die überhaupt eingelagert +werden können. Unsere Getreidespeicher werden die vollkommensten +auf dem Kontinent sein, mit allen technischen Errungenschaften der +Neuzeit. Tankanlagen und eigene Tankschiffe stehen bald zur Verfügung. +Eilverkehre, die uns dauernd in schnellster Verbindung mit den großen +Seehäfen halten, verschaffen uns Unabhängigkeit, größte Leistungskraft. +Die Weltmeere stehen uns offen, durch unseren Hafen stellen wir uns auf +den großen wirtschaftlichen Kampfplatz der Welt, den wir mit Ausdauer +und Mut behaupten werden.« + +Direktor Becker verneigt sich unter dem üblichen Beifall, der jeder +Rede folgte, und führt nun den symbolischen ersten Spatenstich aus, das +heißt, er legt die Hand auf einen Hebel des großen Löffelbaggers, der +mit dem ersten Stich gleich zwei Kubikmeter Boden aushebt und in die +bereitstehende Kipplori schüttet. + +Ja, das ist tüchtige und schnelle Arbeit! Die Gäste sehen staunend +und bewundernd zu. Joachim Beckers lange sehnige Gestalt ist über die +Grube geneigt. Er läßt den gefüllten Wagen gleich davonrollen, und +wie er jetzt aufblickt, direkt in die erwartungsvollen Gesichter der +Zuschauer, sind seine grauen Augen strahlend, knabenhaft jung. + +Frau Adelheid drückt heftig den Arm ihrer Mutter. Und die +Kommerzienrätin, der das Stehen etwas schwer fällt -- sie hat +denselben ein wenig breiten Unterkörper wie ihre Tochter --, führt das +Taschentuch an die Augen. + +Der Vertreter einiger ausländischer Zeitungen, der gleich mehrere +Länder bedient, schreitet mit Redakteur Undlet das abgesteckte Gelände +für das erste Hafenbecken ab und meint mißbilligend: »Ein tüchtiger +Mann, aber zuviel Worte. Zu ausholend! Diese Deutschen haben immer +gleich das Wort ›Welt‹ und ›Kampf‹ im Munde. Sehr falsch, taktisch sehr +falsch. Ich habe es Ihnen von jeher gesagt: keine Diplomaten.« + +»Übersehen Sie nicht den Unternehmungsgeist, den verblüffenden, +den gefährlichen Unternehmungsgeist! Das ist hier eine Stadt ohne +Industrie, mitten im Lande, abseits von den großen Schiffahrtswegen, +doch sie wagen es, solche Pläne nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu +finanzieren. Und was sagen Sie zu den Behörden? Sie öffnen der freien +Privatwirtschaft die Wege. Das ist Großzügigkeit, Weitblick, Freiheit! +Das ist einfach nicht zu übersehen. Man kann die Augen nicht offen +genug halten.« + +Joachim Becker erklärt der Gruppe mit den Damen das Gelände; Herr +Gregor, seine rechte Hand, führt die Herren von der Presse. + +»Drei Hafenbecken sind zunächst geplant, für das vierte, das +wichtigste, zwischen beiden Kanälen, ist das Terrain noch nicht frei. +Man wird es in kürzester Zeit auch in Angriff nehmen können«, meint +Herr Gregor zuversichtlich. + +Kommerzienrat Friemann, der es immer verstanden hat, mit seinen beiden +Ohren nach zwei Richtungen zu hören, wirft mit seiner ruhigen, betont +gemessenen Stimme, die ihm nur für geschäftliche Zwecke zur Verfügung +steht, ein, daß dieses Becken noch nicht benötigt werde und für die +fernere Zukunft vorbestimmt sei. Drei Hafenbecken im Anfang genügen. +Man wolle rentabel wirtschaften vom ersten Tage an. Schon jetzt werde +gearbeitet. Die Ladestraßen sind sofort übernommen worden, neue Kunden +bereits geworben. + +Dann geht er still und unauffällig zu den Herren von den Banken und der +Flußschiffahrt hinüber, um auch hier das Seine zu tun. + +Der Bagger ist nicht abgestellt worden. Es macht einen guten und +betriebsamen Eindruck, daß in diesem abseitigen Winkel, der einem Hafen +von Weltbedeutung Platz machen soll, schon ein wenig Lärm zu hören ist. +Eine Menge Arbeiter taucht plötzlich auf, die Loris rollen hin und her, +und die ausgebaggerte Grube wird rapide tiefer und breiter. Braun und +fett ist jetzt die herausgehobene Erde, und es riecht nach Mutterboden, +dem trächtigen Stoff für Reife und Ernte. + +Die Gäste werden nun ein wenig müde vom Zuhören und Schauen, obgleich +außer einem alten Lagerschuppen, den Überresten einer Kirche und +einigen halb abgerissenen Wohnhäusern -- nicht zu vergessen: ein +paar alten Linden -- wenig zu sehen ist. Besonders die Damen bekommen +abgespannte Züge, und Kommerzienrat Friemann ergreift die Gelegenheit, +alle Versammelten zu einem kleinen Imbiß zu laden. + +Herr Gregor eilt voraus, um die langen Tafeln unter den Linden zu +überprüfen. Vor jedem Stuhl ist ein Teller mit belegten Broten +aufgestellt, und einige Männer stehen bereit, um das Bier +einzuschenken. + +Junge Mädchen vom Personal des Kommerzienrats sind mit einer kleinen +Festschrift und gedruckten Informationen für die Presse postiert. + +Die Gesellschaft naht plaudernd, in kleine Gruppen aufgelöst; die +ernsten, bedeutungsvollen Mienen sind zu konziliantem Lächeln, bei +diesem und jenem auch zu einem recht privaten, mittäglich hungrigen +Ausdruck übergegangen. + +Frau Adelheid hüpft ungeniert an mehreren laut sprechenden Herren von +der Stadt vorbei, um wieder in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Er +war vom Oberbürgermeister in ein Gespräch gezogen worden und hält nun +nach den wichtigsten Persönlichkeiten Ausschau. + +Sie ist erst zwei Monate verheiratet und hat zuweilen noch recht +mädchenhafte Bewegungen. Die Stadträtin Meerboom wird dabei ein wenig +unsanft gestreift und sagt mit ihrer harten, im Stadthaus erprobten +Stimme: »Nein, meine Tochter nehme ich zu solchen Anlässen nicht mit.« + +»Ach, gnädige Frau«, ruft Justizrat Bernhard aus, bei dem Adelheid nun +angelangt ist, und er freut sich mit vielen überschwenglichen Worten +der Begegnung. + +Sein Neffe ist sehr rot geworden, als die junge Frau ihm die Hand +reicht, und Adelheid sagt wie zur Entschuldigung: »Ja, wir haben in der +Tanzstunde miteinander getanzt.« + +Dann wird sie traurig, denn ihr Mann und die Eltern scheinen spurlos +verschwunden. Sie hat das unendlich schmerzliche Gefühl eines Kindes, +das sich verlaufen hat und der tiefen Vereinsamung urplötzlich +schreckhaft gewahr wird. + +Das im Verhältnis zur kleinen Figur etwas zu große, jugendlich +gerundete Gesicht mit den weichen dunklen Haaren wird in solchen +Stimmungen immer ganz und gar von den großen sprechenden Augen +beherrscht. Rechtsanwalt Bernhard hat das Empfinden, daß er ihre Hand +ergreifen und sie zu den Eltern zurückführen müsse. + +Da hellt sich ihr Gesicht auf, es ist ihr wie im Traum, daß Joachim +Becker, ihr Mann, mit seinen langen festen Schritten auf sie zukommt, +ihre zitternde Hand küßt und nach der Begrüßung der beiden Herren +besorgt sagt: »Habe ich dich endlich gefunden!« + +Er führt sie zu einer der langen Tafeln, wo der Kommerzienrat und seine +Frau ihr herzlich entgegenlächeln, auch der Oberbürgermeister ist da +und die Stadträtin Meerboom, aber sie sind lange nicht mehr so streng, +und Adelheid beißt mutig in die belegten Brote, die man in die Hand +nehmen muß, weil es nur ein ganz zwangloser Imbiß sein soll. + +Man plaudert sehr lebhaft, die Herren rufen laut und lustig nach +Bier, schieben ihre leeren Teller beiseite und bekommen reichliche +Nachfüllung. Direktor Becker lächelt befriedigt, er hängt immer mit +einem Blicke an Herrn Gregor, der das Ganze überwacht; doch es ist +nichts auszusetzen. + +»Oh, dafür war auch gesorgt,« antwortet er auf eine Frage der +Stadträtin, »bei Regenwetter hätten wir drüben in der kleinen +Lagerhalle gedeckt.« + +Da wagt auch Adelheid eine Bemerkung: »Aber die Waren,« sagt sie, +»wohin hättet ihr dann die Waren geschafft?« + +»Beiseite geschoben,« meint er mit leisem Lächeln, »wie man es beim +Tanzvergnügen mit den Tischen und Stühlen macht.« + +»Es ist also noch nicht der Rede wert, was augenblicklich lagert?« +fragt Herr Undlet, der durch ein Versehen an diese Tafel geraten ist. + +»Nein,« sagt Joachim Becker kurz, »wir haben erst heute mit dem Betrieb +begonnen.« + +Und Adelheid hat das beklommene Gefühl, daß sie doch wieder etwas +gesagt hat, was nicht in der Ordnung war. Sie kann ihre Brötchen beim +besten Willen nicht aufessen, obgleich andere schon beim dritten Teller +angelangt sind und das Bier anfängt, knapp zu werden, weil man mit +diesem Durst trotz aller Voraussicht nicht gerechnet hat. + +Die Herren von der Presse ziehen sich zurück, auch einige Wagen fahren +vor, und die Tischreihen lichten sich allmählich. + +Auf den Schleppkähnen sitzen die Schiffer mit ihren Pfeifen vor der +Kajüte. Mühlenbesitzer Pohl geleitet die Frau mit der großen Tasche vor +die Tür. Er bleibt einen Augenblick im Vorgarten stehen, seine grauen +Haare werden von einer leichten Brise zerzaust. Dann geht er mit festen +Schritten, ohne sich umzusehen, zurück. + + + + + Der Feind + + +Irmgard Pohl hat sich mit einem Buch ans Fenster gesetzt und ein wenig +zu lesen versucht. Aber es ist eigenartig: wenn sie untätig dasitzt +und ihre Gedanken spielen lassen will, dann wird es leer in ihrem Kopf +und traurig im Herzen, oder ein Karussell dreht sich so lange, bis sie +zu verzweifeln beginnt. Doch wenn sie ein paar Zeilen über eine fremde +Welt gelesen hat, dann findet sie wieder in geordneter Weise zu sich +selbst zurück. Sie legt das Buch bald in den Schoß, blickt gedankenvoll +zum Fenster hinaus und fühlt, daß in ihr etwas vorgeht, das nur geweckt +zu werden brauchte. + +Nicht die gewünschte Frühlingssonne liegt vor dem Fenster: das Gras +ist naß und blank, auf den Kanal spritzt der Regen, daß die langweilig +glatte Fläche in Blasen und Kreisen bewegt wird, und der bemehlte +Getreidespeicher erscheint noch stumpfer und farbloser vor dem +schmutzigweißen Himmel als sonst. + +Es ist nicht wegzuleugnen, daß ihr Leben nun eine ganz andere Richtung +nehmen muß. Sie hat ihr Krankenlager nach langen trüben Wochen zum +erstenmal verlassen, als ein Mensch, der bald wieder mitzählen wird. + +Die junge blonde Säuglingsschwester steckt ihren kleinen Wuschelkopf +zur Tür herein und fragt hell und freundlich wie alle Tage: + +»Nun, geht es uns gut? Das ist reizend!« + +Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Irmgard lächelt zaghaft; sie hat +es fast verlernt. Ihre Züge sind scharf und spitz geworden, und erst +jetzt, da sie lächelt und die leicht irisierenden Augen in die Tiefe +des Zimmers richtet, ist wieder etwas von dem weichen Charme früherer +Tage spürbar geworden. + +»Sie haben mir die Haare so straff hinter die Ohren gestrichen, ich +glaube, ich sehe scheußlich aus. Könnten Sie mir nicht endlich einen +Spiegel geben?« + +»Gott sei Dank, sie fängt an, eitel zu werden. Das ist ein herrliches +Zeichen der Genesung«, ruft Schwester Emmi erfreut aus. »Aber mit dem +Spiegel hat es noch Zeit. Ziehen wir diese Haare ein wenig hervor, +so -- ach, es ist ja eine reizende braune Welle. Gleich sieht unsere +Patientin gesünder aus.« + +Sie freut sich und hüpft vergnügt um die Kranke herum. + +»Sie sind wirklich ein Labsal für verzweifelte Menschen«, sagt Irmgard +herzlich. + +»Ja, wenn man nur seinen Platz ausfüllt und seiner Pflicht nachkommt. +Mehr hat noch kein Mensch von mir verlangt.« Sie zieht den Mund halb +lächelnd, halb schmerzlich herab. Auch ihre Nase ist dabei ein wenig +schief gezogen, und sie ist trotz den aufgebauschten gelbblonden +Haaren gar nicht mehr quicklebendig, sondern grau wie ein Regentag. + +Aber da reckt sich die kleine schmale Person gleich wieder, sie hebt +die Lackspitze ihres zierlichen Schuhs und sagt: »Damit bin ich nun +unten gewesen. Sie gehen mir jetzt bestimmt aus dem Leim.« Und dabei +lacht sie, als sei es ein Vergnügen, seine Schuhe zu verderben. + +»Ja, daran sind nur unsere aufgeweichten Wege schuld«, meint Irmgard, +in dem Gefühl, auch ihrerseits etwas sagen zu müssen. »Aber was hatten +Sie denn unten zu tun?« + +»Ach, offengestanden, ich bekam nur Lust, die Nase in den Regen zu +stecken.« + +»Vielleicht ist zufällig jemand vorbeigegangen, der auch seine Nase +spazierenführen mußte?« fragt Irmgard lächelnd, ihre Züge sind nun sehr +erschlafft. + +»Ach ja, da werden viele gewesen sein. Doch unsere Patientin wollen wir +nun wieder in die Federbetten stecken.« + +Irmgard hat nichts dagegen einzuwenden. Sie läßt sich von den festen +kleinen Händen der Schwester hochheben und stützen. Dann liegt sie +wieder im Bett und denkt, daß sie für den neuen Flug in das Leben +noch nicht tauglich sei. Auch der Blick aus dem Fenster hat ihr +noch nicht den Weg in die Zukunft eröffnet, der durch einen neuen +kleinen Erdenbürger bestimmt wird. Sie hebt sich alle Fragen und +Auseinandersetzungen für einen späteren Tag auf. Nur den Knaben wünscht +sie noch einmal zu sehen. + +»Ist es nicht, als könnte er schon hören?« fragt sie, »wenn ich ihn +anriefe, so würde er sich vielleicht rühren.« + +»Nein, so weit ist es noch nicht. Außerdem -- er hat doch noch keinen +Namen, wie soll er Sie denn verstehen?« Und Schwester Emmi lacht +herzlich über ihren eigenen Witz. + +In Irmgard aber weckt das wieder nur traurige Erinnerungen. Sie blickt +den Säugling lange an und fragt dann leise: + +»Hat mein Vater sich noch immer nicht geäußert?« + +»Nein. Er meinte, ich solle Sie nach dem Namen fragen, wenn Sie sich +etwas wohler fühlen.« + +»Und hat mein Vater auch Interesse für das Kind gezeigt?« + +»O ja. Wenn er zufällig vorbeigekommen ist, hat er es betrachtet und +gesagt, was die Ansicht sämtlicher Männer ist: daß in diesem Alter die +Menschen alle gleich aussehen.« + +»Aber das kann man doch nicht mehr sagen, nicht wahr? Hat es nicht die +unverkennbaren Pohlschen Züge: die starken Backenknochen und Vaters +tiefliegende Augen?« + +»Mit einiger Phantasie kann man es so sehen.« + +»Ach, ich spreche gewiß wieder wie alle Mütter«, meint Irmgard traurig +lächelnd. + +»Gott sei Dank ja! Sie unterscheiden sich darin nicht eine Spur von +ihnen. Und das ist herrlich. Das ist doch wirklich ganz prächtig.« + +Sie nimmt den blassen schönen Kopf zwischen beide Hände und legt ihn +in die Kissen zurück. Dabei sind ihre Finger von zärtlichem Druck, +und plötzlich hat sie für eine Sekunde ihr kleines Gesicht an Irmgards +Wange gelehnt. + +»Weil Sie so tapfer und geduldig sind«, sagt sie gleichsam zur +Entschuldigung, als sie das Kind aufnimmt und hinausbringt. -- + +Einige Tage später ist Irmgard schon richtig aufgestanden. Sie konnte +sich selbst ankleiden, ist im Zimmer umhergegangen und hat sich wieder +an das Fenster gesetzt, das auf den Kanal hinausgeht. + +An diesem Tage liegt wirklich Sonne auf allen Dingen, und Irmgard +denkt, daß nun das neue Leben beginne, für das sie die richtige gesunde +Einstellung braucht. + +Sie ruft Schwester Emmi und sagt kurz entschlossen: + +»Sie müssen sich hierher setzen und mir einige Fragen beantworten. Ich +hasse das Halbe und Kranke und muß es vollkommen abstreifen, wenn ich +wieder mit beiden Beinen im Leben stehen soll.« + +Sie freut sich über ihre eigene Kraft, und Schwester Emmi sagt ein +wenig gekränkt: »Ja, jetzt werden Sie wohl wieder alles in die Hand +nehmen wollen.« + +Sie empfindet eine Abneigung gegen die Frauen, die immer fest und +unbeirrt handeln und ihre Ziele und Wege deutlich vor sich sehen. Sie +hat ihre kleine Person immer vom Schicksal vorwärtsstoßen lassen, wie +es gerade sein mußte. + +Irmgard ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie das +verschlossene Gesicht der anderen bemerken könnte. + +»Es gibt soviel Unausgesprochenes in diesem Haus. Dann scheint +etwas in mir schief gerückt, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis +es geradesteht. Da ist zum Beispiel der Vater. Er spricht gut und +freundlich mit mir, aber ich sehe ihn selten, und er ist jetzt noch +verschlossener als früher. Wir hatten uns bisher immer ohne Worte +verstanden, aber seitdem uns beiden das angetan wurde, dieser -- +Vertrauensbruch, weiß ich nicht, wie er es trägt. Sie aber haben ihn +alle Tage gesehen, besonders in der ersten Zeit, und können mir einen +Fingerzeig geben.« + +»Leider kann ich Ihnen wenig sagen. Er war fast immer in seinem Kontor +oder in der Mühle. Nur zu den Mahlzeiten ist er hier gewesen, hat sich +sehr ruhig nach allem erkundigt und sonst kaum ein Wort gesprochen.« + +»Aber wenn er drüben im Hafen die Tätigkeit sah -- die vielen +Menschen, die jetzt dort arbeiten, und die lauten Maschinen, die ganze +geräuschvolle Geschäftigkeit, die ihn tagaus, tagein an seinen Ärger +erinnern muß --« + +Sie spricht nicht zu Ende und sieht die Schwester erwartungsvoll an. + +»Ach, er ist doch den Lärm von seiner Mühle her gewöhnt. Auf einen Mann +hat das sicher eine andere Wirkung.« Schwester Emmi beginnt, sich bei +diesen Erörterungen zu langweilen. Das scheint ihr alles nicht so des +Nachdenkens wert. + +»Sehen Sie,« sagt Irmgard wieder, »ich habe mir damals, nachdem ich +den ersten Schmerz über diese große Demütigung und Untreue überwunden +hatte, immer wieder vorgehalten, daß ich keinen Haß in mir aufkommen +lassen darf. Denn wie soll ich einmal sein Kind lieben, wenn ich ihn +selbst nur hassen kann? Es bleibt doch ein Teil von ihm, so sehr man +sich auch einzureden sucht, daß es nur von der eigenen Artung ist. +Man möchte feige sein und seinen Namen für immer aus dem Gedächtnis +streichen, aber wie können wir Joachim Becker jemals vergessen, der uns +so viel gegeben und so viel genommen hat? Und nun baut er uns seine +großen Projekte, für die wir uns damals so sehr interessiert haben, +direkt vor den Augen auf, und es ist nichts wegzuleugnen. Können Sie +das verstehen?« + +»Ja, das kann ich verstehen: daß es schwer ist, und daß Sie sehr mutig +sind.« + +»Es ist nur der Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht gehöre ich zu den +Frauen, die sich nur einmal ganz erschließen können, denn sonst hätte +ich das wohl nicht getan. Oder glauben Sie, daß ich leichtfertig oder +im wahren Sinne unmoralisch bin, weil ich ihm in meiner Liebe nichts +versagen konnte?« + +»Nein, beileibe nicht. Wie die Menschen auch darüber denken mögen, wer +Sie kennt --« + +»Ja, wissen Sie, ich habe schon manchmal gedacht, daß es gut sei, wie +es sich letzten Endes zugetragen hat. Denn nun habe ich doch ein klein +wenig Anteil an ihm, den ich nur noch in seinem Kinde lieben werde. +Darin will ich die Kraft finden, um ihn selbst ganz aus meinem Herzen +auszustreichen.« + +»Wenn Sie das können! Ich würde ihn, offengestanden, grenzenlos hassen +und mich an ihm rächen -- bei der ersten Gelegenheit.« Sie sagt es +triumphierend, herausfordernd, denn sie ist stolz auf ihr lebhaftes +Temperament. + +»Und nun müssen Sie mir noch berichten, wie es der Mutter geht«, +sagt Irmgard ablenkend, denn sie erkennt wieder, daß sie von ihren +Mitschwestern nur verstanden wird, wenn sie selbst schwach und beirrbar +ist. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie es oben aussieht.« + +»Oben« ist das Zimmer von Frau Pohl, die seit fünf Jahren gelähmt und +mit verwirrtem Geist ein verdämmerndes Dasein führt. Von der späten +Geburt des lange ersehnten Stammhalters geschwächt, hatte sie der nach +wenigen Wochen erfolgte Tod des Knaben so getroffen, daß sie nicht +wieder aufstehen konnte. In ihrem Geiste aber hat sie den Knaben zu +neuem Leben geweckt. Wenn sie in ihrer Einsamkeit zu dem Kinde spricht, +scheint sie mit ihrem Schicksal zufrieden und der Gegenwart in einer +anderen Weise nahegerückt. + +»Haben Sie ihr gesagt, daß ich krank sei? Und wie hat sie es +aufgenommen?« + +»Zuerst wollte sie an Ihre Krankheit nicht glauben. Sie wurde sehr böse +und meinte: die Arbeit ist ihr zuviel geworden, auf der Stelle soll sie +herkommen und mir Antwort stehen.« + +»Ja, sie kann sehr böse werden.« + +»Als ich ihr dann aber klarmachte, daß ich zu Ihrer Pflege geholt +sei, und sie fragte, ob sie denn nicht feststellen könne, daß ich nach +Medizin rieche, erwiderte sie, nun wolle sie aufstehen und ihre Tochter +pflegen.« + +»Sie wollte mich pflegen?« Irmgard ist ganz glücklich darüber. + +»Das sagte sie. Natürlich konnte sie sich nicht rühren, und dann sprach +sie nicht mehr darüber. Einmal erzählte ich ihr, daß Sie bald aufstehen +würden, aber sie gab mir keine Antwort. Doch etwas anderes hatte mich +beängstigt, und ich sprach mit Herrn Pohl darüber.« + +»Was war es?« fragt Irmgard ungeduldig. »Hat sie das Kind gehört? Sie +haben doch nicht davon gesprochen?« + +»Nein, es war ja verabredet, daß sie davon nichts erfährt. Aber sie +sagte: ›Hört Ihr denn nicht, wie mein Michael schreit? Ihr laßt ihn +liegen und kümmert Euch nicht um ihn.‹ Und das hat sie immer wieder +geklagt, dabei zuckte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte +sie aufspringen und nach dem Rechten sehen. Schließlich wurde sie sehr +erregt, hat mich ausgescholten und gedroht, mich zu entlassen, wenn ich +nicht besser für ihr Kind sorge.« + +»Mein Gott,« flüstert Irmgard, »hat sie nicht danach verlangt, es zu +sehen?« + +»Das hat sie nicht. Aber ich dachte schon -- ich weiß nicht, was Sie +davon halten -- ich dachte, solche Kranken sind durch Täuschungen +manchmal zu heilen. Wenn man ihr z. B. das Kind wirklich --« + +»Nein, nein, wollen Sie ihr mein Kind geben, dieser Kranken? Nein, das +ist heller Wahnsinn!« + +»Ich meinte es nur gut, denn es ist doch schließlich Ihre Mutter. Herr +Pohl sagte, wenn Sie einverstanden wären, könnte man immer noch mit dem +Arzt darüber sprechen«, gibt die Schwester verstimmt zurück. + +»Ist das seine Ansicht gewesen?« Irmgard schließt die Augen und lehnt +müde im Sessel. »Darüber muß ich erst nachdenken. Ich will die Mutter +selbst gesehen und gesprochen haben«, flüstert sie. + +»Gewiß, es war ja auch nur ein Vorschlag für später. Aber ich werde Sie +jetzt verlassen, da kommt ein junger Mann durch den Garten, und das +Mädchen ist ausgegangen.« + +Irmgard glaubt, nur eine Sekunde allein gewesen zu sein, als die +Schwester schon wieder zurückkommt und sagt: »Es war ein Rechtsanwalt +Bernhard von der Hafengesellschaft, er wollte Herrn Pohl sprechen. Ich +habe ihn ins Kontor hinübergeschickt.« + +»Von der Hafengesellschaft --«, stammelt Irmgard, und sie sieht dem +jungen Rechtsanwalt nach, wie er mit seiner Aktentasche durch den +Garten geht und zur Mühle hinübersteuert. + +Die Schwester hat das Zimmer wieder verlassen, und Irmgard verfolgt den +Rechtsanwalt so lange, bis er in der Tür des Kontors verschwindet. Da +wirft sie die Hände vor das Gesicht und schluchzt verzweifelt auf. + +Sie hatte sich mit ihrem klaren Verstand einen so schönen Plan +zurechtgelegt und kluge, vernünftige Worte gesprochen, aber beim ersten +unmittelbaren Anstoß von außen her fällt ihr ganzes Kartengebäude +zusammen, und sie ist nicht beherrschter und reifer als Schwester Emmi +mit ihrem Temperament. + +Hier über diesen Weg ist auch er gegangen, und sie hat ihm von dem +gleichen Platz aus nachgesehen, wie er mit seinen langen Schritten +fest und federnd über den knirschenden Kies marschierte und an der +Gartenpforte zu ihr hinaufwinkte. Oder war es wegzuleugnen, daß sie +wie zwei übermütige Kinder hier um diesen runden Tisch jagten, bis sie +atemlos stehenblieb und ausrief: »Nein, du hast ja doch die längeren +Beine.« Dann ließ sie sich rückwärts fallen und wurde aufgefangen. +Er aber sagte mit seiner weichen Stimme, die sie einmal zu ihrem +Erschrecken, als er beim Ausladen des Getreides seine Befehle gab, kaum +erkannte: »Warum versuchst du nur immer wieder, mir davonzulaufen, da +du mir doch nicht entgehen kannst?« + +Nein, sie konnte ihm nicht entgehen, und hier denkt sie nun an ihn und +findet keinen Weg, der von ihm fortführen könnte. -- + +Rechtsanwalt Bernhard hat sich im Bureau nach Herrn Pohl erkundigt. +Man sagt ihm, daß er im Betrieb gesucht werden müsse, und läßt ihn im +Privatkontor warten. + +Dort zieht er seine Akten hervor und überlegt noch einmal die ganze +aussichtslose Angelegenheit. + +Seitdem Direktor Becker ihm seine persönlichen Erklärungen gegeben hat, +sieht er erst ein, auf welcher lächerlichen Begründung dieser Prozeß +aufgebaut werden soll. + +Wie hier, so hatte er auch bei der Hafengesellschaft lange warten +müssen, bis er von Joachim Becker empfangen wurde. Oh, er ist noch +nicht der begehrte Mann, den man in seinem Anwaltsbureau aufsucht +und unter großen Versprechungen bittet, sich mit dem berühmten +Scharfblick eines Streitfalls anzunehmen. Sein junges Schreibfräulein +wartet auf Arbeit, liest Romane und stichelt an einer Handarbeit +in einer ganz impertinenten Weise. Er hat die sämtlichen Akten des +Falles Hafengesellschaft kontra Pohl abschreiben lassen, aber die +Schreibmaschine ist doch wieder zur Ruhe gekommen, und er muß das +ersehnte Klappern vermissen. + +Da ist es etwas anderes im Hause Friemann, wo Joachim Becker die +Geschäfte der Hafengesellschaft besorgt. Auf den langen Korridoren ist +ein Gehen und Kommen, und die jungen Damen mit ihren Schreibblocks und +gespitzten Bleistiften jagen nur so zu den Türen hinein und heraus. + +Er wird von betreßten Dienern in ein großes Wartezimmer geleitet, wo +schon etwa ein Dutzend Männer sitzen, die den Hafendirektor sprechen +wollen. Herr Gregor kommt herein, lässig und elegant, und sagt in +seiner gedehnten Art, wobei er immer den Rücken ein wenig beugt: + +»Guten Tag, Herr Doktor. Ja, Sie sind vorgemerkt, ich habe die Akten +schon weitergegeben. Aber augenblicklich ist noch eine Konferenz.« + +»So, haben ~Sie~ die Akten gehabt?« entfährt es dem Rechtsanwalt, +der glaubte, mit einer ganz persönlichen und diskreten Angelegenheit +betraut zu werden. + +»Ja, das liegt alles bei mir«, bemerkt Herr Gregor nicht ohne Betonung, +und er begrüßt einen neu hinzugekommenen Herrn. + +»Sie dürften kein Glück haben,« sagt er zu ihm, »denn heute werden +nur die Vorgemerkten empfangen. Der Kalender ist bis unten hin +vollgeschrieben, und Sie stehen nicht mit darauf. Aber Sie können mit +mir sprechen, ich will sehen, was sich machen läßt.« + +Dann sucht er sich einen Herrn ganz außer der Reihe heraus und +verschwindet mit ihm in seinem Zimmer. + +Dieser Gregor ist dem Rechtsanwalt im höchsten Grade unsympathisch. +Er gebärdet sich vor den Lieferanten, die sich um die Aufträge für +den Hafen bemühen, als wäre er der Direktor selber, und man kann sich +ausrechnen, welche Prozente dabei für ihn abfallen. + +Da ist Joachim Becker doch ein anderer Mann, obgleich der Rechtsanwalt +sich auch hier seine eigenen Gedanken macht. Aber wenn man ihm +gegenübertritt, so muß man schließlich doch seiner ganzen Art und +Erscheinung zustimmen. + +Nachdem +Dr.+ Bernhard etwa eine Stunde auf den Hafendirektor +gewartet hatte, ist die Reihe auch an ihn gekommen. Herr Gregor +erscheint so eilig, wie es sein Temperament erlaubt, und sagt: »Bitte, +Herr Doktor, nehmen wir gleich diesen Eingang. Der Herr Direktor ist +schon sehr ungeduldig.« + +Joachim Becker sitzt an seinem Schreibtisch und telephoniert. + +»Bestellen Sie meiner Frau,« hört der Rechtsanwalt, »daß ich heute +nicht zu Tisch kommen kann, und besorgen Sie mir ein paar Brötchen.« + +Dann wirft er den Bleistift, mit dem er nervös auf die Platte geklopft +hat, hin und sagt zum Rechtsanwalt: »Bitte. Ja, also hier sind die +Akten. Dieser Prozeß ist für uns von großer Wichtigkeit und muß bald +ausgetragen werden. Die Kosten spielen keine Rolle, aber es ist +nötig, daß die Sache richtig angefaßt wird. Sind Sie über den Gegner +informiert?« + +»Nein,« erwidert der Rechtsanwalt, »ich weiß nur so viel, daß es sich +um das Terrain am Verbindungskanal handelt.« + +»Ja, dieser Platz war eigentlich für unseren Getreidehafen gedacht. Das +unter uns -- die ganze Angelegenheit ist überhaupt streng diskreter +Natur.« Dabei sieht er den Rechtsanwalt durchdringend an, und auch im +weiteren Verlauf der Unterredung fliegen seine kalten klaren Blicke +blitzschnell auf sein Gegenüber, wenn dieser es am wenigsten erwartet. + +Dann führt der Direktor in stichwortartiger Kürze das Weitere aus. +Einmal sagt er: »Ein persönlicher Konflikt, der in keinem Fall in +die Angelegenheit hineingehört, entstand dadurch, daß ich meine +inoffizielle Verlobung mit Fräulein Pohl löste.« + +Damit hat er ein für allemal seinen Standpunkt in dieser Hinsicht +klargelegt. + +»Und hier ist die Vollmacht, die uns eine Angriffsmöglichkeit bietet.« + +Der Rechtsanwalt liest: »Ich erkläre mich bereit, mein Grundstück +zwischen der Föhrbrücke und dem Verbindungskanal für die +Zwecke eines Hafenbaus zur Verfügung zu stellen, wenn mir im +Falle einer privatwirtschaftlichen Verwaltung eine angemessene +Beteiligungsmöglichkeit geboten wird. Für die Vorverhandlungen in +meinem Auftrage bevollmächtige ich Herrn Joachim Becker --« + +Noch ehe er zu Ende lesen konnte, erklärt der Direktor weiter: »Dies +Dokument war als Vollmacht gedacht und ist später zurückgezogen worden. +Die vorangehende Erklärung war mitbestimmend für die Bildung des +Konsortiums und hat auch den Magistrat zur Entscheidung veranlaßt. Eine +Beteiligung wurde angeboten, zu Konzessionen sind wir noch bereit. Also +muß die jetzige Weigerung unbedingt angefochten werden.« + +»Sollten vielleicht die Voraussetzungen für die Beteiligung inzwischen +--« + +»Das ist gleichgültig, das geht uns nichts an.« + +»Vom juristischen Standpunkt --« + +»Kommen Sie mir nicht mit Formelkram. Beweisen Sie Ihre Tüchtigkeit, +indem Sie im Notfalle eine Ausnahme konstruieren, einen Präzedenzfall +schaffen. Bitte, hier sind die Akten. Herr Gregor steht Ihnen wegen +Ihrer Bevollmächtigung und anderer Einzelheiten jederzeit zur +Verfügung.« + +Er klingelt nach dem nächsten Besucher, nicht ohne den Rechtsanwalt +noch mit einem gewinnenden Lächeln einige Schritte geleitet zu haben. + +Man war trotz allem in dem Gefühl fortgegangen, einer zwar strengen, +aber im Grunde liebenswürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein ... + +Nun sitzt der Rechtsanwalt im Bureau des Gegners und erkennt als +einzige aussichtsvolle Möglichkeit einen Vergleich mit den bewilligten +größeren Konzessionen. Er ist keine Kampfnatur und hat wenig Lust, sich +hier hinter Paragraphen und versteckten Fallen zu verschanzen, um mit +List und krummen Wegen zu siegen. + +Aber vielleicht wird jetzt ein Angestellter hereinkommen und sagen, daß +Herr Pohl keine Zeit habe oder ihn nicht zu empfangen beabsichtige. + +Er sieht in seiner Beklommenheit ein wenig im Raume mit den gelben +Möbeln und den alten Stichen an den Wänden umher. + +Das Bild eines Mannes mit tiefliegenden Augen, starken Backenknochen +und einem vollen weichen Kinn über dem Vatermörder ist ohne Zweifel +der Begründer der Mühle; eine auf Holz gemalte Windmühle zeigt den +anfänglichen Besitz. Stahlstiche stellen kleinere Speicher und +Mühlenbetriebe dar, und auf einer Zeichnung, offenbar ein Entwurf des +Bauherrn, sieht man die beiden zweistöckigen Gebäude in ihrer heutigen +Gestalt. + +Er bleibt vor einer Photographie stehen, die das Hafenterrain mit der +Kirche, dem Fräuleinstift und einigen kleinen Häusern neben den alten +Linden zeigt, so wie es noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, ehe +das Konsortium kam und alles niederreißen ließ. Nun dringt das Geräusch +der großen Bagger und der Lärm der Arbeiter bis in diesen einsamen +Raum. + +Dem Rechtsanwalt erscheint die Wartezeit endlos, er ist sehr nervös, +als der Mühlenbesitzer, in einer grauen Joppe und hohen Stiefeln, +endlich eintritt, die Mütze auf einen Haken neben der Tür hängt und ihn +zum Schreibtisch bittet. + +Er läßt sich im runden Sessel nieder und ersucht ihn nur mit einem +Blick aus seinen ruhigen hellen Augen zum Sprechen. + +Der Rechtsanwalt redet hastig und viel. Er erkennt, daß es schwerer +ist, vor diesem schweigsamen, reifen Mann zu sprechen, der jeder Pause +mit stummer Aufmerksamkeit begegnet, als vor dem jungen Hafendirektor +das Wenige zu sagen, das dieser in seiner Ungeduld zuläßt. + +Als er endlich glaubt, nichts mehr hinzufügen zu können, hat er das +verzweifelte Gefühl, alles verdorben zu haben. Er blickt verlegen auf +die vollen grauen Haare des Mannes, die sich in einer breiten Welle von +der gebräunten Haut abheben, und wartet nun endlich auf eine Antwort. + +»Das ist alles recht, was Sie hier sagen. Aber Sie sind nicht ganz im +Bilde. Nehmen Sie an, daß jemand zu Ihnen spricht: ›Sie haben da eine +schöne Tasche, die ich gern kaufen möchte.‹ Und Sie antworten: ›Nein, +verkaufen will ich sie nicht, weil für mich wertvolle persönliche +Erinnerungen damit verknüpft sind; aber weil ich Vertrauen zu Ihnen +habe, können Sie die Tasche gern in Gebrauch nehmen und gleichsam +als Ihr Eigentum betrachten, ebenso wie es das meine bleibt.‹ Der +andere nimmt die Tasche mit und schickt Ihnen am nächsten Tage das +Geld dafür, gut den doppelten Wert. Schließlich läßt er sich sogar +auf Verhandlungen ein und sagt: ›Ein wenig darfst du an der Tasche +teilhaben, wenn du dich diesen und jenen Bedingungen unterwirfst.‹ +Sagen Sie einmal, wie würde Ihnen das gefallen?« + +Er sieht den Rechtsanwalt lange an. Dieser hat die Absicht, nun +gleichfalls zu schweigen, bis der andere genügend gesprochen hat. Aber +er fühlt sich sehr unbehaglich dabei. + +Nach einer endlos scheinenden Pause setzt der Mühlenbesitzer langsam +fort: + +»Auf diese einfache Weise nur kann ich das verstehen. Wenn Herr Becker +damals gesagt hätte: Herr Pohl, mit unserem Plan ›klein anfangen und +groß aufhören‹ geht es heutzutage doch nicht. Die schnelle Entwicklung +unseres technischen Zeitalters verlangt imponierende Projekte, +die sofort auszuführen sind. Dazu brauchen wir andere Gelder, die +Beteiligung der Spitzen aller Kreise. Wollen wir es nicht so und +so versuchen? Aber er geht mit meiner Vollmacht umher, verschafft +sich Einfluß durch Einheirat in die Geldkreise, stellt sein Projekt +auf eine andere Basis und läßt dann anfragen: wieviel ist dir mein +Vertrauensbruch wert? Wissen Sie, wie ich darüber denke?« + +Der Rechtsanwalt sieht ihn erwartungsvoll, mit einer zagen Hoffnung, +an. + +»Schaffen Sie mir erst einen anständigen Menschen zurück. Dann können +wir verhandeln. -- Und nun strengen Sie Ihren Prozeß an.« + + + + + Die Katastrophe + + +Das erste, was im Hafengelände fertiggestellt wird, ist eine Mauer um +das ganze Terrain -- bis auf die Seite, die der Pohlschen Mühle am +anderen Ufer zugewandt ist. Hier muß man den Zugang zum Kanal offen +halten, und der Feind behält einen Überblick auf die Fortschritte im +Baugelände. + +Gleichzeitig wird ein schöner Backsteinbau mit Giebeln und einer +verdeckten Veranda für die Hafenwirtschaft errichtet, und zwar direkt +am großen Hauptportal. Mehrere hundert Arbeiter kommen und gehen +täglich durch dieses Tor, und sie müssen auch essen und trinken. + +Nachdem der Kantinenwirt eingezogen war, ist auch für Herrn Gregor, +den Vertrauensmann der Hafengesellschaft, im Wirtschaftsgebäude ein +Schlafzimmer eingerichtet worden. + +Wer zum Tor hinein will, muß sich ausweisen, das Wächterhaus ist Tag +und Nacht besetzt. + +Es ergibt sich nun, daß Schwester Emmi eines Abends zufällig vor dem +Tore steht, als Herr Gregor heimkehrt. + +»Wollten Sie vielleicht hier hinein?« fragt Herr Gregor, nachdem er sie +längere Zeit betrachtet hat. + +»Ach nein«, gibt sie schüchtern und sehr verlegen zurück. »Ich +wollte nur Frau Reiche rufen und bitten, mir eine Flasche Selter +herauszubringen. Es ist für eine Kranke, und die Läden sind schon +geschlossen.« + +»Aber bitte, dann kommen Sie nur mit hinein«, sagt Herr Gregor galant +und führt sie am wachsamen Auge des Torwarts ungehindert vorbei. + +Nein, Herr Gregor hat es nicht nötig, sich selbst und seine Begleitung +auszuweisen. Er ist eine Respektsperson, die hier gleich nach dem +Hafendirektor eingeschätzt wird. + +Seine Liebenswürdigkeit geht so weit, daß er Schwester Emmi bis in den +Kantinenraum begleitet, der um diese späte Abendstunde nur von einigen +Herren des Tiefbauamts besucht ist, und er ruft gut gelaunt: »Hier, +Frau Reiche, bringe ich Ihnen Besuch.« + +Schwester Emmi sagt tief errötend: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wie +ich dem Herrn dafür danken soll.« Damit ist zart angedeutet, daß Herr +Gregor sich ihr noch nicht vorgestellt hat. + +Leider wird der gewünschte Erfolg nicht erreicht, denn der elegante +junge Mann läßt sich in einer Ecke nieder und bestellt sein Abendbrot. +Frau Reiche erscheint mit der Selterflasche, und Schwester Emmis +Mission wäre beendet. + +»Vielen, vielen Dank,« flüstert die hübsche kleine Krankenschwester, +»könnten Sie mir wohl noch -- ach, mein Gott«, unterbricht sie sich mit +einem Griff nach dem Kopf, und sie muß sich auf einen Stuhl fallen +lassen, »-- um ein Glas Wasser wollte ich bitten.« Sie ist wirklich +einer Ohnmacht nahe. + +»Lieber Gott«, ruft die junge Wirtin mit den feuchten dunklen Augen. +»Das macht die schwere Arbeit, die so eine Krankenpflegerin zu leisten +hat.« + +Herr Gregor begnügt sich damit, die Szene aus einiger Entfernung zu +beobachten. Er kennt die Frauen und darf von seiner Unwiderstehlichkeit +überzeugt sein. Es ist ihm ein behagliches Gefühl, Anlaß dieser kleinen +Szene zu sein, denn darüber braucht nach seiner Ansicht kein Zweifel zu +bestehen. + +Schwester Emmi ist durch den Trank offensichtlich gestärkt. Sie erhebt +sich schwankend und sagt mit einem kleinen Rundblick: »Ja, es war heute +ein besonders schwerer Tag.« + +Frau Reiche hat allzulange den Wunsch gehabt, über die Ereignisse +in der Mühle unterrichtet zu werden; darum kann sie es auf keinen +Fall zulassen, daß dieses arme schwache Geschöpf sich schon allein +auf den Weg begibt. Sie gießt ihr eine Limonade ein und setzt sich +mit an den Tisch. Ihr volles blasses Gesicht ist von angespanntester +Aufmerksamkeit erfüllt. + +Schwester Emmi muß sich schließlich zu kleinen Konzessionen +herbeilassen, aber sie äußert sich so vorsichtig wie nur möglich. Als +Herr Gregor ein paarmal den Namen Pohl gehört hat, beendet er seine +Mahlzeit. Wie es dem kleinen Fräulein nun gehe, fragt er, während er +Frau Reiche das Abendbrot bezahlt. Dabei neigt er den schmalen Rücken, +daß seine schwarzen Augen verwirrend nahe über Schwester Emmi leuchten. + +»O danke, es ist bedeutend besser.« Sie behauptet, nun gehen zu müssen. +»Aber wird man mich auch herauslassen?« fragt sie schelmisch lächelnd. + +»Ohne meine Begleitung sicher nicht«, meint Herr Gregor. Und sie machen +sich auf den Weg. + +»Kommen Sie nur herüber, wenn Sie sich einsam fühlen«, sagt Frau Reiche +zum Abschied. »Der Herr Gregor wird es schon erlauben.« + +Weil die Luft sehr mild und anregend wirkt, gehen die beiden noch +einige Minuten am Kanal spazieren. + +Als Schwester Emmi in ihrem Zimmer angelangt ist und die Selterflasche +weggestellt hat, denkt sie, daß sie zwar noch nicht viel erreicht habe, +aber es beständen doch allerhand Aussichten durch die neue Verbindung. + +Nun ist ihre Arbeit in diesem Hause bald beendet, und das Wanderleben +beginnt von neuem. Welche reizbare Dame und welcher krebsrote Säugling +mochte nun auf sie warten? Nein, dann wäre es doch besser, wenn bei so +einer großen und mächtigen Firma irgendein Posten für sie geschaffen +würde und ihr Freiheit und Beständigkeit gäbe. Es geht nicht mehr an, +daß man in den Tag hineinlebt, ohne ein wenig an die Zukunft zu denken. +-- + +Herr Gregor ist von dem Abend wenig befriedigt. Es langweilt ihn doch +allmählich, seine Tage in Frau Reiches Gesellschaft zu beschließen, +während draußen das Leben auf ihn wartet. Frau Reiche ist ohne +Zweifel eine sehr adrette Frau, und ihre feuchten Augen sind nicht zu +verschmähen, aber wenn man von der Kultur des Zeitalters bis in die +Fingerspitzen erfüllt ist, bleiben eine Kantinenwirtin oder eine kleine +wasserstoffblonde Säuglingsschwester nichts weiter als Surrogate. + +So geht er denn mit trüben Gedanken noch ein wenig im umfriedeten +Hafengelände spazieren. Die Erdwälle um die aufgerissenen drei +Baugruben mit den gerüstartigen Armen der hohen mechanischen Greifer +bereiten ihm in ihrer dunklen Schwere Unbehagen. Er blickt in eines der +Becken hinab, in dem man schon mit der Grundwasserabsenkung beschäftigt +ist, und sieht das Licht des Mondes im lehmigen Naß sich spiegeln. +Nein, das sind keine Bilder für seine empfindsamen Nerven. + +Er geht wieder zu Frau Reiche und hört sich ihre Lamentationen an. + +»Keinen Tropfen Alkohol! Auf die Dauer -- das habe ich meinem Mann +gleich gesagt -- kann das nicht rentabel sein. Die Arbeiter haben +zuerst über die Limonaden und die Milch ihre Witze gemacht und es mit +dem Malzbier versucht, aber jetzt schimpfen sie, und einer nach dem +anderen geht über die Straße in die Wirtschaft und trägt dem Manne das +Geld hin«, klagt sie verzweifelt. + +»Aber sie dürfen doch das Gelände während der Arbeitszeit nicht +verlassen. Ich werde mit den Wächtern sprechen.« + +»Ach, das hat ja gar keinen Zweck. Sie gehen in der Freizeit und nach +Arbeitsschluß doch hin, und neulich habe ich sogar beobachtet, wie +einer ein Bierfaß auf einem Wagen mitgebracht und im Schuppen abgeladen +hat. Das war bestimmt kein Lagergut, aber uns wird auf die Finger +gesehen.« + +Herr Gregor lächelt. »Da sieht man, wie der Durst erfinderisch macht. +Der Durst und die Liebe, Frau Reiche, daran ist nicht zu zweifeln. Ich +will versuchen, ob sich bei Gelegenheit wenigstens die Erlaubnis für +den Bierausschank durchdrücken läßt. Doch nun werde ich müde, man geht +hier eben mit den Hühnern zu Bett. Wo ist denn Ihr Mann, wieder in +einer Versammlung?« + +»Ach der, wissen Sie, seitdem wir die Bäckerei aufgegeben haben, ist +er kein richtiger Mensch mehr. Er könnte hier ein so schönes Leben +führen, aber nun hat er sich auch aufs Trinken verlegt, und weil er zu +Hause nichts hat, muß er eben zu anderen gehn. -- Also ich bringe Ihnen +nachher noch frisches Wasser hinauf, die Herren Bauräte wollen schon +zahlen«, flüstert sie, während sie die prallen weißen Arme über der +Brust verschränkt. -- + +Herr Gregor hat lange keine Gelegenheit, das Alkoholverbot bei Joachim +Becker zur Sprache zu bringen. Zuviel wichtige Dinge liegen vor, die +den jungen Direktor bis in den späten Abend beschäftigen und sein +ungeduldiges Wesen allmählich schwer erträglich machen. + +Sein Sekretär ist längst nicht mehr über alle Vorgänge unterrichtet. +Es werden neue Ressorts besetzt, andere verantwortliche Kräfte +herangezogen, die Aussicht haben, aufzusteigen, während der junge Herr +Gregor nur ein Handlanger bleibt. Seine Einkünfte sind nicht geringer, +seine Machtstellung nach außen bleibt unbeschränkt -- man bemüht sich +um seine Gunst --, aber er ist nicht zufrieden. + +Eines kleinen Triumphes konnte er sich heute unvermutet erfreuen, er +vermochte seine Genugtuung darüber schwer zu unterdrücken. Da hatte man +nun wochenlang Konferenzen mit den Bauräten und fremden Kommissionen +im engen Kreise abgehalten: geheimnisvolle Pakete wurden von den +Herren persönlich gebracht und wieder mitgenommen, auf dem langen +Konferenztisch waren Brocken von Erde und Steinen zurückgeblieben. Sie +glaubten, ihr Geheimnis gut bewahrt zu haben, und heute stand es in der +Zeitung. + +Herr Gregor strich den Artikel rot an und legte ihn Joachim Becker +wortlos auf den Tisch. So, nun sollte man sehen, daß ihm nichts +entgehen konnte. + +Er wurde nicht gerufen, aber Kommerzienrat Friemann war von seiner +Rumänienreise zurückgekehrt und sofort in das Zimmer des Hafendirektors +gegangen. + +»Von der Reise zurück?« ruft sein Schwiegersohn überrascht. + +»Ja«, sagt der Kommerzienrat und wirft einen prüfenden Blick umher. +»Man hat auch gleich etwas Neues erfahren. Da habe ich mir zum +Beispiel unterwegs eine Zeitung gekauft --« + +»Ach, meinst du dieses Gefasel hier?« Joachim Becker stößt mit dem +Finger verächtlich auf den angestrichenen Artikel. + +»Allerdings. Was sind das für Erzfunde, und warum hat man mir nichts +mitgeteilt?« + +»Weil es unwesentlich ist. Sie sind nur im Südbecken bemerkt worden, +während wir im ersten Becken sogar auf Moorboden stoßen und im zweiten +bereits mit Schwimmbaggern arbeiten. Das Südbecken, das eine Breite von +sechzig Metern bekommt, enthält die Vorkommen am Ende der südlichen +Breitseite, außerdem sind es unreine Erze, die erst aufbereitet werden +müssen. Die Hauptader zieht sich in das dahinterliegende Gelände. Was +in unserem Becken gefunden wird, ist nicht der Rede wert. Wenn die +Zeitung fordert, wir sollen die Arbeit einstellen und die Erze fördern, +so ist das heller Wahnsinn.« + +»Wem gehört das dahinterliegende Gelände?« + +»Es sind Felder, die augenblicklich noch bestellt werden. Sie sind +mir vor einigen Wochen bis zum anstoßenden fiskalischen Grund für die +spätere Erweiterung der Hafenanlagen billig angeboten worden, und ich +habe sie während deiner Abwesenheit mit Einwilligung unseres Vorstandes +gekauft, um sie im nächsten Frühjahr als Fußballplätze für die Arbeiter +einrichten zu lassen.« + +»So, du kaufst Fußballplätze für die Arbeiter! Die Herren vom +Aufsichtsrat aber fragen an, warum wir nicht die Erze fördern, um +Geld hereinzubekommen«, sagt der Kommerzienrat nicht ohne Schärfe. +Er ist im Grunde sehr zufrieden mit der Auskunft, denn so viel hätte +er nicht einmal erwartet: daß man sich das wertvolle Gelände gleich +sichern würde. Aber was ist das für ein Gerede von den Fußballplätzen? +Diese Art Menschen muß ihre raffinierten Geschäftszüge immer mit einem +idealistischen Mantel bekleiden. Er selbst hätte mit Stolz darauf +gepocht, wenn ihm der schnelle Kauf noch vor Bekanntwerden der Erzfunde +gelungen wäre. + +Joachim Becker ist sehr blaß geworden. »Wir wollen einen Hafen +verwalten und keine Erze fördern«, sagt er ruhig. + +»Deswegen kann man das neue Gelände richtig ausnutzen«, gibt der +Kommerzienrat zurück. + +»Wenn der Aufsichtsrat es durchaus verschachern will, so steht es ihm +frei.« + +Über das gelbe fette Gesicht des Kommerzienrats zieht eine flüchtige +Röte. Seine runden Augen, die denen seiner Tochter so verblüffend +gleichen, werden in der Erregung ebenso starr und ausdruckslos, wie sie +bei Adelheid beweglich und sprechend sind, woraus man schließen kann, +daß sie auch vom Verstand zu lenken sind, denn sie verbergen alle seine +Gefühle. + +»Du benutzt das Geld nur zum Ausgeben. Aber das Konsortium muß es +heranschaffen. Wir wollen auch einnehmen.« + +»Der Hafenbetrieb wird es bringen.« + +»Das ist Zukunftsmusik. Wir müssen die Tatsachen nutzen. So kommen +wir nicht weiter. Die Verträge mit der Eisenbahn sind auch noch nicht +abgeschlossen. Wir können ohne den Gleisanschluß nicht arbeiten, wenn +die Speicher fertig sind.« + +»Wir werden schon rechtzeitig einig werden. Ich arbeite mit Hochdruck, +aber man macht mir Schwierigkeiten wegen Lappalien und kommt mit +bureaukratischem Formelkram dazwischen.« + +»Eins der Aufsichtsratsmitglieder von den Banken wird demnächst eine +Gesellschaft geben und einige Herren von der Bahn einladen.« + +»Ich dachte, daß es bei ~uns~ auch auf dem geraden Wege gehen +kann«, gibt Joachim Becker erregt zurück. + +»Mit diesem Draufgängertum kommst du nicht weiter! Das ist der legale +Weg, die Verhandlungen ein wenig zu glätten. Du erkundigst dich wohl +nach den maßgebenden Herren und legst mir die Liste vor.« + +Der andere gibt keine Antwort, aber er macht sich eine Notiz. + +An der Tür wendet sich der Kommerzienrat noch einmal um. + +»Übrigens,« meint er nun jovial und nicht mehr kühl geschäftlich wie +während der ganzen Unterredung, »wir sind heute abend allein, ihr kommt +wohl ein wenig herüber?« + +»Ich habe sehr viel zu tun«, sagt sein Schwiegersohn mit einem Blick +auf den Notizblock; aber wie er dann in das breite Gesicht mit den +warmen Augen des Familienvaters sieht, fügt er entgegenkommender hinzu: +»Doch ich will sehen, wie ich es einrichten kann.« + +Er hat das Verlangen, sich Bewegung zu machen und frische Luft zu +atmen. Darum bestellt er seinen Wagen und fährt in den Hafen. Herr +Gregor begleitet ihn. + +Nun schreitet die Arbeit in der Höhe und in der Tiefe fort, daß es eine +Freude ist, seine Augen überallhin schweifen zu lassen. Das werktätige +Spektakeln der Arbeiter und das Rattern der Maschinen wirken beruhigend +auf seine Nerven. + +»Was wird hier ausgeladen?« fragt er am Kanal den Aufseher. + +»Es sind die Dynamitladungen für die Sprengungen im Südbecken«, gibt +der Mann zurück. + +»Wo sollen sie gelagert werden?« + +»Ja -- hier im Schuppen, da wir noch nichts anderes haben.« + +»Wollt ihr die Sprengstoffe in den Holzschuppen geben? Die Keller +im Getreidespeicher sind fertig. Wir haben sie feuersicher ausbauen +lassen. Warum wird daran nicht gedacht?« + +Herr Gregor stellt fest, daß dieser Mensch alles sieht und immer +den richtigen Ausweg weiß. Er muß ihn gegen sein inneres Sträuben +imponierend finden. + +Dann sucht der Direktor den Oberbaurat Steffens auf, der die Hochbauten +leitet. + +»Wir müssen mit dem Getreidespeicher schneller weiterkommen. Ich sehe, +Sie sind noch beim zweiten Stock. Die Firma Friemann hat zehntausend +Tonnen Getreide von der neuen Ernte in Rumänien zu erwarten. Sie +muß wissen, daß sie es hier lagern kann, ehe sie die Ladungen auf +den Weg bringt. Zum Herbst also soll der Getreidespeicher mit allen +Inneneinrichtungen in Betrieb genommen werden. Wir werden die +Doppelschichten verstärken müssen. Was meinen Sie?« + +Direktor Becker hat es sich angewöhnt, nach Erteilung seiner knappen +Befehle die maßgebenden Herren in dieser Weise um ihre Meinung zu +bitten. Daß sie stets übereinstimmend lautet, ist selbstverständlich, +und er hat die wegen seiner Jugend entstandenen Feindseligkeiten, +besonders von seiten der städtischen höheren Beamten, einfach im Keime +erstickt. + +Nein, es scheint dem jungen Unternehmungsgeist wahrhaftig nicht schwer, +mit den Menschen fertig zu werden, wenn man nur die Augen offenhielt +und -- die nötige Macht in die Hände bekam. Ob diese Rechnung auch +immer richtig aufgehen würde? + +Für jeden Fall hat Joachim Becker sich hier, wo ihm das letzte Wort +zu sagen bleibt, wieder Kraft geholt. Nun kann er in sein Bureau +zurückfahren und weiterarbeiten. + +Irmgard Pohl sieht ihn, wie er in seinen Wagen steigt. Sie ist zum +ersten Male vor das Haus gegangen und betrachtet es als eine Probe auf +ihre inneren und äußeren Kräfte, daß sie zuerst dem Menschen begegnet, +der ihr Gleichgewicht am meisten erschüttern kann. + +Aber nun will sie mit den Leistungen ihrer Energie noch weiterkommen: +sie geht zu ihrer Mutter hinauf, um den alten Kampf mit der +fürchterlichen Krankheit aufzunehmen, die geheimnisvoll und ohne +Angriffsmöglichkeiten ist. + +»Guten Tag, Mutter«, sagt sie mit ihrer hellen festen Stimme. »Nun bin +ich wieder gesund.« + +»Ja,« erwidert Frau Pohl weinerlich gedehnt, »bist du krank gewesen?« + +»Hat die Schwester es dir denn nicht gesagt?« + +»Vielleicht hat sie es auch gesagt. Sie kann nur immer schwatzen und +hier herumstehen. Aber auf mein Kind gebt ihr nicht acht.« Ihr Gesicht +ist hart und unduldsam. »Wirst du dir jetzt mehr Mühe geben und +arbeiten, wie es sich gehört?« + +»Aber gewiß, Mutter, das will ich tun. Wir arbeiten alle, soviel es +geht. Hörst du die Maschinen und die Arbeiter? Da ist keiner träge.« + +»Ich kann es ja nicht kontrollieren. Der Vater und du, ihr könnt es mir +wohl sagen, aber ich denke mir mein Teil. Ihr habt immer Ruhe, hier zu +stehen und eure Zeit totzuschlagen.« + +»Aber wir müssen doch nach dir sehen und uns um dich kümmern. Ich will +dir dein Bett richten.« + +»Mich laßt nur in Frieden, um mich ist es nicht schade«, gibt die +Gelähmte zurück. Aber sie läßt es schweigend geschehen, daß die Tochter +ihren elenden steifen Körper aufrichtet und die Kissen glättet. Dann +verfällt sie wieder in die alte Apathie und gibt keine Antwort mehr. + +Irmgard geht müde die Treppen hinab. Immer ist sie, von Mitleid und +Liebe erfüllt, mit einem Herzen, das sich restlos verschenken will, +hinaufgegangen und entmutigt zurückgekommen. Fünf Jahre lang, und nun +ist sie einundzwanzig Jahre alt. + +Im Kopfe dieser Frau hatten auch in gesunden Tagen nur zwei Gedanken +Platz: die Arbeit und der Sohn. Sie hat ihrem Mann und der Tochter das +Leben damit verdunkelt und sich selbst zur Sklavin gemacht, und als der +Sohn endlich kam und ihr wieder genommen wurde, sind sie zur fixen Idee +geworden: die Arbeit und der Sohn ... + +Wie Irmgard in die Küche gehen will, um auch hier nach dem Rechten zu +sehen, wird ihr plötzlich die Tür aus der Hand gerissen. + +Ein furchtbares Getöse fliegt durch das Haus, die Luft dröhnt gegen +die Fensterscheiben, daß sie klirrend zerspringen; ein neuer, noch +stärkerer Knall droht Irmgard den Kopf zu sprengen. Halb irrsinnig +rennt sie gegen den Hintereingang. Die offene Tür ist aus den Angeln +gerissen, Geröll liegt auf dem Wege, und als Irmgard aufblickt, sieht +sie an der Stelle, wo der halbfertige Getreidespeicher stand, eine +Rauchsäule, die aus Schutthaufen und leeren Eisengerüsten weht. + +Schwester Emmi kommt auf ihren hochhackigen Schuhen stolpernd gerannt. + +»Eine Explosion«, schreit sie mit schriller Stimme. »Ich will +Verbandzeug holen und helfen --« fügt sie atemlos hinzu. + +Irmgard, die ihr entgegengeht, fällt die Mutter ein. + +»Und das Kind«, ruft sie entsetzt. Sie stürzt in ihr Schlafzimmer, +reißt den Säugling aus den Betten. Er schläft und stemmt sich mit +erwachender Kraft gegen ihren Arm. + +Sie möchte laut lachen und weinen zugleich. Da sieht sie eine Gestalt +neben dem Kinderbett liegen. + +»Frau Pohl« -- stammelt die Schwester, die in ihrer Verwirrung Irmgard +gefolgt war. Sie werden beide von einem mystischen Schauer erfaßt. + + + + + +Vita somnium breve+ + + +Die Frauen heben die Ohnmächtige auf und legen sie über das Bett. Und +siehe: die Glieder sind leicht und gelöst, sie lassen sich biegen und +bewegen. Der Schrecken hat die Gelähmte von ihrem Bann befreit. Sie, +die seit fünf Jahren das Bett nicht verlassen hat, konnte die Treppen +hinabgehen, und erst hier, neben dem Kinde, das sie für ihren Sohn +hielt, brach sie zusammen. + +Sie massieren den kalten Körper, packen ihn in angewärmte Decken. Das +Blut beginnt zu kreisen, leise rührt sich die Kranke, sie hebt einen +Arm, sie öffnet die Augen. Ihr Blick aber ist nicht ausdruckslos und +ohne Richtung. Er umfaßt die Tochter, und leise, zärtlich fragt sie: + +»Bist du es, Irmgard?« + +»Ja, Mutter.« Es ist seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie aus diesem +Munde ihren Namen hört. + +»Wie geht es unserem Michael?« + +»Er ist gesund, Mutter.« + +»Willst du ihn mir einmal geben, meinen kleinen Sohn?« Und es ist +wiederum seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie nach dem Kinde +verlangt. Ihre Stimme klingt sanft, erfüllt vom bangen Gefühl für das +mütterlich verschenkte Leben. + +Irmgard Pohl nimmt zitternd den Knaben, Joachim Beckers Sohn, aus den +Kissen und legt ihn der Mutter in den Arm. + +»Er schläft, immer schläft er,« flüstert die Kranke, »er wird stark und +gesund werden, ich habe es gewußt.« + +Sie lehnt ihr mageres Gesicht hingegeben an den warmen kleinen Leib. + +»Und nun leg' ihn wieder hierher, daß er in meiner Nähe bleibt, dann +will ich schlafen. Ich bin noch sehr müde und schwach. Er hat mir so +viel Kräfte genommen, unser Stammhalter« fügt sie schmerzlich lächelnd +hinzu. + +Fünf Jahre sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht, hier liegt ihr Sohn +voll Leben und Wärme, und sie wendet sich auf die Seite zu dem langen, +erquickenden Schlaf, der die jungen Mütter nach ihrer großen Stunde +umfängt. + +»Ich habe es geahnt, daß sie damit zu heilen ist«, flüstert Schwester +Emmi, als sie die Tür hinter sich schließen, Irmgard und sie, die sich +nun zur Wirklichkeit zurückfinden. + +Sie suchen Verbandzeug und Tücher, soviel die Schwester tragen kann, +und dann geht sie hinüber zur Unfallstätte, während Irmgard hier Wache +hält und auf den Vater wartet. + +Der Mühlenbesitzer ist in der Stadt gewesen, während das Unglück +geschah. Auf dem Heimwege, in der Bahn, wird bereits davon gesprochen. +Und er eilt mit schwachen Füßen über die Föhrbrücke, er, der so kräftig +in seinen hohen Stiefeln zu stapfen gewohnt ist. Aber sein Haus steht +da, hell und mit bunten Fensterrahmen, auch sein Speicher steht und +seine Mühle. + +Nun erst blickt er auf die Verwüstungen im Nachbargelände. Ist es +nicht, als hätte Gottes Hand diesen Bau von Stein und Eisen umgelegt, +der wie ein Denkmal für verlorenes Menschentum vor seinen Augen +aufgewachsen war? Gleich einer großen mahnenden Faust ragen die +verbogenen Eisensparren über dem verfallenen Gestein. Und Michael Pohl +streicht allen Haß aus seinem Herzen. + +Irmgard geht ihrem Vater entgegen und berichtet flüsternd von dem +Vorfall im eigenen Hause. + +»Nun können wir ihm seinen Namen geben«, sagt sie zum Schluß. »Er heißt +Michael.« + +Als die Schwester endlich bei der Unglücksstätte anlangt, sind schon +Ärzte und freiwillige Helfer da. Sie reißen ihr die Tücher aus den +Händen und geben ihr Arbeit, soviel sie nur schaffen kann. + +Auch die Neugierigen fehlen nicht und die Reporter, die bei solchen +Ereignissen immer zufällig in der Nähe sind. Sie haben den Schaden +bereits gezählt und stürzen an das Telephon der Hafenwirtschaft. Frau +Reiche richtet die Zimmer und Betten für die Verwundeten. + +»Großes Explosionsunglück beim Hafenbau!« melden die Extrablätter in +der Stadt, und die Maschinen stampfen es schon in die Abendausgaben. +»15 Tote! 46 Verwundete. Der halbfertige Getreidespeicher zerstört! +Das Nordbecken von den Trümmern verschüttet! Millionenschaden! +Untersuchungen über die Ursache sind im Gange.« + +Joachim Becker war kaum vom Hafen zurückgekehrt, als ihm das Unglück +gemeldet wurde. + +Nun steht er wieder an der Stelle, wo er vor einer Stunde seine +Befehle gab, und spürt zum ersten Male in seinem jungen, von Arbeit +und Erfolgen prall erfüllten Leben den Hammer eines unerbittlichen +Geschickes. + +Und zum ersten Male ist ein Stillstand in ihm eingetreten. Er findet +sich im alten Schuppen, der mit seinen Holzwänden noch unbeschädigt an +die Vergangenheit gemahnt, und sieht der flinken blonden Schwester zu, +die lautlos an den Opfern vorbeihuscht und ihre Zahl auf einem Zettel +notiert. + +»Es sind bis jetzt 28 Tote«, haucht sie beklommen an der Tür. Joachim +Becker nimmt es unbewußt auf und richtet seine entspannten Augen, die +in dem hellen offenen Gesicht sich dunkelnd vertiefen, über das Gelände +mit den Trümmerhaufen, dem zerwühlten Becken, das wie ein Krater +schwarz und naß die Arbeitenden verschluckt hat; er sieht die aufgeregt +hastenden Menschen, die Krankenwagen, die Verwundeten und die Toten. + +Und er sieht noch einmal das fertige Werk seiner wirklichkeitsnahen +Träume: eine Reihe von langen und breiten Hafenbecken mit +Tausend-Tonnen-Schiffen in vier Reihen, Speicher und Verladebrücken, +die schwarz aufragenden Arme der Krane, das Turmhaus der Verwaltung, +den Freihafen mit seinen direkten Ladungen aus aller Welt. Daneben +aber die Siedlungen für die dem Teufel Alkohol entronnenen +Arbeiter, helle Häuser mit Blumen in den Gärten, die Badehallen und +Schwimmanstalten, die Spielplätze für die Kinder und die Sportwiesen +für die menschgewordenen Sklaven der Arbeit. Nein, nicht mehr Sklaven +sieht er: freie Menschen, dem Lichte zurückgegeben, den uralten Straßen +-- den Wasserwegen mit der staubfreien Luft und den grünen Ufern -- +wiedergeschenkt. + +Hier aber liegen seine ersten Helfer: in die Erde gewühlt, unter +Trümmern begraben, verstümmelt für die letzte kurze Strecke ihres +Lebens; von Schmerzen verzerrt. + +Er folgt ohne Bewußtheit der Krankenschwester, die hier eine +schluchzende Frau in den Arm nimmt und tröstet, dort einem Verwundeten +den Verband anlegt. Er findet sich in der Hafenwirtschaft, im großen +Raum mit eilig gerichteten Krankenlagern und sieht, wie seine »freien +Menschen« auf Bahren gepackt und zu den Krankenwagen davongetragen +werden. Er sitzt auf einer Kiste und betrachtet die leichten Bewegungen +der Schwester, die das Verbandzeug zurechtlegt und auf weitere +Verwundete wartet. Er hört seine eigene Stimme wie die eines Fremden, +als er fragt: + +»Sind Sie von der Rettungsstation?« + +»Nein,« gibt Schwester Emmi leise zur Antwort, »ich war in der Nähe, +als das Unglück geschah.« + +»Wir werden wohl noch oft solche Hilfe brauchen«, sagt er müde. »Wenn +Sie wollen, können Sie zu uns kommen -- für unsere Fürsorgestelle«, +fügt er, nach dem ersten aufbauenden Gedanken, hinzu. + +Schwester Emmi neigt sich über ihre Verbandrollen. Man gibt ihr ein +Amt, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, und man fragt nicht: +wer bist du, woher kommst du, was hast du gelernt und -- wie steht es +mit den moralischen Qualitäten für den Posten? Man sagt: wenn ~du +willst~ -- Und sie blickt mit ihren tränenüberströmten Augen zu +Joachim Becker empor. Da steht er rasch auf und verläßt wortlos den +Raum. + +Wie sie später, nachdem alle Verwundeten in die Krankenhäuser geschafft +und die Toten aufgebahrt sind, am Hafendirektor vorbeikommt, wagt sie +nicht mehr, ihm zu danken. + +Er diktiert einem Manne: »38 Tote, 75 Verwundete. Erste Explosion beim +Ausladen im Tor des Getreidespeichers. Ursache nicht aufgeklärt. Durch +Entzündung der auf dem Wagen befindlichen restlichen Sprengstoffe +ein Teil des Nordbeckens verschüttet. Die feuersicheren fertigen +Kelleranlagen des Speichers fast unversehrt. Materialschaden nicht +bedeutend.« + +Schwester Emmi schlüpft scheu vorbei. + +Aber vor Irmgard Pohl ist sie in ihrer Erregung ungehemmt. Sie +berichtet unter Tränen -- nicht mehr von dem, das die vielen betraf. +Sie hatte ihnen geholfen, wortlos, selbstverständlich. Nun aber steht +ihr eigenes Schicksal im Vordergrund. + +»Als er sich umdrehte,« sagt sie, »so plötzlich, daß sein Gesicht nicht +mehr zu sehen war, da wußte ich, daß ich diesen Menschen doch niemals +hassen könnte.« + +Und mit den Gefühlen der Angestellten vor dem höchsten Vorgesetzten +fügt sie hinzu: »Ich glaube, daß er weinen kann wie wir.« + +Irmgard Pohl streicht mit ihrer ruhigen Hand über die Haare der +Schwester. »Ich wußte es, daß er kein schlechter Mensch ist«, sagt sie +leise. »Wenn ihm doch Gott alles zum Guten führen wollte!« + + + + + Der Aufsichtsrat + + +»Das ist ausgezeichnet«, sagt Kommerzienrat Friemann zu Bankdirektor +Ellgers, indem er ihn mit einer Handbewegung in sein Zimmer ladet. + +»Wir haben zwei Minuten Zeit zum Plaudern«, meint der Finanzmatador mit +seiner brüchigen Stimme, als seien zwei Minuten das größte Zeitopfer, +das er zu vergeben habe. »Wir fangen doch pünktlich an?« + +»Gewiß, allerdings«, versichert der Kommerzienrat. Er weiß, daß die +Konferenzen mit Direktor Ellgers auf die Sekunde zu beginnen haben. + +Das fleckige Greisengesicht des Bankdirektors mit dem gefärbten +schwarzen Bart erwartet unbewegt die zwanglosen Erklärungen des andern. +Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat es nicht nötig, Fragen zu +stellen, die ihm vor der Sitzung zu beantworten sind. + +Der Kommerzienrat beeilt sich, im gewünschten Plauderton das Nötige zu +sagen. + +»Also dieser Becker,« beginnt er, »es ist doch ein Teufelskerl! Da hat +er nun in aller Stille, als die ersten Erzfunde geheimgehalten wurden, +das ganze private Gelände aufgekauft.« + +»Für die Hafengesellschaft!« wirft Ellgers kurz und mit dem Ton der +Selbstverständlichkeit ein. + +»Natürlich, natürlich, für die Hafengesellschaft. Die Sache hat einen +Pappenstiel gekostet, so daß der Vorstand es in der Eile unter sich +abmachen konnte. Nun bietet man den vierzigfachen Betrag. Und warum?« + +Direktor Ellgers sieht ihn ungerührt an. + +»Weil die Presse zuviel Geschrei darum macht«, beantwortet der +Kommerzienrat die Frage selbst. »Sie sehen einen neuen riesenhaften +Industriebezirk und behandeln die Sache mit einer geradezu +ausschweifenden Phantasie.« + +»Hm, ausschweifende Phantasie«, wiederholt Ellgers. »Da wollen wir uns +jetzt in das Sitzungszimmer begeben.« + +Kommerzienrat Friemann zieht höflich seine Taschenuhr. + +»Richtig. -- Rauchen Sie eine von diesen Zigarren?« + +»Danke.« Ellgers bedient sich und steckt die Zigarre in sein Etui. + +Im Sitzungszimmer sind bis auf Stadtrat Richter, der abgerufen wurde, +sämtliche Herren versammelt. + +Direktor Ellgers ist nicht dafür, Zeit zu verlieren. Er begibt sich auf +seinen Platz am Kopf des Tisches und eröffnet die Sitzung: + +»Obgleich der zweite stellvertretende Vorsitzende, Herr Stadtrat +Richter, erst einige Minuten später erscheint, eröffne ich die Sitzung. +Herr Kommerzienrat Friemann, der stellvertretende Vorsitzende, hat +uns in einer wichtigen Angelegenheit zusammengerufen und gibt seine +Erklärungen durch Hafendirektor Becker ab.« + +Joachim Becker bittet zunächst die Anwesenden, in stummer Würdigung +der bei dem Hafenbau verunglückten Helfer und Mitarbeiter sich von den +Plätzen zu erheben. + +Kommerzienrat Friemann blickt seinen Schwiegersohn hilflos warnend an. +Seine Ansicht ist, daß dieser junge Dachs nicht nachholen dürfte, was +der erste Vorsitzende unterließ. Wieviel Mühe muß er wieder aufwenden, +um diesen Fehler gutzumachen! + +Die Herren erheben sich in ungeordneter Reihe, die einen zögernd, die +anderen ruckartig, Direktor Ellgers mit einem kurzen scharfen Blick auf +den Hafendirektor. + +Joachim Becker läßt seine Augen mit überlegener Ruhe die Reihen +entlangschweifen. Er hat seinen Platz neben dem leeren Stuhl des +Stadtvertreters, gegenüber +Dr.+ Immermann, dem Mitinhaber der +Privatbank, und Kommerzienrat Friemann. Er stellt fest, daß die meisten +Herren es vorziehen, ihre Blicke während seiner Rede der Tischplatte +anzuvertrauen. + +Er spricht zunächst von dem Unglück und gibt Aufschluß über die genaue +Zahl der Opfer. Entschädigungen an Verletzte und Hinterbliebene +seien nicht zu zahlen, da alles ordnungsgemäß durch Versicherungen +gedeckt war. Nur dem Nachbarn, Mühlenbesitzer Pohl, seien zersprungene +Fensterscheiben und Beschädigungen am Hause zu ersetzen. Dann erörtert +er eingehend die Ursache. Er selbst habe die Anordnung gegeben, die +Sprengstoffe im fertigen feuersicheren Keller des Getreidespeichers zu +lagern. Die Explosion sei im Haupteingang, wahrscheinlich durch eine +Unvorsichtigkeit während des Ausladens, entstanden. + +»Wir sehen daran, wie wenig der Mensch seinem Schicksal entrinnen kann. +Hätten wir den falschen Weg gewählt und die Ladung im alten, abseits +gelegenen Holzschuppen untergebracht, so wäre das fahrlässig gehandelt +gewesen, doch wir hätten Menschenleben geschont und großen Schaden +verhütet«, sagt er weiter mit bewegter Stimme. Aber er fühlt wieder die +starren, warnenden Blicke des Kommerzienrats und sieht, wie +Dr+. +Immermann mit dem Bleistift auf seinem Papier immer das gleiche Wort +malt. + +»Erze« entziffert er. Fünfmal, sechsmal das Wort »Erze«. Und es trifft +ihn wie ein Peitschenhieb. + +Dann spricht er vom zerstörten Getreidespeicher, vom Nordbecken. +Daran sei zuerst und mit nicht zu überbietender Leistungsfähigkeit +gearbeitet worden. Beide sollten bereits im Herbst in Betrieb genommen +werden, während man an den übrigen Hoch- und Tiefbauten in Ruhe +weitergearbeitet hätte. + +Kommerzienrat Friemann, der nun auch auf seinem Notizblock zu malen +begonnen hat, räuspert sich und schreibt mit dicken Buchstaben seinen +Namen auf das Papier. + +»Friemann -- Getreide en gros« liest Joachim Becker, unwillkürlich +darauf hingelenkt, und er fährt fort: + +»Die größten Verluste erleidet dadurch der Getreidehandel.« Der +Kommerzienrat legt seinen Bleistift hin. + +»Die Aufräumungsarbeiten werden zuviel Zeit erfordern, wir müssen daher +unseren Plan, zuerst den Getreidehafen fertigzustellen, aufgeben. Durch +die von der Firma Friemann zufallenden bedeutenden Getreideladungen +wären unsere Einrichtungen gleich zu Anfang vollkommen ausgenutzt +worden. Der Schaden trifft nun noch empfindlicher die Firma Friemann +als uns. Wir werden uns zunächst dem Bau des Mittelbeckens mit +den Lagerhallen und Zollspeichern zuwenden. Da der Winter hemmend +dazwischentritt, ist mit der Eröffnung erst im nächsten Frühjahr zu +rechnen.« + +Der erste Vorsitzende sieht mit unverkennbarer Ungeduld auf, und +Kommerzienrat Friemann gibt seinem Schwiegersohn ein Zeichen, daß er zu +sprechen wünsche. + +Nach den lauten, klingenden Worten Joachim Beckers wirkt seine +gedämpfte Stimme besonders tonlos, aber gereift und zuverlässig. + +»Der entstandene Schaden,« führt er aus, »die verhinderte ersprießliche +Lagertätigkeit, die geeignet gewesen wäre, selbst im Winter bereits die +Unterhaltskosten zu decken, sind zwar sehr bedauerlich, ein glücklicher +Ausgleich aber wird sie uns verschmerzen lassen. Wir haben nicht nur +die Möglichkeit, die durch das Unglück ausfallende Summe zu decken, +sondern sogar einen ganz erheblichen Überschuß zu erzielen. Und das, +meine Herren, das durch die Erzvorkommen und durch das geschickte +Eingreifen der Hafendirektion, die sich das wertvolle Gelände, soweit +es sich in Privatbesitz befand, für einen geradezu lächerlichen +Kaufpreis sicherte. Man bietet uns dafür den vierzigfachen Betrag. Herr +Direktor Becker wird Ihnen darüber berichten.« + +Ein befreiendes Aufatmen ist allgemein spürbar. + +Und Joachim Becker beginnt damit, daß die Förderung im Becken selbst +gering sei. + +»Warum wurden dann die großen Mengen Dynamit benötigt?« wirft Direktor +Othwig -- der Vertreter der Spedition -- ein. + +Joachim Becker war im ersten Augenblick bereit zu fragen, ob man seinen +Worten mißtraue, aber er sieht in das Gesicht seines Schwiegervaters +und antwortet: + +»Geringfügig ist die Ausbeute, weil es sich um Pocherze handelt, die +nur in einem schmalen Streifen, aber in der ganzen Beckenlänge von +fünfhundert Metern auftreten. Das Vorkommen fällt schräg ab und wird +nach den bisherigen Untersuchungen auf dem benachbarten Gelände in +einer Tiefe erscheinen, die vielleicht eine rentable Ausbeute möglich +erscheinen läßt.« + +Joachim Becker verliest die Protokolle der Untersuchungskommission +und geht nach Erörterung des Geländekaufs auf die günstigen Angebote +über. Bis auf die Verhüttungs-Aktiengesellschaft, die allerdings +erst kürzlich durch eine Fehlspekulation eine Einbuße erlitten habe, +handle es sich nur um neue und zum Teil zweifelhafte Unternehmen. Er +gibt die Namen bekannt und vertritt die Ansicht, daß man die Angebote +der seriösen Firmen abwarten müsse, die sich erst nach eingehenden +Untersuchungen äußern wollen. + +Direktor Gidli von der Flußschiffahrt meint, daß der Kurzentschlossene +vorzuziehen sei, und beantragt eine Debatte über die Angebote. + +Joachim Becker fragt Direktor Haarland von der Eisenindustrie, ob er +sich als Mitglied des Konsortiums zunächst ein Vorrecht sichern wolle. + +Direktor Haarland, der einzige, der in seinem Stuhl, anscheinend +gelangweilt, zurückgelehnt liegt und die langen Beine ausstreckt, winkt +mit einem Augenzwinkern und einer kaum spürbaren Bewegung seines großen +Kopfes ab. + +Stadtrat Richter ist jetzt hinzugekommen, und die Beratung über die +Angebote wird eröffnet. Bankdirektor Ellgers bricht sie kurz ab mit dem +Antrag, sofort eine Ausschreibung vorzunehmen und in jedem Fall der +Verhüttungs-Aktiengesellschaft den Zuschlag zu geben, bei sofortiger +Barzahlung. + +Joachim Becker erhebt impulsiv die Hand, und Kommerzienrat Friemann +beeilt sich, den Antrag zu unterstützen. Er wird ohne Zwischenfall +einstimmig angenommen. + +Stadtrat Richter bittet, im Interesse der Stadt, die wegen der +Verpachtung der Ladestraßen ohnehin schon genug angegriffen werde, +dafür Sorge zu tragen, daß die Mitteilungen über das Unglück gemildert +würden. Man habe eine Sensation daraus gemacht, und nicht nur das +Ansehen der Stadt, die doch an der Hafengesellschaft beteiligt sei, +sondern auch die Idee von der Notwendigkeit des Hafens leide darunter. + +Direktor Kohan meinte, daß die Presse eine selbständige Macht sei, die +sich nicht gebrauchen lasse, wie man Lust habe, aber Kommerzienrat +Friemann findet auch hier einen glücklichen Ausgleich. + +»Gewisse Angriffe sind uns eine Zeitlang sogar nützlich gewesen,« +sagt er zur allgemeinen Überraschung, »ja, ich betone: nützlich, +und zwar aus folgendem Grunde: die Eisenbahn hat noch immer nicht +ihre Zustimmung zu den vorgeschlagenen Verträgen gegeben. Sie macht +Schwierigkeiten, weil sie uns fürchtet. Gewiß, unsere Frachten sind +billiger, und über die Leistungsfähigkeit gegenüber der Bahn wollen +wir heute noch nicht zuviel sagen, aber wir brauchen den Bahnanschluß. +Nun wird gegen uns Stimmung gemacht, man bekommt den Eindruck, daß es +mit uns doch nicht so zu gehen scheine, wie man nach den Projekten +erwartet hatte, und -- die Eisenbahn gibt es langsam auf, in uns eine +gefährliche Konkurrenz zu sehen. Sie wird gefügiger. Wir stehen kurz +vor dem Vertragsabschluß. Wenn diese Frage geklärt ist, wird sich das +Weitere schon finden.« + +Dieser Friemann, dieser mit allen Wassern gewaschene Getreidehändler, +er weiß doch wahrhaftig auch das Negative so zu nutzen, daß es zum +Vorteil gereicht. Man kann sich ihm anvertrauen und erwarten, daß +er den in der Diplomatie allzu unerfahrenen Schwiegersohn noch +erziehen werde. Jedenfalls ist man geneigt, die Verdienste um +die Hafengesellschaft ihm allein zuzuschreiben -- seinem wachen +Geschäftsgeist, seiner unübertrefflichen Geschicklichkeit. + +Man geht vollkommen beruhigt zum nächsten Punkt der Tagesordnung +über, und Joachim Becker spricht von dem Beteiligungsangebot der +Seehafenreedereien. Die Bedingungen sind unannehmbar, die Leute in den +Seehäfen nutzen ihre Macht. + +»Sie müssen ihre Überlegenheit verlieren,« sagt er mit erhobener +Stimme, »das aber ist nur möglich, wenn sie eine Gegenmacht spüren, +wenn sie wissen, daß wir nicht auf Tod und Leben von ihnen abhängig +sind. Darum brauchen wir unsere Stützpunkte. An der Nord- und Ostsee +sind noch andere Häfen, kleine Küstenstädte, deren Lage sich ausnutzen +läßt. Zum Teil haben sie noch nicht einmal einen Freihafen. Sie werden +von den Kommunen verwaltet, erfordern Zuschüsse und sind ihren Bürgern +sogar eine Last. Wenn wir aber unsere Hand darauflegen und die zum Teil +schon recht leistungsfähig ausgebauten, aber kaufmännisch schlecht +verwalteten Häfen zu unseren Stützpunkten machen, so erlangen wir +unsere Unabhängigkeit. Ebenso wie die weitsichtige und gutberatene +hiesige Stadtvertretung den Ausbau ihres Hafens der Privatwirtschaft +überließ, so werden auch diese Städte dem Gedanken nicht unzugänglich +sein. Ich bitte Sie daher, sich schon heute darüber schlüssig zu +werden, ob wir diesen Weg beschreiten wollen, und mir die nötigen +Mittel zu bewilligen.« + +Er nennt die betreffenden Hafenplätze und erwartet die Meinungen. + ++Dr.+ Immermann, der bei den Sitzungen stets den Eindruck +hervorruft, als ob er im Schlafe unter hypnotischem Zwang den Bleistift +führe, meint, ohne seine Kritzeleien zu unterlassen: + +»Ich halte den Zeitpunkt für verfrüht. Erst müssen wir selbst +verdienen.« + +Joachim Becker fährt im alten Fluß seiner Rede fort: »Ganz abgesehen +davon, daß wir durch einen ersten Schritt auf diesem Wege schon jetzt +den großen Seehäfen unsere Taktik verraten müssen, damit sie ihre +Bedingungen ändern, ist es notwendig, zu handeln, ehe unsere hiesigen +Erfolge sichtbar werden. Wenn wir erst gezeigt haben, wie es gemacht +wird, und daß wir gut auf unsere Rechnung kommen, werden sich andere +Geldleute finden, die ihre Hand auf die übrigen Häfen legen oder +mindestens die Forderungen der Kommunen in die Höhe schrauben.« + +»Oder die Kommunen machen es selbst nach unserem Rezept«, wirft Herr +Kohan ein. Über die starren Gesichter der Tafelrunde zieht der Schimmer +eines Lächelns. + +»Ich verlange nicht schon heute die Bereitstellung der Summe, ich +will nur wissen, ob ich damit rechnen kann, um rechtzeitig mit der +Bearbeitung zu beginnen. Ich würde sofort zuverlässige Mitarbeiter +an den betreffenden Plätzen damit beauftragen, zunächst die +Unzufriedenheit mit dem jetzigen Zustand in der Öffentlichkeit und der +Stadtvertretung zu schüren und dann das Wort ›Privatwirtschaft‹ in +die Debatte zu werfen. Dann brauchen wir noch geraume Zeit, bis alle +maßgebenden Kreise die richtige Meinung davon erhalten haben, und wenn +das Feld dann so weit bereitet ist, können wir auf eine Aufforderung +hin unsere niedrigsten Gebote machen.« + +Der Hafendirektor, der damals vor dem gleichen Auditorium das Projekt +für den Hafen dieser Stadt auseinandersetzte, blickt sich ein wenig um, +wie man die Erweiterung seines eigenen Planes aufnehme und ob er diesen +Zahlenmaschinen endlich einmal imponiere. + +Aber nur Herr Kohan starrt ihn durch seine dicken Brillengläser an. Der +halbgeöffnete Mund, im gepflegten rosigen Gesicht mit dem weißen Haar +und Bart, verrät ebenso Verständnislosigkeit wie Bewunderung. Sonst +sieht er ringsum undurchdringliche Masken. + +»Dazu kommen«, setzt er fort, »noch drei Binnenplätze mit fertig +ausgebauten Häfen, die wir für den Umschlag benötigen.« + +»Welche sind das?« fragt Herr Gidli mit großem Eifer. + +Joachim Becker nennt sie und fügt lächelnd hinzu: »Ihre Strecken kommen +für uns nicht in Frage.« + +»Die halten wir auch besetzt«, beeilt sich Herr Gidli, der Vertreter +der Flußschiffahrt, zu bemerken. + +»Welche Höchstsumme wird erforderlich?« fragt Bankdirektor Ellgers. + +»Zehn Millionen. Die Abnahme kann sich auf vier Jahre, also bis zur +vollkommenen Fertigstellung unseres Hafens, erstrecken.« + +»Ich bin für den Antrag und bitte um Abstimmung.« + +Der Antrag wird angenommen. + +Kommerzienrat Prüfer vom Importhandel hält es für angezeigt, trotz den +Unfallrenten etwas für die Hinterbliebenen zu tun, und schlägt eine +Sammlung vor. Die Hafengesellschaft solle als erste zehntausend Mark +zeichnen, für seine Firma stelle er tausend Mark zur Verfügung. + +Joachim Becker sieht überrascht auf. Ein menschliches Gefühl? Aber das +kleine spitzbärtige Gesicht Prüfers ist nicht zu enträtseln. + +Der allgemeinen stummen Zurückhaltung schließt sich nur Direktor Gidli +nicht an. Er meint: »Ist denn das nötig?« + +Kommerzienrat Prüfer sagt, als wäre die Frage nicht gestellt worden: +»Im Interesse der öffentlichen Meinung sollte die Sammlung durch die +Zeitung vor sich gehen.« + +Bankdirektor Ellgers klopft nervös mit dem Bleistift auf die +Tischplatte. + +»Wir sollten uns mit diesen Lappalien nicht aufhalten,« sagt er +ungeduldig, »ich bin für Annahme und zeichne für meine Bank tausend +Mark.« + +Sämtliche Herren folgen, bis auf Direktor Gidli, der erst seine +Gesellschaft fragen muß. + +Damit ist die Sitzung beendet. + +Bankdirektor Ellgers verabschiedet sich sofort. Friemann begleitet ihn +zur Tür. Auch Generaldirektor Jäckel, der noch den Zug für eine andere +Sitzung erreichen will, ist in Eile. Er hat sich an den Debatten nicht +mit einem einzigen Wort beteiligt, behauptet aber, einen Mordsdurst +bekommen zu haben. + +»Wir sehen Sie doch am nächsten Donnerstag?« fragt ihn der +Kommerzienrat unter Händedrücken. Auch +Dr.+ Immermann wird noch +einmal erinnert. + +»Wissen Sie,« sagt der Kommerzienrat, während er sich im Hinausgehen +in Immermanns kraftlosen Arm hängt, »meine Frau kann ohne die kleinen +Gesellschaften im Hause nicht mehr leben. Sie behauptet, sie bekäme +sonst keine Menschen zu sehen. Wir vom Alltag zählen nicht zu den +Menschen.« + +»Ja, die Frauen sind verwöhnt«, sagt +Dr.+ Immermann mit seiner +dünnen Stimme. + +Auch am anderen Ende des Konferenztisches beginnen die Herren sich zu +regen. Direktor Haarland richtet sich aus seiner bequemen Lage auf und +reckt den breiten Oberkörper, die Hände in den Hosentaschen. + +»Ja, wissen Sie,« ruft er zu Direktor Othwig hinüber, der mit +Kommerzialrat Mödl vom Boxsport spricht, »in England ist das doch etwas +anderes. Da spielt der Amateur eine viel wichtigere Rolle, und ein +Berufsboxer wird zu den vornehmsten Herrengesellschaften geladen. Hier +aber bringt man ihn mit seinen Damen zusammen.« + +Er zieht seine Amateurboxerfäuste aus der Tasche und verabschiedet sich +von einigen Herren. + +»Sagen Sie mir nur,« fragt ihn Direktor Gidli, »wie halten Sie sich so +in Form? Sind Sie für Massage?« + +»Dampfbäder«, sagt Haarland lächelnd. »Dampfbäder! Zweimal in der +Woche!« + +»Ja, sehen Sie, das kann ich doch wieder mit meinem Herzen nicht.« + +»Da bleibt nichts als Hunger«, meint der Kommerzialrat mit dröhnendem +Gelächter. + +»Also neulich haben wir ein paar hohe Herren mit ihren Damen laden +müssen,« sagt Direktor Koch zu einer anderen Gruppe, »aber meine Frau +hat acht Tage nicht schlafen können. Sie behauptet, die steifen Damen +hätten ihren eleganten Gästen moralische Ohrfeigen erteilt.« + +»Aber die Damen von heute,« sagt Kommerzienrat Prüfer achselzuckend, +»manchmal weiß man wirklich nicht, ob sie zur Gesellschaft --« + +Direktor Haarland stößt ihn sanft ins Kreuz, weil Herr Kohan +hinzukommt, der sich wegen seiner modernen jungen Frau immer Angriffen +ausgesetzt fühlt. + +»-- der Herren oder der Damen gehören. Die heutige Vermännlichung --« + +Kommerzialrat Mödl zieht ihn mit lautem Gelächter fort. »Also, da habe +ich neulich einen Fall erlebt --« und sie verschwinden schmunzelnd auf +dem Korridor. + +Haarland verabschiedet sich von Joachim Becker. + +»Man muß nur den Nacken steif halten«, sagt er, als habe er es nötig, +aufmunternd zu sprechen. »Ich habe es mit Boxen erreicht.« + +Dabei zeigt er seine Fäuste und die gesunden weißen Zähne im braunen +Gesicht. + +Joachim Becker geht in sein Arbeitszimmer. + +Die Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder verlieren sich vor seiner Tür. +Es ist später Nachmittag, die Dämmerung legt sich ganz plötzlich über +den großen Raum. + +Einen Augenblick sitzt er ausruhend in seinem Sessel, dann dreht er das +Licht an und klingelt seiner Sekretärin. + +Mechanisch beginnt er, von dem großen Stoß der Papiere auf seinem +Tische das Wichtigste herunterzunehmen und zu diktieren. + +Gegen seine Gewohnheit hebt er plötzlich den Blick. Er sieht, über +die Finger der Schreibenden, in das schmale erschlaffte Gesicht der +Sekretärin. + +Es kommt ihm auf einmal mahnend zum Bewußtsein, daß dieses langsam +welkende Wesen ihm gegenüber in den letzten Monaten täglich bis in +die späten Abendstunden zu seiner Verfügung stand -- daß sie auch +ein Anrecht auf das Leben habe. Er selbst hat, seitdem er von seinem +Projekt besessen ist, nur Arbeit gekannt und rücksichtslos Arbeit +gefordert. Nun empfindet er dumpf, daß es für andere Menschen noch +irgendwelche Freuden geben mag, die nicht in diesem Hause zu finden +sind. + +Er bricht das Diktat plötzlich ab. + +»Wir wollen für heute Schluß machen. Gehen Sie auch nach Haus.« + +»Ich habe noch das Protokoll --« + +»Lassen Sie Protokolle und Briefe. Schließen Sie alles ab, und denken +Sie nicht daran.« + +Sie sieht überrascht auf. »Dann: guten Abend«, sagt sie leise lächelnd. + +Wie sie zur Tür geht, mit leichten Schritten, während das Kleid um ihre +Beine schwingt, sieht er in ihr zum erstenmal nicht nur die fleißige +Mitarbeiterin. Und er hat ein eigenes Gefühl dabei. + +Sie ist auch eine Frau, sagt er sich, als er ihren Duft noch leise +verspürt. Es gibt also noch lebendige Wesen, die ihren Körper wie eine +Kostbarkeit auf zierlichen Füßen tragen, die mit weichen Händen nach +den Dingen greifen und sanfte Worte sprechen -- + +Adelheid fällt ihm nicht nur ein, sie ist ihm greifbar nahe. Ihre +ängstlichen runden Augen sehen ihn an. Er springt auf, ungeduldig, +freudig, und beschließt, auszugleichen -- zu verschenken, was so +dankbar hingenommen wird. + +Der Kommerzienrat kommt herein, um sich zu verabschieden und Grüße für +Adelheid aufzutragen. + +»Hat die Katastrophe sie auch nicht zu sehr aufgeregt? Du weißt, bei +jungen Frauen in diesem Zustand -- Ist der Arzt heute dagewesen?« + +Sein Schwiegersohn kann diese Fragen nicht beantworten. Er hat bisher +keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Aber nun will er alles +nachholen. + +Lag nicht immer schon etwas mütterlich Schweres und Sanftes in +Adelheids Wesen? Er hat das Verlangen, den Kopf an ihre Knie zu +schmiegen und sich trösten zu lassen wie von einer Mutter. ›Das Kind im +Manne?‹ fragt er sich in leisem Selbstspott. Vor wenigen Stunden noch +wäre ihm die Situation lächerlich erschienen. + +Er schickt Herrn Gregor nach Hause und fragt ihn, ob er ins Theater +gehen wolle. Hier seien zwei Eintrittskarten. Gesellschaft würde er +wohl finden? Nein, deswegen würde Herr Gregor nicht in Verlegenheit +kommen. Er dankt mit indiskretem Lächeln. + +Joachim Becker hatte sich zum erstenmal seit Wochen dazu entschlossen, +heute mit Adelheid in die Oper zu gehen. Aber nun will er sie nicht +unter fremde Menschen führen. + +Er hatte noch nie Zeit, sich für Kunst zu interessieren, er versteht +nichts davon. Wenn er sich ablenken wollte, sah er sich ein Lustspiel +oder eine Operette an, aber er verspürte stets einen schalen Geschmack +danach, es reute ihn der Zeitverlust. Nun will er Adelheid die Freude +bereiten, mit ihr allein zu Haus zu bleiben, einen ganzen Abend nur ihr +zu widmen; gut und milde zu sein. + +Er hatte noch niemals daran gedacht, seiner Frau ohne äußeren Anlaß +Blumen oder andere Aufmerksamkeiten mitzubringen, auch heute hält er +sich nicht damit auf. Aber er kommt mit einem vollen Herzen. Und das +scheint ihm so ungeheuer viel, daß der Gedanke an materielle Geschenke +ihm absonderlich vorgekommen wäre. + +Während er im Wagen seinem Hause entgegenrollt, dünkt ihn die familiäre +Sorgfalt und Rücksichtnahme des Kommerzienrats längst nicht mehr +lächerlich wie sonst. Auch er freut sich auf sein Familienleben. + +Adelheid erwartet ihn bereits im fertigen Staat für den Theaterbesuch. +Ihre Mutter sitzt in ihrem Zimmer und erzählt vom letzten Opernabend. + +»Selbst Frau Bankdirektor Ellgers war da, die doch aus hygienischen +Gründen nur selten ihr bazillenfreies Haus verläßt«, sagt sie, als ihr +Schwiegersohn eintritt. + +»Ich freue mich so sehr, daß ihr endlich einmal miteinander ausgeht«, +ruft sie nach der Begrüßung aus. »Adelheid hat sonst so gar nichts +von ihrem Leben. Und bald wird sie sich nicht mehr öffentlich zeigen +wollen.« + +»Ja«, sagt Joachim Becker beklommen bei dem Gedanken an die +verschenkten Theaterkarten. »Ich hatte aber gerade heute den Vorschlag +machen wollen, zu Haus zu bleiben. Wir beide ganz allein, Adelheid und +ich. Die Sitzung hat mich sehr angestrengt, und ich bin so lange nicht +mit Adelheid allein gewesen.« + +»Ich wollte euch ohnehin bald verlassen, denn Papa wird wohl jetzt auch +zu Hause sein. Aber meine Ansicht ist, daß Adelheid die Ablenkung gut +tun würde«, sagt die Kommerzienrätin mit abgewandtem Gesicht. Sie sucht +ihren Mantel und rüstet sich, um dieses Haus rasch zu verlassen, in dem +ihr so deutlich gesagt wird, daß man allein sein will. + +»Was meinst du, Adelheid?« fragt Joachim Becker leise, indem er seine +Hand auf ihre Schulter legt. + +Sie blickt hilflos auf, und weil die Mutter ihr den Rücken wendet und +sie ihr Gesicht nicht sieht, wird sie ängstlich. Sie erhebt sich, so +daß die Hand ihres Mannes herabfällt, und geht zu ihrer Mutter hinüber. + +»Nein, Mutter,« sagt sie, »so darfst du nicht weggehen.« Die +Kommerzienrätin schließt den Arm um ihre Tochter, und beide Frauen +gehen wortlos hinaus. + +Da fühlt Joachim Becker, wieviel Leid er hier schon unbewußt veranlaßt +hat, und daß keine Brücke hinüberführt. Heute nicht -- vielleicht in +der Zukunft? + +Er geht in sein Zimmer hinüber und denkt lange, verworren über +seine Handlungen nach, er, der immer so klar und folgerichtig, +so gut organisiert zu denken vermochte. Er glaubt, hier und da in +schwachen Umrissen Fehler zu erkennen. Seine große Sicherheit, seine +Zielbewußtheit fällt von ihm ab, er ist trostbedürftig wie ein Kind. + +Und fühlt zum erstenmal in seinem Leben die große quälende Einsamkeit +... + + + + + Die Mutter + + +Irmgard Pohl geht vor das Haus. Die Luft in den Zimmern ist stickig. +Ohne Abkühlung selbst in der Nacht. Dazu der Geruch von Medizin und +Krankheit, der in alle Zimmer dringt, seitdem Frau Pohl in die unteren +Räume übergesiedelt ist. + +Jetzt, gegen Abend, weht ein Luftzug vom Wasser herüber. Die Mühle und +die Speicher wirken noch bestaubter als sonst, und auch die Pflanzen im +kleinen Vorgarten des Wohnhauses werden trocken und stumpf. + +Die Geräusche vom Hafen sind nun ferner gerückt. Einige Arbeiter +werkeln am zerstörten Getreidespeicher, dessen verstümmelter Bau wieder +abgetragen werden muß. Die neue Arbeit aber wird am südlicher gelegenen +Mittelbecken geleistet. Die wimmelnden Massen der Arbeitenden, die +kleinen Kippwagen und die Arbeitsautos wirken von der Mühle aus +spielerisch klein. Silhouettenhaft gezeichnet sieht Irmgard die +Vorgänge durch die verdickte, vom letzten Sonnenleuchten glitzernde +Luft. + +Sie setzt sich auf die Bank vor dem Haus, müde und des vielen Lärmens +überdrüssig. Auch an der Mühle wird nun gebaut. Herr Pohl läßt den +Speicher aufstocken und einen Flügel am Müllereigebäude anbauen. Die +Arbeiter sind gegangen, doch die Steine und Bottiche stehen umher, +die Gerüstbalken liegen vor dem Speicher und zerstören den ruhigen +Eindruck, der auf diesem Gelände bisher bewahrt geblieben war. + +Es ist kaum vorstellbar, daß noch vor einem Jahr die Vögel in Scharen +auf den Feldern drüben niedergingen und sich holten, was von der Ernte +zurückgeblieben war. Daß die alten Linden ihren weichen Duft mit den +warmen Südwinden über den Kanal hinweg zur Mühle sandten. Daß Kinder +auf den Wiesen spielten, und daß zwischen ihnen ein paar weiße Ziegen +mit gesenkten Köpfen dahintrotteten. Dort, wo jetzt die tiefen Gruben +sind und neue Speicher aus der Erde wachsen. + +Wenn man des Abends vor das Haus trat und über den Kanal hinwegblickte, +war eine ebene Fläche, soweit das Auge reichte. Nur zur Linken +dunkelten die breiten Wipfel der Linden und verdeckten das +Fräuleinstift, dessen Pensionäre man niemals zu Gesicht bekam. Die Rufe +heller Kinderstimmen wehten zuweilen herüber, und dann konnte man ganz +gedämpft irgendwelche dunklen, schweren Kirchenglocken aus dem Innern +der Stadt vernehmen. So still war es in diesem Winkel, wo nun der neue +Hafen entsteht. + +Aber hatte Irmgard sich damals dieser Stille vollkommen bewußt gefreut? + +Sie bückt sich und fegt mit der Hand über das blaue Blumenbeet, +aus dessen dichten kleinen Blüten dabei ein heller Hauch von Staub +auffliegt. Sie sucht immer eine Beschäftigung, wenn peinliche Gedanken +sie bedrängen, trotzdem sie längst weiß, daß sie sich zu anderer Zeit +doch wieder melden und auf die Dauer nicht abzuwenden sind. + +Nein, sie hatte die Ruhe als einen hinterwäldlerischen Zustand +hingenommen und mit Joachim Becker von dem großen Hafen geträumt. + +Einige Rosen am hohen Stock in der Mitte des runden Beetes hängen +welk herab. Irmgard nimmt einen der sammetweichen kühlen Köpfe sachte +mit der Handfläche auf. Sie kann nicht übersehen, daß der Rosenstock +an einen runden Stab gebunden ist, einen grünen Stab mit weißer +Spitze, den Joachim Becker im vorigen Jahr mit seinem Taschenmesser +zurechtschnitt und in knabenhaftem Eifer farbig überpinselte. + +Sie zieht die Hand von der Rose fort. Schwer sinkt sie vornüber, und +dann segeln die hellen Blätter nach allen Seiten in die blauen Blumen +hinein. + +Irmgard wendet sich brüsk ab. Vor der Tür stockt sie einen Augenblick. +Sie will das Haus meiden, um von der Mutter nicht gehört und gerufen zu +werden. Mit kleinen Schritten schleppt sie sich um das Gebäude herum +und geht durch den Gemüsegarten zum Mittelweg. + +Hier und im Hof sind noch Kalkspritzer von den Ausbesserungsarbeiten +am Hintereingang zu sehen. Michael Pohl hatte alles sofort auf +eigene Kosten wiederherstellen lassen und sich auch wegen der +zersprungenen Fensterscheiben nicht mit Ersatzansprüchen gemeldet. +Eines Tages war jedoch Rechtsanwalt Bernhard erschienen und hatte um +die Rechnungen gebeten, da die Hafengesellschaft selbstverständlich +alles ersetzen werde. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, persönlich +vorzusprechen, weil er immer noch auf einen gütlichen Ausgleich in der +Prozeßangelegenheit hoffte. Michael Pohl sprach mit keinem Wort davon. + +Das Mädchen in der Küche hört die Schritte auf dem Kies. Sie setzt +einen Teller klappernd nieder und steckt den Kopf aus dem Fenster. + +»Sie schlafen beide«, flüstert sie. Sie gönnt Irmgard die kurze +Ruhepause. + +Irmgard nickt ihr zu und geht durch die kleine Pforte zu den Wiesen +hinaus, die sich bis zum Verbindungskanal erstrecken. Dort, in der Nähe +des Wassers, setzt sie sich, mit dem Rücken gegen das Hafengelände, auf +den Rasen, den sie kühl und frisch auf der Handfläche fühlt. + +Sie kann hier noch vom Mädchen gesehen und im Notfall gerufen werden, +wenn einer von den »beiden« erwachen und sie brauchen sollte. Diese +beiden, die jetzt ihr ganzes Leben ausfüllen sollten: die Mutter und +das Kind. + +Der Knabe ist gesund und gedeiht, obgleich er mit der Flasche +großgezogen werden muß, und die Mutter erholt sich mit fast +beängstigender Eile. Sie kann es nicht erwarten, wieder überall selbst +zur Stelle zu sein und die Zügel fester in die Hand zu nehmen. + +Ihre abgezehrten Glieder werden elektrisiert und massiert, und wenn sie +nicht zuweilen bei heimlichen Versuchen erfahren hätte, daß Energie +und Unrast allein ihr die alte Kraft nicht wiedergeben, so würde sie +wohl noch heftiger über all diese »teuren und überflüssigen Prozeduren +an einem alten Weibe« schelten. So aber begnügt sie sich mit einem +gutmütig-ungeduldigen Protest, soweit es sich um ihre eigene Person +handelt. + +Streng jedoch und ohne Duldung jeglichen Widerspruchs ist sie wieder in +ihrem Kommando über den Haushalt und die Wartung des Sohns. + +Irmgard hat es sich in den langen einsamen Monaten vor der Geburt des +Knaben angewöhnt, oft mit den Händen im Schoß untätig dazusitzen und in +sich hineinzulauschen. Erst waren es die Erinnerungen, von denen sie +willenlos aus der traurigen Gegenwart fortgetragen wurde. Dann spürte +sie das mählich pochende Leben, und sie malte sich die Zukunft als +Mutter dieses neuen Menschen aus. + +Schließlich mußte sie es ertragen, daß sie ihren Vater und sich +selbst vor seinen Leuten und vor den wenigen Menschen, mit denen sie +gelegentlich zusammenkamen, dadurch in Unehre bringen würde. Sie hatte +nie viel von der Meinung derjenigen gehalten, die nach den allgemeinen +Gesetzen urteilen. Und nun begann sie, in ihrer Mutterschaft eine große +und mutige Mission zu sehen. Erst als sie so weit in ihren inneren +Kämpfen gekommen war, beschloß sie, sich dem Vater zu offenbaren. + +Sie kannte ihn von jeher als einen Eigenbrötler, der sich auch nicht +viel um die herkömmlichen Ansichten kümmerte, aber sie wußte, wie tief +er durch den Abfall Joachim Beckers verletzt wurde. Trotzdem hatte sie +diese Aussprache als eine Befreiung von der Bitternis und dem stummen +Nebeneinander mit dem Vater erhofft. + +Sie vergaß, daß sie selbst sich nach quälendsten Wirrnissen zu der +neuen Anschauung durchringen mußte, und daß sie den Vater vor eine ganz +unerwartete Tatsache stellte. Und vollkommen hatte sie, in ihre Liebe +zu Joachim Becker verstrickt, übersehen, welchen großen Vertrauensbruch +der Vater nun auch auf ihrer Seite darin erblicken mußte. + +Wie sie nun, bleich und schon ein wenig entstellt, dem Vater am Tisch +gegenübersaß und fast ohne Stocken davon zu sprechen begann, war ihr +allmählich, über der fürchterlichen Veränderung in seinem Gesicht, die +ganze Tragweite zum Bewußtsein gekommen. + +Sie konnte plötzlich alle zurechtgelegten großen und kühnen Worte nicht +finden, ihre Mundhöhle zog sich bitter zusammen, und die Magenkrämpfe, +an denen sie in letzter Zeit so viel gelitten hatte, setzten wieder +ein. So saß sie vor ihm, stumm, mit schmerzverzerrten Zügen. Ihre Hände +tasteten krampfhaft über die Decke. Da verschwammen die Umrisse seines +Kopfes vor ihren Augen. Sie ahnte nur seinen erstarrten Blick. + +Erst war es, als ob er ihr Gesicht damit gläsern machte, sie spürte +kein Leben mehr darin, und dann fühlte sie ihn auf den Händen. Sie +hielt sie plötzlich ganz still, aber sein Blick lag immer noch darauf. +Und da schämte sie sich unwillkürlich ihrer Hände, die gelb und mager +geworden waren. Sie zog sie vom Tisch herab und wußte keinen Grund +dafür. Sie hörte eine Tür fallen und war allein im Raum ... + +Später hatte er ihr den Arzt geschickt, der über ihren Zustand +unterrichtet war. Er untersuchte sie und verschrieb ihr +Stärkungsmittel. Aber der Vater und sie haben bis zu ihrer Niederkunft +niemals »davon« gesprochen. Noch jetzt muß Irmgard die Augen schließen, +wenn sie daran denkt, wie sie sich schämte, wenn der Blick des Vaters +unversehens auf ihre veränderte Gestalt fiel. + +Die erste stumme Annäherung glaubte sie zu fühlen, als sie ihm nach der +Katastrophe im Hafengelände entgegenging und sagte, welchen Namen man +dem Knaben geben müsse. Da hatte sie noch nicht gewußt, was sie damit +unternahm. Die große Erregung an jenem Tag und die Freude über die +Erlösung der Mutter veranlaßten sie ohne Überlegung zum Verzicht ihrer +Rechte. + +Als es dem Vater nicht mehr entgehen konnte, wie schwer es ihr fiel, +den Knaben als unbestrittenen Besitz der Mutter zu betrachten und ihr +in allen kategorischen Weisungen willenlos zu folgen, hatte er endlich +offen mit ihr darüber geredet. In seiner knappen und schweren Art +begann er zunächst mit großen Pausen und dann ohne falsche Scheu über +alles zu sprechen, was seit Joachim Beckers Zeit zwischen ihnen lag. So +lange hatte er gebraucht, um es zu verarbeiten. + +Zum Schluß nahm er sie in seine Arme und sprach beruhigend auf sie ein. +Er sagte im Grunde nicht mehr als der Arzt, Schwester Emmi und gewiß +manche anderen, die ein Urteil darüber hatten: daß es so am besten für +sie alle sei, und daß ihr der Knabe innerlich nicht weniger gehöre, +wenn sie ihn nach außen als Bruder anerkennen müsse. + +Aber sie empfand den Druck seiner breiten warmen Hand auf ihrer +Schulter, sie durfte ihren Kopf wieder an seine Wange lehnen, und dann +hatte er wie in den Kindertagen mit seinem großen weißen Taschentuch +die Tränen von ihrem zuckenden Gesicht gewischt. -- + +Die kleinen stehenden Wolken verlieren allmählich ihr rotes Leuchten, +das vom Westen her über den Himmel gezogen ist. Irmgard gibt sich noch +eine kurze Frist, indem sie das Schwinden des gelben Scheins hinter +einer dunklen Wolkengruppe abwartet, dann steht sie auf, um zu ihren +»beiden« zu gehen. + +Das Mädchen flüstert ihr an der Küchentür zu: »Sie ist schon lange +wach. Ich habe ihr gesagt, daß Sie Besorgungen machen.« + +Irmgard will etwas erwidern, aber sie sieht schließlich selbst ein, +daß man der Mutter keine anderen Erklärungen geben kann, denn sie +wird niemals die Menschen verstehen, denen zuweilen die Hände im Schoß +liegen bleiben. + +Sie hört ihre Stimme im Schlafzimmer und weiß, daß sie sich das +Kind ins Bett reichen ließ. Und wieder verliert sich ihre brennende +Sehnsucht nach dem Knaben, weil sie ihn in den Händen der Mutter weiß. +Nur in den wenigen Minuten, da sie unbeobachtet ganz allein mit ihm +sein kann, wird er zu ihrem Besitz. + +Entschlossen würgt sie alle Bitterkeit hinab und geht mit +beschleunigten, festeren Schritten ins Zimmer, als ein Mensch, der +unter Zwang eine schlechte Rolle spielt. + +Hier wartet so viel Arbeit auf sie, daß sie sich schnell wieder +zurechtfindet. Schwester Emmi hatte die Hafengesellschaft nicht auf +ihre Dienste warten lassen, und nun fehlt sie ihr sowohl bei der Arbeit +wie mit ihrem heiteren Wesen. + +»Meine Zukunft«, sagte sie immer, wenn sie von ihrem neuen Posten +sprach. Sie war klug genug, Joachim Becker nicht zu verraten, daß ihre +jüngste Vergangenheit bei Irmgard Pohl und seinem Sohne war. Irmgard +hatte sie aber außerdem gebeten, über diese Tätigkeit zu schweigen. + +»Denn vielleicht weiß er gar nichts davon«, fügte sie mit einem Blick +auf den kleinen Michael errötend hinzu. + +Frau Pohl war es recht, daß die kleine blonde Schwester bald das Haus +verließ, denn erstens hält sie eine Pflegerin für überflüssig, wenn +eine erwachsene Tochter im Hause weilt, und zweitens kann sie keine +Sympathien für Schwester Emmi gewinnen. Sie ist mit ihrer stillen und +zielbewußten Tochter zufriedener, vermeidet es aber streng, sich davon +etwas anmerken zu lassen. + +Irmgard kann ihr eine gute Nachricht bringen: die Masseuse ist am +Nachmittag dagewesen, um zu sagen, daß der Arzt für den nächsten Morgen +die ersten Gehversuche erlaubt habe. + +Während die Mutter in ihrer Freude weinend und lachend das Kind an +ihr hageres Gesicht preßt und in sein erschrecktes Schreien mit +überschwenglichen Koseworten hineinredet, wird sie wieder die hilflose +und schwergeprüfte Kranke, der Irmgard sich von neuem verbunden fühlt. +-- + +Als sich Frau Pohl -- mehrere Wochen später -- schon an Stöcken in der +Wohnung bewegen kann, öffnet sie eines Abends die Tür zum Zimmer ihrer +Tochter, um ihr einen Auftrag zu geben. Sie glaubt erst, daß sie nicht +im halbdämmrigen Raume sei. Doch da richtet sich Irmgard erschreckt vom +zerwühlten Bett auf und starrt ihr blaß und verweint entgegen. + +Es ist, als käme Frau Pohl in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß es +noch etwas anderes als ihre Krankheit und die Pflege des Knaben in der +Welt gibt. Sie läßt sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Einer ihrer +Stöcke fällt polternd zur Erde. + +Unwillkürlich erwartet sie, daß er ihr von der Tochter heraufgereicht +wird. Irmgard ist aber vorher hinausgerannt und hat das Haus verlassen. +Ohne Überlegung ergriff sie im Korridor Mantel und Hut. Sie eilt durch +den Vorgarten, über den Mühlenplatz und die Föhrbrücke zu den belebten +Straßen. + +Die Menschen gleiten wie Schatten an ihr vorbei. Sie erkennt ihre +Umrisse kaum. Aber sie schämt sich vor ihnen. + +Sie verachtet sich selbst, ihre Schwäche und innere Zerrissenheit. Aber +sie geht, wie oft in den letzten Tagen, den gleichen Weg. Den falschen +Weg zu Joachim Becker, anstatt von ihm fortzustreben. + +Der herbstliche, feuchte Wind kühlt ihre brennenden Augen. Die ersten +Nebel verdicken am Abend die Luft, die grau und schwer um die Häuser +schleicht. + +Irmgard steigt in eine Straßenbahn und fährt in die Vorstadt, zu +Joachim Beckers Haus. Wie vieles andere über ihren Chef, so hat +Schwester Emmi ihr auch seine Wohnung verraten. Und Irmgard Pohl, die +in ihrer Zurückhaltung alle kleinlichen Berichte über die Nebenmenschen +bisher von sich fernhielt, verstrickte sich immer tiefer. Sie +verschlang jeden Klatsch über den Hafendirektor, der von Herrn Gregor +über Frau Reiche zu Schwester Emmi gelangte. + +Und dann begann sie mit diesen abendlichen Fahrten. + +Sie steigt an der Endstation der Bahn aus und geht durch die +dunklen, breiten Straßen des Villenviertels. Es ist zur Zeit des +Geschäftsschlusses. Die Stille wird in kurzen Abständen von den +lichtschießenden Autos zerschnitten, durch deren Luftdruck das verwehte +braune Laub nach den Seiten flieht wie Hühner auf der Dorfstraße. +Modriger Geruch steigt zuweilen aus den Gärten auf. + +Irmgard lehnt gegen rauhes Eisengitter und blickt zu dem Grundstück +hinüber: ein niedriges Landhaus ist tief in den Garten hineingebaut und +wird von alten Bäumen fast verdeckt. + +Sie wartet auf den Wagen. Joachim Becker wird aussteigen. Sie darf, +im Dunkel verborgen, die Umrisse seiner Gestalt, seine flinken, +elastischen Bewegungen erkennen und dann -- unglücklicher als zuvor -- +in die Trostlosigkeit ihres zerstörten Lebens zurückkehren. + +Sie unternahm diesen erniedrigenden Weg zum erstenmal, als sie sich +endlich entschlossen hatte, ihren Sohn nicht mehr zu lieben, sondern +als Eigentum der Mutter zu betrachten. Frau Pohl sollte nicht mehr +darüber schelten, daß sie die Pflege des Knaben der häuslichen Arbeit +vorzog, sie sollte ihr nicht mehr mit eifersüchtigen Blicken folgen, +wenn sie das Kind in den Armen hielt. + +Aber als die Arbeit sie gegen Abend entließ, überfielen sie die alten +Erinnerungen noch drängender, lebendiger. In Gedanken ging sie ihm +entgegen, stand wie heute vor seinem Haus, um ihm körperlich näher zu +sein. + +Der herbstliche Sturm, der ihr den Hut fast von den Haaren zieht, +erinnert sie wieder an ihre Spaziergänge mit Joachim Becker. Sie waren +damals barhäuptig am Abend bis zum alten Kanal gelaufen. Über die +feuchten Wiesen, am Wasser entlang, das an die Kaimauern klatschend +schwankte. Ganz oben, am Verbindungskanal, standen noch Bäume, die sich +im Sturm bogen und rauschten wie Meereswellen. + +In dieses Brausen und Feilen des Windes waren sie übermütig +hineingestapft. Sie lachten, riefen. Sie freuten sich, daß ihre Stimmen +ohne Kraft schienen, sosehr sie sich auch bemühten. Sie wateten mit +schleudernden Bewegungen im dickgeschichteten raschelnden Laub und +suchten herabgefallene Kastanien. Sie freuten sich an der glatten +sattbraunen Frucht im weißen Bett ihrer grüngehäuteten Hülle. + +Er warf die Kastanien in hohem Bogen zum Wasser hinüber. Sie stand +mit mütterlich mildem Lächeln daneben und freute sich seiner +weitausholenden, federnden Schwungkraft. + +Einmal hatte sie gesagt: »Es ist unbeschreiblich schön, dich nur in +meiner Nähe so gelöst und knabenhaft zu wissen. Wenn ich mir deine +strenge und energische Haltung im Bureau oder vor den Arbeitern +vorstelle, dann bin ich sehr stolz darüber, daß ich dich so verwandeln +kann.« + +»Aber ich habe es doch nicht verstanden,« sagt sie sich nun, »denn +sonst hätte er mich nicht verlassen können. Oder er müßte leiden wie +ich.« Da sie jetzt nichts mehr mit ihm gemeinsam hat, möchte sie durch +Qual und Einsamkeit mit ihm verbunden sein. + +Sie beginnt zu frösteln. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Während des +Wartens verliert sie vollkommen das Bewußtsein davon, wie gedemütigt +und erbärmlich sie hier steht. Wenn sie ihn gesehen hatte, zuweilen +nur seinen Schatten -- einmal trug der Wind den Klang seiner Stimme +herüber --, hatte sie sich leer und erniedrigt gefühlt. + +Ein schaler Geschmack bleibt von der erregenden Sehnsucht zurück. Sie +will umkehren, weil die Automobile immer wieder vorbeifahren, weil sie +keine Hoffnung mehr hat, ihn zu sehen. Und bleibt doch, bis endlich +das Verhalten eines Motors als vertrautes Geräusch herüberdringt. Sie +kann in schräger Linie hinüberblicken und verfolgen, wie Joachim Becker +aussteigt. + +Er trägt einen Koffer in der Hand -- der Chauffeur holt einen größeren +und schweren von seinem Sitz herab -- und dann beugt Joachim Becker +sich noch einmal zum Wagenschlag, und seine Frau steigt aus. + +Sie geht langsam, schwerfällig. Ihre kleine Gestalt ist ungefüge, und +er stützt sie mit der Behutsamkeit, die man an Kranke und Gebrechliche +wendet. + +Irmgard Pohl schließt die Augen und lehnt sich fast taumelnd gegen das +Gitter. Ihre Nerven sind so überreizt, daß sie lautlos mit verzerrtem +Gesicht vor sich hinlacht. Ja, wie konnte sie so vernarrt sein und noch +eine innere Gemeinschaft mit ihm suchen, der nun mit einer anderen Frau +glücklich ist. Mit dieser Frau, die ihm Kinder schenken wird, die seine +und ihre Züge tragen. Er wird diese Kinder lieben, in denen er sich +selbst wiederfindet, und er wird eine Episode vergessen, die auf dem +Wege zu seinem Aufstieg lag. + +Ist sie endlich aus ihrer Verwirrung erwacht? Sie entfernt sich rasch +von dieser Straße, mit dem Bewußtsein, sie nie wieder zu betreten. + +Sie legt den weiten Weg zu Fuß zurück und kommt müde, zerschlagen zu +Haus an. Ihre Augen brennen in den Höhlen und sind wie leer. Sie geht +sofort in ihr Zimmer. Und zum erstenmal seit Monaten fällt sie in einen +tiefen traumlosen Schlaf. -- + +Frau Pohl liegt wach in den Kissen und lauscht. Sie ist wieder in ihrem +alten Eheschlafzimmer gebettet und legt sich schon am frühen Abend +nieder, weil die ungewohnte Bewegung sie noch allzusehr ermüdet. Aber +erst, wenn ihr Mann neben ihr liegt, wird sie ruhig und kann schlafen. + +Nun lauscht sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, sie glaubt, selbst +den zarten Hauch aus dem Kinderbett zu vernehmen, und sie könnte +einschlafen, weil ihr Haus wohlbestellt ist, denn auch Irmgards +Heimkehr war ihr nicht entgangen. + +Aber da ist etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie hat nach der +stummen Begegnung mit ihrer Tochter angefangen, in ihrem Gedächtnis zu +suchen. + +Man hat ihr gesagt, daß sie lange krank war und daß Lücken in ihre +Erinnerung gerissen sind. Sie kann ausrechnen, daß ihre Krankheit nur +wenige Monate währte, denn der Knabe ist nun ein halbes Jahr alt. + +Aber ihren verwirrten Gedanken drängen sich Bilder und Geräusche auf, +die unendlich lange zurückliegen, während die jüngste Vergangenheit +spurlos verwischt ist. Immer wieder dröhnen in ihren Ohren die dunklen +Schläge jener Uhr, die ihr Vater zu Hause in unheimlichem Eifer +stimmte, damit sie dem reinen Klang der Kirchenglocken gleichen. Er +hatte sich in den Wahn verstiegen, daß seine Sünden erst dann von +ihm genommen würden, wenn auch der letzte unreine Ton aus der alten +Uhr verschwunden wäre. Sie hört sein halblautes Beten und seine +Selbstgespräche. Sie geht durch die Zimmer der alten Wohnung, sie +spricht mit dem Vater und bittet ihn, endlich aufzuhören, denn keine +Glocke könne heller schlagen als seine Uhr. Und kein Mensch könne das +länger mit anhören. + +Sie sieht seine glänzenden Fanatikeraugen so deutlich und irisierend, +als müßte er jetzt in das Zimmer treten und ächzend auf den Stuhl +steigen, um wiederum an der Uhr zu drehen und sie schlagen zu lassen. +Sie selbst aber ist nicht älter als Irmgard und geht zuweilen in ein +dunkles Zimmer, um aus ihrer Einsamkeit heraus zu weinen. + +Mächtiger und quälender schlagen die Töne in das Brausen ihrer Ohren. +Das Blut schießt brennend in ihren Kopf, und ihre Glieder erstarren +unter den dicken Federbetten. + +Endlich erträgt sie es nicht länger. Sie weckt ihren Mann. Verstört +wacht Michael Pohl auf. Er verdrängt alle Besorgnis aus seinem Blick, +während er sich zu ihr hinüberneigt und sie behutsam fragt. + +»Willst du Vaters Uhr forttragen, damit sie mich nicht länger quält?« +bittet sie ihn. + +Michael Pohl weiß nicht, welche Antwort er ihr geben soll, denn die Uhr +ist niemals in seinem Hause gewesen. + +»Die Uhr ist nicht hier«, sagt er schließlich. »Deine erregten Nerven +täuschen sie dir vor. Du bist noch zu anfällig nach der langen +Krankheit und wirst dich künftig nicht so überanstrengen.« + +»Ja, das sind die fixen Ideen, an denen der Vater zugrunde gegangen ist +und die ich dir nun als Erbe ins Haus gebracht habe. Jetzt hat es schon +unsere Tochter angesteckt. Sie sitzt im dunklen Zimmer und weint.« + +»Irmgard hat einen ganz gewöhnlichen Liebeskummer wie viele junge +Mädchen. Sie ist gesund und vernünftig und wird es überwinden. Aber +sieh: bei dir ist es anders. Du hast so viel Schweres erlebt, daß es +dich wieder überfallen muß, wenn du krank und schwach bist.« + +Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich nach dem +Kummer der Tochter näher zu erkundigen. + +»Aber in meiner Erinnerung ist ein Abgrund«, flüstert sie und versucht +sich aufzurichten. Er ist ihr behilflich und stützt sie durch +Kissenberge im Rücken. + +»Du kannst nur allmählich zurückfinden.« Er hält ihre Hände fest, die +unter seiner Wärme wieder ruhig werden. »Vor allen Dingen darfst du es +nicht erzwingen wollen, du mußt geduldig warten, bis alles von selbst +wiederkehrt.« + +»Ja«, erwidert sie gehorsam. »Nur das eine mußt du mir sagen: der Vater +ist tot?« + +»Seit fünfundzwanzig Jahren!« bestätigt er. + +»Und daß mein Bruder bei seiner Bank die große Summe unterschlagen hat +und daß du alles bezahltest, das ist kein Traum?« + +Michael Pohl überlegt einen Augenblick und sagt schließlich lachend: + +»Was sind das für alte Sachen! Auch das ist fünfundzwanzig Jahre her.« + +»Siehst du, das habe ich gewußt. Das ist kein Traum gewesen. Ich habe +so viel Unglück über dich gebracht. Und nun bin ich krank und kann +nicht sparen und arbeiten, um dir alles wieder einzubringen.« + +Sie hat ihm damit zum erstenmal nach so viel Jahren eine Erklärung für +ihren Arbeitsfanatismus gegeben, der ihm so oft zur Last geworden war. + +Er setzt ihr auseinander, daß sie reich seien, sehr reich. Er zählt ihr +die Werte seiner Mühle und des Grundstücks auf. Ja, sie hätten mehr +Geld, als sie verbrauchen könnten. Und wenn sie wolle, so würde er hier +sofort alles verkaufen und sie in ein herrliches Schloß setzen, wie sie +es sich damals träumte, als sie beide noch jung waren. + +»Gott hat mich für meinen Hochmut bitter gestraft«, sagt sie abwehrend. +»Ich bin schuld daran, daß mein Bruder das getan hat. Ich habe ihn zu +sehr geliebt und verwöhnt und mit meinen Plänen vergiftet.« + +»Du warst nur wenige Jahre älter als er, und man konnte von dir noch +nicht verlangen, daß du ihn allein erziehst, zumal du auch ohne Mutter +aufgewachsen warst. Er war nicht schlecht und hat seine leichtsinnige +Handlung bereut. Ich bin fest davon überzeugt, daß er drüben ein neues +Leben angefangen hat. Wir haben nur nichts mehr von ihm gehört, weil du +nicht wolltest, daß er uns schreibt.« + +»Nein,« sagt sie, »dein Leben sollte nicht noch einmal das eines +Verbrechers kreuzen.« + +Er fühlt wieder ihre unbeugsame Strenge und versucht, ihre Gedanken von +diesen Erinnerungen abzulenken. + +Allmählich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Er hält ihre Hand fest und +erkennt an dem sachte nachlassenden Druck ihr Versinken in den Schlaf. + + + + + In Erwartung + + +Als im nächsten Frühjahr das erste Hafenbecken mit den langgestreckten, +niedrigen Lagerhallen fertiggestellt war und Waren aus aller Herren +Ländern eintrafen, um ausgeladen oder umgeladen zu werden, konnte man +wohl von der eigentlichen Eröffnung des Hafenbetriebs reden. Aber man +machte nicht viel Wesens davon. + +Joachim Becker fährt nach wie vor an jedem Morgen in den Hafen und +sieht nach dem Rechten, nicht nur bei den Bauten, sondern auch bei den +neuen Aufgaben des Hafens, bei der positiven Arbeit, auf die er lange +genug gewartet hat. + +Er stellt sich neben den Lademeister und sieht ihm schweigend eine +Weile zu, bis der Mann irre wird und einen Fehler begeht; dann hat +der Direktor Gelegenheit, zu zeigen, was er alles sieht und was er +versteht. Ja, man hat Respekt vor ihm, das muß man sagen, man läßt sich +durch seine Gegenwart unsicher machen. Und Joachim Becker findet, daß +so alles in Ordnung ist. + +Er geht auch zum Kontoristen in das kleine Bureau der Lagerhalle und +sagt gutgelaunt: + +»Na, bald werden Sie es nicht mehr allein schaffen, was? Wenn im +Verwaltungsgebäude die ersten beiden Stockwerke fertig sind, ziehen wir +dort ein. Dann können sie an den weiteren Etagen über unseren Köpfen +fortbauen.« + +»Ach,« meint der Beamte ehrfürchtig, »zieht dann die Direktion hier +ein?« + +»Die Direktion?« Joachim Becker lacht. »Nein, die Direktion bleibt, wo +sie ist. Aber hier werden wir eine Verwaltung einrichten müssen.« + +»Ja«, sagt Herr Karcher verständnisvoll, und es liegt ihm fern, zu +denken, daß er dann einen besseren Posten einnehmen könnte. Er hat +zwanzig Jahre die Papiere und Bücher in Lagergeschäften ordnungsgemäß +geführt, und er trägt ein Verzeichnis aller Waren und ihrer +unmöglichsten dialektischen und fremdländischen Bezeichnungen im Kopf. +Er kannte sich immer in seinen Dokumenten aus, und darauf ist er stolz. +Mehr verlangt er von seinem bescheidenen Leben nicht. + +Aber nun sieht er manchmal zum Gerüst des Verwaltungsgebäudes hinüber +und denkt mit Bestürzung: es wächst und wächst. Er ist mit dem jetzigen +Zustand so zufrieden und hätte bei Gott keine Veränderung gewünscht. + +Wenn er morgens mit seinem Handbuch zum Hafenbecken kommt, um die +Eingänge zu notieren, liegen die Kähne mit den dunklen schweren Leibern +in der Sonne. Kinder und Hunde laufen auf dem Deck umher, und die +Schiffer ziehen ihre Mützen. + +»Guten Morgen, Herr Karcher,« sagen sie freundlich und zutraulich und +»Ja, das ist ein Frühlingstag«. Das sagen sie an jedem Frühlingstage. + +Und Herr Karcher meint, während er die schmalen Schultern wohlig +hochzieht und die Hände reibt: »Ja, das laß ich mir gefallen,« und »Ist +dort, wo Ihr gestern wart, auch schon der Frühling eingezogen?« + +Dann erzählen sie, wie der Frühling zehn oder zwanzig Meilen weiter +aussieht, und Herr Karcher hört andächtig zu, bis er plötzlich seiner +Kladde gedenkt und einzutragen beginnt. + +Dort drüben aber wächst das Verwaltungsgebäude mit jedem Tag, und dann +wird die Verwaltung einziehen und ein anderes Regiment führen. Herr +Karcher beginnt unter den Strahlen der Frühlingssonne zu frösteln, +und wenn die Fürsorgeschwester nicht im Hafen wäre, so könnte er der +Melancholie verfallen. + +Aber Schwester Emmi kommt in ihrem blaugestreiften Kleid auf zierlichen +Füßen daher wie ein Morgengruß und sagt in ihrer stets prächtigen +Laune: + +»Uff! Das hätten wir getan!« + +»Guten Morgen«, pflegt Herr Karcher dann erst ermahnend zu sprechen. +»Was hätten wir getan?« + +»Guten Morgen«, ruft sie nachträglich, während sie sich auf seine +Tischkante setzt. »Eben so unsere ersten Pflichten: eine Suppe auf +einen Kahn getragen und ein Kind angezogen und -- na so weiter. Einen +Finger habe ich heute noch nicht verbunden.« + +»Aber hier ist eine Wunde zu heilen«, sagt Herr Gregor, der nun auch +auf der Bildfläche erscheint. Er hält ihr seine Wange hin, die einen +schmalen Riß sehen läßt. + +»Nein, Rasierschnitte unterliegen nicht der Fürsorge«, wendet sie ein, +und dabei gibt sie ihm einen kleinen Klaps auf die Schramme. + +»Finden Sie,« fragt sie Herrn Karcher, »daß es schön ist, wenn ein +Mann sein Gesicht pudert? Und wann, glauben Sie wohl, ist dieser +leichtsinnige junge Herr heute nacht heimgekommen?« + +»Sind Sie so gut unterrichtet?« fragt Herr Karcher, während Herr Gregor +geschmeichelt an seinen Nägeln putzt. + +»Jawohl,« erwidert sie, »denn ich kann es in meinem Zimmer deutlich +hören. Und auch Frau Reiche hat ihn kontrolliert. Er ist nämlich heute +nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Der Morgenwächter hat ihn +erst eingelassen.« + +»Aha! Daher die Informationen!« stellt Herr Gregor fest. + +»Und dieser Mann ist so naiv, Herrn Gregor für den tüchtigsten Beamten +des Hafens zu halten.« + +Herr Gregor räuspert sich respektfordernd. + +»Er sagte nämlich: ›Herr Gregor hat heute um fünf Uhr schon den Hafen +inspiziert.‹« + +»Dieses Rhinozeros!« entfährt es dem jungen Mann, den man für würdig +hält, so lange Objekt der Unterhaltung zu sein. + +Aber da wird Herr Karcher plötzlich ernst und sagt: »Übrigens hat schon +jemand von der Direktion nach Ihnen gefragt.« + +»So -- die haben auch nichts Wichtigeres zu tun!« + +Schwester Emmi macht ein sehr bestürztes Gesicht. + +»Wer hat nach ihm gefragt? War es der Direktor selbst?« + +»Nein, der Direktor ist seit gestern verreist. Er ist ins Ausland +gefahren«, sagt Herr Gregor. + +»Seine Sekretärin könnte es gewesen sein«, meint Herr Karcher. + +»So, diese Pute geht das gar nichts an, wann ich komme.« + +»Also eine Frauenstimme. Das ist nur gut«, sagt Schwester Emmi. Ihr +Gesicht hellt sich wieder auf. »Aber jetzt gehen Sie wohl, +Herr Gregor?« + +»Wenn ich hier im Hafen mit meinen Arbeiten fertig bin, werde ich +gehen. Diese Herrschaften bilden sich wohl ein, daß ich nur der +Pünktlichkeitskontrolle wegen erst ins Stadtbureau fahre und dann für +die Hafenarbeiten extra wieder herkomme. Diese Bureaukraten --« + +Er vollendet den Satz nicht, sondern steht an der Tür, um draußen +weiterzusprechen, in der Erwartung, daß Schwester Emmi ihm folgt. Aber +sie bleibt auf der Tischkante sitzen und blickt ihm bekümmert nach. + +»Ich dachte, Sie wollten auch an die Arbeit --« sagt er enttäuscht. +Sein langes Gesicht ist grau und übernächtig. + +»Oh, ich habe heute schon mancherlei getan, aber nun muß ich hier wegen +der Unterstützung der kranken Schifferfrau mit der Kasse telephonieren. +Sie soll nämlich in ein Krankenhaus.« + +»Ich glaubte, bei Frau Reiche wäre dafür auch ein Telephon.« + +»Ach ja, aber jetzt bin ich hier.« + +»Na, dann viel Vergnügen!« Herr Gregor schmettert wütend die Tür ins +Schloß und trottet allein am Kai entlang der Hafenwirtschaft zu. Dieser +Schürzenjäger kann keine zehn Schritte mehr ohne weibliche Begleitung +gehn, und er ist unzufrieden mit allem, was Röcke trägt. + +Schwester Emmi springt vom Schreibtisch herunter und lauscht angespannt +auf seine Schritte. + +»Warum sind Sie denn nicht mitgegangen?« fragt Herr Karcher, während er +sich wieder mit seinen Eintragungen in den Büchern beschäftigt. + +»Ach, weil ich nicht wollte.« + +Dann schlüpft sie zum Fenster und drückt sich die Nase an den Scheiben +platt, um bis ans Ende des Hafenbeckens und bis zur Kantine zu sehen. + +»Und dann«, sagt sie nach einer ganzen Weile, nachdem Herr Gregor +endlich durch das Hauptportal verschwunden ist, »und dann will er immer +noch dieses und jenes erzählen und hält sich auf, und im Bureau warten +sie auf ihn. Meinen Sie wirklich, daß es nur die Sekretärin war? Wollte +sie etwas Bestimmtes von ihm?« + +»Es kann auch jemand von der Personalabteilung gewesen sein. Aber das +war sicher nur wegen der üblichen Kontrolle. Vielleicht wollte man auch +hören, ob ich auf meinem Posten sei.« + +»Nein, das wollte man sicher nicht. Sind Sie in Ihrem Leben schon +einmal zu spät gekommen, Herr Karcher?« + +»Ja, einmal in zwanzig Jahren.« + +»Aber da hat sicherlich ein schwerer Grund vorgelegen?« + +»Es war an dem Tage, da meine Frau starb.« + +»Ach. Und da sind Sie noch ins Bureau gegangen?« + +Herr Karcher sieht auf seinen Federhalter und sagt langsam: »Als ich +das Haus verließ, hat sie noch gelebt. Aber ich war sehr unruhig und +kam zurück und ging zur Nachbarin und dachte auf der Straße daran, daß +ich wieder etwas vergessen hatte, und da bin ich fünf Minuten zu spät +gekommen.« + +»Fünf Minuten? Ach, da hat sich doch niemand darüber aufgehalten?« + +»Doch. Der Vorsteher wurde wütend und brummte: ›Da fängt der auch schon +an.‹ Er war knurrig und mochte mich gar nicht sehen, bis dann die +Nachbarin kam und sagte, daß meine Frau gestorben sei.« + +»Da hat er wohl eine Erklärung gehabt?« + +»Jedenfalls.« + +»Wie lange liegt das zurück, Herr Karcher?« + +»Zehn Jahre.« + +»Zehn Jahre. Und seitdem sind Sie immer allein? Ach, du lieber Gott, es +ist doch wirklich wahr, da fehlt wieder ein Knopf!« + +»Ja, ich habe ihn eingesteckt.« + +»Dann geben Sie ihn nur her, man wird sich doch so eines armen +Junggesellen annehmen müssen.« Sie zieht schon einen schwarzen Faden +und eine Nadel aus ihrer Schürzentasche. + +»Nein, so etwas! Was sind Sie für ein hilfreiches und praktisches +Menschenkind! Haben Sie das immer so zur Hand?« + +»Aber gewiß! Bei meinen Kindern auf den Kähnen und bei den vielen +Leuten hier im Hafen gibt es stets allerhand zu nähen. So, nun ist +der Schaden bald repariert. Und diese kleine Stelle wollen wir auch +gleich etwas zusammenziehen. -- Wissen Sie, das ist das Herrliche an +meiner Arbeit hier, daß ich sie mir suchen darf. Nachdem der Direktor +mich damals engagiert hatte, bin ich zu ihm hingefahren und habe ihn +gefragt, was ich denn nun zu tun hätte. ›Ja,‹ sagte er, ›das weiß +~ich~ doch nicht, das werden ~Sie~ finden müssen. Im Hafen +sind viele Menschen bei der Arbeit, denen etwas passieren kann. Sie +können den Finger quetschen oder krank werden, und wenn einer besonders +schlecht aussieht, dann könnte so eine Frau wie Sie ihn vielleicht +fragen, was ihm fehlt.‹ Das hat er wirklich gesagt. Und dann meinte er +noch: ›Vergessen Sie nicht die Leute auf den Kähnen. Die Schiffer mit +ihren Familien sollen sich bei uns wohlfühlen. Sie müssen sich eben +immer vor Augen halten, daß Sie die Fürsorgestelle sind.‹ Und dabei +betonte er das Wort ›Fürsorge‹ so besonders. Unterwegs, in der Bahn, +mußte ich immerfort darüber nachdenken. Schließlich habe ich mir das +Wort in zwei Teile zerlegt, und da kam ich dahinter. ›Für Sorge‹ soll +ich da sein, für alle Sorgen, um sie zu vertreiben. Und daran will ich +mich eben immer halten.« + +»Vielleicht hat das Wort aber die Bedeutung von Vorsorge; also +vorsorgen, vorbeugen gewissermaßen sollen Sie«, meint Herr Karcher, +während er auf ihre flinken Finger sieht. + +Sie läßt die Nadel im Stoff stecken und macht ein sehr nachdenkliches +Gesicht. + +»Nun haben Sie mir alles umgeworfen, und ich kann wieder von neuem +anfangen, darüber zu grübeln. Sie mögen auch recht haben. Vorbeugen, +sehen Sie, das kann auch in seiner Absicht gewesen sein. Denn wie +der Direktor mich draußen einmal traf, sagte er: ›Die Kinder der +Schiffer laufen hier zwischen den Bauten herum, es könnte ihnen etwas +passieren. Vielleicht haben Sie eine Beschäftigung für sie, Spiele oder +Handarbeiten, damit sie auf einem Platz gesammelt sind.‹ Ja, an was er +alles denkt. Damit also haben wir dem Unglück vorgebeugt.« + +Jetzt reißt sie den Faden ab und ist mit ihrer Arbeit fertig. + +»War das auch eine dienstliche Verrichtung?« fragt Herr Karcher +lächelnd. + +»Da müßte ich erst bei der Direktion anfragen.« Sie lacht schelmisch +und steckt das Nähzeug wieder in die Tasche. »Ja, nun will ich gehn.« +Sie nickt ihm kameradschaftlich zu und verschwindet hinter der Tür. +Das beabsichtigte Telephongespräch wird sie wohl doch bei Frau Reiche +führen. + +Herr Karcher ist wieder mit seinen Büchern allein und betrachtet den +festgenähten Knopf. Aber vor dem Fenster sieht er etwas Helles, und das +ist Schwester Emmis blaugestreiftes Kleid. Ihr wasserstoffblondes Haar +hat dunkle Flecken, weil sie es in seiner natürlichen Farbe nachwachsen +läßt. Herr Karcher findet das sehr schön. Plötzlich springt er hoch, +reißt beide Fensterflügel auf, daß die neue Ölfarbe kracht, und ruft +hinaus: + +»Ich habe ja den Dank vergessen!« + +Dann schlägt er das Fenster wieder zu und hat den Dank durchaus noch +nicht nachgeholt. + +Schwester Emmi lacht und wehrt mit großen Armbewegungen ab. Dann geht +sie wieder ihres Weges, und Herr Karcher beugt sich über seine Bücher. + +So schön könnte es also auch weiterhin in seinem kleinen Kontor sein, +wenn nicht plötzlich eine neue Nachricht bombenartig hereingeplatzt +wäre. + +Wer es zuerst erzählt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls +ist ein jeder mit dem Gerücht beschäftigt, daß ein neuer Hafendirektor +einziehen soll. + +Und Joachim Becker? Er ist für die höhere Politik vorgesehen, +als Außenminister des Hafens gewissermaßen. Er übernimmt die +Generaldirektion in der Stadt und hat im Hafen seinen Direktor. +Ja, diese Hafengesellschaft, sie hat erst ~ein~ Becken, +aber ~zwei~ Direktoren, und davon ist der eine sogar ein +Generaldirektor und der andere ein richtiger Kapitän. + +»Ein Kap'tein?« fragt Schiffer Martens ungläubig. + +»Ja,« sagt Lagerverwalter Scholz, »das habe ich gehört, und aus einem +großen Seehafen soll er kommen.« + +»Düwel! Dann ist er auf den Riesenschiffens über den Großen Teich +gefahren. Dat is mien Mann!« + +Und er freut sich ordentlich auf seinen großen Kollegen. + +Auch der Bodenmeister Ulrich erwartet gern den neuen Mann. Nun würde +doch einer kommen, der seiner würdig wäre, einer, der auch die Welt +gesehen hat und nicht wie dieser hier immer mit der Nase in der Heimat +geblieben ist und dabei doch klugschnacken will. Ja, Ulrich ist ein +weitgereister Mann. Er war für einen großen Spediteur in Saloniki +tätig, und in Rustschuk hat er einen Getreidespeicher mit Elevatoren +und allem modernen Kram bedient. Ach, sogar in Konstantinopel ist er +gewesen, und wenn er von den Harems erzählt, die er in seinem Leben +schon gesehen hat, dann sperren die anderen die Mäuler nur so auf. + +Aber daran liegt ihm wenig. Nun würde doch einer kommen, mit dem er +auch ein Wort in einer anderen Sprache reden könnte, denn so ein +Kapitän versteht natürlich alle Sprachen, zum Beispiel Französisch. +Und über das Technische könnte man sich mit ihm richtig fachmännisch +unterhalten, über Schiffsbecherwerke und Saugförderanlagen und Krane, +über die ganze Ausrüstung, die ein moderner Getreidespeicher heutzutage +braucht. Ulrich zweifelt keinen Augenblick daran, daß ein Mann, der in +der Welt herumgekommen ist, davon etwas versteht. + +Er sieht im Geiste den halbfertigen Getreidespeicher in seiner +vollkommenen Größe und mit allen maschinellen Anlagen ausgestattet. +Dann ist seine Zeit angebrochen, denn dafür ist er bestimmt, und +er wartet nur darauf. Nun aber kommt der Kapitän, der dafür sorgen +muß, daß der Bau beschleunigt wird, und daß es ein richtiger und +sehenswerter Hafen wird. + +So freut sich auch der Bodenmeister Ulrich auf den Kapitän. + +Aber da sind einige im Hafen, die ihm mit großer Sorge entgegensehen. + +»Brauchen wir schon einen Aufpasser hier im Hafen?« fragt Frau Reiche +ihren Mann. »Ich meine, es ist doch bisher ganz gut so gegangen.« + +»Wenn die Direktion es für richtig hält, so mag es schon stimmen«, +meint der ehemalige Bäckermeister und jetzige Kantinenwirt. Sein +blasses, aufgeschwemmtes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen +und dem roten Schnurrbart ist in letzter Zeit etwas eingefallen, denn +er hat es nun mit Selterwasser und Milch versucht, und das ist nicht +das richtige Getränk für einen Mann, der zu vergessen hat, daß er das +beste Brot im ganzen Stadtviertel backen konnte, und der nun hinter dem +Schanktisch stehen muß, weil es die Frau so will. + +»Mag es schon stimmen,« macht sie ihm mit verzogenem Mund nach, »mag es +schon stimmen! Du bist auch so einer, der alles für richtig findet, was +die Obrigkeit anordnet, ohne einmal selber darüber nachzudenken. Ich +bin der Ansicht, wir brauchen noch keinen Kapitän. Dazu sind wir hier +noch viel zu klein. Aber der Direktor Becker weiß nicht mehr, wo er +hinaus soll mit seinen hohen Plänen, und wenn man ihn sprechen will, so +hat er keine Zeit.« + +»Das ist auch richtig so. Unsereins hat in seinem Bureau nichts zu +suchen. Was er uns zu sagen hat, läßt er uns schon durch Herrn Gregor +bestellen.« + +»Na, und ist es nicht immer sehr gut gegangen mit Herrn Gregor?« fragt +sie triumphierend. »Brauchen wir einen neuen Mann? Warum können sie +denn dem Herrn Gregor nicht den Posten geben?« + +»Dafür werden sie schon ihre Gründe haben«, sagt ihr Mann und verläßt +den Raum. + +»Esel«, ruft sie ihm wütend nach. Nein, sie ist gar nicht zufrieden mit +dem angekündigten neuen Mann. + +Und darin stimmt ihr selbst Herr Gregor zu, der in den letzten Monaten +nicht immer ihre Ansichten teilte, und der recht schwer zu lenken war. + +»Das wird hier ja recht gemütlich werden«, sagt er zu Herrn Karcher, +der über seinen Büchern sitzt und alle Prophezeiungen vom neuen Mann +über sich ergehen läßt. + +»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragt Herr Karcher. + +»Nein, den hat noch niemand gesehen. Der Becker hat ihn auf seiner +Reise getroffen, er soll von den Reedereien empfohlen sein.« + +»Von den Seehafenreedereien?« fragt Herr Karcher, als wüßte er, daß +diese Empfehlung dann etwas zu bedeuten habe. + +»Jedenfalls von den Seehafenreedereien, denn der Kommerzienrat und der +Becker haben dauernd in den Seehäfen Besprechungen gehabt.« + +›Was bist du doch für ein kurzsichtiger Mann‹, apostrophiert Herr +Karcher sich selbst mit Beschämung. ›Da denkst du, es könnte alles +so bleiben, wie es ist: mit einem halbstündigen Morgenbesuch des +Direktors, mit Herrn Gregor und Schwester Emmi. Doch mit dem Kapitän +und den Reedereien wird es schon seine besondere Bewandtnis haben. In +~die~ Pläne siehst du nicht hinein, aber für die Weiterentwicklung +des Hafens und für dieses ganze Riesenprojekt werden sie schon +ungeheuer viel bedeuten. Wenn es nach dir ginge, könnte man die ganzen +in den Hafen gesteckten Millionen in den Schornstein schreiben‹. Er ist +bereit, sich den Beschlüssen der obersten Leitung ohne Kritik zu fügen. + +»Der wird schon der rechte schneidige Mann sein«, setzt Herr Gregor +seinen Gedankengang fort. »Da der Becker ihn ausgesucht hat, ist er +sicher einer von seinem Kaliber: hochmütig, scharf und kurz +angebunden.« + +Herr Karcher schweigt. + +»Aber es mag auch sein,« überlegt Herr Gregor weiter, »daß er das +Gegenteil davon ist: ein Duckmäuser. Denn man kann vermuten, daß der +Becker nicht einen von seiner Art neben sich duldet, das gäbe ja eine +unliebsame Konkurrenz. Und wenn man der Schwiegersohn ist, darf man +sich schon einen persönlichen Geschmack leisten.« + +»Ja, Herr Gregor,« meint der andere, während er, über den eigenen +Mut errötend, auf seinen Federhalter starrt, »Sie sind wie der +Kammerdiener, der seinen Herrn in Unterhosen sieht. Sie wollen +nicht die Größe an ihm erkennen, weil Sie ihn zu sehr aus der Nähe +betrachten.« + +Herr Gregor starrt den kleinen Mann verblüfft an. Er begreift den +Sinn seiner Worte erst allmählich, sie waren aus diesem Munde gar zu +überraschend gekommen. Nun möchte er sich am liebsten in Positur setzen +und solche Bemerkungen aufs strengste untersagen, aber er überlegt, daß +er jetzt einige Freunde im Hafen sehr nötig gebrauchen wird, da der +Feind im Anrücken ist. Denn nur so und nicht anders kann er den Kapitän +betrachten. + +»Auf jeden Fall,« schließt er seine Erwägungen, ohne der unpassenden +Äußerung Beachtung zu schenken, »auf jeden Fall haben wir dann einen +Schnüffler mehr.« + +Auch Schwester Emmi fürchtet sich ein wenig vor dem neuen Mann. +Zuallererst denkt sie daran, wie dann dem armen Herrn Gregor zugesetzt +würde, der nun, nach der Rückkehr Joachim Beckers, zwar pünktlicher +geworden ist, aber doch jede Kontrolle haßt. Ja, er ist ein freier +Mann, ein Herrenmensch, aber man erkennt nicht seine besondere Art an, +und darum grollt die kleine Schwester dem Direktor, so sehr sie ihn +auch sonst zu schätzen gezwungen ist. + +Und wie würde es bei dem neuen Kapitän um ihre eigene Tätigkeit +bestellt sein? Ob es dann auch heißen würde: die Arbeit müssen Sie +selbst finden? Ach, sie hat soviel gefunden, und bis zum späten Abend +ist sie auf den Beinen. + +Im Winter hat sie ganz allein dafür gesorgt, daß die Schifferkinder vom +Winterlager auch die Schule besuchten und für das im Sommer versäumte +Pensum Nachhilfen erhielten. Ihr ist es zu verdanken, daß vom entfernt +gelegenen Südbecken, in dem wegen der Sprengungen die meisten Gefahren +für die Arbeiter lauern, eine direkte Telephonleitung in ihre kleine +Wohnung gelegt wurde, damit sie bei Unfällen sofort gerufen werden +kann. Sie ist immer schnell zur Hand gewesen und hat manchem die erste +Hilfe geleistet. Selbst auf das Gelände der Verhüttungsgesellschaft, +die im kleinen mit der Förderung der Erze begonnen hat, war sie schon +geholt worden, und sie ist eher erschienen als der Arzt von der +Rettungsstation, der ihren fachmännischen Verband rühmte. + +Jetzt hat sie den Bauarbeitern sagen lassen, wer schwächliche Kinder +habe, solle es melden, sie werde für eine Unterbringung in den +Ferienkolonien sorgen, denn sie hat die Unterstützung der Stadt. Für +einige Kinder des Hafenpersonals aber, das immer eine bevorzugte +Stellung einnimmt, weil es doch die eigentlichen Angehörigen des Hafens +sind, hat sie bei einem Dorfschullehrer in ihrer Heimat einen schönen +Ferienaufenthalt gesichert. Joachim Becker setzte ihr einen bestimmten +Betrag dafür aus, als sie ihm zaghaft den Vorschlag machte, und sie hat +lange gerechnet und überlegt und das Geld gut verteilt. Das Lob des +Direktors, der mit seinen kühlen grauen Augen immer kurz in ihr Gesicht +blickt, wenn sie von ihren Plänen spricht, ließ sie erröten. Sehr +aufgeregt und ängstlich ist sie stets in das Stadtbureau gefahren, +wenn sie ein besonderes Anliegen hatte, aber auf dem Heimweg war sie +immer von großem Stolz und Glück erfüllt. + +Wenn sie sich um Herrn Gregors leibliches und seelisches Wohl ein wenig +besorgt zeigt und ihm zuweilen abends noch einige Blumen ins Zimmer +trägt, auch wenn er nicht zu Hause ist -- und er ist abends oft nicht +da --, so erfüllt sie doch menschliche Pflichten an ihrem nächsten +Nachbarn, denn sie wohnen im Gebäude der Hafenwirtschaft Tür an Tür. +Sie sucht ihn auf diese Weise ans Haus zu fesseln, damit er am nächsten +Tage seinen Aufgaben für die Hafengesellschaft um so besser nachkomme, +und wenn sie ihn auch einmal begleitet, so geschieht das nur, weil +sie ihn vor schlechter Gesellschaft bewahren will. Ist das nicht eine +Motivierung, die sich auch vor dem neuen Kapitän sehen lassen kann? + +Und daß Frau Reiche, die Kantinenwirtin, die in der ersten Zeit ihre +Freundin war, sich nun als Feindin entpuppte, verdankt sie nur ihren +Bemühungen, Herrn Gregor dem verderblichen Einfluß zu entziehen! Doch +das ist ein Kapitel für sich. + +Sie ist nicht im reinen darüber, ob der neue Mann etwas Gutes oder +Böses in ihr Leben hineinbringen werde, und weil sie weder mit Herrn +Gregor noch mit Frau Reiche, die ihn beide als den Feind betrachten, +in Ruhe darüber sprechen kann, und weil auch Herr Karcher nur von +Respektsgefühlen erfüllt ist, ohne sich eine eigene Meinung zu +erlauben, hat sie das Bedürfnis, zur Mühle hinüberzugehen, um mit +Irmgard Pohl zu plaudern oder gar einige Worte von Herrn Pohl selbst zu +hören. + +Seitdem sie in den Hafen übergesiedelt ist, hat es sie oft zur Mühle +hingezogen, und sie ist das verbindende Element zwischen Hafen und +Mühle, obgleich Rechtsanwalt Bernhard seinen Prozeß in der ersten +Instanz verloren hat und an die Einsicht eines höheren Gerichtshofes +appelliert. + +Irmgard sitzt auf der Bank vor dem Hause und zeigt dem kleinen Michael +die Blumenpracht des Gartens. Sie spricht mit dem Knaben, der eben +ein Jahr alt geworden ist, wie mit einem Erwachsenen und bekommt ein +lustiges Krähen und Jauchzen zur Antwort. + +›Wie langsam entwickelt sich so ein Menschenleben,‹ denkt sie, während +sie das Kind im Arm hält, ›und wie schnell wachsen die menschlichen +Werke!‹ Sie blickt zum Hafen hinüber: dort hat der Getreidespeicher +sein drittes Stockwerk wieder erreicht, im Hafenbecken liegen die +Flußschiffe in zwei Reihen, und die Kräne recken vor den Lagerhallen +ihre schwarzen Arme in die Höhe. + +Das ist etwas Fertiges in sich, etwas Hochgewachsenes und vollkommen +Ausgestattetes, an dem nichts mehr zu verbessern scheint, aber ein +Mensch ist in der gleichen Zeit nur einige Zentimeter gewachsen, er hat +kaum sprechen und gehen gelernt, und wenn er schließlich zweiundzwanzig +Jahre alt ist wie Irmgard Pohl, dann glaubt er wieder am Anfang zu +stehen und beginnt erst an seiner Inneneinrichtung zu bauen. + +Sie wird in ihren Gedankengängen von Schwester Emmi unterbrochen, die +den Knaben mit entzückten Lauten begrüßt. + +»Nein, wie er wieder gewachsen ist!« ruft sie einmal über das andere, +»und was für ein reizender und gesunder Kerl!« + +Sie setzt sich auf den schöngepflegten Rasen und nimmt das Kind in +ihren Schoß. Während sie mit dem Kleinen spielt, erzählt sie vom +erwarteten neuen Mann im Hafen. Dabei lacht sie und neckt den Knaben. +So einen lustigen Kameraden hat er nicht alle Tage, und er weiß die +Minuten mit genießerischer Freude auszukosten. + +Frau Pohl tritt, von dem Lärm angezogen, vor die Tür und sieht +mißbilligend auf die Zerstörung ihres Gartens, denn nach ihrer +Auffassung ist die grüne Rasenfläche nur für den Anblick bestimmt. Sie +kann sich seit einigen Wochen schon ohne Stock bewegen. + +Schwester Emmi will aufstehen, um sie zu begrüßen, denn sie hat sehr +viel Respekt vor der hochgewachsenen Frau mit den harten Gesichtszügen, +die ihr immer noch als Wesen einer anderen Welt erscheint. Ihre +unbewußte Abneigung gegen die Wiederauferstandene sucht sie durch eine +besonders erzwungene Freundlichkeit und Aufgeräumtheit zu verbergen. +Aber nun kann sie ihr nicht einmal entgegengehen, denn der kleine +Tyrann will seinen Platz nicht aufgeben und beginnt zu schreien, sobald +sie sich erheben will. + +So ruft sie einen lauten Gruß hinüber und lacht. Frau Pohl nickt kaum +merklich und sagt zu ihrer Tochter: + +»Ich wollte dich zum Kaffee rufen, du benachrichtigst wohl den Vater?« +Sie hat keine Einladung für den Gast. + +»Ja, gern«, sagt Irmgard freundlich. »Schwester Emmi wird uns +Gesellschaft leisten. Wir wollen doch noch ein wenig plaudern.« + +»Soll ich zu Herrn Pohl hinüberspringen?« fragt die Schwester, die gern +aus dem Gesichtskreis der unfreundlichen Frau verschwinden möchte. + +»Ach ja,« sagt Irmgard, »das ist lieb von Ihnen«, und sie nimmt ihr +den Knaben ab, der sich über die Folgen der Veränderung noch nicht +schlüssig ist und schweigt. + +»Gib mir den Jungen«, sagt Frau Pohl rasch, und sie geht mit dem +schreienden Kind ins Haus. + +»Aber kommen Sie auch zurück!« ruft Irmgard der Schwester nach. Sie +kennt den ersten Eindruck, den Fremde von der Mutter gern schnell +wieder davontragen. + +Schwester Emmi winkt ihr beruhigend zu und verschwindet im Kontor der +Mühle. + +»Ei sieh da!« ruft der Mühlenbesitzer aus, als sie nach zaghaftem +Klopfen in sein Zimmer tritt. »Kehrt unsere Schwester reumütig zurück?« + +»Ach ja,« sagt sie, auf den Scherz eingehend, »und nun will ich Sie zum +Kaffee abholen.« + +Er erhebt sich und geht ihr entgegen. + +»Da soll ich wohl gleich mitkommen?« + +»Sofort, wie ein Verhafteter!« + +Er nimmt seine Mütze vom Haken und öffnet der Schwester die Tür. + +Schwester Emmi will den kurzen Weg rasch für eine Aussprache nutzen und +beginnt zu plaudern. + +»Wissen Sie, Herr Pohl, Ihr Vorschlag neulich mit der kleinen +Apotheke im Schuppen am Südbecken war wirklich sehr gut. Die +Verhüttungsgesellschaft hat sich daran beteiligt, weil sie es doch so +weit bis zur nächsten Hilfsstelle hat und noch gar keine richtigen +Gebäude besitzt. Nun ist das für alle eine sehr große Erleichterung, +denn gerade dort passiert doch mal dieses und jenes.« + +»So. Findet denn die Verhüttungsgesellschaft da drüben schon Erze?« + +»Ja, das muß man annehmen. Aber was meinen Sie, Herr Pohl,« schießt sie +nun auf ihr Ziel zu, »was wird das wohl für ein Mensch sein, dieser +neue Kapitän, den wir jetzt bekommen sollen?« + +»Bekommt ihr einen Kapitän?« + +»Ja, einen neuen Hafendirektor, der bei uns wohnen soll und auch sein +Bureau im Hafen haben wird. Das Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude haben +sie schon dafür eingerichtet, jetzt arbeiten sie an der Wohnung im +ersten Stock.« + +»So. Was soll denn nun der andere Direktor?« + +»Der wird Generaldirektor im Stadtbureau. Aber was meinen Sie, wie kann +das werden mit so einem Kapitän im Hafen?« + +»Hm, da müßte man den Mann schon gesehen haben.« + +Ach ja, da hatte er recht, was sollte man jetzt schon sagen können? +Sie stellt auch gar zu törichte Fragen an diesen reifen und erfahrenen +Mann. Aber er hört sie geduldig an und gibt sogar eine Antwort darauf. + +Sie sind im Haus angelangt, und Schwester Emmi hätte sich auf den +Kaffee am schönen runden Tisch sicherlich sehr gefreut, wenn noch alles +so wie damals gewesen wäre, als Frau Pohl »oben« lag und am Leben der +Gegenwart keinen Anteil nahm. + +Nun sind über das Sofa und den Lehnstuhl am Fenster die alten +Häkeldecken gebreitet, die Irmgard damals entfernt hatte, Nippes, +Tischchen und anderer kleiner Hausrat hat das Zimmer so gefüllt, daß +man sich nicht zu rühren wagt. + +Schwester Emmi fühlt sich sehr unbehaglich. Sie beobachtet verstohlen +die beiden Frauen und stellt fest, daß Irmgard die Züge und die hohe +schmale Figur der Mutter hat. Aber was bei der alten Frau, die eine +Greisin scheint, obgleich sie noch nicht fünfzig Jahre zählt, hart und +streng gebildet ist, wirkt bei Irmgard weich und ausgeglichen. + +›Was hat sie doch jetzt für ein liebes freundliches Gesicht‹, denkt +die Schwester, wenn sie Irmgard Pohl betrachtet, die nun wieder ganz +verjüngt wirkt. Sie empfindet den Kontrast neben der schweigsamen +Frau wohltuend und erwärmend. Die schönen goldbraunen Augen Irmgards +streifen besorgt ihre Mutter und bleiben mit großer Zärtlichkeit am +Gesicht des Vaters haften. + +Die Unterhaltung bewegt sich fast nur zwischen Irmgard und der +Schwester. Sie sprechen von den Eigenheiten und drolligen Bemerkungen +des kleinen Michael. Während der Mahlzeiten muß er im Schlafzimmer +bleiben, denn Frau Pohl ist nicht für Unruhe und Unregelmäßigkeiten bei +Tisch. + +Dann unterhalten sie sich von den Aufgaben der Fürsorgestelle. Herr +Pohl erkundigt sich nach den Ferienkindern und lobt Schwester Emmis +Eifer und Erfolge. Sie ist sehr stolz darüber. + +Frau Pohl vertritt die Ansicht, daß solche Fürsorge für die +verwahrlosten Kinder der Arbeiter, die es gar nicht besser haben +wollen, übertrieben sei, und sieht Schwester Emmi mißbilligend an. + +Die Schwester blickt auf Vater und Tochter, aber weil beide +rücksichtsvoll schweigen, entgegnet sie nur, daß »ihre« Leute Ausnahmen +seien. Dann verabschiedet sie sich bald, weil ihre Pflichten warten. + +Irmgard nimmt ihr das Versprechen ab, wiederzukommen, aber Frau Pohl +sagt zu ihrer Tochter, als Schwester Emmi gegangen ist: + +»Diese Person scheint nicht der geeignete Umgang für dich. Sie +macht einen leichtsinnigen Eindruck und kann dich nicht zum Guten +beeinflussen.« + +»Ach, Mutter,« sagt Irmgard, »hast du so wenig Vertrauen zu mir? Aber +wenn du wegen meines Umganges besorgt bist, will ich mich am besten an +den Vater halten. -- Nimmst du mich mit?« fragt sie den Mühlenbesitzer, +der sich erhoben hat, um wieder in sein Kontor zu gehen. + +»Ich dachte, du deckst hier den Tisch ab«, sagt Frau Pohl. + +»Sie kann mir im Kontor bei den schriftlichen Arbeiten helfen«, meint +Herr Pohl einlenkend. + +Irmgard ist ihm so dankbar für diese Worte, daß sie um seinetwillen +rasch in die Küche läuft und das Hausmädchen holt, damit es der Mutter +bei der Arbeit hilft. + +Im Vorgarten hat sie den Vater bereits wieder eingeholt. Sie hängt sich +in seinen Arm und fragt ihn: + +»Könntest du mich nicht in deinem Bureau einstellen? Ich will auch gern +noch einen Handelskursus mitmachen.« + +Da bleibt er stehen und sieht ihr in das erwartungsvolle Gesicht: + +»Siehst du, das habe ich auch gedacht!« + +Und wie zwei gute Kameraden gehen sie Arm in Arm weiter. + +Irmgard läßt sich in seinem Privatkontor auf das alte schwarze +Ledersofa fallen, das sie schon als Kind zu stillen Träumereien +aufgenommen hatte, während der Vater an seinem Schreibtisch arbeitete +oder die Zeitung las. + +In diesem Raum hat sich der Mühlenbesitzer von jeher am wohlsten +gefühlt, denn drüben im Wohnhaus fand er keine Harmonie. Dort wird +wieder von morgens bis abends nach einem unerschütterlichen, strengen +Arbeitsplan gefegt, gewaschen, genäht, und keine Hand darf ruhn. Wie +soll da die Seele Einkehr halten und ein Herz das andere finden? Aber +er hat es aufgegeben, ein Prediger in der Wüste zu sein. + +Michael Pohl dreht sich auf seinem Arbeitssessel um und blickt zu +seiner Tochter hinüber, die mit verschränkten Armen lächelnd vor sich +hinträumt. + +»Was meinst du,« fragt er, »wie sollte man sich in einem solchen Fall +verhalten?« Und er liest ihr einen Geschäftsbrief vor. + +Es ist nicht das erstemal, daß er sie um einen Rat fragt, und seht an: +so eine Frau findet manchmal den besseren Weg und scheint klüger als +zwei Männer zusammen. + +»Ja, so könnte man es machen«, sagt er befriedigt. Er dreht sich wieder +um und überläßt sie weiter ihren Grübeleien. + +Sie denkt, wie es wohl mit einem Generaldirektor und einem Kapitän im +unfertigen Hafen gehen würde, und sie versucht, sich ein Bild von +diesem Kapitän zu machen, der Joachim Becker zur Seite gestellt wird. + +Darin aber stimmt sie mit allen überein, die den neuen Mann als Freund +oder Feind erwarten: Ein richtiger Kapitän muß es sein, groß, mit +wiegendem Gang und breiten Schultern, mit hellen blauen Augen und in +einem dunkelblauen Anzug. + + + + + Der Kapitän + + +Am Nachmittag vor dem 1. August, dem Tage, der für den Einzug +des Kapitäns bestimmt ist, werden einige Möbel und Kisten am +Verwaltungsgebäude abgeladen. Wer gerade vorbeikommt, wirft einen Blick +darauf, und es sind nicht wenige, die zufällig diesen Weg nehmen. + +Der größere Teil dieses Hauses ist noch von Gerüsten umgeben, aber +der linke Seitenflügel wird bereits überdacht, während der turmartige +Mittelbau und der rechte Flügel noch nicht die vierte Etage erreichen. + +Der fast fertige linke Teil hat einen besonderen Eingang an der Seite +erhalten, direkt gegenüber der Hafenwirtschaft. Hier steht der Wagen, +und Frau Reiche kann von ihrem Fenster aus jedes einzelne Stück +betrachten. + +»Es sind alles sehr einfache und alte Sachen«, sagt sie zu ihrem +Küchenmädchen. Sie beobachtet den kleinen dunklen Herrn, der mit +einem Verzeichnis in der Hand das Ausladen der Möbel verfolgt und mit +gespreizten Schritten hinaufrennt, um die Aufstellung zu überwachen. + +Der leere Möbelwagen fährt davon; der kleine Herr schließt die Wohnung +ab und geht auch hinaus, ohne in der Hafenwirtschaft eingekehrt zu +sein, Frau Reiche ist sehr enttäuscht; sie hätte durch ihn gern einiges +über den Kapitän erfahren. + +Nach der Ablösung bestellt der Tageswächter eine Flasche Malzbier bei +Frau Reiche. + +Ehe er die Flasche ansetzt, um sie in einem Zuge auszutrinken, sagt er: + +»Na, Frau Reiche, haben Sie den Kapitän gesehen?« + +»Den Kapitän?« fragt sie erstaunt. »Nein, ist er hier gewesen?« Sie +kann es gar nicht erwarten, daß die Flasche leer wird und der Mann +weiterberichtet. + +»Er hat doch hier vor der Tür gestanden beim Ausladen der Möbel.« + +»Der Möbel?« fragt sie ungläubig. »Sie meinen doch nicht den kleinen +Mann mit der Liste?« + +»Ob er eine Liste hatte, weiß ich nicht. Aber so ein kleiner dunkler +Herr ist es gewesen.« + +»Nein, mein Lieber«, sagt sie entschieden. »Ein Kapitän ist das nicht +gewesen.« + +»Aber er hat sich ausgewiesen. ›Kapitän v. Hollmann‹ hat auf der Karte +gestanden, vom Direktor Becker unterschrieben.« + +»Dann war es eben ein Beauftragter von ihm«, stellt sie fest, nun ganz +sicher geworden. + +»Na, das mag ja sein, aber wenn's richtig wäre, dürfte nur der Kapitän +selber die Karte haben.« + +Wie leicht läßt sich der Mann von der Ansicht einer Frau, die etwas mit +Bestimmtheit zu sagen versteht, überzeugen! Der Wächter geht nun mit +der sicheren Meinung nach Haus, daß der Kapitän doch blaue Augen und +einen blauen Anzug hat. + +Aber Herr Gregor muß am Abend bestätigen, daß der Kapitän ein kleiner +Herr mit steifen Beinen in einem grauen Anzug ist. Ja, ein schmales +brünettes Gesicht hat er und dunkle Haare auch, darin stimmt er in der +Beschreibung mit Frau Reiche überein, denn Herr Gregor sah ihn heute +früh im Stadtbureau. + +»Das will ein Kapitän sein«, ruft Frau Reiche ein paarmal aus, und sie +holt sogar ihren Mann herbei, um ihm zu berichten, daß sie als erste +den Kapitän gesehen hat. So aufgeräumt und lustig ist sie lange nicht +gewesen wie an diesem Abend. Immer wieder deckt sie komische Seiten +dieses Mannes auf, der mit einer Liste in der Hand hinter seinen Möbeln +hergerannt war, und der ein Kapitän sein soll. + +Sie wird vor Freude darüber so unvorsichtig, daß sie in Gegenwart ihres +Mannes Herrn Gregor auf die Schulter schlägt und mit einem zärtlichen +Blick ihrer feuchten Augen versichert: + +»Na, dann habe ich keine Sorge mehr!« Mit dem Kapitän wollte sie fertig +werden! + +Herr Gregor hat einen Zettel mitgebracht, der am Wächterhaus befestigt +wird. Darauf steht zu lesen, daß alle abkömmlichen Hafenbeamten +und -arbeiter sowie die Herren Bauleiter zu einer Besprechung am 1. +August um 11 Uhr vormittags von Generaldirektor Becker in den großen +Kantinenraum gebeten werden. + +Wer seinen Platz verlassen kann, erscheint am nächsten Tage pünktlich +und guckt sich den neuen Hafendirektor an. Der junge Generaldirektor +stellt ihn mit einer kurzen Rede vor. + +»Jeder, der Wünsche und Beschwerden hat, wird gebeten, sich an die +Hafendirektion zu wenden. Die oberste Leitung bleibt nach wie vor bei +der Generaldirektion in der Stadt.« Das sind seine letzten Worte. + +Auch der Kapitän spricht -- mit einer zerbrochenen Stimme, als kämpfe +er gegen einen heftigen Sturm -- einiges zur eigenen Einführung. Er +hoffe und wolle und so weiter. Es ist nichts von Belang; die schweigend +abziehende Versammlung hat jedenfalls Neues daraus nicht entnommen. + +Vor der Tür verweilen sie noch einen Augenblick und sehen einander an. + +»Tja«, sagt wohl der eine oder andere. + +»Nun, wir wollen erst einmal abwarten!« Damit scheint zunächst die Ruhe +und Ordnung im Hafen wiederhergestellt. + +Joachim Becker ist dann mit dem Kapitän ins Verwaltungsgebäude +hinübergegangen, sie sind durch die leeren Bureauräume des +Erdgeschosses gewandert, die der Kapitän nun allmählich mit seinem +Personal beleben soll. An der Treppe zum oberen Stockwerk sagt der +Generaldirektor: + +»Meine Frau kommt also heute nachmittag, um Ihnen in der Einrichtungs- +und Bedienungsfrage ein wenig zu raten. Sie wollte es sich nicht nehmen +lassen.« + +»Das ist sehr liebenswürdig,« sagt der Kapitän, »das ist ganz reizend«, +und er reibt seine trocknen Hände, daß es raschelt. + +»Ich habe Rechtsanwalt Bernhard gebeten, meine Frau zu begleiten. +Er ist ein Freund der Familie Friemann und kann Sie als unser +Rechtsbeistand gleichzeitig über einige juristische Fragen flüchtig +unterrichten.« + +»Rechtsanwalt Bernhard«, wiederholt der Kapitän, um sich den Namen +einzuprägen. »Sehr schön, sehr schön!« + +Sie gehen um die Schmalseite des fertigen Hafenbeckens herum, das +gerade vor dem Verwaltungsgebäude endet, und spazieren am Kai entlang. + +Generaldirektor Becker, der soeben von einer Reise aus England +zurückgekehrt ist, zieht eine Pfeife aus der Tasche, stopft sie +geschickt mit einer Hand, während er die Linke in der Hosentasche +hält, und steckt sie in den Mundwinkel. Er sieht dabei fast wie ein +leibhaftiger Engländer aus. + +»Ja«, sagt er, »die englischen Häfen. Davon können wir noch viel +lernen.« + +Vor der Lagerhalle I bleiben sie stehen, um dem Lagerkontoristen einen +Besuch zu machen. + +Herr Karcher springt beim Eintritt der beiden Herren von seinem Stuhl +auf, und siehe da: er ist nicht viel kleiner als der Kapitän. + +Sie beratschlagen kurz, ob es besser sei, Herrn Karcher hierzulassen +oder in das Verwaltungsgebäude hinüberzunehmen, doch der Kapitän ist +dafür, daß alles beim alten bleibt. + +Der Generaldirektor muß sich nun verabschieden und empfiehlt dem +Kapitän Herrn Karcher zur weiteren Führung. Aber der Kapitän will sich +selbst orientieren. + +Er begleitet Joachim Becker vor die Tür und beginnt seinen Rundgang +beim Bodenmeister Ulrich in der Lagerhalle II. + +Nun ist der große Augenblick für den weltgereisten Herrscher des +künftigen Getreidespeichers gekommen. + +»Also Sie sind der Getreidefachmann«, sagt der Kapitän auf eine +diesbezügliche Bemerkung hin. + +»Ja,« erwidert der Bodenmeister mit strammer Haltung, »im Hafen von +Rustschuk bin ich zehn Jahre tätig gewesen.« + +»Ei sieh da, Rustschuk!« ruft der Kapitän gutgelaunt aus. »Da ist ein +hübsches Schloß. Und an neunundzwanzig Moscheen kann man sich mehrere +Tage lang nicht sattsehen. -- Rustschuk«, wiederholt er in freundlicher +Erinnerung, während er vorangeht und die Lagerwaren betrachtet. + +Bodenmeister Ulrich folgt ihm stumm, betroffen. Vom großen Donauhafen +wollte er sprechen, von seinem technischen Wissen, aber die Moscheen +hat er nicht gezählt. Einsilbig erklärt er die Art der eingelagerten +Waren, und als der Kapitän die Halle verläßt, sieht er ihm +kopfschüttelnd nach. + +Nun kommt die Lagerhalle mit den Ölen und Fetten an die Reihe, auch +das große Freilager an Kohlen und Schrott wird besichtigt, der Kapitän +sieht sich alles eingehend an und sagt: + +»Sehr schön, sehr schön.« + +Dann bleibt er noch eine Weile beim Lademeister stehen und unterhält +sich mit ihm. Zum Schluß sagt er: + +»Ja, da will ich Sie also nicht länger von der Arbeit abhalten«, und +geht weiter. + +Er stellt sich nicht hin und sieht den Leuten zu, bis sie unsichere +Hände bekommen. Er spricht sie an und plaudert mit ihnen. + +Selbst mit dem kleinen flachsblonden Tom vom Schiffer Jensen will er +sich unterhalten. Der verschmitzte Bengel ist gerade der Schwester Emmi +davongelaufen, um zu seinem Pudel auf des Vaters Kahn zu flüchten. + +»Na, was machst du denn hier?« fragt der Kapitän mit seiner heiseren +Stimme, lächelnd. + +Das ist wohl nicht der richtige Verkehrston für Tom, denn er rennt +brüllend weiter. Es gelingt Schwester Emmi, ihn vor der Flucht auf +den Kahn zu erreichen, denn hier wird ausgeladen, und da hat ein +vierjähriger Bengel nichts zu schaffen. + +»Warum ist er denn fortgelaufen?« fragt der Kapitän die Schwester. + +»Er ist heute noch nicht gewaschen, denn seine Mutter liegt im +Krankenhaus. Wie ich mich umdrehte, um den Schwamm zu nehmen, rannte er +davon.« + +Diese wilde Wasserratte, der Tom, auf dem Wasser geboren und immer dem +Wasser nahe, vor einem nassen Schwamm hat er Angst. Der Kapitän lacht. + +»Sie gehören auch zum Hafen?« fragt er. + +»Ja,« sagt Schwester Emmi, »ich bin die Fürsorgeschwester.« + +»So, so, da haben Sie ja eine schöne Aufgabe. Vielleicht besuchen Sie +mich einmal heute nachmittag, damit wir uns darüber unterhalten +können.« + +Schwester Emmi bekommt Herzklopfen. Natürlich kann man sich darüber +unterhalten, da gibt es viel zu berichten, aber warum nicht gleich, +warum erst nachmittags, so daß sie bis dahin vor Angst vergeht? + +»Um welche Zeit, bitte?« fragt sie. + +»Nun, so gegen sieben.« + +Der Lademeister sieht einen Augenblick auf. Es geht ihn ja nichts an, +aber er denkt: bisher war hier im allgemeinen um vier Uhr Schluß für +diejenigen, die frühmorgens angetreten sind, und Schwester Emmi ist +immer mit den ersten auf den Beinen. Jedenfalls wollte er einmal mit +seiner Frau darüber sprechen, was das für eine Art sei, ein junges +Mädchen um sieben Uhr in die Wohnung zu bestellen, denn ein Bureau ist +noch nicht vorhanden. + +Zwei Stunden später bereits hat der Kapitän mit der Generaldirektion +telephoniert und Möbel für zwei Bureaus angefordert, dazu eine +Sekretärin. Denn nun weiß er, was er im Hafen zu tun hat. + +Als nachmittags um fünf Uhr Frau Generaldirektor Adelheid Becker mit +Rechtsanwalt Bernhard im Hafen vorfährt, wird sie bereits im neuen +Privatkontor des Hafendirektors empfangen. Ja, das ist schnelle Arbeit! + +Frau Adelheid kann sich gar nicht fassen, so erstaunt ist sie über die +vielen Fortschritte im Hafen. Sie hat ihn seit der Geburt ihrer Tochter +nicht gesehen. + +»So, ein Töchterchen?« fragt der Kapitän, mit einem Blick auf ihr +kindliches rundes Gesicht. + +Sie errötet. »Ja,« sagt sie, »ich bin sehr glücklich darüber. Aber mein +Mann wollte eigentlich einen Sohn.« + +»Es ist ein reizendes Kind«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Es hat ganz +und gar die Augen der Mutter.« + +»Das sind die Friemannschen Augen,« sagt Frau Adelheid, »sie sehen bei +dem Kinde so traurig aus. Aber das verliert sich wohl.« + +Rechtsanwalt Bernhard findet, daß Frau Adelheids Augen auch nicht +lustiger sind, ja sie dünken ihn sogar sehr traurig, und es wird +immer schlimmer damit. Als er die junge Frau abholte, waren die Lider +verdächtig gerötet, und Rechtsanwalt Bernhard gäbe viel darum, wenn er +das strahlende Lächeln der Adelheid Friemann aus der Tanzstundenzeit +nur ein einziges Mal wiedersehen könnte. + +»Wissen Sie noch,« fragt er, um sie abzulenken, »als wir zum ersten +Spatenstich hier waren?« + +»Ach ja«, ruft sie begeistert aus. »Das war hier alles ebene Erde mit +ein paar Bäumen. Und -- ach, was meinen Sie wohl, Herr Doktor, wo mag +das gewesen sein -- der Platz mit den Linden und den langen Tafeln, wo +wir nach der Feier gefrühstückt haben?« + +Ihr Gesicht ist selig verklärt, während sie zum Fenster hinausspäht und +den Platz sucht, zu dem ihr Mann sie damals geführt hatte, als sie sich +so glücklich geborgen fühlte, nachdem sie vorher wie ein verirrtes Kind +war. + +Rechtsanwalt Bernhard überlegt. Plötzlich sagt er sehr laut und selbst +überrascht: + +»Ja, denken Sie, das war hier, genau hier, wo wir jetzt stehen. Man hat +das Verwaltungsgebäude auf diesen Platz gebaut. Ich weiß es bestimmt, +denn wir hatten den Blick auf den Kanal und die --« + +Er stockt, denn er wollte sagen »die Mühle«, aber gerade in diesem +Augenblick will er Frau Adelheid nicht an die Nachbarn erinnern, über +deren Bedeutung sie sicher unterrichtet ist. + +Darum sagt er weiter: »Und die lange Tafel, an der wir die belegten +Brote aßen, hat vielleicht gerade hier gestanden, einen Meter unter uns +auf der weichen Erde. Ich weiß noch, wie Sie mit Ihrem schmalen Absatz +fast eingesunken waren, so locker war die Erde.« + +»Ja, wissen Sie das?« fragt sie gedankenlos. Es fällt ihr nicht einmal +auf, daß Rechtsanwalt Bernhard damals anscheinend gar zu genau ihre +Füße betrachtet hat, so erfüllt ist sie von dem beseligenden Gefühl, +auf diesem Platz zu stehen. + +»Und später,« sagt sie dann, um sich endlich von der Erinnerung +loszureißen, »später war ich einmal hier, da habe ich nur Löcher +gesehen. Überall wurde die Erde aufgerissen, aber es war noch kein +Wasser im Hafenbecken, und noch nicht ~ein~ Gebäude wuchs heraus. +Seitdem bin ich, offen gestanden, nicht hier gewesen.« + +Sie sprach die letzten Worte etwas leiser, als sei es ihr peinlich, das +eingestehen zu müssen. + +»Dann darf ich hoffen,« sagt der Kapitän verbindlich, »daß Sie durch +mich heute einen willkommenen Anlaß zum Besuch fanden?« + +»Ach ja«, erwidert sie, von neuem errötend. Sie fühlt sich so erkannt. + +Der Kapitän bietet ihr eine Führung durch den Hafen an. Sie wehrt ab. + +»Nein,« sagt sie, »dann wird man von den Menschen so angestarrt. Ich +kann es auch von hier sehen.« + +Das Klingeln des Telephons befreit sie in diesem Augenblick aus +ihrer Verlegenheit, denn nun wird der Kapitän von ihr abgelenkt, und +Rechtsanwalt Bernhard ist ihr schon etwas vertrauter. Sie stellen sich +ans Fenster, während der Kapitän in den Apparat spricht. + +Plötzlich hört Frau Adelheid ihn sagen: »Gewiß, Herr Kommerzienrat, +also morgen früh.« + +»Ach -- Papa,« ruft sie aus und macht unwillkürlich mit erhobenem Arm +einen Schritt zum Telephon. + +Der Kapitän hat sie verstanden und bittet den Kommerzienrat, einen +Augenblick zu warten. + +Sie nimmt den Hörer. + +»Ja, ich bin hier -- Papa -- Adelheid.« Sie sagt diese Worte mit +ganz kleiner schüchterner Stimme, wie ein Kind, das zum erstenmal +telephoniert. + +Die beiden Herren sind höflich zur Seite getreten. Der Kapitän +erkundigt sich nach den Prozessen, der Rechtsanwalt ist jedoch dafür, +in dieser Angelegenheit an einem anderen Tage vorzusprechen. + +»Ja -- ja,« sagt Frau Adelheid nun mit fast ersticktem Ton. +Rechtsanwalt Bernhard sieht plötzlich das vermißte reizende Lächeln auf +ihrem heißen Gesicht. Es hält noch an, als sie den Hörer hinlegt und +sagt: »Papa kommt sofort hierher.« + +Dann setzt sie eine ernste hausfrauliche Miene auf und erwähnt den +eigentlichen Zweck ihres Besuches: dem Kapitän behilflich zu sein. Sie +fragt, ob er schon einen Tapezierer für seine Wohnung habe, und wie es +mit der Reinigung stehe. + +Er dankt ihr sehr herzlich, die Vorhänge und Gardinen habe heute +nachmittag -- soeben, ehe sie erschien -- der Dekorateur befestigt, der +mit den Geschäftsmöbeln kam. Die Reinigung könne die Frau übernehmen, +die drüben im Lager das Kontor versehe. + +»Ich dachte an eine Wirtschafterin, die man Ihnen besorgen könnte, des +Essens wegen«, sagt sie hilfsbereit. + +Nein, das sei nicht nötig. Er würde in der Kantine essen. + +»Ach, Sie sind ja ein sehr anspruchsloser und praktischer Junggeselle.« + +»Ja, das wird man mit der Zeit«, sagt er; aber weil sie sehr enttäuscht +scheint, und damit sie den Zweck ihres Besuches nicht verfehlt habe, +meint er, daß er in anderen Fragen gern ihren Rat erbeten hätte, in +Geschmacksfragen bezüglich der Einrichtung. Ob er ihr die Wohnung +zeigen dürfe. + +»Ach ja.« Sie ist sehr erleichtert, und nun gehen sie zu dritt in die +erste Etage. + +Frau Adelheid gefällt alles sehr gut. Sie haben das Eßzimmer und das +Arbeitszimmer besichtigt. In den Schlafraum hat sie nur durch die +offene Tür einen scheuen Blick geworfen. + +»Diese schönen alten Möbel,« sagt sie vor dem breiten +Mahagoni-Schreibtisch, »sie haben sicherlich einen großen Wert.« + +»Das kann sein. Für mich sind es jedenfalls kostbare Erinnerungen. Sie +stammen noch von meiner Mutter.« + +»Sie sind musikalisch?« fragt Rechtsanwalt Bernhard, mit einem Blick +auf den Geigenkasten. + +»Ein wenig. Nur für den Hausgebrauch«, meint der Kapitän. Er geht sehr +schnell über das Thema hinweg und fragt Frau Adelheid, ob nach ihrer +Ansicht dieses Bild richtig hänge. + +»Das Bild hängt sehr schön so, es wirkt sogar ganz ausgezeichnet an +dieser Stelle.« Nein, hier kann Frau Adelheid nichts verbessern. Sie +merkt, daß der Kapitän ihr nur gefällig sein wollte. + +Zum Glück fährt in diesem Augenblick der Wagen des Kommerzienrats vor. +Sie entschuldigt sich bei dem Kapitän und eilt die Treppen hinab, um +ihren Vater zu begrüßen. Die beiden Herren folgen langsam. Rechtsanwalt +Bernhard möchte sich gern über die moderne Musik mit dem Kapitän +unterhalten; er sei sehr musikalisch. Aber der Kapitän spricht lieber +von etwas anderem. + +Der Kommerzienrat ist ausgezeichneter Laune. Er hat sich in den Arm +seiner Tochter gehakt und schlägt eine gemeinsame Besichtigung des +Hafens vor. Nun hat Frau Adelheid keine Angst mehr, sie läßt sich +alles eingehend erklären, obgleich sie immer wieder eingestehen muß, +daß sie nicht viel davon begreift. Aber das Ganze macht auf sie einen +gewaltigen Eindruck. + +Selbst dem Kommerzienrat imponieren die Fortschritte. Er spricht sich +lobend dem Kapitän gegenüber aus, der doch daran noch gar keinen Anteil +hat. + +»Ja, und wenn mein Sohn seinen Doktor gemacht hat,« sagt er mit +väterlichem Stolz, »dann kann er bei Ihnen als Volontär eintreten, Herr +Kapitän.« + +»Papa, er hat ihn noch nicht gemacht«, warnt Adelheid mit +abergläubischer Ängstlichkeit. + +»Er ~wird~ ihn machen, mein Kind,« meint er lächelnd, »in zwei +Monaten haben wir ein Telegramm.« + +Wenn er jetzt seine kleinen dicken Hände frei hätte, so würde er sie +vor Vergnügen ineinander legen, wie es zu Hause, im Familienkreis, +seine Art ist. Aber da er seine Tochter eingehakt hat, begnügt er sich +damit, ihren Arm ein wenig zu drücken. Er ist, weiß Gott, der beste und +dankbarste Vater, den man sich denken kann. + +»Ihr Sohn ist Nationalökonom?« fragt der Kapitän, um auch etwas zu +sagen. + +»Ja, erst hatte er sich zwar allzusehr für die schönen Künste +interessiert, wie das so in diesem Alter üblich ist, aber schließlich +wandte er sich doch einer gesünderen Kunst zu.« + +Der Kommerzienrat lacht, und der Kapitän stimmt höflich ein. + +»Heutzutage werden die jungen Leute mit den tiefgründigen +Kunstgesprächen geradezu aufgepäppelt, dafür haben sie es aber auch +schneller überwunden«, fügt der Kommerzienrat hinzu. + +»Ja, das mag sein«, meint der Kapitän, er macht nicht den Eindruck, als +ob er in solchen Fragen kompetent sei. + +Schließlich fährt der Kommerzienrat mit seiner Tochter nach Hause, und +Rechtsanwalt Bernhard, der dem Wagen lange nachblickt, kann nun dem +Kapitän über die juristischen Angelegenheiten berichten. + +Pünktlich um sieben Uhr findet sich Schwester Emmi im Bureau des +Kapitäns ein. + +»Also, bitte, setzen Sie sich, Fräulein -- wie war doch Ihr Name?« + +»Schwester Emmi.« + +»Also -- Schwester Emmi -- und erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten. Wo +sind Sie ausgebildet worden?« + +Schwester Emmi wird ganz zaghaft. Mein Gott, wann soll sie beginnen? +Bei ihrer Geburt? Wo sie ausgebildet wurde? Sie ist doch eigentlich +Säuglingsschwester. Aber das wird sie ihm nicht sagen. Sie wird seine +Frage einfach überhören. Über ihre Vergangenheit spricht sie nicht +gern. Von ihren Arbeiten im Hafen jedoch will sie erzählen. Natürlich +wird sie an einer ganz falschen Stelle anfangen, sie weiß es genau. +Doch da sie etwas sagen muß, so redet sie darauf los, kunterbunt +durcheinander. Sie zählt alles auf, was sie bisher getan hat; dabei +merkt sie erst, daß es, so einfach summiert, gar nicht bedeutend wirkt. +Im Gegenteil, es ist sogar sehr wenig. Sie versucht, die gequetschten +Finger und verstauchten Füße zu zählen, die herausgezogenen Holz- +und Eisensplitter werden nicht vergessen, und die verwundete Hand +des Maurers Johannes rechnet sie als fünf kranke Finger. Aber dann +ist sie am Ende, und sie hat das Gefühl, daß nun alles verloren +sei. In Gottes Namen! Und wenn sie wieder zurückgehen muß zu den +egoistisch-glücklichen jungen Müttern und den hungrigen Ehemännern, so +soll es ihr auch gleich sein. Diese Qual hält sie nicht länger aus. + +Aber der Kapitän sagt: »Sehr schön, sehr schön.« + +Und dann läuft er im Zimmer umher, immer auf und ab, mit seinen +gespreizten steifen Beinen und erzählt auch etwas -- von einem +Professor und einem wissenschaftlichen Institut, von klinischen +Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen, von Lehrschwestern und +so weiter. Die Schwester versteht nur die Hälfte davon, und sie weiß +nicht, wohin das alles führen soll. + +Schließlich hört sie überhaupt nicht mehr hin. Sie sieht den Kapitän +scheinbar andächtig und aufmerksam an und hat dabei ihre eigenen +Gedanken. Ob dieser Mann, der hier so ledern und langweilig etwas von +Gott und der Welt erzählt, ob er wohl schon einmal verheiratet war? + +Sie hat so ein Gefühl dafür, sie kann es nicht erklären, ihr Instinkt +sagt ihr, daß dieser Kapitän mit den schmalen steifen Gliedern und +den langen dunkelbehaarten Händen kein echter Junggeselle sei. Nun -- +wenn ihm eine Frau etwa davongelaufen sein sollte, so kann sie das +vollkommen verstehen. Während sie seine glatt und glänzend gebürsteten +dünnen Haare betrachtet, muß sie an Herrn Gregors vollen schwarzen +Schopf denken, und der Vergleich fällt nicht zu des Kapitäns Gunsten +aus. Da ist ihr doch ein weiches gepudertes Gesicht noch lieber als +dieser kantige Kopf mit der gebräunten trockenen Haut. + +Endlich scheint der Kapitän mit seiner Rede fertig zu sein. Schwester +Emmi warf einige Male ein »Ja« und »Gewiß« dazwischen, aber sie hat +sich dabei nur nach dem Tonfall seiner Stimme gerichtet. Jetzt kann sie +endlich wieder einen Satz dem Sinne nach erfassen, es ist, als wäre der +Kapitän damit zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt. Er sagt: + +»Der Herr Generaldirektor erzählt mir, daß Sie Ihre Sache bisher sehr +gut gemacht haben. Also lassen wir zunächst alles beim alten.« + +Großer Gott, dann ist es ja überstanden! Schwester Emmi atmet +erleichtert auf und erhebt sich. Sie hat in ihrer Freude das Wörtchen +»zunächst« ganz überhört. + +Der Kapitän drückt ihr fast schmerzhaft die Hand und begleitet sie zur +Tür. Er selbst geht in seine Wohnung hinauf. + +Schwester Emmi blickt geblendet in die Helle des milden Sommerabends. + +Schiffer Jensen und Karle Töndern sitzen vor ihren Selterflaschen neben +der Veranda. Sie grüßen die Schwester mit einem Griff an die Mützen und +mit einem recht vertraulichen Zwinkern. Ja, ja, blitzen die listigen +Augen, die jungen Mädchen werden nach sieben Uhr empfangen. + +Schwester Emmi sieht an der Hafenuhr, daß sie länger als eine halbe +Stunde beim Kapitän war. Ihr Herz ist so angefüllt, daß sie es +irgendwo ausschütten muß. Für dieses Geschenk ist am besten Irmgard +Pohl geeignet; die hört sich alles schweigend an, ohne gleich von sich +selbst zu sprechen -- wie Frau Reiche oder Herr Gregor --, und dann +findet sie sogar noch einige ruhige Worte, die man mit nach Hause +nehmen kann. So geht sie wieder zum »feindlichen« Nachbarn hinüber. + +Schiffer Jensen und Karle Töndern starren zu den Fenstern der +Kapitänswohnung hinauf, denn ihre Köpfe sind mit diesem Problem noch +nicht fertig geworden. Sie stammen beide von der Wasserkante, und da +dauert es immer eine Weile, bis sie etwas zu Ende gedacht haben. + +Plötzlich senken sie ihre Blicke sehr interessiert auf ihre +Selterflaschen, denn oben -- an einem Fenster -- ist der Kapitän +erschienen. + +Er hat nur das Fenster geschlossen. Das an diesem milden und schönen +Sommerabend! + +Die beiden haben ihrer neugierigen Blicke wegen kein ganz reines +Gewissen, aber sie denken: Wir werden wohl hier sitzen dürfen! +Schließlich ist die Kantine doch für uns da! + +Wie sie sich noch damit beschäftigen, vernehmen sie etwas Merkwürdiges: +langgezogene Töne, wie ferne Musik. + +»Hörst du das auch?« fragt Karle Töndern. + +»Ja, freilich hör' ich das«, sagt Schiffer Jensen etwas ungeduldig. Er +muß plötzlich an seine Frau denken, die immer noch im Krankenhaus liegt +und die nächste Fahrt wieder nicht mitmachen kann. + +»Es ist eine Violine, mein' ich«, sagt Karle Töndern. + +»Ja, das mag sein«, erwidert Schiffer Jensen. Ihm wird immer wehmütiger +ums Herz. Daran ist nur die verdammte traurige Musik schuld. Nun +liegt der Tom wieder allein in der Kabuse. Aber weggeben? Da soll die +Schwester sich nur ja keine Mühe machen. Diese blauen Augen, die in +Toms Gesicht stecken, gibt es nur noch einmal in der Welt, und die hat +Toms Mutter. Und wenn Schiffer Jensens Frau im Krankenhaus liegt, dann +muß Schiffer Jensens Tom immer auf dem Kahn bleiben, denn ohne diesen +blonden Schopf läßt sich der Kahn von keinem Schlepper ziehen. Das ist +so gewiß, wie Schiffer Jensen jetzt hier sitzt und mit dem Ärmel über +die Augen wischt. + +»Und es kommt aus der Wohnung vom Kapitän«, sagt Karle Töndern. + +»Hm«, macht Schiffer Jensen, denn nun bringt er keinen Ton mehr heraus. + +Aber da sagt auch Karle Töndern nichts mehr, und sie sitzen und horchen +und sind ganz still. + +Bis wieder ein Fenster geöffnet wird und der Kapitän nach einiger Zeit +unten in der Tür erscheint. Da stehen sie auf und ziehen ihre Mützen. + +Der Kapitän nickt ihnen zu und geht mit seinem gespreizten steifen Gang +zum Hafenbecken und immer weiter bis zum Kanal hinunter. + + + + + Die Verhaftung + + +Bei der Familie Friemann ist wirklich das Telegramm eingegangen: +»Doktor bestanden. Gratuliere. Felix.« + +Das sieht diesem Bengel, diesem Erzschelm ähnlich, daß er dazu seinen +Eltern gratuliert, anstatt seinerseits die Gratulation abzuwarten. + +Der Kommerzienrat war sich zwar längst über die angemessene Belohnung +dieses tüchtigen Jungen einig, aber er beruft dennoch Frau und Tochter +zusammen, um sich mit ihnen zu beraten. Joachim Becker ist zu sehr mit +seinen wichtigen Aufgaben für den Hafen beschäftigt, als daß er an +solchem Familienrat teilnehmen könnte. + +Die vom Kommerzienrat vorgeschlagene Nordlandreise findet auch den +Beifall der Frauen, aber die Mutter des tüchtigen Kandidaten will +deswegen nicht auf eine kleine Festlichkeit verzichten, ganz im +engsten Kreise der Familie. Weil die allernächste Verwandtschaft recht +ausgedehnt ist, kommt man immerhin auf dreißig Personen. + +Wann aber durfte man den Jungen zu Haus erwarten? Natürlich sollte +er den Feiern seiner Studienkollegen nicht entzogen werden, doch +konnte er nicht Nachricht geben, dieser unverbesserliche Schlingel, +dieser Tausendkerl und Hallodri? Der Kommerzienrat findet immer mehr +freundliche Schimpfnamen für seinen ungeratenen Sohn. + +Währenddessen hebt draußen im Park der Villa ein großer Spektakel an. +Die Kommerzienrätin müßte nicht die Mutter ihres Sohnes sein, wenn sie +diese Stimme nicht erkennen sollte. Mit einem Aufschrei stürzt sie zur +Tür, sie rennt so schnell die Treppen hinab, als es ihre geschwollenen +Beine gestatten. + +Rasch ist die ganze Familie im Vestibül. Hier steht ein baumlanger Kerl +und sagt begütigend: »Aber, aber, meine Herrschaften!« Dabei kollern +ihm die Tränen über die weichen Backen, und er muß sich dauernd bücken, +um jemand zu umarmen. Das ist der junge +Dr.+ Felix Friemann. + +»F. F.« fügt er gern nach der Vorstellung seinem Namen hinzu, denn +er ist, wie sein Vater, ein Freund von Witzen. Die Studiengenossen +nannten ihn die »Gaslaterne«. Sein weißes kugelrundes Gesicht mit den +Friemannschen Augen hinter den blitzenden Brillengläsern, meinten sie, +sei die Milchglaskugel, die lange dünne Figur der Laternenpfahl. Die +Jugend ist grausam und spottet gern über die Kuriositäten der Mutter +Natur. + +Wer jedoch damit Felix Friemann ärgern will, kommt nicht an den +rechten Mann! Er lacht wie über einen guten Witz und sagt in seiner +überhasteten Sprache: »Gewiß, ich will mich bessern, gewiß.« + +Er hat die Eigenart, daß er in der Eile des Sprechens einige Silben +verschluckt. Weil er aber seinen Zuhörern diese schlechte Verständigung +nicht zumuten will, hat er sich daran gewöhnt, ein paar Worte, die +vielleicht verlorengegangen sein könnten, nachträglich zu wiederholen. + +Wer Geduld mit ihm hat oder ihn gar liebt, findet sich in dem +Kauderwelsch ganz gut zurecht. Doch es ist merkwürdig: vor solchen +Naturen befleißigt er sich einer ganz ausgezeichneten und normalen +Sprechweise. + +Und die drei glücklichen Menschen, die ihn nun mit Begeisterung und +Rührung begrüßen, brauchen sich weder über Wortverluste noch über +Wiederholungen zu beklagen. + +Der junge Doktor ist mit allem einverstanden, mit dem Familienfest und +mit der Nordlandreise. Wann hätte er die Vorschläge seines prächtigen +Vaters nicht großartig gefunden? + +Die bevorstehende Arbeit im Hafen kann er kaum erwarten. + +»Denke dir, meine Kommilitonen lachten, als ich ihnen erzählte, was +wir hier für einen Hafen bauen. Aber neulich hat mein Professor +doch wahrhaftig einmal im Kolleg das Projekt erwähnt. Na, ich habe +euch ja gleich darüber telegraphiert. Er fand es phänomenal und -- +durchführbar!« + +»Wenn so ein Theoretiker das schon durchführbar findet, nicht wahr?« +fragt der Kommerzienrat lachend. »Nun will ich dir auch gleich +verraten, daß ich dem Professor durch die Hafengesellschaft ein +ausgezeichnetes Exposé einschicken ließ.« + +»Also, das ist die Veranlassung gewesen?« fragt der Sohn ehrfurchtsvoll +und erstaunt. + +»Ja,« sagt die Kommerzienrätin stolz, »was unser Papa alles zustande +bringt! Er belehrt sogar die Professoren.« + +Hier sind vier Menschen, die mit allem einverstanden und zufrieden +sind, die sich nichts Besseres mehr wünschen. + +Was ist so ein unschlüssiger Schürzenjäger wie Herr Gregor dagegen +für ein unglücklicher Mensch! Nun treibt er die Tyrannei im Hause +Reiche tatsächlich doch auf die äußerste Spitze, und man kann nicht +voraussagen, wie lange die verliebte Kantinenwirtin sich das noch +gefallen läßt. + +Er findet ihr Essen miserabel, aber sie sagt nicht: »Sie haben ja schon +seit mehreren Monaten nichts mehr dafür bezahlt.« Sie flüstert: »Wenn +es angebrannt ist, so wirst du wohl am besten wissen, woran das liegt.« + +Was erwidert darauf Herr Gregor? Er schlägt mit der flachen Hand auf +den Tisch und steht auf. An der Tür sagt er verächtlich: »Was haben Sie +wieder für eine schmutzige Schürze umgebunden?« + +Es hilft Frau Reiche nichts, daß sie sofort eine schneeweiße breite +Schürze holt, und daß sie sich abends in ihrem besten Kleid auf die +Veranda setzt. Da muß sie zuweilen den Kopf auf die Arme werfen und +heftig schluchzen. Und sie beruhigt sich erst, wenn sie endlich den +festen Entschluß gefaßt hat, Schwester Emmi Salzsäure ins Gesicht zu +gießen. + +Ihr Mann muß immer öfter hinter dem Schanktisch stehen und in seiner +schwerfälligen Art Selterwasser und Milch verkaufen. Früher hat Frau +Reiche in der Küche das beste Essen zustande gebracht und dabei immer +noch Zeit gefunden, mit den Gästen ein freundliches Wort zu wechseln. + +Jetzt hat nicht nur die Güte des Essens nachgelassen, die +Kantinenbesucher finden auch die Bedienung nicht flink und freundlich +genug. Der ehemalige Bäckermeister ist kein redseliger Mann, und mit +den guten Eigenschaften seiner Frau kann er sich freilich nicht messen. +Deswegen ist er auch schon sehr bescheiden geworden. + +Seine Frau versteht es, gut einzukaufen und mit den Lieferanten fertig +zu werden, sie eignet sich prächtig dafür, solchem großen Betrieb +vorzustehen, ohne es jemals geübt zu haben; er aber kann nur das, was +er in seinen Jugendjahren gelernt hat: Brot und Semmeln backen. Schon +mit dem Kuchen hat es immer etwas gehapert, der war den Leuten nicht +fein genug. + +So begnügt er sich nun damit, das zu tun, was seine Frau ihm befiehlt, +und er hat keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leibe, denn sonst würde er +sich dagegen sträuben, zur Bewachung der Wirtschaftsräume in einer +Kammer hinter der Kantine zu schlafen, während seine Frau das schöne +große Schlafzimmer im ersten Stock allein gar nicht ausnutzen kann. + +Seitdem die Küchenmädchen in der Hafenwirtschaft mit Frau Reiche nicht +mehr zurechtkommen und alle acht Tage wechseln, hat Fräulein Spandau, +die neue Sekretärin des Hafendirektors, sich daran gewöhnt, das +Mittagessen für den Kapitän selbst abzuholen. Dabei hat sie auch immer +noch ein freundliches Wort für den Kantinenwirt, ja manchmal kann sie +ein paar Minuten bei ihm stehen, während das Essen eingefüllt wird, +und sich dafür interessieren, wie es in einer mustergültigen Bäckerei +zugehen muß. Sie ist nicht die Spur eingebildet auf ihren Posten, denn +sonst würde sie nicht freiwillig mit einem Tablett in der Hand über den +Platz gehen, was einer Sekretärin wirklich nicht zukommt. + +Der Kapitän weiß solchen Liebesdienst auch nach Gebühr zu schätzen. + +Er spricht den »besten Dank« immer doppelt aus, und obgleich er im +Laufe der Monate sich schon daran gewöhnt haben sollte, so steckt immer +auch etwas Verlegenheit hinter seinem Ton. + +Ja, Fräulein Spandau ist nun schon einige Monate im Hafen. Die Zeit +verfliegt so rasch, daß man es selbst kaum merkt. Man geht durch das +Tor des Hafens an einem Wächter vorbei und neben dem Gesicht eines +anderen Mannes hinter dem Guckloch wieder hinaus, und siehe da: ein +Tag ist um. Wenn man jedoch am nächsten Abend einmal um sich schaut, +so hat der Turm des Verwaltungsgebäudes plötzlich sein siebentes +Stockwerk aufgesetzt, das zweite Hafenbecken ist von fertigen Kaimauern +eingefaßt, und der Getreidespeicher -- ja, der Getreidespeicher sieht +aus, als stände er fix und fertig da. + +Aber wer das glaubt, der versteht nichts von einem modernen richtigen +Getreidespeicher, der ist ein Laie, eins der verächtlichsten Geschöpfe, +die für den Bodenmeister Ulrich existieren. Denn nun sind erst +die wahren Künstler an der Arbeit, die Ingenieure, die den ganzen +technischen Apparat einbauen. + +Dem Bodenmeister Ulrich lacht das Herz im Leibe, wenn er das mit +ansieht. Auch mit dem neuen Hafendirektor hat er sich wieder +ausgesöhnt, denn er ist inzwischen dahintergekommen, daß der Kapitän +nicht nur Moscheen im Kopf hat, er versteht auch sonst etwas von den +Angelegenheiten eines Hafens. + +Nun gibt es Menschen mit einem geweiteten Horizont, die sehen sich +nicht nur innerhalb der Mauern des Hafens um, die blicken darüber +hinaus zu den Nachbarn links und rechts. Und man muß staunen, was da +alles vor sich geht. + +Der Müller hat zwar schon immer einen Getreidespeicher, eine Mühle +und ein schmuckes kleines Wohnhaus jenseits des Kanals gehabt, doch +ist der Speicher nicht um zwei Stockwerke höher geworden? Und wenn +der Bodenmeister Ulrich sich so sehr viel auf das kommende Becherwerk +und die Getreideheber einbildet, so soll er nur schweigen: der +Mühlenbesitzer Pohl hat das alles längst. Er holt sich sein Getreide, +das direkt aus Rumänien und Rußland kommt, damit selbst aus den +Kähnen, und wenn es gebraucht wird, geht es ebenso maschinell in die +Mühle hinüber. Da gibt es keine gebückten Menschen, die schwere Säcke +hin- und herschleppen. Ein fleißiger Kran holt auch die Mehlsäcke aus +der Etage heraus, in der sie gerade liegen, und führt sie zu einem +Schiff hinüber, wenn sie dafür bestimmt sind, auf dem Wasserwege +weiterzureisen. Was jedoch auf den Bahnhof oder in die Stadt befördert +werden soll, wird auf Wagen geladen, denn Eisenbahnwaggons fahren an +der Mühle noch nicht vor. Nein, über einen Gleisanschluß verfügt der +Müller nicht. So weit hat er es nicht gebracht. + +Gleisanschlüsse sind nur im Hafen. Da stehen sogar eigene Lokomotiven +in einer Halle, die laut zischen und pfeifen, wenn sie angeheizt +werden, und die vielen Gleise geben dem Hafen ein recht industrielles +Aussehen. Natürlich sind auch schon ein paar Kräne da, und wenn die +Freilagerplätze mit Kohle oder verrostetem alten Eisen in hohen Bergen +geradezu überschüttet sind, so kann sich ein einzelner Müller mit +seinem Betrieb nicht allzu stolz daneben sehen lassen. + +Trotzdem schöpft er seinen Vorteil aus der Nachbarschaft des Hafens, +und er hätte weder einen Anbau an seine Mühle gebraucht noch soviel +Lagergetreide in seinen Räumen, wenn der erste Getreidespeicher des +Hafens nicht in die Luft geflogen, sondern rechtzeitig fertiggestellt +worden wäre. + +So aber mußte man erst die anderen langgestreckten und flachen +Lagerhallen bauen, und die Firma Friemann, Getreide +en gros+, +lagert ihre Riesensendungen für Übersee so lange in den Seehäfen. + +Wer etwa die Ansicht vertritt, daß dieser Verlust ein Unglück für +den Binnenhafen sei, hat nicht den raffinierten Scharfsinn des +Kommerzienrats erkannt, denn nun besitzt man gute Freunde am offenen +Meer und die besten Verträge in der Tasche. + +Ja, auch Generaldirektor Becker hat fleißig gearbeitet. Er ist auf +mehreren Auslandsreisen gewesen, aber er hat es auch nicht verschmäht, +einige kleine unbedeutende Häfen an der Wasserkante und im Binnenlande +zu besuchen, und wenn man hin und wieder in die Zeitung sieht, so +kann man lesen, daß die Hafengesellschaft auch anderwärts tüchtig ist +und den Kommunen ihre Lasten abnimmt. Joachim Becker hat mit einigen +strategischen Stützpunkten seine Stellung befestigt. + +Nun ist auch sein Schwager im Hafen, der sich in das große und +weitverzweigte Gebiet einer Hafenbewirtschaftung einzuarbeiten +versucht und dabei ebensoviel Lust wie Unfähigkeit beweist. Aber der +Generaldirektor ist weder ärgerlich noch traurig darüber, es kann nicht +allein tüchtige Menschen in der Welt geben. Nur, daß der Kerl noch +nicht richtig zu sprechen vermag, macht ihn nervös, denn man hat nicht +Zeit, nach jedem Satz zweimal zu fragen. + +Die englische Shagpfeife hat er im übrigen inzwischen über Bord +geworfen, denn sie ist ihm bei der Arbeit hinderlich. Dazu gehört +die gleichmütige Ruhe der Engländer, und die ist ihm nicht gegeben. +Außerdem fand er in der Zusammenarbeit mit seinen technischen und +wissenschaftlichen Beratern an den Einrichtungen der Engländer dieses +und jenes auszusetzen und zu verbessern. + +Inzwischen ist er auch in den Vereinigten Staaten gewesen, und nun +imponieren ihm neben der gewaltigen Organisation die großartigen +sozialen Einrichtungen der Amerikaner. Sie haben ihn seinem +Steckenpferd, der Fürsorge, wieder mit vollen Segeln zugeführt. + +Die Fußballplätze und Schwimmanlagen schweben ihm wieder vor, doch +wenn er zum Nachbar im südlichen Gelände hinüberblickt, so beschleicht +ihn ein scheußliches Unbehagen. Da, wo seine freien Menschen ihre +Siedlungen errichten und den Körper in sportlicher Übung kräftigen +sollten, werden nun von der Verhüttungsgesellschaft Erze gefördert. + +Ja, werden denn wirklich Erze zutage gebracht? Man sollte es wohl +annehmen, denn sie geben die Versuche nicht auf. Zwar herrschte +zuweilen wochenlang, ja einmal sogar monatelang peinliche Arbeitsruhe, +aber dann hatte sich anscheinend doch wieder ein Gesellschafter +gefunden, der sein Geld in dieser aussichtsreichen Sache anlegen +wollte, und die Sachverständigen rückten wieder an. + +Joachim Becker ist zum zweitenmal in seinem Leben feige und geht nicht +hin, um sich nach den Resultaten zu erkundigen. Es scheint nicht +immer leicht, seine privaten Gefühle mit beruflichen Interessen in +Einklang zu bringen, selbst wenn man sonst ohne Furcht und Falsch ist. +Die persönliche und sehr peinliche Angelegenheit, in der er sich zum +erstenmal nach einer unredlichen Tat feige verbarg, glaubt der junge +Generaldirektor zwar vollkommen aus seiner Erinnerung ausgestrichen zu +haben. + +Nur einige Konsequenzen wollen ihn noch dafür strafen, denn nun +fordert das Schicksal zur Vergeltung weitere Unaufrichtigkeit und +Heuchelei. Und weil er diesen beiden Götzen gerade in seinem engsten +Familienkreise dienen soll, so ist es am besten, wiederum zu flüchten +und in der Arbeit unterzutauchen. Das besorgt er nun bis zur letzten +Möglichkeit. + +Herr Gregor muß noch mehr als früher unter seiner Unduldsamkeit leiden, +denn jetzt fängt Joachim Becker an, unzufrieden mit ihm zu werden. +Dieser junge Sekretär treibt Luxus in Anzügen, Krawatten und seidenen +Strümpfen, sieht übernächtig aus und dünkt sich für jede Arbeit zu gut. + +Dabei hat er ein Tätigkeitsfeld, das jedem alten Beamten schmeicheln +würde. Seine Hauptbeschäftigung ist immer noch die Bearbeitung der +Lieferverträge für den Hafenbau. Mit seinem flinken, merkantilen +Verständnis für die Ausnutzung der Konjunktur und die Finanzlage der +Bewerber hat er besonders im Anfang gute Resultate erzielt. + +Nun aber wird er unvorsichtig und nachlässig, und auf seinem +Schreibtisch liegen die Papiere wüst durcheinander, so daß sich +bestimmt kein Mensch mehr herausfinden kann. + +Der Generaldirektor stellt sich ärgerlich neben den Tisch und sagt: +»Wer diese Unordnung auf dem Schreibtisch einreißen läßt, der hat sie +auch im Kopf.« Dann geht er in das Kalkulationsbüro und erkundigt sich +nach diesem und jenem. + +Herr Gregor hat zufällig auf einem der langen breiten Korridore zu tun +und sieht Joachim Becker auch in die Hauptbuchhaltung hineingehen. + +Ein Kollege fragt Herrn Gregor, ob er etwas verloren habe. + +»Nein,« gibt er zur Antwort, »aber mir fällt eben ein, daß ich etwas +vergaß.« Damit geht er wieder zurück. + +Vor dem Zimmer der Sekretärin bleibt er noch einmal mit zerfurchter +Stirn stehen. Er hat Schweres zu denken, man sieht es ihm an, und seine +Hände sind ganz feucht. Dann geht er hinein. + +»Sie haben wohl nicht die gestrigen Zahlungsanweisungen noch hier? Ich +sehe eben, daß ich mich verrechnet haben muß«, sagt er mit belegter +Stimme. + +»Nein,« erwidert die Sekretärin, »ich habe sie heute morgen +weitergegeben. Vielleicht liegen sie noch in der Kasse.« + +»Ja, danke, ich will sehen, daß ich sie dort vergleichen kann.« Er +bleibt unschlüssig stehen. + +»Sie werden sich aber beeilen müssen, denn es ist gleich +Geschäftsschluß, und die Kasse öffnet ihre Schränke nicht noch einmal.« + +»Richtig,« sagt er, »dann will ich es noch rasch versuchen.« + +Er schießt nicht gleich auf den Kassenschalter zu, sondern geht mit +schleppenden Schritten bis an das Ende des langen Korridors. Wie er um +die Ecke biegen will, bemerkt er mit halbem Blick den Generaldirektor +und den Hauptbuchhalter vor der Tür des Kassenraumes. Er schnellt +sofort zurück; man sah ihn nicht, denn die beiden sind in eine leise +und angeregte Unterhaltung allzusehr vertieft. + +Herr Gregor will nun mit seinen Anweisungen nichts mehr zu tun haben. +Er holt Mantel und Hut und verläßt das Haus. + +Drei Stunden später trifft er vor dem Hauptportal des Hafens Schwester +Emmi, die wieder einmal einen Besuch in der Mühle gemacht hat. Sie kann +jetzt nicht zu jeder Stunde hinüberlaufen, denn Irmgard Pohl ist eine +Angestellte, an Zeit und Ort gebunden. Wenn sie auch im Kontor ihres +Vaters arbeitet, so hat sie doch keine andere Vergünstigung, als daß +sie zu den Mahlzeiten ins Wohnhaus gehen darf, denn ihr Gehalt muß sie +sich ehrlich und redlich verdienen. + +So benutzt Schwester Emmi die Abendstunden, um sich Rat und Teilnahme +zu holen. Sie ist sehr angeregter Stimmung, denn nun hat Irmgard Pohl +ihr endlich versprochen, den ersten Besuch im Hafen zu machen, um sich +die kleine Wohnung der Fürsorgeschwester anzusehen. + +»Wenn Sie glauben, daß ich gegen fünf Uhr niemand treffen kann,« sagte +sie, »so will ich auf eine Viertelstunde kommen.« + +Schwester Emmi wird ihr alle ihre hübschen Kleinigkeiten zeigen: den +selbstgefertigten Frisiertisch mit Mullvorhängen und Fläschchen und +Büchsen, die hübschen Kissen aus Seidenresten, Stickereien und andere +Handarbeiten, denn ihre flinken Hände sind zu allem geschickt, sie +können niemals ruhen. + +Selbst in Herrn Gregors Gesellschaft bleibt sie nicht untätig, denn an +seiner Kleidung ist immer etwas zu verbessern. Frau Reiche, die sich +gegen Bezahlung für diese Arbeiten verpflichtete, ist längst nicht mehr +zuverlässig genug; sie hat es sogar fertig gebracht, ein Paar seidene +Strümpfe, die Schwester Emmi ihm zum Geburtstag schenkte, vollständig +zu zerschneiden. + +Wenn aber die praktische Arbeit geleistet ist, so folgt die viel +schwerere Aufgabe: Herrn Gregor zu trösten und zu zerstreuen; er wird +immer nervöser von dem schweren und aufreibenden Dienst und kann oft +sehr mißgestimmt oder mutlos sein. + +Sie sieht es ihm heute sofort an, daß es schlimm um ihn steht, darum +zwitschert sie von allen lustigen Dingen, die ihr einfallen; sie macht +Witze und lacht selbst darüber. Sobald der schwache Schimmer eines +Lächelns über sein blasses leidendes Gesicht huscht, ist sie sehr +glücklich. Sie wirft nicht sobald die Flinte ins Korn, und ihre Geduld +rührt selbst Herrn Gregor. + +Er hat schon gegessen und fragt, ob er bei Schwester Emmi eine Tasse +heißen Tee trinken dürfe. Es ist mitten im Winter, und ein mitfühlender +Mensch kann wohl verstehen, daß man auf einer Straßenbahnfahrt +durchfriert und Verlangen nach einem freundlichen warmen Zimmer hat. +Die großen Herren haben ihre bequemen Wagen, die andern aber, denen +jede Möglichkeit zum Aufstieg abgeschnitten wird, obgleich sie auch +nicht weniger verstehen, sie müssen sehen, wo sie bleiben. + +Ach, sie ist durch Herrn Gregors scharfe Augen über die +Ungerechtigkeiten in dieser Welt aufgeklärt worden und kann manchmal +recht erbittert und unzufrieden sein. Doch sie hütet sich wohl, +solche Gefühle zu offenbaren, denn wer erst einmal als sonnige Natur +verschrien ist, hat nicht mehr das Recht, sich anders zu zeigen. + +So bewirtet sie Herrn Gregor mit heißem Tee und freundlichen Worten. +Sie rauchen auch eine Zigarette miteinander, und als endlich eine +richtige Unterhaltung in Gang kommt, hat sie sogar ihre Angst vor Frau +Reiche vergessen, die angedroht hat, den Kapitän zu holen, wenn die +Fürsorgeschwester noch einmal Herrenbesuch in ihrem Zimmer empfängt. + +»Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die mich ganz zermürben,« sagt +Herr Gregor, »Sorgen mögen auch daran schuld sein.« + +»Aber was sollten Sie denn für Sorgen haben? Da ist doch kein Mensch, +der Ihnen etwas zuleide tut, und Angehörige haben Sie auch nicht. Ja, +wenn ich an Schiffer Jensen denke, dem im Herbst die Frau gestorben +ist. Jetzt lebt er ganz allein mit dem kleinen Tom, und das Schlimmste +ist, daß er nun, während er im Winterlager liegt, nicht durch Arbeit +und Abwechslung abgelenkt wird und immerfort daran denken muß. Sie +haben doch Ihre Arbeit und ein schönes Einkommen dazu.« + +Das mit dem Einkommen hat sie nicht ohne einen Zweck gesagt, sie +erwähnt es in letzter Zeit öfter. Ist es nötig, daß ein einzelner +Mensch ganz allein davon lebt und sich einen Anzug nach dem anderen +kauft? Nicht genug damit, er trägt sein Geld auch noch in die Bars +und Tanzlokale, und es kommt vor, daß er sich kleine Summen von +Schwester Emmi oder Frau Reiche leihen muß, wenn er in augenblicklicher +Verlegenheit ist. + +Wäre es für so einen Menschen nicht besser, eine solide und praktische +Frau zu heiraten, die ihn ans Haus fesselt und sein Heim gut +verwaltet? Sie hätte nichts dagegen, Frau Gregor zu werden, und aus +keinem andern Grunde behandelt sie ihn zuweilen schlecht, wenn er mehr +Entgegenkommen erwartet. Sie weiß, was man tun muß, um von einem Mann +geachtet oder gar geheiratet zu werden, und sie ist, seitdem sie die +Fürsorgestelle im Hafen hat, ihren Vorsätzen treu geblieben. + +Fand sie nicht erst kurz zuvor eine Bestätigung für die Richtigkeit +ihrer Erkenntnis, da selbst bei einer Irmgard Pohl keine Ausnahme +gemacht wurde? Sie hat ein weites Herz, doch jetzt ist sie +fünfundzwanzig Jahre alt, und da muß eine Frau mindestens wissen, was +sie will. + +»Nein,« sagt Herr Gregor mit schwachem Lächeln, »solche Sorgen habe +ich nicht. Sie sind ja auch immer gut zu mir, darüber kann ich nicht +klagen.« + +Das klingt fast wie eine Werbung. Schwester Emmi rückt auch nicht ab, +während seine kalte Hand nach ihr tastet. + +»Aber ich hatte sehr schwere Geldverluste. Ein Rechenfehler, den ich +nicht rechtzeitig bemerkt habe. Später fehlte mir der Mut, es zu +melden, und nun muß ich den Verlust tragen.« + +»Das ist ja empörend«, ruft sie geradezu erregt aus. »Verlangt man auch +noch von Ihnen, daß Sie Geld zusetzen? Nein, das dürfen Sie sich nicht +gefallen lassen!« + +»Ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst daran schuld sei, weil ich es nicht +rechtzeitig meldete. Jetzt würde man es mir einfach nicht glauben.« + +»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist das eine bodenlose +Ungerechtigkeit.« + +»Ja, das glaube ich, daß Sie das nicht verstehen. Es ist auch zu +kompliziert, als daß ich es Ihnen auseinandersetzen könnte. Es muß sich +in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen entscheiden, was daraus +wird. Dann darf ich wohl alles erwarten, wenn ich es nicht vorher +gutmachen kann. Doch das Schlimmste wird sein, daß ich mir dann eine +Kugel durch den Kopf schießen muß.« + +»Großer Gott, was sagen Sie da?« Sie ist aufgesprungen und läuft ganz +entsetzt in ihrem kleinen Zimmer umher. + +»Ist es denn so schlimm?« flüstert sie, während sie vor ihm +stehenbleibt und die Hand auf seine Schulter legt. + +Da wirft er den Kopf nach vorn und stöhnt laut und gurgelnd auf. Die +Spannung der entsetzlichen letzten Wochen mit den fortdauernden kleinen +Unterschlagungen, von denen eine immer die andere nach sich zog, die +Erregung des heutigen Tages, da er sich entdeckt glaubt, das alles löst +sich in einem Schluchzen auf. + +Die Tränen fließen an seinen schmalen blassen Fingern vorbei auf den +empfindlichen Anzug. Aber er nimmt keine Rücksicht darauf, er ist nun +am Ende seiner Kraft. Auch die betäubenden Vergnügungen in den lauten +Lokalen, die ihn seine verzweifelte Lage doch nicht vergessen ließen, +der übermäßige Genuß von Alkohol und Zigaretten, der versäumte Schlaf, +das alles rächt sich nun, so daß er nicht mehr Herr über sich selbst +werden kann. + +Schwester Emmi versucht es immer wieder mit freundlichen und tröstenden +Worten, sie streichelt seinen Rücken, die vollen schwarzen Haare, und +sie ist selbst ganz verzweifelt, weil sie ihm damit nicht helfen kann. + +Endlich stützt sie die Arme auf den Tisch, gräbt die Finger in ihren +blonden Haarschopf und beginnt krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen. +Sie überlegt so angestrengt, daß ihr Gesicht ganz zerknittert ist. + +Mein Gott, es müßte ihm doch irgendwie zu helfen sein. Gibt es nicht +unzählige reiche Leute, die einem tüchtigen Menschen mit ein paar +Brocken ihres großen Vermögens das Leben retten könnten? Sie wollte +den sehen, der es fertigbrächte, ihn durch seine Weigerung einfach zu +töten, wenn sie ihm die Lage schilderte, wie sie wirklich ist. + +Bei diesem Gedanken kommt ihr der großartige Einfall. Sie schreit +geradezu auf vor Freude. Ja, das war ein Ausweg, sie wollte es tun! + +Sie packt Herrn Gregor bei den Schultern. + +»Hören Sie doch, ich kann Ihnen helfen! Sagen Sie mir, wieviel es ist.« + +Herr Gregor schüttelt sie ab und flüchtet in eine Ecke des Zimmers. Er +dreht ihr den Rücken und trocknet mit einem seidenen Taschentuch seine +Tränen. + +»Was werden Sie nur von mir denken, daß Sie mich in diesem Zustande +sehen? Sie müssen mich verachten«, stammelt er. + +»Nein,« sagt sie, »ich verachte Sie nicht. Ich habe sogar den +Generaldirektor weinen sehen, damals bei der großen Katastrophe. Er +drehte sich um, wie Sie eben, aber an seinen Schultern habe ich es +erkannt, daß er weinte. Nun müssen Sie mir wieder Ihr Gesicht zeigen, +hier ist ein Schwamm, und dann sagen Sie mir, wie hoch die Summe ist, +damit ich Ihnen helfen kann.« + +Und weil er sich so ungeschickt mit ihrem Schwamm anstellt, wäscht sie +ihm das Gesicht wie dem kleinen Tom und trocknet es mit ihrem Handtuch. +Als er sie nun mit einem zagen Lächeln im rotgeriebenen Gesicht +ansieht, erinnert er gar nicht mehr an den gepuderten und blasierten +jungen Mann von einst, er ist ein großer hilfsbedürftiger Junge, und +sie gibt ihm plötzlich einen schallenden Kuß auf die kühlen Lippen. Da +packt er sie und will sie nicht wieder loslassen. + +»Sie müssen vernünftig werden,« mahnt sie, »Sie sollen mir die Summe +nennen, damit ich Ihnen helfen kann.« + +»Du kannst mir doch nicht mehr helfen. Es ist jetzt zu spät. Aber +allein lassen darfst du mich heute nicht, denn sonst bringe ich mich +um.« + +Schwester Emmi läßt keinen Menschen sehenden Auges in den Tod gehen. -- +-- + +Am nächsten Vormittag kommt sie mit sehr blassem Gesicht zu Herrn +Karcher ins Bureau. + +»Darf ich hier telephonieren?« fragt sie. + +»Ja«, erwidert er. »Aber sind Sie krank?« + +»Ach nein«, wehrt sie ab. »Ich habe nur ein sehr wichtiges +Telephongespräch, dann bin ich immer vor Aufregung ganz blaß.« + +Herr Karcher schweigt, er beobachtet sie über seinen Federhalter +hinweg, während sie im Telephonbuch blättert. + +Nachdem sich der Teilnehmer gemeldet hat, bittet sie, mit Herrn Stein +persönlich zu verbinden. Herr Karcher will nicht indiskret sein, doch +es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte anzuhören, denn sie +steht direkt neben seinem Tisch. + +»Verreist?« stammelt sie fast tonlos. »Ja -- aber -- ja, wann kommt +er zurück? Heute abend? Ach danke, nein.« Sie scheint zum Schluß noch +etwas erleichtert. + +»Das ist doch Pech, nicht wahr?« sagt sie erklärend zu Herrn Karcher, +»wenn man einen Menschen in so wichtiger Angelegenheit sprechen will, +und er ist verreist.« + +»Ja, das ist unangenehm. Dann kommen Sie heute abend noch einmal?« + +»Ach ja. Aber ich habe gar nicht gefragt, um welche Zeit er zurückkommt +und ob ich ihn noch im Bureau antreffe. Das war nämlich in seinem +Geschäft. Mein Gott, wie dumm ich bin. Das kommt alles davon, daß ich +mich immer so aufrege, wenn ich telephoniere. Was mache ich denn +jetzt? Können Sie mir einen Rat geben?« + +»Vielleicht rufen Sie da noch einmal an?« schlägt Herr Karcher +schüchtern vor. + +»Nein, nein. Dann will ich lieber heute nachmittag wiederkommen. -- +Wenn es Ihnen recht ist.« + +»Mir ist es immer recht, Schwester Emmi. Sehr recht ist es mir. Aber +Sie haben einen Kummer, Schwester Emmi. Kann ich Ihnen nicht irgendwie +beistehen?« + +»Was Sie denken! Es ist wirklich nichts«, meint sie mit erzwungenem +Lächeln. + +»Sie haben mir die Knöpfe angenäht und mir manchmal warmes Essen +gebracht, Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Warum kann ich Ihnen +nicht etwas davon vergelten?« + +»Ach, das können Sie doch nicht«, ruft sie ganz verzweifelt aus, so daß +sich ihre Stimme überschlägt. + +Dann rennt sie ohne Gruß davon. Herr Karcher sieht sie am Fenster +vorbeiflüchten. Der kalte Nordwind zerrt an ihren blonden Haaren, daß +sie ganz zottelig um ihr kleines Gesicht wehen. + +Am Nachmittag kommt sie wieder. Sie ist jetzt viel gefaßter, nur ihre +Hand zittert, wie sie nach dem Hörer greift. + +Herr Stein ist noch nicht zurück. Er wird um sechs Uhr erwartet. + +Da läßt sie sich mit der Generaldirektion verbinden. Sie will Herrn +Gregor sprechen. Herr Gregor sei nicht da, wird ihr geantwortet. + +»Er ist nur nicht in seinem Zimmer, meinen Sie?« gibt sie gereizt +zurück. + +»Nein, er ist heute überhaupt nicht gekommen.« + +»Das ist doch nicht möglich,« sagt sie empört, »er ist doch heute +morgen ins Bureau gegangen --« + +Aber da wirft sie den Hörer hin, als ob er ihr die Finger verbrenne. +Was hat sie denn da für eine Dummheit gemacht? Wenn er nicht ins Bureau +gegangen ist, so hatte er wohl seine Gründe dafür, und es wäre keinem +Menschen etwas Besonderes aufgefallen, wenn sie nicht jetzt darauf +aufmerksam gemacht hätte. Ihr blieb es vorbehalten, ihn zu verraten. + +Sie rennt in dem kleinen Kontor zwischen Tür und Schreibtisch umher und +ringt die Hände. + +Herr Karcher hat das Telephon in Ordnung gebracht und sieht stumm und +hilflos in sein Kontobuch. Es ist fünf Uhr und seine Arbeitszeit war +vor einer Stunde beendet. Er mußte länger bleiben, weil Schwester Emmi +telephonieren wollte. Was hätte sie denn sonst anfangen sollen? -- + +Vor dem Hafentor steht Irmgard Pohl, die um fünf Uhr eingeladen war. +Sie denkt keinen Augenblick daran, daß Schwester Emmi sie vergessen +haben könnte; es werden wichtige Arbeiten genug vorliegen, die sie +verhindern, ihr entgegenzugehen. + +Das Warten in der schönen klaren Winterluft wäre auch nicht so +unangenehm, wenn sie nicht fürchten müßte, Joachim Becker zu begegnen +und wenn nicht ein breiter untersetzter Herr mit einem kräftigen +Schnurrbart gleichfalls in der Nähe des Wächterhauses spazierenginge. +Sie weicht zwar seinen Blicken aus, aber sie fühlt, daß sie von Kopf +bis Fuß gemustert wird. + +Hinter dem Tor, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, erscheint immer +wieder ein kleiner Herr mit gespreiztem Gang, der gleichfalls jemand +erwartet. Wenn er auf seinem merkwürdigen Spaziergang in die Nähe +des Tores kommt, kann er sie sehen, obgleich sie sich Mühe gibt, ihm +auszuweichen. Irmgard weiß nach Schwester Emmis Beschreibungen, daß es +der Kapitän ist, sie hat ihn auch oft genug vom Mühlenplatz, jenseits +des Kanals, bemerkt, ebenso wie er bei gelegentlichen Blicken zum +Nachbarn die Mühle und ihre Angehörigen wohl beobachten kann. + +Als er wieder in die Nähe des Tores kommt, gibt sie endlich das Spiel +auf. Sie geht zum Wächter und fragt nach der Fürsorgeschwester, so daß +der Kapitän es hören kann. + +»Wollen Sie hier hinein?« fragt der Kapitän. + +Ja, wenn es erlaubt sei und sie Schwester Emmi sprechen könne. Und weil +sie glaubt, daß man sich hier als Besucher ausweisen muß, fügt sie +hinzu: »Ich bin Ihre Nachbarin, Irmgard Pohl.« + +»Ah so,« sagt der Kapitän verbindlich, »das ist sehr interessant.« Und +dann stellt er sich vor. Sie wird hier ganz und gar als Dame behandelt, +obgleich sie nur die Fürsorgeschwester besuchen will. + +Er bittet sie in sein Bureau und sendet jemand aus, der Schwester Emmi +an ihre vernachlässigten Pflichten als Gastgeberin erinnern soll. + +Inzwischen plaudert er mit Irmgard Pohl, als wäre ihm nicht bekannt, +daß sie zum Feinde gehöre. Er habe schon lange die Absicht gehabt, +ihrem Vater einen Besuch zu machen, und er werde, wenn es erlaubt sei, +in den nächsten Tagen vorsprechen. + +Irmgard kennt nicht die Absichten der Hafengesellschaft -- man hatte +bisher nur Rechtsanwalt Bernhard gesandt --, aber sie verspricht, ihren +Vater auf den Besuch des Kapitäns vorzubereiten. + +Sie ist erleichtert, als endlich Schwester Emmi erscheint, die nicht +zu versichern braucht, daß sie über der vielen Arbeit die Einladung +vergessen habe -- man sieht es ihr an, wie sehr sie überanstrengt und +durch den Schrecken über ihre Nachlässigkeit verstört ist. + +Irmgard dankt dem Kapitän und will die Teestunde bei Schwester Emmi auf +einen anderen Tag verlegen. Doch sie wird mit vielen Worten überredet, +zu bleiben. Die Schwester plaudert unaufhörlich, sie kann gar kein +Ende damit finden, sich zu entschuldigen und Erklärungen über ihre +Vergeßlichkeit abzugeben. + +Was hatte sie ihr alles zeigen wollen! Aber nun ist nicht einmal Gebäck +im Haus, und Irmgard muß selbst dafür sorgen, daß sie eine Tasse Tee +erhält, denn Schwester Emmi ist sehr zerstreut und läuft wie ein +Irrwisch umher, ohne etwas fertigzubringen. Auf dem Tisch liegen noch +Zigarettenreste, und das Zimmer ist nicht aufgeräumt. So empfängt man +einen Besuch, auf den man sich lange gefreut hat. + +Irmgard Pohl hat wohl gemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, es +liegt jedoch nicht in ihrer Art, zu fragen. Sie erzählt von dem kleinen +Michael und stellt fest, daß der Kapitän ein sehr liebenswürdiger Herr +sei. Es war kaum ihre Absicht, sich im Hafen offiziell empfangen zu +lassen, aber sie darf mit der freundlichen Aufnahme zufrieden sein. + +Schwester Emmi hat sich inzwischen etwas erholt. Sie kann sogar darüber +scherzen, was sie für eine schlechte Hausfrau sei. + +Als sie sich zum Tee niedergelassen haben, wird die Tür aufgerissen, +und Herr Gregor stürzt herein. + +»Kannst du mir eine Reisetasche leihen?« fragt er Schwester Emmi +hastig, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, »ich muß sofort +geschäftlich verreisen.« + +Seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, und er sieht nicht, daß +noch jemand im Zimmer ist. Irmgard Pohl blickt peinlich berührt in ihre +Teetasse. + +Schwester Emmi geht schweigend zum Schrank und reicht ihm einen kleinen +Koffer. Er reißt ihn ihr aus der Hand und läuft wortlos davon. + +Die Schwester bringt auch jetzt noch keinen Ton hervor. Aber in ihrem +Gesicht zuckt und kämpft es, daß Irmgard Pohl es kaum mit ansehen kann. + +Dann hört man draußen Schritte. Schwester Emmi läuft zur Tür und horcht +angespannt. Plötzlich reißt sie die Tür auf. + +In diesem Augenblick geht der Kapitän mit zwei Herren vorbei. Der eine +ist breit und untersetzt, mit einem kräftigen Schnurrbart. Sie öffnen, +ohne anzuklopfen, Herrn Gregors Tür und verschwinden. + +Irmgard Pohl versucht, Schwester Emmi, die am Türpfosten lehnt, in das +Zimmer zu ziehen. Doch sie ist wie taub, sie stemmt sich gegen alle +milden Versuche und bleibt so lange im Korridor, bis einer der beiden +Herren mit Herrn Gregor vorbeikommt. Der andere folgt an der Seite des +Kapitäns. + +Schwester Emmi starrt auf die Handschellen, die man Herrn Gregor +angelegt hat. Der Kapitän bleibt vor ihr stehen. + +»Der Herr Kommissar will nur die Personalien aufnehmen,« sagt er +höflich, »weil Sie die Nachbarin sind. Dürfen wir nähertreten?« + +In diesem Augenblick bemerkt er Irmgard Pohl. Er bittet, die Störung zu +entschuldigen. + +Irmgard, die mit Herzklopfen den Vorgang verfolgt hat und den Herrn +wiedererkennt, der sie vor dem Hafeneingang beobachtet hat, steht auf +und sagt: + +»Bitte. Ich wollte ohnehin gehen.« + +»Darf ich vorher auch Ihre Personalien feststellen?« fragt der Beamte. + +Sie fährt erschreckt zusammen. + +»Ich habe doch mit der Angelegenheit nichts zu tun«, stammelt sie. »Ich +bin heute zum erstenmal hier.« + +Bei dem Gedanken, daß ihre Personalien in das Protokoll aufgenommen +und Joachim Becker vorgelegt werden könnten, packt sie der Mut der +Verzweiflung. Sie will ihren Namen auf keinen Fall preisgeben und sieht +den Kapitän hilfeflehend an. + +Er aber meint: »Es ist lediglich eine Formsache. Die Akten sind +vollkommen diskret.« + +»Nein, nein«, ruft sie aus. »Ich lasse meinen Namen nicht mit +hineinziehen!« + +Da erwacht endlich Schwester Emmi aus ihrer Erstarrung. + +»Ich kann es beschwören, daß die Dame Herrn Gregor nicht gekannt +hat und daß sie heute zum erstenmal hier ist. Sie ist eine frühere +Patientin von mir. Ich bin die Fürsorgeschwester vom Hafen.« + +Das sind die ersten Worte, die sie seit Herrn Gregors plötzlichem +Auftreten und seiner Verhaftung spricht, und sie gelten wieder einer +hilfreichen Tat. + +Die beiden Herren schweigen. + +»Im übrigen«, fügt sie mutig hinzu, »weiß der Herr Kapitän den Namen, +und er wird sich denken können, daß die Dame mit der Sache nichts zu +schaffen hat.« + +Der Kommissar sieht ihn fragend an. + +»Wenn Sie auf die Personalien verzichten wollen?« fragt er den Kapitän, +als dieser sich nicht äußert. + +»Da Sie es selbst vorschlagen -- ja.« + +Irmgard Pohl darf den Schauplatz verlassen. Sie blickt Schwester Emmi +dankerfüllt an. Dann eilt sie mit kurzem Gruß davon. + + + + + Der Mann in der Mitte + + +Auf der Föhrbrücke kehrt sie wieder um. Sie kann in dieser Erregung +unmöglich ihren Eltern begegnen. + +Ihr Gesicht brennt, und sie ist von heftigem Groll gegen den Kapitän +erfüllt. Während sie abenddunkle Straßen aufsucht, um ihre Gedanken +zu ordnen, wird ihre Abneigung gegen ihn immer stärker. Wohl hat er +sie sehr liebenswürdig empfangen, obgleich sie kein Verlangen danach +hatte, seine Bekanntschaft zu machen, aber als es darauf ankam, ihr +beizustehen, versagte er. + +Wie hätte Joachim Becker sich in dieser Situation benommen? Oh, er wäre +der Zumutung des Kommissars sofort ganz energisch begegnet. Er hätte +sie wie ein Ritter geschützt. Der Kapitän jedoch stand zwischen beiden +Parteien und wollte niemand zu nahe treten. + +Sie haßt diese lauen Menschen, sie haßt den Kapitän. Nur der Gedanke an +Schwester Emmis treue Bereitschaft söhnt sie wieder aus. + +Sie beginnt, sich von ihrem Groll gegen den Kapitän abzuwenden und über +Schwester Emmis Schicksal nachzudenken. Das ist ein armer schwacher +Mensch, der in seiner Liebe zu den anderen wirklich sehr weit geht. +Hat sie sich nicht zuviel mit diesem eleganten, blassen Herrn Gregor +abgegeben, der nun verhaftet werden mußte? + +Irmgard Pohl weiß nicht, welches Vergehen dem Herrn Gregor vorgeworfen +wird, aber so viel stand fest, daß er von Schwester Emmi eine +Reisetasche forderte und flüchten wollte. Er kam einfach in ihr Zimmer +und sagte »Du« zu ihr. + +Frau Pohl hatte wohl recht damit, daß die blonde Fürsorgeschwester +leichtsinnig sei und keinen moralischen Halt habe. Doch warum sollte +sie diesen Menschen nicht auf ihre Art lieben? + +Da steht sie nun mutig vor den beiden Herren, läßt sich ausfragen und +gibt klare Antworten, ihr Freund aber ist mit Handschellen abgeführt +worden, und wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer geht, so begegnet sie +ihm weder auf dem Korridor noch unten im Hafen. Sie wird ihn nirgends +mehr treffen, denn er sitzt hinter dicken Mauern und hat viel Zeit, +über seine Vergehen und über Schwester Emmis Liebe nachzusinnen. + +Während Irmgard Pohl ihren Beruhigungsspaziergang fortsetzt und an das +Protokoll denkt, in dem nun ihr Name nicht verzeichnet ist, fällt ihr +ein, daß auch eine Reisetasche für das Verfahren von Bedeutung sein +kann. Hat der Verhaftete sie nicht für die Flucht benutzen wollen? Sie +gehört ihm nicht, und wer sie ihm gegeben hat, macht sich der Beihilfe +schuldig. Oh, das kluge Fräulein Pohl, das eine Handelsschule besucht +hat und jetzt Sekretärin in der Mühle ihres Vaters ist, vermag sehr +logisch zu denken, was sonst nicht Frauenart ist. + +Sie verfügt nun wieder über ihren klaren Verstand und hat alle Folgen +eines Strafverfahrens vor Augen. Man liest nicht ohne Gewinst die +Zeitungen und vernimmt von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen. Wer +weiß außer ihr, daß Herr Gregor den Koffer für eine Geschäftsreise +forderte und sonst kein Wort darüber verlor? + +Schwester Emmi hatte ihren Besuch mutig vor dem Protokoll gerettet. Was +aber tat Irmgard Pohl? Sie dachte nur an die Rettung ihres Namens und +rannte davon. + +Wie lächerlich erscheint ihr jetzt ihre Furcht vor Joachim Becker. Hat +er damals daran gedacht, daß sie ihren guten Ruf verlieren könnte? +Nein, er ließ sie im Stich und sorgte für sich selbst. Warum sollte +ihr Name nicht im Protokoll stehen? Weil es der Name ihres Vaters ist? +Michael Pohl ist es gleichgültig, was mit seinem Namen geschieht, wenn +man nur vor sich selber ein anständiger Mensch bleibt und die eigene +Achtung behält. + +Und darum muß sie nun zurückgehen und sich als Entlastungszeugin für +Schwester Emmi melden. + +Sie wird am Hafentor ohne weiteres eingelassen, denn der Kapitän selbst +hatte es ja erlaubt. Obgleich sie daran zweifelt, die Herren noch in +Schwester Emmis Zimmer zu treffen, nimmt sie doch ihren Weg zunächst +in das Gebäude der Hafenwirtschaft. + +Auf der Treppe begegnet ihr Frau Reiche. Irmgard hat zwar noch nicht +die Bekanntschaft mit der Kantinenwirtin gemacht, aber nach Schwester +Emmis lebhaften Erzählungen ist ihr keine wichtige Person des Hafens +fremd. + +Frau Reiche hat rote geschwollene Augen. + +»Zu wem wollen Sie?« fragt sie mit harter Stimme. + +»Zur Fürsorgeschwester.« + +»Da brauchen Sie gar nicht weiterzugehen, die ist fortgegangen«, gibt +die Kantinenwirtin zurück. + +»Und der Kapitän ist auch nicht oben?« fragt Irmgard. Das ist eine +gar zu dumme Frage. Was sollte der Kapitän allein in Schwester Emmis +Wohnung? Sie hat durch das verstörte Gesicht und die rauhe Stimme der +Frau ihre Fassung wieder etwas verloren. + +»Das Bureau ist drüben. Hier hat der Kapitän noch nie gewohnt.« + +Wie Irmgard schon an der Haustür ist, ruft die Frau ihr keifend nach: +»Wird denn gar keine Ruhe im Haus? Kommen schon fremde Weiber hierher +und schnüffeln in den Korridoren?« + +Irmgard läßt die Tür entsetzt zufallen und eilt zum Verwaltungsgebäude +hinüber. Die Bureauräume im Erdgeschoß sind schon verdunkelt, nur aus +der Wohnung des Kapitäns dringt Licht. Sie geht kurz entschlossen +hinauf und klingelt an seiner Tür. + +Der Kapitän öffnet selbst und ist gar nicht erstaunt, sie +wiederzusehen. An diesem ereignisreichen Tag ist man auf alles gefaßt. + +Er fragt, ob sie mit in das Bureau hinuntergehen oder nähertreten +wolle. + +Nein, sie möchte ihn nur einen Augenblick sprechen. Er führt sie in +sein Arbeitszimmer. + +Da ist der große alte Mahagonischreibtisch, beleuchtet vom runden +Schein einer grünbeschirmten Lampe. Auf einem Stuhl daneben steht der +geöffnete Geigenkasten. + +»Ich habe Sie gestört«, sagt Irmgard entschuldigend. »Ich wollte Ihnen +nur einige Worte sagen. Es betrifft Schwester Emmi.« + +»Aber wollen Sie nicht ablegen?« sagt er. »Gestört haben Sie mich +nicht. Sehen Sie, ich bin immer allein. Ich wollte mir eben meinen Tee +bereiten. Ich glaube, ich muß mir doch noch eine Wirtschafterin +nehmen.« + +Indem er über seine Angelegenheiten plaudert, läßt er ihr Zeit, sich +zu sammeln. Sie kann ihm plötzlich doch nicht mehr grollen, diesem +einsamen Mann mit dem Geigenkasten. + +Während sie sich umwendet, um ihr Taschentuch aus dem Mantel zu +nehmen, den er auf den Diwan gelegt hat, schließt er rasch den Kasten +und stellt ihn hinter den Schreibtisch. Dann bietet er ihr den frei +gewordenen Stuhl an. + +So, nun wird er wieder kühl, fast geschäftsmäßig. Es scheint +wahrhaftig, als wäre es in seinen Augen eine Schande, wenn ein +Hafendirektor Geige spielt. Er schließt seine Gefühle fest ein und geht +im Zimmer umher, als sei nun alles in Ordnung. + +Irmgard bringt ihr Anliegen vor und berichtet von dem Koffer. + +»So,« sagt der Kapitän, »der Koffer gehört der Fürsorgeschwester? Das +ist sicherlich noch nicht bekannt. Ich werde es jedenfalls melden. Und +ob wir Sie brauchen, das steht noch nicht fest. Für alle Fälle danke +ich Ihnen.« + +Nun wäre Irmgards Mission beendet, aber sie steht nicht auf, um ihn zu +verlassen. + +»Wenn der Koffer bis jetzt keine Rolle gespielt hat,« meint sie +unschlüssig, »so brauchen wir das Verfahren damit vielleicht nicht +zu komplizieren. Schwester Emmi hat also anscheinend bisher mit der +Angelegenheit nichts zu tun. Könnte man denn nicht alles beim alten +lassen? Warum sollen wir sie unnötig hineinziehen?« + +Sie redet sehr vertraut mit ihm. Sie sagt »wir« und schließt ihn in +eine Partei ein, in die er als Direktor des Hafens wohl nicht gehört. +Das empfindet sie im Augenblick, da sie zu Ende gesprochen hat. + +Der Kapitän nimmt auch gleich die richtige Stellung ein. + +»Was Sie mir gemeldet haben,« sagt er, »muß ich weitergeben. Das übrige +wollen wir den Gerichten überlassen.« + +»Ja,« erwidert sie nicht ohne Vorwurf, aber mit schwachem Lächeln, »Sie +müssen sich schon als neutrale Person in die Mitte stellen. Aber der +Schwester habe ich vielleicht mit meiner nachträglichen Meldung keinen +guten Dienst geleistet.« + +»Das können wir nicht wissen. Und warum soll sie ihre Tasche nicht +zurückerhalten? Es ist nur schade, daß Sie vorhin fortgegangen waren, +denn dann hätten wir Widersprüche vermieden.« + +»Widersprüche?« fragt Irmgard ängstlich. Sie weiß, daß Frauen in der +Notlage immer zuerst zu einer Lüge greifen. Was mochte also Schwester +Emmi ausgesagt haben? + +»Sie meinten vorhin, daß ich mich in die Mitte stelle. Damit haben +Sie recht. In diesem Fall gehöre ich dahin, und ich kann Ihnen nicht +die Erklärungen geben, die Sie vielleicht wünschen. Ihren Besuch +darf ich nicht ungeschehen machen, wenn Sie mir deswegen vielleicht +auch grollen. Sie sehen, wie unrecht es war, vorhin von der Mitte +abzuweichen und Ihnen die Vernehmung zu ersparen.« + +»Ach, sind Sie da schon von der Mitte abgewichen?« + +Er überhört durchaus nicht die Ironie in ihrer Frage. Sein Gesicht +scheint, soweit es überhaupt Gefühlsregungen verraten kann, traurig und +verfallen. + +»Ja,« sagt er, »wir Menschen in der Mitte werden verachtet, weil wir +es keinem recht machen -- weder dem einen noch dem anderen. Wir haben +keine Feinde, aber wir verschaffen uns auch keine Freunde.« + +Er erhebt sich und tritt damit aus dem Lichtkreis der Lampe. Dann nimmt +er seine Wanderung im Zimmer wieder auf und spricht weiter: + +»Wer fragt danach, ~warum~ es ein Mensch für richtig hält, immer +in der Mitte zu stehen und damit niemand unrecht zu tun? Wir würden +einander viel Ärger und Leiden ersparen, wenn wir uns alle daran halten +wollten.« + +Irmgard muß an Joachim Becker denken, der niemals in der Mitte steht, +sondern immer auf der einen Seite, während er der anderen Unrecht +zufügt. Und sie selbst gehört zu der leidenden Partei. Hätte er aber +sonst diesen Hafen gegründet? + +»Wohin sollte das führen?« fragt sie den Kapitän. »Wäre dann ein Cäsar +oder ein Napoleon möglich? Und wo blieben ihre ungeheuren Taten? +Ich denke mir, daß jedes große Werk ein Opfer auf der anderen Seite +fordert.« + +»Es gibt robuste Naturen, denen es möglich ist, die Konsequenzen +ihrer einseitigen Handlungen zu tragen. Es steht mir fern, sie +zu verurteilen, denn ich sehe ihren Standpunkt ebenso wie den der +Schwachen.« + +»Richtig,« sagt Irmgard bitter, die jedes Wort als einen Hieb auf +Joachim Becker empfindet, »Sie dürfen ja nicht nur die Mittelmäßigkeit +verteidigen, Sie haben sich die Aufgabe gestellt, zwischen allen +Parteien zu stehen.« + +Sie wird ungerecht, ja, ihre Worte sind fast beleidigend, aber sie +spricht zu einem Mann, der auch ihre Ansicht verstehen muß. Was darf +sie ihm nicht alles sagen! Wird er nicht letzten Endes jedes Wort ruhig +hinnehmen müssen und verständnisvoll verzeihen? Die harten Worte kommen +aus einem schwachen oder starken Gefühl; er aber steht über allen +Schwankungen des Herzens und hat seinen Standpunkt in der Mitte. + +»Ach, wie schwer muß es sein, diesem Vorsatz treu zu bleiben!« fügt sie +seufzend hinzu, während sie aufsteht und sich verabschieden will. + +Sie hat kein Erbarmen mit diesem einsamen Menschen, der gehetzt im +Zimmer umherrennt und durchaus nicht den Eindruck hervorruft, als seien +seine Empfindungen klar und geebnet. + +»Bitte, bleiben Sie noch«, sagt er, ohne seine Wanderung zu +unterbrechen. »Sie wollen mich kränken. Sie sind grausam, und ich +weiß nicht, womit ich mir das verdiente. Haben Sie nicht darüber +nachgedacht, daß das, was Sie die Mittelmäßigkeit nennen, nach schweren +Kämpfen aus Stärke und Schwäche erwachsen kann? Wie viele Ursachen +dürften dafür vorhanden sein! Es gibt Erlebnisse, die das Wesen eines +Menschen von Grund auf verändern. Ich will nicht von mir sprechen, es +liegt mir fern, Sie damit zu langweilen. Aber nehmen wir ein Beispiel +an. Ich will es so wählen, daß auch Sie als Frau es verstehen können: + +Ein Mann glaubt, sehr geliebt zu werden. Er selbst -- nun lassen wir +das. Er vertraut ihr und begibt sich auf eine weite Reise. Er fährt +in fremde Erdteile, vielleicht, weil es sein Beruf erfordert oder +weil es ihm Spaß macht. Jedenfalls bleibt er sehr lange fort, und er +hat keinen Grund, seiner Frau zu mißtrauen. Er zweifelt niemals an +ihrer Treue, darum trifft es ihn so unvermittelt, als sie ihm selbst +gesteht, ihn betrogen zu haben. Sie hat keine äußere Ursache, es ihm +zu sagen, ihr Gewissen treibt sie dazu, weil sie innerlich wieder zu +ihm zurückgefunden hat. Der Mann gehört aber nicht zu den Neutralen, +die auch die Schwächen der anderen verstehen. Nein, er sieht nur seine +Seite, das an ihm begangene Unrecht, das getäuschte Vertrauen. Mit +dem Recht des Starken verurteilt er, ja, er ist ohne Gnade, und die +Frau geht ganz verzweifelt fort. Vielleicht wissen Sie, wie grausam +ein Mensch sein kann, wenn er nur sein eigenes Herz schlagen fühlt und +nicht auch das Herz des anderen. Aber dann kommt die Stunde, da sich +plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt.« + +Der Kapitän bleibt stehen und blickt Irmgard Pohl mit verlorenen +Blicken an. Nein, er sieht nicht das fremde junge Mädchen, das zu ihm +gekommen ist, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, er arbeitet an +seinem »Beispiel«. Und er geht wieder mit gespreiztem Gang im Zimmer +umher, während er die Hände auf dem Rücken fest ineinanderlegt. + +»Kaum ist sie fortgegangen, so daß er die Einsamkeit spürt, da sieht +er auch die andere Seite. Er stellt sich wieder nicht in die Mitte, +er springt zum anderen Extrem hinüber. Da beginnt er nun mit der +Verteidigung der jungen Frau, die er selbst dem vielfältigen Leben +schutzlos gegenübergestellt hat. Sie war jung und hat gefehlt, aber +sie macht kein Hehl daraus, sie bekennt offen ihr Unrecht. Wie muß sie +dem Manne vertraut haben, und welche Größe hat sie von ihm erwartet, +da sie seiner Verzeihung so gewiß war. Er aber jagt sie davon. So sind +die Menschen: wie man soeben den anderen verurteilt hat, so richtet +man nun sich selbst. Wir finden keinen guten Weg dazwischen. Er will +sie zurückholen, doch er weiß nicht, wo er sie suchen soll. Und er +irrt eine ganze Nacht am Hafen, an den Fleeten, an jedem Wasser und +auf allen Brücken umher und weiß sich keinen Rat. Am Morgen treibt ihn +seine Verzweiflung in irgendeine Kirche, ihn, der keine Konfessionen +kannte und kein Gebet, nur sein Vertrauen auf die eigene Kraft. Er +bittet irgendeinen Gott, ihm zu helfen. Er legt ein Gelübde ab, eine +Beichte, er faltet die Hände, er kniet, er will allen Religionen +gerecht werden, um den wahren Gott zu finden, der ihm helfen kann. +Aber wie er nach Hause kommt, hat die Frau das Leben weggeworfen, das +sie neu beginnen wollte und das er ihr zerstört hat -- --« + +Der Kapitän bricht plötzlich ab, ohne seine Stimme zu senken, als +wollte er etwas hinzufügen. Doch er schweigt. Er rückt ein Bild an der +Wand zurecht, eine afrikanische Landschaft, die mit seiner Erzählung +nichts zu schaffen hat. Man sieht, daß ihn selbst sein Beispiel nichts +angeht, es berührt ihn nicht, er kann sich sogar wieder mit einer +afrikanischen Landschaft beschäftigen, er ist ja der Mann in der Mitte. +Nur, daß er die Schlußfolgerung aus seiner Erzählung nicht mehr gezogen +hat, war ihm dabei entgangen. + +Aber das ist nicht nötig. Seine Zuhörerin hat ihn auch so verstanden. +Sie erhebt sich und sagt: »Ja, da will ich jetzt gehen. Verzeihen Sie +mir.« + +»Ach, wollen Sie gehen?« fragt er lächelnd. »Nein, ich habe nichts zu +verzeihen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater, und wenn es +recht ist, so will ich ihm demnächst meine Aufwartung machen.« + +Er begleitet sie bis zur Haustür und dankt ihr für den Besuch. + +Irmgard Pohl geht langsam zum Hafentor. Wieviel stürmt auf einen jungen +Menschen ein, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird! Soll man +sich nun noch mit den fremden Schicksalen beschäftigen? Sie ist fast +erdrückt unter der Last ihrer Gedanken und Gefühle. + +Wie schön war es sonst, in solchen Stunden Schwester Emmi zu begegnen, +die plaudert und mit ihrem erheiternden Lachen alle schweren Gedanken +davonjagt. Eine leichte und sonnige Natur ist viel wert, aber nun kommt +Schwester Emmi kurz vor der Föhrbrücke Irmgard Pohl entgegen, und ihr +Gesicht scheint grau und alt. + +»Haben Sie mich gesucht?« fragt sie, während sie bei der Anstrengung zu +einem Lächeln den rechten Mundwinkel herabzieht. + +»Ja«, sagt Irmgard, obgleich es nicht ganz den Tatsachen entspricht. +»Wo sind Sie gewesen? Sie sehen elend aus. Warum bleiben Sie nicht zu +Hause?« + +»Ach, ich mußte einen wichtigen Besuch machen. Bei einem Herrn Stein +war ich, dem Mann einer früheren Patientin. Aber er hatte heute keine +Zeit für mich, er war eben von der Reise gekommen. Das hätte ich +mir denken können, nicht wahr? Ich weiß nicht, wo ich heute meine +Überlegung habe, ich mache alles verkehrt.« + +Irmgard sieht ihr prüfend in die starren Augen. ›Warum erzählt sie mir +das alles mit diesem unheimlichen Gesicht?‹ denkt sie. Nun forscht sie +weiter, um Schwester Emmi Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen und +aus ihrer Erstarrung herauszufinden. + +»Was wollten Sie von diesem Herrn Stein? Mußten Sie ihn noch heute +sprechen?« + +»Ja«, antwortet die Schwester. »Es mußte sofort sein, obgleich es +schon zu spät ist. Aber vielleicht kann ich ihn doch noch retten.« + +»Meinen Sie Herrn Gregor?« + +»Ja.« + +»Was kann dieser Herr Stein für ihn tun? Handelt es sich um Geld?« + +»Ja.« + +»Und Sie glauben, daß Sie es von dem Herrn bekommen, wenn Sie abends in +sein Bureau gehen?« + +»Er hat es mir nicht direkt abgeschlagen, er meinte, falls ich morgen +abend käme, wenn er Zeit hätte, dann könnten wir in Ruhe darüber +sprechen.« + +»Wollen Sie nicht zu mir hinüberkommen? Wir gehen gleich in mein +Zimmer, damit uns niemand stört. Hier können wir nicht stehenbleiben«, +sagt Irmgard Pohl. + +Sie nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Schwester beim Arm und +führt sie über die Föhrbrücke zur Mühle. + +Unterwegs sagt die Schwester, die vor Kälte zittert: »Es ist so +furchtbar, daß ich morgen noch zu diesem Menschen gehen muß. Aber das +ist die einzige Rettung.« + +Im warmen Zimmer bettet Irmgard sie auf den Diwan, und dann beginnt +sie, mit milden und zärtlichen Worten auf sie einzureden. Wenn sie doch +weinen könnte, denkt sie, das wäre gut. + +Als das alles nicht hilft, versucht sie es auf eine andere Weise. + +»Was haben Sie sich denn gedacht?« sagt sie streng. »Wollen Sie sich an +diesen Herrn Stein verkaufen, um einen Menschen zu retten, der nicht +das geringste Opfer wert ist?« + +Die Schwester springt erregt auf. Es ist, als wollte sie davonstürzen, +aber dann wirft sie sich auf die Erde und weint, laut und +leidenschaftlich. Alle Demütigungen, die Angst, die zurückgedrängten +Tränen lösen sich auf in diesem befreienden Schluchzen. + +Als sie sich müde geweint hat, bettet Irmgard sie wieder auf den Diwan, +dann geht sie hinunter zu den Eltern. + +»Kommst du endlich?« sagt Frau Pohl vorwurfsvoll. Sie ist mit einer +Häkelei beschäftigt, während der Mühlenbesitzer seine Zeitung liest. + +Hier sitzen zwei Menschen wie in friedlichem Kreis um einen runden +Tisch und sind nur vom Schicksal ihrer eigenen kleinen Familie +umschlossen. + +»Ich habe Schwester Emmi mitgebracht«, sagt Irmgard, während sie ihren +Vater bittend ansieht. »Drüben ist in ihrer Gegenwart ein Angestellter +verhaftet worden. Sie wurde dadurch so erregt, daß ich sie nicht allein +lassen wollte.« + +Frau Pohl steht auf. + +»Dann will ich euch etwas Abendbrot besorgen«, sagt sie. + +Seitdem ihre Tochter in der Mühle eine geregelte Tätigkeit hat, wird +sie von Frau Pohl als selbständiger Mensch behandelt, der sich seine +Gäste mitbringen darf, und der sein Essen zu fordern hat, wenn er das +Haus betritt. Frau Pohl versäumt niemals ihre Pflichten. + +Irmgard geht zu ihrem Vater. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und +lehnt stumm den Kopf an seine Schulter. Der Mühlenbesitzer legt die +Zeitung hin und schließt den Arm um seine Tochter. + +So sitzen sie, bis Irmgard die Schritte der Mutter hört. Sollte man +es wohl für möglich halten, daß eine Mutter auf ihre eigene Tochter +eifersüchtig ist? + +Wie Irmgard dem mißtrauischen Blick Frau Pohls begegnet, denkt sie, wie +schön es wäre, wenn noch einige Menschen so in der Mitte ständen wie +der Kapitän. + +Aber sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie es in vielen Fällen +gutheißen würde. + +Als sie in ihr Zimmer hinaufkommt, ist Schwester Emmi nach ganz kurzer +Ruhe erwacht und von neuen Sorgen erfüllt. + +»Nun wird man mich entlassen«, sagt sie verzweifelt. »Ich habe zwar +gesagt, daß ich Herrn Gregor heute überhaupt nicht gesehen hätte, aber +Frau Reiche wird dafür sorgen, daß man mich davonjagt.« Die ganze +Trostlosigkeit ihres Wanderlebens liegt wieder vor ihr. + +»Nein,« sagt Irmgard, »der Kapitän wird niemals zugeben, daß man Sie +entläßt. Davon dürfen Sie fest überzeugt sein.« + +»Haben Sie ihn gesprochen?« + +»Ja.« + +»Und er hat es Ihnen gesagt?« + +»Es war so gut, als hätte er genau das gesagt.« + +Und wiederum ist sie froh, daß sie sich auf den Mann in der Mitte +verlassen kann. + +Wer könnte dem Kapitän vorwerfen, daß er jemals von diesem Platz +gewichen wäre? + +Wenn die Kantinenwirtin bei ihm erscheint und mit sittlicher Entrüstung +meldet, daß sie am frühen Morgen einen Herrn aus dem Zimmer der +Fürsorgeschwester kommen sah, so sagt er nicht: »Dieser Skandal! Ich +werde die Schwester verwarnen oder entlassen.« Aber er fragt auch +nicht: »Warum werden Sie durch diesen Vorgang so erregt? Hätten Sie es +lieber gesehen, wenn der Herr aus einer anderen Tür gegangen wäre?« + +Nein, er sagt: »So. Ich werde es in Ordnung bringen.« Dann geht alles +seinen alten Gang, und durch eine Verhaftung ist jede Wiederholung des +beanstandeten Besuches unmöglich geworden, so daß sich das Weitere +erübrigt. + +Er macht auch dem Mühlenbesitzer Pohl den versprochenen Besuch, als +habe er keine Ahnung davon, daß die Hafengesellschaft mit ihm einen +Prozeß führe. + +»Ich komme mit einer Bitte«, sagt der Kapitän, ohne Herrn Pohl Zeit zu +anderen Erörterungen zu lassen. »Sie haben hier einen großen schönen +Speicher, und wir wissen nicht, wo wir unsere Getreideladungen lassen +sollen. Könnten Sie uns nicht vorübergehend aushelfen?« + +»Der Speicher war ursprünglich nur für meinen eigenen Bedarf bestimmt, +aber nun habe ich seit Bestehen des Hafens schon oft ausgeholfen. Es +ist für manchen sehr günstig, sein Getreide bei mir zu lassen.« + +»Sie werden doch keinen Unterschied machen?« + +»Nein,« sagt Herr Pohl lächelnd, »warum sollte ich meine Prozeßgegner +schlechter behandeln?« + +Die Zeit geht über so vieles heilend hinweg, man muß nun über eine +erbitterte Feindschaft lächeln. + +»Also können wir einen Vertrag abschließen?« fragt der Kapitän. + +»Nein, um Gottes willen keine Verträge. Kommen Sie, wenn Sie meinen +Speicher brauchen, und ich will zusehen, wie ich einem so großen +Unternehmen helfen kann.« + +Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Händedruck. Während die +Prozeßgegner vor den Gerichten ihre Sache weiter verfechten, schließen +sie daheim friedlich ihre Geschäfte ab. Und das ist keinem anderen zu +verdanken als dem Kapitän, dem Mann in der Mitte. + +Oder der Bäckermeister Reiche, Kantinenwirt im Hafen, spricht bei ihm +vor und dreht lange verlegen an seiner Mütze, bis er endlich mit der +Sprache herausrückt. + +Also: er halte dieses Leben nicht länger aus, er sei Handwerker und +nicht Schankwirt. Und wenn das nicht bald ein Ende nähme, so wüßte +er nicht, was noch geschehen könnte. Er bittet um die Erlaubnis, das +Recht für die Bewirtschaftung der Kantine mit seinem eigenen geringen +Inventar verkaufen zu dürfen, damit er wieder imstande sei, sich eine +Bäckerei anzuschaffen. + +»Was sagt Ihre Frau dazu?« fragt der Kapitän. + +»Meine Frau?« wiederholt Herr Reiche, »sie trägt die Zigaretten und das +Essen aus der Kantine in das Untersuchungsgefängnis und verschenkt mein +Geld an fremde Menschen.« + +»Sie ist in der Wirtschaft sehr tüchtig, und man scheint allgemein +zufrieden mit ihrer Küche zu sein«, sagt der Kapitän. »Wollen Sie +es nicht auf eine andere Art mit ihr versuchen? Was Ihre Bäckerei +betrifft, so will ich Ihnen natürlich nichts in den Weg stellen.« + +Wie Herr Reiche im Vorzimmer an Fräulein Spandau, der stillen +Sekretärin, vorbeikommt, sieht er sehr zufrieden aus, als habe der +Kapitän ihm geholfen. Fräulein Spandau nickt ihm lächelnd zu, sie wird +es zwar sehr bedauern, wenn sie mit ihm nicht mehr jeden Tag um ein Uhr +ein paar Worte wechseln kann, doch sie freut sich in seinem Interesse, +daß er zu seinem Beruf zurückkehren darf. + +Fräulein Spandau hat ein blasses flaches Gesicht und dünne aschblonde +Haare, sie ist nicht hübsch, nein, das ist sie nicht. Aber sie +konnte noch nie einem Menschen ihr Mitgefühl versagen. Sie hat sechs +Geschwister und eine kranke Mutter. Wenn sie heimkommt, beginnt sie zu +kochen, zu waschen und zu nähen, und sie ist immer froh, wenn ihr nicht +weniger als fünf Stunden Schlaf verbleiben. Eine geordnete Bäckerei +mit weißgestrichenen Regalen und frischen Broten scheint ihr wie das +Paradies, der zufriedene Bäckermeister mit der großen, weißen Schürze +wie der gute Petrus, auch wenn er Sommersprossen und rote Haare hat. + +Wird Reiche nun in das Paradies einziehen? Ach -- an Fräulein Spandau +vorbei geht auch die Kantinenwirtin zum Kapitän, diesmal in eigener +Angelegenheit. Auch sie kehrt befriedigt zurück. Und es bleibt alles +beim alten. Der Kapitän hat seinen Platz in der Mitte nicht verlassen. + +Selbst ein Herr Gregor hatte niemals Grund, sich über den anfangs +so gefürchteten Kapitän zu beklagen. Herr Gregor gehörte zur +Generaldirektion und der Kapitän zum Hafen, und so ging jeder seiner +Wege, bis die Verhaftung erfolgte und Herrn Gregors Posten frei wurde. + +Warum sollte der junge +Dr.+ Felix Friemann nicht auf diesem Platz +seine guten Kenntnisse erproben? Hatte er sich nicht seit Monaten im +Hafen bewährt? Oder konnte jemand Klagen des Kapitäns nachweisen? + +Die Frage war wichtig genug, um einen Besuch des Generaldirektors beim +Kapitän herbeizuführen. + +Fräulein Spandau lauscht ängstlich auf die laute Stimme Joachim +Beckers. + +»Können Sie mir auch nur ~einen~ praktischen Erfolg nachweisen?« +fragt er erregt. + +»Er steht am Anfang«, sagt der Kapitän. »Wir müssen Nachsicht üben.« + +»Nachsicht, Nachsicht! Ich brauche praktische Arbeiter. Ich muß +Positives leisten und kann mich nicht mit Theorien abgeben.« + +»Seine Ideen sind nicht schlecht«, wendet der Kapitän ein. »Er macht +zuweilen Vorschläge, die bei ihm überraschen.« + +»Haben Sie schon ~einen~ davon ausführen können?« + +»Nein, das nicht, weil er noch nicht fähig war, über die Idee hinaus +einen Plan auszuarbeiten. Vielleicht lassen wir ihm Zeit dafür.« + +»Bitte«, sagt der Generaldirektor kurz. »Dann beantragen Sie seine +Weiterarbeit mit der Begründung, daß er Ihnen unentbehrlich sei.« + +So wurde auch diese Frage zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst. + +Der Kommerzienrat sucht selbst den Kapitän auf, um ihm zu gestehen, wie +sehr er sich über die Erfolge seines Sohnes freue. + +Der Kapitän meint: »Ja, er wird sich mit dem Hafen entwickeln können. +Hier bei der praktischen Arbeit findet er am besten den Übergang aus +den Theorien.« + +»So ist es«, sagt der Kommerzienrat nun vollkommen befriedigt, weil er +sieht, daß der Kapitän seinen Platz in der Mitte behauptet. »Wir haben +uns früher unsere Ansichten aus der Praxis gebildet, heute ist es wohl +so, daß man mit ihnen hineingeht und versucht, ob sie auch passen.« + +Seine Kritik versagt selbst vor dem Sohne nicht, aber er ist geneigt, +den Zeitgeist für das negative Resultat verantwortlich zu machen. + + + + + Die Vergangenheit + + +Wenige Wochen nach seinem ersten Besuch ist der Kapitän genötigt, noch +einmal in der Mühle vorzusprechen. + +Es handelt sich um eine große und wichtige Getreideladung, die während +unsachgemäßer Lagerung gelitten hat und gereinigt werden soll, ehe sie +weitergeht. + +Herr Pohl hat zwar zurzeit wenig Raum. Aber er erklärt sich schließlich +bereit, seine Einrichtungen dafür zur Verfügung zu stellen, wenn der +Kapitän die Arbeit überwachen läßt. + +Der Kapitän will selbst von Zeit zu Zeit das Getreide prüfen. So kommt +es, daß er nun oft jenseits des Kanals zu sehen ist. + +Wenn er Irmgard Pohl begegnet, so grüßt er sie mit seinem eckigen +Hutschwenken wie einen alten Freund. Sie hat keine Zeit, sich in eine +Unterhaltung mit ihm einzulassen, wenn er im dienstlichen Eifer um +das Bureau der Mühle stapft. Er nimmt ein Lächeln von ihr mit in das +Gebrumm der Maschinen, und sie sagt bei Tisch zum Vater: + +»Ich habe den Kapitän eben hier getroffen.« + +»Ja«, erwidert er. »Der hat jetzt öfter bei uns zu tun.« + +Frau Pohl erkundigt sich nach dem Mann, welche Stellung er im Hafen +bekleide, und -- nach kurzer Pause -- ob er verheiratet sei. + +Vater und Tochter wechseln einen raschen Blick. Sie geben ihr Auskunft, +und sie mag daraus entnehmen, daß sie es mit dem ersten und wichtigsten +Mann im Hafen, nach dem Kommerzienrat, zu tun habe, denn Joachim Becker +wird in stillem Einvernehmen nicht erwähnt. + +»Siehst du«, sagt Herr Pohl auf dem Weg ins Bureau zu seiner Tochter. +»Die Mutter hat einen Heiratskandidaten für dich.« + +»Ja«, sagt Irmgard. »Sie beschäftigt sich jetzt damit. Neulich fragte +sie mich, wie alt ich sei. Sie war lange sehr nachdenklich, als ich es +ihr wahrheitsgemäß gesagt hatte. Es wird immer schwerer, ihre Fragen zu +beantworten.« + +Herr Pohl nickt. »Sie möchte, daß du mehr unter junge Leute kommst, und +erklärte sich sogar bereit, Gäste zu bewirten.« + +Sie sind vor dem Bureau angekommen. Irmgard macht keine Anstalten, zu +ihm hineinzugehen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wendet sich halb +zu ihrer Tür, dann sagt sie, ehe sie im Hauptkontor verschwindet: + +»Wenn ihr wollt, könnt ihr ja den Kapitän einladen!« + +Michael Pohl sieht ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach und geht +mit unzufriedenem Gesicht zu seinem Schreibtisch. + +Der Kapitän ist ihm nicht unsympathisch. Seinetwegen war er auch der +Hafengesellschaft entgegengekommen, denn er kann einem guten Menschen +schwer etwas abschlagen, während er sich die schlechten peinlich vom +Halse hält. + +Und gern sieht er es nicht mit an, wie die Tochter im Bureau sitzt und +sich daheim überflüssig fühlt. + +Der Kapitän wäre ihm als Gesellschafter bei einer guten Zigarre +gleichfalls recht. Aber nun kann er die Einladung verteufelt schwer +anbringen. + +Er legt die Hand wuchtig auf den Tisch. Seine Stirn hat sich bedenklich +gerötet. + +Zum Kuckuck, soll er seine Tochter jetzt vielleicht öffentlich +ausbieten? Nein, mit ~seiner~ Einladung kommt der Kapitän nicht in +sein Haus. Das ist seine Ansicht, klipp und klar. + +Und er begegnet dem Hafendirektor, der ihm bisher wahrhaftig keinen +Anlaß zu Klagen gab, von nun an mit kühlen, fast finsteren Mienen. + +Die Arbeiten sind auch beendet, die Abrechnungen erledigt. Der Kapitän +hatte sich mehr als nötig selbst darum bemüht. Nun dürfte er eine Weile +auf der anderen Seite des Kanals bleiben. Herr Pohl atmet erleichtert +auf. + +Irmgard Pohl hat selbst eingesehen, daß ihr einige Abwechslung gut +täte. Sie will zunächst einmal in ein Konzert gehen. Der Vater kann +sich noch immer nicht entschließen, seine Frau an den Abenden allein +zu lassen, sonst hätte er sie vielleicht begleitet, wie er es früher +zuweilen tat, bis Joachim Becker ihr ein besserer Gesellschafter wurde. + +Er hilft ihr in den Pelz und begleitet sie bis zum Tor. Ihr Gesicht +ist von innen erwärmt, und wie sie nun, hoch und schmal, mit behenden +Schritten von ihm fortgeht, sieht er ihr mit unverhülltem Vaterstolz +nach. + +Der Konzertsaal ist nicht sehr weit entfernt. Irmgard nimmt den Weg +als willkommenen Spaziergang. Es ist unvermeidlich, daß sie wieder +Erinnerungen nachhängt, denn sie hatte am Anfang ihrer Bekanntschaft +mit Joachim Becker auch einige Male versucht, ihn für gute Musik zu +interessieren. Er verstand wenig davon, ließ sich aber willig führen, +und dann waren sie taumlig von den Tönen durch die Straßen gesegelt. +Im Frühjahr und im Sommer fanden sie später andere Verwendung für ihre +Abende. Irmgard hatte jedoch schon viele Pläne für den neuen Winter +geschmiedet, der dann so trostlos und einsam verlief. + +Bei solchen Träumereien achtet man nicht auf die Umwelt. Der Kapitän, +der ihr entgegenkommt, kann ungesehen umkehren und eine ganze Weile +hinter ihr hergehen. + +Vielleicht überlegt er, ob er sie noch ansprechen soll. Er zögert +sehr lange. Das mag an ihrem leichten und wiegenden Gang liegen. Sie +hat nicht sonderlich kleine, aber sehr schmale Füße, die sie in ihrer +Verträumtheit langsam über das bereifte Pflaster führt. + +»Werden Ihnen in diesen dünnen Schuhen nicht die Füße erfrieren?« +sagt er schließlich dicht neben ihr, während er die Hand aus der +Manteltasche zieht, um sie nach dieser burschikosen Anrede zu begrüßen. + +Er hat sie selbstverständlich sehr erschreckt. Aber sie geht rasch +auf seinen Ton ein und sagt: »Wie hätten Sie die schönen neuen Schuhe +bewundern können, wenn sie in solchen Ungetümen von Überschuhen +steckten?« + +Sie mögen beide jetzt zu gleicher Zeit erkennen, daß das der geeignete +Verkehrston für sie ist. Menschen mit Enttäuschungen, die nicht +verbittern wollen, wählen gern den leichten Spott zum Verdecken ihrer +Grundstimmung. + +Nun haben sie das richtige Fahrwasser gewonnen und langen in munterer +Unterhaltung vor dem Konzerthaus an. Der Kapitän macht keine Anstalten, +sich zu verabschieden. + +Sie sieht ihn belustigt an: »Ja, wollen Sie denn auch hierher?« + +»Nein, das heißt ja, jetzt will ich es auch. Sie haben mich auf eine +ausgezeichnete Idee gebracht.« + +Sie ist einen Augenblick verlegen und bleibt stehen. + +»Ich hoffe doch, Sie wissen, mit wem Sie hier hineingehen, und daß es +für Sie peinlich sein kann?« fragt sie und fühlt, wie ihr die Röte +langsam ins Gesicht steigt. + +»Ich weiß, was ich tue«, sagt er fast ärgerlich. »Und ich wüßte mir +keine angenehmere Gesellschaft.« Seine Worte verlieren dabei den Sinn +eines Komplimentes. + +»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht verstimmen wollen. Zuweilen muß +man sich selbst daran erinnern, damit man nicht zu übermütig wird. +Natürlich werden Sie wissen, was Sie zu unternehmen haben, um keinen +Menschen zu kränken.« + +»Wovon sprechen Sie, Fräulein Pohl?« fragt er plötzlich sehr streng. + +»Wovon?« fragt sie verwirrt. »Von dem, was Sie ebenso wissen wie alle +anderen, die mich kennen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß die +Menschen über das Unangenehme schweigen. Nur das Angenehme behalten sie +für sich. Warum soll ich diskreter sein als die anderen, zumal es sich +hier um mich selbst handelt?« + +»Nur mit dem Unterschied, daß Sie heute noch darüber sprechen, während +die anderen längst schweigen. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich +versuche, den Nachbarplatz zu bekommen.« + +Sie folgt der Aufforderung wie ein gestraftes Schulmädchen. Als sie +von ihrer Tasche hochblickt und die strengen Falten in seinem Gesicht +bemerkt, muß sie lächeln. Sie weiß keine Erklärung dafür, daß sie sich +auf einmal unsäglich erleichtert fühlt. + +Er geht stumm neben ihr her, während sie sich der Billettkasse nähern. +Sie ist ihm so dankbar und möchte ihm irgend etwas Gutes sagen. + +Während sie ihn betrachtet, wie er zum Schalter herabgeneigt ist und in +seiner etwas umständlichen Art verhandelt, muß sie daran denken, daß +ihr die Achtung der Menschen doch nicht so gleichgültig ist, wie sie +es sich immer eingeredet hatte. Es ist sehr schön, zu wissen, daß man +trotzdem nicht von ihnen gerichtet wurde. + +Der Kapitän kommt zurück. Er hat drei Karten in der Hand. + +»Der Nachbarplatz war schon vergeben«, sagt er und blickt unschlüssig +auf die unverwendbare Karte. + +»Geben Sie, bitte!« sagt sie. Er läßt sich die Karte aus der Hand +nehmen. Sie steckt sie in ihre Handtasche. »Die hebe ich mir auf zum +Andenken an einen guten Mann.« + +»Sie sollten sie lieber einem armen Menschen schenken, der sich keine +Musik leisten kann«, erwidert er, auch jetzt nicht ohne Strenge. + +»Mein Gott, Herr Schulmeister, nun könnten Sie wieder etwas +freundlicher sein. Natürlich haben Sie recht.« Sie sieht sich suchend +um. + +Er lächelt. »Gehen wir wieder vor den Eingang! Hier haben die Leute +schon das Geld in der Hand.« + +An der Tür begegnet ihnen ein junger Mensch mit rotgefrorenen Händen. +Ein armer Musikstudent vielleicht. + +Irmgard geht schüchtern auf ihn zu und sagt leise: »Ach verzeihen Sie, +wollen Sie vielleicht ...« + +Sie hält ihm die Karte hin. Aber ehe sie ausgesprochen hat, sagt er +barsch: »Danke«, und geht beschleunigt weiter. + +Erschreckt zieht sie die Hand zurück und gesellt sich kleinlaut +zum Kapitän. Der hebt die Schultern hoch, wie jemand, der einen +Bubenstreich ausgeheckt hat und nun flüchtet. Er nimmt ihren Arm, und +sie schlüpfen vor die Tür. + +»Aber das haben Sie ja ganz verkehrt angefangen«, sagt er draußen mit +seinem aufgeräumten trocknen Lachen. »Der Mann hat natürlich gedacht, +daß er Ihnen die Karte abkaufen soll, und er hat höchstens das Geld für +die Galerie. Soll ich es einmal versuchen?« + +»Bitte, wenn Sie es besser verstehen!« + +Sie beobachten nun beide die Passanten. Ein paarmal sieht der Kapitän +sie fragend an. + +»Sie können doch nicht irgendeinem Mann, der vielleicht zu einem +Rendezvous gehen will, eine Konzertkarte aufschwatzen!« Jetzt lacht sie +ihn aus, weil er es auch nicht geschickter anzufangen weiß. + +Zufällig fahren gerade viele Autos vor. Elegante, plaudernde Menschen +gehen in das Tor. Es ist inzwischen spät geworden. Sie müssen eilen, um +den Beginn nicht zu versäumen. + +Er gibt es auf. »Ich habe mir das Verschenken wirklich leichter +gedacht«, sagt er resignierend. + +Schließlich nimmt sie die Karte wieder an sich, und sie begeben sich +hinein. + +»Ach ja, Beethoven kann man immer wieder hören«, sagt eine Frau +sehr laut neben ihnen, als wolle sie sich vor aller Öffentlichkeit +entschuldigen, daß sie noch zu so alter Musik geht. + +Die beiden sehen sich belustigt an. Sie sind in der Laune, die alles +mit einem heitern Spott betrachtet. + +Aber dann sitzen sie auf ihren Plätzen und werden schon bei den ersten +Tönen, die vom Stimmen der Instrumente in das schwatzende Publikum +fallen, sehr still. + +In der Pause gehen sie lange schweigsam auf und ab. Nach diesem +gemeinsamen Erlebnis will ihr neuer Verkehrston doch nicht mehr passen. + +Endlich beginnt er das Gespräch damit: »Ja, die Deutschen müssen sich +bei der Musik immer etwas denken. Sie machen sich zu jeder Symphonie +und selbst zu den Walzern einen Text.« + +Irmgard, die von den Tönen sehr angeregt wird und noch im tiefen +Nachdenken ist, sagt: + +»Sie sprechen von den Deutschen, als gehörten Sie nicht dazu.« + +»Verzeihen Sie, ich habe mich nicht korrekt genug ausgedrückt, ich +hätte sagen müssen ›wir‹ Deutschen.« + +»Ja, sehen Sie, das klingt schon mehr nach persönlichem Bekenntnis, und +darum vermeiden Sie es.« Sie kann es sich selbst nicht erklären, warum +sie ihm jetzt seine Schwäche vorhalten muß. + +»Sie haben recht,« erwidert er, »man gewöhnt sich daran, seine Gefühle +vor den Menschen zu verbergen.« + +Sie sehen einander einen Augenblick schweigend an. Da sagt sie +unvermittelt: + +»Sie haben eine Geige, und ich würde gern wieder Klavier spielen, wenn +Sie manchmal zur Begleitung herüberkämen.« + +Er wird nicht verlegen, wie es sonst seine Art ist, wenn man sein +Steckenpferd erwähnt. + +»Ja,« sagt er, »das will ich gern tun. Bestimmen Sie die Stunde!« + +Dann beginnt er, ehe sie geantwortet hat, sehr ausführlich davon +zu erzählen, wie andere Völker die Musik auffassen, die Südländer +etwa oder die Chinesen. Am wenigsten könne man als Europäer bei der +Negermusik etwas empfinden. + +Sie hört ihm sehr unaufmerksam zu. Er hat einen gleichmäßigen, +einschläfernden Tonfall. Es wäre ihr viel lieber, wenn er jetzt +schwiege. + +Sie muß daran denken, daß Joachim Becker sie niemals durch seine +Anwesenheit oder durch überflüssige Worte störte wie dieser gebildete +und rücksichtsvolle Mann, der von der Musik sehr erschüttert ist +und trotzdem so viele Worte macht. Aber sie ist gerecht genug, sich +einzugestehen, daß der ungeliebte Mensch eben nichts zur Zufriedenheit +machen kann, der geliebte aber selbst nach den schlechtesten Handlungen +noch in guter Erinnerung bleibt. + +Die Musik läßt sie diese Betrachtungen wieder vergessen. Und am Schluß, +nach dem ernüchternden Handgemenge an der Garderobe, sind sie wieder in +ihrem Fahrwasser. Irmgard wird viel betrachtet, der Kapitän nimmt mit +ironischen Bemerkungen davon Notiz. + +Sie hat unwillkürlich das Gefühl, daß sie noch etwas an ihm gutzumachen +habe. Es muß ihr immer erst einfallen, sie ist gewissermaßen mit dem +Verstande und nicht mit dem Herzen gut zu ihm. + +»Sie sind sehr weit gereist und haben viele Menschen und Gebräuche +kennengelernt. Auch mein Vater wird sich auf eine Unterhaltung mit +Ihnen freuen. Kommen Sie morgen abend!« sagt sie freundlich. + +»Danke, gern.« + +»Gegen sieben, zu einem Imbiß?« + +»Ja, wie Sie bestimmen. Noch weiß ich nicht, wo ich heute etwas zu +essen bekomme.« + +»Mein Gott«, ruft sie erschreckt aus. »Haben Sie heute abend noch nicht +gegessen?« + +»Ich wußte doch nicht, daß mir nur Musik vorgesetzt wird«, erwidert er +lächelnd. + +»Aber für heute kann ich Sie nicht einladen.« + +»Beileibe nicht. Doch wenn Sie mir noch bei einem Abendbrot +Gesellschaft leisten würden ...« + +»Nein«, sagt sie entschlossen. + +»Das ist sehr schroff. Die jungen Damen sind heute so selbständig, daß +ich nicht glaubte, gegen die guten Sitten zu verstoßen.« + +»Gewiß nicht!« erwidert sie. »Frauen, die einen guten Ruf haben, +dürften es vielleicht annehmen, die mit einem schlechten noch eher. +Aber wer sich sein Ansehen zurückerobern muß --« + +»Ja, kommen Sie nur, Sie Moralistin!« Er läßt sie den Satz nicht zu +Ende sprechen und begleitet sie unter vielen Erzählungen und Scherzen +nach Haus. + +»Im übrigen haben Sie ja Tee zu Haus, und in der Kantine wird auch noch +etwas für Sie zu essen sein«, sagt sie einmal zwischendurch. Er stellt +fest, daß sie sich sehr besorgt mit seinem Hunger beschäftigt, und wird +immer lebhafter. + +An der Föhrbrücke verabschieden sie sich. Sie fühlt seinen schmerzhaft +festen Händedruck noch, als sie in das erhellte Wohnzimmer tritt, wo +sie den Vater über der Zeitung antrifft. + +Er geht ihr entgegen und hilft ihr beim Ablegen. Es fällt ihr auf, daß +er sehr ernst ist. Sie war auch von ihm mit vielen guten Wünschen und +unter Scherzen entlassen worden. Es scheint ihr, daß alle Menschen +heute gut und heiter waren. + +Sie legt daher ihren Arm um seine Schulter und lehnt das heiße Gesicht +an seine Wange. + +»Noch mein Kamerad?« fragt sie. + +»Ja«, sagt er lächelnd. Er selbst hatte ihr vor kurzem nach einer +tüchtigen Arbeit im Bureau diesen Titel gegeben. Nun bekommt er ihn +zurück. + +Er erkundigt sich, ob sie Hunger habe, und macht eine Bewegung zur Tür, +als wolle er sie selbst noch bewirten. + +Sie lehnt ab und beginnt zu berichten. Sie habe den Kapitän getroffen. +Er sei auch im Konzert gewesen. Unwillkürlich sagt sie nicht, daß er +ihretwegen mitgekommen sei. Sie überlegt, wovon sie zuerst erzählen +solle, vom Eindruck der Musik, vom Publikum oder vom Kapitän. Sie ist +ungewöhnlich plauderlustig und in einem inneren Gleichgewicht, wie sie +es seit Joachim Beckers Zeit nicht mehr kannte. + +Ein Geräusch, das vom Schlafzimmer herüberdringt, läßt sie aufhorchen. + +Herr Pohl rückt verlegen auf seinem Sofa. + +»Es ist der Junge«, sagt er zögernd. »Wir haben den Arzt schon kommen +lassen. Er hustet und hat leichtes Fieber.« + +Irmgard starrt ihn fassungslos an. Hier sitzt sie in ihrem silbergrauen +leichten Kleid, so reizvoll wie seit Jahren nicht, und wird mit dieser +Nachricht empfangen. + +Sie ist nicht traurig, sondern fast ärgerlich. Als habe man ihr +rücksichtslos ein Vergnügen verdorben. + +»Es wird irgendeine gewöhnliche Kinderkrankheit sein«, meint Herr Pohl +beruhigend. + +»Dann werde ich mich umziehen und die Mutter ablösen«, sagt sie still. + +»Nein.« Er hält sie auf ihrem Stuhl zurück. »Ich wollte ohnehin in +diesen Tagen mit dir über die Mutter reden. Sie wird jetzt niemand zum +Knaben lassen. Du kennst ihren Eifer.« + +Er schweigt und holt dann sehr weit aus: »Wie du weißt, stammt ihr +Vater aus einer Hugenottenfamilie, und dieser Fanatismus mag ihnen von +den Ahnen her im Blute liegen. Wir können nicht dagegen ankämpfen. +Denn durch Widerstand unterstützen wir ihren Wahn. Nun scheint sich +in letzter Zeit ihr Erinnerungsvermögen viel mehr gestärkt zu haben, +als wir ahnen. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß sie der Wahrheit +schon sehr nahe ist, aber absichtlich nicht mehr fragt, weil sie sich +fürchtet.« + +Irmgard, die immer eine so aufmerksame Zuhörerin war, schweift mit +ihren Gedanken ab und vermag der Rede des Vaters nicht mit Interesse +zu folgen. Die vielfältigen Klänge des Orchesters, sanfte Tonfolgen, +Beethovensche Akkorde mit ihren dunklen Untertönen liegen ihr in den +Ohren. Sie hat Mühe, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben. Es drängt sie, +einherzugehen, leicht, mit schwebendem Rhythmus im Gang. + +Sie versteht nicht, warum der Vater gerade heute mit ihr darüber +sprechen muß. Merkt er nicht, daß sie in die »Welt« zurückgekehrt ist, +daß sie endlich, endlich mit der Vergangenheit abschließen will? Großer +Gott, daß sie einmal von Krankheit, Wahn und Kindersorge nichts hören +möchte? + +Sie blickt, ein wenig verträumt und gleichzeitig trotzig, in eine Ecke +des Zimmers, am Vater vorbei und sagt, mit einer fremden kühlen Stimme: +»Was soll ich denn tun? Ich kann ja verreisen, wenn du willst. Ja --« + +Sie springt auf und geht nun doch im Zimmer umher. + +»Reisen! Ich werde mir die Welt ansehen. Du sagtest neulich, der Mensch +muß seine alte Umgebung verlassen, um neu anfangen zu können. Gut, ich +will mir die Welt ansehen!« + +Sie hat die Arme auf dem Rücken ineinandergelegt und bleibt plötzlich +vor dem Vater stehen, während der weite silbrige Rock noch um ihre +schmalen Beine schwebt. + +»Komm einmal hierher!« sagt Herr Pohl in gutmütig befehlendem Ton +und macht ihr den Sofaplatz an seiner Seite frei. Etwas an seiner +Tochter gefällt ihm nicht. Es ist ein Zuviel in den Bewegungen, eine +Übertreibung im Ton. + +Er legt die Hand um ihre abfallenden Hüften und zuckt unwillkürlich vor +der weichen Seide zusammen, die seine Fingerspitzen so unendlich lange +nicht berührten. Wieviel Härte und Strenge, wieviel Entsagung ist doch +immer in seinem Hause gewesen, wo nur die Arbeit regiert. Er zieht die +Finger wieder fort und rückt ein wenig ab. + +»Ja,« sagt er langsam, »du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und das +ganze Leben liegt noch vor dir. Wir beide, deine Mutter und ich, sind +nun so weit --« Er stockt. + +»Nein, nicht erst jetzt«, setzt er mit leichter Bitterkeit fort. »Wir +waren immer so, daß wir nicht uns selbst, sondern den Pflichten lebten. +Man kann auch darin zu Egoisten werden. Man bildet sich ein, für die +anderen, für die Kinder etwa, zu leben, und hat sich rücksichtslos an +die Arbeit gehalten, um den Mangel an Lebensfreude nicht einzugestehen. +Siehst du, darin haben wir an dir gesündigt.« + +»Das darfst du von dir nicht sagen, denn du bist immer gut gewesen. Und +mit dir konnte man auch manchmal lustig sein.« + +»Manchmal!« wiederholt er. In seinem großen braunen Gesicht mit den +grauen, aufschimmernden Haaren, ist irgend etwas schief gezogen. Er +versucht krampfhaft, es fortzulächeln. »Was ich dir bisher in diesem +Arbeitshof geboten habe, war nicht die Freude.« + +»Vater, fast ein Jahr lang bin ich sehr glücklich und jung gewesen. Und +wenn es dann anders kam, so war ich daran schuld.« + +»Nein,« erwidert er, »jetzt weiß ich, daß wir schuld sind. Mußtest +du in jener Zeit nicht von zwanzig Jahren ohne Zärtlichkeit und +Lebensfreude erlöst werden und alles einholen, was in dir ungehoben +blieb? Wenn wir ein klares Glas aus kalter Luft in die Wärme tragen, +so wird es blind. Aber bleibt es nicht blank, wenn es das Klima nicht +wechselt? Die Kinder, die Wärme und Heiterkeit in reichem Maße bei den +Eltern haben, werden selten in Gefühlsüberschwang geraten, der die +Grenzen verliert.« + +Irmgard lehnt den Kopf gegen das Polster und läßt ungehindert aus den +weitgeöffneten, lächelnden Augen Tränen tropfen. + +»Und nun sehe ich mit an, wie du dich um den Knaben quälst. Du wärst +vielleicht so weit, ihn der Mutter allein zu überlassen, weil er ihr +einziger Lebensinhalt ist und du jung und gesund genug wärst, um noch +auf ein eigenes Leben zu hoffen. Erst wenn man von sich selbst nichts +mehr erwartet, versenkt man sich vollkommen in seine Kinder. Aber +da ist dir von uns dieses Pflichtbewußtsein eingeimpft. Du glaubst, +die Achtung vor dir verlieren zu müssen, wenn du dich mit deinen +Muttergefühlen von ihm befreist.« + +Er spricht das alles vor sich hin, während sie still neben ihm sitzt. +Jetzt wendet er sich um und blickt offen in ihr tränenüberströmtes +heißes Gesicht. + +»Glaubst du,« fragt sie, während sie die Augen langsam schließt, »daß +es nicht unnatürlich wäre, wenn ich, wenn ich --« + +»Wenn du lebensfreudig genug wärst, um mit der Vergangenheit +abzuschließen?« + +Er versucht, zu lächeln und in leicht scherzendem Ton zu sprechen. »Du +gibst uns das -- das Produkt unserer falschen Erziehung als Tribut +zurück und beginnst, dein junges Leben neu und richtig aufzubauen. +Jetzt wissen wir wohl, wie wir es machen müssen?« + +»Ja«, sagt sie leise. »Alle Sorgen werden heute von mir fortgenommen.« + +Sie denkt an den Kapitän, an die bewundernden Blicke der fremden +Menschen, an die Musik, die von ferne wieder aufklingt, an ihre eigenen +leichten wiegenden Schritte. + +Sie springt auf und gleitet mit den Händen über die weiche Seide ihres +Kleides, während sie sich in der Mitte des Zimmers hinstellt und mit +glänzenden Augen in die Luft blickt. + +»Jetzt --« sagt sie, als wäre sie voller Unternehmungslust, »jetzt muß +ich wohl schlafen gehen.« + +Herr Pohl steht auch auf und will sie zur Tür begleiten. Da schlingt +sie ihren Arm noch einmal um ihn und eilt davon. + +Er lauscht gedankenvoll ihren Schritten. Dann nimmt er langsam die Hand +von der Klinke. + +›Wir wissen wohl, wie wir es jetzt machen müssen,‹ denkt er, ›aber wir +haben nicht selbst die Entscheidung --‹ + +Es ist fast Mitternacht. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche +mehr herüber. Er faltet seine Zeitung zusammen und geht hinein. -- + + + + + Der Sohn + + +Joachim Becker erscheint am nächsten Morgen im Verwaltungsgebäude, um +mit dem Hafendirektor einiges zu besprechen. + +Der Kapitän muß von Fräulein Spandau erst gesucht werden. Der +Generaldirektor geht solange in sein Zimmer, setzt sich vor den +Schreibtisch und kann es sich nicht versagen, in die umherliegenden +Papiere einen Blick zu werfen. + +Er ist so vertieft, daß er fast aufschreckt, als das Telephon neben ihm +rasselt. Er nimmt den Hörer ab und murmelt ärgerlich ein »Hallo« in den +Apparat. + +»Herr Kapitän?« hört er eine fragende Stimme. + +Er weiß nicht sofort, woher ihm dieser Tonfall bekannt ist, aber er ist +irgendwie davon betroffen und verliert so weit seine kühle Überlegung, +daß er möglichst tonlos in der Art des Kapitäns ein »Ja« murmelt. + +»Hier Irmgard Pohl«, vernimmt er nun, und es fällt ihm ein, daß er noch +niemals mit ihr telephoniert hat. Ihre Stimme wirkt in der Verwandlung +durch den Draht sehr tief und voll. + +Seine Herzschläge werden heftiger und rascher. Er ist ärgerlich +darüber, zumal ihm bewußt wird, daß er jetzt nicht länger hören darf, +was für ihn nicht bestimmt ist. + +»Ich muß Sie leider bitten, Herr Kapitän, heute nicht zu kommen. Unser +Michael hat den Keuchhusten. Wir möchten doch vermeiden, daß Sie die +Krankheit etwa zu den Kindern der Schiffer im Hafen bringen --« + +Er wirft den Hörer hin und rennt erregt im Zimmer umher. + +›Ist es nötig,‹ denkt er, ›daß der Kapitän mehr als das Geschäftliche +drüben erledigt? Was hat er mit der Tochter zu tun? Und was sind das +für Kinderkrankheiten drüben? Wie kommen Kinder in die Mühle?‹ + +Er wird immer ärgerlicher, weil er hier vor etwas Fremdem steht, vor +einer Tatsache, die so unerwartet über ihn herfällt. Und weil er fühlt, +daß das Vergangene ihn doch nicht so unberührt läßt. Wäre er sonst +dermaßen erregt? Er ist unerklärlicherweise voller Zorn auf den +Kapitän. + +Der kommt ahnungslos herein, begrüßt ihn mit dem stets freundlichen +Lächeln im braunen, hageren Gesicht und spricht gleich von den +geschäftlichen Dingen. + +Joachim Becker hört unaufmerksam zu. Er ist sehr nervös und muß sich +zusammennehmen, um nicht ungerechte, ärgerliche Bemerkungen zu machen. +Außerdem fürchtet er das erneute Klingeln des Telephons. + +Die Sache ist ihm verdammt peinlich. Er sieht ein, daß er nicht +schweigend darüber hinweggehen kann. Schließlich sagt er: + +»Übrigens -- ich habe da vorhin eine telephonische Bestellung für Sie +entgegengenommen. Von der Mühle drüben hat jemand angerufen, Sie +möchten nicht hinkommen, es hätte jemand den Keuchhusten --« + +Er ärgert sich über das doppelte »jemand«, das ihm zu betont +unpersönlich scheint. Dem Kapitän kann es nicht entgangen sein. + +»Das ist ja sehr unangenehm,« meint der Kapitän, »sehr unangenehm.« + +»Na, Sie werden sich doch nicht gleich den Keuchhusten holen«, sagt der +Generaldirektor laut, mit übertriebenem Gelächter. + +Der Kapitän lächelt höflich. »Nicht für mich natürlich. Ja, das tut mir +sehr leid.« + +Joachim Becker erhofft immer noch eine Erklärung. Er kann das Gefühl +nicht loswerden, daß der Kapitän sie ihm absichtlich vorenthält. + +»Da drüben sind anscheinend Kinder? Ich dächte doch, daß Erwachsene +keinen Keuchhusten haben?« fragt er endlich. + +»Allerdings nicht«, meint der Kapitän lächelnd. »Ja, ein Sohn ist da. +Ein Knabe, von etwa zwei Jahren glaube ich.« + +»So --« Der Generaldirektor fühlt, daß seine Ohren brennen und wendet +sich halb ab. In seiner Verlegenheit zieht er die Uhr und sucht seine +Aktentasche, um in sein Stadtbureau zurückzukehren. + +Obgleich das konziliante Lächeln im verschlossenen Gesicht des Kapitäns +ihn bis zum Äußersten reizt, gibt er ihm sehr liebenswürdig zum +Abschied die Hand. + +»Ja, was mir eben einfällt«, sagt er an der Tür. »War die alte Frau +Pohl drüben nicht gelähmt?« + +»Ich hörte auch einmal davon«, erwidert der Kapitän. »Soviel ich weiß, +ist sie jetzt gesund.« + +»Soso, das ist ja sehr erfreulich.« Er geht mit langen Schritten, ohne +sich umzusehen, zu seinem Wagen. + +Unterwegs rückt er auf den Polstern hin und her. Plötzlich lacht er +nervös auf. + +Der Chauffeur macht eine kleine Bewegung, als fühle er sich angerufen, +fährt aber in steifer Haltung weiter. + +›Zum Teufel!‹ denkt der Generaldirektor, ›was ist das für eine +verrückte Geschichte! Ich könnte doch wahrhaftig fast den Kerl da vorn +fragen, ob es möglich ist, daß ein altes Weib von beinahe fünfzig +Jahren, das lange Zeit gelähmt und wahnsinnig war, noch Kinder kriegen +kann.‹ + +Und dann rechnet er und überlegt, ob in seiner Umgebung nicht ein +einziger Mensch ist, der es ihm gesagt haben könnte, wenn dieser Junge +wirklich -- Er stellt fest, daß er ganz allein ist und daß alle, denen +es etwa bekannt war, gerade ihm gegenüber diskret schweigen mußten. + +Auch der Kapitän ist mit dem Gespräch nicht zufrieden. Er kann nur +annehmen, daß Irmgard Pohl ihm selbst die Mitteilung machen wollte. +Und nun sollte sie mit dem gesprochen haben, den sie gerade jetzt zu +vergessen im Begriff ist? + +Während er nervös umherläuft und überlegt, was er zu unternehmen habe, +vergißt er sogar, daß er nun um den Besuch gebracht wird. Er war hier +in heiterer Stimmung spazierengegangen und hatte sich darauf gefreut. + +Da liegen seine Papiere und warten auf ihn. Er hat im Grunde keine +Zeit, sich während des Dienstes mit persönlichen Dingen abzugeben. Aber +er nimmt langsam den schief eingehängten Hörer ab und läßt sich mit +Irmgard Pohl verbinden. + +Sie meldet sich von der Wohnung aus, und er glaubt zu entnehmen, daß +sie in Ungeduld sei. + +»Hier v. Hollmann«, sagt er so laut, daß seine heisere Stimme mehr +Klang bekommt. Wenn er telephoniert, so ist es auch immer, als riefe er +gegen einen mächtigen Sturm, der ihm die Verständigung erschwert. + +Irmgard Pohl scheint im ersten Augenblick nicht zu wissen, mit wem sie +es zu tun hat, denn sie kannte ihn immer nur als den »Kapitän«. Dann +begrüßt sie ihn sehr herzlich und bedauert, daß die Verbindung vorhin +gestört worden sei. + +Ja, das bedaure er auch sehr lebhaft, noch mehr jedoch die Mitteilung +von der Erkrankung des Knaben. + +So, nun ist er im Bilde. Er atmet erleichtert auf. Aber blitzschnell +fährt es ihm doch durch den Kopf, während er sich nach Fräulein Pohls +Befinden erkundigt, daß der Generaldirektor aus irgendwelchen Gründen +eine Täuschung beging. + +Noch weiß er nicht, ob zu persönlichen oder geschäftlichen Zwecken. +Jedenfalls findet er, daß es nicht leicht ist, diesem Mann gegenüber +immer gerecht zu bleiben. + +Irmgard nimmt alle guten Wünsche des Kapitäns entgegen und vertröstet +ihn mit ihrer Musikstunde auf spätere Wochen. -- + +Es ist nicht mehr viel von der gestrigen heiteren und leichten Stimmung +in ihr. Und wenn zuweilen noch einige Harmonien in ihr Ohr klingen, so +werden sie bald von dem furchtbaren Stickhusten des kleinen Kranken +zerstört. + +Frau Pohl, die während der ganzen Nacht in ihrer Angst nicht schlafen +konnte, hat sich nun hinlegen müssen und der Tochter die Pflege des +Kindes nicht ohne Sorge überlassen. + +Irmgard nimmt bei jedem Anfall den kleinen zuckenden Körper in ihre +Arme, und die Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie diese Qual +miterlebt. + +Seine hellblonden geringelten Haare kleben naß auf dem Kopf, das +Gesicht ist rot und verquollen. Er hat nun das Alter erreicht, in +dem jedes Kind Freude bereitet. Fest und drollig trippelte er auf +seinen stämmigen Beinchen umher, seine Stimme war hell, die Aussprache +eigenwillig und ein steter Anlaß zu Belustigungen. + +Noch nie ist so viel in der Familie Pohl gelacht worden wie in den +letzten Monaten, während sich sein Sprachtalent entwickelte. + +Irmgard glaubt, daß sie diesen reizenden, munteren Burschen keineswegs +weniger lieben würde, wenn er ihr Bruder oder gar ein fremdes Kind +wäre. Daß er von offener und heiterer Art ist, kann ihm in diesem Alter +schon nachgesagt werden. Wer sollte wohl solch einen Knaben, der +außerdem schön und anschmiegsam ist, nicht in sein Herz schließen? + +Man kann nicht übersehen, daß er nach Michael Pohl geraten ist. Nun, +da sein Kopf durch das Fieber breiter scheint und die Augen tiefer in +die Höhlen gesunken sind, tritt die Ähnlichkeit noch markanter hervor. +Irmgard denkt, wenn es wahr sei, daß die Gefühle der Mutter Einfluß auf +die Entwicklung der Kinder gewönnen, so wäre hier ein Beweis dafür, +denn sie hatte in jener Zeit fast mehr um den Vater als um Joachim +Becker gelitten. + +Nur der schmale Mund, die Unduldsamkeit und der herrische Ton in der +hellen, lauten Stimme mochten von ihm herrühren. Noch lieben sie alle +diese Eigenschaften an ihm und freuen sich ihres kleinen Tyrannen. + +Jetzt aber liegt er still in den Kissen, sein Atem geht pfeifend und +hastig, und wenn er hochgehoben wird, so schlingt er seine Arme fest um +Irmgards Hals und preßt das zerquälte heiße Gesicht gegen ihre Wange. + +Irmgard ist zu gesund und vernünftig, um auf den Gedanken zu kommen, +daß der Knabe nun so leiden müsse, weil sie gestern im Begriff war, ihn +aufzugeben, oder weil es sie im letzten Jahr immer weniger schmerzte, +wenn die Mutter ihn allein für sich in Anspruch nahm. + +Doch sie hat keine Sehnsucht mehr nach der »Welt«, sie nimmt es als +eine Mahnung hin, daß trotz allem in diesem Hause der Pflichterfüllung +ihr Platz sei. Sie weiß wieder, daß sie im Grunde eine ernste und +arbeitsame Natur ist, die nur zuweilen feiertäglich beschwingt und +gelöst sein will. In der Erinnerung an diesen Abend der Klänge und +der Heiterkeit erkennt sie gleichzeitig, daß sie solcher Stunden auch +bedarf, um nicht wie die Mutter über ihrem Tagewerk zu erkalten. + +Sie beschließt, sobald der Knabe wieder gesund sei -- der Gedanke an +eine ernstliche Gefahr liegt ihr vollkommen fern --, den Kapitän zu +bitten, daß er sie wieder in ein Konzert oder Theater begleite. -- + +Als die Krankheit des Kindes sich steigerte und heftigere Formen +gewann, ließ Schwester Emmi es sich nicht nehmen, zu Herrn Pohl in +das Bureau hinüberzugehen, um dort einige Ratschläge aus ihrer Praxis +niederzulegen. In die Wohnung wollte sie sich »ihrer Kinder wegen« +nicht begeben, so gern sie persönlich geholfen hätte. + +Herr Pohl drückt ihr immer wieder die Hand. Er läuft in diesen Tagen +unruhig und mit vielen Umwegen in seinem Betriebe umher und kann nicht +still in seinem Schreibtischsessel sitzen. Nun schreibt er alles +getreulich auf, was Schwester Emmi ihm diktiert, und sagt kaum ein +Wort. + +Das wäre wohl das letzte, daß er diesen kleinen Kerl verlieren sollte, +den er allmählich ohne viel Aufhebens in sein altes, viel getäuschtes +Herz aufnahm. + +Er begleitet Schwester Emmi bis vor die Tür und gibt beim Abschied ihre +kleine feste Hand langsam frei. Wie er durch den dunklen Korridor zu +seinem Zimmer zurückgeht, stützt er sich ein paarmal mit der Handfläche +schwer gegen die Wand. -- + +Vor der Kantine begegnet Schwester Emmi dem Generaldirektor. Sie +will ihm flink ausweichen, aber er tritt ihr entgegen und sagt sehr +ungehalten: + +»Ich sehe, Sie verlassen hier Ihren Platz!« + +Sie glaubt, daß er sah, woher sie kam, und greift rasch zu einer Lüge. + +»Ich hatte nur in der Mühle für die Verwaltung etwas auszurichten«, +stammelt sie. + +»So. Sie von der Fürsorge hätten am wenigsten Ursache, die ansteckende +Krankheit von drüben hierher zu verschleppen. Oder ist die Gefahr +vorüber?« fügt er etwas milder hinzu. + +Es fällt ihr ein, daß es sich doch eigentlich um seinen eigenen Sohn +handele und daß die Besorgnis ihr vor dem Generaldirektor zur Ehre +gereichen müsse. Sie antwortet daher mit betrübtem Blick: + +»Leider nein. Es steht sehr schlimm.« + +Unwillkürlich sieht sie dabei verlegen zu Boden, und da sie in +Anwesenheit von Vorgesetzten immer ein wenig verwirrt ist, zieht ein +roter Schein über ihr kleines Gesicht. + +Der Generaldirektor ist seit dem Telephongespräch in dieser +Angelegenheit mißtrauisch geworden. Er vermutet überall Mitwisser, +hämischen Klatsch. Im übrigen aber hofft er noch, daß seine +wahnwitzige Hypothese falsch sein könne. Er bringt sich selbst in +schiefe Situationen, um endlich aus der scheußlichen Ungewißheit +herauszukommen. Vielleicht hat er zage vermutet, bei diesem Gespräch, +das zu einer glatten Zurechtweisung der armen Fürsorgeschwester wurde, +etwas zu erfahren. + +Ärgerlich wendet er sich ab und geht in das Verwaltungsgebäude. + +Am Schluß der geschäftlichen Besprechung mit dem Kapitän sagt er: + +»Ich sah vorhin die Fürsorgeschwester von der Mühle kommen. Was hat +gerade sie dort zu suchen, wo die ansteckende Krankheit ist? Hatten Sie +keinen anderen Boten?« + +Es verstimmt ihn, daß er nicht sofort davon sprach, sondern nervös +während der geschäftlichen Auseinandersetzung die geschickteste +Formulierung suchte. Seine Worte klingen daher schroffer, als es in +seiner Absicht lag. + +Der Kapitän ist nicht geneigt, sich von einem Vorwurf, zu dem keine +Veranlassung vorliegt, auf Kosten eines Angestellten zu befreien. +Außerdem weiß er nun, worauf Joachim Becker hinauswill. + +»Ja,« meint er leichthin, während er mit den Händen auf dem Rücken in +die Mitte des Raumes stelzt, »sie ist drüben bekannt, die Schwester +Emmi. Sie hat seinerzeit Fräulein Pohl gepflegt. Übrigens haben Sie +wohl auch nicht gewußt, daß sie eigentlich gelernte Säuglingsschwester +ist?« + +»Nein«, sagt der Generaldirektor verdutzt. Nun hat er seine Gewißheit. +Auf so viel Aufklärung war er nicht einmal gefaßt. »Sie macht doch +ihre Sache bei unserer Fürsorge ganz gut?« bringt er, immer noch sehr +barsch, hervor. + +»Allerdings, ausgezeichnet«, erwidert der Kapitän, der nun seine +Stiefelspitzen beguckt. »Die Kenntnisse schaden durchaus nicht. Warum +sollen sie nicht auch hier im Hafen noch zu verwerten sein?« + +Er lacht wie über einen Witz. Der Generaldirektor nimmt es als eine +geschmacklose Anspielung und verabschiedet sich zum erstenmal von +diesem korrekten Mitarbeiter, ohne ihm die Hand zu reichen. -- -- -- + +Eines Nachts, nachdem Frau Pohl in ununterbrochener Pflege um das Leben +des kleinen Kranken gekämpft hat, wird sie wieder von dieser Vision +erschreckt: ein Kind, noch unausgeprägt in seinen Formen, vielleicht +erst wenige Tage alt, liegt ohne Atem in ihrem Arm; sie lauscht, tastet +und kann die Starrheit des winzigen Körpers mit ihrer eigenen Wärme +nicht lösen. + +Unmittelbar anschließend erscheint ihr dann diese beängstigende +Barriere, die undurchdringliche Wand vor dem Abgrund in ihrer +Erinnerung. + +Sie weiß nichts mit diesem Bild zu beginnen, denn da liegt ihr Kind +mit den Zügen Michael Pohls, und es fehlt ihr jede Ordnung in ihrem +Gedächtnis. + +Sie beugt sich zu dem Knaben herab und lauscht, dicht am fiebernden +Körper, seinem geschwächten Herzschlag. Periodisch wiederkehrende +Erstickungsanfälle, wohl vierzig an diesem Tag, haben den kleinen +Organismus vollkommen erschüttert. + +Frau Pohl starrt mit ihren heißen, fanatischen Augen angespannt auf die +Uhr. Sie hat sich die Zeit für den nächsten Anfall ausgerechnet. Die +Sekunden schleichen. Aber der Zeiger rührt sich, rückt fürchterlich +vorwärts. + +Das Brausen und Feilen des Blutes in ihrem Kopf, die gleichmäßigen +Atemzüge ihres Mannes, der -- hilfsbereit -- angekleidet auf seinem +Bett liegt, das Ticken der Uhr scheinen ihr lärmende Geräusche in der +nächtlichen Stille. + +Der Knabe wirft sich herum. Frau Pohl umklammert das Gitter des Bettes, +vornübergebeugt, atemlos. + +Den Körper gestrafft, jedes Gefühl, jeden Gedanken ausgeschaltet, alle +Kräfte im wartenden Blick, im Lauschen des Ohrs gesammelt, so verharrt +sie ohne Gefühl für Zeit und Raum. + +Sie nimmt wahr, wie die Atemzüge allmählich reiner und gemäßigter +werden, wie der Körper sich beruhigt, wie die fiebernde Röte schwindet. + +Unvermittelt entsinnt sie sich der Uhr. Überschreitet der Zeiger nun +die Zahl, ohne daß die Stille von jenem grauenhaften Bellen und Stöhnen +des Kindes gestört wird? + +Sie wendet ihr Gesicht zum Zifferblatt. Es verschwimmt, grau, mit einem +tanzenden Zahlenkreis, vor ihrem Blick. Sie hebt die Hände über die +Augen und starrt fassungslos auf die Uhr. Zwei Stunden sind vergangen, +zwei Stunden war ihr eigenes Dasein ausgeschaltet, zwei Stunden bereits +beginnt der Knabe zu genesen. + +Sie preßt die Zähne gegen ihren Handrücken, um nicht vor Freude zu +schreien. Sie weint lautlos, mit krampfhaft unterdrücktem Schluchzen, +während sie in der Mitte des Zimmers steht, hager, abgezehrt, mit ihrem +glühenden, eingefallenen Gesicht. + +Dann setzt sie sich auf den Stuhl neben das Kinderbett und schläft +augenblicklich ein, die Hände im Schoß, den Kopf zur Seite geneigt, die +rissigen Lippen leicht geöffnet. -- + +Im Morgengrauen erwacht Michael Pohl. Die Kleider kleben an seinem +Körper. Die Glieder sind schwer, ohne Gefühl. + +Ein schwaches, leise stöhnendes Husten läßt ihn erschreckt hochfahren. +Mit stechendem Schmerz fühlt er das Blut von der raschen Bewegung in +den Schläfen aufwallen und verebben. + +Er geht zum Kinderbett hinüber. Auch Frau Pohl ist von dem Geräusch +schreckhaft erwacht. Sie beugt sich über den Knaben und hebt das +Gesicht zu ihrem Mann wieder auf. + +»Er hat im Schlaf gehustet«, flüstert sie, mit einem weichen Lächeln im +ausgeruhten Gesicht. + +Ihre Blicke haften ineinander, sekundenlang. Michael Pohl berührt +sachte ihre Schultern. Da fährt sie zusammen. + +»Wieder habe ich es gesehen«, flüstert sie ängstlich. »Jetzt, in diesem +Augenblick, ganz deutlich.« + +Er löscht das Licht und führt sie in das Nebenzimmer. Blaugraue +nebelverhüllte Morgenluft ist hinter den Fenstern. + +Während Frau Pohl starr geradeaus blickt, beginnt er, sie vorsichtig +auszufragen. + +Sie erzählt von der Vision. + +»Ja,« sagt er, den Blick ruhig, zwingend auf ihre Augen gerichtet, »das +war dein Sohn! Und der Knabe nebenan, den du dir heute nacht ins Leben +zurückgerettet hast, ist Irmgards Sohn. Aber nun gehört er dir, als +wäre er dein eigener.« + +Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Steif wendet sie ihn dem Fenster zu +und starrt wieder in ihre Erinnerung zurück. + +»Wie lange war ich krank?« fragt sie mühselig, tonlos. + +»Fünf Jahre.« + +»Fünf Jahre ...« wiederholt sie langsam. + +Michael Pohl nimmt ihre kalten, zuckenden Hände auf. + +»Alles,« flüstert sie hastig, »alles mußt du mir erzählen!« + +Und er berichtet langsam, was sie zunächst zu fassen vermag, bis +mählich ihre Augen ruhig werden und sie alle Zusammenhänge erkennt. + +Sie äußert sich nicht. Sie lehnt stumm den Kopf an seine Schulter und +schließt die Augen. + +Er streicht zärtlich über ihre stumpfen braunen Haare mit den grauen +Streifen und atmet leichter, befreit. Ob jetzt das Leben auch für sie +beide noch einmal beginnt? -- -- -- + +Nun weiß Joachim Becker, welche Bewandtnis es mit dem Knaben in der +Mühle hat, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Laufen nicht genug +Kinder in der Welt umher, die von ihren Vätern niemals gesehen wurden, +ja, von deren Existenz die Erzeuger keine Ahnung haben? Es wäre +wirklich keine Ursache, diese Angelegenheit allzu wichtig zu nehmen. + +Aber daß er gerade jetzt auch von der Krankheit erfahren mußte, +kompliziert den Fall. Schließlich ist er ein fühlender Mensch, und +wenn jemand schwer darniederliegt, kann er ihm seine Teilnahme nicht +versagen. Er malt sich aus, was der Verlust für Irmgard Pohl bedeuten +müßte, denn an ein Kind von fast zwei Jahren hat man sich immerhin +gewöhnt. Schon aus diesem Grunde hätte er gern gewußt, wie es mit dem +Knaben steht. + +Er findet eine geschäftliche Angelegenheit, die sofort mit dem +Kapitän besprochen werden kann. Also fährt er wieder in den Hafen +und sieht sich dort gelegentlich auch nach Schwester Emmi um. Man +könnte ihr heute ein freundliches Wort geben, obgleich ihm der Gedanke +nicht angenehm ist, daß sie recht viel von seinen rein privaten +Angelegenheiten weiß. + +Schwester Emmi wird ihn wohl rechtzeitig erspäht haben. Sie läuft nicht +ein zweites Mal blind in Ungelegenheiten hinein. Aber der Kapitän ist +da, freundlich und höflich wie immer. Joachim Becker sieht ein, daß er +ihm neulich Unrecht getan hat. + +Er drückt ihm kräftig die Hand und bietet ihm von seinen Zigaretten an, +während sie sich über die Fortschritte am Bau ihres Getreidespeichers +unterhalten. + +»Nun werden wir es bald nicht mehr nötig haben, unser Getreide drüben +einzulagern.« + +»Wie steht es übrigens jetzt mit der Ansteckungsgefahr? Es wäre mir +sehr peinlich, wenn einer der Schiffer, die hier im Winterlager sind, +dadurch mit seinen Kindern Sorgen bekäme«, meint der Generaldirektor +bei dieser Gelegenheit. Es gelingt ihm der beabsichtigte leichte Ton. + +Vielleicht ist der Kapitän der Ansicht, daß die Sorge um die Kinder +der Schiffer erst an zweiter Stelle käme. Er rückt ein wenig an seinem +Stuhl und erwidert: + +»Wie solche Krankheiten manchmal verschleppt werden können, ist +nicht abzusehen. Ich habe mich gestern telephonisch erkundigt und +die betrübliche Nachricht erhalten, daß der Junge in größter Gefahr +schwebt. Ob die Krisis jetzt überwunden ist, weiß ich nicht.« + +Wenn er mehr Erbarmen mit Joachim Becker hätte, der so vortrefflich +seine Vatergefühle verbirgt, dann würde er vielleicht seiner Sekretärin +Auftrag gegeben haben, anzufragen, wie es jetzt »drüben« steht. Der +Generaldirektor hätte eine beruhigende Nachricht mitnehmen können, wenn +sie auch sonst ohne Wert für ihn wäre. Doch der Kapitän unternimmt +nicht mehr, als für einen neutralen Mann nötig ist. + +Joachim Becker drückt sein Bedauern über den traurigen Fall aus und +wendet sich wieder den geschäftlichen Dingen zu. + +Nachdem er sich verabschiedet hat, läßt der Kapitän sich sofort mit +Irmgard Pohl verbinden, um seinerseits Gewißheit zu gewinnen. + +»So, das ist ja ausgezeichnet, ausgezeichnet!« antwortet er auf die +gute Auskunft hin. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, den Arm mit dem +Hörer aufgestützt, als wolle er sich noch lange in dieser angenehmen +Weise unterhalten. + +»Da gratuliere ich uns allen!« ruft er hinterher. + +»Ja, mir auch«, antwortet er auf Irmgards Frage, »denn ich habe doch +die Einladung nicht vergessen.« + +Er plaudert im gleichen angeregten Ton weiter: Gewiß, eine Woche würde +er sich gern gedulden, auch etwas länger, wenn es sein müßte. + +Dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Stimme wird noch lauter, weil +er den Ton sehr tief aus der Kehle holen muß. + +Wie? Verreisen? Wie lange? Ein ganzes Jahr? In die Schweiz? Er habe +doch recht gehört: sie selbst? Ja, dann wünsche er alles Gute. Ach, +in ein paar Wochen erst? Gewiß, dann hätte er noch Gelegenheit, sich +persönlich zu verabschieden. Demnach also auf Wiedersehen! Und eine +Empfehlung an die Eltern! + +Er legt den Hörer langsam hin. Sein schmales kantiges Gesicht mit den +vielen Falten in der braunen, trocknen Haut sieht nicht befreiter aus +als das Joachim Beckers, der vor wenigen Minuten diesen Raum verließ. + +Aber auch diese Woche vergeht, und er begibt sich eines Abends gegen +sieben Uhr auf den kurzen Weg zum Nachbarn. Seine Geige ist natürlich +zu Hause geblieben, denn nun hat es ja keinen Zweck, damit zu beginnen. + +Frau Pohl lernt er noch immer nicht kennen, weil sie der +Luftveränderung wegen mit dem Knaben verreist ist. Das sei ein gutes +Mittel gegen diese Krankheit, meinte Irmgard Pohl am Vormittag, +gelegentlich der telephonisch ausgesprochenen Einladung. Damit wäre +übrigens auch die Ansteckungsgefahr für »seine Kinder« beseitigt. + +Er wird von Vater und Tochter sehr liebenswürdig empfangen. Sie +essen gemeinsam, und der Kapitän bestreitet hauptsächlich die Kosten +der Unterhaltung. Das kann nicht schwer für ihn sein, da er soviel +auf seinen weiten Reisen erlebte. Auch von der Schweiz erzählt er. +Vielleicht dürfe er ihr für die Reise einige Ratschläge geben. + +»Ach, stellen Sie sich meine Reise nur nicht als eine wechselvolle +Vergnügungsfahrt vor, wie sie sich für einen Mann gestalten mag!« sagt +Irmgard Pohl lachend. »Wir haben an ein Institut geschrieben, wo ich +mich ein Jahr lang in praktischen Dingen und in Sprachen üben und mit +jungen Menschen etwas Sport treiben kann. Der Vater findet, daß ich +hier zu wenig Bewegung habe und daß er zu alt für mich sei.« + +»Ja, das ist wahr,« meint Herr Pohl, »Jugend gehört zu Jugend. Wir +haben es uns reiflich überlegt. Und so wird es das Beste für alle +sein.« + +»Da haben Sie recht«, bestätigt der Kapitän. »Da haben Sie vollkommen +recht.« + +Dann wird er etwas einsilbig. Das Essen ist abgeräumt. Sie sitzen um +den runden Tisch, Herr Pohl in seiner Sofaecke, und Irmgard findet es +an der Zeit, mit Wein und Gebäck aufzuwarten. + +Herr Pohl sagt: »Wir wollen auf das Wohl unserer beiden +Familienmitglieder anstoßen, die heute nicht bei uns sind.« + +Er sieht fast unternehmungslustig aus und läßt es sich nicht nehmen, +von den »beiden« zu erzählen. Er habe sie gestern zu seinem jüngeren +Bruder, dem Arzt, aufs Land gebracht. Da hätten sie die nötige +Luftveränderung und ständige Pflege. + +»Und Ihre Tochter wollen Sie auch noch fortschicken?« Der Kapitän +scheint mit so viel Veränderungen in der Familie wenig zufrieden zu +sein. + +»Erst müssen die beiden zurückkommen«, meint Irmgard Pohl einlenkend. +»Das kann drei bis vier Wochen dauern. Ich werde wohl erst im April +fahren.« + +»So, im April«, meint der Kapitän. »Das sind ja fast zwei Monate bis +dahin.« + +Er wird wieder aufgeräumter. Zum Schluß ist es noch ein freundlicher +und angenehmer Abend. + +Herr Pohl begleitet seinen Gast ziemlich spät bis zum Tor hinter der +Mühle und sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen festen +steifen Schritten zu seiner einsamen Wohnung im riesengroßen dunklen +Verwaltungsgebäude hinüberstapft. + + + + + Das Brot + + +Nun ist auch der Tag gekommen, an dem der fertige Getreidespeicher +seiner Bestimmung übergeben werden kann. + +Das zweite Hafenbecken ist vollendet, und die gewaltigen Konturen des +Speichers zeichnen sich auf seinem neuen Wasserspiegel ab. + +Der erste Kahn mit einer russischen Getreideladung wird hereingelassen, +und das ist ein großer und erhebender Augenblick. + +Sogar Kommerzienrat Friemann erschien, um diesem Vorgang beizuwohnen, +der die ersprießliche Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Hafen +einleitet. Auch der Generaldirektor nahm sich die Zeit, die er diesem +Entwicklungsstadium seines Hafens schuldig ist. + +Er stellt sich zu den Ingenieuren, die nun ihre Arbeit zu übergeben +haben, und freut sich ihres Eifers. + +Bodenmeister Ulrich steht neben dem Kapitän. Er hat die Augen fest +auf das Hebelbrett der Antriebsmotoren gerichtet, das er von nun an +bedienen wird. Heute übernehmen es noch die Ingenieure. + +Die langen Schläuche der Saugförderanlage werden in den Kahn +hinabgelassen, die Maschinen beginnen zu rattern. + +Auch Herr Karcher ist herbeigekommen, um ehrfürchtig das fertige Werk +der Technik zu bestaunen. Er stellt sich in der Nähe Schwester Emmis +auf, die von Felix Friemann in ein Gespräch gezogen wird. Es ist wieder +Frühling, und Schwester Emmi hat ein frischgewaschenes, hellblau +gestreiftes Kleid an, dazu eine blendend weiße Latzschürze, die sich +über dem Busen zierlich wölbt. + +»Es fängt an«, ruft sie aus. Sie ist die erste, die in den Speicher +eilt. Da steht schon der Bäckermeister Reiche und betrachtet die +ankommenden Getreidekörner mit feuchten Augen. Sie fallen in schmaler +Reihe aus den Rohren auf den Boden des Speichers herab und bilden +niedrige Häufchen, von einer Staubwolke umwogt. + +Aber seht, wie sie wachsen! Als der Kommerzienrat mit Joachim Becker +und dem Kapitän hinzutritt, sind es richtige Hügel geworden, die sich +in der Höhe und Breite vergrößern. Und wer Geduld hat zu warten, +kann es erleben, wie der Speicher sich füllt, wie es an den Wänden +hochklettert und die Räume überschwemmt. Nun sieht man keinen Fußboden +mehr, die Flut der kleinen prallen Körner wächst an den eisernen +Pfosten hoch, die den Raum wie Säulengänge teilen, sie steigt bis zu +den Fenstern hinauf, die dicht unter der Decke liegen, sie ist schwer +und reif wie ein fruchtbarer Segen im neuen Haus. + +»Wir wollen uns auch das Becherwerk und die Bandförderung ansehen«, +sagt der Kommerzienrat. Er hat einst das Getreide kiloweise verhandelt, +und hier ist nun sein Getreidespeicher, der über 30000 Tonnen loses +Getreide faßt. + +Sie gehen zu den blitzschnell eilenden Bändern, die das Getreide +davontragen und verteilen. Während die Motoren surren, eilen die Körner +in dünner Schicht unter einer fliehenden grauen Wolke von Staub dahin, +aber wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, so sind sie wie Gold. + +Felix Friemann, der den Gefühlen seines Vaters ferner steht, geht mit +Schwester Emmi wieder zu den Kähnen hinaus, um mit ihr zu plaudern. +Auch er hat seine Freude an ihrem Lachen und an ihren hellen flinken +Worten. Herr Karcher zieht sich langsam in sein Lagerkontor zurück. + +»Nun habe ich mein Exposé über die Erweiterung und Organisation unserer +Fürsorgeeinrichtungen bei der Generaldirektion abgegeben«, sagt ++Dr.+ Friemann zu Schwester Emmi. + +»Ach, schriftlich haben Sie das sogar gemacht! Mein Gott, was wird uns +das für Umwälzungen bringen! Muß man dann die Finger auf eine modernere +oder wissenschaftlichere Weise verbinden?« + +Nein, sie nimmt die Wichtigtuerei dieses Kommerzienratssohnes durchaus +nicht ernst. + +»Nun, das gerade nicht! Doch es werden Abteilungen und Untergruppen +eingerichtet, und Sie sind dann nicht mehr die allmächtige Schwester +Emmi, sondern einfach Schwester eins.« + +»Herrjeh, wer wird dann Schwester dreizehn?« Sie will sich ausschütten +vor Lachen. + +»So weit wollen wir noch nicht gehen. Wir könnten getrost noch eine +Schwester Anni oder Elli bekommen, die liebenswürdiger sind als Sie, -- +die Anni oder Elli.« + +Ihr Spott hat ihn etwas verwirrt, denn er fängt schon an, einzelne +Worte zu wiederholen. + +»Viel Vergnügen!« ruft sie aus. Sie blickt mit ihren lustigen Augen zu +ihm hoch und hebt sich auf die Fußspitzen, um auch seine übertriebene +Länge zu verspotten. »Die können Sie wirklich gebrauchen, die Anni oder +Elli«, sagt sie noch lachend, während sie bereits enteilt. + +Felix Friemann sieht ihr traurig nach. Er muß sich schon von einer +kleinen Fürsorgeschwester auslachen lassen, er will sich bessern, das +will er gewiß. + +Der Kommerzienrat und Joachim Becker sehen sich auch sonst noch den +Hafen an, dann fahren sie gemeinsam in das Stadtbureau zurück. Felix +Friemann kann die beiden im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch mit +seinen langen Beinen einholen und seinen Schwager bitten, an Adelheid +und seine Tochter Grüße zu bestellen. + +Als alle Besucher fortgegangen sind und auch die Ingenieure mit dem +Kapitän im Verwaltungsgebäude verschwanden, steht der Bäckermeister +Reiche immer noch vor den Getreidemassen des Speichers und ist in +tiefes Nachdenken versunken. + +Er bückt sich und nimmt die Körner so voll in seine große helle Hand, +daß sie zwischen den Fingern herausdringen, dann läßt er sie fallen, +und wenn die Faust wieder leer ist, wird er von neuem traurig. + +Schließlich muß er den Speicher verlassen. Bodenmeister Ulrich wird +ungeduldig, er will endlich unumschränkter Herrscher in seinem Reiche +sein. Die Befehle an die Arbeiter sind knapp und bestimmt, als spräche +Joachim Becker mit ihnen. + +Herr Reiche geht langsam und schwerfällig bis an das Ende des +Hafenbeckens und um die Schmalseite herum zum Kanal, der den Hafen von +der Mühle trennt. + +Da steht der Speicher des Müllers, er ist nicht weniger vollkommen, +nur etwas kleiner und älter. Daneben arbeitet die Mühle, die aus den +prallen goldenen Körnern das Mehl bereitet. Und in der Stadt sind die +vielen Meister, die ihr Brot davon backen. Sie holen es glühendheiß +aus den Öfen, aber sie nehmen es trotzdem für den Bruchteil einer +Sekunde zwischen die Hände und fühlen den elastischen goldbraunen Laib. +Der ehemalige Bäckermeister glaubt den frischen sauer-süßen Duft zu +verspüren, dann denkt er an die Selter- und Malzbierflaschen und an +die Milchgläser, die er täglich mit einer langen Bürste reinigt. + +Er ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und findet keinen Weg aus +seiner Not. + +Nun fällt sein Blick auf einen Wagen, der neben der Mühle mit Säcken +beladen wird. Er gehört einer großen Bäckerei, die sich ihr Mehl selbst +holt und dabei den Zwischenhändler und die Rollfuhrspesen spart. + +Herr Reiche beginnt, krampfhaft zu überlegen. Wenn man nun hier, direkt +neben der Mühle -- zum Beispiel da, wo jetzt der Wagen steht -- eine +Bäckerei errichtete, dann fielen nicht nur die Zwischenhändler und die +Rollfuhrkosten, sondern auch das eigene Fuhrwerk fort. + +Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine ganze Woche lang, Tag und Nacht. +Beim Gläserspülen greift er plötzlich nach irgendeinem Fetzen Papier +und rechnet. Und wenn er des Nachts erwacht, so hält ihn die Grübelei +stundenlang fest. Dabei sieht er nicht übernächtig aus, nein, im +Gegenteil: prall und frisch. Seine Ohren sind stets rot angeglüht, +seine Augen glänzen, nur in den Bewegungen scheint er sehr zerstreut. + +Endlich faßt er einen Entschluß. Er zieht zum Erstaunen seiner Frau +mitten an einem Wochentage seine besten Kleider an und geht fort. Zur +Stunde des Arbeitsschlusses, als in der Kantine wieder viel zu tun ist, +geht er, ohne eine Erklärung abzugeben, davon. + +Er hat keinen weiten Weg. An der Föhrbrücke biegt er links ab zum +Mühlengrundstück. Dort läßt er sich beim Mühlenbesitzer Pohl selbst +melden. Er wird in das Privatkontor geführt, und seine Ohren brennen +wie Feuer. + +Michael Pohl fordert ihn -- was er bei jedem Besucher zu tun pflegt, +ob es nun der Kapitän oder der Kantinenwirt ist -- mit einer stummen +Handbewegung auf, im alten Sessel gegenüber seinem Schreibtisch +Platz zu nehmen. Dann wartet er geduldig den Anfang der Rede ab. Er +zeigt weder Neugierde noch Erstaunen, denn er ist schon an manchen +eigenartigen Besuch, besonders aus dem Hafen, gewöhnt. + +»Herr Pohl,« beginnt der Bäckermeister, »wenn ich so die Mühle sehe und +die Getreidespeicher im Hafen und hier, da kommt mir so eine Idee -- +der Herr Pohl wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist. +Hier ist das Getreide, sage ich mir, und das Mehl --« + +Er bricht seine Rede ab, um die Hauptsache nachzutragen: + +»Ich bin nämlich Bäckermeister von Beruf, aber nun verwalte ich die +Kantine im Hafen --« + +Diese Worte, die ihm als geschickte Umschreibung des Wortes +»Kantinenwirt« gefallen, hatte er sich mit großer Mühe zurechtgelegt, +und nun sind sie wirklich richtig und glatt herausgekommen. Er ist +geradezu glücklich darüber, stellt sich noch regelrecht mit seinem +Namen vor und hat den Mut, weiterzusprechen. + +»-- das Mehl, sage ich mir, und die Bäcker, die das Brot backen, müssen +es erst in die Stadt fahren oder sie bekommen es von anderwärts oder +vom Zwischenhändler -- der Herr Pohl werden mich schon verstehen?« + +Der Mühlenbesitzer nickt. + +»Nun sage ich mir, wie wäre es, wenn man das Mehl gleich hier verbacken +würde? An Ort und Stelle. Dicht neben der Mühle. Da ist ein freier +Platz, ich meine auf dem Grundstück vom Herrn Pohl, und wenn ich so +rechne und rechne, so denke ich, daß das Brot mindestens um fünf +Pfennig für das Stück billiger werden könnte als anderswo.« + +Er sieht den Mühlenbesitzer erwartungsvoll an. In seinem Kopfe braust +es, als säße er im Maschinenraum des Getreidespeichers, direkt neben +den fünfzig Antriebsmotoren. + +Mühlenbesitzer Pohl schweigt eine ganze Weile, dann sagt er langsam: + +»Der Gedanke ist nicht schlecht. Wie hatten Sie sich das weiter +gedacht?« + +Der Bäckermeister richtet sich in seinem Sessel auf und macht erst +einmal einen tiefen Atemzug. Jetzt fürchtet er sich nicht mehr. Die +Details sind ihm außerdem geläufiger als die einleitende Rede. Er +holt einen Zettel hervor, auf dem er die Resultate seiner Rechnereien +abgeschrieben hat, und erklärt. + +»Wer sollte nun die Bäckerei errichten?« fragt Herr Pohl. + +»Wenn der Herr Pohl sich beteiligen würden? Mit einer Kleinigkeit und +mit meiner Arbeitskraft könnte ich wohl mitmachen.« + +»Und wer würde die Ersparnis von fünf Pfennig gewinnen, da die +Brotpreise einheitlich geregelt sind?« + +»Der Herr Pohl dürfen nicht denken, daß es mir um den Profit zu tun +ist. Die Regelung will ich dem Herrn Pohl selber überlassen. Wenn +ich nur meine alte Arbeit wiederbekomme. Das Brotbacken war mir das +liebste, die Kinkerlitzchen überlasse ich den anderen.« + +»Ja, Herr Reiche, das wollen wir uns mal beide durch den Kopf gehen +lassen. Haben Sie noch zu einem anderen Menschen davon gesprochen?« + +»Keiner Seele habe ich ein Sterbenswörtchen gesagt.« + +»Dann wollen wir zunächst auch weiter darüber schweigen. Und Sie kommen +morgen um die gleiche Zeit noch einmal her.« + +Sie trennen sich mit einem kräftigen Händedruck. + +Der Mühlenbesitzer steht am Fenster und sieht dem Manne nach, wie er +mit schweren wiegenden Schritten über den Mühlenplatz geht. + +Es gab eine Zeit, da der Bäckermeister Reiche sich für seinen neuen, +von der Frau ersehnten Beruf die nötige Trinkfestigkeit holen mußte. Er +hatte keinen Geschmack am Alkohol, aber wenn man ihn ausschenken soll, +muß man ihn auch trinken können. So übte er sich eine ganze Weile +darin, und als er die alkoholfreie Kantine bekam, war ihm das Trinken +zur Gewohnheit geworden. Nun hat er wieder einen festen gleichmäßigen +Gang und sogar Ideen im Kopf. + +»Der Mann weiß gar nicht, was er hier für einen Plan aufgerollt hat«, +sagt der Mühlenbesitzer vor sich hin. -- »Der Herr Pohl wollen es mir +nicht verübeln, wenn es nicht recht ist«, hört er im Geiste noch einmal +den Bäckermeister sagen. Michael Pohl schüttelt den Kopf und denkt nun +erst gründlich über die Sache nach. + +Dann geht er in das große Kontor hinüber und ruft seine Tochter. + +Noch ist sie hier in seinem Bureau, und er kann sie um ihren Rat +fragen. Aber in wenigen Tagen will sie ihre Reise antreten, und er weiß +noch nicht, wie er dann ohne seinen Kompagnon auskommen soll. + +Sie setzt sich im Privatkontor auf ihren angestammten Platz im +Ledersofa und sieht ihren Vater interessiert an. + +Michael Pohl erzählt ihr von der Idee des Bäckermeisters. Aus der +Bäckerei ist eine Brotfabrik geworden, die Brote zählen nicht nach +Hunderten, sondern nach vielen Tausenden, und die fünf Pfennig +Ersparnis für jedes Brot will er den Konsumenten überlassen, denn es +bleibt immer noch Verdienst genug. + +»Hier ist das Getreide,« sagt der Mühlenbesitzer, »hier das Mehl und da +das Brot für die ganze Stadt.« + +Irmgard ist aufgesprungen. Sie sieht ihren Vater mit leuchtenden Augen +an. + +»Ja,« sagt sie, »Vater, das ist fast so groß wie damals das Projekt vom +Hafen.« + +Michael Pohl lächelt. »Nun, ganz so hoch wollen wir uns nicht +versteigen. Und vorläufig sieht unser Plan noch genau so schwierig aus +wie die Idee vom Hafen vor drei Jahren.« + +»Mein Gott,« sagt Irmgard, »was sollen dann die vielen Bäcker machen, +wenn wir das Brot allein backen wollen?« + +»Sie können es mit dem gleichen Verdienst verkaufen, als wenn sie es +selbst gebacken hätten. Aber sie werden natürlich ihr Handwerk nicht +aufgeben wollen, um Händler zu werden. Du siehst, daß hier schon eine +Schwierigkeit ist.« + +Wie flink denkt nun eine Frau! + +»Warum sollten sie nicht ihre Semmeln und Kuchen backen wie bisher? +Wenn ich an unseren Bäcker denke, der ein ganz besonderes Brot +bereitet, mit einem Geschmack, den man sonst nirgends wiederfindet, +dann sage ich mir, es könnte doch jeder seine Spezialitäten +weiterführen. Man zahlt dann gern etwas mehr, wenn man es sich leisten +kann. Wir aber backen hier nur das billige Einheitsbrot, das tägliche +Brot des Volkes, kurz: ~das~ Brot.« + +Michael Pohl sieht sie befriedigt an. »Nun bleibt nur die Frage, wer +der Unternehmer wird, und wie man es den Beteiligten klar macht. Ich +meine die Produzenten, die den Gewinn dem Volke überlassen sollen.« + +»Ist das Projekt für einen einzelnen zu groß?« + +»Das auch, obgleich ich außer meinem freien Grund und Boden reichlich +Kapital dazugeben könnte.« + +»Könntest du das?« + +»Gewiß, die Mühle entwickelt sich von Jahr zu Jahr und wirft größere +Gewinne ab, unsere Ansprüche bleiben die gleichen. Nun ersetzest du mir +sogar noch eine Arbeitskraft, und deine Mutter kennt nur ihre peinliche +Pflichterfüllung. Ich habe das Geld nicht im Hafen unterbringen können, +dazu war es zu wenig, jetzt muß ich es endlich für unseren Sohn +anlegen.« + +»Aber --?« fragt Irmgard Pohl. + +»Aber für eine Brotfabrik, die den Bedarf der ganzen Stadt decken soll, +brauchen wir die Unterstützung der Kommune oder der Allgemeinheit. Das +ist ein volkswirtschaftliches Unternehmen, für das wir uns keine Feinde +aufladen dürfen.« + +»Wer sollte wohl feindlich gesinnt sein, wenn es sich darum handelt, +der Allgemeinheit das Brot zu verbilligen?« + +Der Mühlenbesitzer lacht. »Wer? Die Konkurrenz, die Rechthaber, der +Neid, die Zwietracht. Es beständen viele Beweggründe.« + +»Das Hafenprojekt hat sich auch verwirklichen lassen.« + +»Da handelte es sich nur darum, Interessenten zu finden, die durch +den gleichen Gedanken geeint werden: Geld zu verdienen. Dieses Motiv +versöhnt die heftigsten Feinde. Nun aber sollen wir für einen ideellen +Zweck werben. Meinst du, daß die Inhaber der bereits bestehenden +Brotfabriken mit der Verbilligung einverstanden sind? Was geht sie das +Volk an, wenn sie von ihrem Verdienst einbüßen?« + +»Ja, müssen wir darum den Mut verlieren?« + +»Nein, gewiß nicht. Wir wollen es versuchen. Das wäre sicherlich ein +großer Erfolg, unter so viel Köpfen eine Einigung zu erzielen. Es gälte +fast mehr als die Verbilligung des Brotes.« + +»Siehst du, da ist wieder der alte Schwärmer. Gott sei Dank! Ach, weißt +du, ich bin ganz stolz, daß wir nun auch so ein großartiges Projekt +haben.« + +Michael Pohl nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und lacht. + +»Man möchte es durchaus mit einem anderen aufnehmen!« Und mit +liebevoller Resignation fügt er hinzu: »Daran erkenne ich doch wieder +die Frau.« + +Sie schreibt ihm seine Briefe und ist ihm ein guter Kamerad, aber sie +verfehlt doch dabei ihren besten Daseinszweck. + +Als der Bäckermeister am nächsten Tage wiederkommt, kann der +Mühlenbesitzer ihn mit ~seinen~ Berechnungen empfangen. Er +zieht seine tüchtige Mitarbeiterin zu den Beratungen hinzu, und sie +beleuchten das Projekt von allen Seiten. Da wird nichts übersehen, und +ihr Fachmann, der schwerfällige Bäckermeister, kann immer wieder neue +Momente ins Treffen führen. + +Zum Schluß sind sie dahin einig geworden, daß die beiden Männer +zunächst eine Orientierungsreise unternehmen, um ähnliche Anlagen in +anderen Städten zu besichtigen. Dann wollen sie sich an die zunächst +Interessierten, die Bäckermeister, wenden. + +Frau Reiche hat die Augen gehörig geöffnet, als ihr Mann ihr kurz und +bündig erklärte, daß er eine Reise zu unternehmen gedenke. Es liegt +ihm fern, auf ihre Fragen etwa zu erwidern: »Ich habe dich auch nicht +gefragt, was du mit deinen Besuchen im Gefängnis bezweckst.« Nein, er +läßt sie nun ihres Weges gehen und macht seine Reise für sich. + +Nur daß er auch Fräulein Spandau keine Auskunft darüber geben kann, +geht nicht ganz nach seinem Herzen. Sie sieht ihn mit ihren müden Augen +stumm fragend an, und er sagt: »Auf Wiedersehen, Fräulein Spandau, wenn +ich zurück bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes erzählen.« + +Das befriedigt sie nicht weniger, als wenn er ihr ein prächtiges +Geschenk versprochen hätte. + +Wem wäre nicht eine Veränderung am Kantinenwirt Reiche aufgefallen, +als er von seiner Reise wieder heimgelangte? Er hatte eine andere Art, +zu gehen und zu sprechen, und er stellte sich nicht mehr hinter den +Schanktisch, -- dieses Amt überließ er seiner Frau. + +Aber das geschah beileibe nicht, weil er sich zu gut dafür dünkte, +sondern einzig und allein, weil er keine Zeit dafür fand. Wenn er nicht +seine geheimen Besprechungen mit dem Mühlenbesitzer hatte, so mußte +er mit dem Innungsmeister konferieren oder in den Versammlungen Reden +halten. Selbst vor dem Ersten Bürgermeister hat er eines Tages mit +Mühlenbesitzer Pohl und einigen Abgeordneten der Bäckerinnung gesessen. + +Er ist plötzlich ein geachteter Mann, man hört geduldig und ernst auf +seine Worte. Und auch dem Mühlenbesitzer gegenüber hat er ein anderes +Auftreten. Er sagt zum Beispiel: »Richtig, Herr Pohl, da haben Sie +wieder recht.« + +Wo ist der geduckte Kantinenwirt, der einmal sagte: »Der Herr Pohl +wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist?« + +Doch hier kann man wieder sehen, was der Prophet in seinem Vaterlande +gilt. Hat Frau Reiche etwas von der Größe ihres Mannes verspürt? Nein, +sie sagt: »Wie lange soll dieses Faulenzerleben noch dauern? Wenn das +Konferenzen sind, mit denen du dich aufhältst, dann verwalte ich hier +ein Hotel.« + +Als der Streit in der Bäckerinnung so lebhaft geworden war, daß die +Hilfe der Zeitungen angerufen wurde, da schreckte man nicht davor +zurück, dem Bäckermeister Reiche vorzuwerfen, daß er nichts weiter als +ein Kantinenwirt sei. Vom Mühlenbesitzer Pohl jedoch wußte man, daß +seine Beteiligung beim Hafen seinerzeit abgelehnt wurde; man ist nicht +geneigt, ihn nun an einer Brotfabrik profitieren zu lassen. + +Wenn man keine sachlichen Bedenken finden kann, so gibt es der +persönlichen genug. + +Aber nun ist auch der Trotz in Michael Pohl erwacht. Er sagt zu Herrn +Reiche: »Sie können solange in meiner Mühle arbeiten.« Und er bietet +ihm einen Posten an. + +»Was,« sagt Frau Reiche, »du willst eine Brotfabrik gründen? Hätte ich +dir in deiner Bäckerei nicht die Brote verkauft, dann lägen sie heute +noch da.« Sie hat noch immer keine Achtung vor ihrem Mann und ist nicht +geneigt, ihren Platz in der Kantine zu verlassen. + +Herr Reiche verabschiedet sich von Fräulein Spandau, nachdem er die +Vermittlung des Kapitäns in Anspruch genommen hat, und sagt: + +»Ich lasse ihr alles hier, so wie es ist. Ich habe meine beiden Fäuste +zur Arbeit. Und wenn Sie einmal in der Mühle zu tun haben, so fragen +Sie nach Lagerverwalter Reiche. Dann wird es schon recht sein.« + +Inzwischen beleuchten die Zeitungen das Problem und suchen die Parteien +zu orientieren. + +»Wie lange wird die Verbilligung anhalten?« fragen die einen. »Wenn den +Meistern die Arbeit genommen ist, gehen die Preise wieder in die Höhe, +und die Großunternehmer allein stecken den Gewinn ein.« + +»Man hat es auf zwei Berufe abgesehen«, klagen einige andere. »Der +Zwischenhandel und das Transportgewerbe sollen ausgeschaltet werden«, +und man rechnet den Interessenten vor, welche Schädigung das für sie +bedeutet. + +»Nun soll auch das gute ehrliche Handwerk unterjocht und versklavt +werden.« -- »Das ist der Beginn der Vertrustung.« -- »Das Kapital reißt +nun auch die Macht über das tägliche Brot an sich.« -- So und ähnlich +lauten die Schlagworte, die auch von den Bäckermeistern aufgenommen +werden. + +Nur eine zaghafte Stimme vertritt die Ansicht, daß es der Stadt +zur Ehre gereichen würde, wenn man in dieser Frage eine Einigung +ohne Gewalt erzielte. Aber sie verknüpft diese einfache praktische +Angelegenheit mit ihren Idealen und macht sich selbst lächerlich. Denn +was hat eine Brotfabrik mit dem ewigen Frieden zu schaffen? + +Verliert der Mühlenbesitzer den Mut darüber? Nein, er verliert ihn +nicht; er war nicht ohne Vorbereitung in den Kampf eingetreten. Er +bietet sein Geld und eine gute Idee an, und wenn sie es ablehnen, so +wissen sie nicht, was sie tun. Er wäre nicht der erste, dem man seine +Gaben vor die Füße wirft. + +Ein anderer beginnt allmählich, im Kampfe zu verzagen. Er ist auf einen +vorübergehenden Posten gestellt worden in Erwartung der großartigen +Gründung; die Wartezeit erstreckt sich auf zwei Monate, drei Monate, es +wird Herbst, und noch bezieht er mit bedrücktem Gewissen sein Gehalt +als Lagerverwalter in einer Mühle und nicht als Meister in einer +Brotfabrik. Was nutzt es ihm, daß er sich mit der modernen Technik +vertraut macht und im stillen eine neue Lehrzeit in den verzwickten +Büchern beginnt? Es ist nur gut, daß ein Fräulein Spandau eines Tages +den Lagerverwalter Reiche aufsucht und ihn fragt, ob man das Mehl in +der Mühle auch pfundweise kaufen könne. + +Nein, damit kann er nicht dienen, doch wenn er sie nach Hause begleiten +dürfe und sie sich noch für die Sache eines Mannes interessiere, den +man so lächerlich finde, so wolle er ihr einiges erzählen. + +Sie hat dagegen nichts einzuwenden und hört ihm auf dem weiten Wege mit +großem Interesse zu, obgleich er zuletzt sehr verbittert und mutlos +ist. + +»Ach ja,« sagt sie zum Abschied, »wenn Sie es doch durchsetzen könnten! +Wir brauchen zu Hause täglich ein Brot, das sind fünf Pfennig pro +Tag und ein und eine halbe Mark im Monat. Sie glauben nicht, was das +bedeutet, da wir alle von meinem Gehalt leben müssen.« + +Ihr blasses Gesicht mit der dünnen unklaren Haut ist so vertrauensvoll +zu ihm emporgewandt, daß es ihm wieder einen Ruck gibt, und er +verspricht, nichts unversucht zu lassen. + +Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, denkt er auf dem Heimwege, wenn +man denen nicht helfen dürfte, die es so dringend brauchen. + +Er spricht noch einmal mit dem Mühlenbesitzer darüber, und sie fangen +die Sache von einer anderen Seite an. Michael Pohl, der doch genug +Lehrgeld gezahlt haben sollte, gibt wieder eine schriftliche Erklärung +ab. + +Sie wirkt nicht gleich wie der wunderbare Stab vor dem Zauberberg, aber +dieser und jener läßt sich doch herbei, einen Blick auf das Dokument zu +werfen und ein wenig darüber nachzudenken. Da soll nun die Bäckerinnung +als Unternehmerin auftreten, und der Mühlenbesitzer will ihr die Mittel +vorstrecken. Jeder Meister in der Stadt ist Teilhaber der großen Fabrik +und hat schließlich auch eine Stimme ins Gewicht zu werfen. + +»Wenn ich das gleiche verdiene und weniger Arbeit habe, so soll es mir +recht sein«, meint nun der Bequeme, während der Arbeitsame befriedigt +feststellt, daß man ihm trotzdem seine Tätigkeit läßt. + +»Und wer sich das richtig überlegt, muß sich sagen, daß vom billigeren +Brot mehr gegessen wird«, wirft Lagerverwalter Reiche in einer +Versammlung ein. »Das Brot, das die eigene Familie ißt, fällt auch +nicht unter den Tisch, es muß ebenso gerechnet werden, als ob es +verkauft wird, und das sind fünf Pfennig für das Stück.« + +In dieser Versammlung trägt er noch nicht den Sieg davon, aber als der +Winter den Hafen wieder im Bann hält und auf dem Kanal vor der Mühle +die Oberfläche glitzert und knackt, hat er endlich eine Abstimmung mit +Stimmenmehrheit erreicht. + + + + + Die Scheidung + + +Er eilt in seinem Überschwang zur Mühle, mit der Absicht, den +Mühlenbesitzer sogar aus dem Bett zu holen, um ihm die freudige +Botschaft zu überbringen. Sie besitzen zwar noch lange keine +Brotfabrik, aber sie haben die Einigkeit. Er weiß, wieviel das dem +Mühlenbesitzer Pohl gilt. + +Nun hätte er auch Lust, dem schmalen Fräulein Spandau zu sagen, daß sie +in mindestens einem Jahr einundeinehalbe Mark monatlich sparen kann. +Doch diese Freude muß er sich bis zum nächsten Morgen aufheben. + +So frei und kräftig hat er sich lange nicht gefühlt, wie auf dem +Heimweg von der Versammlung. Wenn er es recht überlegt, so hat ein +Druck auf ihm gelastet, seitdem er in den Hafen kam. + +Kurz vor der Föhrbrücke bemerkt er eine Frau, die mit wiegenden Hüften +vor ihm hergeht und nicht viel Eile hat, vorwärtszukommen. Da sollte +doch --! Wenn das nicht seine Frau ist! + +Er findet es nicht übel, daß er ihr an diesem Abend noch begegnet. Man +könnte der Madame gleich zeigen, was man für ein Kerl geworden ist, +damit sie endlich einmal die richtige Meinung erhält. + +Er ist nicht nachtragend. Nein, das kann niemand behaupten. Sie hat +ihn nicht nur betrogen und obendrein verspottet, weil er nicht zu den +Männern gehört, die deswegen einen Mord begehen, sie hat ihn auch um +seinen Beruf gebracht und ihm den Rest seiner Selbstachtung genommen. + +Aber nun sagt er »Guten Abend, Frau Reiche. Du hast anscheinend keine +Lust, nach Hause zu gehen.« + +»Ach, du bist's«, sagt sie. »Ich habe gehört, du willst dich von mir +scheiden lassen.« + +»Ich?« fragt er erstaunt. Auf diesen Gedanken war er bisher noch nicht +gekommen, nun scheint er ihm nicht schlecht, ja er findet ihn plötzlich +ausgezeichnet. Er muß unwillkürlich an Fräulein Spandau denken. Da +könnte er für einen Menschen einstehen und ihm Freude bereiten, denn da +wird alles dankbar angenommen. Ob sie wohl den Antrag eines Meisters in +der größten Brotfabrik der Stadt ausschlagen würde? + +Er streicht in stolzer Freude den Schnurrbart hoch. Nun ist er wieder +ein Mann, der auf sich hält und auch bei den Frauen einen Stein im +Brett hat. + +Es ist ihm fast, als sähe selbst seine Frau ihn wieder wohlgefällig an. + +»Nun, ich habe so etwas gehört. Wenn es dir recht ist, könnten wir ja +darüber reden. Neulich ist ein Rechtsanwalt im Hafen gewesen, da habe +ich die Gelegenheit wahrgenommen und ihn gefragt, was zu tun wäre.« + +»So --« meint er. »Dann wirst du ja besser Bescheid wissen und kannst +mir Unterricht erteilen.« Er nimmt die Sache von der lustigen Seite, +und das ist fast etwas kränkend für eine Frau. + +»Wir könnten gleich darüber sprechen,« schlägt sie vor, »dann ist die +Sache abgemacht. Mein Bruder versieht die Wirtschaft, wie du gehört +haben wirst. Wir können also hinaufgehen und alles in Ordnung bringen, +wenn es dir recht ist.« + +Wie zahm sie geworden ist, denkt Herr Reiche. Sollte sie etwa schon +von der Versammlung gehört haben? Nun will er sich erst einmal das +Vergnügen erlauben und ihr erzählen, was er für ein Mann ist. + +»Ach, sieh einmal an«, sagt sie. »Was du nicht sagst. Wer hätte das +für möglich gehalten? Darauf müssen wir von meinem selbstgemachten +Kirschwasser trinken. Was meinst du dazu?« + +»Hm, das wäre ja wie eine Feier. Aber da wir doch miteinander zu reden +haben --« Das hätte er sich wahrhaftig im Traume nicht einfallen +lassen, daß er noch einmal ein freier lediger Mann würde. Es gibt doch +wirklich ganz einfache Gedanken, auf die man erst gestoßen werden muß. +Was wird das für ein Spaß sein, wenn man zu Fräulein Spandau sagen +kann: »Es gibt gewisse Männer, die einmal verheiratet ~waren~.« + +»Huh«, macht Frau Reiche fröstelnd. »Wie ist das schon wieder kalt!« +Und sie hakt sich mit ihrem molligen Arm bei ihm ein, um sich zu +erwärmen. + +»Die Madame wird sich einen Schaden antun«, sagt er gutmütig spottend +über diese Äußerung einer ungewohnten Vertraulichkeit. + +Sie stößt ihn mit dem Ellenbogen an. »Jetzt, da wir uns scheiden lassen +--« meint sie lachend. + +Allmählich geraten sie in eine Stimmung hinein, in der sie alles +lächerlich finden. Sie setzen sich in ihrem alten Wohnzimmer über der +Kantine auf das Sofa, trinken von dem Kirschwasser und stoßen »auf eine +glückliche Scheidung« an. + +»Eigentlich,« sagt sie mit glucksendem Lachen, »wenn ich's mir +überlege, warst du ein ganz guter Ehemann. Ja, man erkennt die Vorzüge +erst, wenn es zu spät ist. Was meinst du wohl, wie ich daran gedacht +habe, wenn ich hier so allein war?« Sie sieht ihn mit ihren feuchten +Augen ermutigend an und rückt etwas näher. + +Der Bäckermeister hat wieder ganz rote Ohren, als wäre er in der +Backstube beim Ausholen der Brote. + +»Es ist verteufelt heiß hier bei dir«, bringt er halberstickt hervor. + +»Meinst du?« fragt sie, und sie sieht ihn dabei so komisch an, daß sie +wieder beide lachen müssen. Sie fährt ihm mit ihren Händen ins Gesicht +und sagt: »Fühl' nur, wie kalt sie sind.« + +Er gibt keine Antwort darauf. Er hat vollkommen vergessen, daß er sich +vornahm, den Mühlenbesitzer aus dem Bett zu holen und einem blassen +schmalen Bureaufräulein zu roten Backen und einem glücklichen Lächeln +zu verhelfen, er schnappt plötzlich nach den kühlen Fingern vor seinem +Mund und lacht. + +»Nein, Mann, bist du denn verrückt geworden?« fragt Frau Reiche. Aber +er gibt jetzt erst recht keine Antwort mehr. -- + +So ein Binnenhafen an einem dunklen Wintermorgen ist wie eine +verwunschene Stadt. + +Der Wächter am Tore wird müde und wärmebedürftig. Er achtet darauf, +daß seine Scheiben klar bleiben, denn sonst muß er das kleine Fenster +öffnen oder vor die Tür seines winzigen Häuschens treten und die +dunstige Wärme herauslassen. + +Aber gegen sieben Uhr morgens kommen noch nicht viele Menschen an ihm +vorbei. Im Getreidespeicher rattern zwar schon wieder die Maschinen, +und das Getreide beginnt seine unermüdliche Wanderung durch die +Stockwerke. Es darf nicht zur Ruhe kommen, damit es nicht feucht +oder muffig werde, und es bläst unterwegs seinen Staub in die Luft, +daß Bodenmeister Ulrich und seine Helfer wie graue Figuren durch die +Morgendämmerung wandern. + +Das Verwaltungsgebäude ist von den Gerüsten entkleidet. In den +Seitenflügeln flammen die ersten Lichter auf, im Mittelteil jedoch, +dem stolzen Turmbau, warten die grauen Räume auf die Tätigkeit der +Maler. + +Das war eine andere Zeit, als die Arbeiter in Scharen herbeiströmten, +auf die Gerüste kletterten und hinter Erdwällen verschwanden. Wie viele +Gebäude mußten fertiggestellt werden, und nun stehen sie alle da! Mit +verschneiten Dächern und vereinzelten Lichtern in den Fenstern. + +Aber die Hafenbecken -- wo ist ihr Wasserspiegel? Er wird fast dicht +bedeckt von den großen Kähnen, die hier ihr Winterlager aufgeschlagen +haben, und darüber brauen die Nebel. Nur ein Becken ist wie ein langer +und breiter leerer Schlund: der Südhafen, aus dem man die harte Füllung +mit Dynamit sprengen mußte. Er hat noch keine Gebäude an den Seiten, +und auf dem Nachbargelände stehen ein paar verschneite halb verfallene +Holzschuppen. Ein Grundstücksmakler hat sein Schild danebengesetzt. + +Wenn die Hafengesellschaft ihre Tätigkeit am Südbecken +einstellte, so hatte das andere Gründe als die Arbeitsruhe der +Verhüttungsgesellschaft, die eines Tages Konkurs anmeldete und die +Erze im Schoße der Mutter Erde ließ. Man kann einem großen Projekt +zustimmen, doch man darf sich Zeit mit der Ausführung lassen. Zwei +Hafenbecken sind im Anfang genug, und wenn das Konsortium seine Gelder +zurückhält, so ist damit nicht gesagt, daß sie etwa knapp geworden +wären. Aber sie verkünden dem Generaldirektor: Nun mußt du dir das +dritte Hafenbecken erst verdienen! + +Das ist nicht leicht, zumal in den Wintermonaten, wenn die Schiffahrt +ruht. Als der ehemalige Kantinenwirt an diesem dunklen Morgen aus der +Tür der Hafenwirtschaft kommt, denkt er, daß hier immer noch Leben +genug sei. Da fahren die großen Lastwagen schon die während eines +langen Sommers aufgespeicherten Waren in die Stadt, die Lokomotiven +schnauben und kreischen auf den vereisten Schienen und bringen neues +Lagergut. Ja, diese treuen Eisenbahnstränge, sie sind doch etwas wert, +sie tragen ihre Lasten das ganze Jahr und verlangen keinen Winterurlaub +wie die anspruchsvollen Wasserstraßen. + +Der Bäckermeister schleicht mit scheuen Blicken neben den Wagen aus +dem Tor; es ist ihm angenehm, daß er dabei vom Wächter übersehen wird. +Er gehörte einst mit gutem Recht hierher, und in der Hafenwirtschaft +ist immer noch seine Ehefrau; über eine Scheidung wollten sie zwar +sprechen, aber nun haben sie es beide vergessen. Wenn er trotzdem mit +schlechtem Gewissen seinen Weg zur Mühle fortsetzt, so sind seine +Privatgefühle daran schuld. + +Er geht in sein Zimmer, das Michael Pohl ihm im Kontoranbau neben der +Mühle zur Verfügung gestellt hat und wartet auf das Frühstück. Es wird +ihm aus dem Wohnhaus gebracht. Man sorgt für ihn und nimmt sich seiner +an, er jedoch kommt nicht mit einer guten Nachricht schnurstracks zum +Müller, sondern läuft erst einmal einem Weiberrock nach. + +Ein schlechter Patron bist du, sagt er vor sich hin, ein Schwächling, +ein Weiberknecht. Er kann nichts damit ungeschehen machen. + +Um acht Uhr geht er ins Kontor hinunter, um sich beim Mühlenbesitzer zu +melden. Er läuft ihm nicht mit »Halloh« und »Gute Botschaft« entgegen. +Er meldet das Resultat der Abstimmung und hält seine Mütze in der Hand. + +Da spürt er einen kräftigen Schlag auf der Schulter, und ein herzlicher +Händedruck rüttelt ihn wieder aus seiner Niedergeschlagenheit hoch. + +Ja, nun sollen sie wirklich das Brot für die ganze Stadt backen. + +»Aber das Schönste ist doch, daß sie einig geworden sind, -- daß sie +für einen guten Zweck und nicht für einen Profit einig geworden sind!« +sagt der Mühlenbesitzer. Er beginnt, der Menschheit wieder seinen +Kinderglauben zu schenken. + +Nun gibt es zu tun! Donnerlot, was muß nun alles überlegt und +eingeleitet werden. Ein Winter ist kurz, wenn man eine so große Sache +bis zur Grundsteinlegung bringen will. Im Frühling schon soll mit dem +Bau begonnen werden. -- -- -- + +Frühling im Hafen! Das ist wie Gesang. Ein stummes Dank- und Jubellied +schwebt unter der blauen Kuppel des Himmels. Hier stehen zwar viele +Gebäude, ein Turmhaus sogar, und hohe Kräne recken ihre schwarzen Arme +auf, doch man kann sich an das Kopfende eines Hafenbeckens stellen und +Wasser, Himmel, Erde sehen, soweit das Auge reicht. Diese drei waren am +Anfang der Welt, und hier sind sie noch und beginnen ein neues Leben. + +Steigst du aber bis in den zehnten Stock des Turms im +Verwaltungsgebäude, so siehst du außerdem noch eine ganze große Stadt. +Und dort drüben zieht sich ein silbernes Band. Das ist der Fluß dieser +Stadt, an dem sie sich einstmals anbaute, weil es praktisch ist, diese +Straße zu haben. Und da ist ein zweites Band. Das ist der alte Kanal. +Und hier ein drittes: der Verbindungskanal. + +Nun sind sie aus ihrer Ruhe erwacht. Fleißige Schleppdampfer schicken +ihre schmalen Rauchsäulen zu den weißen Himmelswolken empor, und hinter +ihnen kommen sie in langer Reihe: die braven dunklen Kähne mit ihren +Schätzen im tiefen breiten Bauch. + +Der Kapitän tritt aus der Tür und geht in einer ganz anderen Art über +den Platz. Er stößt die Beine mit einer Lust in den warmen Tag hinein, +daß man fast glaubt, die Gelenke knacken zu hören. Wie war er hier doch +geschlichen mit seinem grauen Tuch um den Hals, in den Winterpaletot +geduckt, und wenn er, von seinem Reißen geplagt, den Kopf drehen +wollte, so ging es nicht, er mußte den ganzen steifen Körper wenden. + +Nun reibt er die Hände und sagt »Guten Morgen, guten Morgen«, immer +in einer anderen Tonart. Wenn die Natur ihre neuen lustigen Melodien +singt, dann zieht auch der Mensch vielfältige Register. + +Schwester Emmi hat zum erstenmal ein helles Waschkleid an und läuft +auf ihren zierlichen Lackschuhen zu den eben angelangten Kähnen am +Zollspeicher. Felix Friemann verfolgt sie mit seinen langen Beinen aus +weiter Entfernung und ruft: »Schwester eins, Schwester eins!« + +Aber sie hört ihn nicht. Sie stellt sich vor einem Kahn auf und ruft: +»Tom!« Da rennt ein Pudel bellend zur Bordwand, ein blonder Knabenkopf +stößt in die Höhe, und dann setzen sie beide, der Junge und der Hund, +mit einem Sprung auf die Kaimauer. + +Schwester Emmi wird fast umgerannt, so stürmisch ist die Begrüßung des +kleinen Tom, und so heftig zerrt der Pudel an ihrem Rock. Sie sind +beide von ihrer ersten Ausfahrt zurückgekommen. + +»Ich glaube, Junge,« ruft die Schwester aus, »du bist inzwischen wieder +größer geworden! Hast du dich heute auch schon gewaschen?« + +Nein, gewaschen scheint er noch nicht zu sein, aber er hat blitzblanke, +saubere blaue Augen, und er ist seines Vaters Sohn! + +Nun hat auch Felix Friemann endlich bei Schwester Emmi Anker geworfen. + +»Schwester eins«, sagt er atemlos. »Warum laufen Sie mir denn davon?« + +»Ach, Sie mit Ihrer eins. Wo ist denn die Schwester zwei?« + +»Wenn Sie nicht bald etwas netter werden, beantrage ich sie bestimmt.« + +»Ph -- ich warte nur darauf.« + +»Aber ich habe Ihnen eine große Neuigkeit zu melden. Sie werden +staunen!« + +»So? Ich staune schon gar nicht mehr. Sind Sie endlich zum Direktor der +Fürsorgestelle ernannt?« fragt sie spitz. + +»Viel mehr! Ich schlage meine Sommerwohnung im Hafen auf!« + +»Was machen Sie?« + +»Ich ziehe in Herrn Gregors Zimmer.« Er sieht sie triumphierend an. + +»Meinetwegen --« + +»Freuen Sie sich denn gar nicht über den neuen Nachbarn?« fragt er +traurig, als sie sich von Tom und seinem Pudel verabschiedet hat und +weitergeht. + +»Was geht das mich an?« sagt sie mit bösem Gesicht. Und mit einem +Würgen in der Kehle setzt sie hinzu: »Wenn ihr mich doch endlich in +Ruhe lassen wolltet!« + +»Wen meinen Sie denn noch?« + +»Ach -- ihr! Alle! Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen?« Sie +geht in das Kontor der Lagerhalle und schlägt die Tür vor +Dr.+ +Friemanns Nase zu. + +»Sie sehen ja so böse aus«, sagt Herr Karcher, der mit immer +gleichmäßiger Freundlichkeit ihre Morgenbesuche aufnimmt. + +»Ja,« sagt sie, »am frühen Morgen wird man schon geärgert.« + +»Aber!« meint er bedauernd. Er fragt nicht; darum beichtet sie ihm +auch alles, was ihr Herz bewegt. Er ist allmählich zu ihrem Vertrauten +geworden, besonders wenn es sich um Telephongespräche handelt. + +»Was mache ich denn jetzt?« fragt sie. »Der Herr Gregor hat mir schon +wieder geschrieben. Er denkt, daß sein erster Brief unterschlagen sei, +weil ich ihm nicht antworte. Dabei schreibt er den Absender auf den +Umschlag, und ich will mich hängen lassen, wenn die Reiche das nicht +gesehen hat, denn die Schikanen gehen schon wieder an.« + +»Ja, ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist. Aber für Sie will ich es +gern tun und zu ihm hingehn«, meint Herr Karcher zaghaft. + +»Oder soll ich ihm lieber schriftlich mitteilen, daß ich nichts mit ihm +zu schaffen haben will?« + +»Das könnten Sie auch.« + +»Er schreibt, daß er sogar schon eine neue Stellung gefunden habe. Er +muß doch etwas taugen, wenn man ihn engagiert, obgleich er eben erst +aus dem Gefängnis gekommen ist.« + +»Ja«, sagt Herr Karcher, während er sich wieder mit den Eintragungen in +seinen Büchern beschäftigt. + +Schwester Emmi sieht ihm eine Weile zu. + +»Als es ihm schlecht ging,« setzt sie ihren Gedankengang fort, »hat +er sich von Frau Reiche helfen lassen. Jetzt will er nichts mehr von +ihr wissen -- Also ich werde ihm schreiben, daß er mich in Ruhe lassen +soll.« + +Felix Friemann hat den Wiegemeister der Lagerhalle +II+ in ein +längeres Gespräch gezogen. Nun schließt er sich für den Rückweg der +vorbeieilenden Schwester Emmi an. + +Sie muß sich nach allen Seiten wehren. + +Vor der Kantine begegnen sie Rechtsanwalt Bernhard, der direkt zur +Mühle hinübergeht. + +Michael Pohl sieht diesem Beauftragten seines Prozeßgegners nicht mehr +finster abwartend entgegen. Er winkt ihn freundlich herbei und ist +ein wenig begierig, zu erfahren, was der Herr Generaldirektor nun im +Schilde führt. + +»Heute komme ich nicht zu Ihnen«, sagt der Rechtsanwalt. Es ist ihm +doch eine Erleichterung, diesen Mann nicht amtlich begrüßen zu dürfen. +»Ich suche Herrn Reiche.« + +»Dann gehen Sie nur da hinein und lassen Sie sich in das Baukontor der +neuen Brotfabrik führen.« + +»Ja«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Hier gehen große Dinge vor.« + +Der Mühlenbesitzer lächelt. »Na, na,« meint er, »Sie sind doch andere +Dimensionen gewöhnt. Sehen Sie, der Grund ist schon gelegt. Die +Unterkellerung ist das schwierigste.« + +Sie bleiben eine Weile bei den Arbeiten stehen. Dann sucht der +Rechtsanwalt Herrn Reiche auf, der in einem hübschen kleinen Bureau +sitzt und seinen Besucher sogar ein wenig warten läßt, weil er mit dem +Baumeister und einem Ingenieur einiges zu besprechen hat. Aber er ist +noch nicht so verdorben, daß er deswegen ein Gespräch in die Länge +zieht und sich mit wichtigen Konferenzen entschuldigt, nein, er beeilt +sich und sieht es nicht gern, daß seinetwegen jemand warten muß. + +»Ich wollte wegen Ihrer Scheidung mit Ihnen sprechen«, meint der +Rechtsanwalt. »Da ich gerade hier draußen zu tun hatte, glaubte ich, es +sei am besten, wir bringen es gleich in Ordnung.« + +»Meinetwegen konnte es längst erledigt sein. Ich dachte, meine Frau +besorgt das schon.« + +»Ja,« sagt der Rechtsanwalt lächelnd, »so einfach ist das nicht. Sie +müssen sich schon auch ein wenig bemühen. Zum Beispiel brauchen Sie +einen Rechtsbeistand.« + +»Ich denke, Sie machen das?« + +»Hm, ich bin der Rechtsvertreter Ihrer Frau, also Ihr Gegner, doch ich +kann Ihnen einen Kollegen empfehlen.« + +»Wissen Sie -- dazu habe ich eigentlich keine Zeit. Aber es soll mir +recht sein, wenn das endlich ins reine kommt.« + +»Na also. Sie wollen beide geschieden sein. Doch wir müssen erst einen +Grund finden.« + +»Finden? Ist das vielleicht kein Grund, wenn meine Frau mit diesem +Herrn Gregor die Ehe gebrochen hat?« + +»Tja, Ihre Frau behauptet, daß Sie in diesem Winter einmal bei ihr +gewesen wären und die Sache verziehen hätten. Seitdem kann man ihr +nichts nachweisen.« + +Der Bäckermeister will an diesen Wintertag nicht gern erinnert werden, +er bekommt sogar rote Ohren bei der Erwähnung. Das ist doch wirklich +eine komische Manier, davon zu einem Rechtsanwalt zu sprechen. Darum +sagt er auch heftiger, als es sonst seine Art ist: + +»Verziehen? Nein, verziehen habe ich ihr das nicht.« + +»Nach dem Gesetz aber gilt es so, wenn Sie die Behauptung Ihrer Frau +nicht widerlegen können, daß an jenem Abend --« + +»Herr Doktor,« sagt der Bäckermeister sehr aufgebracht, »wenn ich das +jetzt so höre, da möchte ich meinen, daß meine Frau das damals schon +gewußt hat.« + +»Das würde nichts am Tatbestand ändern, mein lieber Herr Reiche. Aber +ich denke, daß wir uns einigen werden. Es ist ja auch nicht üblich, die +Frau als schuldigen Teil bloßzustellen. Darum macht man es gewöhnlich +so, daß der Mann die Schuld übernimmt, da es nach dem Gesetz nun mal +einer sein muß.« + +»Ich habe doch aber meiner Frau nichts zuleide getan. Oder ist es nach +dem Gesetz anders zu nehmen?« + +»Nein, durchaus nicht, Herr Reiche. Im Gegenteil, Ihre Frau hat sich +sehr lobend über Sie ausgesprochen. Das einfachste wird schon sein, wir +konstruieren einen Ehebruch auf Ihrer Seite.« + +»Wer? Ich?« ruft Herr Reiche entrüstet aus. »Und wenn ich noch einmal +heiraten will, welche Frau soll mich denn da nehmen, wenn ich ihr sage, +weswegen meine erste Ehe geschieden ist? Nein, Herr Doktor, da muß sich +das Gesetz schon etwas anderes ausdenken.« + +»Aber, lieber Reiche, das ist doch lediglich eine Formsache. Und +außerdem brauchen Sie doch als Mann nicht solche Bedenken --« + +»Herr Doktor,« sagt Herr Reiche, während er sich erhebt, »wenn ich +schon solche modernen Sachen wie Scheidung und so mitmache, deswegen +bin ich noch kein schlechter Mann. Und wegen der anderen Sache, da muß +ich erst noch mit jemand sprechen, ob sie keinen Anstoß daran nimmt.« + +»Wie meinten Sie?« + +»Daß ich's mir erst überlegen muß, meine ich, das mit der feinen Sache, +die das Gesetz verlangt.« + +»Selbstverständlich, Herr Reiche, es drängt Sie niemand. Ich meinte +nur, daß Sie selbst ein Interesse daran hätten, endlich geschieden zu +werden.« + +Der Rechtsanwalt geht mit einem Schmunzeln im Mundwinkel davon. Er hat +ja nun schon mancherlei Scheidungsfälle in seiner jungen Praxis gehabt, +aber so ein kurioser Mann ist ihm noch nicht vorgekommen. + + + + + Der Streik + + +Weil Rechtsanwalt Bernhard nun schon gewissermaßen mit dem Hafen +beschäftigt ist, fährt er gleich zur Generaldirektion ins Stadtbureau, +um noch eine andere Angelegenheit ins reine zu bringen. Er läßt sich +bei Joachim Becker melden und geht sofort auf sein Ziel los. + +»Nachdem nun mit Unterstützung der Stadt auf dem Pohlschen Grundstück +die Brotfabrik errichtet wird, kann die Hafengesellschaft, an der +die Stadt gleichfalls beteiligt ist, wohl nicht mehr gut den Prozeß +weiterführen«, meint er einleitend. + +»Richtig«, ruft Joachim Becker aus. »Sie kommen gerade zurecht. Ich +habe mit dem Vorstand schon darüber gesprochen. Wir wollen den Prozeß +beenden. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß wir auch ohne dieses Stück +arbeiten können. Wir dehnen uns nach Süden aus. Es wird da draußen ein +neuer Güterbahnhof geplant, dann läßt es sich mit dem Gleisanschluß +ganz gut machen.« + +»Das ist ja sehr schön«, sagt der Rechtsanwalt erfreut. Wie gut es doch +geht, denkt er, wenn man sich erst an einen anderen Gedanken gewöhnt +hat. Man versäumt die Gelegenheit, eine unwürdige Feindschaft aus der +Welt zu schaffen, nur weil man sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das +scheinbar nicht auszutreiben ist. + +»Ja, wir wollen bis zum Herbst das dritte Hafenbecken fertigstellen. +Inzwischen wird wohl auch das Gelände der Verhüttungsgesellschaft +so weit im Preise gesunken sein, daß wir es zurückkaufen können. Im +nächsten Frühjahr soll der Hafen unseren Plänen entsprechend vollendet +sein. Dann wollen wir wieder ein Fest veranstalten.« + +Joachim Becker lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht den +Rechtsanwalt mit strahlenden Augen an. Nun, da er seinem Ziel so viel +näher ist, sind seine Blicke steter, die Bewegungen ruhiger. + +»Das wird wohl großartiger werden als die bescheidene Feier für den +ersten Spatenstich«, wirft Rechtsanwalt Bernhard ein. + +»Das will ich meinen!« Der Generaldirektor erhebt sich noch immer +nicht, um seinem Besucher das Ende der Konferenz anzudeuten, nein, er +spielt mit seinem Brieföffner und malt sich anscheinend die Feier aus. + +»Übrigens«, meint er liebenswürdig, »hat meine Frau kürzlich +festgestellt, daß Sie sich lange nicht bei uns sehen ließen. Wir wollen +in der nächsten Woche einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter der +Hafengesellschaft mit ihren Damen laden. Sie werden hoffentlich nicht +fehlen?« + +Gewiß nicht. Rechtsanwalt Bernhard hat noch nie eine Gelegenheit +versäumt, um Frau Adelheid wiederzusehen. + +Sie schütteln einander die Hände zum Abschied, da wird die Tür +stürmisch geöffnet, und +Dr.+ Felix Friemann stürzt in heftiger +Erregung herein. + +»Die Arbeiter im Hafen wollen streiken,« bringt er unter großen +Wortverlusten hervor, »die Arbeiter im Hafen --«, fügt er dafür noch +einmal hinzu. + +»Was sagst du da?« ruft Joachim Becker aus. »Sind die Kerle +verrückt geworden? Da müßte man doch gleich mit Maschinengewehren +dazwischenfahren!« + +Rechtsanwalt Bernhard macht ein sehr verlegenes, bedauerndes Gesicht +und verschwindet lautlos. + +Joachim Becker bestellt sofort seinen Wagen; er will von seinem +Schwager Näheres erfahren, denn die Nachricht trifft ihn ganz +unerwartet. + +»Wir sind mitten in der besten Arbeit. Das ist ja geradezu eine +Gemeinheit, sich diesen Termin dafür auszusuchen«, sagt er, im höchsten +Grade erregt. + ++Dr.+ Friemann kann ihm leider keine Erklärungen geben. Er ist +sofort hierher geeilt, um die Nachricht als erster zu bringen, und +brennt nun darauf, sie auch zu seinem Vater zu tragen. Solch eine +aufregende Angelegenheit ist ihm eine angenehme Abwechslung, obgleich +sie seine Sprache verwirrt. + +Der Generaldirektor wendet sich verärgert ab. Er versucht immer wieder, +seinem Schwager mit Nachsicht zu begegnen, aber es will ihm nie +gelingen. Er fällt sogar in seine alte Unduldsamkeit zurück, wenn er +geschäftlich mit ihm zusammentrifft. Im Familienkreis dagegen findet er +einen liebenswürdig-ironischen Plauderton. + +Er fährt in den Hafen und trifft eine Abordnung der Arbeiter im Zimmer +des Kapitäns. + +Die Tätigkeit ist noch nicht eingestellt, doch man will sich dem +beabsichtigten Streik der Transportarbeiter anschließen. + +»Was wollt ihr denn?« fragt der Generaldirektor. »Genügt euch die +Bezahlung nicht?« + +»Uns wohl«, sagt Karle Töndern, der zum Sprachführer ernannt wurde. +»Wir sind mit allem sehr zufrieden. Aber unsere Arbeitskollegen in der +Stadt nicht.« + +»Ja, was geht das uns an! Deswegen könnt ihr doch eure Arbeit leisten +und uns nicht in diese Verlegenheit bringen. Oder sind Sie nicht +imstande, zu übersehen,« fragt er mit einem scharfen Blick auf Karle +Töndern, »was ein Streik jetzt dem Hafen für einen Schaden bringt?« + +»Das sehen wir wohl ein,« meint Karle Töndern ruhig und fast etwas +traurig, »es tut uns auch allen sehr leid, da wir zufrieden sind und +über Tarif bezahlt werden. Aber wir können unsere Kollegen nicht im +Stich lassen.« + +»Ihr seid doch im Grunde keine Transportarbeiter!« + +»Nein, das stimmt. Doch wir haben uns dem Verband angeschlossen, damit +wir allein nicht so schwach sind, und nun müssen wir zusammenhalten.« + +Damit wir allein nicht so schwach sind! Mit diesen Worten ist Joachim +Becker geschlagen. Er hat es an sich selbst erfahren, wie es auf den +inneren Menschen wirkt, wenn er allein bleibt und sich an niemand +anschließt. Man verliert den Mut oder man wird hart. Vielleicht gibt es +noch eine dritte Möglichkeit, aber dazu muß man sehr stark sein. Diese +Männer hier, in deren Beruf der einzelne nichts auszurichten vermag, +sind nur stark in der Gesamtheit. + +Joachim Becker bekommt plötzlich Respekt vor dieser Geschlossenheit. +›Das ist es, was uns fehlt, uns Neunmalklugen‹, denkt er. ›Wir haben +nicht ~ein~ Ziel, wir haben tausend Ziele, jeder ein anderes, und +dabei vergessen wir das Wesentliche und zersplittern uns. Hier ist +~ein~ einender Gedanke: sich gegenseitig stützen und treu bleiben. +Dafür bringen sie sogar persönliche Opfer.‹ + +Er hatte mit den alten Mitteln auffahren wollen: Entlassungen, +Einstellung von Streikbrechern. Nun sagt er zum Kapitän: + +»Was können wir da unternehmen?« + +»Mit dem Arbeitgeberverband sprechen?« meint der Kapitän fragend. + +»Wir dachten uns, daß es vielleicht nicht lange dauert,« wendet Karle +Töndern ein, »denn was der Hafen bezahlen kann, dachten wir, warum +sollen das die anderen nicht auch können?« + +›Was sagst du da in deiner Einfalt?‹ denkt Joachim Becker. ›Du machst +mir klar, daß ich der Ungetreueste bin, daß ich meinen Genossen in den +Rücken fiel. Weil ich eingesehen habe, daß die Löhne zu niedrig sind, +und mir mit unterernährten Arbeitern nicht gedient ist, habe ich für +~mein~ Teil gesorgt und die Löhne erhöht, anstatt zum Verband zu +gehen und zu sagen: wir müssen es ~alle~ so machen, oder warum +könnt ihr es nicht? Nun muß ich bei Gott noch von meinen geringsten +Arbeitern lernen und ihnen nacheifern.‹ + +Hat er nicht vor einer halben Stunde erst gesagt: »Da müßte man mit +Maschinengewehren dazwischenfahren?« Nun nimmt er demütig ihre Lehren +entgegen und hat das eigenartige Gefühl, daß er trotzdem wieder ein +Stück gewachsen sei. + +Er reicht den Männern die Hand und sagt: »Wir wollen deswegen keine +Feinde sein, ich will versuchen, ob ich etwas ausrichten kann.« + +Da ziehen sie befriedigt ab und fürchten sich nicht einmal vor +Lohnausfall und Sorgen. + +Bis zum Abend hat Joachim Becker, der nicht eher ruht, bis er eine +Sache zu Ende durchgeführt hat, verschiedene Versuche unternommen. +Er langt erschöpft und entmutigt zu Hause an und muß sich noch +einem Gast widmen: Direktor Haarland, dem Amateurboxer und jüngsten +Aufsichtsratsmitglied der Hafengesellschaft. + +Die zarte junge Frau Haarlands, die den größten Teil des Jahres in +Davos leben muß, hat sich an Frau Adelheid angeschlossen. Dann setzen +sich die beiden Männer in das Rauchzimmer und plaudern. + +»Und wissen Sie, was man mir geantwortet hat?« sagt Joachim Becker zu +Direktor Haarland, der sich in seinem Sessel wie auf einem Liegestuhl +ausstreckt. »Als wäre das so ganz in der Ordnung, meinten sie: +›Selbstverständlich zahlen viele über Tarif. Das steht jedem frei, +aber wir wollen niemand dazu zwingen. Für die Allgemeinheit muß der +alte Tarif erhalten bleiben.‹ Sie gebrauchten sogar noch das Wort +Allgemeinheit!« + +Direktor Haarland lacht. »Haben Sie sich schon mal zur Allgemeinheit +gezählt? Sehen Sie, das macht nämlich keiner. Für uns ist das bloß ein +Wort. Im übrigen ist jeder ein ›Ich‹, eine Besonderheit, auf die er so +recht stolz sein muß.« + +»Natürlich will man die Individualität nicht ausgeschaltet wissen, aber +der Zusammenhalt, die Geschlossenheit!« ruft Joachim Becker aus. + +»Da muß ich Sie wieder was fragen: wenn einer Konkurs anmeldet, haben +wir dann schon mal gesagt: Donnerwetter, eine betrübliche Lücke in +unserer Phalanx, wieder einer weniger? Nee, wir sagen: Gott sei Dank, +ein Konkurrent weg. Und wenn's nach uns ginge, so könnten 99 Prozent +fallieren, dann bleibt eben die Chose für einen ganz allein. Wissen +Sie, ich kann das nur wieder mit meinem Boxsport vergleichen: man will +dem Gegner nicht nur eine kleine Blessur beibringen wie etwa mit dem +Florett, um seine Kunst zu zeigen, nein, man möchte ihn am liebsten für +alle Zeiten kaputtschlagen. Dann ist man ihn los, den Kerl, und kann +sich feiern lassen. Darin liegt nämlich der Witz: wir betreiben eine +Sache nicht der Sache wegen, sondern um eines Endzwecks willen. Und der +ist immer nur: Geld, Ruhm und alles, was sich damit kaufen läßt. Wir +haben den Genuß am tätigen Leben verloren.« + +»Den Genuß am tätigen Leben --«, wiederholt Joachim Becker langsam. +»Ja, das klingt geradezu paradox.« -- -- -- + +Nun hat der Hafen also auch seinen Streik. + +Eine Explosionskatastrophe, der Konkurs eines Mitläufers, +vorübergehende Arbeitseinstellung, ein Streik -- das sind Beigaben, +die wie Kinderkrankheiten hingenommen werden müssen. Man kann +sie in vielfacher Weise erleben, sie schmieden das Werk wie die +Schicksalsschläge den Menschen: der eine wird mutlos, der andere hart, +der dritte aber trägt alles als einen Gewinn fort. + +Und wenn das Leben ihm so recht nach Herzenslust mitgespielt hat und +wir begegnen ihm, so sagen wir: Siehe, ein Mensch! + +Joachim Becker hat von diesem Streik gleichfalls manches gelernt. +Er mußte schon viele Wandlungen erleben. Er ist zum Beispiel einmal +mit einer Shagpfeife herumgelaufen und hat sich von den Engländern +imponieren lassen, er bewunderte auch die Amerikaner und ließ in +seinem Hafen ein Turmhaus bauen. Man kann nicht sagen, daß es +gleich die Wolken kratzt, doch es hat so viel Räume, daß selbst die +überorganisierteste Hafengesellschaft sie nicht auszufüllen vermöchte. + +Aber ebenso wie man eine Shagpfeife wegwerfen darf, weil sie nicht +schmeckt, so kann man ein Verwaltungsgebäude vermieten, wenn man selbst +nur einen halben Seitenflügel braucht. + +Joachim Becker hat es zwar einmal nicht erwarten können, ein Projekt +in seiner vollen Größe sofort verwirklicht zu sehen, er ist nicht für +langsame Entwicklungen, aber er findet letzten Endes doch noch einen +gesunden Weg. + +Und das Schicksal straft ihn für seine Ungeduld, indem es ihn ein +langsames Wachstum seines inneren Menschen erleben läßt. + +Hat er nicht seinen Arbeitern die Hände geschüttelt, obgleich sie ihm +den Streik verkündeten? Jetzt rennt er wütend in seinem Hafen umher und +möchte am liebsten jeden hinauswerfen oder verprügeln, der die Hände in +den Taschen hält und sich müßig die vollen Kähne beguckt. + +Karle Töndern steht bei Schiffer Jensen und sagt: + +»Da liegst du nun fest mit deiner Ladung.« + +»Ja,« sagt Schiffer Jensen, »da ist mal nichts zu machen.« + +Sie nehmen es beide wie eine Schicksalsfügung geduldig hin. Der Tod +holt sich eine blonde junge Frau und kümmert sich nicht darum, wie dem +Manne mit seinem kleinen Jungen nun zumute ist. Aber auch dann hadert +Schiffer Jensen noch nicht einmal mit seinem Gott. + +Karle Töndern trottet zum Getreidespeicher hinüber. Da rattern die +Maschinen ohne Unterbrechung. Bodenmeister Ulrich hält auf seinem +Posten aus, er ist ungeheuer beschäftigt. Die Generaldirektion hat ihm +zwar einige Helfer geschickt: Grünschnäbel aus dem Bureau, die ihm +nur im Wege stehen, und ein paar Mechaniker, die vielleicht mit einer +Wasserleitung fertig werden ... Doch mit einem Getreidespeicher...? +Einen Getreidespeicher versteht nur er, Bodenmeister Ulrich. + +Hier vermag also Karle Töndern mit seinen gebundenen Händen auch nichts +auszurichten, er macht einen großen Bogen um den Generaldirektor +und den Kapitän und schlängelt sich in die Hafenwirtschaft hinein. +Vielleicht kann er bei Frau Reiche ein wenig von seiner vielen Zeit +loswerden. Er hört ihr lautes Kreischen schon vor der Tür. + +»Na, da kommt ja noch so ein Faulenzer!« ruft sie ihm entgegen. »Wenn +es heute hier Alkohol gäbe, dann wärt ihr jetzt schon alle besoffen!« + +Sie machen ihre Witze und sind scheinbar ebenso guter Laune wie Frau +Reiche, die sich in ihrer Ausgelassenheit keinen Rat mehr weiß. Und +nun bringt sie wahrhaftig ihr Kirschwasser an und traktiert alle Gäste. + +»Erstens ist das meine private Angelegenheit,« sagt sie zu ihrer +Rechtfertigung, »und zweitens kann es mir ja jetzt schon ganz egal +sein, da ich doch von hier weggehe.« + +Was? Hat man recht gehört? Das ist doch wirklich eine Nachricht, nicht +weniger wichtig, als wenn der Generaldirektor selber demissionierte. + +»Ja,« sagt sie mit stolzem, breitem Lachen, »ich werde jetzt geschieden +und tausche die Kantine gegen ein Zigarrengeschäft.« + +Aha! Nun wissen sie Bescheid. Sie denken sich ihr Teil und sind nicht +so engherzig, es für sich zu behalten. + +Ob sie wohl schon einen Geschäftsführer für den Zigarrenladen hätte? +Einen mit seidenen Strümpfen und feinen Krawatten? Haha, dann wäre ja +alles in Ordnung. + +»Wem es nicht paßt,« sagt Frau Reiche drohend, »dem kann ich auch nicht +helfen!« Sie lachen, daß die Wände dröhnen. Ab und zu verschwindet +einer von den Gästen ohne viel Aufhebens, aber dann ist gleich wieder +ein anderer da, und die Unterhaltung bleibt weiter im Gange. + +Karle Töndern schiebt sich zur Tür hinaus. Er bohrt die Hände fest in +die Taschen und macht das gleichmütigste Gesicht von der Welt. + +›Das allerschlimmste ist,‹ denkt er, ›daß man nicht weiß, wie man seine +Zeit totschlagen soll.‹ Karle Töndern erlebt seinen ersten Streik. +Er ist seit zehn Jahren in der Stadt und hat immer seine Tätigkeit +gehabt. Manchmal dachte er, du möchtest doch auch einmal die Straßen +am Vormittag sehen; besonders im Winter, wenn er in der Dunkelheit zur +Arbeitsstelle ging und wiederum im Dunkel nach Hause kam. Da konnte man +sich die ganze Woche Frau und Kinder nicht im Tageslicht begucken. + +Aufrührerische Ideen hatte Karle Töndern noch nie gehabt, aber zuweilen +meinte er doch: einen Werktag möchtest du mal für dich haben und dir +die Welt zu jeder Stunde betrachten, besonders zwischen sieben und +vier. Nun hat er diesen Tag. + +Er könnte sich zum Beispiel auf jene Bank setzen, die zwischen ein paar +grünen Bäumen aufgestellt ist und den Großstädter zur Ruhe auffordert. +Da dürfte er die Natur genießen und vielleicht auch den spielenden +Kindern zuschauen. Aber was sieht er? Seine Frau, die daheim an den +Kochtöpfen hantiert und nicht wagt, ein Stück Fleisch hineinzulegen. + +Sie glaubten gerade, eine schleppende Last, die durch Krankheiten der +Kinder entstanden war, bald abschütteln zu können, da bringt der Streik +neue Sorgen. Das zieht sich dann von Woche zu Woche hin, und wenn du +denkst: ›den nächsten Lohn kannst du endlich einmal glatt einteilen, +damit du für jeden Tag etwas hast,‹ da ist plötzlich der Winter +eingezogen, und du brauchst Kohlen und warmes Zeug für die Kinder. + +Nein, auf dieser Bank ist doch kein schönes Verweilen. Da geht Karle +Töndern lieber zum Verbandslokal und hört, was die anderen sagen. Man +kann sie schon von weitem sehen, denn sie stehen auf der Straße umher, +reden über dieses und jenes und warten. + +Von der Streiklage hat noch niemand Näheres gehört. Aber hier ist +einer, der könnte heute seinen 25. Streik feiern. + +»Da kannst du mit mir noch gar nicht mit«, sagt ein anderer, und er +lacht, ohne das Gesicht zu verziehen. + +Karle Töndern guckt einigen verstohlen auf die Beine und denkt: solche +geflickten Hosen hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gehabt. +Und dann unterhält er sich mit mehreren, die auch ihren ersten Streik +erleben. + +Viele tragen dünne Rucksäcke auf dem Rücken, darin haben sie ihren +Proviant für den ganzen Tag. Wenn jetzt die Parole erteilt wird »Arbeit +aufnehmen«, dann können sie gleich hingehen, und für ihr Essen ist +gesorgt. + +Manche haben sich schon etwas »Mut« geholt. Ihre Augen schwimmen, und +sie sagen auch mal was Lustiges, worüber keiner lacht. + +Und da stehen sie alle und warten. + + + + + Die Begegnung + + +Der Streik ist nach wenigen Tagen beigelegt worden und hat dem Hafen +keinen nennenswerten Schaden gebracht. + +Beide Hafenbecken liegen voller Schiffe, und es ist wieder ein +lebhaftes Getriebe an allen Kaimauern, in den Lagerhallen und auf den +freien Plätzen. + +Irmgard Pohl muß, von ihrer Reise zurückgekehrt, feststellen, daß +der großartige erste Eindruck durchaus nicht hinter dem Bild ihrer +Erinnerung zurücksteht. Gewiß hat sich während ihrer Abwesenheit +manches im Hafen geändert. Es wurde immer weiter gebaut, sogar ein +drittes Hafenbecken kann bald in Betrieb genommen werden, und alles ist +noch mächtiger, als es war. Aber welche Wandlungen sind diesseits des +Kanals vor sich gegangen! + +Daß sie von Frau Pohl herzlich, ja sogar mit gerührtem Überschwang +begrüßt wird, überrascht die Heimgekehrte ebenso wie die äußere +Veränderung an der Mutter. + +Sie waren in diesem Jahr der ersten räumlichen Trennung in einen +angeregten Briefwechsel hineingeraten, der alle Gegensätze zu +überbrücken schien. Irmgard wußte jedoch, daß die Mutter zu jenen +Naturen gehört, die sich nur dem körperlich fernen, dem unsichtbaren +Menschen ganz erschließen können, und sie fürchtete sich vor der +Schranke, die sich bei der persönlichen Begegnung zwischen ihnen +aufrichten würde. + +Und nun steht Frau Pohl neben ihr, den Arm ohne Scheu zärtlich um die +Schultern der Tochter gelegt, mit einem mütterlich-weichen Lächeln im +entspannten Gesicht, und aus den Augen ist endlich der starre Glanz +gewichen. + +Sie eilt nicht gehetzt von einer Arbeit zur anderen, sondern sie läßt +sich hier und da nieder und sieht zu, wie die Zeit langsamer davongeht. + +»Ja,« sagt sie fast entschuldigend, während sie sich wieder vom +pausbäckigen und sehr dreibastigen Sohn tyrannisieren läßt, »so +vertrödelt man seine Zeit«. Und dann kostet es sie einige Mühe, sich +vom Stuhl zu trennen, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen. + +Irmgard geht zum soundsovielten Male in den alten Räumen umher und +feiert Wiedersehen. Ihre Bewegungen sind ausholender geworden, sie +bewegt die Arme nach allen Seiten, und es scheint, als wären die Zimmer +nun zu eng für sie. + +Zuweilen betrachtet sie den kleinen Michael, der bei der Begrüßung +kein gutes Gedächtnis verriet, sondern seiner »Schwester« sehr +eindringlich vorgestellt werden mußte. Sie sieht ihm von der Seite zu, +wie er seine Spielsachen umherwirft, und lauscht mit Vergnügen seinen +Selbstgesprächen, aber sie muß es sich gefallen lassen, daß er ihre +Beteiligung am Spiel zunächst noch ablehnt. + +Herr Pohl kommt zur Mittagsstunde herein und setzt sich in den Sessel +am Fenster, mit einer gewohnten stillen Geste, als wäre es an der +Tagesordnung, daß er hier erst eine Weile auf sein Essen wartet. + +Der Tisch ist noch nicht gedeckt, Irmgard sieht kopfschüttelnd auf die +Uhr. + +»Sag' einmal, Vater,« fragt sie, mit übertriebenem Staunen, »verspätet +man sich hier mit dem Essen?« + +Der Vater nimmt ihren Spott lächelnd hin. »Das kommt jetzt zuweilen +vor,« meint er milde, »doch es ist sehr schön, indessen hier zu sitzen +und ein wenig zu sich selbst zu kommen.« + +»Ja, ja,« sagt seine Tochter, während sie sich hinter ihm aufstellt und +mit den Fingern über seine grauen Haare fährt, »es gehen große Dinge +vor in einem Jahr.« + +Sie lacht übermütig und begibt sich wieder auf ihre unruhigen +Entdeckungswanderungen. + +»Ich glaube, hier ist sogar etwas Staub liegengeblieben. Und wo sind +denn nur die scheußlichen Nippessachen, die überall herumstehen +mußten?« ruft sie aus einer Ecke des Zimmers zu ihm hinüber. + +»Die hat der Junge so nach und nach entzweigeschlagen«, erwidert Herr +Pohl gutmütig lachend. + +Irmgard kann es sich nicht versagen, den Knaben in ihrer Freude darüber +hochzuheben und mit einem Kuß zu belohnen. »Für die Rettung der Kunst«, +meint sie belustigt. + +Aber der so jählings in seiner Beschäftigung Gestörte rächt sich dafür +durch einen tüchtigen Griff in ihre Haare. Irmgard setzt ihn, ärgerlich +über die Abwehr und den körperlichen Schmerz, barsch auf seinen Platz +zurück. + +»Pfui, du bist ja ein ganz verzogener, brutaler Bengel geworden!« + +Der dreijährige Michael kann eine derartige Beleidigung nur mit einem +fürchterlichen Gebrüll beantworten, das sein guter alter Kamerad, der +Vater, besänftigen muß. + +Als er die letzten Seufzer auf seinem Knie verschluckt hat, meint +Michael Pohl entschuldigend zu seiner Tochter: + +»Siehst du, so ist es: was wir dir an Strenge zuviel gaben, hat der +Junge nun zu wenig. Man ist in der Jugend zu hart und im Alter zu +milde. Wo ist das goldene Maß im Leben?« + +Irmgard ist wieder besänftigt. Sie muß unwillkürlich an den Kapitän +denken und sagt nach einer Weile: + +»Wie geht es unserem gerechten Mann, dem Kapitän? Ich habe ihm auch +zwei Karten geschickt.« + +Herr Pohl findet, daß zwei Karten nicht viel sind, aber er gibt seine +Ansicht darüber nicht preis. Er wischt die Tränenspuren vom wieder +strahlenden Gesicht seines kleinen Adoptivsohnes und erwidert: + +»Er hat oft am Abend hier bei uns gesessen. Ja, man kann wohl sagen, +daß er immer noch so ist, wie er war. Wir drei haben uns recht gut +verstanden. Die Mutter freute sich stets, wenn er kam, denn sonst ist +es sehr still bei uns gewesen. Übrigens wurde der Prozeß mit dem Hafen +jetzt aus der Welt geschafft. Da mag ebenfalls der Kapitän seine Hand +im Spiele gehabt haben.« + +Irmgard ist zwar auch damit zufrieden, daß dieser unerquickliche Streit +beseitigt wurde, aber sie sieht nicht ein, warum man das nur dem +Kapitän anrechnen soll. Konnte nicht Joachim Becker inzwischen auch +einsichtiger geworden sein? + +»Daß der Kapitän dich immer grüßen ließ, hat die Mutter dir wohl +geschrieben?« fragt Herr Pohl nebenbei. »Wir haben ihn zu morgen abend +eingeladen. Es ist dir doch recht?« + +Gewiß freut sie sich auch darauf, ihn wiederzusehen. + +»Ich habe mich doch sehr nach allem, was hier so rundherum ist, +gesehnt«, fügt sie hinzu. + +Sie stellt sich ans Fenster und blickt in das lebhafte Getriebe am +Mühlenplatz, auf die erweiterten Gebäude und das Getümmel um die +Baugrube der neuen Brotfabrik. Sie denkt daran, wie sie damals nach +Michaels Geburt hier saß und sich in das neue Leben nicht hineinfinden +konnte. Und wie später ihre überreizten Nerven diesen Pulsschlag +einer großen Stadt nicht vertragen wollten. Nun erlebt sie alles +mit gesunden Sinnen und freut sich auf Arbeit und Kampf und auf die +Überraschungen, die das Leben ihr noch zu bieten hat. + +Auch der Kapitän findet am nächsten Abend bei der Begrüßung, daß man +ihr die gesunden Nerven und die Unternehmungslust ansehe. Er kann es +nicht oft genug versichern. + +»Ja, Reisen wandeln den Menschen. Man sollte sich immer wieder einmal +neue Luft um die Nase wehen lassen. Ich habe auch schon daran gedacht, +daß es noch andere Häfen in der Welt gibt.« + +»Hier ist es doch sehr schön«, meint Irmgard Pohl. »Ich will jetzt zu +Hause bleiben und wieder Vaters Kompagnon werden. Was soll eine Frau +auch allein auf Reisen!« + +Ja, da habe sie recht. Darin muß der Kapitän ihr vollkommen zustimmen, +eine Frau brauche einen Begleiter. + +»Und sie denken doch kaum im Ernst daran, uns zu verlassen?« fragt Frau +Pohl nicht ohne Besorgnis. + +»Nein, nein, im Ernst noch nicht.« Für später hätte er daran gedacht. +Aber es habe noch Zeit, noch bliebe er hier. + +Und dann erzählt er wieder von seinen Reisen, von den vielfältigen +Wundern in der Welt. Er spricht sehr lange und ausführlich, in seiner +gleichmäßigen absatzlosen Art und mit Anstrengung in der Stimme. +Schließlich kommt er wieder zu dem Resultat, daß es gut sei, zu reisen. +Doch nicht allein. Das sei für keinen gut. Am wenigsten in der Fremde. + +Es scheint schwer, zur rechten Zeit aufzuhören, wenn man in so gutem +Fahrwasser ist. Irmgard, die sich vom Institut her an zeitiges +Schlafengehen gewöhnt hat, wird sehr müde, als der Kapitän sich endlich +verabschiedet. + +»Findest du nicht auch,« sagt sie zum Vater, der den Gast noch +begleitet hat, »daß der Kapitän im letzten Jahr sehr gealtert ist?« + +»Nein,« erwidert Herr Pohl, »er blieb genau so, wie er war.« + +»Aber jedenfalls ist er nicht mehr der jüngste«, meint Irmgard Pohl, +die jetzt einen anderen Maßstab anlegt. »Und seine arme Stimme hat er +sich auch bald ganz ausgeschrien.« + +›So ist die Jugend!‹ denkt Herr Pohl resignierend und ein wenig bitter +über so viel gedankenlose Grausamkeit. -- + +Wer könnte dem Kapitän jetzt seine gute Laune verderben! Er rennt im +Hafen umher, als gäbe es keinen Schreibtisch mit einem Telephon, mit +Briefen und Verträgen, die auch bedacht sein wollen. Fräulein Spandau +muß ihn immer wieder in den Lagerhallen, auf den Kähnen oder ganz +hinten bei den Schrott- und Kohlenbergen suchen, weil er gleichzeitig +im Verwaltungsgebäude verlangt wird. + +Um diesen Riesenbau macht er am liebsten einen recht großen Bogen. Er +ist nie ein Freund von Schreibtischarbeit gewesen, lieber noch würde +er beim Ausladen der Schiffe selbst mit anpacken. Am wohlsten aber +war ihm immer, wenn er Planken unter den Füßen fühlte, und wenn die +Welt begann, sich fortzubewegen, langsam gleitend, während er selbst +feststand und unangefochten in ihr Getümmel sah, bis er außer Sehweite +war und nur das Meer in seiner gewaltigen Einsamkeit ihn umgab. + +Unangefochten? Der Kapitän reibt sich die Hände und rennt zum anderen +Hafenbecken hinüber. + +Oh, nun, da der leidige Winter überwunden ist und die Frühlingssonne +ihm den Rücken wärmt, will er sich auch wieder rühren und ein wenig +mittummeln. Allzulange ist er Zuschauer gewesen. Auf seinem Posten in +der Mitte. + +Nachdem er genügend seine Beine gerührt hat, geht er endlich zu seinem +Bureau zurück. Vor der Kantine trifft er die Fürsorgeschwester. + +»Na, Schwester eins,« sagt er gutgelaunt, »nun denken Sie wohl schon +wieder an Ihre Ferienkinder?« + +Sie lächelt. Der junge Friemann hat ihr einen schönen Spottnamen +verschafft. Aber vom Kapitän will sie den Scherz gern hinnehmen. + +Ob sie auch wüßte, daß Herr Pohl mit seiner Tochter heute nachmittag +den Hafen besichtigen werde, fragt der Kapitän, nach kurzer +Unterhaltung über ihre Aufgaben und Sorgen. + +Nein, das wußte sie nicht. »Aber ich habe Fräulein Pohl auch schon +begrüßt«, sagt sie. »Sie hat sich wirklich sehr verändert. Ach, es ist +wohl schön, wenn man sich ein ganzes Jahr erholen kann«, fügt sie mit +einem kleinen Seufzer hinzu. + +Der Kapitän setzt seinen Weg fort. ›Ja, ja, der Neid der lieben +Mitmenschen‹, denkt er dabei abschließend über die Fürsorgeschwester. +-- + +Joachim Becker fährt an diesem Nachmittag im Hafen vor und will mit +gewohnter Eile in das Verwaltungsgebäude hineingehen, als er die Stimme +des Kapitäns aus unmittelbarer Nähe vernimmt. + +Er wendet sich um und sieht ihn, wenige Schritte entfernt, im +angeregten Gespräch mit seinen Gästen stehen. + +Es ist nicht schwer, den Mühlenbesitzer Pohl zu erkennen, zumal er +den Hut in der Hand hält und sein großer Graukopf unter den Strahlen +der rotglühenden Abendsonne silbrig aufleuchtet. Er dreht dem +Verwaltungsgebäude den Rücken und hat von dem Ankömmling nichts +gemerkt. + +Dem Kapitän konnte das Einfahren des bekannten Autos nicht entgehen. +Er bleibt gleichfalls dem Hafenbecken zugewendet und spricht +geflissentlich weiter. + +Nur Irmgard Pohl sieht sich, durch das Surren des Motors abgelenkt, in +weiblicher Neugierde unwillkürlich um. + +Natürlich hat sie beim Betreten des Hafens daran gedacht, daß +sie Joachim Becker zufällig begegnen könnte. Sie war sich auch +über ihre stolze und abweisende Haltung, mit der sie ihm nun ihre +Gleichgültigkeit dokumentieren mußte, vollkommen im klaren. + +Was aber sind alle Vorsätze? Sie fühlt in der plötzlichen Begegnung +mit seinem Blick, daß ihr Genick steif wird, daß sie jede Gewalt über +den Ausdruck ihrer Augen verliert. Ihr Blut schießt vom Herzen in +die entspannten Glieder, es klopft in den Schläfen, und sie hat nur +den beseligenden Gedanken, nicht allein zu sein in dieser gewaltigen +Rebellion. Denn auch Joachim Becker steht sekundenlang auf seinen Platz +geschmiedet und ist nicht imstande, den starren, ärgerlich-strengen +Blick von ihr zu lösen. + +Erschreckend nah und mißtönig klingt plötzlich die Stimme des Kapitäns +in Irmgards Ohren. + +»Sie fürchten doch nicht um Ihr helles Kleid, Fräulein Irmgard, wenn +ich Ihnen jetzt auch noch die Kohlenverladestelle zeige?« fragt er und +hat gar keinen Klang mehr in seiner gepreßten Stimme. + +Er redet sie aus unerklärlichen Gründen mit ihrem Vornamen an. +Vielleicht weil er sich durch den Familienverkehr in seinen Gedanken +daran gewöhnt hat. + +Sie wendet ihm ihr glühendes Gesicht zu, doch sie weiß keine Antwort zu +geben, denn sie hat nicht ein einziges Wort seiner Frage verstanden. + +Der Kapitän beginnt, mit vielen fachwissenschaftlichen Ausdrücken von +der Verladeanlage, von der Schutthöhe der Kohlenlagerung, von der +Elektrohängebahn mit den Laufkatzen, von den Greifern und den fahrbaren +Brücken und anderen wichtigen Einrichtungen im Führerton zu berichten. + +Er versucht, seine Erklärungen ab und zu durch einen Scherz zu würzen. +Doch wer sollte über so viel verzweifelten Humor lachen können? + +Seht: Michael Pohl lacht, als hätte er noch nie so gute Witze gehört. + +»Was bin ich weißer Müller gegen so viel schwarze Macht!« sagt er, +gleichfalls bemüht, die Stimmung zu retten. + +Der Zustand des Kapitäns entgeht ihm ebensowenig wie das verwirrte +Gesicht seiner Tochter. Im Zusammenhang mit dem Einfahren des +Automobils kann er sich manches erklären. + +Er denkt: ist dieser Mann, dem auf die Dauer keiner seine Sympathie +versagt, so lange einsam gewesen, so wird er auch noch einige Zeit +warten können. Geduld dürfte er in seinem unsteten Dasein genügend +gelernt haben. + +Ja, Geduldsübung ist dem Kapitän ohne Zweifel vertrauter als Joachim +Becker, der im Zimmer des Hafendirektors wie ein gefangenes Tier +umherrennt und die Fäuste ballt. + +Natürlich hat es keinen Sinn, hier zu warten, daß der Kapitän heute +noch für geschäftliche Zwecke Zeit findet. Er führt seinen Besuch +spazieren und kümmert sich nicht darum, daß man ihn zu sprechen +wünscht. + +Trotzdem stellt sich der Generaldirektor ans Fenster, um zu verfolgen, +wie weit der Kapitän sich vom Verwaltungsgebäude zu entfernen gedenkt. + +Die drei gehen an der Kaimauer entlang, gemächlich und scheinbar +in ständiger Unterhaltung. Der Kapitän weist zuweilen mit eckigen +Bewegungen zu den Kränen und Laderampen hinüber, während er, schräg zu +seinen Besuchern gewandt, die steifen Beine bewegt. + +Es ist noch zu erkennen, wie Michael Pohl, der breit und wuchtig +neben ihm geht, beifällig mit dem Kopfe nickt. Diese stumme Geste der +Zustimmung ist dem Beobachter am Fenster nicht fremd. Wie oft hat er +zu seinen Plänen vom Hafen so genickt und ihn dabei mit den hellen, +teilnahmsvollen Augen ernst angeblickt. Auch als Joachim Becker ihn +damals, etwas verlegen über diese Situation, um seine Tochter bat, +hatte er zunächst nur mit einem Nicken zugestimmt, ehe er seine Ansicht +äußerte, daß es gut sei, noch zu warten, damit niemand sich bei einem +so schwerwiegenden Schritt übereile. + +Das sind peinliche Gedankengänge, denen man sich lieber entzieht, +wenn man kein reines Gewissen hat. Der Generaldirektor rennt wieder +in die Tiefe des Zimmers. »Verfluchte Warterei«, murmelt er zwischen +den Zähnen, während er mit langen Schritten über den Teppich eilt, die +Hände fest in die Taschen gebohrt. + +Dann steht er wieder am Fenster und sieht doch noch Irmgard Pohl nach, +ehe sie seinem Blickfeld entschwindet. + +Sie geht mit kleinen Schritten, die Arme eng an den Körper gepreßt, als +fühle sie sich beobachtet und wisse nicht, wie sie sich bewegen soll. + +Er stellt möglichst sachlich fest, daß sie in allem noch so wie damals +ist, in der Erscheinung wie im ruhigen Ausdruck des klaren Gesichts, +das er vorhin, für einen Augenblick, wie etwas Verlorenes in sich +aufnahm. + +Man sieht ihr nicht an, was sie hinter sich hat, denkt er, zum Teil +seines Gewissens wegen beruhigt und gleichzeitig enttäuscht darüber, so +leicht vergessen zu sein. Ja, sie scheint besser daran als er. Sie hat +ihn überwunden, wenn sie auch noch bei seinem Anblick errötet. + +War sie nicht damals schon von dieser ausgeglichenen fraulich-gütigen +Harmonie? Und blickten ihre klugen ernsten Augen nicht von jeher -- +in diesen jungen Jahren bereits -- ruhig und milde, obgleich sie +gleichzeitig mädchenhaft ausgelassen sein konnte und ihn sogar zu +kindischen Spielen anregte? Sie stand daneben und lächelte, sie hatte +ihren Spaß daran, ihn zu einem Popanz zu verwandeln, zu »ihrem großen +Jungen«, wie sie mit mütterlicher Überlegenheit sagte. + +Aber er hatte dieser Jugendeselei ein Ende gemacht. Er durfte bei +seinen großen Plänen keine Zeit mehr zu albernen Spielen haben. Eine +ernste und vernünftige Ehe entsprach eher seiner Position. Besitzt er +nicht eine gute Frau und eine hübsche kleine Tochter mit großen braunen +Augen, die jeder bewundert, weil sie so »reizend melancholisch« sind? +Nein, er hat wahrlich keine Ursache, unzufrieden zu sein. + +Die Zeit renkt auch alles weise zurecht. Der unangenehme Prozeß ist +beendigt, nun geht sein Prozeßgegner sogar im einstmals feindlichen +Hafen spazieren. Und es sieht ganz danach aus, als wolle der zweite +Hafendirektor, der Kapitän, die Tochter des Gegners heiraten und +für alle Zeiten rehabilitieren. Obgleich sie diese Ehrenrettung +nicht einmal nötig hätte, da ihr kluger Vater durch eine freundliche +Vertuschung das Ansehen der Familie längst wieder aufgerichtet hat. + +Teufel nochmal, das hätte er diesem geraden Manne nicht einmal +zugetraut! Aber man sieht: andere Leute unternehmen auch Winkelzüge im +Interesse ihrer Reputation. + +Ja, er ist über die Vorgänge im Hause des Mühlenbesitzers unterrichtet. +Länger als ein Jahr. Seit er die gräßliche Ungewißheit nicht mehr +ertrug. Er mußte doch mindestens erfahren, ob sein Sohn noch am Leben +war oder nicht. Wozu gab es Auskunfteien, Leute, die dazu da sind, +Erkundigungen einzuziehen, damit man sich nicht durch unpassende Fragen +seine Autorität verscherzt? + +Er bekommt seine laufenden Informationen und weiß nun, daß der +Mühlenbesitzer nicht einen Enkel, sondern einen Adoptivsohn besitzt. +Die Tochter wird auf ein Jahr fortgeschickt, und hier geht sie nun in +seinem Hafen spazieren. Schön und jung, mit einem ansehnlichen und +geduldigen Bewerber zur Seite. + +Der Kapitän wäre wohl der Mann, über den Schatten in der Vergangenheit +einer Frau hinwegzusehen, dieser ewig Gerechte und Höfliche, den nichts +aus dem Gleichgewicht bringen kann. + +Nun bekommt sie also noch ihren Hafendirektor und einen guten Namen +dazu. »v. Hollmann« hat einen anderen Klang! Was ist er, der Sohn +des kleinen Beamten, dagegen! Was half es ihm, daß er sich in den +Nächten das bißchen Bildung und Wissen einpaukte, um sich Geltung zu +verschaffen? Er war doch erst etwas geworden, nachdem er die verliebte +Tochter eines Getreidehändlers zur Frau bekam. + +Und nimmt man ihn ernst? Lächelt man nicht im stillen über ihn und +stellt hämisch fest, daß man mit dem Geld eines reichen Schwiegervaters +ebensoviel erreichen könnte? Was nutzt ihm alle Arbeit, alle Energie? +Wer erkennt seine wahren Leistungen an? Hat man darum so lange +geschuftet, vom Morgen bis in die Nacht, ohne einzuhalten, ohne eine +Freude, ohne Befriedigung, um jetzt hier das Fazit zu ziehen, daß alles +vergebens war? + +Er bleibt in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände auf dem Rücken +ineinandergelegt. Sein Mund ist hart, schmal und verkniffen, die +senkrechte Falte zwischen den Augen wirkt wie eine Narbe. + +Sein Blick fällt auf den Schreibtisch des Kapitäns. Hier hat er +damals ihre Stimme gehört, diesen ruhigen, volltönigen Klang. Einen +Augenblick denkt er an den Duft der Linden. Er läßt sich in einen +Sessel fallen und schließt die Augen. Das leise Rauschen in den Wipfeln +der alten Bäume hängt ihm wieder in den Ohren, da er sich dieser Stimme +entsinnt. Es scheint ihm, als lägen die Erinnerungen ein Menschenalter +und nicht knapp vier Jahre zurück. + +Der Kapitän! Joachim Becker kennt keinen Menschen, der soviel +allgemeine Achtung und Sympathie genießt wie dieser stille und +bescheidene Hafendirektor. + +Aus welchem Grunde sollte er wohl seit anderthalb Jahren in der +Familie des Mühlenbesitzers verkehren und nun hier mit der Tochter +spazierengehen? + +Selbstverständlich wird er nicht im Hafen bleiben, denn er wäre nicht +der Mensch, der seine junge Frau durch den gebotenen gesellschaftlichen +Verkehr in schiefe Situationen bringt. Die großen Reedereien, die +ihn als Vertrauensmann für den Hafen empfahlen, würden auch eine +angemessene andere Verwendung für ihn haben. + +Er kann seiner Frau etwas bieten! Er würde ihr die Welt zeigen und +sie in seine angesehenen Kreise führen. Hatte er nicht die großen +Passagierdampfer befehligt und auf die Weltmeere geführt, so daß +weitgereiste Leute, die seinen Namen hören, respektvoll fragen: ›v. +Hollmann, ist das nicht der Kapitän, der damals das und das Schiff +fuhr?‹ Dieses Mannes entsinnt sich jeder gern. + +Wer aber weiß Gutes von ~ihm~ zu sagen? Er besitzt keinen Freund, +keinen Menschen, der das Recht dazu hätte, ihn zu verteidigen. Obgleich +er stets nur das Beste wollte, seine Kräfte nicht vergeudete, immer nur +an sein Werk dachte und niemals an sich selbst. + +Er preßt die Fäuste gegen die Augen und sitzt, die Ellenbogen auf die +Knie gestützt, lange im fremden Zimmer, ohne jede Haltung und Würde. +Wie er sich wieder aufrichtet, ist sein Gesicht blaß und verstört, mit +roten Flecken auf der Stirn vom schmerzhaft festen Druck seiner eigenen +Hände. + +Nun muß er aufstehen und sich zu seinem Wagen begeben. Er wird nach +Hause fahren. Und alles ist noch so wie es war. + +Scheu, mit schlechtem Gewissen hetzt er durch den Korridor und vom +großen Haupteingang des Verwaltungsgebäudes zu seinem Wagen. + +Er vermag an diesem Tage nicht mehr in das Bureau und zur Arbeit +zurückzukehren. Er läßt sich in seine Wohnung fahren, um sich von +dem einzigen Menschen, der immer gut und milde zu ihm war, von Frau +Adelheid, aufrichten zu lassen. + +Sie ist nicht allein. Ihr Bruder leistet ihr Gesellschaft. Wenn +Schwester Emmi im Hafen nicht für ihn zu sprechen ist und es also +keinen Zweck hat, an dieser Stätte emsiger Arbeit länger als nötig zu +verweilen, hält er sich gern bei seiner Schwester auf, die mit ihren +einsamen Abenden so wenig anzufangen weiß. + +Sobald sie ihre Tochter zu Bett gebracht hat, überfällt sie ihre alte +Melancholie, die sie ihrem stillen Kinde schon vererbt hat. Darum +schließt sie sich gern den häufigen Theaterbesuchen ihrer Verwandten +an oder weilt bei den Eltern, während ihr Mann bis in die späten +Abendstunden über der Arbeit sitzt. Oft sehen sie einander tagelang nur +in Gesellschaft Fremder und sind abgespannt und einsilbig, wenn sie +heimkehren. + +Man hat an diesem Abend beabsichtigt, ein Theater zu besuchen, eine +sehenswerte Neueinstudierung, also eine Premiere gewissermaßen, die +Felix Friemann sich nicht entgehen läßt. Seine Eltern folgen in +diesem Punkte gern seiner Führung. Selbstverständlich trifft man auch +Verwandte und Bekannte, und der Abend ist gut angewandt. + +Joachim Becker hat Frau Adelheid nicht nur mit seiner frühen Heimkehr +überrascht und beglückt; er erklärt sich auch bereit, sie zu begleiten. + +Vom ungewohnten glänzenden und lauten Leben im Zuschauerraum verwirrt, +sitzt er dann still in seiner Loge. Er fürchtet sich schon jetzt vor +der Pause, vor den vielen geputzten Menschen, denen er begegnen wird +und die mit höflichen und freundlichen Worten bedacht sein sollen. + +›Ist es nicht eine Ungerechtigkeit!‹ sagt er sich an diesem Tage, an +dem eine Begegnung ihn so in seinem ganzen Wesen aufstören konnte, ›daß +du in deinem Innern nicht zur Ruhe kommen sollst! Du fällst in alte +Fehler zurück, wirst unzufrieden mit dir, und wenn du vorwärts blickst, +so türmen sich Berge auf, die für andere scheinbar nicht bestehen. + +Aber was weißt du von deinen Mitmenschen und ihrem Tun? Einstmals +glaubtest du, mit ihrem Studium fertig zu sein, und jetzt meldet sich +der Drang, daß du einen nach dem anderen aufschließen möchtest und in +seiner Seele erkennen. + +Warum ist es dir nicht gegeben, sie zu meistern wie der Kommerzienrat +oder sie zu übersehen wie dein Schwager? + +Siehe, dieser +Dr.+ Friemann, er hat die schönen Künste so +vollständig in sich aufgenommen, daß er nun in jeder Gesellschaft +darüber reden kann, er hat das Praktische studiert, und nun wird ihm +durch eine kleine blonde Fürsorgeschwester ein angenehmer Kummer +geschenkt. Sie ist ihm ein Ziel, zu dem nur der Weg Freuden bereitet; +also seien wir nicht traurig, wenn es etwas länger währt. Ja, Felix +Friemann ist ein fertiger Mensch, der mit sich und den anderen +zufrieden ist.‹ + +Joachim Becker, der junge Generaldirektor jedoch, der vor den Frauen +und bei den Gesprächen über die schönen Künste errötet, weil er +die einen so wenig kennt wie die anderen, sitzt steif da und weiß +nicht, während er den Vorgängen lauscht, ob er in der Pause ein +bedeutungsvolles oder ein bedenkliches Gesicht zeigen soll. + +Als sie schließlich in das Foyer gehen, hat er sich für seine alte +kühle Maske entschieden. + +Felix Friemann gesellt sich zu ihnen. + +»Dieser Ibsen hat seine Probleme wirklich manchmal sehr weit +hergeholt«, meint er überlegen. »Auf Wildenten haben wir übrigens +damals in Norwegen auch geschossen.« + +Die Familie Friemann begrüßt ihre Bekannten. Sie zeigen einander +die berühmten Kritiker, und einige reden von dem »Stück«. Die +Kommerzienrätin hat es sich zum Prinzip gemacht, nicht eher über eine +Aufführung zu sprechen, als bis die Kritiken erschienen sind, und sie +erwähnt frühere heftige Eindrücke. + +Auch Rechtsanwalt Bernhard ist da. Er will sich traurig zur Seite +stellen, da er Frau Adelheid zärtlich an den Arm ihres Mannes gelehnt +sieht, aber Joachim Becker geht ihm entgegen und begrüßt ihn mit +ungeheuchelter Freude. + +›Das ist noch ein natürlicher Mensch,‹ denkt Joachim Becker, ›er hat +sogar ein Herz.‹ Und sie verbringen zu dritt plaudernd die Pause, wobei +jeder in einer anderen Art seine Rechnung findet. + +Obgleich Joachim Becker sich nach Stille und Dunkelheit sehnt und +Ablenkung von allen quälenden Gedanken wohl gebrauchen könnte, fürchtet +er sich vor der Fortsetzung des Spiels. + +Muß er denn an diesem Abend in seiner Unzufriedenheit so weit gehen, +daß er in jeder verzerrten Gestalt sich selbst sieht? Er ist wahrhaftig +am Ende mit seiner Nervenkraft und sehnt den nahen Sommer herbei. In +diesem Jahre will er zum erstenmal wirklich ausspannen und mit seiner +Frau helle Sommertage irgendwo in den Bergen oder an der See verleben, +damit er wieder zu Kräften und Selbstbewußtsein gelangt. + +Es ist, weiß Gott, lächerlich, hier Parallelen zu ziehen und sich +mit diesem pathetischen Hjalmar Ekdal, diesem Photographen mit der +Flatterkrawatte, zu vergleichen. Warum sollen gerade ihn die Vorgänge +auf der Bühne etwas angehen, ihn so persönlich berühren, daß er der +Selbstzerfleischung nahe ist? + +Ein hirnverbrannter Gedanke, heute in dieser Verfassung hierherzugehen! +Laufen denn nicht soundsoviel andere auch in Gottes weiter Welt umher, +die einen Schatten, einen dunklen Punkt in ihrem Leben haben, an den +man am besten nicht rührt? + +Oh, er möchte wohl wissen, wie wenige es sind, die so einem +Wahrheitsfanatiker wie Gregers Wehrle begegnen dürften, ohne mit der +Wimper zu zucken oder gar ihr ganzes Lebensgebäude einstürzen zu sehen. + +Und sieht man es nicht an diesem Beispiel, wie verkehrt es ist, ans +Tageslicht zu ziehen, was lieber verborgen bliebe? Man hat Fehler +begangen, man sieht sie ein und vermeidet sie in Zukunft. Man hat +einmal nicht anständig gehandelt. Aber kann man das aus der Welt +schaffen? Ist es nicht vernünftiger, Geschehenes zu vergessen, um +ungestört weiter zu kommen? + +Er hat mit seiner Frau niemals über seine Vergangenheit, über die +Beziehungen zum Hause Pohl gesprochen. Vielleicht haben ähnliche +Wahrheitsfanatiker wie dieser Narr auf der Bühne sie aufgeklärt, so +daß sie unnützen Gedanken nachhängt und öfter traurig und verweint +ist als notwendig wäre. Denn das muß er sich eingestehen: schlecht +behandelt hat er sie in ihrer mehr als dreijährigen Ehe nie. Er ist +sehr beschäftigt, wälzt imposante Pläne, und es paßt nicht zu seiner +großen Stellung, zu seinem verantwortlichen Posten als Generaldirektor +eines Werkes von Weltbedeutung, daß er sich wie ein Täuberich benimmt. + +Da rühren sich wieder seine Gedanken von heute nachmittag: er durfte +mit Irmgard Pohl nicht mehr jung und ausgelassen sein, weil es sich mit +seinen großen Ideen nicht vereinbarte. Und nun meint er auch, daß er +kein zärtlicher Ehemann sein darf, weil es zur strengen, energischen +Haltung eines Generaldirektors, der sich Respekt und Autorität +verschafft, nicht gehört. Ist es seine Pflicht, nur als Arbeitsmaschine +zu funktionieren und sich niemals wie ein gewöhnlicher Mensch zu +benehmen? + +Immer haftete er an den festgelegten Gesten, die zu seinem Amte +gehören. Zwischendurch probierte er es einmal mit der Shagpfeife und +mit der nachlässigen Haltung des Engländers, der seine Hände in den +Hosentaschen hält. Aber er ließ es wieder und fand Gefallen am smarten +Amerikaner, der nicht zu verblüffen ist und mit kühler Jovialität +seinen Leuten begegnet. Eine Weile versuchte er es, in dieser Weise zum +Beispiel seinen Angestellten entgegenzukommen, um von ihnen nicht nur +gefürchtet, sondern auch geliebt zu werden. Aber er hatte den Eindruck, +daß man ihm den lässigeren Ton als Schwäche auslegen könnte. Und so +kehrte er zu seiner alten Maske zurück: streng, energisch, militärisch +korrekt. Um von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen, um sich +nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, das ist es: er läuft mit einer +Maske umher. Nur in den Stunden der Zerknirschung, der Schwäche, der +Selbsterkenntnis fällt sie von ihm ab. + +Hat er nicht doch Berechtigung, sich mit diesem Photographen zu +vergleichen, der sich auch eine männliche und selbstgefällige Pose +zurechtgelegt hat wie so manche, denen man im Leben begegnet? Der +Kommerzienrat zum Beispiel mit seiner betont soignierten Haltung im +Geschäftsleben, während er daheim in seiner Familie nicht mehr als ein +gutmütiger alter Trottel ist? + +Oh, wie grausam betrachtet er nun sich selbst. Gewiß, auch der +Kommerzienrat hat seine Maske vor den Menschen, ebenso wie die vielen +anderen, die der klugen Ansicht sind, daß man ohne sie im Lebenskampf +nicht auskomme; daß man mißbraucht werde, wenn man der Allgemeinheit, +den Konkurrenten, den Neidern, den lauernden Feinden den wahren +Menschen zeige. Aber verwandeln sie sich nicht, ebenso wie der +Kommerzienrat, zeitweise in ihr eigenes Wesen zurück? + +Wann jedoch ist er ein Mensch ohne jede falsche Geste? Wann und wo +zeigt er seine wahren, seine geheimsten Empfindungen, das Zarte, das +auch in ihm sich regt, und seine Sehnsucht nach Wärme und Liebe? + +So wie dieser Hjalmar Ekdal soeben seine Haltung zu verlieren im +Begriff war, als man ihm sein Lügenhaus enthüllte, so hat er heute +nachmittag ohne jede Würde im Zimmer des Kapitäns gesessen und klar, +entsetzlich klar erkannt, daß sein Ansehen, seine Arbeit, sein ganzes +Leben in den letzten drei Jahren sich auf eine Lüge stützt. + +Und er ging nicht mit offenen Worten zu Frau Adelheid, um der Lüge ein +Ende zu bereiten. Nein, wie dort auf der Bühne das Dokument wieder +zusammengeklebt wird, das die Fortsetzung des alten Lebens erfordert, +so war er zu seiner Frau zurückgegangen, als wäre nichts geschehen, als +hätte nicht die wahre Erkenntnis ihm eben die Augen geöffnet. + +Das Licht flammt auf. Joachim Becker sieht in Adelheids +tränenüberströmtes Gesicht. Rasch zieht er sie fort, ehe sie noch von +der Familie mit Gesprächen und Abschiedsworten aufgehalten werden +können. Sie nehmen irgendeinen Wagen, der vor der Türe steht, und +fahren nach Hause. Unterwegs trocknet er ihre Tränen und küßt die +kalten blassen Hände. Wieviel hat er an ihr gutzumachen. Es ist keine +Pose, keine Lüge, wenn er ihr nun die Hände küßt und sie herzlicher +behandelt als sonst. Nein, er ist ihr so unendlich dankbar für ihre +Güte und Geduld. Gehört es nicht als erstes zu seinem neuen Leben, daß +er ihr die warme Regung seines aufgestörten Herzens verrät? + +Nie war Frau Adelheid so schmerzhaft glücklich wie in dieser Stunde. + +Sie sprechen kein Wort, und erst zu Haus fragt Adelheid +schüchtern-zart: + +»Darf ich dich zu einer Tasse Tee in meinem Zimmer einladen?« + +»Ja«, sagt er mit weicher Stimme, während er ihren treuen Augen dankbar +begegnet. + +Er lehnt gegen den hohen Kamin und blickt in seine Vergangenheit, +während Frau Adelheid mit stillen Bewegungen den Teetisch bereitet. + +Die freundlichen Bilder sind nicht mehr durch falsche Strenge oder +Spottlust verzerrt. Sie sind hell und sprechen wie Erkenntnisse. +Irmgard Pohl hält ihm die feste, kameradschaftlich treue Hand hin und +sagt: ›Wie könnte ich an dir zweifeln? Das darfst du niemals denken!‹ +Und Michael Pohl ist in seiner Erinnerung wieder vertrauensvoll und +gut zu ihm. Er schlägt ihn auf die Schultern und spricht: ›Ja, dann +sage ich von heute an du zu dir!‹ In seinen hellen tiefliegenden Augen +schimmert dabei seine geheime Zärtlichkeit. + +Joachim Becker sieht seine Fehler unerbittlich und klar. Sie sagen: Nun +weißt du wohl, wie wir auszugleichen sind? Ja, das weiß er. Es ist so +einfach: man ist fortan nur gut zu jedermann, man geht zu zwei Menschen +und sagt: »Verzeiht!« + +Adelheid ruft ihn an und berührt ihn am Arm. Ihre Augen sind ängstlich +und traurig, denn sie weiß, daß er mit seinen Gedanken wieder nicht in +ihrer Nähe weilt. + +Er blickt sie ganz verwirrt an. War nicht eben alles so einfach und +klar? Er lacht bitter auf. + +Nein, nichts ist klar, denn das Geschehene ist nicht auszulöschen! +Und eine Schurkerei bleibt eine Schurkerei. -- Was sollte die +rücksichtslose Wahrheit daran ändern? + + + + + Der Kran + + +Als im dritten Hafenbecken nun auch ein Wasserspiegel glänzte und an +den Kais eine Tankanlage für zwei Millionen Liter Benzin errichtet war, +konnte man endlich sagen, daß hier ein fertiger Hafen sei. + +Im Norden ragt der mächtige Getreidespeicher, und schon wird die Frage +aufgeworfen, ob er auch ausreichen werde. Es steht nur noch nicht fest, +ob der Mühlenbesitzer Pohl, die Genossenschaft der Brotfabrik oder die +Hafengesellschaft den neuen Speicher bauen. Diese drei muß man nun in +einem Atemzuge nennen, denn sie gehören zusammen. Der Kapitän geht zum +Beispiel zum Nachbarn hinüber und sagt: + +»Nun komme ich, um Ihrer Brotfabrik ~unseren~ Speicher anzubieten. +Vor nicht zu langer Zeit haben Sie uns ausgeholfen.« Und der mächtige +Herr Pohl nimmt dankend an. Er ist nun ein Faktor, den niemand mehr +übersehen darf. + +Aber bei ihm finden wir nur Getreide, Mehl und bald auch Brot -- was +ist jedoch im Hafen? An seinem Mittelbecken wird alles in Empfang +genommen, eingelagert und verzollt, was aus dem Lande und aus fernsten +Erdteilen nur herangeschafft werden kann. Da sind viele tausend +Oxhoft Weine aus Frankreich und Spanien, Talg aus Skandinavien, +Eier aus Holland, Tabak aus Bulgarien, Fleisch, Schmalz und Speck +aus Amerika, Därme aus China, da sind alle Lebensmittel, die eine +Riesenstadt braucht: Mehl, Kaffee, Kakao, Zucker, Butter, Öl, und ganze +Dampferladungen von Heringen werden bis an die Decke der Schuppen +gestapelt. + +Im Süden legen die flachen schweren Tankschiffe an, die Kesselwagen +rollen hin und her, und wenn man einen Blick auf die große und +imposante Kohlenverladeanlage wirft, dann glaubt man, in einem der +berühmten Industriebezirke zu weilen und nicht im einfachen Binnenhafen +einer großen Stadt, die sich in kurzer Zeit zum Stapelplatz für den +ganzen Handel des Landes heraufgearbeitet hat. + +Nun ist die Mauer zum Gelände der verschollenen Verhüttungsgesellschaft +gefallen, und die riesigen Freilagerplätze mit ihren Bergen von Kohle, +Koks, Eisen, Sandsteinen, Zement, Holz und vielem anderen mehr sind +dorthin verlegt. + +Es sieht alles so mächtig und imponierend aus, daß endlich die große +Eröffnungsfeier veranstaltet werden könnte. Aber es scheint noch nicht +genug zu sein. + +Man will jetzt den Riesenkran aufstellen, der alles in einem +Binnenhafen Dagewesene überbieten soll. Dann erst dürfen die Gäste +kommen. Wie man einen besonders schönen Blumenstrauß für den Ehrengast +auf den Tisch stellt, so wird der Kran für die erste öffentliche +Besichtigung in den Hafen gepflanzt. + +Was weiß ein Laie von einem Kran? Wer aber zur Hafengesellschaft +gehört, ist von der Wichtigkeit des Ereignisses erfüllt, als das +Ungetüm nach mühevoller Arbeit endlich dasteht und seine Leistungen +vollbringt. + +»Das ist ein Bulle, was?« sagt Karle Töndern bewundernd. + +Bodenmeister Ulrich meint: »In den Seehäfen, bei den großen Werften, +gibt es noch andere Dinger. Die können einen ganzen großen Ozeandampfer +heben.« Er weiß zwar nicht genau, ob das stimmt, aber es macht einen +guten Eindruck. + +»Na,« sagt Schiffer Jensen, »meinen Kahn nimmt der jedenfalls mit +Leichtigkeit hoch.« So wenig Respekt hat er vor seinem Kahn. + +Wer hätte gedacht, welche unheilvolle Bedeutung dieser Riesenkran, +neben dem die anderen zahlreichen Kranarme wie Kinder wirken, noch +erlangen sollte? + +Es war eine unglückliche Idee von Frau Adelheid, dem schwarzen Koloß, +den ihr Bruder nicht genug preisen konnte, einen Besuch abzustatten. +Als einen Wahnsinn jedoch bezeichnete man es später, daß sie auf +diesen Weg ihre kleine Tochter mitnahm, die gerade laufen konnte und +mit ihren runden Augen recht eigenartig in die Welt guckte. Wer diesen +traurigen Ausdruck, der das hübsche Kindergesichtchen so traumhaft +verschleierte, gekannt hatte, meinte später, dem Kinde Frau Adelheids +sei eine Ahnung seines fürchterlichen Geschicks schon von Geburt an +mitgegeben. + +Kann man es aber der tapferen kleinen Frau Joachim Beckers verdenken, +daß sie ihrer Tochter einen Eindruck von dem gigantischen Werk ihres +Vaters vermitteln wollte? Sie verstand zwar noch nichts davon, sie +plauderte in einem reizenden Kauderwelsch und war so ahnungslos, wie +man es mit zwei Jahren noch ist. Doch sie könnte zuweilen fragen, ach, +Kinder fragen so oft, sie fragen zum Beispiel nach ihrem Vater. Dann +könnte sie also antworten: + +»Der ist dort, wo wir neulich waren, im Hafen, wo das viele Wasser ist +und der große, große schwarze Zeiger!« Das würde sie verstehen. Darum +nahm sie ihre kleine Tochter mit, als der vom Hafen fiebrig erfüllte ++Dr.+ Friemann ihr keine Ruhe mehr ließ. + +Felix Friemann ist mit allen seinen Gedanken und Gefühlen im Hafen. +Er könnte in einem prächtigen schloßartigen Hause bei seinen Eltern +wohnen, er hätte sogar das Geld, auf einer Jacht im Mittelmeer zu +kreuzen, aber er schlägt seine Sommerwohnung im Hafen auf und läuft +immer noch einer kleinen standhaften Fürsorgeschwester nach. So ist der +Mensch mit allen seinen Widersprüchen! + +Schließlich muß er wohl selbst am besten wissen, was ihm gefällt. Es +macht ihm nun einmal Spaß, im Sommer eine Stunde früher aufzustehen und +vor der Hafenwirtschaft zu promenieren, damit er als erster der frisch +gewaschenen und geputzten Schwester Emmi mit den Lackschuhen begegnet. + +Zuweilen fällt doch ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn ab, +denn an manchen Tagen funkelt die Sonne gar zu blank über dem Hafen mit +seinem Wasser und der herrlichen Weite, so daß eine Fürsorgeschwester +ihren Frohsinn siegen läßt. + +Dann kann sie ein Liedchen summen oder die Arme recken, daß alle ihre +zierlichen Formen sich unter dem hellen Kleide abzeichnen, und in den +Frühlingstag hineinjubeln: + +»Ach, es gibt nichts Schöneres als Sonne im Hafen!« + +Das ist ihr zweiter Hafenfrühling, und drei Jahre ist es her, seitdem +an einer langen Tafel unter den Linden der erste Spatenstich gefeiert +wurde. Daran hatte Schwester Emmi noch nicht teilgenommen, aber für das +Fest der Einweihung erträumt sie sich schon ein Kleid, einen Hut und +Schuhe, die den Staat aller vornehmen Damen in den Schatten stellen +sollen. Die Frau des Generaldirektors mit eingerechnet, denn Schwester +Emmi hat gelegentlich festgestellt, daß Frau Adelheid ungeschickte Füße +habe. + +Zuweilen kann Schwester Emmi zwar noch ihrem treuen Anbeter, dem ++Dr.+ Friemann, schnippische Antworten geben und ihn streng +ersuchen, sie in Ruhe zu lassen. Sie ist sogar so grausam, sich über +seinen Sprachfehler lustig zu machen. + +»Ist der Kapitän schon da, der Kapitän --« fragt sie ihn zum Beispiel +mit spöttischem Augenblitzen. + +Er aber blickt sie nur mit seinen Friemannschen Lichtern traurig an, +und sein gesenkter runder Kopf auf dem langen dünnen Körper ist dann +wahrhaftig so trostlos wie eine Gaslaterne, die am hellichten Tage +brennt. + +Aber einmal sagte Schwester Emmi: »Bitte sehr, wenn Sie etwas von mir +wollen -- ich bin noch unverheiratet!« + +So, das war geradeheraus gesagt! Es fiel ihr nicht ein, sich aus purer +Gutmütigkeit noch einmal zu opfern. Dafür waren ihre Erfahrungen zu +teuer erkauft. + +Warum sollte sie nicht Frau +Dr.+ Friemann werden, wenn sie seiner +Liebe würdig war? Ist sie vielleicht geringer oder weniger klug als +diese lächerliche Bohnenstange? Oh, sie hat so wenig Achtung vor ihm, +wie man es von der Frau, die einen Mann seines Geldes wegen heiratet, +nur erwarten kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß sie aus diesem +Manne noch etwas machen könnte, wenn es einmal soweit wäre. Sie würde +schon seine Schätze würdig repräsentieren. In solch einem Anzuge und +mit diesen Krawatten dürfte er dann auf keinen Fall mehr herumlaufen! +Was ihren Toilettenaufwand aber betraf -- Nun, das fällt in das Gebiet +ihrer heimlichsten Träume, die sie keinem offenbart. + +Ob der +Dr.+ Friemann nicht eine gewisse Absicht damit verband, +wenn er Frau Adelheid durchaus in den Hafen lotsen wollte und noch dazu +mit dem Kinde? Es wäre eine so zwanglose Gelegenheit, sie mit Schwester +Emmi bekanntzumachen, um einen Bundesgenossen in der Familie zu haben, +denn wenn er sich Schwester Emmi neben seinen Eltern vorstellt, so wird +ihm doch himmelangst. Felix Friemann hat durchaus alles berechnet, er +denkt sogar daran, daß Schwester Emmi bei Kindern sehr beliebt ist; sie +würde sich also im Verkehr mit Frau Adelheids kleinem Mädchen besonders +vorteilhaft ausnehmen. + +So kommt Frau Adelheid in den Hafen und zum großen unerbittlichen Kran. + +Der Kapitän empfängt sie am Wagenschlag und hilft ihr beim Aussteigen. +Dann hebt er ihre kleine Tochter heraus. Er faßt sie behutsam um den +schmalen Körper und spürt ihren frischen Atem, den unvergleichlich +liebreizenden Duft gepflegter Kinderhaut. + +Was mochte in diesem steifbeinigen Kapitän wohl vorgehen, als das zarte +Gesicht dabei seinen Kopf leise streifte? Ob er nicht auch zuweilen an +weiche Kinderhände gedacht hatte, als er im letzten Winter so einsam +und frierend hier hockte und so viel Hoffnungen auf den neuen Frühling +und das Ende einer langen Reise setzte? + +Frau Adelheids Tochter in dem weißen duftigen Kleidchen begrüßt den +Onkel Kapitän mit einem Knicks, der ihre Beine bis zum kurzen Saum des +Spitzenröckchens verschwinden läßt. Sie kann fast von der Erde nicht +wieder hochkommen. Dabei sind ihre runden dunklen Augen so ängstlich in +die Höhe gerichtet, daß der Kapitän mit seinen spröden Händen zärtlich +über ihre seidenweichen Locken fährt. Dieser einsame und gesottene +Junggeselle. + +Da kommt Felix Friemann gestikulierend an. Das ist eine vertraute +Gestalt für die Kleine. Sie tappt ihm entgegen, und er hockt nieder, um +sie mit seinen langen Armen aufzufangen. + +So, nun hat er sie in seinem Reich. Er bittet sich die Erlaubnis aus, +die Nichte führen zu dürfen und trippelt mit ihr davon. Er muß sich +ein wenig bücken, damit sein Arm bis zu dem winzigen Geschöpfchen +herabreicht, und stolpert bei den zierlichen Schritten fast über seine +dünnen Beine. + +Die Schiffer auf den Kähnen und die Hafenarbeiter stoßen einander an +und ziehen die Gesichter krampfartig zusammen. Felix Friemann nickt +ihnen zu und lacht. Da lachen sie auch. Und die kleine Tochter des +Generaldirektors jauchzt und findet kein Ende mit ihren Fragen. + +Frau Adelheid und der Kapitän folgen langsam nach. Zuweilen bleiben sie +stehen, um einiges zu besichtigen. + +Felix Friemann geht nun schon weit voraus. Er kann es nicht erwarten, +der Kleinen Schwester Emmi und den großen Kran zu zeigen. + +»Ach,« sagt Frau Adelheid zum Kapitän, als er ihre Tochter lobt, »ich +wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich sie nicht +hätte.« + +Sie bleiben stehen und plaudern noch über etwas, das Frau Adelheid +sehr bewegt. Sie hat sich im geselligen Verkehr, der sie oft mit dem +Kapitän zusammenführte, so vertrauensvoll an ihn angeschlossen, daß sie +ihm manches Geheimnis ihres tapferen Herzens preisgibt. + +»In letzter Zeit«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln, »zeigt er viel mehr +Interesse für sie. Er wird es wohl nie verschmerzen, daß er keinen Sohn +hat und daß sie so gar nicht nach ihm geartet ist, aber denken Sie: er +setzt sich mit ihr auf den Teppich und läßt sich an den Haaren zupfen +und die Puppen zeigen. Neulich hat er eine Eisenbahn und ein kleines +Schiff gekauft. Das hat er ihr dann alles erklärt, ach wissen Sie, so +ungeschickt für Kinder, sie hat gar nichts verstanden und machte bald +alles entzwei. Aber es war so schön, wie er da mit ihr saß und sprach +und sprach, daß ich -- ach, jetzt werden Sie mich sentimental finden. +Ich mußte rasch hinausgehen und weinen.« + +Der Kapitän schweigt. + +»Manchmal«, erzählt sie weiter, »ist er zu lebhaft für sie. Er macht +zu heftige Bewegungen oder er wird ungeduldig, weil sie ihn nicht +versteht, dann weint sie und will von ihm fort. Das trifft ihn immer so +hart, daß er schweigend in sein Zimmer geht und niemand sprechen mag. +Zuweilen kann er das tagelang nicht vergessen, und ich zerbreche mir +den Kopf, wie die Kleine ihn wieder versöhnen könnte.« + +»Aber es ist doch noch ein unvernünftiges Kind,« meint der Kapitän +tröstend, »man darf ihm doch keinen Vorwurf machen.« + +»Nein, das darf man nicht.« + +»Ich glaube,« sagt der Kapitän langsam, während sein Blick Frau +Adelheids blasses Gesicht mitleidsvoll streift, »ich glaube, ihm fehlt +die Güte.« + +»Nein!« protestiert Frau Adelheid lebhaft, »nein -- die Güte fehlt ihm +nicht!« + +Der Kapitän sieht bestürzt zu Boden. Hat er nicht zum erstenmal seinen +Platz in der Mitte verlassen? + +»Verzeihen Sie mir,« sagt er leise, »Sie müssen es wohl besser wissen +--« + +Indessen erklärt Felix Friemann dem Kinde den großen Zeiger, der in +weitem Bogen seine Lasten herumführt und neben ihnen absetzt. + +»Sieh, da oben ist der Mann, der ihn lenkt. Er drückt auf einen Hebel, +und da wandert das schwarze Ungeheuer wieder leer zum Schiff zurück.« + +Aber seine Nichte hat kein Interesse dafür. Vielleicht fürchtet sie +sich auch vor dem Kran. Jedenfalls zieht sie das Gesicht weinerlich +herab. Nicht einmal Schwester Emmis Überredungskunst gelingt es, +ihr einen Begriff von der Großartigkeit der Hafeneinrichtungen +beizubringen. Sie muß sich etwas anderes ausdenken, bis Frau Adelheid +mit dem Kapitän nachkommen und ihre Tochter in Empfang nehmen wird. + +»Ach --,« sagt sie sehr wichtig, »ich habe ja etwas ganz Reizendes für +dich. Das will ich dir sofort bringen --« + +Die Kleine blickt ihr voll stummer Erwartung nach. Schwester Emmi kann +einen gar zu verheißungsvollen Ton anschlagen. + +»Wohin, Schwester eins?« fragt +Dr.+ Friemann, während er +hinter ihr herrennt. Er hat sich so daran gewöhnt, Schwester Emmi +nachzulaufen, daß er nun sogar das Kind im Stich läßt, um zu erfahren, +wohin sie geht. + +Das kleine Geschöpf trippelt, sich selbst überlassen, wie ein verirrter +Vogel umher und merkt nicht, was über ihm geschieht. Es sieht drüben +an der Kaimauer etwas Helles aufblitzen und eilt hin, es sich zu +holen. Die Sonne hat sich in ein paar Wasserpfützen gespiegelt, aber +nun sind ihre Strahlen verdeckt, denn der große Arm des Drehkrans ist +stehengeblieben und läßt langsam seine mächtige breite Ladung sinken. +Vielleicht glaubt die Kleine, daß eine große Wolke über den Himmel +ziehe. Sie setzt sich auf den sonnengewärmten Steinen des breiten Kais +nieder und hält nach geeigneten Spielen Umschau. Doch es wird immer +dunkler über ihr, und plötzlich, als ahne sie die Gefahr, beginnt sie +leise zu weinen. + +Ein Arbeiter schreit mit rauher Stimme auf. Er stolpert über einen +Kameraden und reckt beide Arme, um das Kind zu packen, die breite +schwere Ladung anzuhalten oder was er sonst in seinem Wahnsinn zu +tun gedenkt. Da hören auch die anderen einen kläglichen verlorenen +Kinderschrei, und die Last hat sich herabgesenkt. + +Heisere Kehlen rufen zu dem Manne im Portal hinauf, die Ketten beginnen +wieder zu arbeiten; Felix Friemann packt die Männer bei den Schultern, +schafft sich zu der verhängnisvollen Stelle Zutritt und erlebt als +erster den grauenvollen Anblick, als der ungeheure, von schwarzen +Ketten umschlungene Kasten langsam wieder hochgewunden wird. + +Schwester Emmi stürzt mit bleichem Gesicht herbei, sie ahnt, daß Felix +Friemann eben in rasendem Lauf sie streifte, sehen konnte sie ihn +nicht. Sie hält sich am Arm eines Arbeiters fest und legt die Hand vor +die Augen. + +Frau Adelheid hört die Rufe, sie sieht ihren Bruder wie einen +Besinnungslosen stumm vorbeieilen -- der Kapitän und sie laufen in +dumpfer Ahnung zu der Menschenansammlung. Niemand hätte diese Eile und +Kraft vermutet, die Frau Adelheid vorwärts stößt -- durch die Mauer der +Arbeiter zum fürchterlichen Platz unter der schwebenden Last des Krans. + +Sie fällt steif gegen die hilflos blickenden Männer zurück. Man fängt +sie auf, und nun kann man einer Ohnmächtigen helfen, ihr Kind wagt +keine Hand mehr zu berühren. + +Schwester Emmi wird gerufen. Sie lehnte mutlos gegen die Mauer der +Lagerhalle. Nun gibt sie Anordnung, Frau Adelheid zur Kantine zu +tragen, denn hier sind keine Belebungsmittel, und es ist gut, wenn Frau +Adelheid beim Erwachen den Kran nicht mehr sieht. Der Kapitän stimmt +ihr mit wortlosem Nicken zu. Die Fürsorgeschwester kann wieder einmal +zuerst klar denken und helfend eingreifen. + +Felix Friemann fällt ihr auch wieder ein. Sie blickt sich um. Da sieht +sie ihn weit drüben an der anderen Seite des Hafenbeckens in das +Verwaltungsgebäude laufen. + +Hat er so viel Besinnung behalten, daß er nach einem Arzt telephoniert? +Immer wieder blickt sie auf das Haus, während sie den Männern folgt, +die Adelheid tragen. + +Plötzlich reißt sie die Arme hoch, schreit: + +»Da -- da --« + +Der Kapitän, die Männer schrecken auf, sie folgen Schwester Emmis Blick +bis oben zum Turm des Verwaltungsgebäudes. Dort, im zehnten Stockwerk, +auf der Balustrade steht eine hohe schmale Gestalt, jetzt hängt sie in +der Luft --, und sie schließen alle die Augen, um nichts mehr zu sehen. +-- -- -- + + + + + Das Fieber + + +Adelheid vernimmt die besorgt fragende Stimme der Fürsorgeschwester. +Aus weiter Ferne treffen sie gedämpfte Laute: Wasserrauschen, +Stuhlrücken, die leisen Anordnungen des Kapitäns; Fragen, deren Sinn +sie nicht erfaßt. + +Jemand sagt: »Aber sie hat doch die Augen geöffnet.« Da läßt sie die +Lider sinken, wie man im Halbschlaf zu neuer Ruhe sich bereitet, wenn +Stille und Finsternis der Nacht in das Unterbewußtsein drangen. + +Das Surren eines Motors, Stimmengewirr, Wagenrollen wecken sie +wiederum, sie fühlt harte Polster unter ihrem Rücken und wird doch wie +auf Wellen sanft bewegt. Heftiges Knattern, das vertraute Läuten einer +Straßenbahn lassen sie aufschrecken. Sie schnellt hoch und findet sich +sitzend im Auto, gegenüber dem Kapitän, der sie mit ausgestreckten +Armen hält und auf die Polster zurücklegt. Schwester Emmis Stimme ist +ganz nahe an ihrem Ohr. Dann verschwindet wiederum alles in der Stille +der Ohnmacht. + +Zum drittenmal erwacht sie. Verhaltenes Schluchzen, eine ganz ruhige +Stimme umgeben sie. Weiche Kissen fallen auf ihre Glieder, und +wohltuende Wärme steigt auf. Sie vernimmt die Stimme der Mutter und ihr +Weinen. + +Sie will rufen, aber sie hat keinen Ton in der Kehle, sie will sich +aufrichten, aber sie ist gebannt wie in spukhaften Träumen, da +Verfolgung und Angst lähmend den Körper hemmen. + +»Es ist eine einfache Operation, gnädige Frau«, hört sie wieder +erschreckend laut. Noch einmal versucht sie, sich zu stemmen, den +Schleier über ihrem Bewußtsein zu zerreißen. Aufzuspringen -- + +Stöhnen der Mutter und jetzt tonlos, leise der Vater: »Sie sind sicher, +daß der Schrecken es unterbrochen hat und daß eine Operation nötig +ist?« + +Sie hat jedes Wort verstanden, sie erfaßt den Sinn und liegt dennoch +ausgestreckt, hilflos; hat keinen Ton, keine Bewegung. Sie wartet auf +die Fortsetzung des Gespräches. War nicht eine Frage gestellt? Doch es +folgt keine Antwort. + +Dröhnend kehrt abermals kurzes Bewußtsein zurück. + +»Noch heute. Ich habe den Krankenwagen schon bestellt.« Wieder der +ruhige laute Klang inmitten des Brausens in ihren Ohren. + +»Sie hat die Augen geöffnet«, sagt eine vertraute Stimme. + +»Mutter --« Sie sieht sekundenlang das schmerzverzerrte, besorgte +Gesicht der Mutter; groß, blaß, mit wirren Haaren Da fühlt sie ihren +Körper hart in die Kissen fallen, und alles ist ausgelöscht. + +Dann rollen Räder, ein Motor singt, rhythmisch surrend. + +»Ach Sonne und die grünen Blätter«, flüstert die Kranke erwachend. + +»Ja, mein Kind, es ist Sommer!« + +Sie blickt sich um und ist ganz wach. Weiße Wände umgeben sie, ein +Fenster leuchtet oben an der niedrigen Wand. Bäume, in lauten Straßen +gerade aufgerichtet, eilen vorbei. + +»Wohin fahren wir?« + +»In die Klinik, mein Kind.« + +»Ist das ein Krankenwagen?« + +»Ja.« + +»Es ist schön mit der Sonne draußen und den Bäumen.« + +»Erkennst du mich, Adelheid?« + +»Ja, Mutter.« + +»Wir sind da«, hört sie eine fremde Stimme. Krankenschwestern beugen +sich zu ihr herab. Sie fühlt sich hochgehoben, durch die warme Luft +einer hellen Straße getragen. + +Ganz deutlich verfolgt sie nun den Weg durch die dämmrige Kühle des +Flurs. Türen werden geöffnet, ein Fahrstuhl bewegt sich aufwärts. Es +ist schön, still zu liegen, ohne Gefühl, ohne Gedanken. Nur die Augen +sehen, die Ohren hören. + +»Wie kühl sind die Betten, Mutter«, sagt sie, behaglich ausgestreckt, +ohne Wunsch und Willen. + +Der Arzt beklopft ihre Wangen mit väterlicher Geste. + +»Na also«, vernimmt sie seine gesunde kräftige Stimme. »Wir wollen ihr +bis morgen früh Ruhe lassen. Merken Sie vor, Schwester, als erste.« + +Dann versinkt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf. + +Sie erwacht von aufsteigender Kälte in ihren Gliedern. Nacht umgibt +sie: Finsternis und Stille. Sie schließt die Augen und versinkt von +neuem in Halbschlaf, indes das nervöse Frösteln sich unaufhaltsam +ausbreitet, bis im heftigen Schüttelfrost ihre Lippen zittern, die +Zähne aufeinanderschlagen. + +Ihre Finger sind ohne Gefühl, wie vereist. Sie tastet zur Seite, als +suche sie Wärme, Beistand und stößt hart gegen die gestrichene Wand. + +Plötzlich weiß sie, daß sie allein im kahlen Zimmer eines Krankenhauses +liegt. Sie entsinnt sich, daß ihre Tochter tot ist und daß man ihr +morgen früh das zweite Kind nehmen wird. Vielleicht ist es der von +ihnen beiden so sehnsüchtig erwartete Sohn. Nun ist er in ihr gestorben +und breitet die Eiseskälte in ihrem kranken Körper aus. + +Sie schreit laut auf, ihre Stimme hallt von den kahlen Wänden wider und +kommt kläglich, leer zu ihr zurück. + +Helles Licht blendet ihre weit aufgerissenen Augen. Eine Schwester +betastet sie, fühlt ihren Puls. + +»Ich gebe Ihnen etwas Heißes zu trinken, gnädige Frau. Dann werden Sie +wieder warm.« + +Die klare, gesunde Stimme, die körperliche Nähe eines aufrechtstehenden +und schreitenden Menschen, das harte Licht über Stuhl, Tisch und Wänden +schrecken den gräßlichen Nachtspuk zurück. Die Kranke sieht sich wieder +als sorgsam betreute Patientin. Der Arzt vom Nachtdienst erscheint und +blickt ihr in das tränenüberströmte Gesicht. Er stellt ohne Staunen +fest, daß leichtes Fieber eingesetzt habe. + +»Sie sollen sehen, wie Ihnen der heiße Tee gut tun wird«, sagt er +leise, mit sonorem Klang. Sein Gesicht ist jung, von straffer Haut +überspannt. Die Brauen sind wie ein gerader Strich über schmalen +dunklen Augen. Sie erinnern Adelheid an ihren Mann. + +So glatt war damals seine Stirn, als noch niemand ihre Liebe erriet, so +strahlend und dunkel blickten seine Augen, von den Lidern bis zu einem +Spalt verdeckt, wenn er sie lächelnd grüßte; sie, die Tochter seines +Chefs, die seine Nähe suchte. + +Die Schwester stützt ihren Kopf, und sie schluckt gierig den heißen +Trank, den sie brennend durch den erkalteten Körper strömen fühlt. + +Sie fällt in die Kissen zurück, der Arzt lächelt ihr abschiednehmend +zu, die Tür klappt leise. Sie blickt erschreckt auf. Gedämpftes Licht +ist im Raum, die Schwester sitzt still neben der verhüllten Lampe mit +einem Buch auf den Knien. + +»Sie müssen versuchen, zu schlafen, gnädige Frau«, ruft die Schwester +aufmerksam herüber. + +Ihr Kopf glüht; prickelnd beginnen ihre Glieder zu brennen, wie in +erster Wärme nach abtötendem Frost. + +Eine Erinnerung steigt auf: sie liegt frierend im Hotelzimmer und +fühlt gleichfalls mählich leichtes Fieber im erstarrten Körper sich +ausbreiten ... + +In Arosa war es, in jenem schneereichen Januar, da sie und Joachim +Becker ihre erste gemeinsame Reise unternahmen, ihre Hochzeitsreise. +Lachend, in munteren Gesprächen promenierten die sorglosen, +lebensfrohen Menschen vor den großen Hotels. Der Schnee knirschte unter +ihren Schritten, er leuchtete ringsum; über den Dächern im Tal und mit +blauem Schimmer von den Bergen. Die Sonnenstrahlen fielen wärmend durch +die klare Luft. Bobsleighs sausten lautlos in der Ferne zu Tal. + +Junge Mädchen in bunten Jacken, ihre Begleiter mit rotbraunen +Gesichtern über weißen Sweatern zogen die Rodelschlitten hinter sich +her, hatten die Skier geschultert und eilten zu den Sportplätzen. +Kunstläufer schleiften ihre schwungvollen Bogen über das spiegelnde +Eis. + +Hier hatte Adelheid Friemann einst mit ihren Eltern still beobachtend +gestanden und davon geträumt, wie sie mitleben, mitjagen würde auf den +weißen Bahnen, unter lauten jubelnden Schreien, wenn auch sie einen +Begleiter an der Seite hätte. Groß mußte er sein, schön, energisch. +Damals schon hatte sie an den Prokuristen ihres Vaters gedacht, den sie +nicht vergessen konnte, seitdem sie ihn einmal auf dem langen Korridor +im ernsten Geschäftshaus hatte vorbeieilen sehen. + +Und dann stand sie an derselben Rodelbahn, Joachim Becker an ihrer +Seite. Ihr Mädchentraum, ihr sehnlicher Wunsch war erfüllt. Aber sie +waren wieder nur stille Beobachter. Keine überschäumende Lebensfreude +trieb sie an. Joachim Becker sah mit spöttischen Blicken in das +Getriebe und dachte an seine Arbeit. + +»Wollen wir uns nicht auch einen Schlitten nehmen?« hatte sie +schüchtern, mit verhaltener mädchenhafter Freude am Spiel gefragt. + +»Nein,« hatte er fast brüsk erwidert, »ich habe keine Neigung, mich mit +diesen Nichtstuern herumzutollen.« + +Sie mußte zugeben, daß er zu ernst, zu bedeutsam für diese kindischen +Spiele war. Ihre Liebe stellte sich willig auf seine Gedankengänge ein, +und sie begann, die flirtende Jugend gleichfalls mit Überlegenheit zu +kritisieren. Aber sie fühlte sich einsam und nicht mehr jung. + +Ihr Mann bekam seine Arbeit nachgesandt. Täglich war sein erster Gang +zum Postempfang. Er nahm die dicken Briefe mit den Plänen und den +Offerten für den Hafenbau und ging in sein Zimmer. Sie stellte sich +indessen ans Fenster und sah auf die sorglose fröhliche Jugend herab. + +Die lauten Stimmen, die harten Schritte der Sportschuhe in den +Korridoren störten den jungen Direktor in seiner Arbeit. Er wurde +nervös und reizbar. + +»Wollen wir uns nicht auch Skier geben lassen und Ausflüge machen, +um dem Lärm zu entgehen?« fragte sie wieder, als er über die Störung +ungehalten war. + +»Du weißt anscheinend nicht, daß ich in meinem Leben noch keine Zeit +hatte, mich mit diesem Sport abzugeben. Das ist etwas für diejenigen, +die in jungen Jahren genießen und nicht arbeiten«, hatte er, nicht ohne +Bitterkeit, geantwortet. + +»Aber du könntest es doch jetzt lernen«, warf sie ein. + +Wie, hier sollte er sich vor diesem Volk produzieren und sich auslachen +lassen? Sie glaube wohl selbst nicht daran, daß er dazu fähig wäre. + +Auch das sah sie schließlich vollkommen ein. + +Doch eines Tages hatte sie die drückende Stille und Enge ihres Zimmers +nicht länger ertragen. Die hellen Stimmen vor den Fenstern lockten; +sie galten nicht ihr. Sie hatte immer wieder die Briefe ihrer Mutter +gelesen, die Mitteilungen lebenslustiger Freundinnen, sie hatte +versucht, sich in Bücher zu versenken, indes ihr Mann im Nebenraum +nervös arbeitete und es nicht erwarten konnte, wieder zu Hause zu +sein, in seinem Hafenterrain, wo man die Häuser bereits abriß und die +Mehrzahl der Bäume fällte, um seinem Werke Platz zu machen. + +Sie vernahm seine ruhelosen Schritte, sie wußte, welches Opfer er ihr +brachte, indem er die für die Hochzeitsreise festgelegte Zeit hier in +Ungeduld verlor. + +Da war sie trotzig zu ihm hineingegangen. Sie hatte ihn auffordern +wollen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Heftige Vorwürfe +sollten ihn für den Fall der Ablehnung treffen. Doch als sie ihn +mit soviel Ernst und Eifer in seine Arbeit vertieft sah, sagte sie +bescheiden: + +»Du kannst mich wohl jetzt nicht begleiten?« + +Und um seinen Kampf zwischen Pflicht und Wunsch zu beenden, war sie +allein hinausgegangen, zu den jungen, in Gemeinsamkeit fröhlichen +Menschen. + +Sie ließ sich Schneeschuhe geben und eilte scheu durch die belebten +Promenaden zu den Abhängen. + +Aber die große Stille hatte ihr nicht die gewünschte Harmonie gegeben. +Bitterkeit überfiel sie. + +Mußte sich in solchen Stunden nicht Mißtrauen einschleichen? Der +Gedanke lag nicht fern, daß er sie nur ihres Geldes wegen genommen +hatte, weil sie ihn so hingegeben liebte. Sie konnte ihre Gefühle von +jeher schlecht verbergen. + +Die Eltern hatten sie wohl warnend darauf aufmerksam gemacht, daß +diese Möglichkeit gegeben wäre. Sie verschwiegen ihr auch nicht, daß +er Beziehungen zu einer anderen, gleichfalls vermögenden jungen Dame +unterhielt. + +Nahm er denn ihren Reichtum in Anspruch? Nein, er ging in seinen alten +Kleidern umher, die er schon trug, als sie ihn kennenlernte. Gewiß, +sie waren nicht schlecht. Doch er hätte sich diesem internationalen +Publikum anpassen können, damit er nicht aus dem Rahmen fiel. Er blieb +bescheiden in seinen Ansprüchen. Er sehnte sich von diesem Platz der +Begüterten fort. Die Table d'hote störte ihn, der ganze Reichtum war +ihm offensichtlich lästig. Er war der Mann der Arbeit geblieben. + +Es ließ ihn auch gleichgültig, daß die Frauen ihm oft und lange +nachsahen. Nur Adelheid haben diese Blicke stets in ungewöhnlichem Maße +bewegt, obgleich ihr Anteil an Joachim Becker dadurch weder größer noch +geringer wurde. Sie ließen ihre Liebe sehnsüchtiger und schmerzlicher +aufflammen. + +So hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, während sie die Anhöhen +erklomm und von den schrägen Flächen herabglitt. Die Sonne senkte sich +plötzlich. Die Berge in der Ferne verschwammen. Erste Lichter flammten +auf. Ihre Füße wurden müde und schwer. Kaum konnte sie noch die Höhe +erklettern, und dann glaubte sie, die Richtung zu verlieren. + +Sie schnallte die Schneeschuhe ab, als sie endlich auf einen +ausgetretenen Weg gelangte, denn sie vermochte diese Last nicht mehr +zu heben. Den Versuch, sie auf der Schulter zu tragen, gab sie bald +auf. Sie warf sie in den Schnee. Ihre Beine waren nun befreit, aber wie +abgestorben. Sie begann zu frösteln, die Zähne schlugen aufeinander -- +wie in dieser Nacht, da die Erinnerungen wieder lebendig werden. + +Wie jetzt die Wärme in ihrem Körper sich brennend ausbreitet, das Blut +in die Schläfen drängt und ihre Mundhöhle ausdörrt, so hatte sie damals +im fremden Hotelzimmer gelegen, am Anfang ihrer Ehe, als die große +Einsamkeit begann. + +Ihre Gedanken arbeiten unablässig weiter. Sie liegt mit geschlossenen +Augen da, die Glieder gerade ausgestreckt, die Arme eng an den Körper +gepreßt. Die Kissen lasten wie ungeheure luftgefüllte Volumen dennoch +schwer auf ihr, so daß sie sich nicht zu bewegen vermag. Sie sinkt +immer tiefer und schwerer hinab und glaubt, die Matratze müsse unter +ihrer Last brechen. + +Sturzbachgleich fallen die Erinnerungen in ihr fieberndes Hirn. Alle +einsamen Stunden rotten sich zusammen, sie gewinnen phantastische +Formen, sie werden gleichsam körperlich und klagen den großen +Schuldigen an: den Hafen! + +Der Hafen mit seinen bleckenden kalten Wasserspiegeln und mit dem +grausamen schwarzen Kran! Seine Eisenarme wachsen ins Unermeßliche, sie +recken sich ihr entgegen. + +Sie haben ihr Joachim Becker genommen, sie haben ihr die Tochter +entrissen, sie verlangen nach dem zweiten Kinde, das sie tot in ihrem +kranken Körper birgt. + +Sie schreit wiederum laut auf und fühlt, wie ihr eigener Ruf sie in +ihrer Glut fröstelnd erstarren läßt. Fahles Morgenlicht umgibt sie, +ihre Schultern werden sanft hochgehoben. Der Rand eines Glases ist vor +ihren Lippen. Sie schlürft eine bittere Flüssigkeit langsam herab und +blickt in das graue übernächtige Gesicht der Krankenschwester. + +»Der Hafen«, flüstert sie entsetzt und liegt wieder ausgestreckt, allen +Schrecknissen neuer Fieberphantasien preisgegeben. + +Aber mählich beruhigt sich ihr krankes Blut, und sekundenlang erhellt +vollkommene Klarheit ihren verwirrten Geist. Als eine große heilsame +Erkenntnis steht es vor ihr: »Der Hafen allein ist schuld!« + +Damit dieser Riesenbottich der großen Stadt zum Leben erwache, nahm +Joachim Becker ihre Liebe an, stürzte er sie und sich selbst in +Einsamkeit und Qual. + +Nun, da der Hafen mit allen seinen Schiffen und Kränen atmet und sich +rührt, hebt er seine Arme, seine unheimlichen schwarzen Kranarme, um +sie alle zu zermalmen. + +Sie weiß, daß die Vision zerrinnt, wenn sie die Augen öffnet, doch sie +ist nicht mehr imstande, die Lider zu heben. Lähmendes Gift schleicht +durch ihren Körper und versenkt sie in einen kurzen betäubenden Schlaf. + +Schmerzhaft grell, von Licht umstrahlt, fühlt sie sich, wieder +erwachend, hochgehoben und auf ein hartes Lager gebettet. Sie vernimmt +das elastische Rollen von Rädern, sieht lange weiße Korridore und +erkennt, daß sie nun in den Operationssaal gefahren wird. Sie kann sich +nicht wehren, das Gift hat ihre Glieder gelähmt. Sie ist hilflos und +ohne Willen. + +Der Laut vielfacher Stimmen, das Klirren der Instrumente, +Wasserrauschen hallt hart von den kühlen Wänden zurück und dringt in +den Rhythmus ihres Blutes. Sie schmeckt das bittersüße und kühlende +Narkotikum und sinkt immer tiefer in ein dunkel brausendes Chaos +hinein. + +»Zählen Sie!« vernimmt sie eine Stimme hart und nah. + +Sie vermag den Mund nicht zu öffnen. Aber immer geräumiger wird +mit jedem tiefen Atemzuge die unwirkliche Welt. Da beginnt mit +leuchtenden Farben und leichten Melodien fernste Vergangenheit vor ihr +aufzuklaffen: sie selbst, Adelheid Friemann im duftigen Tüllkleid, ganz +jung und ohne Schwere, schwebt in fließenden Tänzen; Alfred Bernhard an +ihrer Seite, und Helene Uhl, die lachende Freundin, gleitet mit ihrem +Bruder Felix vorbei. + +Von weit her, unendlich gezogen, als tropfen sie nur langsam in ihr +Bewußtsein, hört sie die Worte: + +»Vorsichtig! Denken Sie an das schwache Herz der kleinen Frau -- Frau +-- Frau --« + +Das Wort wird zum gedehnten Gesang, es nimmt kein Ende; die sphärischen +Melodien verströmen darin und brechen plötzlich klirrend ab. -- + +Adelheid Becker kehrt mählich, aus unsagbar süßem Schweben über +wehenden Luftwellen, in Bewußtheit und zu neuem Leben zurück. + +Die Stimme der Mutter nimmt sie milde, heimatlich auf. + +Sie öffnet die Augen. + +Bleich, in Zartheit und Liebe verklärt, ist das Antlitz der Mutter vor +ihrem ersten Blick. + +»Wir haben getanzt, Mutter. Helene Uhl war da, Alfred Bernhard und +Felix. Es war so schön.« + +Sie spricht noch mühselig und langsam, ihre Stimme aber ist kindlich +hoch und hell. + +Die Geräusche rücken immer näher zu ihr heran; sie fühlt die Lippen der +Mutter auf ihren Händen. + +»Ist noch jemand hier?« fragt sie, als ahne sie die Nähe des Vaters und +ihres Mannes. + +»Ja«, vernimmt sie Joachim Beckers Antwort. + +Sie versucht sich aufzurichten, doch die Hände der Krankenschwester +drücken sie sanft in die Kissen zurück. Da erspäht sie aus halb +geöffneten Augen sein herabgeneigtes Gesicht. Prüfend, erstaunt gleitet +ihr Blick über die Falten auf seiner Stirn, zu der senkrechten Kerbe, +die wie eine Narbe tief zwischen die Brauen schneidet, und bleibt auf +den trüben, fast entzündeten Augen haften. + +Ihre Lider fallen müde herab. Joachim Becker richtet sich schwankend +auf. Sie hat kein Wort für ihn. + +Dann fühlt sie den Druck einer breiten weichen Hand auf ihrer Stirn. +Vertraute Wärme dringt in ihre Haut ein. Der Atem des Vaters streift +ihr Gesicht. + +Sie öffnet die Augen und lächelt ihm zu. + +Joachim Becker ist so vermessen oder so trostbedürftig, daß er sich in +dieser Stunde auch nach einem Lächeln Adelheids sehnt. Er stellt sich +noch einmal neben ihr Bett und küßt ihre Hand. Da schließt sie wieder +die Augen und flüstert, von Grauen erfaßt: + +»Der Hafen! Nun weiß ich es: der Hafen ist schuld.« + +Und weil sie immer wieder bei seinem Anblick erregt wird, muß man ihren +Mann bitten, ihr in der nächsten Zeit fernzubleiben, zumal noch die +Nachricht vom Tode Felix Friemanns ihr bevorsteht. + +Zwei Wochen später kann sie bereits in die Wohnung ihrer Eltern +übergeführt werden. Notlügen von einer Reise des Bruders lassen sich +nicht länger fortsetzen, aber man braucht ihr auch die Wahrheit +nicht zu sagen, denn im Hause ihrer Eltern, in dieser Heimstätte +unversiegbarer Liebe und engsten Zusammenhalts, teilt sich die +Schrecknis vom Tode des einen wie in mystischer Verbundenheit dem Blute +des anderen mit. + +Und Adelheid findet, in das leere Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt, +die ersten Tränen seit dem Tode ihrer Tochter. + + + + + Der Abschied + + +Joachim Becker irrt ruhelos in seinem verlassenen Haus umher. Adelheid +ist zu ihren Eltern heimgekehrt; man bat ihn, zu warten, bis sie nach +ihm verlange. Aber sie ruft ihn nicht. + +Er bleibt auf dem Treppenabsatz im Vestibül stehen und denkt: hier +stand sie, mit ihrer schönen kleinen Tochter im Arm, deren traurige, +große Augen ihm fragend -- oder unbewußt anklagend? -- nachblickten. +Die winzigen Hände winkten, und Adelheids mütterlich-stilles Lächeln +leuchtete neben dem ernsten Kindergesicht. + +Er stellt sich an den hohen Kamin in ihrem Zimmer und gedenkt des +Abends nach dem Theaterbesuch, da er alles so klar gesehen hatte und +dennoch schwieg. + +Und wenn er zwischen zwei Konferenzen am Schreibtisch seines +Arbeitszimmers sitzt, deckt er zuweilen die Hand über die Augen. Scham +entbrennt in seinem zerquälten Gesicht, und alle falschen Gesten fallen +von ihm ab. + +Drei Wochen sind vergangen, und Adelheid hat noch nicht nach ihm +verlangt. Seine Selbstvorwürfe werden mit jedem Tage heftiger, +Mutlosigkeit überfällt ihn. Dieser tüchtige junge Generaldirektor, der +so ausgezeichnete und grandiose Pläne zu entwerfen versteht, hat Plan +und Ziel für sein eigenes Leben verloren. + +Eines Tages geht Kommerzienrat Friemann in das Arbeitszimmer seines +Schwiegersohnes und bleibt einen Augenblick in der Mitte des großen +Raumes stehen. + +Joachim Becker denkt, daß er das gleiche energiegesammelte Gesicht habe +wie einst, als er einen für sie alle entscheidenden Schritt unternahm. +Damals sagte er ohne Einleitung mit festem Blick: »Ich habe gehört, daß +meine Tochter Sie liebt. Wie stellen Sie sich dazu?« Joachim Becker +stand auf und sagte entschlossen, ohne die Augen zu senken: »Ich bitte +um ihre Hand.« + +Heute kann er dem Blick seines Schwiegervaters nicht offen begegnen. +Und der Kommerzienrat sagt, während seine tonlose Stimme leise +schwankt: + +»Meine Tochter hält es für gut, daß die Scheidung eingeleitet wird.« + +Joachim Becker ist aufgesprungen. Er steht ein wenig gebeugt da und +stützt eine Hand auf die Schreibtischplatte. + +»Kann ich sie nicht selbst sprechen?« fragte er leise, ohne +hochzublicken. + +»Sie will dich erst wiedersehen, wenn die Scheidung vollzogen ist.« + +Darauf vermag er nichts zu erwidern. Unwillkürlich bleibt der Ton +dieser Worte noch in seinen Ohren hängen. Klang die vertrauliche Anrede +nicht zögernd? + +»Ich habe bereits mit Rechtsanwalt Bernhard gesprochen. Er hat die +Vertretung abgelehnt.« + +Er sieht erschreckt auf. Scheut man sich schon, für ihn tätig zu sein? +Sagen sich jetzt alle von ihm los? + +»Er kann es weder für dich noch für Adelheid übernehmen und gibt vor, +daß er euch beiden menschlich zu nahe stehe. Er hat einen Kollegen +empfohlen, und du wirst dich wohl selbst nach einem Rechtsvertreter +umsehen? Ich nehme an, daß du gegen Adelheids Vorschlag nichts +einzuwenden hast und daß wir uns alle Erörterungen sparen können.« + +Der Kommerzienrat wendet sich ohne ein versöhnendes Wort um. Er hat +nicht nur seinen Erben und das einzige Enkelkind verloren, nein: nun +gibt er auch den auf, der ihm allmählich ein zweiter Sohn werden +sollte. So wie er die Hoffnung nicht sinken ließ, daß ihm der Sohn auch +noch ein tüchtiger Mitarbeiter würde, so glaubte er bis jetzt, daß der +durch die Arbeit ihm Verbundene auch innerlich der Seine werden könnte. + +Er geht nun leer davon, mit schwerfälligen Schritten, aber er ist nicht +so grausam, ohne einen letzten Blick zu scheiden. Sein unermüdlicher +Helfer der Arbeit steht noch halbgebeugt da. Das Kinn ist ihm auf die +Brust gesunken. + +Da sagt der Kommerzienrat leise: »Adelheid hat mir ausdrücklich einen +Gruß für dich aufgetragen.« + +Diese Botschaft hatte er verschweigen wollen! Er richtet sie im letzten +Augenblick mit großer Mühe aus. + +Die Tür klappt. Joachim Becker hebt den Kopf. So hat er sich seine +Befreiung aus der erzwungenen Ehe kaum vorgestellt. + +Er denkt an Adelheids Worte, die letzten, die er aus ihrem Munde +vernahm: »Der Hafen ist schuld!« Aber jetzt weiß er, wer der wahre +Schuldige ist. Er ist nicht mehr so feige, die Schuld auf sein Werk +abzuwälzen. Nun nimmt er alle Anklagen freimütig auf seine Schultern, +und er kennt keine Schonung mit sich selbst. + +Doch auch das Schicksal hat nicht viel Erbarmen mit ihm, es erspart +ihm keine Demütigungen und keine Enttäuschungen. Denn noch ein anderer +kommt nach einigen Tagen in sein Arbeitszimmer, um ihm eine wichtige +Mitteilung zu machen: der Kapitän. + +Nun müsse er um seinen Abschied bitten, sagt er ohne viele Umschweife. +Seine alte Reederei habe wieder Verwendung für ihn, und aus bestimmten +Gründen könne er nicht lange warten. + +Der junge Generaldirektor lehnt stumm in seinem Sessel und nimmt die +Mitteilung als eine gerechte Strafe hin. Er glaubt die Gründe zu +kennen, die den Kapitän zu einem schnellen Abschied zwingen. Kann es +etwas anderes sein, als daß er mit Irmgard Pohl einig geworden ist und +sie so bald wie möglich von der Nähe des Hafens fortführen will, damit +sie keinen unliebsamen Begegnungen mehr ausgesetzt ist? + +Es scheint, als habe Joachim Becker ganz im geheimen gehofft, er könne +sich noch wiedererringen, was er einst, von seinen Ideen besessen, +so leichtsinnig aufgab, denn sein Gesicht ist nun besonders grau und +verfallen. + +Seine Stimme klingt brüchig, während er die bedauernden Worte über den +Abschied des Kapitäns ausspricht. + +»Ich habe soeben mit Herrn Kommerzienrat Friemann gesprochen. Er will +sich noch heute mit Ihnen beraten und die Beschlüsse des Vorstandes +herbeiführen«, sagt der Kapitän und erhebt sich, um zunächst wieder in +seinen Hafen zurückzukehren. + +Er hält sich nicht länger auf, als unbedingt nötig ist. Sein Händedruck +ist zwar kräftig wie immer, aber er vermeidet es, den Blicken Joachim +Beckers zu begegnen. + +Nun steht dem Generaldirektor also noch eine geschäftliche Unterredung +mit seinem Schwiegervater bevor, der ihm bald wieder ein Fremder sein +wird. Er geht lange in seinem Zimmer auf und ab, und dann hat er seinen +Entschluß gefaßt. + +Er begibt sich in das Bureau des Kommerzienrats und sagt: + +»Da meine vorbereitenden Arbeiten in der Generaldirektion so gut wie +beendet sind, möchte ich um den Posten des Kapitäns bitten.« + +Der Kommerzienrat ist nicht sehr erstaunt, aber er fragt: + +»Und wer soll dieses alles hier übernehmen?« + +Joachim Becker schweigt. + +»Dann werde ich dem Aufsichtsrat vorschlagen, daß du die +Generaldirektion in den Hafen hinübernimmst, denn ich bin jetzt zu alt +für solche Aufgaben, und sonst ist niemand mehr da.« + +So hatte er also gehofft, sein Sohn könne dereinst selbst dafür +befähigt sein. Er wendet sich zur Seite, und Joachim Becker kann ihm +nicht einmal zum Dank für die Erfüllung seines Wunsches die Hand +drücken. -- -- -- + +Wie rasch ist ein Mensch entbehrlich, besonders wenn er so bescheiden +seines Amtes waltet, wie der Kapitän! + +Er kann nach wenigen Wochen schon seine Pflichten in die Hände des +Nachfolgers legen und Abschied nehmen. + +Es ist wieder August. Genau zwei Jahre habe er am Steuer dieses +Riesenschiffes gestanden, sagte der Kapitän in seiner Abschiedsrede. + +Daß er in Wahrheit kein Schiff gelenkt hatte, mußte er wohl erfahren. +Die Welt war nicht wie sonst an ihm vorbeigeglitten, während er +feststand und nach allen Seiten unbeteiligt Ausschau hielt. Er hatte +keine Planken unter den Füßen gehabt. + +Nein, er war in seinem Hafen unruhig umhergelaufen, und dann hatte er +ihn sogar verlassen, um Besuche beim Nachbarn zu machen. Da war die +Welt wieder dicht an ihn herangerückt, sie nahm ihn auf und wirbelte +ihn wie die anderen herum, und er verlor wie sie den Stand in der +Mitte. + +Nun macht er sich auf, um den ersten Abschiedsbesuch abzustatten. Die +Stunde des Arbeitsschlusses in der Mühle scheint ihm geeignet dazu. +Vielleicht könnte man auf der Bank im Garten sitzen und doch noch +Gelegenheit finden, einige Worte unter vier Augen zu sprechen. + +Er trifft Herrn Pohl mit seiner Tochter noch im Bureau an. Herr Reiche +sitzt bei ihnen, und sie beraten zu dritt eine Angelegenheit der +Brotfabrik. + +Der Kapitän bedauert es sehr, sie bei dieser wichtigen Arbeit zu +stören, er wolle sie nicht lange aufhalten, beim Abschied könne man +sich kurz fassen. + +Herr Pohl steht auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wie, +das wäre wohl noch schöner, wenn er sich auf diese Weise von ihm +verabschieden sollte! Er drückt dem Kapitän beide Hände und meint, daß +er ihn heute nicht so rasch freigeben würde. + +»Ich denke, wir werden noch ein Glas Wein miteinander trinken, wie +seinerzeit, als Sie den ersten Besuch bei uns machten?« fügt er +herzlich hinzu. + +Der Kapitän muß sich leider einen längeren Aufenthalt versagen. Er sei +für heute abend von Kommerzienrat Friemann eingeladen. + +Er schenkt den letzten Abend nicht den Zufriedenen, sondern den +Einsamen, vom Schicksal Geschlagenen, denn der Kommerzienrat ist nun +allein in seinem großen Haus und dürfte etwas Gesellschaft gebrauchen. +Frau und Tochter sind im Bade, und nur stille Ablenkung kann ihn +zeitweise den Sohn vergessen lassen, der das Haus einst mit Lärm und +Fröhlichkeit erfüllte. + +Herr Reiche will in der kurzen Zeit, die dem Kapitän hier noch +verbleibt, nicht mit seinen Arbeiten störend dazwischen sitzen. Er +verabschiedet sich vom Kapitän, der auch ihn immer zufriedengestellt +hatte. + +Der Kapitän sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen Papieren +geruhig und selbstbewußt abzieht. + +Herr Pohl fängt den Blick auf und sagt: »Ja, der ist hier nun glücklich +und gut aufgehoben.« Aber er bereut seine Worte sofort, weil der +Kapitän so ertappt zusammenzuckt, als habe man ihm diesen Gedanken von +der Stirn gelesen und ihm, dem Mann in der Mitte, gar Neid zugetraut. + +Irmgard hat bisher schweigend auf ihrem Platz im alten Ledersofa +gesessen. Plötzlich steht sie neben dem Kapitän. Sie nimmt ihn am Arm +und sagt: + +»Nun dürfen wir aber keine Zeit mehr verlieren. Sie müssen gleich mit +hinüberkommen, damit wir noch etwas plaudern können.« + +Der Kapitän lacht über das ganze Gesicht, so daß die trockene braune +Haut sich in unzählige kleine Falten legt. Einen so guten Empfang hat +er, weiß Gott, nicht erwartet. + +Er fühlt Irmgards warmen runden Arm, der von keinem Stoff verhüllt ist. +Sie hat sich eingehakt, ihr Kleid berührt ihn in der Bewegung und +er spürt den Duft ihrer Haare ganz nahe an seinem Gesicht. Doch als +sie ihn bis zum Ausgang gezogen hat, läßt sie die Tür für den Vater +geöffnet, und dann hängt sie sich auf der anderen Seite in den Arm des +Vaters. So gehen sie zu dritt über den Hof und haben sechs Augen und +sechs Ohren. + +Wie sollte da der Kapitän seine Rede anbringen, die er sich noch für +die letzte Stunde aufhob? Er verstand sich nie auf die Frauen. Zweimal +versuchte er es, ihnen sein Herz zu öffnen. Aber er hat es beide Male +nicht richtig angefangen. Nun gibt er den aussichtslosen Versuch auf. + +›Spät bin ich alter Trottel dahinter gekommen, daß sie mir ausweicht. +Diese Geste des Mitleids erst mußte mir alles verraten‹, denkt er nun +bitter. + +Er trinkt noch ein Glas Wein mit den dreien, von denen Frau Pohl +seinen Fortgang am offensichtlichsten und sehr wortreich bedauert. +Dann schüttelt er allen -- auch dem eigenwilligen kleinen Michael -- +herzlich die Hände und winkt sogar von der Föhrbrücke aus noch einmal +zurück. + +Es ist gut, daß die Stunde für den Abendbesuch sehr nahegerückt ist +und er in seiner einsamen Wohnung nicht lange zu verweilen braucht. +Sie hatte in letzter Zeit zu viel alte schmerzliche Erinnerungen +aufgestört. Denn sein Weg führte ihn immer über einen Platz, auf dem +ein junger Mensch sein Leben zerschmetterte. Er war fünfundzwanzig +Jahre alt, genau so alt wie eine Frau, die auch einer Schuld wegen ihr +Leben wegwerfen mußte. + +Der Kapitän blickte fest auf die Hafenwirtschaft oder über die Kähne +hinweg, irgendwohin, wenn er diesen Fleck überschritt. Es war nichts +zu sehen als heller Asphalt wie überall, aber er zuckte zusammen, wenn +sein Fuß darübertrat, und das mußte die Nerven des kräftigsten Mannes +auf die Dauer zermürben. + +Wollte er das Fenster schließen, um mit seiner Geige allein zu sein, so +irrte sein Blick unwillkürlich dorthin. Er ging vom Fenster zurück und +ließ die Geige im Kasten. So blieb er ohne Trost und ohne Ruhe. + +Und nun macht er seinen letzten Abschiedsbesuch bei einem, der auch +ruhelos im großen schönen Haus nach einem Anker sucht. + +Er wird vom Kommerzienrat mit stummer Herzlichkeit empfangen und +muß bei seinem Händedruck unwillkürlich an Herrn Pohl denken. In +Erscheinung und Wesensart grundverschieden, haben die beiden ein +Gemeinsames: sie lebten -- während der eine Geld aufhäufte und +der andere nur seine Pflicht erfüllte -- niemals für sich und +verschwendeten ihre einmalige scheue Zuneigung, ihr rückhaltloses +Vertrauen an ihren Gegensatz, an Joachim Becker, der noch nie etwas +anderes als sich selbst und sein Ziel sah. Nun wenden sie sich in der +gleichen Enttäuschung resignierend dem zu, der nicht beglückt und +nicht verletzt, der in seiner stets gleichbleibenden Bereitschaft +zu Teilnahme und Gerechtigkeit gern da gesehen wird, wo er weder +überschäumende Freude noch den ersten erbitterten Groll durch sein +Gleichmaß beschämen kann. + +Der Kapitän ist sich seiner Rolle schmerzhaft bewußt, aber da sie ihm +nicht abgenommen wird, und man ihm seinen Eingang in den ungerechten +schwankenden Kampf der Gefühle verwehrt, waltet er weiter still seines +Amtes. + +Er lobt die Küche des Kommerzienrats, seine gut gelagerten Weine +und erzählt von den lukullischen Genüssen anderer Völker, von +erfrischenden und berauschenden Getränken in aller Welt, von einem +kleinen Spezialgebiet seines vielfältigen Wissens, während er bemerkt, +daß der Kommerzienrat nur zeitweise seine langatmigen, ungewürzten +Schilderungen verfolgt. Er verstummt nicht, denn die ermüdenden Reden, +die keine Antwort und kein anhaltendes Interesse beanspruchen, ja +dem Zuhörer leichte Nebengedanken erlauben, tragen oft Lastendes und +Quälendes unmerklich fort und leiten in eine besinnliche Stille +hinüber. + +Nach dem Essen stellt sich auch Rechtsanwalt Bernhard ein. Er bekommt, +mit einem gewissen Gewohnheitsrecht, einen kleinen Imbiß nachserviert, +und dann gehen die drei in das Rauchzimmer, wo selbst der junge Alfred +Bernhard, der getreue Tanzstundenfreund Frau Adelheids, sich dem +langsamen Genuß der kommerzienrätlichen Zigarren hinzugeben bemüht. + +In seinem Bureau sitzt nun nicht mehr eine einzige Stenotypistin, die +mit Handarbeiten die Arbeitsstunden umzubringen versucht. Nein, er hat +einen eigenen Bureauvorsteher und einen Stab von Schreibfräuleins, die +den ganzen Tag gut ausgeklügelte und dennoch mit sicherem Geschmack +parierende Schriftsätze in Scheidungssachen schreiben. Er ist gewiß +nicht durch einen blinden Zufall, sondern durch eine offensichtliche +Begabung allmählich ein Spezialist in Ehescheidungen geworden. Seine +friedliebende Natur, die unermüdlich bestrebt ist, Ausgleich und +reibungslose Auseinandersetzung herbeizuführen, selbst wenn anscheinend +unüberbrückbare Hindernisse entgegenstehen, erwarb ihm den guten Ruf. +Man sucht ihn bereits und hält ihn in bester Erinnerung, weil er das +unerquickliche Ende ohne Schrecken zu finden weiß. + +Er bewies seine diplomatischen Künste im Prozeß der Hafengesellschaft +gegen Michael Pohl, den er drei Jahre ohne unnötige Dissonanzen in +der Schwebe zu halten verstand, bis er an seinem eigenen Widerspruch +zerrann. Er wußte selbst einen Querkopf wie den Bäckermeister Reiche +davon zu überzeugen, daß man recht haben kann und dennoch sein Unrecht +zugeben muß. So führt er immer seine Parteien langsam und ohne +kleinliches Gezänk -- mit einer Geduld, die nervöse Kollegen fast +pathologisch nennen -- zum gewünschten Ziel. Wenn es auch zuweilen +in neuer Versöhnung besteht, so verdient er daran nicht geringere +Honorare, weil er es sich zum weisen Prinzip macht, diese Akten gut zu +verwahren. Er weiß, daß solcherart Klienten nicht ohne Anhänglichkeit +sind. + +So hat er in seiner Praxis Gelegenheit zu manchen Beobachtungen +gefunden, die er auch im Privatleben anzuwenden weiß. Wie hätten +ihm also die Anzeichen für den Bruch einer ihn so besonders +interessierenden Ehe entgehen können? Zumal er die Tanzstundenfreundin, +die in seinen Gedanken die scheue Adelheid Friemann blieb, nicht aus +den Augen ließ. + +Vielleicht sind viele seiner guten Erfolge in anderen Ehescheidungen +darauf zurückzuführen, daß er so intensiv immer nur an den einen Fall +dachte, den nun endlich ein Kollege bearbeitet. Man sagt ihm nach, +daß er mit besonderem Geschick stets die Schuld der männlichen Partei +übertrug, so daß er hauptsächlich die Unschuldigen vertrat. Aber die +Klientin, die er mit so unermüdlicher Geduld erwartete, schickte er +dennoch zur Konkurrenz. Nein, in dieser »Sache« hätte er keinen Finger +rühren können. + +Es ist seine große Tragik, daß er in den eigenen Angelegenheiten von +den beruflichen Fertigkeiten verlassen ist. Wie redegewandt kann er vor +dem Richter oder in seinen Schriftsätzen für die Interessen anderer +eintreten, und wie stumm war er geblieben, als Adelheids Gefühle noch +nicht abgeirrt waren. Er könnte nun mit Recht hoffnungsvoller und +ruhiger in die Zukunft blicken, denn man kann annehmen, daß sie seine +Treue noch einmal anerkennen wird. Doch je näher der Termin ihrer +Freiheit heranrückt, um so nervöser wird Alfred Bernhard, der wieder +alle Qualen der Tanzstundenzeit erlebt. Er hat noch jeden Tag in der +Erinnerung, an dem er die Gelegenheit und das richtige Wort versäumte, +bis sie Joachim Becker kennenlernte und er einsah, daß es zu spät +geworden war. + +Nun zieht er hier in scheinbarer Ruhe an der schweren Zigarre, lauscht +zerstreut den Gesprächen der beiden »alten Herren« und denkt mit banger +Freude an den Herbst, der Adelheid wieder hierherführen wird. + +»Und doch sind solche Krankheiten oft heilsam,« hört er den Kapitän +sagen, »sie befreien den Menschen nicht nur körperlich, sie lassen ihn +nach einiger Zeit auch seelisch genesen. Wir müßten alle ab und zu nach +einer gründlichen Aufräumung der alten Stoffe wieder neu beginnen.« + +»Ich glaube, daß Sie darin noch zu optimistisch sind, lieber Kapitän«, +erwidert der Kommerzienrat, während er den Blick in die Luft richtet. +»Bei jungen Leuten mag das zutreffen. Vielleicht sind Sie dafür auch +noch jung genug. Aber unsereins --« + +Der Kommerzienrat schiebt seinen Körper zur anderen Seite des Sessels +und stützt den Arm mit der hochgehobenen Zigarre schwer auf die Lehne. + +»Sehen Sie, ich habe auch gedacht: du wirst zunächst nur Geld +verdienen, und dann fängst du von neuem an. Es ist nicht mein +Jugendtraum gewesen, mit Getreide zu handeln, hochfliegende Pläne +habe ich allerdings auch nicht gehabt. Im Gegenteil, sie waren sehr +bescheiden und standen in einem gewissen Zusammenhang mit meinem +Gewerbe. Ich habe nämlich das Getreide geliebt. Aber nicht auf dem +Ladentisch und nicht an der Börse. In die Erde wollte ich es versenken. +Säen wollte ich es, sein Wachstum still verfolgen, von Gott und dem +Wetter abhängig sein und nicht von den Schwankungen, die uns die +Trusts und die Spekulanten diktieren. Ja, man hat es oft satt gehabt +und sich Geduld gepredigt, weil man glaubte, noch warten zu müssen. +Aber die gewohnte Haut wächst einem schließlich so fest an den Leib, +daß man sie nicht mehr herunterstreifen kann. Immer weiter schiebt man +den Zeitpunkt. Erst sollte es mindestens ein kleiner Bauernhof sein, +dann ein Rittergut, und schließlich wollte man das, was man sich hier +so mühsam in einem ganzen Leben erwarb, auch nicht aufgeben und den +Kindern vererben, ehe man sich zurückzieht. Und nun --« + +Er wirft sich wieder auf die linke, dem Kapitän abgewandte Seite des +Sessels und läßt den Arm mit der kalten Zigarre sinken. Der Kapitän +sucht nach einigen wohlgefügten und geeigneten Worten, um über die +Situation hinwegzuhelfen. Der Kommerzienrat jedoch spricht mit neuem +Anlauf weiter: + +»Je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so mehr komme ich dahinter, +daß der Junge, der Felix, gar nicht hierher gepaßt hat. Das war zu +groß und zu unruhig für ihn. Er hat sich mit seinem lebhaften Geist für +alles interessiert. So kam es, daß er seine Kräfte zersplitterte und +daß er nichts zu Ende denken konnte. Und so durfte er auch sein Leben +nicht zu Ende leben.« + +Er schweigt. Seine beiden Zuhörer finden keine Entgegnung. Der Kapitän +denkt: ›Wäre ich nicht auf dem Sprung, ihn für immer zu verlassen, so +würde er kaum das alles in meiner Gegenwart erzählen. Man gibt seine +geheimsten Erkenntnisse nicht dem preis, den man täglich wiedersehen +kann.‹ + +Oder sind die Worte an Rechtsanwalt Bernhard gerichtet, den der +Kommerzienrat schon fast zur Familie rechnet und der beizeiten erfahren +soll, welche Fehler er zu vermeiden hat? + +»Er hätte in das einfache Leben gepaßt, das ich für mich reservieren +wollte«, fügt der Kommerzienrat mit gepreßter Stimme hinzu. Es scheint +doch, als spräche er nur, um sich von den Selbstvorwürfen laut zu +befreien. + +»Sie haben, soweit ich beurteilen kann, immer das Beste für Ihre Kinder +gewollt und sie selbst wählen lassen«, sagt der Kapitän tröstend. + +»Gewiß«, erwidert der Kommerzienrat. »Scheinbar haben sie selbst +gewählt. Aber ihr Wille gehörte ja nicht ihnen. Er war durch die +Erziehung und die Umgebung, die ich ihnen schuf, beeinflußt. Sie trafen +also eine Wahl, die ich ihnen indirekt aufzwang und die nicht einmal +meiner wahren Neigung entsprach. Ich selbst war mit meinem Herzen +immer bei der Scholle, die Kinder aber verpflanzte ich hierher, wo sie +ebensowenig Wurzeln fassen konnten wie ich. Und es hätte doch sehr +nahe gelegen, daß sie nach mir oder meiner Frau arteten, die in ihrer +Bescheidenheit überhaupt keine eigenen Wünsche mehr hat. Oder glauben +Sie, daß der Junge aus dem Leben gegangen wäre, wenn ihn etwas stark +genug gefesselt hätte?« + +»Es war eine Gefühlswallung, die in der Erregtheit über den ersten +Unglücksfall leider niemand schnell genug hemmte«, erwidert der +Kapitän. + +»Können Sie sich vorstellen, daß zum Beispiel mein Schwiegersohn +dasselbe getan hätte, wenn er sich die Schuld an einem großen Unglück +hätte zuschreiben müssen?« + +»Nein.« + +»Und warum nicht?« + +Das ist eine schwere Frage an den Kapitän. Er findet keine neutrale +Antwort und schweigt. + +»Dann will ich es Ihnen verraten,« sagt der Kommerzienrat, »weil ihn +die selbstgewählte Arbeit fesselt. Ich glaube, das ist die stärkste +Bindung an das Leben. Die Arbeit, der man sich mit Liebe hingibt, kann +niemals enttäuschen. Sie holt aus sich selbst die neue Kraft, während +die erzwungene Arbeit ständig ermüdet.« + +»Und wenn sie vom Ehrgeiz angetrieben wird?« fragt der Kapitän zögernd. + +»Es war nicht Ehrgeiz,« erwidert der Kommerzienrat, »seine Liebe zur +~Arbeit~ war echt. Über alles andere hat er uns und -- ich glaube +-- auch sich selbst getäuscht.« + +Der Kapitän fühlt sich zum zweitenmal beschämt. Vater und Tochter, die +vielleicht mehr Grund gehabt hätten, Joachim Becker zu verurteilen, +müssen ihn Gerechtigkeit lehren. + +»Verzeihen Sie«, sagt er leise. »Ich habe ihn als Menschen zu wenig +gekannt.« + +Er sieht ein, daß es höchste Zeit für ihn ist, vom Schauplatz der +Gefühle endgültig abzutreten und seinen festen Stand in der Mitte nicht +mehr zu verlassen. -- + +Am nächsten Tage werden die alten Möbel zum Seiteneingang des +Verwaltungsgebäudes wieder hinausgetragen. Der kleine Herr mit dem +braunen Gesicht und dem gespreizten Gang, den Frau Reiche damals +durchaus nicht für den neuen Hafendirektor halten wollte, hält seine +Liste in der Hand und prüft wiederum, ob alles in Ordnung sei. + +Dann geht er still für immer aus dem Hafentor hinaus ... + +Frau Reiche kann ihn diesmal nicht beobachten, sie ist Inhaberin eines +Zigarrengeschäfts und hat mindestens für einige Zeit einen eleganten +jungen Geschäftsführer. + +In der Kantine sind neue Leute, die nun für den Generaldirektor selbst +das Essen zu beschaffen haben. Fräulein Spandau muß sich neben einer +anderen Sekretärin an zweiter Stelle einfügen. Sie sah dem scheidenden +Kapitän mit großer Trauer nach, denn sie war immer mit ihm zufrieden. +Aber sie ist von der Art, die mit der Treue und Dankbarkeit eines guten +Hundes jedem Herrn dient. + +Vielleicht ist Joachim Becker in dieser Wohnung noch einsamer als sein +Vorgänger, denn neben seinem Schreibtisch steht kein Geigenkasten, den +er in den Abendstunden öffnen kann. Dafür hat er sich einige Bücher +hingelegt, die ihm die Liebe der Menschen ersetzen sollen. + +Seine »Stützpunkte« an der Küste und im Binnenlande sind errichtet; +er hat sich mit Hilfe seiner erweiterten Tankanlage das Benzinmonopol +für die Stadt erobert; man baut ihm einen großen Güterbahnhof zur +Unterstützung neben seine Freiladeplätze. Er braucht nicht mehr in den +Hafen zu fahren, um die geleistete Arbeit zu betrachten. Er kann sie +nun von seinen Fenstern aus fast überschauen. Doch wenn sein Blick auf +einen Kran fällt, beißt er die Zähne zusammen. + +An einem der letzten warmen Herbsttage, als der Generaldirektor nach +Arbeitsschluß ein gerichtliches Dokument weggeschlossen hat und in +seinem Zimmer wieder ruhelose Wanderungen unternimmt, fährt ein Wagen +im Hafen vor, und Rechtsanwalt Bernhard springt heraus. + +Er schließt nicht den Wagenschlag, sondern hebt eine Hand und hilft +Frau Adelheid Becker beim Aussteigen. + +Da ist sie also noch einmal im Hafen. Sie blickt sich aufatmend um, sie +sieht auch einen Kran, aber sie zuckt nicht zusammen. Jetzt ist sie +so weit, daß sie der Welt wieder gerade ins Gesicht blicken kann. So +sind die Frauen! Die Männer beißen die Zähne zusammen und machen den +vergeblichen Versuch, etwas zu unterdrücken; die Frauen richten sich +auf und fangen von neuem an. + +Frau Adelheid nickt Rechtsanwalt Bernhard zu und sagt: + +»Erwarten Sie mich hier, ich will allein mit ihm sprechen.« + +Rechtsanwalt Bernhard verneigt sich und hat seine Freude daran, ihr +nachzublicken, wie sie mit festen Schritten in das Verwaltungsgebäude +hineingeht. + +Joachim Becker öffnet ihr selbst. Frau Adelheid muß das erste Wort +finden, denn dieser forsche und tatkräftige Generaldirektor steht ganz +ratlos da und schweigt. + +»Du hast doch nicht gedacht, daß ich es schlecht mit dir meine, weil +ich solange nicht kam?« fragt sie, während sie ihm die Hand hinhält, +die er nicht ergreift. + +»Hat dir mein Vater nicht bestellt --« beginnt sie noch einmal, nun +schon wieder etwas ängstlich. + +Da faßt er nach beiden Händen und zieht sie in das Zimmer. + +»Doch,« stammelt er, »doch! Das hat er bestellt. Es war der einzige +Trost, der mir blieb.« + +»Gott sei Dank!« sagt sie, »ich habe es ihm doch auch so erklärt, daß +nur ich daran schuld war.« + +»Woran sollst du schuld gewesen sein?« fragt er in höchstem Erstaunen. + +Sie betrachtet ihre Handschuhe. »An unserer Ehe«, meint sie leise. + +Dann sieht sie ihm wieder ins Gesicht und sagt: + +»Ich wußte, daß du damals so gut wie verlobt warst. Trotzdem hatte ich +es mir in den Kopf gesetzt, dich für mich zu gewinnen. Wenn es mir +nicht gelang, so lag es daran, daß du zu aufrichtig warst. Du hast +niemals geheuchelt, so daß ich dich nur noch immer mehr lieben mußte. +Wenn du besonders gut zu mir warst, so hatte ich dich für kurze Zeit +mit meiner Liebe bezwungen, doch in deinem Herzen bist du einer anderen +treu geblieben.« + +Sie ist sehr rot geworden und blickt starr gegen die Fensterscheiben. +Er schweigt. + +»Ich hätte Achtung davor haben sollen, anstatt dich zu quälen«, spricht +sie weiter. »Aber da war unsere Tochter --« + +Ihre Stimme beginnt nun doch zu schwanken. Joachim Becker ist so +hilflos, daß er ihr nicht einmal beisteht, sondern sie weiter nach +Worten suchen läßt. + +Frau Adelheid sieht, wie es um ihn bestellt ist, und da findet sie +selbst die Kraft, beiden zu helfen. + +»Das ist jetzt alles vorbei, und ich denke, daß wir nun, nachdem uns +nichts mehr äußerlich bindet, gute Freunde werden könnten.« + +Sie reicht ihm ihre kleine Hand, von der sie noch rasch den Handschuh +abgezogen hat, damit er den warmen Druck ganz unmittelbar verspüren +kann. + +Er neigt sich so heftig darüber, daß sie etwas atemlos sagen muß: + +»Unten wartet Rechtsanwalt Bernhard, er wollte dich auch begrüßen.« + +Sie gehen gemeinsam hinunter, und wieder freut sich Joachim Becker, dem +jungen Rechtsanwalt in die guten, etwas verträumten Augen zu blicken. + +Er hilft Frau Adelheid in den Wagen, und wie er schon die Tür schließen +will, beugt er sich noch einmal vor und sieht ihr mit einem dankbaren +Lächeln ins Gesicht. + +Dann rollt der Wagen davon. Der Wächter schließt das Tor, und Joachim +Becker ist wieder allein in seinem Hafen. + +Er geht am Wasser entlang; grüßt die Schiffer, die mit ihren Pfeifen +neben der Kajüte stehen, und wandert zu den Lagerhallen. + +Vor dem großen Kran bleibt er stehen. Er beißt nicht mehr die Zähne +zusammen. + +Er sieht zu ihm auf und sagt: + +»Einen grausameren und gewaltigeren Mahner konnte man mir nicht +hinstellen als dich!« -- + +Rechtsanwalt Bernhard sitzt immer noch stumm neben Frau Adelheid +im Wagen und sieht mit Schrecken, daß sie sich dem Villenviertel +bedenklich nähern. Sicherlich ist es für das richtige Wort noch viel zu +früh, aber an diesem entscheidenden Tage, an dem sie ihm so gewaltig +imponiert, müßte er ihr doch mindestens sagen, welche Verehrung er ihr +entgegenbringt. Er weiß aus seiner ganzen Praxis keine einzige Frau, +die soviel Seelengröße gezeigt hätte wie sie. + +Sie starrt mit ihren schönen dunklen Augen ununterbrochen auf den +Rücken des Chauffeurs. Alfred Bernhard kann sich nicht denken, daß +ihr gerade dieser Anblick ein Vergnügen bereitet, er weiß jedoch kein +Mittel, um sie abzulenken. + +Plötzlich platzt er damit heraus: + +»Wissen Sie noch, Adelheid, wie wir damals nach der ersten Tanzstunde +zum ›Historischen Gasthof‹ fuhren?« + +»Ja.« Sie zieht den starren Blick erschreckt ein und betrachtet die +herbstlich bunten Bäume in den Gärten, die sich nun jenseits der Straße +mit ihren prunkvollen Villen im Hintergrund ausdehnen. + +»Es war auch so ein warmer Herbsttag wie heute«, setzt er fort, während +er bemerkt, daß sie an der nächsten Kurve in ihre Straße einbiegen. +»Helene Uhl war damals mit und -- und --« + +»Ja, Felix war auch dabei. Ich entsinne mich noch genau«, sagt sie +tapfer, nachdem er stockte, diesen Namen auszusprechen. »Während meiner +Krankheit habe ich einmal geträumt, daß wir tanzten. Sie und ich und +Felix mit Helene Uhl. Es war sehr schön.« Sie spricht dieses »schön« +wieder so kindlich verzückt aus wie damals beim Erwachen aus der +Narkose, als sie im Halbbewußtsein der Mutter davon erzählte. + +Das hohe Gitter der Friemannschen Villa ist bereits zu sehen, da +springt Alfred Bernhard plötzlich auf und sagt zum Chauffeur, während +sich seine Stimme fast überschlägt: + +»Fahren Sie zum ›Historischen Gasthof‹!« + +Adelheid sieht ihm erstaunt zu, aber als er sich neben ihr niederläßt, +sagt sie, wieder vollkommen gefaßt: + +»Ach, das ist wirklich eine gute Idee.« + +Dann sitzen sie eine Weile stumm da und beobachten den Chauffeur bei +seinen Bemühungen, den Wagen zu wenden. Alfred Bernhard fühlt, wie +die Hitze, die im entscheidenden Augenblick in ihm aufstieg, langsam +verebbt. Während sie wieder auf geraden Straßen dahingleiten, gelingt +es ihm sogar, anregende Gesprächsstoffe zu finden, die sie zuweilen +veranlassen, ihn anzusehen oder ihm ein Lächeln zu schenken. + +Dann steigen sie vor dem Gasthof aus, der zwischen den alten Bäumen +hervorlugt und an diesem herbstlichen Wochentage anscheinend keine +anderen Besucher als sie beide angelockt hat. Adelheid bleibt vor dem +Eingang stehen und blickt zu der Inschrift mit den verschnörkelten +alten Buchstaben hoch. + +»So haben Sie auch damals hier gestanden und die Tafel entziffert«, +sagt er erinnerungsselig. + +»Ja, und dann haben Sie mir die Jahreszahl ›übersetzt‹, weil ich die +römischen Ziffern niemals lesen kann.« Sie sieht ihn dabei mit diesem +reizenden, sorglosen Lächeln an, nach dem er sich so lange gesehnt hat. + +»Achtzehnhundertachtundvierzig ist das«, erwidert er, ohne den Blick +von ihrem Gesicht fortzunehmen, das nach seiner Ansicht noch genau so +jung aussieht wie damals vor sechs Jahren. + +Sie errötet auch wieder, weil die anhaltende Betrachtung ihrer +bescheidenen Person sie immer verlegen macht. Dann gehen sie über die +alten Fliesen des Flurs zum Garten, der hinter dem Hause liegt. In +stummer Vereinbarung steuern sie sofort auf den gleichen Tisch zu, an +dem sie damals zu viert gesessen hatten. Felix Friemann, der zu jener +Zeit in die langgliedrige lustige Helene Uhl verliebt war, hatte den +Platz ausgesucht, der ganz im Hintergrund, zwischen der historischen +Eiche und einer hohen Hecke, versteckt ist. Er war immer findig im +Ausspüren solcher Gelegenheiten, und es liegt nahe, daß die beiden nun +wieder an ihn denken. + +»Und wie mag es Helene Uhl wohl jetzt gehen?« fragt Adelheid +gedankenschwer. + +»Sie ist verheiratet.« + +»Ja, ich weiß, sie hat zwei Kinder. Man erzählte es einmal. Ich habe +sie kaum gesehen, seit Felix sich nicht mehr für sie interessierte.« + +Ein Mädchen kommt aus dem Haus. Rechtsanwalt Bernhard bestellt Kaffee +und Kuchen. + +»Sie ist neulich bei mir gewesen«, sagt er, nachdem das Mädchen +gegangen ist. + +»Wer?« + +»Helene Uhl.« + +»Helene Uhl, bei Ihnen in der Praxis?« fragt Adelheid leise, fast im +Flüsterton. + +Er nickt. »Sie will sich scheiden lassen.« + +»Und die Kinder?« + +»Ich habe ihr eben deswegen zugeredet, es doch noch weiter zu +versuchen. Aber sie sagte, dann müßte sie seelisch zugrunde gehen. Ihr +Mann ist ihr nicht treu.« + +»Vielleicht hätte sie doch unseren Felix nehmen sollen. Dann wäre alles +anders gekommen.« Sie sitzt mit geschlossenen Augen da und mag sowohl +an Schwester Emmi wie an den furchtbaren Kran denken. + +»Ja«, erwidert Alfred Bernhard und müht sich um irgendein passendes +Wort ab, das noch hinzugefügt werden müßte, damit sie wieder die Augen +öffnet und ihn ansieht. Und dann sagt er ganz leise, während die Stimme +bei einzelnen Silben den Ton versagt: + +»Manchmal ist die erste Liebe die richtige, und man weiß es nicht.« + +»Ja«, erwidert sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hat sich gegen das +rauhe Holz der breiten Bank zurückgelehnt und reicht ihm ihre Hand hin. +Er sitzt in einigem Abstand neben ihr, sie braucht nicht nach ihm zu +tasten, er greift sofort mit beiden Händen zu. + +Als sie seine brennenden Lippen auf ihren kühlen Fingern spürt, öffnet +sie die Augen und blickt auf den herabgeneigten Kopf mit dem knabenhaft +schlanken Nacken. Sie hat sich hochgerichtet und sitzt einen Augenblick +mit steifem Rücken da, während sie ihm die Hand zart zu entziehen +sucht. Er gibt sie frei, aber sein Kopf sinkt auf ihre Knie herab, und +sie spürt den heißen Atem durch den Stoff ihres Kleides. + +Da fährt sie mit kurzen, zarten Bewegungen über sein volles Haar, +und wie er das Gesicht zu ihr aufhebt, strahlt sie ihn mit ihrem +mütterlich-sanften Lächeln an, dem Joachim Becker schmerzlich nachsann, +als sie ihm verloren war. + +Für Alfred Bernhard sind die sechs Jahre ausgelöscht, er ist wieder +so jung und stumm wie damals. Er weiß, daß es jetzt keiner Worte mehr +bedarf. + + + + + Die Einweihung + + +Im nächsten Frühjahr kann neben der Mühle von Michael Pohl die große +Brotfabrik eröffnet werden, die Spenderin des täglichen Brotes für die +ganze Stadt. + +Man veranstaltet kein Fest und ladet auch keine Gäste. Die Teigmassen +wälzen sich aus den großen Knetmaschinen, sie rollen geformt aus einem +Räderwerke heraus und verschwinden gleichzeitig zu Hunderten in den +großen Öfen. + +Da gleiten schon die braunen Laibe herab, und dort ziehen die nächsten +rohen Formen hinein. + +Meister Reiche nimmt das erste heiße Brot in seine abgehärteten Hände +und legt es auf eine Schüssel. Dann geht er damit hinaus, über den +großen Platz, an Mühle und Speicher vorbei zum Wohnhaus des Müllers. + +Michael Pohl sitzt mit seiner Familie am Mittagstisch, da tritt Meister +Reiche mit der Schüssel ein und sagt feierlich: + +»Das erste Brot!« + +Michael Pohl erhebt sich und mit ihm auch seine Frau und seine Tochter, +nur der jetzt vierjährige Michael bleibt auf seinem Stühlchen sitzen +und sieht der Szene mit großer Spannung zu. + +Sie sind alle von der Feierlichkeit dieses Augenblicks durchdrungen. + +Michael Pohl sagt: + +»Wir wollen gemeinsam davon essen.« + +Frau Pohl reicht ihm ein Messer, er schneidet vier Stücke von dem +heißen Laib und spricht einige kurze Worte mit seinem Herrgott. Sie +falten alle die Hände, und dann nehmen sie das Brot. + +Sie verzehren es wie das heilige Abendmahl. + +Meister Reiche reibt mit seinen großen Fäusten an den Augen, Frau Pohl +aber gibt ihren Tränen freien Lauf, sie reicht ihrem Manne die Hand und +läßt sich in seine Arme ziehen. + +Dann sagt sie: »Ich will auch unserem Sohne von dem heiligen Brot +geben.« + +Und sie steckt ihm einen Bissen in den Mund, obgleich sie weiß, daß er +sich daran den Magen verdirbt. -- + +Wenige Wochen später ist der Hafen zur offiziellen Feier der Einweihung +gerüstet. Aus dem ganzen Lande sind die Gäste geladen. Fahnen wehen +über allen Gebäuden, und auf den Gewässern liegen die Kähne und +Schleppdampfer in dichten Reihen. + +Man hat die Schiffer lange darauf vorbereitet, daß es erwünscht wäre, +wenn am 1. Mai recht viele von ihnen hier anlegten und sich den +staunenden Gästen präsentierten. + +Gegen elf Uhr fahren die Wagen vor. Sie müssen hinter dem Tore halten, +und bald ist die Straße bis zur Föhrbrücke gesperrt. Immer neue +Menschenmengen strömen herein. Sie kommen einzeln und in Gruppen: die +Herren von der Regierung und von den Kommunen, von Handel, Industrie +und Gewerbe, die Schaulustigen und die Damen. + +Vor dem Verwaltungsgebäude ist eine geschmückte Rampe errichtet. Hier +soll der Hafen gewissermaßen aus der Taufe gehoben werden. Die Reden +sind vorbereitet, und die Schiffer auf dem Wasser hinter dem Rednerpult +setzen sich neben ihre bekränzten und bewimpelten Kajüten und denken, +daß sie diesmal auch etwas zu hören bekommen. + +Die Gäste promenieren und sehen sich staunend um, bis sie an der Kanzel +versammelt werden, weil der erste Redner erscheint. + +Es ist der Oberbürgermeister, der sie im Hafen begrüßt und dann +nicht minder erhebende Worte spricht als vor vier Jahren zum ersten +Spatenstich. + +Dann folgt der Vertreter der Regierung, und das ist diesmal der +Handelsminister selbst. + +Es reden die Exponenten von Industrie, Handel und Finanz, und die +Zuhörer werden schon etwas müde, als Joachim Becker, der junge +Generaldirektor und Anreger zu diesem Werk, die Schlußworte spricht. + +Er faßt sich sehr kurz. Er sagt, daß er nicht viel Worte zu verlieren +brauche, denn heute sprechen die Erfolge selbst. Er ladet zu einer +Besichtigung der Hafenanlagen ein, dann werde jeder sehen, daß +dieser neue große Binnenhafen ein wichtiger Faktor im deutschen +Wirtschaftsleben sei, der seine Existenzberechtigung bewiesen habe. + +Er spricht diesmal nicht von Kampf, Mut und Ausdauer, nicht vom +»Größten«, das alles andere übertrumpfen soll, oder von einer +Weltmacht. Er sagt »Urteilt selbst«, dankt für das Interesse und +verneigt sich. + +Dreißig große, mit Nummern bemalte Schilder stehen da, die von den +Bureaudienern und Boten der Generaldirektion an hohen Stangen getragen +werden; ebenso viele Führer, die mit dem Hafen vertraut sind, haben die +Pflicht, für die Einteilung der Erschienenen in Gruppen zu sorgen und +ihnen die Anlagen zu erklären. + +Da finden sich nun diejenigen zusammen, die im Rang zueinander +gehören, eine besondere Gruppe ist für die Presse gebildet, und die +Schaulustigen suchen sich die Gesellschaft, die ihnen gerade gefällt. + +Meister Reiche zum Beispiel, den man auch geladen hat, ist zufällig +neben Fräulein Spandau gelandet. Sie lassen sich die technischen Wunder +erklären, obgleich sie ihnen nicht fremd sind. Aber sie bleiben oft ein +wenig zurück und halten eine Privatbesichtigung. + +Im Getreidespeicher, da, wo Meister Reiche vor mehr als zwei Jahren +die ersten Körner fallen sah, hält er sich längere Zeit auf. Er spricht +in seiner schwerfälligen, etwas stockenden Art von den eigentümlichen +Gefühlen in jener Stunde, und Fräulein Spandau hört ihm andächtig zu. + +»Und was würden Sie sagen,« fragt er zum Schluß, »wenn nun ein Mann vor +Ihnen steht, der über sich selber wieder Herr und Meister ist?« + +Fräulein Spandau sieht ihn so erstaunt an, als wüßte sie nicht, worauf +er hinaus wolle, obgleich eine stille Ahnung wohl in ihr dämmern mag. + +Die Teilnehmer ihrer Gruppe kommen unter lebhaftem Geplauder von der +Besichtigung der oberen Stockwerke schon wieder zurück. Die beiden +lassen sie vorbeiziehen, und Fräulein Spandau sagt: + +»Nun, ein Meister waren Sie trotzdem immer geblieben.« + +»So meinte ich es nicht. Ich wollte sagen, daß ich wieder ein freier +Mann bin und möchte gern wissen, ob Ihnen das gefällt.« + +»Herr Reiche«, sagt Fräulein Spandau errötend. + +»Und was hier auf dem Papier steht,« er klopft auf die Brusttasche, +»das von der unsauberen Sache in meiner Ehescheidung, würde Sie das +wohl stören?« fragt er, während er ihre Hand ergreift. Er mag wohl an +die Störung selbst nicht recht glauben, denn sonst würde er ihr nicht +so treuherzig und siegesgewiß in die Augen schauen. + +Fräulein Spandau errötet noch tiefer. Sie blüht geradezu auf, so daß +sie hübsch und gesund aussieht. + +»Herr Reiche«, flüstert sie noch einmal. Er nimmt es als eine passende +Antwort hin. -- + +Joachim Becker zeigt sich bei jeder Gruppe und spielt den +liebenswürdigen Gastgeber. Es ist für einen Boten, der ihm ein +Telegramm überbringen soll, nicht leicht, ihn zu finden, weil er sich +immer wieder an einer anderen Stelle aufhält. + +Endlich ist die Sendung übergeben. Joachim Becker geht zur Seite, um +ungestört lesen zu können. Seine Augen werden immer heller und klarer, +während sie auf den nüchternen Buchstaben ruhn. + +Dann eilt er mit seinen leichten schwingenden Schritten davon und sucht +den Kommerzienrat. Er winkt ihn beiseite und übergibt ihm das +Telegramm. + +»Es ist aus Venedig«, sagt er, während er lächelnd auf die gesenkten +Augen seines ehemaligen Schwiegervaters sieht. + +Der Kommerzienrat liest: + +»Generaldirektor Joachim Becker. Gratulieren zur Einweihung des Hafens +und wünschen von Herzen Glück und Heil. Alfred Bernhard und Frau +Adelheid.« + +Er faltet das Papier langsam und sorgfältig zusammen, so daß es +aussieht, als käme es eben von der Postanstalt. Dann reicht er es +Joachim Becker zurück, und weil seine Hand zittert, fällt es zur Erde. +Joachim Becker hebt es auf. Wie er sich wieder hochrichtet, das Gesicht +vom Bücken etwas gerötet, sagt der Kommerzienrat leise: + +»Dann will ich dir auch noch dazu gratulieren, daß dir alles so gut +gelungen ist.« + +Joachim Becker steckt das Telegramm in die Tasche und geht damit eine +Weile tatenlos umher. In seinem energischen schmalen Gesicht, auf der +klaren hohen Stirn ist ein ungewohntes stilles Leuchten. Er greift noch +einmal nach dem Papier, und er mag dabei denken, daß ~eine~ Schuld +nun ausgestrichen sei. + +Wie er dem Justizrat Bernhard begegnet, wird er so kindisch in seiner +Freude, daß er ihm das Telegramm zeigt und einleitend sagt: + +»Ihr Neffe hat mir aus Venedig telegraphiert. Sie glauben nicht, wie +ich mich darüber freue.« + +»So, ist er jetzt in Venedig?« fragt der Justizrat. Dann gibt er ihm +das Papier zurück und meint: »Ja, er ist ein braver Bursche, der +Alfred. Ich glaube, daß er noch ein gesuchter Rechtsanwalt wird.« + +Dann gehen sie, ein jeder seines Wegs. Der Justizrat ist zwar +diesmal befriedigt, weil er die Rede des Oberbürgermeisters vorher +durchgesehen hat, aber er denkt: ›Ganz richtig ist das nicht, daß der +Junge dem ersten Mann seiner Frau gratuliert. Nun wollen sie wohl +gar gesellschaftlich miteinander verkehren? Es wird doch immer noch +allerhand Vorsicht außer acht gelassen.‹ Und er schüttelt bedenklich +sein graues Haupt. + +Redakteur Undlet und der ausländische Pressevertreter, mit dem er sich +damals, beim ersten Spatenstich, zusammenfand, ist auch wieder da. Sie +haben inzwischen beide die Blätter gewechselt, aber sonst sind sie die +gleichen geblieben. + +»Was sagen Sie nun?« fragt Undlet interessiert. + +»Hm. Sie haben ganz Tüchtiges geleistet. Etwas bescheidener sind sie +geworden.« + +»Bescheidener? Ich denke doch, daß sie in kürzester Zeit ausgeführt +haben, was sie versprachen.« + +»Ich meine nur, daß sie jetzt nicht mehr soviel Worte machen.« + +»Ja, so ist das,« meint Redakteur Undlet, »wenn man erst gezeigt hat, +was man kann, darf man schweigen. Vorher werden einem die besten Worte +nicht geglaubt.« + +Sie gehen zur langgestreckten, mit Girlanden geschmückten Lagerhalle, +wo die Tafeln für die Gäste gedeckt sind. + +Man läßt sich nieder, ißt und hört sich noch einige Reden an. + +Dann fahren die ersten Wagen vor, der Kommerzienrat und Joachim +Becker begleiten die prominenten Gäste bis zum Ausgang. Schließlich +verabschieden sie sich voneinander, und der Kommerzienrat fragt: + +»Du kommst doch heute abend zum Festessen ins Hotel?« + +»Wenn du es mir nicht übelnehmen würdest,« sagt Joachim Becker, »möchte +ich heute gern allein bleiben.« + +»Nein, gewiß nicht. Ich werde dich bei den Herren entschuldigen.« + +Auf dem Rückweg begegnet dem Generaldirektor Schwester Emmi. + +Sie trägt heute nicht ihre einfache Tracht, nein, sie ist mit ihrer +Eleganz wahrhaftig mancher hochgestellten Dame überlegen, wenn auch an +ihrer Seite nur Herr Karcher geht. + +Dieser Herr Karcher, er ist mit großer Freude ihrer Einladung, sie +beim Feste zu begleiten, gefolgt, und nun wandert er neben ihr her, +als wäre das selbstverständlich und gar nicht eine große und besondere +Vergünstigung. Zwar sind mit der Generaldirektion viele junge Männer +in den Hafen gekommen. Sie rufen Schwester Emmi zuweilen einige +Scherzworte zu, denen sie in der alten schlagfertigen Frische begegnet, +doch sie hat keinen gefunden, der ihr ständig auf den Fersen folgt wie +seinerzeit Herr Gregor und der +Dr.+ Felix Friemann. + +Nun betrachtet Herr Karcher sie beinahe als einen festen Besitz, und +es ist merkwürdig: irgend etwas fehlt ihm dabei. Wenn sie mit Herrn +Gregor oder +Dr.+ Friemann tändelte, so hat sich sein Herz immer +so wehmütig zusammengezogen, aber es war ein unvergleichlich schöner, +süßer Schmerz, der ihn den ganzen Tag begleitete und seinem Leben eine +melancholische Melodie gab. + +Dieser Schmerz ist heute, da er von ihr bevorzugt wird, wie +ausgelöscht, und dem leidgewohnten unvernünftigen Herzen fehlt ein +treuer Gast. + +Wie nun Joachim Becker den beiden entgegenkommt, sieht Schwester Emmi +rasch prüfend an sich herab. Sie zieht die Handschuhe glatt und hebt +die Lackspitze eines Schuhs bis hoch oben zum Seidenstrumpf, um einen +winzigen Fleck fortzuputzen. Dann befeuchtet sie die Lippen und geht +dem Generaldirektor mit einem reizenden Lächeln entgegen. + +Joachim Becker begrüßt sie sehr liebenswürdig und drückt ihr sogar die +Hand. + +»Ja, Schwester Emmi,« sagt er, »nun, da die Einweihungsarbeiten vorüber +sind, werden wir beide uns einmal zusammensetzen und versuchen, wie wir +nach dem Entwurf von +Dr.+ Friemann die Fürsorgestelle erweitern +können.« + +Dann plaudern sie noch ein wenig. Herr Karcher steht schweigsam +daneben, und siehe: da ist er wieder, der unvergleichlich schöne, süße +Schmerz. -- + +Das große Fest im Hafen kann auch dem Nachbarn nicht entgehen. Die +offiziellen Nachrichten dringen überall hin, und für die Verbreitung +der internen Mitteilungen in der Familie Pohl hat Schwester Emmi wieder +gesorgt, seitdem der Kapitän nicht mehr als gern gesehener Gast +empfangen werden kann. + +Während Irmgard Pohl mit ihrem Vater zum Mittagessen über den +Platz geht, muß sie auch einen Blick zu den lustig wehenden Fahnen +hinüberwerfen. + +Sie bleibt stehen und sagt: »Vater, wenn Joachim Becker einmal +wiederkehrte, um uns zur Versöhnung die Hand zu reichen, käme er dann +als Sieger oder als Besiegter?« + +»Als Sieger!« sagt Michael Pohl so schnell, als wäre er auf die Antwort +vorbereitet gewesen. + +»Und sein Sohn?« fragt Irmgard leise. + +Der Mühlenbesitzer sieht sie eine Weile schweigend an. Dann sagt er: +»Auch der Sieger kehrt in sein Land mit Verlusten zurück. Wer sich in +den Kampf einläßt, muß ihn in jedem Falle mitbezahlen.« -- + +Als auch der letzte Gast verschwand, spaziert Joachim Becker noch ein +wenig in seinem Hafen umher. Die Arbeit ist noch in vollem Betrieb, +denn eines Festes wegen darf die Tätigkeit nicht ruhn. Die Angestellten +haben auch ihr Freibier bekommen, und nun führen sie ihren Arbeitstag +zu Ende. + +Joachim Becker bleibt neben dem Verwaltungsgebäude stehen und denkt +an die alten Linden, die hier einstmals wuchsen. Über dem zweiten +Hafenbecken sieht er eine Kirche und ein Fräuleinstift. + +Unter diesen Bäumen ist er damals auf- und abgegangen mit so +hochfliegenden Gedanken, daß er manchmal selbst davor erschrak. Oft war +er nicht allein gewesen, die Wärme und der Duft Irmgard Pohls hatten +ihn verwirrt, so daß seine Pläne in die Ferne gerückt und ihm noch +wahnwitziger erschienen waren. Er, der Prokurist einer Getreidefirma, +hatte vor die Gewaltigen der Stadt treten wollen, um ihnen zu sagen: +»Ich werde euch einen Hafen bauen!« + +Wenn er so recht mutlos geworden war und gedacht hatte: »In deinem +ganzen Leben wirst du das nicht fertigbringen«, hatte er zuweilen +eine weiche Frauenhand gefühlt, und Irmgard Pohl mit ihrer festen +zuversichtlichen Stimme hatte gesagt: + +»Ich glaube an deine Kraft, und ich weiß, daß du dich durchsetzen +wirst!« + +Dann war der Plan wieder näher gerückt, und er hatte mit seinen +Gedanken weiter daran bauen können. + +Noch nicht fünf Jahre später steht er nun hier und blickt auf seinen +fertigen Hafen. + +Er geht zum Hafentor, als wolle er sein Werk auch von außen betrachten. + +Aber ohne zurückzuschauen, lenkt er seine Schritte zielsicher zur Seite +und wandert über die Föhrbrücke und an der Brotfabrik, der Mühle und +dem Getreidespeicher entlang. + +Das ist ein weiter Weg, und er will gar kein Ende nehmen. + +Ob man wohl von den Fenstern des Wohnhauses sehen kann, wie er mit +seinen festen Schritten daherkommt? + +Nun ist er am Gartentor. Er schreitet an Frau Pohls gepflegtem Rasen +vorbei, und wie er vor dem Hause endlich angelangt ist, öffnet sich die +Tür. + +Michael Pohl steht auf der Schwelle. Er reicht ihm stumm die Hand und +führt ihn in das Haus. + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 *** diff --git a/75396-h/75396-h.htm b/75396-h/75396-h.htm new file mode 100644 index 0000000..386d72d --- /dev/null +++ b/75396-h/75396-h.htm @@ -0,0 +1,11071 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Der Hafen | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; +} + + h1,h2 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both;} + +h1 { font-size: 220%} +h2, .s2 { font-size: 175%} +.s3 { font-size: 125%} +.s5 { font-size: 90%} + +p { text-indent: 1em; + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em;} + +.p0 {text-indent: 0;} +.p2 {margin-top: 2em;} +.p4 {margin-top: 4em;} +.p6 {margin-top: 6em;} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + border-width:3px; + border-color:black; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + + + +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +div.chapter {page-break-before: always;} +h2.nobreak {page-break-before: avoid;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto; + width: 40%;} + +table.autotable { border-collapse: collapse; } +table.autotable td, +table.autotable { padding: 0.25em; } + +.tdl {text-align: left;} +.tdr {text-align: right;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0; +} /* page numbers */ + +.center {text-align: center;} + +.antiqua { font-style: italic; } + +.gesperrt { letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +.x-ebookmaker .gesperrt { + letter-spacing: 0.15em; + margin-right: -0.25em;} + +em.gesperrt{ + font-style: normal;} + +.h3em {height: 3em; width: auto;} + +.hide-first { + visibility: hidden; + margin-left: -0.75em;} + +div.dc { + float: left; + margin: 0.25em 0.5em 0 0; + line-height: 1;} +.x-ebookmaker div.dc { + float: left; + margin: 0.25em 0.9em 0 0; + line-height: 1;} + +/* Images */ + +img { + max-width: 100%; + height: auto; +} +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%; + padding-top: 1em; + padding-bottom: 1em +} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif; +} + +/* Illustration classes */ +.illowe6 {width: 6em;} +.illowp49 {width: 49%;} + + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und +Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich +offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.</p> +<p class="p0">Worte in Antiqua sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +<p class="p0">Der Einband wurde vom Bearbeiter umgestaltet und in die Public Domain eingebracht.</p> +<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.</p>. +</div> + +<figure class="figcenter illowp49" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p class="s3 p2 center">Else Rabe / Der Hafen</p> +</div> + +<div class="chapter"> + +<p class="p6 s5 center">Dieses Buch ist als erster Band der neunten Jahresreihe für die<br> +Mitglieder des Volksverbandes der Bücherfreunde hergestellt<br> +worden und wird nur an diese abgegeben. Der Druck ist in <br> +Walbaum-Fraktur durch die Spamersche Buchdruckerei in<br> +Leipzig erfolgt. Der Entwurf des Einbandes stammt von Walter<br> +Schulze-Keller. Das echte Ziegenleder lieferte die Lederfabrik<br> +Carl Simon Söhne in Kirn (Nahe). Gebunden wurde das Buch<br> +von der Buchbinderei-Abteilung des Volksverbandes der<br> +Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H.</p> +</div> + +<p class="p4 center">Nachdruck verboten</p> +<p class="s5 center"><em class="antiqua">Copyright 1927, by Volksverband der Bücherfreunde<br> +Wegweiser-Verlag G. m. b. H., Berlin</em></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> + +<h1>Der Hafen</h1><br> +<p class="s3 center">Roman</p><br> +<p class="center">von</p><br> +<p class="s2 center"><b>Else Rabe</b><br> +<b>*</b></p><br> + +<figure class="figcenter illowe6" id="illu-003_2"> + <img class="w100" src="images/illu-003.jpg" alt="signet"> +</figure> + +<p class="center">1927</p> + +<hr> + +<p class="center">Volksverband der Bücherfreunde<br> +Wegweiser-Verlag G. m. b. H.<br> +Berlin</p> + +</div> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<h2>Inhalt</h2> +</div> + +<table class="autotable"> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der erste Spatenstich</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_5">5</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Feind</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_21">21</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Katastrophe</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_40">40</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><em class="antiqua">Vita somnium breve</em></td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_55">55</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Aufsichtsrat</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_62">62</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Mutter</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_82">82</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">In Erwartung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_101">101</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Kapitän</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_128">128</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Verhaftung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_149">149</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Mann in der Mitte</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_178">178</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Vergangenheit</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_200">200</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Sohn</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_219">219</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Das Brot</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_239">239</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Scheidung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_259">259</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Streik</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_276">276</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Begegnung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_289">289</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Kran</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_315">315</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Das Fieber</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_328">328</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Der Abschied</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_343">343</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">Die Einweihung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_370">370</a></td> +</tr> +</table> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_erste_Spatenstich">Der erste Spatenstich</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i001" src="images/drop-i001.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>ch habe keinen Augenblick Zeit und bin für niemand mehr zu sprechen!« +sagt Joachim Becker abwehrend, noch ehe er ein Wort gehört hat.</p> + +<p>»Es ist die Frau Gemahlin«, stammelt der Mann an der Tür verwirrt.</p> + +<p>Das macht auf den jungen Direktor Becker durchaus keinen Eindruck. Er +sagt nur in gedämpfterem Tone: »Dann lasse ich bitten,« und wühlt in +seinen Papieren, so daß er verhindert ist, seiner Frau entgegenzugehen. +Sie bleibt mit erwartungsvollem Lächeln im Hintergrund stehen.</p> + +<p>»Du hast es sehr gut gemeint,« sagt er nachsichtig, wie er die Spannung +in ihrem jungen blassen Gesicht sieht, »doch du solltest wissen, was +dieser Tag für mich bedeutet, und daß ich keine Zeit habe, mich dir zu +widmen.«</p> + +<p>›Weil ich das weiß, bin ich hierhergekommen, denn gerade heute müßte +mein Platz an deiner Seite sein‹, hätte sie darauf erwidern sollen. +Aber Adelheid ist nicht der Mensch, der aussprechen kann, was er denkt. +Zu ihrem Unglück jedoch sagen ihre runden braunen Augen alles, was ihr +Mann nicht hören will.</p> + +<p>»Ich habe mit Herrn Gregor noch auf dem Wege Wichtiges zu besprechen +und muß dort die offiziellen Empfänge<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> leiten. Ich will deinen Vater +fragen, ob du dich ihm anschließen kannst.«</p> + +<p>Er ruft den Kommerzienrat an und sagt, ohne seinen Namen zu nennen: +»Adelheid ist in meinem Zimmer.« Da wird er schon unterbrochen und +schweigt, denn sein Schwiegervater ist der einzige Mensch, der ihm das +Wort abschneiden darf.</p> + +<p>Wenige Augenblicke später wird die Verbindungstür zum Nebenzimmer, +dem kleinen Konferenzraum, aufgerissen, und die runde Gestalt des +Kommerzienrats kugelt herein.</p> + +<p>Sein breites bartloses Gesicht mit der vom Haarausfall erhöhten Stirn +leuchtet in der angenehmen Überraschung, die nur seine Familie ihm +bereiten kann.</p> + +<p>»Das ist mir eine Freude, Adelheid, dich hier zu sehen!« Er schließt +sie in seine Arme, und die junge Frau liegt ohne Rücksicht auf ihren +Hut, der sehr verbogen wird, einen Augenblick ganz still.</p> + +<p>Joachim Becker schreitet nervös sein Zimmer ab. Er hat im Gang das +verhaltene Vibrieren eines Rennpferdes. Aber dem strengen Gesicht +mit der hohen Stirnwölbung über den grauen Augen ist keine Regung zu +entnehmen.</p> + +<p>Wie er nun stehenbleibt und mit den nervösen langen Fingern über seine +aschblonde Haarmähne streicht, während das schmale gespaltene Kinn sich +wie zum Sprechen bewegt, scheint er seinem Schwiegervater fremd und +bedrückend im auffallenden Gegensatz zu ihm und seiner Tochter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p> + +<p>Der Kommerzienrat rückt Adelheid den Hut zurecht und zupft an ihrem +seidenen Mantel.</p> + +<p>»Schön hast du dich gemacht, da wird die Mama ihre Freude an dir haben. +Ist das der Mantel, den ihr gestern gekauft habt?«</p> + +<p>»Ja,« sagt sie glücklich, »daß du dich dafür interessierst!«</p> + +<p>»Das wäre ja noch schöner. Mir haben die Kleider der Mama immer Freude +gemacht.« Bei diesen Worten kann Kommerzienrat Friemann einen kleinen +Seitenblick zum Schwiegersohn nicht vermeiden. Aber herzlich fügt er +hinzu: »Der Hut steht dir übrigens auch ausgezeichnet.«</p> + +<p>Jetzt hat die junge Frau den Mut, ihren Mann mit einem Lächeln +anzublicken. Zu ihrem Unglück erscheint Herr Gregor in der Tür. Er will +sofort wieder verschwinden, da er die Familienszene sieht, Joachim +Becker hält ihn mit lautem Zuruf zurück, so daß der Kommerzienrat sich +kurz verabschiedet und seine Tochter zum Wagen begleitet.</p> + +<p>Sie fahren zu jenem freien Platz abseits der Stadt, wo zwischen +alten Bäumen und abgerissenen Mauern der Fluß und zwei Kanäle fast +zusammenstoßen. Eine Gruppe von Männern und Frauen ist an diesem milden +Frühlingstage hierher geladen worden, um sich einige Reden anzuhören.</p> + +<p>Zuerst spricht der Oberbürgermeister persönlich zur Ehre des Tages.</p> + +<p>Es sei die wichtigste Aufgabe der Städte, führt er unter anderem +aus, für den Ausbau der Wasserwege zu sorgen. Die<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> Bedeutung der +Binnenschiffahrt sei von den großen Städten im Lande noch nicht +richtig eingeschätzt, doch diese Stadt, die er zu vertreten die Ehre +habe, wisse, was nun zu tun sei. Wenn das Stadtparlament beschlossen +habe, den Ausbau und die Verwaltung ihres Hafens einem Konsortium zu +überlassen, so sei dies vom wirtschaftlichen Standpunkt notwendig +geworden. Die Privatwirtschaft könne mit freieren Händen arbeiten als +die Bureaukratie.</p> + +<p>Hier wird unter den geladenen Gästen und einem Teil der Presse eine +kleine katarrhalische Verstimmung fühlbar, aber das Oberhaupt der Stadt +fährt mit erhobener Stimme fort:</p> + +<p>»Die Verpachtung unserer Ladestraßen an das von Herrn Kommerzienrat +Friemann geführte Konsortium unter Beteiligung der Stadt wird uns zu +einem Hafen verhelfen, den wir uns mit kommunalen Mitteln nicht leisten +können. Im Interesse unserer Bürgerschaft und in der Erkenntnis, daß +der Riesenbedarf unserer Stadt durch das zwar weitverzweigte, doch für +die fernere Zukunft unzulängliche Eisenbahnnetz nicht zu bewältigen +sei, ist dem Angebot mit großer Majorität zugestimmt worden. Noch +haben wir keinen Hafen, noch sind wir eingeengt durch Schleusen und +schmale Kanäle, aber diese Schranken werden fallen, — die Leistungen +der technisch-wissenschaftlichen Wasserwirtschaft im Verein mit +kaufmännischem Fernblick und Unternehmungsgeist werden unsere Stadt +in kurzem zu einem der bedeutendsten Binnenhafenplätze des Kontinents +erheben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p> + +<p>Lebhafter Beifall stimmt diesen Schlußworten zu.</p> + +<p>Justizrat Bernhard, der Syndikus der Stadt, nimmt seinen Neffen, +Rechtsanwalt Bernhard jr., zur Seite und meint: »Es ist allerhand +Vorsicht außer acht gelassen — vom juristischen Standpunkt allerhand +Vorsicht! Man mußte hier vor der Presse nochmals betonen, daß es +sich nur um eine Pacht für neunzig Jahre handelt. Man durfte den +Kommerzienrat Friemann nicht allein erwähnen. Er vertritt die Majorität +— gut! Aber ›er‹ — das ist der Handel, sagen wir getrost, der +Getreidehandel. Was meinen nun die Banken dazu? Sie haben ebenso +gutes Geld gegeben, ja, sie werden für die Kredite sorgen, — die +Banken durften nicht ausgeschaltet werden. Und die Industrie, die +Eisenindustrie, die sich nach schweren Kämpfen auch beteiligt hat? +Die Reedereien — ich meine die Flußschiffahrt, denn die anderen +haben sie nicht bekommen — wo bleiben diese Interessen? Siehst du, +mein Junge, das sind die taktischen Fehler, die bei uns immer wieder +gemacht werden. Man hätte <em class="gesperrt">mir</em> die Rede vorlegen sollen, der +<em class="gesperrt">Jurist</em> muß sie vorher bearbeiten —«</p> + +<p>»Ja, gewiß, aber wollen wir nicht die anderen Reden hören?«</p> + +<p>»Die wirst du heute abend in der Zeitung lesen. Wir wollen uns ein +wenig umsehen, ehe die offizielle Führung beginnt.«</p> + +<p>Und der Justizrat zieht seinen Neffen mit dem Recht des Protektors, der +dem Anfänger mit seinen Beziehungen die Wege ebnet, zum Kanal hinüber.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p> + +<p>Einige Schleppkähne, die zur Feier des Tages bewimpelt sind, liegen +an der Kaimauer und strecken ihren berußten langen Leib den milden +Mittagsstrahlen hin. Vor den Kajüten haben die Frauen ihre Blumentöpfe +zum Luftholen ausgesetzt.</p> + +<p>Ein Säugling, auf einem hellen Tuch über den Planken ausgestreckt, +kräht einem Pudel entgegen; die Frau eines Schiffseigners sitzt +kartoffelschälend vor der Tür.</p> + +<p>Die Schiffer, in ihren besten blauen Jacken, mit Hochglanz über der +braunen geschabten Haut, stehen in der Nähe der Versammelten und fangen +ehrfürchtig ein paar vom Wind verwehte Worte auf.</p> + +<p>»Und die Eisenbahn?« fragt der Justizrat. »Das waren doch wohl Angriffe +auf die Eisenbahn. Man hat noch keine Verträge mit ihr geschlossen, man +wird sie brauchen, aber man stößt sie vor den Kopf.«</p> + +<p>Der junge Rechtsanwalt sieht dem Spiel des Säuglings zu, seine braunen +Augen über den gerundeten roten Wangen sind blank und von innen erwärmt.</p> + +<p>»Ich dachte,« bringt er leise und stockend hervor, »daß es schöner +wäre, auf solchem Kahn lautlos durch die deutsche Landschaft zu fahren, +als hier Prozesse zu führen und Reden zu hören.«</p> + +<p>»Diese Leute«, gibt der Justizrat rasch zurück, »sind ein kleines Rad +im großen Werk, du bist ein größeres. Warum willst du geringer werden?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p> + +<p>Er hat den Hut abgenommen und den breiten gelichteten Graukopf der +linden Luft preisgegeben. Darum sind seine Worte milde und fast ohne +Zurechtweisung.</p> + +<p>Plötzlich kommt Bewegung in seine kleine gedrungene Gestalt. Er rückt +den Kneifer zurecht und ist von der angespanntesten Aufmerksamkeit +ergriffen.</p> + +<p>»Das ist sehr interessant, das ist außerordentlich interessant«, +murmelt er hingerissen. Alfred Bernhard kann nicht umhin, der +Blickrichtung seines Onkels zu folgen.</p> + +<p>Er sieht nichts weiter als einen Wagen vor dem Wohnhaus der Mühle, die +mit ihren Mehl- und Getreidespeichern direkt in den Kanal hineinblickt. +Das Haus ist einstöckig, mit einem kleinen Vorgarten und bunten +Blumenkästen vor den Fenstern. Es steht etwas abseits auf dem großen +Platze, der den Winkel zwischen beiden Kanälen bildet.</p> + +<p>»Du hast nicht gesehen, wer ausgestiegen ist?« fragt der Justizrat.</p> + +<p>»Nein.«</p> + +<p>»Aber du weißt, welche Bedeutung der Mühlenbesitzer dort drüben für +den Hafen hat? Er ist dein erster Prozeßgegner. An diesem Dickschädel +sollst du dir sozusagen deine Sporen verdienen.«</p> + +<p>»Er ist der einzige der Privatbesitzer, der sein Terrain nicht +verkaufen wollte?«</p> + +<p>»Richtig! Die Akten will dir Direktor Becker morgen selbst übergeben. +Es ist eine persönliche, eine Vertrauensangelegenheit.<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Und wenn ich +dir jetzt sage, wer soeben dort hineingegangen ist, wirst du ermessen, +was für eine heikle Aufgabe dir bevorsteht. Also die Person war eine +Frau, eine Frau mit einer großen Tasche.«</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhards verständnisloses Gesicht beweist dem Justizrat, +daß seine feinen Anspielungen durchaus nicht verstanden werden.</p> + +<p>»Du weißt also nicht, daß dieser Becker im Hause des Müllers gern +gesehen war, als er noch der Tochter den Hof machte, während er dem +Vater Friemanns Getreide verkaufte. Hier war er zu seinen großen +Hafenplänen angeregt worden. Er ist ein Kerl, das kann man nicht anders +sagen, wie man auch sonst über ihn denken mag. In seinem Kopfe ist das +ganze Projekt entstanden, das heute so durchführbar erscheint, während +man anfangs darüber gelacht hat. Wie aus dem Erdboden geschossen war +er plötzlich da, dieser Prokurist im Hause Friemann. Er legte seine +Pläne vor, löste die Verlobung mit Fräulein Pohl, heiratete die Tochter +seines Chefs und brachte die maßgebenden Geldkreise zusammen. Heute +nun wird der erste Spatenstich vorgenommen. Das ist alles in kaum neun +Monaten geschehen, du kannst es dir ausrechnen, denn eben ist drüben +die Frau mit der großen Tasche ausgestiegen. Das ist wieder so ein Witz +des Schicksals, daß hier und dort seine Werke an einem Tage zu leben +beginnen.« Der Justizrat lacht kichernd und verstohlen, als habe er +selbst diesen Witz erfunden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p> + +<p>Alfred Bernhard ist noch etwas benommen. Es wird ihm nicht recht klar, +ob er die Anspielungen richtig aufgefaßt hat.</p> + +<p>»Also dort drüben ist auch eine Tochter und — und die Feindseligkeit +des Müllers ist persönlicher Natur?«</p> + +<p>»Allerdings. Damit mußt du rechnen. Da wirst du deinen Hebel ansetzen.«</p> + +<p>»Das wird die Arbeit sehr erschweren. Unter diesen Verhältnissen ist +wohl mit einem endlosen Prozeß zu rechnen. Meines Erachtens wird man +den Mann nicht zwingen können, zu verkaufen. Und wenn er hartnäckig +bleibt —«</p> + +<p>»Er wird, mein Lieber, er wird. So etwas vergißt ein Vater nicht. Es +sind ehrenhafte, gutsituierte Leute, die Tochter von ausgezeichnetem +Charakter, wie man sagt. Aber so etwas kommt in den besten Familien +vor.«</p> + +<p>»Ich denke an Adelheid Friemann. Wir sind doch zusammen in die +Tanzstunde gegangen —«</p> + +<p>»Ja, ja,« meint der Justizrat, »aber ich glaube, der Becker spricht.«</p> + +<p>Joachim Becker ist bereits bei den Schlußworten. Sein schmales Gesicht +ist sehr blaß und sehr belebt. Die Stimme, durchdringend, mit vollem +Klang, hat einen Stich ins Kommandohafte.</p> + +<p>»Es soll sich nicht darum handeln, die Güter nach Hamburg oder Stettin +zu verladen, sondern direkt nach Südamerika oder China. Nicht einen +Umschlagshafen wollen wir schaffen, sondern eine Zentrale für den +deutschen Weltverkehr,<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> nicht einen Hafen, der dem eigenen Bedarf +genügt, sondern einen Stapelplatz für den Transithandel, der einfach +nicht mehr auszuschalten ist. Unsere Speicher und Lagerhallen, die +in allerkürzester Zeit auf diesem kahlen Boden aufwachsen werden, +sollen alle Waren und jede Menge aufnehmen, die überhaupt eingelagert +werden können. Unsere Getreidespeicher werden die vollkommensten +auf dem Kontinent sein, mit allen technischen Errungenschaften der +Neuzeit. Tankanlagen und eigene Tankschiffe stehen bald zur Verfügung. +Eilverkehre, die uns dauernd in schnellster Verbindung mit den großen +Seehäfen halten, verschaffen uns Unabhängigkeit, größte Leistungskraft. +Die Weltmeere stehen uns offen, durch unseren Hafen stellen wir uns auf +den großen wirtschaftlichen Kampfplatz der Welt, den wir mit Ausdauer +und Mut behaupten werden.«</p> + +<p>Direktor Becker verneigt sich unter dem üblichen Beifall, der jeder +Rede folgte, und führt nun den symbolischen ersten Spatenstich aus, das +heißt, er legt die Hand auf einen Hebel des großen Löffelbaggers, der +mit dem ersten Stich gleich zwei Kubikmeter Boden aushebt und in die +bereitstehende Kipplori schüttet.</p> + +<p>Ja, das ist tüchtige und schnelle Arbeit! Die Gäste sehen staunend +und bewundernd zu. Joachim Beckers lange sehnige Gestalt ist über die +Grube geneigt. Er läßt den gefüllten Wagen gleich davonrollen, und +wie er jetzt aufblickt, direkt in die erwartungsvollen Gesichter der +Zuschauer, sind seine grauen Augen strahlend, knabenhaft jung.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span></p> + +<p>Frau Adelheid drückt heftig den Arm ihrer Mutter. Und die +Kommerzienrätin, der das Stehen etwas schwer fällt — sie hat +denselben ein wenig breiten Unterkörper wie ihre Tochter —, führt das +Taschentuch an die Augen.</p> + +<p>Der Vertreter einiger ausländischer Zeitungen, der gleich mehrere +Länder bedient, schreitet mit Redakteur Undlet das abgesteckte Gelände +für das erste Hafenbecken ab und meint mißbilligend: »Ein tüchtiger +Mann, aber zuviel Worte. Zu ausholend! Diese Deutschen haben immer +gleich das Wort ›Welt‹ und ›Kampf‹ im Munde. Sehr falsch, taktisch sehr +falsch. Ich habe es Ihnen von jeher gesagt: keine Diplomaten.«</p> + +<p>»Übersehen Sie nicht den Unternehmungsgeist, den verblüffenden, +den gefährlichen Unternehmungsgeist! Das ist hier eine Stadt ohne +Industrie, mitten im Lande, abseits von den großen Schiffahrtswegen, +doch sie wagen es, solche Pläne nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu +finanzieren. Und was sagen Sie zu den Behörden? Sie öffnen der freien +Privatwirtschaft die Wege. Das ist Großzügigkeit, Weitblick, Freiheit! +Das ist einfach nicht zu übersehen. Man kann die Augen nicht offen +genug halten.«</p> + +<p>Joachim Becker erklärt der Gruppe mit den Damen das Gelände; Herr +Gregor, seine rechte Hand, führt die Herren von der Presse.</p> + +<p>»Drei Hafenbecken sind zunächst geplant, für das vierte, das +wichtigste, zwischen beiden Kanälen, ist das Terrain noch<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> nicht frei. +Man wird es in kürzester Zeit auch in Angriff nehmen können«, meint +Herr Gregor zuversichtlich.</p> + +<p>Kommerzienrat Friemann, der es immer verstanden hat, mit seinen beiden +Ohren nach zwei Richtungen zu hören, wirft mit seiner ruhigen, betont +gemessenen Stimme, die ihm nur für geschäftliche Zwecke zur Verfügung +steht, ein, daß dieses Becken noch nicht benötigt werde und für die +fernere Zukunft vorbestimmt sei. Drei Hafenbecken im Anfang genügen. +Man wolle rentabel wirtschaften vom ersten Tage an. Schon jetzt werde +gearbeitet. Die Ladestraßen sind sofort übernommen worden, neue Kunden +bereits geworben.</p> + +<p>Dann geht er still und unauffällig zu den Herren von den Banken und der +Flußschiffahrt hinüber, um auch hier das Seine zu tun.</p> + +<p>Der Bagger ist nicht abgestellt worden. Es macht einen guten und +betriebsamen Eindruck, daß in diesem abseitigen Winkel, der einem Hafen +von Weltbedeutung Platz machen soll, schon ein wenig Lärm zu hören ist. +Eine Menge Arbeiter taucht plötzlich auf, die Loris rollen hin und her, +und die ausgebaggerte Grube wird rapide tiefer und breiter. Braun und +fett ist jetzt die herausgehobene Erde, und es riecht nach Mutterboden, +dem trächtigen Stoff für Reife und Ernte.</p> + +<p>Die Gäste werden nun ein wenig müde vom Zuhören und Schauen, obgleich +außer einem alten Lagerschuppen, den Überresten einer Kirche und +einigen halb abgerissenen Wohnhäusern<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> — nicht zu vergessen: ein +paar alten Linden — wenig zu sehen ist. Besonders die Damen bekommen +abgespannte Züge, und Kommerzienrat Friemann ergreift die Gelegenheit, +alle Versammelten zu einem kleinen Imbiß zu laden.</p> + +<p>Herr Gregor eilt voraus, um die langen Tafeln unter den Linden zu +überprüfen. Vor jedem Stuhl ist ein Teller mit belegten Broten +aufgestellt, und einige Männer stehen bereit, um das Bier einzuschenken.</p> + +<p>Junge Mädchen vom Personal des Kommerzienrats sind mit einer kleinen +Festschrift und gedruckten Informationen für die Presse postiert.</p> + +<p>Die Gesellschaft naht plaudernd, in kleine Gruppen aufgelöst; die +ernsten, bedeutungsvollen Mienen sind zu konziliantem Lächeln, bei +diesem und jenem auch zu einem recht privaten, mittäglich hungrigen +Ausdruck übergegangen.</p> + +<p>Frau Adelheid hüpft ungeniert an mehreren laut sprechenden Herren von +der Stadt vorbei, um wieder in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Er +war vom Oberbürgermeister in ein Gespräch gezogen worden und hält nun +nach den wichtigsten Persönlichkeiten Ausschau.</p> + +<p>Sie ist erst zwei Monate verheiratet und hat zuweilen noch recht +mädchenhafte Bewegungen. Die Stadträtin Meerboom wird dabei ein wenig +unsanft gestreift und sagt mit ihrer harten, im Stadthaus erprobten +Stimme: »Nein, meine Tochter nehme ich zu solchen Anlässen nicht mit.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span></p> + +<p>»Ach, gnädige Frau«, ruft Justizrat Bernhard aus, bei dem Adelheid nun +angelangt ist, und er freut sich mit vielen überschwenglichen Worten +der Begegnung.</p> + +<p>Sein Neffe ist sehr rot geworden, als die junge Frau ihm die Hand +reicht, und Adelheid sagt wie zur Entschuldigung: »Ja, wir haben in der +Tanzstunde miteinander getanzt.«</p> + +<p>Dann wird sie traurig, denn ihr Mann und die Eltern scheinen spurlos +verschwunden. Sie hat das unendlich schmerzliche Gefühl eines Kindes, +das sich verlaufen hat und der tiefen Vereinsamung urplötzlich +schreckhaft gewahr wird.</p> + +<p>Das im Verhältnis zur kleinen Figur etwas zu große, jugendlich +gerundete Gesicht mit den weichen dunklen Haaren wird in solchen +Stimmungen immer ganz und gar von den großen sprechenden Augen +beherrscht. Rechtsanwalt Bernhard hat das Empfinden, daß er ihre Hand +ergreifen und sie zu den Eltern zurückführen müsse.</p> + +<p>Da hellt sich ihr Gesicht auf, es ist ihr wie im Traum, daß Joachim +Becker, ihr Mann, mit seinen langen festen Schritten auf sie zukommt, +ihre zitternde Hand küßt und nach der Begrüßung der beiden Herren +besorgt sagt: »Habe ich dich endlich gefunden!«</p> + +<p>Er führt sie zu einer der langen Tafeln, wo der Kommerzienrat und seine +Frau ihr herzlich entgegenlächeln, auch der Oberbürgermeister ist da +und die Stadträtin Meerboom, aber sie sind lange nicht mehr so streng, +und Adelheid beißt<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> mutig in die belegten Brote, die man in die Hand +nehmen muß, weil es nur ein ganz zwangloser Imbiß sein soll.</p> + +<p>Man plaudert sehr lebhaft, die Herren rufen laut und lustig nach +Bier, schieben ihre leeren Teller beiseite und bekommen reichliche +Nachfüllung. Direktor Becker lächelt befriedigt, er hängt immer mit +einem Blicke an Herrn Gregor, der das Ganze überwacht; doch es ist +nichts auszusetzen.</p> + +<p>»Oh, dafür war auch gesorgt,« antwortet er auf eine Frage der +Stadträtin, »bei Regenwetter hätten wir drüben in der kleinen +Lagerhalle gedeckt.«</p> + +<p>Da wagt auch Adelheid eine Bemerkung: »Aber die Waren,« sagt sie, +»wohin hättet ihr dann die Waren geschafft?«</p> + +<p>»Beiseite geschoben,« meint er mit leisem Lächeln, »wie man es beim +Tanzvergnügen mit den Tischen und Stühlen macht.«</p> + +<p>»Es ist also noch nicht der Rede wert, was augenblicklich lagert?« +fragt Herr Undlet, der durch ein Versehen an diese Tafel geraten ist.</p> + +<p>»Nein,« sagt Joachim Becker kurz, »wir haben erst heute mit dem Betrieb +begonnen.«</p> + +<p>Und Adelheid hat das beklommene Gefühl, daß sie doch wieder etwas +gesagt hat, was nicht in der Ordnung war. Sie kann ihre Brötchen beim +besten Willen nicht aufessen, obgleich andere schon beim dritten Teller +angelangt sind und das Bier anfängt, knapp zu werden, weil man mit +diesem Durst trotz aller Voraussicht nicht gerechnet hat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p> + +<p>Die Herren von der Presse ziehen sich zurück, auch einige Wagen fahren +vor, und die Tischreihen lichten sich allmählich.</p> + +<p>Auf den Schleppkähnen sitzen die Schiffer mit ihren Pfeifen vor der +Kajüte. Mühlenbesitzer Pohl geleitet die Frau mit der großen Tasche vor +die Tür. Er bleibt einen Augenblick im Vorgarten stehen, seine grauen +Haare werden von einer leichten Brise zerzaust. Dann geht er mit festen +Schritten, ohne sich umzusehen, zurück.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Feind">Der Feind</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i002" src="images/drop-i002.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>rmgard Pohl hat sich mit einem Buch ans Fenster gesetzt und ein wenig +zu lesen versucht. Aber es ist eigenartig: wenn sie untätig dasitzt +und ihre Gedanken spielen lassen will, dann wird es leer in ihrem Kopf +und traurig im Herzen, oder ein Karussell dreht sich so lange, bis sie +zu verzweifeln beginnt. Doch wenn sie ein paar Zeilen über eine fremde +Welt gelesen hat, dann findet sie wieder in geordneter Weise zu sich +selbst zurück. Sie legt das Buch bald in den Schoß, blickt gedankenvoll +zum Fenster hinaus und fühlt, daß in ihr etwas vorgeht, das nur geweckt +zu werden brauchte.</p> + +<p>Nicht die gewünschte Frühlingssonne liegt vor dem Fenster: das Gras +ist naß und blank, auf den Kanal spritzt der Regen, daß die langweilig +glatte Fläche in Blasen und Kreisen bewegt wird, und der bemehlte +Getreidespeicher erscheint noch stumpfer und farbloser vor dem +schmutzigweißen Himmel als sonst.</p> + +<p>Es ist nicht wegzuleugnen, daß ihr Leben nun eine ganz andere Richtung +nehmen muß. Sie hat ihr Krankenlager nach langen trüben Wochen zum +erstenmal verlassen, als ein Mensch, der bald wieder mitzählen wird.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p> + +<p>Die junge blonde Säuglingsschwester steckt ihren kleinen Wuschelkopf +zur Tür herein und fragt hell und freundlich wie alle Tage:</p> + +<p>»Nun, geht es uns gut? Das ist reizend!«</p> + +<p>Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Irmgard lächelt zaghaft; sie hat +es fast verlernt. Ihre Züge sind scharf und spitz geworden, und erst +jetzt, da sie lächelt und die leicht irisierenden Augen in die Tiefe +des Zimmers richtet, ist wieder etwas von dem weichen Charme früherer +Tage spürbar geworden.</p> + +<p>»Sie haben mir die Haare so straff hinter die Ohren gestrichen, ich +glaube, ich sehe scheußlich aus. Könnten Sie mir nicht endlich einen +Spiegel geben?«</p> + +<p>»Gott sei Dank, sie fängt an, eitel zu werden. Das ist ein herrliches +Zeichen der Genesung«, ruft Schwester Emmi erfreut aus. »Aber mit dem +Spiegel hat es noch Zeit. Ziehen wir diese Haare ein wenig hervor, +so — ach, es ist ja eine reizende braune Welle. Gleich sieht unsere +Patientin gesünder aus.«</p> + +<p>Sie freut sich und hüpft vergnügt um die Kranke herum.</p> + +<p>»Sie sind wirklich ein Labsal für verzweifelte Menschen«, sagt Irmgard +herzlich.</p> + +<p>»Ja, wenn man nur seinen Platz ausfüllt und seiner Pflicht nachkommt. +Mehr hat noch kein Mensch von mir verlangt.« Sie zieht den Mund halb +lächelnd, halb schmerzlich herab. Auch ihre Nase ist dabei ein wenig +schief gezogen, und<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> sie ist trotz den aufgebauschten gelbblonden +Haaren gar nicht mehr quicklebendig, sondern grau wie ein Regentag.</p> + +<p>Aber da reckt sich die kleine schmale Person gleich wieder, sie hebt +die Lackspitze ihres zierlichen Schuhs und sagt: »Damit bin ich nun +unten gewesen. Sie gehen mir jetzt bestimmt aus dem Leim.« Und dabei +lacht sie, als sei es ein Vergnügen, seine Schuhe zu verderben.</p> + +<p>»Ja, daran sind nur unsere aufgeweichten Wege schuld«, meint Irmgard, +in dem Gefühl, auch ihrerseits etwas sagen zu müssen. »Aber was hatten +Sie denn unten zu tun?«</p> + +<p>»Ach, offengestanden, ich bekam nur Lust, die Nase in den Regen zu +stecken.«</p> + +<p>»Vielleicht ist zufällig jemand vorbeigegangen, der auch seine Nase +spazierenführen mußte?« fragt Irmgard lächelnd, ihre Züge sind nun sehr +erschlafft.</p> + +<p>»Ach ja, da werden viele gewesen sein. Doch unsere Patientin wollen wir +nun wieder in die Federbetten stecken.«</p> + +<p>Irmgard hat nichts dagegen einzuwenden. Sie läßt sich von den festen +kleinen Händen der Schwester hochheben und stützen. Dann liegt sie +wieder im Bett und denkt, daß sie für den neuen Flug in das Leben +noch nicht tauglich sei. Auch der Blick aus dem Fenster hat ihr +noch nicht den Weg in die Zukunft eröffnet, der durch einen neuen +kleinen Erdenbürger bestimmt wird. Sie hebt sich alle Fragen und +Auseinandersetzungen für einen späteren Tag auf. Nur den Knaben wünscht +sie noch einmal zu sehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> + +<p>»Ist es nicht, als könnte er schon hören?« fragt sie, »wenn ich ihn +anriefe, so würde er sich vielleicht rühren.«</p> + +<p>»Nein, so weit ist es noch nicht. Außerdem — er hat doch noch keinen +Namen, wie soll er Sie denn verstehen?« Und Schwester Emmi lacht +herzlich über ihren eigenen Witz.</p> + +<p>In Irmgard aber weckt das wieder nur traurige Erinnerungen. Sie blickt +den Säugling lange an und fragt dann leise:</p> + +<p>»Hat mein Vater sich noch immer nicht geäußert?«</p> + +<p>»Nein. Er meinte, ich solle Sie nach dem Namen fragen, wenn Sie sich +etwas wohler fühlen.«</p> + +<p>»Und hat mein Vater auch Interesse für das Kind gezeigt?«</p> + +<p>»O ja. Wenn er zufällig vorbeigekommen ist, hat er es betrachtet und +gesagt, was die Ansicht sämtlicher Männer ist: daß in diesem Alter die +Menschen alle gleich aussehen.«</p> + +<p>»Aber das kann man doch nicht mehr sagen, nicht wahr? Hat es nicht die +unverkennbaren Pohlschen Züge: die starken Backenknochen und Vaters +tiefliegende Augen?«</p> + +<p>»Mit einiger Phantasie kann man es so sehen.«</p> + +<p>»Ach, ich spreche gewiß wieder wie alle Mütter«, meint Irmgard traurig +lächelnd.</p> + +<p>»Gott sei Dank ja! Sie unterscheiden sich darin nicht eine Spur von +ihnen. Und das ist herrlich. Das ist doch wirklich ganz prächtig.«</p> + +<p>Sie nimmt den blassen schönen Kopf zwischen beide Hände und legt ihn +in die Kissen zurück. Dabei sind ihre Finger von<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> zärtlichem Druck, +und plötzlich hat sie für eine Sekunde ihr kleines Gesicht an Irmgards +Wange gelehnt.</p> + +<p>»Weil Sie so tapfer und geduldig sind«, sagt sie gleichsam zur +Entschuldigung, als sie das Kind aufnimmt und hinausbringt. —</p> + +<p>Einige Tage später ist Irmgard schon richtig aufgestanden. Sie konnte +sich selbst ankleiden, ist im Zimmer umhergegangen und hat sich wieder +an das Fenster gesetzt, das auf den Kanal hinausgeht.</p> + +<p>An diesem Tage liegt wirklich Sonne auf allen Dingen, und Irmgard +denkt, daß nun das neue Leben beginne, für das sie die richtige gesunde +Einstellung braucht.</p> + +<p>Sie ruft Schwester Emmi und sagt kurz entschlossen:</p> + +<p>»Sie müssen sich hierher setzen und mir einige Fragen beantworten. Ich +hasse das Halbe und Kranke und muß es vollkommen abstreifen, wenn ich +wieder mit beiden Beinen im Leben stehen soll.«</p> + +<p>Sie freut sich über ihre eigene Kraft, und Schwester Emmi sagt ein +wenig gekränkt: »Ja, jetzt werden Sie wohl wieder alles in die Hand +nehmen wollen.«</p> + +<p>Sie empfindet eine Abneigung gegen die Frauen, die immer fest und +unbeirrt handeln und ihre Ziele und Wege deutlich vor sich sehen. Sie +hat ihre kleine Person immer vom Schicksal vorwärtsstoßen lassen, wie +es gerade sein mußte.</p> + +<p>Irmgard ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie das +verschlossene Gesicht der anderen bemerken könnte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p> + +<p>»Es gibt soviel Unausgesprochenes in diesem Haus. Dann scheint +etwas in mir schief gerückt, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis +es geradesteht. Da ist zum Beispiel der Vater. Er spricht gut und +freundlich mit mir, aber ich sehe ihn selten, und er ist jetzt noch +verschlossener als früher. Wir hatten uns bisher immer ohne Worte +verstanden, aber seitdem uns beiden das angetan wurde, dieser — +Vertrauensbruch, weiß ich nicht, wie er es trägt. Sie aber haben ihn +alle Tage gesehen, besonders in der ersten Zeit, und können mir einen +Fingerzeig geben.«</p> + +<p>»Leider kann ich Ihnen wenig sagen. Er war fast immer in seinem Kontor +oder in der Mühle. Nur zu den Mahlzeiten ist er hier gewesen, hat sich +sehr ruhig nach allem erkundigt und sonst kaum ein Wort gesprochen.«</p> + +<p>»Aber wenn er drüben im Hafen die Tätigkeit sah — die vielen +Menschen, die jetzt dort arbeiten, und die lauten Maschinen, die ganze +geräuschvolle Geschäftigkeit, die ihn tagaus, tagein an seinen Ärger +erinnern muß —«</p> + +<p>Sie spricht nicht zu Ende und sieht die Schwester erwartungsvoll an.</p> + +<p>»Ach, er ist doch den Lärm von seiner Mühle her gewöhnt. Auf einen Mann +hat das sicher eine andere Wirkung.« Schwester Emmi beginnt, sich bei +diesen Erörterungen zu langweilen. Das scheint ihr alles nicht so des +Nachdenkens wert.</p> + +<p>»Sehen Sie,« sagt Irmgard wieder, »ich habe mir damals, nachdem ich +den ersten Schmerz über diese große Demütigung<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> und Untreue überwunden +hatte, immer wieder vorgehalten, daß ich keinen Haß in mir aufkommen +lassen darf. Denn wie soll ich einmal sein Kind lieben, wenn ich ihn +selbst nur hassen kann? Es bleibt doch ein Teil von ihm, so sehr man +sich auch einzureden sucht, daß es nur von der eigenen Artung ist. +Man möchte feige sein und seinen Namen für immer aus dem Gedächtnis +streichen, aber wie können wir Joachim Becker jemals vergessen, der uns +so viel gegeben und so viel genommen hat? Und nun baut er uns seine +großen Projekte, für die wir uns damals so sehr interessiert haben, +direkt vor den Augen auf, und es ist nichts wegzuleugnen. Können Sie +das verstehen?«</p> + +<p>»Ja, das kann ich verstehen: daß es schwer ist, und daß Sie sehr mutig +sind.«</p> + +<p>»Es ist nur der Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht gehöre ich zu den +Frauen, die sich nur einmal ganz erschließen können, denn sonst hätte +ich das wohl nicht getan. Oder glauben Sie, daß ich leichtfertig oder +im wahren Sinne unmoralisch bin, weil ich ihm in meiner Liebe nichts +versagen konnte?«</p> + +<p>»Nein, beileibe nicht. Wie die Menschen auch darüber denken mögen, wer +Sie kennt —«</p> + +<p>»Ja, wissen Sie, ich habe schon manchmal gedacht, daß es gut sei, wie +es sich letzten Endes zugetragen hat. Denn nun habe ich doch ein klein +wenig Anteil an ihm, den ich nur noch in seinem Kinde lieben werde. +Darin will ich die Kraft finden, um ihn selbst ganz aus meinem Herzen +auszustreichen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p> + +<p>»Wenn Sie das können! Ich würde ihn, offengestanden, grenzenlos hassen +und mich an ihm rächen — bei der ersten Gelegenheit.« Sie sagt es +triumphierend, herausfordernd, denn sie ist stolz auf ihr lebhaftes +Temperament.</p> + +<p>»Und nun müssen Sie mir noch berichten, wie es der Mutter geht«, +sagt Irmgard ablenkend, denn sie erkennt wieder, daß sie von ihren +Mitschwestern nur verstanden wird, wenn sie selbst schwach und beirrbar +ist. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie es oben aussieht.«</p> + +<p>»Oben« ist das Zimmer von Frau Pohl, die seit fünf Jahren gelähmt und +mit verwirrtem Geist ein verdämmerndes Dasein führt. Von der späten +Geburt des lange ersehnten Stammhalters geschwächt, hatte sie der nach +wenigen Wochen erfolgte Tod des Knaben so getroffen, daß sie nicht +wieder aufstehen konnte. In ihrem Geiste aber hat sie den Knaben zu +neuem Leben geweckt. Wenn sie in ihrer Einsamkeit zu dem Kinde spricht, +scheint sie mit ihrem Schicksal zufrieden und der Gegenwart in einer +anderen Weise nahegerückt.</p> + +<p>»Haben Sie ihr gesagt, daß ich krank sei? Und wie hat sie es +aufgenommen?«</p> + +<p>»Zuerst wollte sie an Ihre Krankheit nicht glauben. Sie wurde sehr böse +und meinte: die Arbeit ist ihr zuviel geworden, auf der Stelle soll sie +herkommen und mir Antwort stehen.«</p> + +<p>»Ja, sie kann sehr böse werden.«</p> + +<p>»Als ich ihr dann aber klarmachte, daß ich zu Ihrer Pflege<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> geholt +sei, und sie fragte, ob sie denn nicht feststellen könne, daß ich nach +Medizin rieche, erwiderte sie, nun wolle sie aufstehen und ihre Tochter +pflegen.«</p> + +<p>»Sie wollte mich pflegen?« Irmgard ist ganz glücklich darüber.</p> + +<p>»Das sagte sie. Natürlich konnte sie sich nicht rühren, und dann sprach +sie nicht mehr darüber. Einmal erzählte ich ihr, daß Sie bald aufstehen +würden, aber sie gab mir keine Antwort. Doch etwas anderes hatte mich +beängstigt, und ich sprach mit Herrn Pohl darüber.«</p> + +<p>»Was war es?« fragt Irmgard ungeduldig. »Hat sie das Kind gehört? Sie +haben doch nicht davon gesprochen?«</p> + +<p>»Nein, es war ja verabredet, daß sie davon nichts erfährt. Aber sie +sagte: ›Hört Ihr denn nicht, wie mein Michael schreit? Ihr laßt ihn +liegen und kümmert Euch nicht um ihn.‹ Und das hat sie immer wieder +geklagt, dabei zuckte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte +sie aufspringen und nach dem Rechten sehen. Schließlich wurde sie sehr +erregt, hat mich ausgescholten und gedroht, mich zu entlassen, wenn ich +nicht besser für ihr Kind sorge.«</p> + +<p>»Mein Gott,« flüstert Irmgard, »hat sie nicht danach verlangt, es zu +sehen?«</p> + +<p>»Das hat sie nicht. Aber ich dachte schon — ich weiß nicht, was Sie +davon halten — ich dachte, solche Kranken sind durch Täuschungen +manchmal zu heilen. Wenn man ihr z. B. das Kind wirklich —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p> + +<p>»Nein, nein, wollen Sie ihr mein Kind geben, dieser Kranken? Nein, das +ist heller Wahnsinn!«</p> + +<p>»Ich meinte es nur gut, denn es ist doch schließlich Ihre Mutter. Herr +Pohl sagte, wenn Sie einverstanden wären, könnte man immer noch mit dem +Arzt darüber sprechen«, gibt die Schwester verstimmt zurück.</p> + +<p>»Ist das seine Ansicht gewesen?« Irmgard schließt die Augen und lehnt +müde im Sessel. »Darüber muß ich erst nachdenken. Ich will die Mutter +selbst gesehen und gesprochen haben«, flüstert sie.</p> + +<p>»Gewiß, es war ja auch nur ein Vorschlag für später. Aber ich werde Sie +jetzt verlassen, da kommt ein junger Mann durch den Garten, und das +Mädchen ist ausgegangen.«</p> + +<p>Irmgard glaubt, nur eine Sekunde allein gewesen zu sein, als die +Schwester schon wieder zurückkommt und sagt: »Es war ein Rechtsanwalt +Bernhard von der Hafengesellschaft, er wollte Herrn Pohl sprechen. Ich +habe ihn ins Kontor hinübergeschickt.«</p> + +<p>»Von der Hafengesellschaft —«, stammelt Irmgard, und sie sieht dem +jungen Rechtsanwalt nach, wie er mit seiner Aktentasche durch den +Garten geht und zur Mühle hinübersteuert.</p> + +<p>Die Schwester hat das Zimmer wieder verlassen, und Irmgard verfolgt den +Rechtsanwalt so lange, bis er in der Tür des Kontors verschwindet. Da +wirft sie die Hände vor das Gesicht und schluchzt verzweifelt auf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p> + +<p>Sie hatte sich mit ihrem klaren Verstand einen so schönen Plan +zurechtgelegt und kluge, vernünftige Worte gesprochen, aber beim ersten +unmittelbaren Anstoß von außen her fällt ihr ganzes Kartengebäude +zusammen, und sie ist nicht beherrschter und reifer als Schwester Emmi +mit ihrem Temperament.</p> + +<p>Hier über diesen Weg ist auch er gegangen, und sie hat ihm von dem +gleichen Platz aus nachgesehen, wie er mit seinen langen Schritten +fest und federnd über den knirschenden Kies marschierte und an der +Gartenpforte zu ihr hinaufwinkte. Oder war es wegzuleugnen, daß sie +wie zwei übermütige Kinder hier um diesen runden Tisch jagten, bis sie +atemlos stehenblieb und ausrief: »Nein, du hast ja doch die längeren +Beine.« Dann ließ sie sich rückwärts fallen und wurde aufgefangen. +Er aber sagte mit seiner weichen Stimme, die sie einmal zu ihrem +Erschrecken, als er beim Ausladen des Getreides seine Befehle gab, kaum +erkannte: »Warum versuchst du nur immer wieder, mir davonzulaufen, da +du mir doch nicht entgehen kannst?«</p> + +<p>Nein, sie konnte ihm nicht entgehen, und hier denkt sie nun an ihn und +findet keinen Weg, der von ihm fortführen könnte. —</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard hat sich im Bureau nach Herrn Pohl erkundigt. +Man sagt ihm, daß er im Betrieb gesucht werden müsse, und läßt ihn im +Privatkontor warten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p> + +<p>Dort zieht er seine Akten hervor und überlegt noch einmal die ganze +aussichtslose Angelegenheit.</p> + +<p>Seitdem Direktor Becker ihm seine persönlichen Erklärungen gegeben hat, +sieht er erst ein, auf welcher lächerlichen Begründung dieser Prozeß +aufgebaut werden soll.</p> + +<p>Wie hier, so hatte er auch bei der Hafengesellschaft lange warten +müssen, bis er von Joachim Becker empfangen wurde. Oh, er ist noch +nicht der begehrte Mann, den man in seinem Anwaltsbureau aufsucht +und unter großen Versprechungen bittet, sich mit dem berühmten +Scharfblick eines Streitfalls anzunehmen. Sein junges Schreibfräulein +wartet auf Arbeit, liest Romane und stichelt an einer Handarbeit +in einer ganz impertinenten Weise. Er hat die sämtlichen Akten des +Falles Hafengesellschaft kontra Pohl abschreiben lassen, aber die +Schreibmaschine ist doch wieder zur Ruhe gekommen, und er muß das +ersehnte Klappern vermissen.</p> + +<p>Da ist es etwas anderes im Hause Friemann, wo Joachim Becker die +Geschäfte der Hafengesellschaft besorgt. Auf den langen Korridoren ist +ein Gehen und Kommen, und die jungen Damen mit ihren Schreibblocks und +gespitzten Bleistiften jagen nur so zu den Türen hinein und heraus.</p> + +<p>Er wird von betreßten Dienern in ein großes Wartezimmer geleitet, wo +schon etwa ein Dutzend Männer sitzen, die den Hafendirektor sprechen +wollen. Herr Gregor kommt herein, lässig und elegant, und sagt in +seiner gedehnten Art, wobei er immer den Rücken ein wenig beugt:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p> + +<p>»Guten Tag, Herr Doktor. Ja, Sie sind vorgemerkt, ich habe die Akten +schon weitergegeben. Aber augenblicklich ist noch eine Konferenz.«</p> + +<p>»So, haben <em class="gesperrt">Sie</em> die Akten gehabt?« entfährt es dem Rechtsanwalt, +der glaubte, mit einer ganz persönlichen und diskreten Angelegenheit +betraut zu werden.</p> + +<p>»Ja, das liegt alles bei mir«, bemerkt Herr Gregor nicht ohne Betonung, +und er begrüßt einen neu hinzugekommenen Herrn.</p> + +<p>»Sie dürften kein Glück haben,« sagt er zu ihm, »denn heute werden +nur die Vorgemerkten empfangen. Der Kalender ist bis unten hin +vollgeschrieben, und Sie stehen nicht mit darauf. Aber Sie können mit +mir sprechen, ich will sehen, was sich machen läßt.«</p> + +<p>Dann sucht er sich einen Herrn ganz außer der Reihe heraus und +verschwindet mit ihm in seinem Zimmer.</p> + +<p>Dieser Gregor ist dem Rechtsanwalt im höchsten Grade unsympathisch. +Er gebärdet sich vor den Lieferanten, die sich um die Aufträge für +den Hafen bemühen, als wäre er der Direktor selber, und man kann sich +ausrechnen, welche Prozente dabei für ihn abfallen.</p> + +<p>Da ist Joachim Becker doch ein anderer Mann, obgleich der Rechtsanwalt +sich auch hier seine eigenen Gedanken macht. Aber wenn man ihm +gegenübertritt, so muß man schließlich doch seiner ganzen Art und +Erscheinung zustimmen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span></p> + +<p>Nachdem <em class="antiqua">Dr.</em> Bernhard etwa eine Stunde auf den Hafendirektor +gewartet hatte, ist die Reihe auch an ihn gekommen. Herr Gregor +erscheint so eilig, wie es sein Temperament erlaubt, und sagt: »Bitte, +Herr Doktor, nehmen wir gleich diesen Eingang. Der Herr Direktor ist +schon sehr ungeduldig.«</p> + +<p>Joachim Becker sitzt an seinem Schreibtisch und telephoniert.</p> + +<p>»Bestellen Sie meiner Frau,« hört der Rechtsanwalt, »daß ich heute +nicht zu Tisch kommen kann, und besorgen Sie mir ein paar Brötchen.«</p> + +<p>Dann wirft er den Bleistift, mit dem er nervös auf die Platte geklopft +hat, hin und sagt zum Rechtsanwalt: »Bitte. Ja, also hier sind die +Akten. Dieser Prozeß ist für uns von großer Wichtigkeit und muß bald +ausgetragen werden. Die Kosten spielen keine Rolle, aber es ist +nötig, daß die Sache richtig angefaßt wird. Sind Sie über den Gegner +informiert?«</p> + +<p>»Nein,« erwidert der Rechtsanwalt, »ich weiß nur so viel, daß es sich +um das Terrain am Verbindungskanal handelt.«</p> + +<p>»Ja, dieser Platz war eigentlich für unseren Getreidehafen gedacht. Das +unter uns — die ganze Angelegenheit ist überhaupt streng diskreter +Natur.« Dabei sieht er den Rechtsanwalt durchdringend an, und auch im +weiteren Verlauf der Unterredung fliegen seine kalten klaren Blicke +blitzschnell auf sein Gegenüber, wenn dieser es am wenigsten erwartet.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p> + +<p>Dann führt der Direktor in stichwortartiger Kürze das Weitere aus. +Einmal sagt er: »Ein persönlicher Konflikt, der in keinem Fall in +die Angelegenheit hineingehört, entstand dadurch, daß ich meine +inoffizielle Verlobung mit Fräulein Pohl löste.«</p> + +<p>Damit hat er ein für allemal seinen Standpunkt in dieser Hinsicht +klargelegt.</p> + +<p>»Und hier ist die Vollmacht, die uns eine Angriffsmöglichkeit bietet.«</p> + +<p>Der Rechtsanwalt liest: »Ich erkläre mich bereit, mein Grundstück +zwischen der Föhrbrücke und dem Verbindungskanal für die +Zwecke eines Hafenbaus zur Verfügung zu stellen, wenn mir im +Falle einer privatwirtschaftlichen Verwaltung eine angemessene +Beteiligungsmöglichkeit geboten wird. Für die Vorverhandlungen in +meinem Auftrage bevollmächtige ich Herrn Joachim Becker —«</p> + +<p>Noch ehe er zu Ende lesen konnte, erklärt der Direktor weiter: »Dies +Dokument war als Vollmacht gedacht und ist später zurückgezogen worden. +Die vorangehende Erklärung war mitbestimmend für die Bildung des +Konsortiums und hat auch den Magistrat zur Entscheidung veranlaßt. Eine +Beteiligung wurde angeboten, zu Konzessionen sind wir noch bereit. Also +muß die jetzige Weigerung unbedingt angefochten werden.«</p> + +<p>»Sollten vielleicht die Voraussetzungen für die Beteiligung inzwischen +—«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span></p> + +<p>»Das ist gleichgültig, das geht uns nichts an.«</p> + +<p>»Vom juristischen Standpunkt —«</p> + +<p>»Kommen Sie mir nicht mit Formelkram. Beweisen Sie Ihre Tüchtigkeit, +indem Sie im Notfalle eine Ausnahme konstruieren, einen Präzedenzfall +schaffen. Bitte, hier sind die Akten. Herr Gregor steht Ihnen wegen +Ihrer Bevollmächtigung und anderer Einzelheiten jederzeit zur +Verfügung.«</p> + +<p>Er klingelt nach dem nächsten Besucher, nicht ohne den Rechtsanwalt +noch mit einem gewinnenden Lächeln einige Schritte geleitet zu haben.</p> + +<p>Man war trotz allem in dem Gefühl fortgegangen, einer zwar strengen, +aber im Grunde liebenswürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein ...</p> + +<p>Nun sitzt der Rechtsanwalt im Bureau des Gegners und erkennt als +einzige aussichtsvolle Möglichkeit einen Vergleich mit den bewilligten +größeren Konzessionen. Er ist keine Kampfnatur und hat wenig Lust, sich +hier hinter Paragraphen und versteckten Fallen zu verschanzen, um mit +List und krummen Wegen zu siegen.</p> + +<p>Aber vielleicht wird jetzt ein Angestellter hereinkommen und sagen, daß +Herr Pohl keine Zeit habe oder ihn nicht zu empfangen beabsichtige.</p> + +<p>Er sieht in seiner Beklommenheit ein wenig im Raume mit den gelben +Möbeln und den alten Stichen an den Wänden umher.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p> + +<p>Das Bild eines Mannes mit tiefliegenden Augen, starken Backenknochen +und einem vollen weichen Kinn über dem Vatermörder ist ohne Zweifel +der Begründer der Mühle; eine auf Holz gemalte Windmühle zeigt den +anfänglichen Besitz. Stahlstiche stellen kleinere Speicher und +Mühlenbetriebe dar, und auf einer Zeichnung, offenbar ein Entwurf des +Bauherrn, sieht man die beiden zweistöckigen Gebäude in ihrer heutigen +Gestalt.</p> + +<p>Er bleibt vor einer Photographie stehen, die das Hafenterrain mit der +Kirche, dem Fräuleinstift und einigen kleinen Häusern neben den alten +Linden zeigt, so wie es noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, ehe +das Konsortium kam und alles niederreißen ließ. Nun dringt das Geräusch +der großen Bagger und der Lärm der Arbeiter bis in diesen einsamen Raum.</p> + +<p>Dem Rechtsanwalt erscheint die Wartezeit endlos, er ist sehr nervös, +als der Mühlenbesitzer, in einer grauen Joppe und hohen Stiefeln, +endlich eintritt, die Mütze auf einen Haken neben der Tür hängt und ihn +zum Schreibtisch bittet.</p> + +<p>Er läßt sich im runden Sessel nieder und ersucht ihn nur mit einem +Blick aus seinen ruhigen hellen Augen zum Sprechen.</p> + +<p>Der Rechtsanwalt redet hastig und viel. Er erkennt, daß es schwerer +ist, vor diesem schweigsamen, reifen Mann zu sprechen, der jeder Pause +mit stummer Aufmerksamkeit begegnet, als vor dem jungen Hafendirektor +das Wenige zu sagen, das dieser in seiner Ungeduld zuläßt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p> + +<p>Als er endlich glaubt, nichts mehr hinzufügen zu können, hat er das +verzweifelte Gefühl, alles verdorben zu haben. Er blickt verlegen auf +die vollen grauen Haare des Mannes, die sich in einer breiten Welle von +der gebräunten Haut abheben, und wartet nun endlich auf eine Antwort.</p> + +<p>»Das ist alles recht, was Sie hier sagen. Aber Sie sind nicht ganz im +Bilde. Nehmen Sie an, daß jemand zu Ihnen spricht: ›Sie haben da eine +schöne Tasche, die ich gern kaufen möchte.‹ Und Sie antworten: ›Nein, +verkaufen will ich sie nicht, weil für mich wertvolle persönliche +Erinnerungen damit verknüpft sind; aber weil ich Vertrauen zu Ihnen +habe, können Sie die Tasche gern in Gebrauch nehmen und gleichsam +als Ihr Eigentum betrachten, ebenso wie es das meine bleibt.‹ Der +andere nimmt die Tasche mit und schickt Ihnen am nächsten Tage das +Geld dafür, gut den doppelten Wert. Schließlich läßt er sich sogar +auf Verhandlungen ein und sagt: ›Ein wenig darfst du an der Tasche +teilhaben, wenn du dich diesen und jenen Bedingungen unterwirfst.‹ +Sagen Sie einmal, wie würde Ihnen das gefallen?«</p> + +<p>Er sieht den Rechtsanwalt lange an. Dieser hat die Absicht, nun +gleichfalls zu schweigen, bis der andere genügend gesprochen hat. Aber +er fühlt sich sehr unbehaglich dabei.</p> + +<p>Nach einer endlos scheinenden Pause setzt der Mühlenbesitzer langsam +fort:</p> + +<p>»Auf diese einfache Weise nur kann ich das verstehen. Wenn Herr Becker +damals gesagt hätte: Herr Pohl, mit<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> unserem Plan ›klein anfangen und +groß aufhören‹ geht es heutzutage doch nicht. Die schnelle Entwicklung +unseres technischen Zeitalters verlangt imponierende Projekte, +die sofort auszuführen sind. Dazu brauchen wir andere Gelder, die +Beteiligung der Spitzen aller Kreise. Wollen wir es nicht so und +so versuchen? Aber er geht mit meiner Vollmacht umher, verschafft +sich Einfluß durch Einheirat in die Geldkreise, stellt sein Projekt +auf eine andere Basis und läßt dann anfragen: wieviel ist dir mein +Vertrauensbruch wert? Wissen Sie, wie ich darüber denke?«</p> + +<p>Der Rechtsanwalt sieht ihn erwartungsvoll, mit einer zagen Hoffnung, an.</p> + +<p>»Schaffen Sie mir erst einen anständigen Menschen zurück. Dann können +wir verhandeln. — Und nun strengen Sie Ihren Prozeß an.«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Katastrophe">Die Katastrophe</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-d001" src="images/drop-d001.jpg" alt="d"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>as erste, was im Hafengelände fertiggestellt wird, ist eine Mauer um +das ganze Terrain — bis auf die Seite, die der Pohlschen Mühle am +anderen Ufer zugewandt ist. Hier muß man den Zugang zum Kanal offen +halten, und der Feind behält einen Überblick auf die Fortschritte im +Baugelände.</p> + +<p>Gleichzeitig wird ein schöner Backsteinbau mit Giebeln und einer +verdeckten Veranda für die Hafenwirtschaft errichtet, und zwar direkt +am großen Hauptportal. Mehrere hundert Arbeiter kommen und gehen +täglich durch dieses Tor, und sie müssen auch essen und trinken.</p> + +<p>Nachdem der Kantinenwirt eingezogen war, ist auch für Herrn Gregor, +den Vertrauensmann der Hafengesellschaft, im Wirtschaftsgebäude ein +Schlafzimmer eingerichtet worden.</p> + +<p>Wer zum Tor hinein will, muß sich ausweisen, das Wächterhaus ist Tag +und Nacht besetzt.</p> + +<p>Es ergibt sich nun, daß Schwester Emmi eines Abends zufällig vor dem +Tore steht, als Herr Gregor heimkehrt.</p> + +<p>»Wollten Sie vielleicht hier hinein?« fragt Herr Gregor, nachdem er sie +längere Zeit betrachtet hat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p> + +<p>»Ach nein«, gibt sie schüchtern und sehr verlegen zurück. »Ich +wollte nur Frau Reiche rufen und bitten, mir eine Flasche Selter +herauszubringen. Es ist für eine Kranke, und die Läden sind schon +geschlossen.«</p> + +<p>»Aber bitte, dann kommen Sie nur mit hinein«, sagt Herr Gregor galant +und führt sie am wachsamen Auge des Torwarts ungehindert vorbei.</p> + +<p>Nein, Herr Gregor hat es nicht nötig, sich selbst und seine Begleitung +auszuweisen. Er ist eine Respektsperson, die hier gleich nach dem +Hafendirektor eingeschätzt wird.</p> + +<p>Seine Liebenswürdigkeit geht so weit, daß er Schwester Emmi bis in den +Kantinenraum begleitet, der um diese späte Abendstunde nur von einigen +Herren des Tiefbauamts besucht ist, und er ruft gut gelaunt: »Hier, +Frau Reiche, bringe ich Ihnen Besuch.«</p> + +<p>Schwester Emmi sagt tief errötend: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wie +ich dem Herrn dafür danken soll.« Damit ist zart angedeutet, daß Herr +Gregor sich ihr noch nicht vorgestellt hat.</p> + +<p>Leider wird der gewünschte Erfolg nicht erreicht, denn der elegante +junge Mann läßt sich in einer Ecke nieder und bestellt sein Abendbrot. +Frau Reiche erscheint mit der Selterflasche, und Schwester Emmis +Mission wäre beendet.</p> + +<p>»Vielen, vielen Dank,« flüstert die hübsche kleine Krankenschwester, +»könnten Sie mir wohl noch — ach, mein Gott«, unterbricht sie sich mit +einem Griff nach dem Kopf, und sie<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> muß sich auf einen Stuhl fallen +lassen, »— um ein Glas Wasser wollte ich bitten.« Sie ist wirklich +einer Ohnmacht nahe.</p> + +<p>»Lieber Gott«, ruft die junge Wirtin mit den feuchten dunklen Augen. +»Das macht die schwere Arbeit, die so eine Krankenpflegerin zu leisten +hat.«</p> + +<p>Herr Gregor begnügt sich damit, die Szene aus einiger Entfernung zu +beobachten. Er kennt die Frauen und darf von seiner Unwiderstehlichkeit +überzeugt sein. Es ist ihm ein behagliches Gefühl, Anlaß dieser kleinen +Szene zu sein, denn darüber braucht nach seiner Ansicht kein Zweifel zu +bestehen.</p> + +<p>Schwester Emmi ist durch den Trank offensichtlich gestärkt. Sie erhebt +sich schwankend und sagt mit einem kleinen Rundblick: »Ja, es war heute +ein besonders schwerer Tag.«</p> + +<p>Frau Reiche hat allzulange den Wunsch gehabt, über die Ereignisse +in der Mühle unterrichtet zu werden; darum kann sie es auf keinen +Fall zulassen, daß dieses arme schwache Geschöpf sich schon allein +auf den Weg begibt. Sie gießt ihr eine Limonade ein und setzt sich +mit an den Tisch. Ihr volles blasses Gesicht ist von angespanntester +Aufmerksamkeit erfüllt.</p> + +<p>Schwester Emmi muß sich schließlich zu kleinen Konzessionen +herbeilassen, aber sie äußert sich so vorsichtig wie nur möglich. Als +Herr Gregor ein paarmal den Namen Pohl gehört hat, beendet er seine +Mahlzeit. Wie es dem kleinen Fräulein nun gehe, fragt er, während er +Frau Reiche das Abendbrot bezahlt. Dabei neigt er den schmalen Rücken, +daß<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> seine schwarzen Augen verwirrend nahe über Schwester Emmi leuchten.</p> + +<p>»O danke, es ist bedeutend besser.« Sie behauptet, nun gehen zu müssen. +»Aber wird man mich auch herauslassen?« fragt sie schelmisch lächelnd.</p> + +<p>»Ohne meine Begleitung sicher nicht«, meint Herr Gregor. Und sie machen +sich auf den Weg.</p> + +<p>»Kommen Sie nur herüber, wenn Sie sich einsam fühlen«, sagt Frau Reiche +zum Abschied. »Der Herr Gregor wird es schon erlauben.«</p> + +<p>Weil die Luft sehr mild und anregend wirkt, gehen die beiden noch +einige Minuten am Kanal spazieren.</p> + +<p>Als Schwester Emmi in ihrem Zimmer angelangt ist und die Selterflasche +weggestellt hat, denkt sie, daß sie zwar noch nicht viel erreicht habe, +aber es beständen doch allerhand Aussichten durch die neue Verbindung.</p> + +<p>Nun ist ihre Arbeit in diesem Hause bald beendet, und das Wanderleben +beginnt von neuem. Welche reizbare Dame und welcher krebsrote Säugling +mochte nun auf sie warten? Nein, dann wäre es doch besser, wenn bei so +einer großen und mächtigen Firma irgendein Posten für sie geschaffen +würde und ihr Freiheit und Beständigkeit gäbe. Es geht nicht mehr an, +daß man in den Tag hineinlebt, ohne ein wenig an die Zukunft zu denken. +—</p> + +<p>Herr Gregor ist von dem Abend wenig befriedigt. Es langweilt ihn doch +allmählich, seine Tage in Frau Reiches Gesellschaft<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> zu beschließen, +während draußen das Leben auf ihn wartet. Frau Reiche ist ohne +Zweifel eine sehr adrette Frau, und ihre feuchten Augen sind nicht zu +verschmähen, aber wenn man von der Kultur des Zeitalters bis in die +Fingerspitzen erfüllt ist, bleiben eine Kantinenwirtin oder eine kleine +wasserstoffblonde Säuglingsschwester nichts weiter als Surrogate.</p> + +<p>So geht er denn mit trüben Gedanken noch ein wenig im umfriedeten +Hafengelände spazieren. Die Erdwälle um die aufgerissenen drei +Baugruben mit den gerüstartigen Armen der hohen mechanischen Greifer +bereiten ihm in ihrer dunklen Schwere Unbehagen. Er blickt in eines der +Becken hinab, in dem man schon mit der Grundwasserabsenkung beschäftigt +ist, und sieht das Licht des Mondes im lehmigen Naß sich spiegeln. +Nein, das sind keine Bilder für seine empfindsamen Nerven.</p> + +<p>Er geht wieder zu Frau Reiche und hört sich ihre Lamentationen an.</p> + +<p>»Keinen Tropfen Alkohol! Auf die Dauer — das habe ich meinem Mann +gleich gesagt — kann das nicht rentabel sein. Die Arbeiter haben +zuerst über die Limonaden und die Milch ihre Witze gemacht und es mit +dem Malzbier versucht, aber jetzt schimpfen sie, und einer nach dem +anderen geht über die Straße in die Wirtschaft und trägt dem Manne das +Geld hin«, klagt sie verzweifelt.</p> + +<p>»Aber sie dürfen doch das Gelände während der Arbeitszeit nicht +verlassen. Ich werde mit den Wächtern sprechen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p> + +<p>»Ach, das hat ja gar keinen Zweck. Sie gehen in der Freizeit und nach +Arbeitsschluß doch hin, und neulich habe ich sogar beobachtet, wie +einer ein Bierfaß auf einem Wagen mitgebracht und im Schuppen abgeladen +hat. Das war bestimmt kein Lagergut, aber uns wird auf die Finger +gesehen.«</p> + +<p>Herr Gregor lächelt. »Da sieht man, wie der Durst erfinderisch macht. +Der Durst und die Liebe, Frau Reiche, daran ist nicht zu zweifeln. Ich +will versuchen, ob sich bei Gelegenheit wenigstens die Erlaubnis für +den Bierausschank durchdrücken läßt. Doch nun werde ich müde, man geht +hier eben mit den Hühnern zu Bett. Wo ist denn Ihr Mann, wieder in +einer Versammlung?«</p> + +<p>»Ach der, wissen Sie, seitdem wir die Bäckerei aufgegeben haben, ist +er kein richtiger Mensch mehr. Er könnte hier ein so schönes Leben +führen, aber nun hat er sich auch aufs Trinken verlegt, und weil er zu +Hause nichts hat, muß er eben zu anderen gehn. — Also ich bringe Ihnen +nachher noch frisches Wasser hinauf, die Herren Bauräte wollen schon +zahlen«, flüstert sie, während sie die prallen weißen Arme über der +Brust verschränkt. —</p> + +<p>Herr Gregor hat lange keine Gelegenheit, das Alkoholverbot bei Joachim +Becker zur Sprache zu bringen. Zuviel wichtige Dinge liegen vor, die +den jungen Direktor bis in den späten Abend beschäftigen und sein +ungeduldiges Wesen allmählich schwer erträglich machen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span></p> + +<p>Sein Sekretär ist längst nicht mehr über alle Vorgänge unterrichtet. +Es werden neue Ressorts besetzt, andere verantwortliche Kräfte +herangezogen, die Aussicht haben, aufzusteigen, während der junge Herr +Gregor nur ein Handlanger bleibt. Seine Einkünfte sind nicht geringer, +seine Machtstellung nach außen bleibt unbeschränkt — man bemüht sich +um seine Gunst —, aber er ist nicht zufrieden.</p> + +<p>Eines kleinen Triumphes konnte er sich heute unvermutet erfreuen, er +vermochte seine Genugtuung darüber schwer zu unterdrücken. Da hatte man +nun wochenlang Konferenzen mit den Bauräten und fremden Kommissionen +im engen Kreise abgehalten: geheimnisvolle Pakete wurden von den +Herren persönlich gebracht und wieder mitgenommen, auf dem langen +Konferenztisch waren Brocken von Erde und Steinen zurückgeblieben. Sie +glaubten, ihr Geheimnis gut bewahrt zu haben, und heute stand es in der +Zeitung.</p> + +<p>Herr Gregor strich den Artikel rot an und legte ihn Joachim Becker +wortlos auf den Tisch. So, nun sollte man sehen, daß ihm nichts +entgehen konnte.</p> + +<p>Er wurde nicht gerufen, aber Kommerzienrat Friemann war von seiner +Rumänienreise zurückgekehrt und sofort in das Zimmer des Hafendirektors +gegangen.</p> + +<p>»Von der Reise zurück?« ruft sein Schwiegersohn überrascht.</p> + +<p>»Ja«, sagt der Kommerzienrat und wirft einen prüfenden Blick umher. +»Man hat auch gleich etwas Neues erfahren.<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> Da habe ich mir zum +Beispiel unterwegs eine Zeitung gekauft —«</p> + +<p>»Ach, meinst du dieses Gefasel hier?« Joachim Becker stößt mit dem +Finger verächtlich auf den angestrichenen Artikel.</p> + +<p>»Allerdings. Was sind das für Erzfunde, und warum hat man mir nichts +mitgeteilt?«</p> + +<p>»Weil es unwesentlich ist. Sie sind nur im Südbecken bemerkt worden, +während wir im ersten Becken sogar auf Moorboden stoßen und im zweiten +bereits mit Schwimmbaggern arbeiten. Das Südbecken, das eine Breite von +sechzig Metern bekommt, enthält die Vorkommen am Ende der südlichen +Breitseite, außerdem sind es unreine Erze, die erst aufbereitet werden +müssen. Die Hauptader zieht sich in das dahinterliegende Gelände. Was +in unserem Becken gefunden wird, ist nicht der Rede wert. Wenn die +Zeitung fordert, wir sollen die Arbeit einstellen und die Erze fördern, +so ist das heller Wahnsinn.«</p> + +<p>»Wem gehört das dahinterliegende Gelände?«</p> + +<p>»Es sind Felder, die augenblicklich noch bestellt werden. Sie sind +mir vor einigen Wochen bis zum anstoßenden fiskalischen Grund für die +spätere Erweiterung der Hafenanlagen billig angeboten worden, und ich +habe sie während deiner Abwesenheit mit Einwilligung unseres Vorstandes +gekauft, um sie im nächsten Frühjahr als Fußballplätze für die Arbeiter +einrichten zu lassen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p> + +<p>»So, du kaufst Fußballplätze für die Arbeiter! Die Herren vom +Aufsichtsrat aber fragen an, warum wir nicht die Erze fördern, um +Geld hereinzubekommen«, sagt der Kommerzienrat nicht ohne Schärfe. +Er ist im Grunde sehr zufrieden mit der Auskunft, denn so viel hätte +er nicht einmal erwartet: daß man sich das wertvolle Gelände gleich +sichern würde. Aber was ist das für ein Gerede von den Fußballplätzen? +Diese Art Menschen muß ihre raffinierten Geschäftszüge immer mit einem +idealistischen Mantel bekleiden. Er selbst hätte mit Stolz darauf +gepocht, wenn ihm der schnelle Kauf noch vor Bekanntwerden der Erzfunde +gelungen wäre.</p> + +<p>Joachim Becker ist sehr blaß geworden. »Wir wollen einen Hafen +verwalten und keine Erze fördern«, sagt er ruhig.</p> + +<p>»Deswegen kann man das neue Gelände richtig ausnutzen«, gibt der +Kommerzienrat zurück.</p> + +<p>»Wenn der Aufsichtsrat es durchaus verschachern will, so steht es ihm +frei.«</p> + +<p>Über das gelbe fette Gesicht des Kommerzienrats zieht eine flüchtige +Röte. Seine runden Augen, die denen seiner Tochter so verblüffend +gleichen, werden in der Erregung ebenso starr und ausdruckslos, wie sie +bei Adelheid beweglich und sprechend sind, woraus man schließen kann, +daß sie auch vom Verstand zu lenken sind, denn sie verbergen alle seine +Gefühle.</p> + +<p>»Du benutzt das Geld nur zum Ausgeben. Aber das Konsortium muß es +heranschaffen. Wir wollen auch einnehmen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p> + +<p>»Der Hafenbetrieb wird es bringen.«</p> + +<p>»Das ist Zukunftsmusik. Wir müssen die Tatsachen nutzen. So kommen +wir nicht weiter. Die Verträge mit der Eisenbahn sind auch noch nicht +abgeschlossen. Wir können ohne den Gleisanschluß nicht arbeiten, wenn +die Speicher fertig sind.«</p> + +<p>»Wir werden schon rechtzeitig einig werden. Ich arbeite mit Hochdruck, +aber man macht mir Schwierigkeiten wegen Lappalien und kommt mit +bureaukratischem Formelkram dazwischen.«</p> + +<p>»Eins der Aufsichtsratsmitglieder von den Banken wird demnächst eine +Gesellschaft geben und einige Herren von der Bahn einladen.«</p> + +<p>»Ich dachte, daß es bei <em class="gesperrt">uns</em> auch auf dem geraden Wege gehen +kann«, gibt Joachim Becker erregt zurück.</p> + +<p>»Mit diesem Draufgängertum kommst du nicht weiter! Das ist der legale +Weg, die Verhandlungen ein wenig zu glätten. Du erkundigst dich wohl +nach den maßgebenden Herren und legst mir die Liste vor.«</p> + +<p>Der andere gibt keine Antwort, aber er macht sich eine Notiz.</p> + +<p>An der Tür wendet sich der Kommerzienrat noch einmal um.</p> + +<p>»Übrigens,« meint er nun jovial und nicht mehr kühl geschäftlich wie +während der ganzen Unterredung, »wir sind heute abend allein, ihr kommt +wohl ein wenig herüber?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span></p> + +<p>»Ich habe sehr viel zu tun«, sagt sein Schwiegersohn mit einem Blick +auf den Notizblock; aber wie er dann in das breite Gesicht mit den +warmen Augen des Familienvaters sieht, fügt er entgegenkommender hinzu: +»Doch ich will sehen, wie ich es einrichten kann.«</p> + +<p>Er hat das Verlangen, sich Bewegung zu machen und frische Luft zu +atmen. Darum bestellt er seinen Wagen und fährt in den Hafen. Herr +Gregor begleitet ihn.</p> + +<p>Nun schreitet die Arbeit in der Höhe und in der Tiefe fort, daß es eine +Freude ist, seine Augen überallhin schweifen zu lassen. Das werktätige +Spektakeln der Arbeiter und das Rattern der Maschinen wirken beruhigend +auf seine Nerven.</p> + +<p>»Was wird hier ausgeladen?« fragt er am Kanal den Aufseher.</p> + +<p>»Es sind die Dynamitladungen für die Sprengungen im Südbecken«, gibt +der Mann zurück.</p> + +<p>»Wo sollen sie gelagert werden?«</p> + +<p>»Ja — hier im Schuppen, da wir noch nichts anderes haben.«</p> + +<p>»Wollt ihr die Sprengstoffe in den Holzschuppen geben? Die Keller +im Getreidespeicher sind fertig. Wir haben sie feuersicher ausbauen +lassen. Warum wird daran nicht gedacht?«</p> + +<p>Herr Gregor stellt fest, daß dieser Mensch alles sieht und immer +den richtigen Ausweg weiß. Er muß ihn gegen sein inneres Sträuben +imponierend finden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p> + +<p>Dann sucht der Direktor den Oberbaurat Steffens auf, der die Hochbauten +leitet.</p> + +<p>»Wir müssen mit dem Getreidespeicher schneller weiterkommen. Ich sehe, +Sie sind noch beim zweiten Stock. Die Firma Friemann hat zehntausend +Tonnen Getreide von der neuen Ernte in Rumänien zu erwarten. Sie +muß wissen, daß sie es hier lagern kann, ehe sie die Ladungen auf +den Weg bringt. Zum Herbst also soll der Getreidespeicher mit allen +Inneneinrichtungen in Betrieb genommen werden. Wir werden die +Doppelschichten verstärken müssen. Was meinen Sie?«</p> + +<p>Direktor Becker hat es sich angewöhnt, nach Erteilung seiner knappen +Befehle die maßgebenden Herren in dieser Weise um ihre Meinung zu +bitten. Daß sie stets übereinstimmend lautet, ist selbstverständlich, +und er hat die wegen seiner Jugend entstandenen Feindseligkeiten, +besonders von seiten der städtischen höheren Beamten, einfach im Keime +erstickt.</p> + +<p>Nein, es scheint dem jungen Unternehmungsgeist wahrhaftig nicht schwer, +mit den Menschen fertig zu werden, wenn man nur die Augen offenhielt +und — die nötige Macht in die Hände bekam. Ob diese Rechnung auch +immer richtig aufgehen würde?</p> + +<p>Für jeden Fall hat Joachim Becker sich hier, wo ihm das letzte Wort +zu sagen bleibt, wieder Kraft geholt. Nun kann er in sein Bureau +zurückfahren und weiterarbeiten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p> + +<p>Irmgard Pohl sieht ihn, wie er in seinen Wagen steigt. Sie ist zum +ersten Male vor das Haus gegangen und betrachtet es als eine Probe auf +ihre inneren und äußeren Kräfte, daß sie zuerst dem Menschen begegnet, +der ihr Gleichgewicht am meisten erschüttern kann.</p> + +<p>Aber nun will sie mit den Leistungen ihrer Energie noch weiterkommen: +sie geht zu ihrer Mutter hinauf, um den alten Kampf mit der +fürchterlichen Krankheit aufzunehmen, die geheimnisvoll und ohne +Angriffsmöglichkeiten ist.</p> + +<p>»Guten Tag, Mutter«, sagt sie mit ihrer hellen festen Stimme. »Nun bin +ich wieder gesund.«</p> + +<p>»Ja,« erwidert Frau Pohl weinerlich gedehnt, »bist du krank gewesen?«</p> + +<p>»Hat die Schwester es dir denn nicht gesagt?«</p> + +<p>»Vielleicht hat sie es auch gesagt. Sie kann nur immer schwatzen und +hier herumstehen. Aber auf mein Kind gebt ihr nicht acht.« Ihr Gesicht +ist hart und unduldsam. »Wirst du dir jetzt mehr Mühe geben und +arbeiten, wie es sich gehört?«</p> + +<p>»Aber gewiß, Mutter, das will ich tun. Wir arbeiten alle, soviel es +geht. Hörst du die Maschinen und die Arbeiter? Da ist keiner träge.«</p> + +<p>»Ich kann es ja nicht kontrollieren. Der Vater und du, ihr könnt es mir +wohl sagen, aber ich denke mir mein Teil. Ihr habt immer Ruhe, hier zu +stehen und eure Zeit totzuschlagen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p> + +<p>»Aber wir müssen doch nach dir sehen und uns um dich kümmern. Ich will +dir dein Bett richten.«</p> + +<p>»Mich laßt nur in Frieden, um mich ist es nicht schade«, gibt die +Gelähmte zurück. Aber sie läßt es schweigend geschehen, daß die Tochter +ihren elenden steifen Körper aufrichtet und die Kissen glättet. Dann +verfällt sie wieder in die alte Apathie und gibt keine Antwort mehr.</p> + +<p>Irmgard geht müde die Treppen hinab. Immer ist sie, von Mitleid und +Liebe erfüllt, mit einem Herzen, das sich restlos verschenken will, +hinaufgegangen und entmutigt zurückgekommen. Fünf Jahre lang, und nun +ist sie einundzwanzig Jahre alt.</p> + +<p>Im Kopfe dieser Frau hatten auch in gesunden Tagen nur zwei Gedanken +Platz: die Arbeit und der Sohn. Sie hat ihrem Mann und der Tochter das +Leben damit verdunkelt und sich selbst zur Sklavin gemacht, und als der +Sohn endlich kam und ihr wieder genommen wurde, sind sie zur fixen Idee +geworden: die Arbeit und der Sohn ...</p> + +<p>Wie Irmgard in die Küche gehen will, um auch hier nach dem Rechten zu +sehen, wird ihr plötzlich die Tür aus der Hand gerissen.</p> + +<p>Ein furchtbares Getöse fliegt durch das Haus, die Luft dröhnt gegen +die Fensterscheiben, daß sie klirrend zerspringen; ein neuer, noch +stärkerer Knall droht Irmgard den Kopf zu sprengen. Halb irrsinnig +rennt sie gegen den Hintereingang. Die offene Tür ist aus den Angeln +gerissen, Geröll liegt auf<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> dem Wege, und als Irmgard aufblickt, sieht +sie an der Stelle, wo der halbfertige Getreidespeicher stand, eine +Rauchsäule, die aus Schutthaufen und leeren Eisengerüsten weht.</p> + +<p>Schwester Emmi kommt auf ihren hochhackigen Schuhen stolpernd gerannt.</p> + +<p>»Eine Explosion«, schreit sie mit schriller Stimme. »Ich will +Verbandzeug holen und helfen —« fügt sie atemlos hinzu.</p> + +<p>Irmgard, die ihr entgegengeht, fällt die Mutter ein.</p> + +<p>»Und das Kind«, ruft sie entsetzt. Sie stürzt in ihr Schlafzimmer, +reißt den Säugling aus den Betten. Er schläft und stemmt sich mit +erwachender Kraft gegen ihren Arm.</p> + +<p>Sie möchte laut lachen und weinen zugleich. Da sieht sie eine Gestalt +neben dem Kinderbett liegen.</p> + +<p>»Frau Pohl« — stammelt die Schwester, die in ihrer Verwirrung Irmgard +gefolgt war. Sie werden beide von einem mystischen Schauer erfaßt.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Vita_somnium_breve"><em class="antiqua">Vita somnium breve</em></h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-d003" src="images/drop-d003.jpg" alt="d"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>ie Frauen heben die Ohnmächtige auf und legen sie über das Bett. Und +siehe: die Glieder sind leicht und gelöst, sie lassen sich biegen und +bewegen. Der Schrecken hat die Gelähmte von ihrem Bann befreit. Sie, +die seit fünf Jahren das Bett nicht verlassen hat, konnte die Treppen +hinabgehen, und erst hier, neben dem Kinde, das sie für ihren Sohn +hielt, brach sie zusammen.</p> + +<p>Sie massieren den kalten Körper, packen ihn in angewärmte Decken. Das +Blut beginnt zu kreisen, leise rührt sich die Kranke, sie hebt einen +Arm, sie öffnet die Augen. Ihr Blick aber ist nicht ausdruckslos und +ohne Richtung. Er umfaßt die Tochter, und leise, zärtlich fragt sie:</p> + +<p>»Bist du es, Irmgard?«</p> + +<p>»Ja, Mutter.« Es ist seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie aus diesem +Munde ihren Namen hört.</p> + +<p>»Wie geht es unserem Michael?«</p> + +<p>»Er ist gesund, Mutter.«</p> + +<p>»Willst du ihn mir einmal geben, meinen kleinen Sohn?« Und es ist +wiederum seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie nach dem Kinde +verlangt. Ihre Stimme klingt sanft, erfüllt vom bangen Gefühl für das +mütterlich verschenkte Leben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p> + +<p>Irmgard Pohl nimmt zitternd den Knaben, Joachim Beckers Sohn, aus den +Kissen und legt ihn der Mutter in den Arm.</p> + +<p>»Er schläft, immer schläft er,« flüstert die Kranke, »er wird stark und +gesund werden, ich habe es gewußt.«</p> + +<p>Sie lehnt ihr mageres Gesicht hingegeben an den warmen kleinen Leib.</p> + +<p>»Und nun leg' ihn wieder hierher, daß er in meiner Nähe bleibt, dann +will ich schlafen. Ich bin noch sehr müde und schwach. Er hat mir so +viel Kräfte genommen, unser Stammhalter« fügt sie schmerzlich lächelnd +hinzu.</p> + +<p>Fünf Jahre sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht, hier liegt ihr Sohn +voll Leben und Wärme, und sie wendet sich auf die Seite zu dem langen, +erquickenden Schlaf, der die jungen Mütter nach ihrer großen Stunde +umfängt.</p> + +<p>»Ich habe es geahnt, daß sie damit zu heilen ist«, flüstert Schwester +Emmi, als sie die Tür hinter sich schließen, Irmgard und sie, die sich +nun zur Wirklichkeit zurückfinden.</p> + +<p>Sie suchen Verbandzeug und Tücher, soviel die Schwester tragen kann, +und dann geht sie hinüber zur Unfallstätte, während Irmgard hier Wache +hält und auf den Vater wartet.</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer ist in der Stadt gewesen, während das Unglück +geschah. Auf dem Heimwege, in der Bahn, wird bereits davon gesprochen. +Und er eilt mit schwachen Füßen über die Föhrbrücke, er, der so kräftig +in seinen hohen Stiefeln<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> zu stapfen gewohnt ist. Aber sein Haus steht +da, hell und mit bunten Fensterrahmen, auch sein Speicher steht und +seine Mühle.</p> + +<p>Nun erst blickt er auf die Verwüstungen im Nachbargelände. Ist es +nicht, als hätte Gottes Hand diesen Bau von Stein und Eisen umgelegt, +der wie ein Denkmal für verlorenes Menschentum vor seinen Augen +aufgewachsen war? Gleich einer großen mahnenden Faust ragen die +verbogenen Eisensparren über dem verfallenen Gestein. Und Michael Pohl +streicht allen Haß aus seinem Herzen.</p> + +<p>Irmgard geht ihrem Vater entgegen und berichtet flüsternd von dem +Vorfall im eigenen Hause.</p> + +<p>»Nun können wir ihm seinen Namen geben«, sagt sie zum Schluß. »Er heißt +Michael.«</p> + +<p>Als die Schwester endlich bei der Unglücksstätte anlangt, sind schon +Ärzte und freiwillige Helfer da. Sie reißen ihr die Tücher aus den +Händen und geben ihr Arbeit, soviel sie nur schaffen kann.</p> + +<p>Auch die Neugierigen fehlen nicht und die Reporter, die bei solchen +Ereignissen immer zufällig in der Nähe sind. Sie haben den Schaden +bereits gezählt und stürzen an das Telephon der Hafenwirtschaft. Frau +Reiche richtet die Zimmer und Betten für die Verwundeten.</p> + +<p>»Großes Explosionsunglück beim Hafenbau!« melden die Extrablätter in +der Stadt, und die Maschinen stampfen es schon in die Abendausgaben. +»15 Tote! 46 Verwundete.<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> Der halbfertige Getreidespeicher zerstört! +Das Nordbecken von den Trümmern verschüttet! Millionenschaden! +Untersuchungen über die Ursache sind im Gange.«</p> + +<p>Joachim Becker war kaum vom Hafen zurückgekehrt, als ihm das Unglück +gemeldet wurde.</p> + +<p>Nun steht er wieder an der Stelle, wo er vor einer Stunde seine +Befehle gab, und spürt zum ersten Male in seinem jungen, von Arbeit +und Erfolgen prall erfüllten Leben den Hammer eines unerbittlichen +Geschickes.</p> + +<p>Und zum ersten Male ist ein Stillstand in ihm eingetreten. Er findet +sich im alten Schuppen, der mit seinen Holzwänden noch unbeschädigt an +die Vergangenheit gemahnt, und sieht der flinken blonden Schwester zu, +die lautlos an den Opfern vorbeihuscht und ihre Zahl auf einem Zettel +notiert.</p> + +<p>»Es sind bis jetzt 28 Tote«, haucht sie beklommen an der Tür. Joachim +Becker nimmt es unbewußt auf und richtet seine entspannten Augen, die +in dem hellen offenen Gesicht sich dunkelnd vertiefen, über das Gelände +mit den Trümmerhaufen, dem zerwühlten Becken, das wie ein Krater +schwarz und naß die Arbeitenden verschluckt hat; er sieht die aufgeregt +hastenden Menschen, die Krankenwagen, die Verwundeten und die Toten.</p> + +<p>Und er sieht noch einmal das fertige Werk seiner wirklichkeitsnahen +Träume: eine Reihe von langen und breiten Hafenbecken mit +Tausend-Tonnen-Schiffen in vier Reihen, Speicher und Verladebrücken, +die schwarz aufragenden Arme<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> der Krane, das Turmhaus der Verwaltung, +den Freihafen mit seinen direkten Ladungen aus aller Welt. Daneben +aber die Siedlungen für die dem Teufel Alkohol entronnenen +Arbeiter, helle Häuser mit Blumen in den Gärten, die Badehallen und +Schwimmanstalten, die Spielplätze für die Kinder und die Sportwiesen +für die menschgewordenen Sklaven der Arbeit. Nein, nicht mehr Sklaven +sieht er: freie Menschen, dem Lichte zurückgegeben, den uralten Straßen +— den Wasserwegen mit der staubfreien Luft und den grünen Ufern — +wiedergeschenkt.</p> + +<p>Hier aber liegen seine ersten Helfer: in die Erde gewühlt, unter +Trümmern begraben, verstümmelt für die letzte kurze Strecke ihres +Lebens; von Schmerzen verzerrt.</p> + +<p>Er folgt ohne Bewußtheit der Krankenschwester, die hier eine +schluchzende Frau in den Arm nimmt und tröstet, dort einem Verwundeten +den Verband anlegt. Er findet sich in der Hafenwirtschaft, im großen +Raum mit eilig gerichteten Krankenlagern und sieht, wie seine »freien +Menschen« auf Bahren gepackt und zu den Krankenwagen davongetragen +werden. Er sitzt auf einer Kiste und betrachtet die leichten Bewegungen +der Schwester, die das Verbandzeug zurechtlegt und auf weitere +Verwundete wartet. Er hört seine eigene Stimme wie die eines Fremden, +als er fragt:</p> + +<p>»Sind Sie von der Rettungsstation?«</p> + +<p>»Nein,« gibt Schwester Emmi leise zur Antwort, »ich war in der Nähe, +als das Unglück geschah.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p> + +<p>»Wir werden wohl noch oft solche Hilfe brauchen«, sagt er müde. »Wenn +Sie wollen, können Sie zu uns kommen — für unsere Fürsorgestelle«, +fügt er, nach dem ersten aufbauenden Gedanken, hinzu.</p> + +<p>Schwester Emmi neigt sich über ihre Verbandrollen. Man gibt ihr ein +Amt, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, und man fragt nicht: +wer bist du, woher kommst du, was hast du gelernt und — wie steht es +mit den moralischen Qualitäten für den Posten? Man sagt: wenn <em class="gesperrt">du +willst</em> — Und sie blickt mit ihren tränenüberströmten Augen zu +Joachim Becker empor. Da steht er rasch auf und verläßt wortlos den +Raum.</p> + +<p>Wie sie später, nachdem alle Verwundeten in die Krankenhäuser geschafft +und die Toten aufgebahrt sind, am Hafendirektor vorbeikommt, wagt sie +nicht mehr, ihm zu danken.</p> + +<p>Er diktiert einem Manne: »38 Tote, 75 Verwundete. Erste Explosion beim +Ausladen im Tor des Getreidespeichers. Ursache nicht aufgeklärt. Durch +Entzündung der auf dem Wagen befindlichen restlichen Sprengstoffe +ein Teil des Nordbeckens verschüttet. Die feuersicheren fertigen +Kelleranlagen des Speichers fast unversehrt. Materialschaden nicht +bedeutend.«</p> + +<p>Schwester Emmi schlüpft scheu vorbei.</p> + +<p>Aber vor Irmgard Pohl ist sie in ihrer Erregung ungehemmt. Sie +berichtet unter Tränen — nicht mehr von dem, das die vielen betraf. +Sie hatte ihnen geholfen, wortlos,<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> selbstverständlich. Nun aber steht +ihr eigenes Schicksal im Vordergrund.</p> + +<p>»Als er sich umdrehte,« sagt sie, »so plötzlich, daß sein Gesicht nicht +mehr zu sehen war, da wußte ich, daß ich diesen Menschen doch niemals +hassen könnte.«</p> + +<p>Und mit den Gefühlen der Angestellten vor dem höchsten Vorgesetzten +fügt sie hinzu: »Ich glaube, daß er weinen kann wie wir.«</p> + +<p>Irmgard Pohl streicht mit ihrer ruhigen Hand über die Haare der +Schwester. »Ich wußte es, daß er kein schlechter Mensch ist«, sagt sie +leise. »Wenn ihm doch Gott alles zum Guten führen wollte!«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Aufsichtsrat">Der Aufsichtsrat</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-d002" src="images/drop-d002.jpg" alt="D"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>as ist ausgezeichnet«, sagt Kommerzienrat Friemann zu Bankdirektor +Ellgers, indem er ihn mit einer Handbewegung in sein Zimmer ladet.</p> + +<p>»Wir haben zwei Minuten Zeit zum Plaudern«, meint der Finanzmatador mit +seiner brüchigen Stimme, als seien zwei Minuten das größte Zeitopfer, +das er zu vergeben habe. »Wir fangen doch pünktlich an?«</p> + +<p>»Gewiß, allerdings«, versichert der Kommerzienrat. Er weiß, daß die +Konferenzen mit Direktor Ellgers auf die Sekunde zu beginnen haben.</p> + +<p>Das fleckige Greisengesicht des Bankdirektors mit dem gefärbten +schwarzen Bart erwartet unbewegt die zwanglosen Erklärungen des andern. +Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat es nicht nötig, Fragen zu +stellen, die ihm vor der Sitzung zu beantworten sind.</p> + +<p>Der Kommerzienrat beeilt sich, im gewünschten Plauderton das Nötige zu +sagen.</p> + +<p>»Also dieser Becker,« beginnt er, »es ist doch ein Teufelskerl! Da hat +er nun in aller Stille, als die ersten Erzfunde geheimgehalten wurden, +das ganze private Gelände aufgekauft.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p> + +<p>»Für die Hafengesellschaft!« wirft Ellgers kurz und mit dem Ton der +Selbstverständlichkeit ein.</p> + +<p>»Natürlich, natürlich, für die Hafengesellschaft. Die Sache hat einen +Pappenstiel gekostet, so daß der Vorstand es in der Eile unter sich +abmachen konnte. Nun bietet man den vierzigfachen Betrag. Und warum?«</p> + +<p>Direktor Ellgers sieht ihn ungerührt an.</p> + +<p>»Weil die Presse zuviel Geschrei darum macht«, beantwortet der +Kommerzienrat die Frage selbst. »Sie sehen einen neuen riesenhaften +Industriebezirk und behandeln die Sache mit einer geradezu +ausschweifenden Phantasie.«</p> + +<p>»Hm, ausschweifende Phantasie«, wiederholt Ellgers. »Da wollen wir uns +jetzt in das Sitzungszimmer begeben.«</p> + +<p>Kommerzienrat Friemann zieht höflich seine Taschenuhr.</p> + +<p>»Richtig. — Rauchen Sie eine von diesen Zigarren?«</p> + +<p>»Danke.« Ellgers bedient sich und steckt die Zigarre in sein Etui.</p> + +<p>Im Sitzungszimmer sind bis auf Stadtrat Richter, der abgerufen wurde, +sämtliche Herren versammelt.</p> + +<p>Direktor Ellgers ist nicht dafür, Zeit zu verlieren. Er begibt sich auf +seinen Platz am Kopf des Tisches und eröffnet die Sitzung:</p> + +<p>»Obgleich der zweite stellvertretende Vorsitzende, Herr Stadtrat +Richter, erst einige Minuten später erscheint, eröffne ich die Sitzung. +Herr Kommerzienrat Friemann, der stellvertretende Vorsitzende, hat +uns in einer wichtigen Angelegenheit<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> zusammengerufen und gibt seine +Erklärungen durch Hafendirektor Becker ab.«</p> + +<p>Joachim Becker bittet zunächst die Anwesenden, in stummer Würdigung +der bei dem Hafenbau verunglückten Helfer und Mitarbeiter sich von den +Plätzen zu erheben.</p> + +<p>Kommerzienrat Friemann blickt seinen Schwiegersohn hilflos warnend an. +Seine Ansicht ist, daß dieser junge Dachs nicht nachholen dürfte, was +der erste Vorsitzende unterließ. Wieviel Mühe muß er wieder aufwenden, +um diesen Fehler gutzumachen!</p> + +<p>Die Herren erheben sich in ungeordneter Reihe, die einen zögernd, die +anderen ruckartig, Direktor Ellgers mit einem kurzen scharfen Blick auf +den Hafendirektor.</p> + +<p>Joachim Becker läßt seine Augen mit überlegener Ruhe die Reihen +entlangschweifen. Er hat seinen Platz neben dem leeren Stuhl des +Stadtvertreters, gegenüber <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann, dem Mitinhaber der +Privatbank, und Kommerzienrat Friemann. Er stellt fest, daß die meisten +Herren es vorziehen, ihre Blicke während seiner Rede der Tischplatte +anzuvertrauen.</p> + +<p>Er spricht zunächst von dem Unglück und gibt Aufschluß über die genaue +Zahl der Opfer. Entschädigungen an Verletzte und Hinterbliebene +seien nicht zu zahlen, da alles ordnungsgemäß durch Versicherungen +gedeckt war. Nur dem Nachbarn, Mühlenbesitzer Pohl, seien zersprungene +Fensterscheiben und Beschädigungen am Hause zu ersetzen. Dann<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> erörtert +er eingehend die Ursache. Er selbst habe die Anordnung gegeben, die +Sprengstoffe im fertigen feuersicheren Keller des Getreidespeichers zu +lagern. Die Explosion sei im Haupteingang, wahrscheinlich durch eine +Unvorsichtigkeit während des Ausladens, entstanden.</p> + +<p>»Wir sehen daran, wie wenig der Mensch seinem Schicksal entrinnen kann. +Hätten wir den falschen Weg gewählt und die Ladung im alten, abseits +gelegenen Holzschuppen untergebracht, so wäre das fahrlässig gehandelt +gewesen, doch wir hätten Menschenleben geschont und großen Schaden +verhütet«, sagt er weiter mit bewegter Stimme. Aber er fühlt wieder die +starren, warnenden Blicke des Kommerzienrats und sieht, wie <em class="antiqua">Dr</em>. +Immermann mit dem Bleistift auf seinem Papier immer das gleiche Wort +malt.</p> + +<p>»Erze« entziffert er. Fünfmal, sechsmal das Wort »Erze«. Und es trifft +ihn wie ein Peitschenhieb.</p> + +<p>Dann spricht er vom zerstörten Getreidespeicher, vom Nordbecken. +Daran sei zuerst und mit nicht zu überbietender Leistungsfähigkeit +gearbeitet worden. Beide sollten bereits im Herbst in Betrieb genommen +werden, während man an den übrigen Hoch- und Tiefbauten in Ruhe +weitergearbeitet hätte.</p> + +<p>Kommerzienrat Friemann, der nun auch auf seinem Notizblock zu malen +begonnen hat, räuspert sich und schreibt mit dicken Buchstaben seinen +Namen auf das Papier.</p> + +<p>»Friemann — Getreide en gros« liest Joachim Becker, unwillkürlich +darauf hingelenkt, und er fährt fort:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p> + +<p>»Die größten Verluste erleidet dadurch der Getreidehandel.« Der +Kommerzienrat legt seinen Bleistift hin.</p> + +<p>»Die Aufräumungsarbeiten werden zuviel Zeit erfordern, wir müssen daher +unseren Plan, zuerst den Getreidehafen fertigzustellen, aufgeben. Durch +die von der Firma Friemann zufallenden bedeutenden Getreideladungen +wären unsere Einrichtungen gleich zu Anfang vollkommen ausgenutzt +worden. Der Schaden trifft nun noch empfindlicher die Firma Friemann +als uns. Wir werden uns zunächst dem Bau des Mittelbeckens mit +den Lagerhallen und Zollspeichern zuwenden. Da der Winter hemmend +dazwischentritt, ist mit der Eröffnung erst im nächsten Frühjahr zu +rechnen.«</p> + +<p>Der erste Vorsitzende sieht mit unverkennbarer Ungeduld auf, und +Kommerzienrat Friemann gibt seinem Schwiegersohn ein Zeichen, daß er zu +sprechen wünsche.</p> + +<p>Nach den lauten, klingenden Worten Joachim Beckers wirkt seine +gedämpfte Stimme besonders tonlos, aber gereift und zuverlässig.</p> + +<p>»Der entstandene Schaden,« führt er aus, »die verhinderte ersprießliche +Lagertätigkeit, die geeignet gewesen wäre, selbst im Winter bereits die +Unterhaltskosten zu decken, sind zwar sehr bedauerlich, ein glücklicher +Ausgleich aber wird sie uns verschmerzen lassen. Wir haben nicht nur +die Möglichkeit, die durch das Unglück ausfallende Summe zu decken, +sondern sogar einen ganz erheblichen Überschuß zu erzielen. Und das, +meine Herren, das durch die Erzvorkommen und<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> durch das geschickte +Eingreifen der Hafendirektion, die sich das wertvolle Gelände, soweit +es sich in Privatbesitz befand, für einen geradezu lächerlichen +Kaufpreis sicherte. Man bietet uns dafür den vierzigfachen Betrag. Herr +Direktor Becker wird Ihnen darüber berichten.«</p> + +<p>Ein befreiendes Aufatmen ist allgemein spürbar.</p> + +<p>Und Joachim Becker beginnt damit, daß die Förderung im Becken selbst +gering sei.</p> + +<p>»Warum wurden dann die großen Mengen Dynamit benötigt?« wirft Direktor +Othwig — der Vertreter der Spedition — ein.</p> + +<p>Joachim Becker war im ersten Augenblick bereit zu fragen, ob man seinen +Worten mißtraue, aber er sieht in das Gesicht seines Schwiegervaters +und antwortet:</p> + +<p>»Geringfügig ist die Ausbeute, weil es sich um Pocherze handelt, die +nur in einem schmalen Streifen, aber in der ganzen Beckenlänge von +fünfhundert Metern auftreten. Das Vorkommen fällt schräg ab und wird +nach den bisherigen Untersuchungen auf dem benachbarten Gelände in +einer Tiefe erscheinen, die vielleicht eine rentable Ausbeute möglich +erscheinen läßt.«</p> + +<p>Joachim Becker verliest die Protokolle der Untersuchungskommission +und geht nach Erörterung des Geländekaufs auf die günstigen Angebote +über. Bis auf die Verhüttungs-Aktiengesellschaft, die allerdings +erst kürzlich durch eine Fehlspekulation eine Einbuße erlitten habe, +handle es sich nur<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> um neue und zum Teil zweifelhafte Unternehmen. Er +gibt die Namen bekannt und vertritt die Ansicht, daß man die Angebote +der seriösen Firmen abwarten müsse, die sich erst nach eingehenden +Untersuchungen äußern wollen.</p> + +<p>Direktor Gidli von der Flußschiffahrt meint, daß der Kurzentschlossene +vorzuziehen sei, und beantragt eine Debatte über die Angebote.</p> + +<p>Joachim Becker fragt Direktor Haarland von der Eisenindustrie, ob er +sich als Mitglied des Konsortiums zunächst ein Vorrecht sichern wolle.</p> + +<p>Direktor Haarland, der einzige, der in seinem Stuhl, anscheinend +gelangweilt, zurückgelehnt liegt und die langen Beine ausstreckt, winkt +mit einem Augenzwinkern und einer kaum spürbaren Bewegung seines großen +Kopfes ab.</p> + +<p>Stadtrat Richter ist jetzt hinzugekommen, und die Beratung über die +Angebote wird eröffnet. Bankdirektor Ellgers bricht sie kurz ab mit dem +Antrag, sofort eine Ausschreibung vorzunehmen und in jedem Fall der +Verhüttungs-Aktiengesellschaft den Zuschlag zu geben, bei sofortiger +Barzahlung.</p> + +<p>Joachim Becker erhebt impulsiv die Hand, und Kommerzienrat Friemann +beeilt sich, den Antrag zu unterstützen. Er wird ohne Zwischenfall +einstimmig angenommen.</p> + +<p>Stadtrat Richter bittet, im Interesse der Stadt, die wegen der +Verpachtung der Ladestraßen ohnehin schon genug angegriffen werde, +dafür Sorge zu tragen, daß die Mitteilungen<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> über das Unglück gemildert +würden. Man habe eine Sensation daraus gemacht, und nicht nur das +Ansehen der Stadt, die doch an der Hafengesellschaft beteiligt sei, +sondern auch die Idee von der Notwendigkeit des Hafens leide darunter.</p> + +<p>Direktor Kohan meinte, daß die Presse eine selbständige Macht sei, die +sich nicht gebrauchen lasse, wie man Lust habe, aber Kommerzienrat +Friemann findet auch hier einen glücklichen Ausgleich.</p> + +<p>»Gewisse Angriffe sind uns eine Zeitlang sogar nützlich gewesen,« +sagt er zur allgemeinen Überraschung, »ja, ich betone: nützlich, +und zwar aus folgendem Grunde: die Eisenbahn hat noch immer nicht +ihre Zustimmung zu den vorgeschlagenen Verträgen gegeben. Sie macht +Schwierigkeiten, weil sie uns fürchtet. Gewiß, unsere Frachten sind +billiger, und über die Leistungsfähigkeit gegenüber der Bahn wollen +wir heute noch nicht zuviel sagen, aber wir brauchen den Bahnanschluß. +Nun wird gegen uns Stimmung gemacht, man bekommt den Eindruck, daß es +mit uns doch nicht so zu gehen scheine, wie man nach den Projekten +erwartet hatte, und — die Eisenbahn gibt es langsam auf, in uns eine +gefährliche Konkurrenz zu sehen. Sie wird gefügiger. Wir stehen kurz +vor dem Vertragsabschluß. Wenn diese Frage geklärt ist, wird sich das +Weitere schon finden.«</p> + +<p>Dieser Friemann, dieser mit allen Wassern gewaschene Getreidehändler, +er weiß doch wahrhaftig auch das Negative so zu nutzen, daß es zum +Vorteil gereicht. Man kann sich ihm<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> anvertrauen und erwarten, daß +er den in der Diplomatie allzu unerfahrenen Schwiegersohn noch +erziehen werde. Jedenfalls ist man geneigt, die Verdienste um +die Hafengesellschaft ihm allein zuzuschreiben — seinem wachen +Geschäftsgeist, seiner unübertrefflichen Geschicklichkeit.</p> + +<p>Man geht vollkommen beruhigt zum nächsten Punkt der Tagesordnung +über, und Joachim Becker spricht von dem Beteiligungsangebot der +Seehafenreedereien. Die Bedingungen sind unannehmbar, die Leute in den +Seehäfen nutzen ihre Macht.</p> + +<p>»Sie müssen ihre Überlegenheit verlieren,« sagt er mit erhobener +Stimme, »das aber ist nur möglich, wenn sie eine Gegenmacht spüren, +wenn sie wissen, daß wir nicht auf Tod und Leben von ihnen abhängig +sind. Darum brauchen wir unsere Stützpunkte. An der Nord- und Ostsee +sind noch andere Häfen, kleine Küstenstädte, deren Lage sich ausnutzen +läßt. Zum Teil haben sie noch nicht einmal einen Freihafen. Sie werden +von den Kommunen verwaltet, erfordern Zuschüsse und sind ihren Bürgern +sogar eine Last. Wenn wir aber unsere Hand darauflegen und die zum Teil +schon recht leistungsfähig ausgebauten, aber kaufmännisch schlecht +verwalteten Häfen zu unseren Stützpunkten machen, so erlangen wir +unsere Unabhängigkeit. Ebenso wie die weitsichtige und gutberatene +hiesige Stadtvertretung den Ausbau ihres Hafens der Privatwirtschaft +überließ, so werden auch diese Städte dem Gedanken nicht unzugänglich +sein. Ich bitte Sie daher,<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> sich schon heute darüber schlüssig zu +werden, ob wir diesen Weg beschreiten wollen, und mir die nötigen +Mittel zu bewilligen.«</p> + +<p>Er nennt die betreffenden Hafenplätze und erwartet die Meinungen.</p> + +<p><em class="antiqua">Dr.</em> Immermann, der bei den Sitzungen stets den Eindruck +hervorruft, als ob er im Schlafe unter hypnotischem Zwang den Bleistift +führe, meint, ohne seine Kritzeleien zu unterlassen:</p> + +<p>»Ich halte den Zeitpunkt für verfrüht. Erst müssen wir selbst +verdienen.«</p> + +<p>Joachim Becker fährt im alten Fluß seiner Rede fort: »Ganz abgesehen +davon, daß wir durch einen ersten Schritt auf diesem Wege schon jetzt +den großen Seehäfen unsere Taktik verraten müssen, damit sie ihre +Bedingungen ändern, ist es notwendig, zu handeln, ehe unsere hiesigen +Erfolge sichtbar werden. Wenn wir erst gezeigt haben, wie es gemacht +wird, und daß wir gut auf unsere Rechnung kommen, werden sich andere +Geldleute finden, die ihre Hand auf die übrigen Häfen legen oder +mindestens die Forderungen der Kommunen in die Höhe schrauben.«</p> + +<p>»Oder die Kommunen machen es selbst nach unserem Rezept«, wirft Herr +Kohan ein. Über die starren Gesichter der Tafelrunde zieht der Schimmer +eines Lächelns.</p> + +<p>»Ich verlange nicht schon heute die Bereitstellung der Summe, ich +will nur wissen, ob ich damit rechnen kann, um<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> rechtzeitig mit der +Bearbeitung zu beginnen. Ich würde sofort zuverlässige Mitarbeiter +an den betreffenden Plätzen damit beauftragen, zunächst die +Unzufriedenheit mit dem jetzigen Zustand in der Öffentlichkeit und der +Stadtvertretung zu schüren und dann das Wort ›Privatwirtschaft‹ in +die Debatte zu werfen. Dann brauchen wir noch geraume Zeit, bis alle +maßgebenden Kreise die richtige Meinung davon erhalten haben, und wenn +das Feld dann so weit bereitet ist, können wir auf eine Aufforderung +hin unsere niedrigsten Gebote machen.«</p> + +<p>Der Hafendirektor, der damals vor dem gleichen Auditorium das Projekt +für den Hafen dieser Stadt auseinandersetzte, blickt sich ein wenig um, +wie man die Erweiterung seines eigenen Planes aufnehme und ob er diesen +Zahlenmaschinen endlich einmal imponiere.</p> + +<p>Aber nur Herr Kohan starrt ihn durch seine dicken Brillengläser an. Der +halbgeöffnete Mund, im gepflegten rosigen Gesicht mit dem weißen Haar +und Bart, verrät ebenso Verständnislosigkeit wie Bewunderung. Sonst +sieht er ringsum undurchdringliche Masken.</p> + +<p>»Dazu kommen«, setzt er fort, »noch drei Binnenplätze mit fertig +ausgebauten Häfen, die wir für den Umschlag benötigen.«</p> + +<p>»Welche sind das?« fragt Herr Gidli mit großem Eifer.</p> + +<p>Joachim Becker nennt sie und fügt lächelnd hinzu: »Ihre Strecken kommen +für uns nicht in Frage.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p> + +<p>»Die halten wir auch besetzt«, beeilt sich Herr Gidli, der Vertreter +der Flußschiffahrt, zu bemerken.</p> + +<p>»Welche Höchstsumme wird erforderlich?« fragt Bankdirektor Ellgers.</p> + +<p>»Zehn Millionen. Die Abnahme kann sich auf vier Jahre, also bis zur +vollkommenen Fertigstellung unseres Hafens, erstrecken.«</p> + +<p>»Ich bin für den Antrag und bitte um Abstimmung.«</p> + +<p>Der Antrag wird angenommen.</p> + +<p>Kommerzienrat Prüfer vom Importhandel hält es für angezeigt, trotz den +Unfallrenten etwas für die Hinterbliebenen zu tun, und schlägt eine +Sammlung vor. Die Hafengesellschaft solle als erste zehntausend Mark +zeichnen, für seine Firma stelle er tausend Mark zur Verfügung.</p> + +<p>Joachim Becker sieht überrascht auf. Ein menschliches Gefühl? Aber das +kleine spitzbärtige Gesicht Prüfers ist nicht zu enträtseln.</p> + +<p>Der allgemeinen stummen Zurückhaltung schließt sich nur Direktor Gidli +nicht an. Er meint: »Ist denn das nötig?«</p> + +<p>Kommerzienrat Prüfer sagt, als wäre die Frage nicht gestellt worden: +»Im Interesse der öffentlichen Meinung sollte die Sammlung durch die +Zeitung vor sich gehen.«</p> + +<p>Bankdirektor Ellgers klopft nervös mit dem Bleistift auf die +Tischplatte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span></p> + +<p>»Wir sollten uns mit diesen Lappalien nicht aufhalten,« sagt er +ungeduldig, »ich bin für Annahme und zeichne für meine Bank tausend +Mark.«</p> + +<p>Sämtliche Herren folgen, bis auf Direktor Gidli, der erst seine +Gesellschaft fragen muß.</p> + +<p>Damit ist die Sitzung beendet.</p> + +<p>Bankdirektor Ellgers verabschiedet sich sofort. Friemann begleitet ihn +zur Tür. Auch Generaldirektor Jäckel, der noch den Zug für eine andere +Sitzung erreichen will, ist in Eile. Er hat sich an den Debatten nicht +mit einem einzigen Wort beteiligt, behauptet aber, einen Mordsdurst +bekommen zu haben.</p> + +<p>»Wir sehen Sie doch am nächsten Donnerstag?« fragt ihn der +Kommerzienrat unter Händedrücken. Auch <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann wird noch +einmal erinnert.</p> + +<p>»Wissen Sie,« sagt der Kommerzienrat, während er sich im Hinausgehen +in Immermanns kraftlosen Arm hängt, »meine Frau kann ohne die kleinen +Gesellschaften im Hause nicht mehr leben. Sie behauptet, sie bekäme +sonst keine Menschen zu sehen. Wir vom Alltag zählen nicht zu den +Menschen.«</p> + +<p>»Ja, die Frauen sind verwöhnt«, sagt <em class="antiqua">Dr.</em> Immermann mit seiner +dünnen Stimme.</p> + +<p>Auch am anderen Ende des Konferenztisches beginnen die Herren sich zu +regen. Direktor Haarland richtet sich aus seiner bequemen Lage auf und +reckt den breiten Oberkörper, die Hände in den Hosentaschen.</p> + +<p>»Ja, wissen Sie,« ruft er zu Direktor Othwig hinüber,<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> der mit +Kommerzialrat Mödl vom Boxsport spricht, »in England ist das doch etwas +anderes. Da spielt der Amateur eine viel wichtigere Rolle, und ein +Berufsboxer wird zu den vornehmsten Herrengesellschaften geladen. Hier +aber bringt man ihn mit seinen Damen zusammen.«</p> + +<p>Er zieht seine Amateurboxerfäuste aus der Tasche und verabschiedet sich +von einigen Herren.</p> + +<p>»Sagen Sie mir nur,« fragt ihn Direktor Gidli, »wie halten Sie sich so +in Form? Sind Sie für Massage?«</p> + +<p>»Dampfbäder«, sagt Haarland lächelnd. »Dampfbäder! Zweimal in der +Woche!«</p> + +<p>»Ja, sehen Sie, das kann ich doch wieder mit meinem Herzen nicht.«</p> + +<p>»Da bleibt nichts als Hunger«, meint der Kommerzialrat mit dröhnendem +Gelächter.</p> + +<p>»Also neulich haben wir ein paar hohe Herren mit ihren Damen laden +müssen,« sagt Direktor Koch zu einer anderen Gruppe, »aber meine Frau +hat acht Tage nicht schlafen können. Sie behauptet, die steifen Damen +hätten ihren eleganten Gästen moralische Ohrfeigen erteilt.«</p> + +<p>»Aber die Damen von heute,« sagt Kommerzienrat Prüfer achselzuckend, +»manchmal weiß man wirklich nicht, ob sie zur Gesellschaft —«</p> + +<p>Direktor Haarland stößt ihn sanft ins Kreuz, weil Herr Kohan +hinzukommt, der sich wegen seiner modernen jungen Frau immer Angriffen +ausgesetzt fühlt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> + +<p>»— der Herren oder der Damen gehören. Die heutige Vermännlichung —«</p> + +<p>Kommerzialrat Mödl zieht ihn mit lautem Gelächter fort. »Also, da habe +ich neulich einen Fall erlebt —« und sie verschwinden schmunzelnd auf +dem Korridor.</p> + +<p>Haarland verabschiedet sich von Joachim Becker.</p> + +<p>»Man muß nur den Nacken steif halten«, sagt er, als habe er es nötig, +aufmunternd zu sprechen. »Ich habe es mit Boxen erreicht.«</p> + +<p>Dabei zeigt er seine Fäuste und die gesunden weißen Zähne im braunen +Gesicht.</p> + +<p>Joachim Becker geht in sein Arbeitszimmer.</p> + +<p>Die Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder verlieren sich vor seiner Tür. +Es ist später Nachmittag, die Dämmerung legt sich ganz plötzlich über +den großen Raum.</p> + +<p>Einen Augenblick sitzt er ausruhend in seinem Sessel, dann dreht er das +Licht an und klingelt seiner Sekretärin.</p> + +<p>Mechanisch beginnt er, von dem großen Stoß der Papiere auf seinem +Tische das Wichtigste herunterzunehmen und zu diktieren.</p> + +<p>Gegen seine Gewohnheit hebt er plötzlich den Blick. Er sieht, über +die Finger der Schreibenden, in das schmale erschlaffte Gesicht der +Sekretärin.</p> + +<p>Es kommt ihm auf einmal mahnend zum Bewußtsein, daß dieses langsam +welkende Wesen ihm gegenüber in den letzten Monaten täglich bis in +die späten Abendstunden zu<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> seiner Verfügung stand — daß sie auch +ein Anrecht auf das Leben habe. Er selbst hat, seitdem er von seinem +Projekt besessen ist, nur Arbeit gekannt und rücksichtslos Arbeit +gefordert. Nun empfindet er dumpf, daß es für andere Menschen noch +irgendwelche Freuden geben mag, die nicht in diesem Hause zu finden +sind.</p> + +<p>Er bricht das Diktat plötzlich ab.</p> + +<p>»Wir wollen für heute Schluß machen. Gehen Sie auch nach Haus.«</p> + +<p>»Ich habe noch das Protokoll —«</p> + +<p>»Lassen Sie Protokolle und Briefe. Schließen Sie alles ab, und denken +Sie nicht daran.«</p> + +<p>Sie sieht überrascht auf. »Dann: guten Abend«, sagt sie leise lächelnd.</p> + +<p>Wie sie zur Tür geht, mit leichten Schritten, während das Kleid um ihre +Beine schwingt, sieht er in ihr zum erstenmal nicht nur die fleißige +Mitarbeiterin. Und er hat ein eigenes Gefühl dabei.</p> + +<p>Sie ist auch eine Frau, sagt er sich, als er ihren Duft noch leise +verspürt. Es gibt also noch lebendige Wesen, die ihren Körper wie eine +Kostbarkeit auf zierlichen Füßen tragen, die mit weichen Händen nach +den Dingen greifen und sanfte Worte sprechen —</p> + +<p>Adelheid fällt ihm nicht nur ein, sie ist ihm greifbar nahe. Ihre +ängstlichen runden Augen sehen ihn an. Er springt auf, ungeduldig, +freudig, und beschließt, auszugleichen<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> — zu verschenken, was so +dankbar hingenommen wird.</p> + +<p>Der Kommerzienrat kommt herein, um sich zu verabschieden und Grüße für +Adelheid aufzutragen.</p> + +<p>»Hat die Katastrophe sie auch nicht zu sehr aufgeregt? Du weißt, bei +jungen Frauen in diesem Zustand — Ist der Arzt heute dagewesen?«</p> + +<p>Sein Schwiegersohn kann diese Fragen nicht beantworten. Er hat bisher +keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Aber nun will er alles +nachholen.</p> + +<p>Lag nicht immer schon etwas mütterlich Schweres und Sanftes in +Adelheids Wesen? Er hat das Verlangen, den Kopf an ihre Knie zu +schmiegen und sich trösten zu lassen wie von einer Mutter. ›Das Kind im +Manne?‹ fragt er sich in leisem Selbstspott. Vor wenigen Stunden noch +wäre ihm die Situation lächerlich erschienen.</p> + +<p>Er schickt Herrn Gregor nach Hause und fragt ihn, ob er ins Theater +gehen wolle. Hier seien zwei Eintrittskarten. Gesellschaft würde er +wohl finden? Nein, deswegen würde Herr Gregor nicht in Verlegenheit +kommen. Er dankt mit indiskretem Lächeln.</p> + +<p>Joachim Becker hatte sich zum erstenmal seit Wochen dazu entschlossen, +heute mit Adelheid in die Oper zu gehen. Aber nun will er sie nicht +unter fremde Menschen führen.</p> + +<p>Er hatte noch nie Zeit, sich für Kunst zu interessieren, er versteht +nichts davon. Wenn er sich ablenken wollte, sah er<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> sich ein Lustspiel +oder eine Operette an, aber er verspürte stets einen schalen Geschmack +danach, es reute ihn der Zeitverlust. Nun will er Adelheid die Freude +bereiten, mit ihr allein zu Haus zu bleiben, einen ganzen Abend nur ihr +zu widmen; gut und milde zu sein.</p> + +<p>Er hatte noch niemals daran gedacht, seiner Frau ohne äußeren Anlaß +Blumen oder andere Aufmerksamkeiten mitzubringen, auch heute hält er +sich nicht damit auf. Aber er kommt mit einem vollen Herzen. Und das +scheint ihm so ungeheuer viel, daß der Gedanke an materielle Geschenke +ihm absonderlich vorgekommen wäre.</p> + +<p>Während er im Wagen seinem Hause entgegenrollt, dünkt ihn die familiäre +Sorgfalt und Rücksichtnahme des Kommerzienrats längst nicht mehr +lächerlich wie sonst. Auch er freut sich auf sein Familienleben.</p> + +<p>Adelheid erwartet ihn bereits im fertigen Staat für den Theaterbesuch. +Ihre Mutter sitzt in ihrem Zimmer und erzählt vom letzten Opernabend.</p> + +<p>»Selbst Frau Bankdirektor Ellgers war da, die doch aus hygienischen +Gründen nur selten ihr bazillenfreies Haus verläßt«, sagt sie, als ihr +Schwiegersohn eintritt.</p> + +<p>»Ich freue mich so sehr, daß ihr endlich einmal miteinander ausgeht«, +ruft sie nach der Begrüßung aus. »Adelheid hat sonst so gar nichts +von ihrem Leben. Und bald wird sie sich nicht mehr öffentlich zeigen +wollen.«</p> + +<p>»Ja«, sagt Joachim Becker beklommen bei dem Gedanken<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> an die +verschenkten Theaterkarten. »Ich hatte aber gerade heute den Vorschlag +machen wollen, zu Haus zu bleiben. Wir beide ganz allein, Adelheid und +ich. Die Sitzung hat mich sehr angestrengt, und ich bin so lange nicht +mit Adelheid allein gewesen.«</p> + +<p>»Ich wollte euch ohnehin bald verlassen, denn Papa wird wohl jetzt auch +zu Hause sein. Aber meine Ansicht ist, daß Adelheid die Ablenkung gut +tun würde«, sagt die Kommerzienrätin mit abgewandtem Gesicht. Sie sucht +ihren Mantel und rüstet sich, um dieses Haus rasch zu verlassen, in dem +ihr so deutlich gesagt wird, daß man allein sein will.</p> + +<p>»Was meinst du, Adelheid?« fragt Joachim Becker leise, indem er seine +Hand auf ihre Schulter legt.</p> + +<p>Sie blickt hilflos auf, und weil die Mutter ihr den Rücken wendet und +sie ihr Gesicht nicht sieht, wird sie ängstlich. Sie erhebt sich, so +daß die Hand ihres Mannes herabfällt, und geht zu ihrer Mutter hinüber.</p> + +<p>»Nein, Mutter,« sagt sie, »so darfst du nicht weggehen.« Die +Kommerzienrätin schließt den Arm um ihre Tochter, und beide Frauen +gehen wortlos hinaus.</p> + +<p>Da fühlt Joachim Becker, wieviel Leid er hier schon unbewußt veranlaßt +hat, und daß keine Brücke hinüberführt. Heute nicht — vielleicht in +der Zukunft?</p> + +<p>Er geht in sein Zimmer hinüber und denkt lange, verworren über +seine Handlungen nach, er, der immer so klar<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> und folgerichtig, +so gut organisiert zu denken vermochte. Er glaubt, hier und da in +schwachen Umrissen Fehler zu erkennen. Seine große Sicherheit, seine +Zielbewußtheit fällt von ihm ab, er ist trostbedürftig wie ein Kind.</p> + +<p>Und fühlt zum erstenmal in seinem Leben die große quälende Einsamkeit +...</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Mutter">Die Mutter</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i003" src="images/drop-i003.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>rmgard Pohl geht vor das Haus. Die Luft in den Zimmern ist stickig. +Ohne Abkühlung selbst in der Nacht. Dazu der Geruch von Medizin und +Krankheit, der in alle Zimmer dringt, seitdem Frau Pohl in die unteren +Räume übergesiedelt ist.</p> + +<p>Jetzt, gegen Abend, weht ein Luftzug vom Wasser herüber. Die Mühle und +die Speicher wirken noch bestaubter als sonst, und auch die Pflanzen im +kleinen Vorgarten des Wohnhauses werden trocken und stumpf.</p> + +<p>Die Geräusche vom Hafen sind nun ferner gerückt. Einige Arbeiter +werkeln am zerstörten Getreidespeicher, dessen verstümmelter Bau wieder +abgetragen werden muß. Die neue Arbeit aber wird am südlicher gelegenen +Mittelbecken geleistet. Die wimmelnden Massen der Arbeitenden, die +kleinen Kippwagen und die Arbeitsautos wirken von der Mühle aus +spielerisch klein. Silhouettenhaft gezeichnet sieht Irmgard die +Vorgänge durch die verdickte, vom letzten Sonnenleuchten glitzernde +Luft.</p> + +<p>Sie setzt sich auf die Bank vor dem Haus, müde und des vielen Lärmens +überdrüssig. Auch an der Mühle wird nun<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> gebaut. Herr Pohl läßt den +Speicher aufstocken und einen Flügel am Müllereigebäude anbauen. Die +Arbeiter sind gegangen, doch die Steine und Bottiche stehen umher, +die Gerüstbalken liegen vor dem Speicher und zerstören den ruhigen +Eindruck, der auf diesem Gelände bisher bewahrt geblieben war.</p> + +<p>Es ist kaum vorstellbar, daß noch vor einem Jahr die Vögel in Scharen +auf den Feldern drüben niedergingen und sich holten, was von der Ernte +zurückgeblieben war. Daß die alten Linden ihren weichen Duft mit den +warmen Südwinden über den Kanal hinweg zur Mühle sandten. Daß Kinder +auf den Wiesen spielten, und daß zwischen ihnen ein paar weiße Ziegen +mit gesenkten Köpfen dahintrotteten. Dort, wo jetzt die tiefen Gruben +sind und neue Speicher aus der Erde wachsen.</p> + +<p>Wenn man des Abends vor das Haus trat und über den Kanal hinwegblickte, +war eine ebene Fläche, soweit das Auge reichte. Nur zur Linken +dunkelten die breiten Wipfel der Linden und verdeckten das +Fräuleinstift, dessen Pensionäre man niemals zu Gesicht bekam. Die Rufe +heller Kinderstimmen wehten zuweilen herüber, und dann konnte man ganz +gedämpft irgendwelche dunklen, schweren Kirchenglocken aus dem Innern +der Stadt vernehmen. So still war es in diesem Winkel, wo nun der neue +Hafen entsteht.</p> + +<p>Aber hatte Irmgard sich damals dieser Stille vollkommen bewußt gefreut?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span></p> + +<p>Sie bückt sich und fegt mit der Hand über das blaue Blumenbeet, +aus dessen dichten kleinen Blüten dabei ein heller Hauch von Staub +auffliegt. Sie sucht immer eine Beschäftigung, wenn peinliche Gedanken +sie bedrängen, trotzdem sie längst weiß, daß sie sich zu anderer Zeit +doch wieder melden und auf die Dauer nicht abzuwenden sind.</p> + +<p>Nein, sie hatte die Ruhe als einen hinterwäldlerischen Zustand +hingenommen und mit Joachim Becker von dem großen Hafen geträumt.</p> + +<p>Einige Rosen am hohen Stock in der Mitte des runden Beetes hängen +welk herab. Irmgard nimmt einen der sammetweichen kühlen Köpfe sachte +mit der Handfläche auf. Sie kann nicht übersehen, daß der Rosenstock +an einen runden Stab gebunden ist, einen grünen Stab mit weißer +Spitze, den Joachim Becker im vorigen Jahr mit seinem Taschenmesser +zurechtschnitt und in knabenhaftem Eifer farbig überpinselte.</p> + +<p>Sie zieht die Hand von der Rose fort. Schwer sinkt sie vornüber, und +dann segeln die hellen Blätter nach allen Seiten in die blauen Blumen +hinein.</p> + +<p>Irmgard wendet sich brüsk ab. Vor der Tür stockt sie einen Augenblick. +Sie will das Haus meiden, um von der Mutter nicht gehört und gerufen zu +werden. Mit kleinen Schritten schleppt sie sich um das Gebäude herum +und geht durch den Gemüsegarten zum Mittelweg.</p> + +<p>Hier und im Hof sind noch Kalkspritzer von den Ausbesserungsarbeiten +am Hintereingang zu sehen. Michael Pohl<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> hatte alles sofort auf +eigene Kosten wiederherstellen lassen und sich auch wegen der +zersprungenen Fensterscheiben nicht mit Ersatzansprüchen gemeldet. +Eines Tages war jedoch Rechtsanwalt Bernhard erschienen und hatte um +die Rechnungen gebeten, da die Hafengesellschaft selbstverständlich +alles ersetzen werde. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, persönlich +vorzusprechen, weil er immer noch auf einen gütlichen Ausgleich in der +Prozeßangelegenheit hoffte. Michael Pohl sprach mit keinem Wort davon.</p> + +<p>Das Mädchen in der Küche hört die Schritte auf dem Kies. Sie setzt +einen Teller klappernd nieder und steckt den Kopf aus dem Fenster.</p> + +<p>»Sie schlafen beide«, flüstert sie. Sie gönnt Irmgard die kurze +Ruhepause.</p> + +<p>Irmgard nickt ihr zu und geht durch die kleine Pforte zu den Wiesen +hinaus, die sich bis zum Verbindungskanal erstrecken. Dort, in der Nähe +des Wassers, setzt sie sich, mit dem Rücken gegen das Hafengelände, auf +den Rasen, den sie kühl und frisch auf der Handfläche fühlt.</p> + +<p>Sie kann hier noch vom Mädchen gesehen und im Notfall gerufen werden, +wenn einer von den »beiden« erwachen und sie brauchen sollte. Diese +beiden, die jetzt ihr ganzes Leben ausfüllen sollten: die Mutter und +das Kind.</p> + +<p>Der Knabe ist gesund und gedeiht, obgleich er mit der Flasche +großgezogen werden muß, und die Mutter erholt sich mit fast +beängstigender Eile. Sie kann es nicht erwarten,<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> wieder überall selbst +zur Stelle zu sein und die Zügel fester in die Hand zu nehmen.</p> + +<p>Ihre abgezehrten Glieder werden elektrisiert und massiert, und wenn sie +nicht zuweilen bei heimlichen Versuchen erfahren hätte, daß Energie +und Unrast allein ihr die alte Kraft nicht wiedergeben, so würde sie +wohl noch heftiger über all diese »teuren und überflüssigen Prozeduren +an einem alten Weibe« schelten. So aber begnügt sie sich mit einem +gutmütig-ungeduldigen Protest, soweit es sich um ihre eigene Person +handelt.</p> + +<p>Streng jedoch und ohne Duldung jeglichen Widerspruchs ist sie wieder in +ihrem Kommando über den Haushalt und die Wartung des Sohns.</p> + +<p>Irmgard hat es sich in den langen einsamen Monaten vor der Geburt des +Knaben angewöhnt, oft mit den Händen im Schoß untätig dazusitzen und in +sich hineinzulauschen. Erst waren es die Erinnerungen, von denen sie +willenlos aus der traurigen Gegenwart fortgetragen wurde. Dann spürte +sie das mählich pochende Leben, und sie malte sich die Zukunft als +Mutter dieses neuen Menschen aus.</p> + +<p>Schließlich mußte sie es ertragen, daß sie ihren Vater und sich +selbst vor seinen Leuten und vor den wenigen Menschen, mit denen sie +gelegentlich zusammenkamen, dadurch in Unehre bringen würde. Sie hatte +nie viel von der Meinung derjenigen gehalten, die nach den allgemeinen +Gesetzen urteilen. Und nun begann sie, in ihrer Mutterschaft eine große +und<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> mutige Mission zu sehen. Erst als sie so weit in ihren inneren +Kämpfen gekommen war, beschloß sie, sich dem Vater zu offenbaren.</p> + +<p>Sie kannte ihn von jeher als einen Eigenbrötler, der sich auch nicht +viel um die herkömmlichen Ansichten kümmerte, aber sie wußte, wie tief +er durch den Abfall Joachim Beckers verletzt wurde. Trotzdem hatte sie +diese Aussprache als eine Befreiung von der Bitternis und dem stummen +Nebeneinander mit dem Vater erhofft.</p> + +<p>Sie vergaß, daß sie selbst sich nach quälendsten Wirrnissen zu der +neuen Anschauung durchringen mußte, und daß sie den Vater vor eine ganz +unerwartete Tatsache stellte. Und vollkommen hatte sie, in ihre Liebe +zu Joachim Becker verstrickt, übersehen, welchen großen Vertrauensbruch +der Vater nun auch auf ihrer Seite darin erblicken mußte.</p> + +<p>Wie sie nun, bleich und schon ein wenig entstellt, dem Vater am Tisch +gegenübersaß und fast ohne Stocken davon zu sprechen begann, war ihr +allmählich, über der fürchterlichen Veränderung in seinem Gesicht, die +ganze Tragweite zum Bewußtsein gekommen.</p> + +<p>Sie konnte plötzlich alle zurechtgelegten großen und kühnen Worte nicht +finden, ihre Mundhöhle zog sich bitter zusammen, und die Magenkrämpfe, +an denen sie in letzter Zeit so viel gelitten hatte, setzten wieder +ein. So saß sie vor ihm, stumm, mit schmerzverzerrten Zügen. Ihre Hände +tasteten krampfhaft über die Decke. Da verschwammen die Umrisse seines<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> +Kopfes vor ihren Augen. Sie ahnte nur seinen erstarrten Blick.</p> + +<p>Erst war es, als ob er ihr Gesicht damit gläsern machte, sie spürte +kein Leben mehr darin, und dann fühlte sie ihn auf den Händen. Sie +hielt sie plötzlich ganz still, aber sein Blick lag immer noch darauf. +Und da schämte sie sich unwillkürlich ihrer Hände, die gelb und mager +geworden waren. Sie zog sie vom Tisch herab und wußte keinen Grund +dafür. Sie hörte eine Tür fallen und war allein im Raum ...</p> + +<p>Später hatte er ihr den Arzt geschickt, der über ihren Zustand +unterrichtet war. Er untersuchte sie und verschrieb ihr +Stärkungsmittel. Aber der Vater und sie haben bis zu ihrer Niederkunft +niemals »davon« gesprochen. Noch jetzt muß Irmgard die Augen schließen, +wenn sie daran denkt, wie sie sich schämte, wenn der Blick des Vaters +unversehens auf ihre veränderte Gestalt fiel.</p> + +<p>Die erste stumme Annäherung glaubte sie zu fühlen, als sie ihm nach der +Katastrophe im Hafengelände entgegenging und sagte, welchen Namen man +dem Knaben geben müsse. Da hatte sie noch nicht gewußt, was sie damit +unternahm. Die große Erregung an jenem Tag und die Freude über die +Erlösung der Mutter veranlaßten sie ohne Überlegung zum Verzicht ihrer +Rechte.</p> + +<p>Als es dem Vater nicht mehr entgehen konnte, wie schwer es ihr fiel, +den Knaben als unbestrittenen Besitz der Mutter zu betrachten und ihr +in allen kategorischen Weisungen willenlos<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> zu folgen, hatte er endlich +offen mit ihr darüber geredet. In seiner knappen und schweren Art +begann er zunächst mit großen Pausen und dann ohne falsche Scheu über +alles zu sprechen, was seit Joachim Beckers Zeit zwischen ihnen lag. So +lange hatte er gebraucht, um es zu verarbeiten.</p> + +<p>Zum Schluß nahm er sie in seine Arme und sprach beruhigend auf sie ein. +Er sagte im Grunde nicht mehr als der Arzt, Schwester Emmi und gewiß +manche anderen, die ein Urteil darüber hatten: daß es so am besten für +sie alle sei, und daß ihr der Knabe innerlich nicht weniger gehöre, +wenn sie ihn nach außen als Bruder anerkennen müsse.</p> + +<p>Aber sie empfand den Druck seiner breiten warmen Hand auf ihrer +Schulter, sie durfte ihren Kopf wieder an seine Wange lehnen, und dann +hatte er wie in den Kindertagen mit seinem großen weißen Taschentuch +die Tränen von ihrem zuckenden Gesicht gewischt. —</p> + +<p>Die kleinen stehenden Wolken verlieren allmählich ihr rotes Leuchten, +das vom Westen her über den Himmel gezogen ist. Irmgard gibt sich noch +eine kurze Frist, indem sie das Schwinden des gelben Scheins hinter +einer dunklen Wolkengruppe abwartet, dann steht sie auf, um zu ihren +»beiden« zu gehen.</p> + +<p>Das Mädchen flüstert ihr an der Küchentür zu: »Sie ist schon lange +wach. Ich habe ihr gesagt, daß Sie Besorgungen machen.«</p> + +<p>Irmgard will etwas erwidern, aber sie sieht schließlich selbst ein, +daß man der Mutter keine anderen Erklärungen<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> geben kann, denn sie +wird niemals die Menschen verstehen, denen zuweilen die Hände im Schoß +liegen bleiben.</p> + +<p>Sie hört ihre Stimme im Schlafzimmer und weiß, daß sie sich das +Kind ins Bett reichen ließ. Und wieder verliert sich ihre brennende +Sehnsucht nach dem Knaben, weil sie ihn in den Händen der Mutter weiß. +Nur in den wenigen Minuten, da sie unbeobachtet ganz allein mit ihm +sein kann, wird er zu ihrem Besitz.</p> + +<p>Entschlossen würgt sie alle Bitterkeit hinab und geht mit +beschleunigten, festeren Schritten ins Zimmer, als ein Mensch, der +unter Zwang eine schlechte Rolle spielt.</p> + +<p>Hier wartet so viel Arbeit auf sie, daß sie sich schnell wieder +zurechtfindet. Schwester Emmi hatte die Hafengesellschaft nicht auf +ihre Dienste warten lassen, und nun fehlt sie ihr sowohl bei der Arbeit +wie mit ihrem heiteren Wesen.</p> + +<p>»Meine Zukunft«, sagte sie immer, wenn sie von ihrem neuen Posten +sprach. Sie war klug genug, Joachim Becker nicht zu verraten, daß ihre +jüngste Vergangenheit bei Irmgard Pohl und seinem Sohne war. Irmgard +hatte sie aber außerdem gebeten, über diese Tätigkeit zu schweigen.</p> + +<p>»Denn vielleicht weiß er gar nichts davon«, fügte sie mit einem Blick +auf den kleinen Michael errötend hinzu.</p> + +<p>Frau Pohl war es recht, daß die kleine blonde Schwester bald das Haus +verließ, denn erstens hält sie eine Pflegerin für überflüssig, wenn +eine erwachsene Tochter im Hause weilt, und zweitens kann sie keine +Sympathien für Schwester Emmi<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> gewinnen. Sie ist mit ihrer stillen und +zielbewußten Tochter zufriedener, vermeidet es aber streng, sich davon +etwas anmerken zu lassen.</p> + +<p>Irmgard kann ihr eine gute Nachricht bringen: die Masseuse ist am +Nachmittag dagewesen, um zu sagen, daß der Arzt für den nächsten Morgen +die ersten Gehversuche erlaubt habe.</p> + +<p>Während die Mutter in ihrer Freude weinend und lachend das Kind an +ihr hageres Gesicht preßt und in sein erschrecktes Schreien mit +überschwenglichen Koseworten hineinredet, wird sie wieder die hilflose +und schwergeprüfte Kranke, der Irmgard sich von neuem verbunden fühlt. +—</p> + +<p>Als sich Frau Pohl — mehrere Wochen später — schon an Stöcken in der +Wohnung bewegen kann, öffnet sie eines Abends die Tür zum Zimmer ihrer +Tochter, um ihr einen Auftrag zu geben. Sie glaubt erst, daß sie nicht +im halbdämmrigen Raume sei. Doch da richtet sich Irmgard erschreckt vom +zerwühlten Bett auf und starrt ihr blaß und verweint entgegen.</p> + +<p>Es ist, als käme Frau Pohl in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß es +noch etwas anderes als ihre Krankheit und die Pflege des Knaben in der +Welt gibt. Sie läßt sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Einer ihrer +Stöcke fällt polternd zur Erde.</p> + +<p>Unwillkürlich erwartet sie, daß er ihr von der Tochter heraufgereicht +wird. Irmgard ist aber vorher hinausgerannt und hat das Haus verlassen. +Ohne Überlegung ergriff sie im<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Korridor Mantel und Hut. Sie eilt durch +den Vorgarten, über den Mühlenplatz und die Föhrbrücke zu den belebten +Straßen.</p> + +<p>Die Menschen gleiten wie Schatten an ihr vorbei. Sie erkennt ihre +Umrisse kaum. Aber sie schämt sich vor ihnen.</p> + +<p>Sie verachtet sich selbst, ihre Schwäche und innere Zerrissenheit. Aber +sie geht, wie oft in den letzten Tagen, den gleichen Weg. Den falschen +Weg zu Joachim Becker, anstatt von ihm fortzustreben.</p> + +<p>Der herbstliche, feuchte Wind kühlt ihre brennenden Augen. Die ersten +Nebel verdicken am Abend die Luft, die grau und schwer um die Häuser +schleicht.</p> + +<p>Irmgard steigt in eine Straßenbahn und fährt in die Vorstadt, zu +Joachim Beckers Haus. Wie vieles andere über ihren Chef, so hat +Schwester Emmi ihr auch seine Wohnung verraten. Und Irmgard Pohl, die +in ihrer Zurückhaltung alle kleinlichen Berichte über die Nebenmenschen +bisher von sich fernhielt, verstrickte sich immer tiefer. Sie +verschlang jeden Klatsch über den Hafendirektor, der von Herrn Gregor +über Frau Reiche zu Schwester Emmi gelangte.</p> + +<p>Und dann begann sie mit diesen abendlichen Fahrten.</p> + +<p>Sie steigt an der Endstation der Bahn aus und geht durch die +dunklen, breiten Straßen des Villenviertels. Es ist zur Zeit des +Geschäftsschlusses. Die Stille wird in kurzen Abständen von den +lichtschießenden Autos zerschnitten, durch deren Luftdruck das verwehte +braune Laub nach den Seiten<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> flieht wie Hühner auf der Dorfstraße. +Modriger Geruch steigt zuweilen aus den Gärten auf.</p> + +<p>Irmgard lehnt gegen rauhes Eisengitter und blickt zu dem Grundstück +hinüber: ein niedriges Landhaus ist tief in den Garten hineingebaut und +wird von alten Bäumen fast verdeckt.</p> + +<p>Sie wartet auf den Wagen. Joachim Becker wird aussteigen. Sie darf, +im Dunkel verborgen, die Umrisse seiner Gestalt, seine flinken, +elastischen Bewegungen erkennen und dann — unglücklicher als zuvor — +in die Trostlosigkeit ihres zerstörten Lebens zurückkehren.</p> + +<p>Sie unternahm diesen erniedrigenden Weg zum erstenmal, als sie sich +endlich entschlossen hatte, ihren Sohn nicht mehr zu lieben, sondern +als Eigentum der Mutter zu betrachten. Frau Pohl sollte nicht mehr +darüber schelten, daß sie die Pflege des Knaben der häuslichen Arbeit +vorzog, sie sollte ihr nicht mehr mit eifersüchtigen Blicken folgen, +wenn sie das Kind in den Armen hielt.</p> + +<p>Aber als die Arbeit sie gegen Abend entließ, überfielen sie die alten +Erinnerungen noch drängender, lebendiger. In Gedanken ging sie ihm +entgegen, stand wie heute vor seinem Haus, um ihm körperlich näher zu +sein.</p> + +<p>Der herbstliche Sturm, der ihr den Hut fast von den Haaren zieht, +erinnert sie wieder an ihre Spaziergänge mit Joachim Becker. Sie waren +damals barhäuptig am Abend bis zum alten Kanal gelaufen. Über die +feuchten Wiesen, am<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Wasser entlang, das an die Kaimauern klatschend +schwankte. Ganz oben, am Verbindungskanal, standen noch Bäume, die sich +im Sturm bogen und rauschten wie Meereswellen.</p> + +<p>In dieses Brausen und Feilen des Windes waren sie übermütig +hineingestapft. Sie lachten, riefen. Sie freuten sich, daß ihre Stimmen +ohne Kraft schienen, sosehr sie sich auch bemühten. Sie wateten mit +schleudernden Bewegungen im dickgeschichteten raschelnden Laub und +suchten herabgefallene Kastanien. Sie freuten sich an der glatten +sattbraunen Frucht im weißen Bett ihrer grüngehäuteten Hülle.</p> + +<p>Er warf die Kastanien in hohem Bogen zum Wasser hinüber. Sie stand +mit mütterlich mildem Lächeln daneben und freute sich seiner +weitausholenden, federnden Schwungkraft.</p> + +<p>Einmal hatte sie gesagt: »Es ist unbeschreiblich schön, dich nur in +meiner Nähe so gelöst und knabenhaft zu wissen. Wenn ich mir deine +strenge und energische Haltung im Bureau oder vor den Arbeitern +vorstelle, dann bin ich sehr stolz darüber, daß ich dich so verwandeln +kann.«</p> + +<p>»Aber ich habe es doch nicht verstanden,« sagt sie sich nun, »denn +sonst hätte er mich nicht verlassen können. Oder er müßte leiden wie +ich.« Da sie jetzt nichts mehr mit ihm gemeinsam hat, möchte sie durch +Qual und Einsamkeit mit ihm verbunden sein.</p> + +<p>Sie beginnt zu frösteln. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Während des +Wartens verliert sie vollkommen das Bewußtsein davon, wie gedemütigt +und erbärmlich sie hier steht.<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> Wenn sie ihn gesehen hatte, zuweilen +nur seinen Schatten — einmal trug der Wind den Klang seiner Stimme +herüber —, hatte sie sich leer und erniedrigt gefühlt.</p> + +<p>Ein schaler Geschmack bleibt von der erregenden Sehnsucht zurück. Sie +will umkehren, weil die Automobile immer wieder vorbeifahren, weil sie +keine Hoffnung mehr hat, ihn zu sehen. Und bleibt doch, bis endlich +das Verhalten eines Motors als vertrautes Geräusch herüberdringt. Sie +kann in schräger Linie hinüberblicken und verfolgen, wie Joachim Becker +aussteigt.</p> + +<p>Er trägt einen Koffer in der Hand — der Chauffeur holt einen größeren +und schweren von seinem Sitz herab — und dann beugt Joachim Becker +sich noch einmal zum Wagenschlag, und seine Frau steigt aus.</p> + +<p>Sie geht langsam, schwerfällig. Ihre kleine Gestalt ist ungefüge, und +er stützt sie mit der Behutsamkeit, die man an Kranke und Gebrechliche +wendet.</p> + +<p>Irmgard Pohl schließt die Augen und lehnt sich fast taumelnd gegen das +Gitter. Ihre Nerven sind so überreizt, daß sie lautlos mit verzerrtem +Gesicht vor sich hinlacht. Ja, wie konnte sie so vernarrt sein und noch +eine innere Gemeinschaft mit ihm suchen, der nun mit einer anderen Frau +glücklich ist. Mit dieser Frau, die ihm Kinder schenken wird, die seine +und ihre Züge tragen. Er wird diese Kinder lieben, in denen er sich +selbst wiederfindet, und er wird eine Episode vergessen, die auf dem +Wege zu seinem Aufstieg lag.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p> + +<p>Ist sie endlich aus ihrer Verwirrung erwacht? Sie entfernt sich rasch +von dieser Straße, mit dem Bewußtsein, sie nie wieder zu betreten.</p> + +<p>Sie legt den weiten Weg zu Fuß zurück und kommt müde, zerschlagen zu +Haus an. Ihre Augen brennen in den Höhlen und sind wie leer. Sie geht +sofort in ihr Zimmer. Und zum erstenmal seit Monaten fällt sie in einen +tiefen traumlosen Schlaf. —</p> + +<p>Frau Pohl liegt wach in den Kissen und lauscht. Sie ist wieder in ihrem +alten Eheschlafzimmer gebettet und legt sich schon am frühen Abend +nieder, weil die ungewohnte Bewegung sie noch allzusehr ermüdet. Aber +erst, wenn ihr Mann neben ihr liegt, wird sie ruhig und kann schlafen.</p> + +<p>Nun lauscht sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, sie glaubt, selbst +den zarten Hauch aus dem Kinderbett zu vernehmen, und sie könnte +einschlafen, weil ihr Haus wohlbestellt ist, denn auch Irmgards +Heimkehr war ihr nicht entgangen.</p> + +<p>Aber da ist etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie hat nach der +stummen Begegnung mit ihrer Tochter angefangen, in ihrem Gedächtnis zu +suchen.</p> + +<p>Man hat ihr gesagt, daß sie lange krank war und daß Lücken in ihre +Erinnerung gerissen sind. Sie kann ausrechnen, daß ihre Krankheit nur +wenige Monate währte, denn der Knabe ist nun ein halbes Jahr alt.</p> + +<p>Aber ihren verwirrten Gedanken drängen sich Bilder und Geräusche auf, +die unendlich lange zurückliegen, während die<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> jüngste Vergangenheit +spurlos verwischt ist. Immer wieder dröhnen in ihren Ohren die dunklen +Schläge jener Uhr, die ihr Vater zu Hause in unheimlichem Eifer +stimmte, damit sie dem reinen Klang der Kirchenglocken gleichen. Er +hatte sich in den Wahn verstiegen, daß seine Sünden erst dann von +ihm genommen würden, wenn auch der letzte unreine Ton aus der alten +Uhr verschwunden wäre. Sie hört sein halblautes Beten und seine +Selbstgespräche. Sie geht durch die Zimmer der alten Wohnung, sie +spricht mit dem Vater und bittet ihn, endlich aufzuhören, denn keine +Glocke könne heller schlagen als seine Uhr. Und kein Mensch könne das +länger mit anhören.</p> + +<p>Sie sieht seine glänzenden Fanatikeraugen so deutlich und irisierend, +als müßte er jetzt in das Zimmer treten und ächzend auf den Stuhl +steigen, um wiederum an der Uhr zu drehen und sie schlagen zu lassen. +Sie selbst aber ist nicht älter als Irmgard und geht zuweilen in ein +dunkles Zimmer, um aus ihrer Einsamkeit heraus zu weinen.</p> + +<p>Mächtiger und quälender schlagen die Töne in das Brausen ihrer Ohren. +Das Blut schießt brennend in ihren Kopf, und ihre Glieder erstarren +unter den dicken Federbetten.</p> + +<p>Endlich erträgt sie es nicht länger. Sie weckt ihren Mann. Verstört +wacht Michael Pohl auf. Er verdrängt alle Besorgnis aus seinem Blick, +während er sich zu ihr hinüberneigt und sie behutsam fragt.</p> + +<p>»Willst du Vaters Uhr forttragen, damit sie mich nicht länger quält?« +bittet sie ihn.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p> + +<p>Michael Pohl weiß nicht, welche Antwort er ihr geben soll, denn die Uhr +ist niemals in seinem Hause gewesen.</p> + +<p>»Die Uhr ist nicht hier«, sagt er schließlich. »Deine erregten Nerven +täuschen sie dir vor. Du bist noch zu anfällig nach der langen +Krankheit und wirst dich künftig nicht so überanstrengen.«</p> + +<p>»Ja, das sind die fixen Ideen, an denen der Vater zugrunde gegangen ist +und die ich dir nun als Erbe ins Haus gebracht habe. Jetzt hat es schon +unsere Tochter angesteckt. Sie sitzt im dunklen Zimmer und weint.«</p> + +<p>»Irmgard hat einen ganz gewöhnlichen Liebeskummer wie viele junge +Mädchen. Sie ist gesund und vernünftig und wird es überwinden. Aber +sieh: bei dir ist es anders. Du hast so viel Schweres erlebt, daß es +dich wieder überfallen muß, wenn du krank und schwach bist.«</p> + +<p>Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich nach dem +Kummer der Tochter näher zu erkundigen.</p> + +<p>»Aber in meiner Erinnerung ist ein Abgrund«, flüstert sie und versucht +sich aufzurichten. Er ist ihr behilflich und stützt sie durch +Kissenberge im Rücken.</p> + +<p>»Du kannst nur allmählich zurückfinden.« Er hält ihre Hände fest, die +unter seiner Wärme wieder ruhig werden. »Vor allen Dingen darfst du es +nicht erzwingen wollen, du mußt geduldig warten, bis alles von selbst +wiederkehrt.«</p> + +<p>»Ja«, erwidert sie gehorsam. »Nur das eine mußt du mir sagen: der Vater +ist tot?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p> + +<p>»Seit fünfundzwanzig Jahren!« bestätigt er.</p> + +<p>»Und daß mein Bruder bei seiner Bank die große Summe unterschlagen hat +und daß du alles bezahltest, das ist kein Traum?«</p> + +<p>Michael Pohl überlegt einen Augenblick und sagt schließlich lachend:</p> + +<p>»Was sind das für alte Sachen! Auch das ist fünfundzwanzig Jahre her.«</p> + +<p>»Siehst du, das habe ich gewußt. Das ist kein Traum gewesen. Ich habe +so viel Unglück über dich gebracht. Und nun bin ich krank und kann +nicht sparen und arbeiten, um dir alles wieder einzubringen.«</p> + +<p>Sie hat ihm damit zum erstenmal nach so viel Jahren eine Erklärung für +ihren Arbeitsfanatismus gegeben, der ihm so oft zur Last geworden war.</p> + +<p>Er setzt ihr auseinander, daß sie reich seien, sehr reich. Er zählt ihr +die Werte seiner Mühle und des Grundstücks auf. Ja, sie hätten mehr +Geld, als sie verbrauchen könnten. Und wenn sie wolle, so würde er hier +sofort alles verkaufen und sie in ein herrliches Schloß setzen, wie sie +es sich damals träumte, als sie beide noch jung waren.</p> + +<p>»Gott hat mich für meinen Hochmut bitter gestraft«, sagt sie abwehrend. +»Ich bin schuld daran, daß mein Bruder das getan hat. Ich habe ihn zu +sehr geliebt und verwöhnt und mit meinen Plänen vergiftet.«</p> + +<p>»Du warst nur wenige Jahre älter als er, und man<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> konnte von dir noch +nicht verlangen, daß du ihn allein erziehst, zumal du auch ohne Mutter +aufgewachsen warst. Er war nicht schlecht und hat seine leichtsinnige +Handlung bereut. Ich bin fest davon überzeugt, daß er drüben ein neues +Leben angefangen hat. Wir haben nur nichts mehr von ihm gehört, weil du +nicht wolltest, daß er uns schreibt.«</p> + +<p>»Nein,« sagt sie, »dein Leben sollte nicht noch einmal das eines +Verbrechers kreuzen.«</p> + +<p>Er fühlt wieder ihre unbeugsame Strenge und versucht, ihre Gedanken von +diesen Erinnerungen abzulenken.</p> + +<p>Allmählich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Er hält ihre Hand fest und +erkennt an dem sachte nachlassenden Druck ihr Versinken in den Schlaf.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="In_Erwartung">In Erwartung</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-a001" src="images/drop-a001.jpg" alt="A"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>ls im nächsten Frühjahr das erste Hafenbecken mit den langgestreckten, +niedrigen Lagerhallen fertiggestellt war und Waren aus aller Herren +Ländern eintrafen, um ausgeladen oder umgeladen zu werden, konnte man +wohl von der eigentlichen Eröffnung des Hafenbetriebs reden. Aber man +machte nicht viel Wesens davon.</p> + +<p>Joachim Becker fährt nach wie vor an jedem Morgen in den Hafen und +sieht nach dem Rechten, nicht nur bei den Bauten, sondern auch bei den +neuen Aufgaben des Hafens, bei der positiven Arbeit, auf die er lange +genug gewartet hat.</p> + +<p>Er stellt sich neben den Lademeister und sieht ihm schweigend eine +Weile zu, bis der Mann irre wird und einen Fehler begeht; dann hat +der Direktor Gelegenheit, zu zeigen, was er alles sieht und was er +versteht. Ja, man hat Respekt vor ihm, das muß man sagen, man läßt sich +durch seine Gegenwart unsicher machen. Und Joachim Becker findet, daß +so alles in Ordnung ist.</p> + +<p>Er geht auch zum Kontoristen in das kleine Bureau der Lagerhalle und +sagt gutgelaunt:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span></p> + +<p>»Na, bald werden Sie es nicht mehr allein schaffen, was? Wenn im +Verwaltungsgebäude die ersten beiden Stockwerke fertig sind, ziehen wir +dort ein. Dann können sie an den weiteren Etagen über unseren Köpfen +fortbauen.«</p> + +<p>»Ach,« meint der Beamte ehrfürchtig, »zieht dann die Direktion hier +ein?«</p> + +<p>»Die Direktion?« Joachim Becker lacht. »Nein, die Direktion bleibt, wo +sie ist. Aber hier werden wir eine Verwaltung einrichten müssen.«</p> + +<p>»Ja«, sagt Herr Karcher verständnisvoll, und es liegt ihm fern, zu +denken, daß er dann einen besseren Posten einnehmen könnte. Er hat +zwanzig Jahre die Papiere und Bücher in Lagergeschäften ordnungsgemäß +geführt, und er trägt ein Verzeichnis aller Waren und ihrer +unmöglichsten dialektischen und fremdländischen Bezeichnungen im Kopf. +Er kannte sich immer in seinen Dokumenten aus, und darauf ist er stolz. +Mehr verlangt er von seinem bescheidenen Leben nicht.</p> + +<p>Aber nun sieht er manchmal zum Gerüst des Verwaltungsgebäudes hinüber +und denkt mit Bestürzung: es wächst und wächst. Er ist mit dem jetzigen +Zustand so zufrieden und hätte bei Gott keine Veränderung gewünscht.</p> + +<p>Wenn er morgens mit seinem Handbuch zum Hafenbecken kommt, um die +Eingänge zu notieren, liegen die Kähne mit den dunklen schweren Leibern +in der Sonne. Kinder und<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> Hunde laufen auf dem Deck umher, und die +Schiffer ziehen ihre Mützen.</p> + +<p>»Guten Morgen, Herr Karcher,« sagen sie freundlich und zutraulich und +»Ja, das ist ein Frühlingstag«. Das sagen sie an jedem Frühlingstage.</p> + +<p>Und Herr Karcher meint, während er die schmalen Schultern wohlig +hochzieht und die Hände reibt: »Ja, das laß ich mir gefallen,« und »Ist +dort, wo Ihr gestern wart, auch schon der Frühling eingezogen?«</p> + +<p>Dann erzählen sie, wie der Frühling zehn oder zwanzig Meilen weiter +aussieht, und Herr Karcher hört andächtig zu, bis er plötzlich seiner +Kladde gedenkt und einzutragen beginnt.</p> + +<p>Dort drüben aber wächst das Verwaltungsgebäude mit jedem Tag, und dann +wird die Verwaltung einziehen und ein anderes Regiment führen. Herr +Karcher beginnt unter den Strahlen der Frühlingssonne zu frösteln, +und wenn die Fürsorgeschwester nicht im Hafen wäre, so könnte er der +Melancholie verfallen.</p> + +<p>Aber Schwester Emmi kommt in ihrem blaugestreiften Kleid auf zierlichen +Füßen daher wie ein Morgengruß und sagt in ihrer stets prächtigen Laune:</p> + +<p>»Uff! Das hätten wir getan!«</p> + +<p>»Guten Morgen«, pflegt Herr Karcher dann erst ermahnend zu sprechen. +»Was hätten wir getan?«</p> + +<p>»Guten Morgen«, ruft sie nachträglich, während sie sich<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> auf seine +Tischkante setzt. »Eben so unsere ersten Pflichten: eine Suppe auf +einen Kahn getragen und ein Kind angezogen und — na so weiter. Einen +Finger habe ich heute noch nicht verbunden.«</p> + +<p>»Aber hier ist eine Wunde zu heilen«, sagt Herr Gregor, der nun auch +auf der Bildfläche erscheint. Er hält ihr seine Wange hin, die einen +schmalen Riß sehen läßt.</p> + +<p>»Nein, Rasierschnitte unterliegen nicht der Fürsorge«, wendet sie ein, +und dabei gibt sie ihm einen kleinen Klaps auf die Schramme.</p> + +<p>»Finden Sie,« fragt sie Herrn Karcher, »daß es schön ist, wenn ein +Mann sein Gesicht pudert? Und wann, glauben Sie wohl, ist dieser +leichtsinnige junge Herr heute nacht heimgekommen?«</p> + +<p>»Sind Sie so gut unterrichtet?« fragt Herr Karcher, während Herr Gregor +geschmeichelt an seinen Nägeln putzt.</p> + +<p>»Jawohl,« erwidert sie, »denn ich kann es in meinem Zimmer deutlich +hören. Und auch Frau Reiche hat ihn kontrolliert. Er ist nämlich heute +nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Der Morgenwächter hat ihn +erst eingelassen.«</p> + +<p>»Aha! Daher die Informationen!« stellt Herr Gregor fest.</p> + +<p>»Und dieser Mann ist so naiv, Herrn Gregor für den tüchtigsten Beamten +des Hafens zu halten.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p> + +<p>Herr Gregor räuspert sich respektfordernd.</p> + +<p>»Er sagte nämlich: ›Herr Gregor hat heute um fünf Uhr schon den Hafen +inspiziert.‹«</p> + +<p>»Dieses Rhinozeros!« entfährt es dem jungen Mann, den man für würdig +hält, so lange Objekt der Unterhaltung zu sein.</p> + +<p>Aber da wird Herr Karcher plötzlich ernst und sagt: »Übrigens hat schon +jemand von der Direktion nach Ihnen gefragt.«</p> + +<p>»So — die haben auch nichts Wichtigeres zu tun!«</p> + +<p>Schwester Emmi macht ein sehr bestürztes Gesicht.</p> + +<p>»Wer hat nach ihm gefragt? War es der Direktor selbst?«</p> + +<p>»Nein, der Direktor ist seit gestern verreist. Er ist ins Ausland +gefahren«, sagt Herr Gregor.</p> + +<p>»Seine Sekretärin könnte es gewesen sein«, meint Herr Karcher.</p> + +<p>»So, diese Pute geht das gar nichts an, wann ich komme.«</p> + +<p>»Also eine Frauenstimme. Das ist nur gut«, sagt Schwester Emmi. Ihr +Gesicht hellt sich wieder auf. »Aber jetzt gehen Sie wohl, Herr Gregor?«</p> + +<p>»Wenn ich hier im Hafen mit meinen Arbeiten fertig bin, werde ich +gehen. Diese Herrschaften bilden sich wohl ein, daß ich nur der +Pünktlichkeitskontrolle wegen erst ins Stadtbureau fahre und dann für +die Hafenarbeiten extra wieder herkomme. Diese Bureaukraten —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p> + +<p>Er vollendet den Satz nicht, sondern steht an der Tür, um draußen +weiterzusprechen, in der Erwartung, daß Schwester Emmi ihm folgt. Aber +sie bleibt auf der Tischkante sitzen und blickt ihm bekümmert nach.</p> + +<p>»Ich dachte, Sie wollten auch an die Arbeit —« sagt er enttäuscht. +Sein langes Gesicht ist grau und übernächtig.</p> + +<p>»Oh, ich habe heute schon mancherlei getan, aber nun muß ich hier wegen +der Unterstützung der kranken Schifferfrau mit der Kasse telephonieren. +Sie soll nämlich in ein Krankenhaus.«</p> + +<p>»Ich glaubte, bei Frau Reiche wäre dafür auch ein Telephon.«</p> + +<p>»Ach ja, aber jetzt bin ich hier.«</p> + +<p>»Na, dann viel Vergnügen!« Herr Gregor schmettert wütend die Tür ins +Schloß und trottet allein am Kai entlang der Hafenwirtschaft zu. Dieser +Schürzenjäger kann keine zehn Schritte mehr ohne weibliche Begleitung +gehn, und er ist unzufrieden mit allem, was Röcke trägt.</p> + +<p>Schwester Emmi springt vom Schreibtisch herunter und lauscht angespannt +auf seine Schritte.</p> + +<p>»Warum sind Sie denn nicht mitgegangen?« fragt Herr Karcher, während er +sich wieder mit seinen Eintragungen in den Büchern beschäftigt.</p> + +<p>»Ach, weil ich nicht wollte.«</p> + +<p>Dann schlüpft sie zum Fenster und drückt sich die Nase<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> an den Scheiben +platt, um bis ans Ende des Hafenbeckens und bis zur Kantine zu sehen.</p> + +<p>»Und dann«, sagt sie nach einer ganzen Weile, nachdem Herr Gregor +endlich durch das Hauptportal verschwunden ist, »und dann will er immer +noch dieses und jenes erzählen und hält sich auf, und im Bureau warten +sie auf ihn. Meinen Sie wirklich, daß es nur die Sekretärin war? Wollte +sie etwas Bestimmtes von ihm?«</p> + +<p>»Es kann auch jemand von der Personalabteilung gewesen sein. Aber das +war sicher nur wegen der üblichen Kontrolle. Vielleicht wollte man auch +hören, ob ich auf meinem Posten sei.«</p> + +<p>»Nein, das wollte man sicher nicht. Sind Sie in Ihrem Leben schon +einmal zu spät gekommen, Herr Karcher?«</p> + +<p>»Ja, einmal in zwanzig Jahren.«</p> + +<p>»Aber da hat sicherlich ein schwerer Grund vorgelegen?«</p> + +<p>»Es war an dem Tage, da meine Frau starb.«</p> + +<p>»Ach. Und da sind Sie noch ins Bureau gegangen?«</p> + +<p>Herr Karcher sieht auf seinen Federhalter und sagt langsam: »Als ich +das Haus verließ, hat sie noch gelebt. Aber ich war sehr unruhig und +kam zurück und ging zur Nachbarin und dachte auf der Straße daran, daß +ich wieder etwas vergessen hatte, und da bin ich fünf Minuten zu spät +gekommen.«</p> + +<p>»Fünf Minuten? Ach, da hat sich doch niemand darüber aufgehalten?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span></p> + +<p>»Doch. Der Vorsteher wurde wütend und brummte: ›Da fängt der auch schon +an.‹ Er war knurrig und mochte mich gar nicht sehen, bis dann die +Nachbarin kam und sagte, daß meine Frau gestorben sei.«</p> + +<p>»Da hat er wohl eine Erklärung gehabt?«</p> + +<p>»Jedenfalls.«</p> + +<p>»Wie lange liegt das zurück, Herr Karcher?«</p> + +<p>»Zehn Jahre.«</p> + +<p>»Zehn Jahre. Und seitdem sind Sie immer allein? Ach, du lieber Gott, es +ist doch wirklich wahr, da fehlt wieder ein Knopf!«</p> + +<p>»Ja, ich habe ihn eingesteckt.«</p> + +<p>»Dann geben Sie ihn nur her, man wird sich doch so eines armen +Junggesellen annehmen müssen.« Sie zieht schon einen schwarzen Faden +und eine Nadel aus ihrer Schürzentasche.</p> + +<p>»Nein, so etwas! Was sind Sie für ein hilfreiches und praktisches +Menschenkind! Haben Sie das immer so zur Hand?«</p> + +<p>»Aber gewiß! Bei meinen Kindern auf den Kähnen und bei den vielen +Leuten hier im Hafen gibt es stets allerhand zu nähen. So, nun ist +der Schaden bald repariert. Und diese kleine Stelle wollen wir auch +gleich etwas zusammenziehen. — Wissen Sie, das ist das Herrliche an +meiner Arbeit hier, daß ich sie mir suchen darf. Nachdem der Direktor +mich damals engagiert hatte, bin ich zu ihm hingefahren und habe<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> ihn +gefragt, was ich denn nun zu tun hätte. ›Ja,‹ sagte er, ›das weiß +<em class="gesperrt">ich</em> doch nicht, das werden <em class="gesperrt">Sie</em> finden müssen. Im Hafen +sind viele Menschen bei der Arbeit, denen etwas passieren kann. Sie +können den Finger quetschen oder krank werden, und wenn einer besonders +schlecht aussieht, dann könnte so eine Frau wie Sie ihn vielleicht +fragen, was ihm fehlt.‹ Das hat er wirklich gesagt. Und dann meinte er +noch: ›Vergessen Sie nicht die Leute auf den Kähnen. Die Schiffer mit +ihren Familien sollen sich bei uns wohlfühlen. Sie müssen sich eben +immer vor Augen halten, daß Sie die Fürsorgestelle sind.‹ Und dabei +betonte er das Wort ›Fürsorge‹ so besonders. Unterwegs, in der Bahn, +mußte ich immerfort darüber nachdenken. Schließlich habe ich mir das +Wort in zwei Teile zerlegt, und da kam ich dahinter. ›Für Sorge‹ soll +ich da sein, für alle Sorgen, um sie zu vertreiben. Und daran will ich +mich eben immer halten.«</p> + +<p>»Vielleicht hat das Wort aber die Bedeutung von Vorsorge; also +vorsorgen, vorbeugen gewissermaßen sollen Sie«, meint Herr Karcher, +während er auf ihre flinken Finger sieht.</p> + +<p>Sie läßt die Nadel im Stoff stecken und macht ein sehr nachdenkliches +Gesicht.</p> + +<p>»Nun haben Sie mir alles umgeworfen, und ich kann wieder von neuem +anfangen, darüber zu grübeln. Sie mögen auch recht haben. Vorbeugen, +sehen Sie, das kann auch in seiner Absicht gewesen sein. Denn wie +der Direktor<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> mich draußen einmal traf, sagte er: ›Die Kinder der +Schiffer laufen hier zwischen den Bauten herum, es könnte ihnen etwas +passieren. Vielleicht haben Sie eine Beschäftigung für sie, Spiele oder +Handarbeiten, damit sie auf einem Platz gesammelt sind.‹ Ja, an was er +alles denkt. Damit also haben wir dem Unglück vorgebeugt.«</p> + +<p>Jetzt reißt sie den Faden ab und ist mit ihrer Arbeit fertig.</p> + +<p>»War das auch eine dienstliche Verrichtung?« fragt Herr Karcher +lächelnd.</p> + +<p>»Da müßte ich erst bei der Direktion anfragen.« Sie lacht schelmisch +und steckt das Nähzeug wieder in die Tasche. »Ja, nun will ich gehn.« +Sie nickt ihm kameradschaftlich zu und verschwindet hinter der Tür. +Das beabsichtigte Telephongespräch wird sie wohl doch bei Frau Reiche +führen.</p> + +<p>Herr Karcher ist wieder mit seinen Büchern allein und betrachtet den +festgenähten Knopf. Aber vor dem Fenster sieht er etwas Helles, und das +ist Schwester Emmis blaugestreiftes Kleid. Ihr wasserstoffblondes Haar +hat dunkle Flecken, weil sie es in seiner natürlichen Farbe nachwachsen +läßt. Herr Karcher findet das sehr schön. Plötzlich springt er hoch, +reißt beide Fensterflügel auf, daß die neue Ölfarbe kracht, und ruft +hinaus:</p> + +<p>»Ich habe ja den Dank vergessen!«</p> + +<p>Dann schlägt er das Fenster wieder zu und hat den Dank durchaus noch +nicht nachgeholt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p> + +<p>Schwester Emmi lacht und wehrt mit großen Armbewegungen ab. Dann geht +sie wieder ihres Weges, und Herr Karcher beugt sich über seine Bücher.</p> + +<p>So schön könnte es also auch weiterhin in seinem kleinen Kontor sein, +wenn nicht plötzlich eine neue Nachricht bombenartig hereingeplatzt +wäre.</p> + +<p>Wer es zuerst erzählt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls +ist ein jeder mit dem Gerücht beschäftigt, daß ein neuer Hafendirektor +einziehen soll.</p> + +<p>Und Joachim Becker? Er ist für die höhere Politik vorgesehen, +als Außenminister des Hafens gewissermaßen. Er übernimmt die +Generaldirektion in der Stadt und hat im Hafen seinen Direktor. +Ja, diese Hafengesellschaft, sie hat erst <em class="gesperrt">ein</em> Becken, +aber <em class="gesperrt">zwei</em> Direktoren, und davon ist der eine sogar ein +Generaldirektor und der andere ein richtiger Kapitän.</p> + +<p>»Ein Kap'tein?« fragt Schiffer Martens ungläubig.</p> + +<p>»Ja,« sagt Lagerverwalter Scholz, »das habe ich gehört, und aus einem +großen Seehafen soll er kommen.«</p> + +<p>»Düwel! Dann ist er auf den Riesenschiffens über den Großen Teich +gefahren. Dat is mien Mann!«</p> + +<p>Und er freut sich ordentlich auf seinen großen Kollegen.</p> + +<p>Auch der Bodenmeister Ulrich erwartet gern den neuen Mann. Nun würde +doch einer kommen, der seiner würdig wäre, einer, der auch die Welt +gesehen hat und nicht wie dieser hier immer mit der Nase in der Heimat +geblieben ist<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> und dabei doch klugschnacken will. Ja, Ulrich ist ein +weitgereister Mann. Er war für einen großen Spediteur in Saloniki +tätig, und in Rustschuk hat er einen Getreidespeicher mit Elevatoren +und allem modernen Kram bedient. Ach, sogar in Konstantinopel ist er +gewesen, und wenn er von den Harems erzählt, die er in seinem Leben +schon gesehen hat, dann sperren die anderen die Mäuler nur so auf.</p> + +<p>Aber daran liegt ihm wenig. Nun würde doch einer kommen, mit dem er +auch ein Wort in einer anderen Sprache reden könnte, denn so ein +Kapitän versteht natürlich alle Sprachen, zum Beispiel Französisch. +Und über das Technische könnte man sich mit ihm richtig fachmännisch +unterhalten, über Schiffsbecherwerke und Saugförderanlagen und Krane, +über die ganze Ausrüstung, die ein moderner Getreidespeicher heutzutage +braucht. Ulrich zweifelt keinen Augenblick daran, daß ein Mann, der in +der Welt herumgekommen ist, davon etwas versteht.</p> + +<p>Er sieht im Geiste den halbfertigen Getreidespeicher in seiner +vollkommenen Größe und mit allen maschinellen Anlagen ausgestattet. +Dann ist seine Zeit angebrochen, denn dafür ist er bestimmt, und +er wartet nur darauf. Nun aber kommt der Kapitän, der dafür sorgen +muß, daß der Bau beschleunigt wird, und daß es ein richtiger und +sehenswerter Hafen wird.</p> + +<p>So freut sich auch der Bodenmeister Ulrich auf den Kapitän.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p> + +<p>Aber da sind einige im Hafen, die ihm mit großer Sorge entgegensehen.</p> + +<p>»Brauchen wir schon einen Aufpasser hier im Hafen?« fragt Frau Reiche +ihren Mann. »Ich meine, es ist doch bisher ganz gut so gegangen.«</p> + +<p>»Wenn die Direktion es für richtig hält, so mag es schon stimmen«, +meint der ehemalige Bäckermeister und jetzige Kantinenwirt. Sein +blasses, aufgeschwemmtes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen +und dem roten Schnurrbart ist in letzter Zeit etwas eingefallen, denn +er hat es nun mit Selterwasser und Milch versucht, und das ist nicht +das richtige Getränk für einen Mann, der zu vergessen hat, daß er das +beste Brot im ganzen Stadtviertel backen konnte, und der nun hinter dem +Schanktisch stehen muß, weil es die Frau so will.</p> + +<p>»Mag es schon stimmen,« macht sie ihm mit verzogenem Mund nach, »mag es +schon stimmen! Du bist auch so einer, der alles für richtig findet, was +die Obrigkeit anordnet, ohne einmal selber darüber nachzudenken. Ich +bin der Ansicht, wir brauchen noch keinen Kapitän. Dazu sind wir hier +noch viel zu klein. Aber der Direktor Becker weiß nicht mehr, wo er +hinaus soll mit seinen hohen Plänen, und wenn man ihn sprechen will, so +hat er keine Zeit.«</p> + +<p>»Das ist auch richtig so. Unsereins hat in seinem Bureau nichts zu +suchen. Was er uns zu sagen hat, läßt er uns schon durch Herrn Gregor +bestellen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p> + +<p>»Na, und ist es nicht immer sehr gut gegangen mit Herrn Gregor?« fragt +sie triumphierend. »Brauchen wir einen neuen Mann? Warum können sie +denn dem Herrn Gregor nicht den Posten geben?«</p> + +<p>»Dafür werden sie schon ihre Gründe haben«, sagt ihr Mann und verläßt +den Raum.</p> + +<p>»Esel«, ruft sie ihm wütend nach. Nein, sie ist gar nicht zufrieden mit +dem angekündigten neuen Mann.</p> + +<p>Und darin stimmt ihr selbst Herr Gregor zu, der in den letzten Monaten +nicht immer ihre Ansichten teilte, und der recht schwer zu lenken war.</p> + +<p>»Das wird hier ja recht gemütlich werden«, sagt er zu Herrn Karcher, +der über seinen Büchern sitzt und alle Prophezeiungen vom neuen Mann +über sich ergehen läßt.</p> + +<p>»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragt Herr Karcher.</p> + +<p>»Nein, den hat noch niemand gesehen. Der Becker hat ihn auf seiner +Reise getroffen, er soll von den Reedereien empfohlen sein.«</p> + +<p>»Von den Seehafenreedereien?« fragt Herr Karcher, als wüßte er, daß +diese Empfehlung dann etwas zu bedeuten habe.</p> + +<p>»Jedenfalls von den Seehafenreedereien, denn der Kommerzienrat und der +Becker haben dauernd in den Seehäfen Besprechungen gehabt.«</p> + +<p>›Was bist du doch für ein kurzsichtiger Mann‹, apostrophiert Herr +Karcher sich selbst mit Beschämung. ›Da denkst<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> du, es könnte alles +so bleiben, wie es ist: mit einem halbstündigen Morgenbesuch des +Direktors, mit Herrn Gregor und Schwester Emmi. Doch mit dem Kapitän +und den Reedereien wird es schon seine besondere Bewandtnis haben. In +<em class="gesperrt">die</em> Pläne siehst du nicht hinein, aber für die Weiterentwicklung +des Hafens und für dieses ganze Riesenprojekt werden sie schon +ungeheuer viel bedeuten. Wenn es nach dir ginge, könnte man die ganzen +in den Hafen gesteckten Millionen in den Schornstein schreiben‹. Er ist +bereit, sich den Beschlüssen der obersten Leitung ohne Kritik zu fügen.</p> + +<p>»Der wird schon der rechte schneidige Mann sein«, setzt Herr Gregor +seinen Gedankengang fort. »Da der Becker ihn ausgesucht hat, ist er +sicher einer von seinem Kaliber: hochmütig, scharf und kurz angebunden.«</p> + +<p>Herr Karcher schweigt.</p> + +<p>»Aber es mag auch sein,« überlegt Herr Gregor weiter, »daß er das +Gegenteil davon ist: ein Duckmäuser. Denn man kann vermuten, daß der +Becker nicht einen von seiner Art neben sich duldet, das gäbe ja eine +unliebsame Konkurrenz. Und wenn man der Schwiegersohn ist, darf man +sich schon einen persönlichen Geschmack leisten.«</p> + +<p>»Ja, Herr Gregor,« meint der andere, während er, über den eigenen +Mut errötend, auf seinen Federhalter starrt, »Sie sind wie der +Kammerdiener, der seinen Herrn in Unterhosen sieht. Sie wollen +nicht die Größe an ihm erkennen, weil Sie ihn zu sehr aus der Nähe +betrachten.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p> + +<p>Herr Gregor starrt den kleinen Mann verblüfft an. Er begreift den +Sinn seiner Worte erst allmählich, sie waren aus diesem Munde gar zu +überraschend gekommen. Nun möchte er sich am liebsten in Positur setzen +und solche Bemerkungen aufs strengste untersagen, aber er überlegt, daß +er jetzt einige Freunde im Hafen sehr nötig gebrauchen wird, da der +Feind im Anrücken ist. Denn nur so und nicht anders kann er den Kapitän +betrachten.</p> + +<p>»Auf jeden Fall,« schließt er seine Erwägungen, ohne der unpassenden +Äußerung Beachtung zu schenken, »auf jeden Fall haben wir dann einen +Schnüffler mehr.«</p> + +<p>Auch Schwester Emmi fürchtet sich ein wenig vor dem neuen Mann. +Zuallererst denkt sie daran, wie dann dem armen Herrn Gregor zugesetzt +würde, der nun, nach der Rückkehr Joachim Beckers, zwar pünktlicher +geworden ist, aber doch jede Kontrolle haßt. Ja, er ist ein freier +Mann, ein Herrenmensch, aber man erkennt nicht seine besondere Art an, +und darum grollt die kleine Schwester dem Direktor, so sehr sie ihn +auch sonst zu schätzen gezwungen ist.</p> + +<p>Und wie würde es bei dem neuen Kapitän um ihre eigene Tätigkeit +bestellt sein? Ob es dann auch heißen würde: die Arbeit müssen Sie +selbst finden? Ach, sie hat soviel gefunden, und bis zum späten Abend +ist sie auf den Beinen.</p> + +<p>Im Winter hat sie ganz allein dafür gesorgt, daß die Schifferkinder vom +Winterlager auch die Schule besuchten<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> und für das im Sommer versäumte +Pensum Nachhilfen erhielten. Ihr ist es zu verdanken, daß vom entfernt +gelegenen Südbecken, in dem wegen der Sprengungen die meisten Gefahren +für die Arbeiter lauern, eine direkte Telephonleitung in ihre kleine +Wohnung gelegt wurde, damit sie bei Unfällen sofort gerufen werden +kann. Sie ist immer schnell zur Hand gewesen und hat manchem die erste +Hilfe geleistet. Selbst auf das Gelände der Verhüttungsgesellschaft, +die im kleinen mit der Förderung der Erze begonnen hat, war sie schon +geholt worden, und sie ist eher erschienen als der Arzt von der +Rettungsstation, der ihren fachmännischen Verband rühmte.</p> + +<p>Jetzt hat sie den Bauarbeitern sagen lassen, wer schwächliche Kinder +habe, solle es melden, sie werde für eine Unterbringung in den +Ferienkolonien sorgen, denn sie hat die Unterstützung der Stadt. Für +einige Kinder des Hafenpersonals aber, das immer eine bevorzugte +Stellung einnimmt, weil es doch die eigentlichen Angehörigen des Hafens +sind, hat sie bei einem Dorfschullehrer in ihrer Heimat einen schönen +Ferienaufenthalt gesichert. Joachim Becker setzte ihr einen bestimmten +Betrag dafür aus, als sie ihm zaghaft den Vorschlag machte, und sie hat +lange gerechnet und überlegt und das Geld gut verteilt. Das Lob des +Direktors, der mit seinen kühlen grauen Augen immer kurz in ihr Gesicht +blickt, wenn sie von ihren Plänen spricht, ließ sie erröten. Sehr +aufgeregt und ängstlich ist sie stets in das Stadtbureau gefahren,<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> +wenn sie ein besonderes Anliegen hatte, aber auf dem Heimweg war sie +immer von großem Stolz und Glück erfüllt.</p> + +<p>Wenn sie sich um Herrn Gregors leibliches und seelisches Wohl ein wenig +besorgt zeigt und ihm zuweilen abends noch einige Blumen ins Zimmer +trägt, auch wenn er nicht zu Hause ist — und er ist abends oft nicht +da —, so erfüllt sie doch menschliche Pflichten an ihrem nächsten +Nachbarn, denn sie wohnen im Gebäude der Hafenwirtschaft Tür an Tür. +Sie sucht ihn auf diese Weise ans Haus zu fesseln, damit er am nächsten +Tage seinen Aufgaben für die Hafengesellschaft um so besser nachkomme, +und wenn sie ihn auch einmal begleitet, so geschieht das nur, weil +sie ihn vor schlechter Gesellschaft bewahren will. Ist das nicht eine +Motivierung, die sich auch vor dem neuen Kapitän sehen lassen kann?</p> + +<p>Und daß Frau Reiche, die Kantinenwirtin, die in der ersten Zeit ihre +Freundin war, sich nun als Feindin entpuppte, verdankt sie nur ihren +Bemühungen, Herrn Gregor dem verderblichen Einfluß zu entziehen! Doch +das ist ein Kapitel für sich.</p> + +<p>Sie ist nicht im reinen darüber, ob der neue Mann etwas Gutes oder +Böses in ihr Leben hineinbringen werde, und weil sie weder mit Herrn +Gregor noch mit Frau Reiche, die ihn beide als den Feind betrachten, +in Ruhe darüber sprechen kann, und weil auch Herr Karcher nur von +Respektsgefühlen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> erfüllt ist, ohne sich eine eigene Meinung zu +erlauben, hat sie das Bedürfnis, zur Mühle hinüberzugehen, um mit +Irmgard Pohl zu plaudern oder gar einige Worte von Herrn Pohl selbst zu +hören.</p> + +<p>Seitdem sie in den Hafen übergesiedelt ist, hat es sie oft zur Mühle +hingezogen, und sie ist das verbindende Element zwischen Hafen und +Mühle, obgleich Rechtsanwalt Bernhard seinen Prozeß in der ersten +Instanz verloren hat und an die Einsicht eines höheren Gerichtshofes +appelliert.</p> + +<p>Irmgard sitzt auf der Bank vor dem Hause und zeigt dem kleinen Michael +die Blumenpracht des Gartens. Sie spricht mit dem Knaben, der eben +ein Jahr alt geworden ist, wie mit einem Erwachsenen und bekommt ein +lustiges Krähen und Jauchzen zur Antwort.</p> + +<p>›Wie langsam entwickelt sich so ein Menschenleben,‹ denkt sie, während +sie das Kind im Arm hält, ›und wie schnell wachsen die menschlichen +Werke!‹ Sie blickt zum Hafen hinüber: dort hat der Getreidespeicher +sein drittes Stockwerk wieder erreicht, im Hafenbecken liegen die +Flußschiffe in zwei Reihen, und die Kräne recken vor den Lagerhallen +ihre schwarzen Arme in die Höhe.</p> + +<p>Das ist etwas Fertiges in sich, etwas Hochgewachsenes und vollkommen +Ausgestattetes, an dem nichts mehr zu verbessern scheint, aber ein +Mensch ist in der gleichen Zeit nur einige Zentimeter gewachsen, er hat +kaum sprechen und gehen gelernt, und wenn er schließlich zweiundzwanzig +Jahre alt ist<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> wie Irmgard Pohl, dann glaubt er wieder am Anfang zu +stehen und beginnt erst an seiner Inneneinrichtung zu bauen.</p> + +<p>Sie wird in ihren Gedankengängen von Schwester Emmi unterbrochen, die +den Knaben mit entzückten Lauten begrüßt.</p> + +<p>»Nein, wie er wieder gewachsen ist!« ruft sie einmal über das andere, +»und was für ein reizender und gesunder Kerl!«</p> + +<p>Sie setzt sich auf den schöngepflegten Rasen und nimmt das Kind in +ihren Schoß. Während sie mit dem Kleinen spielt, erzählt sie vom +erwarteten neuen Mann im Hafen. Dabei lacht sie und neckt den Knaben. +So einen lustigen Kameraden hat er nicht alle Tage, und er weiß die +Minuten mit genießerischer Freude auszukosten.</p> + +<p>Frau Pohl tritt, von dem Lärm angezogen, vor die Tür und sieht +mißbilligend auf die Zerstörung ihres Gartens, denn nach ihrer +Auffassung ist die grüne Rasenfläche nur für den Anblick bestimmt. Sie +kann sich seit einigen Wochen schon ohne Stock bewegen.</p> + +<p>Schwester Emmi will aufstehen, um sie zu begrüßen, denn sie hat sehr +viel Respekt vor der hochgewachsenen Frau mit den harten Gesichtszügen, +die ihr immer noch als Wesen einer anderen Welt erscheint. Ihre +unbewußte Abneigung gegen die Wiederauferstandene sucht sie durch eine +besonders erzwungene Freundlichkeit und Aufgeräumtheit zu verbergen.<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> +Aber nun kann sie ihr nicht einmal entgegengehen, denn der kleine +Tyrann will seinen Platz nicht aufgeben und beginnt zu schreien, sobald +sie sich erheben will.</p> + +<p>So ruft sie einen lauten Gruß hinüber und lacht. Frau Pohl nickt kaum +merklich und sagt zu ihrer Tochter:</p> + +<p>»Ich wollte dich zum Kaffee rufen, du benachrichtigst wohl den Vater?« +Sie hat keine Einladung für den Gast.</p> + +<p>»Ja, gern«, sagt Irmgard freundlich. »Schwester Emmi wird uns +Gesellschaft leisten. Wir wollen doch noch ein wenig plaudern.«</p> + +<p>»Soll ich zu Herrn Pohl hinüberspringen?« fragt die Schwester, die gern +aus dem Gesichtskreis der unfreundlichen Frau verschwinden möchte.</p> + +<p>»Ach ja,« sagt Irmgard, »das ist lieb von Ihnen«, und sie nimmt ihr +den Knaben ab, der sich über die Folgen der Veränderung noch nicht +schlüssig ist und schweigt.</p> + +<p>»Gib mir den Jungen«, sagt Frau Pohl rasch, und sie geht mit dem +schreienden Kind ins Haus.</p> + +<p>»Aber kommen Sie auch zurück!« ruft Irmgard der Schwester nach. Sie +kennt den ersten Eindruck, den Fremde von der Mutter gern schnell +wieder davontragen.</p> + +<p>Schwester Emmi winkt ihr beruhigend zu und verschwindet im Kontor der +Mühle.</p> + +<p>»Ei sieh da!« ruft der Mühlenbesitzer aus, als sie nach zaghaftem +Klopfen in sein Zimmer tritt. »Kehrt unsere Schwester reumütig zurück?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p> + +<p>»Ach ja,« sagt sie, auf den Scherz eingehend, »und nun will ich Sie zum +Kaffee abholen.«</p> + +<p>Er erhebt sich und geht ihr entgegen.</p> + +<p>»Da soll ich wohl gleich mitkommen?«</p> + +<p>»Sofort, wie ein Verhafteter!«</p> + +<p>Er nimmt seine Mütze vom Haken und öffnet der Schwester die Tür.</p> + +<p>Schwester Emmi will den kurzen Weg rasch für eine Aussprache nutzen und +beginnt zu plaudern.</p> + +<p>»Wissen Sie, Herr Pohl, Ihr Vorschlag neulich mit der kleinen +Apotheke im Schuppen am Südbecken war wirklich sehr gut. Die +Verhüttungsgesellschaft hat sich daran beteiligt, weil sie es doch so +weit bis zur nächsten Hilfsstelle hat und noch gar keine richtigen +Gebäude besitzt. Nun ist das für alle eine sehr große Erleichterung, +denn gerade dort passiert doch mal dieses und jenes.«</p> + +<p>»So. Findet denn die Verhüttungsgesellschaft da drüben schon Erze?«</p> + +<p>»Ja, das muß man annehmen. Aber was meinen Sie, Herr Pohl,« schießt sie +nun auf ihr Ziel zu, »was wird das wohl für ein Mensch sein, dieser +neue Kapitän, den wir jetzt bekommen sollen?«</p> + +<p>»Bekommt ihr einen Kapitän?«</p> + +<p>»Ja, einen neuen Hafendirektor, der bei uns wohnen soll und auch sein +Bureau im Hafen haben wird. Das Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude haben +sie schon dafür<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> eingerichtet, jetzt arbeiten sie an der Wohnung im +ersten Stock.«</p> + +<p>»So. Was soll denn nun der andere Direktor?«</p> + +<p>»Der wird Generaldirektor im Stadtbureau. Aber was meinen Sie, wie kann +das werden mit so einem Kapitän im Hafen?«</p> + +<p>»Hm, da müßte man den Mann schon gesehen haben.«</p> + +<p>Ach ja, da hatte er recht, was sollte man jetzt schon sagen können? +Sie stellt auch gar zu törichte Fragen an diesen reifen und erfahrenen +Mann. Aber er hört sie geduldig an und gibt sogar eine Antwort darauf.</p> + +<p>Sie sind im Haus angelangt, und Schwester Emmi hätte sich auf den +Kaffee am schönen runden Tisch sicherlich sehr gefreut, wenn noch alles +so wie damals gewesen wäre, als Frau Pohl »oben« lag und am Leben der +Gegenwart keinen Anteil nahm.</p> + +<p>Nun sind über das Sofa und den Lehnstuhl am Fenster die alten +Häkeldecken gebreitet, die Irmgard damals entfernt hatte, Nippes, +Tischchen und anderer kleiner Hausrat hat das Zimmer so gefüllt, daß +man sich nicht zu rühren wagt.</p> + +<p>Schwester Emmi fühlt sich sehr unbehaglich. Sie beobachtet verstohlen +die beiden Frauen und stellt fest, daß Irmgard die Züge und die hohe +schmale Figur der Mutter hat. Aber was bei der alten Frau, die eine +Greisin scheint, obgleich sie noch nicht fünfzig Jahre zählt, hart<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> und +streng gebildet ist, wirkt bei Irmgard weich und ausgeglichen.</p> + +<p>›Was hat sie doch jetzt für ein liebes freundliches Gesicht‹, denkt +die Schwester, wenn sie Irmgard Pohl betrachtet, die nun wieder ganz +verjüngt wirkt. Sie empfindet den Kontrast neben der schweigsamen +Frau wohltuend und erwärmend. Die schönen goldbraunen Augen Irmgards +streifen besorgt ihre Mutter und bleiben mit großer Zärtlichkeit am +Gesicht des Vaters haften.</p> + +<p>Die Unterhaltung bewegt sich fast nur zwischen Irmgard und der +Schwester. Sie sprechen von den Eigenheiten und drolligen Bemerkungen +des kleinen Michael. Während der Mahlzeiten muß er im Schlafzimmer +bleiben, denn Frau Pohl ist nicht für Unruhe und Unregelmäßigkeiten bei +Tisch.</p> + +<p>Dann unterhalten sie sich von den Aufgaben der Fürsorgestelle. Herr +Pohl erkundigt sich nach den Ferienkindern und lobt Schwester Emmis +Eifer und Erfolge. Sie ist sehr stolz darüber.</p> + +<p>Frau Pohl vertritt die Ansicht, daß solche Fürsorge für die +verwahrlosten Kinder der Arbeiter, die es gar nicht besser haben +wollen, übertrieben sei, und sieht Schwester Emmi mißbilligend an.</p> + +<p>Die Schwester blickt auf Vater und Tochter, aber weil beide +rücksichtsvoll schweigen, entgegnet sie nur, daß »ihre« Leute Ausnahmen +seien. Dann verabschiedet sie sich bald, weil ihre Pflichten warten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p> + +<p>Irmgard nimmt ihr das Versprechen ab, wiederzukommen, aber Frau Pohl +sagt zu ihrer Tochter, als Schwester Emmi gegangen ist:</p> + +<p>»Diese Person scheint nicht der geeignete Umgang für dich. Sie +macht einen leichtsinnigen Eindruck und kann dich nicht zum Guten +beeinflussen.«</p> + +<p>»Ach, Mutter,« sagt Irmgard, »hast du so wenig Vertrauen zu mir? Aber +wenn du wegen meines Umganges besorgt bist, will ich mich am besten an +den Vater halten. — Nimmst du mich mit?« fragt sie den Mühlenbesitzer, +der sich erhoben hat, um wieder in sein Kontor zu gehen.</p> + +<p>»Ich dachte, du deckst hier den Tisch ab«, sagt Frau Pohl.</p> + +<p>»Sie kann mir im Kontor bei den schriftlichen Arbeiten helfen«, meint +Herr Pohl einlenkend.</p> + +<p>Irmgard ist ihm so dankbar für diese Worte, daß sie um seinetwillen +rasch in die Küche läuft und das Hausmädchen holt, damit es der Mutter +bei der Arbeit hilft.</p> + +<p>Im Vorgarten hat sie den Vater bereits wieder eingeholt. Sie hängt sich +in seinen Arm und fragt ihn:</p> + +<p>»Könntest du mich nicht in deinem Bureau einstellen? Ich will auch gern +noch einen Handelskursus mitmachen.«</p> + +<p>Da bleibt er stehen und sieht ihr in das erwartungsvolle Gesicht:</p> + +<p>»Siehst du, das habe ich auch gedacht!«</p> + +<p>Und wie zwei gute Kameraden gehen sie Arm in Arm weiter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p> + +<p>Irmgard läßt sich in seinem Privatkontor auf das alte schwarze +Ledersofa fallen, das sie schon als Kind zu stillen Träumereien +aufgenommen hatte, während der Vater an seinem Schreibtisch arbeitete +oder die Zeitung las.</p> + +<p>In diesem Raum hat sich der Mühlenbesitzer von jeher am wohlsten +gefühlt, denn drüben im Wohnhaus fand er keine Harmonie. Dort wird +wieder von morgens bis abends nach einem unerschütterlichen, strengen +Arbeitsplan gefegt, gewaschen, genäht, und keine Hand darf ruhn. Wie +soll da die Seele Einkehr halten und ein Herz das andere finden? Aber +er hat es aufgegeben, ein Prediger in der Wüste zu sein.</p> + +<p>Michael Pohl dreht sich auf seinem Arbeitssessel um und blickt zu +seiner Tochter hinüber, die mit verschränkten Armen lächelnd vor sich +hinträumt.</p> + +<p>»Was meinst du,« fragt er, »wie sollte man sich in einem solchen Fall +verhalten?« Und er liest ihr einen Geschäftsbrief vor.</p> + +<p>Es ist nicht das erstemal, daß er sie um einen Rat fragt, und seht an: +so eine Frau findet manchmal den besseren Weg und scheint klüger als +zwei Männer zusammen.</p> + +<p>»Ja, so könnte man es machen«, sagt er befriedigt. Er dreht sich wieder +um und überläßt sie weiter ihren Grübeleien.</p> + +<p>Sie denkt, wie es wohl mit einem Generaldirektor und einem Kapitän im +unfertigen Hafen gehen würde, und sie<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> versucht, sich ein Bild von +diesem Kapitän zu machen, der Joachim Becker zur Seite gestellt wird.</p> + +<p>Darin aber stimmt sie mit allen überein, die den neuen Mann als Freund +oder Feind erwarten: Ein richtiger Kapitän muß es sein, groß, mit +wiegendem Gang und breiten Schultern, mit hellen blauen Augen und in +einem dunkelblauen Anzug.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Kapitaen">Der Kapitän</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-a002" src="images/drop-a002.jpg" alt="A"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>m Nachmittag vor dem 1. August, dem Tage, der für den Einzug +des Kapitäns bestimmt ist, werden einige Möbel und Kisten am +Verwaltungsgebäude abgeladen. Wer gerade vorbeikommt, wirft einen Blick +darauf, und es sind nicht wenige, die zufällig diesen Weg nehmen.</p> + +<p>Der größere Teil dieses Hauses ist noch von Gerüsten umgeben, aber +der linke Seitenflügel wird bereits überdacht, während der turmartige +Mittelbau und der rechte Flügel noch nicht die vierte Etage erreichen.</p> + +<p>Der fast fertige linke Teil hat einen besonderen Eingang an der Seite +erhalten, direkt gegenüber der Hafenwirtschaft. Hier steht der Wagen, +und Frau Reiche kann von ihrem Fenster aus jedes einzelne Stück +betrachten.</p> + +<p>»Es sind alles sehr einfache und alte Sachen«, sagt sie zu ihrem +Küchenmädchen. Sie beobachtet den kleinen dunklen Herrn, der mit +einem Verzeichnis in der Hand das Ausladen der Möbel verfolgt und mit +gespreizten Schritten hinaufrennt, um die Aufstellung zu überwachen.</p> + +<p>Der leere Möbelwagen fährt davon; der kleine Herr schließt die Wohnung +ab und geht auch hinaus, ohne in der<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> Hafenwirtschaft eingekehrt zu +sein, Frau Reiche ist sehr enttäuscht; sie hätte durch ihn gern einiges +über den Kapitän erfahren.</p> + +<p>Nach der Ablösung bestellt der Tageswächter eine Flasche Malzbier bei +Frau Reiche.</p> + +<p>Ehe er die Flasche ansetzt, um sie in einem Zuge auszutrinken, sagt er:</p> + +<p>»Na, Frau Reiche, haben Sie den Kapitän gesehen?«</p> + +<p>»Den Kapitän?« fragt sie erstaunt. »Nein, ist er hier gewesen?« Sie +kann es gar nicht erwarten, daß die Flasche leer wird und der Mann +weiterberichtet.</p> + +<p>»Er hat doch hier vor der Tür gestanden beim Ausladen der Möbel.«</p> + +<p>»Der Möbel?« fragt sie ungläubig. »Sie meinen doch nicht den kleinen +Mann mit der Liste?«</p> + +<p>»Ob er eine Liste hatte, weiß ich nicht. Aber so ein kleiner dunkler +Herr ist es gewesen.«</p> + +<p>»Nein, mein Lieber«, sagt sie entschieden. »Ein Kapitän ist das nicht +gewesen.«</p> + +<p>»Aber er hat sich ausgewiesen. ›Kapitän v. Hollmann‹ hat auf der Karte +gestanden, vom Direktor Becker unterschrieben.«</p> + +<p>»Dann war es eben ein Beauftragter von ihm«, stellt sie fest, nun ganz +sicher geworden.</p> + +<p>»Na, das mag ja sein, aber wenn's richtig wäre, dürfte nur der Kapitän +selber die Karte haben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p> + +<p>Wie leicht läßt sich der Mann von der Ansicht einer Frau, die etwas mit +Bestimmtheit zu sagen versteht, überzeugen! Der Wächter geht nun mit +der sicheren Meinung nach Haus, daß der Kapitän doch blaue Augen und +einen blauen Anzug hat.</p> + +<p>Aber Herr Gregor muß am Abend bestätigen, daß der Kapitän ein kleiner +Herr mit steifen Beinen in einem grauen Anzug ist. Ja, ein schmales +brünettes Gesicht hat er und dunkle Haare auch, darin stimmt er in der +Beschreibung mit Frau Reiche überein, denn Herr Gregor sah ihn heute +früh im Stadtbureau.</p> + +<p>»Das will ein Kapitän sein«, ruft Frau Reiche ein paarmal aus, und sie +holt sogar ihren Mann herbei, um ihm zu berichten, daß sie als erste +den Kapitän gesehen hat. So aufgeräumt und lustig ist sie lange nicht +gewesen wie an diesem Abend. Immer wieder deckt sie komische Seiten +dieses Mannes auf, der mit einer Liste in der Hand hinter seinen Möbeln +hergerannt war, und der ein Kapitän sein soll.</p> + +<p>Sie wird vor Freude darüber so unvorsichtig, daß sie in Gegenwart ihres +Mannes Herrn Gregor auf die Schulter schlägt und mit einem zärtlichen +Blick ihrer feuchten Augen versichert:</p> + +<p>»Na, dann habe ich keine Sorge mehr!« Mit dem Kapitän wollte sie fertig +werden!</p> + +<p>Herr Gregor hat einen Zettel mitgebracht, der am Wächterhaus befestigt +wird. Darauf steht zu lesen, daß alle abkömmlichen<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> Hafenbeamten +und -arbeiter sowie die Herren Bauleiter zu einer Besprechung am 1. +August um 11 Uhr vormittags von Generaldirektor Becker in den großen +Kantinenraum gebeten werden.</p> + +<p>Wer seinen Platz verlassen kann, erscheint am nächsten Tage pünktlich +und guckt sich den neuen Hafendirektor an. Der junge Generaldirektor +stellt ihn mit einer kurzen Rede vor.</p> + +<p>»Jeder, der Wünsche und Beschwerden hat, wird gebeten, sich an die +Hafendirektion zu wenden. Die oberste Leitung bleibt nach wie vor bei +der Generaldirektion in der Stadt.« Das sind seine letzten Worte.</p> + +<p>Auch der Kapitän spricht — mit einer zerbrochenen Stimme, als kämpfe +er gegen einen heftigen Sturm — einiges zur eigenen Einführung. Er +hoffe und wolle und so weiter. Es ist nichts von Belang; die schweigend +abziehende Versammlung hat jedenfalls Neues daraus nicht entnommen.</p> + +<p>Vor der Tür verweilen sie noch einen Augenblick und sehen einander an.</p> + +<p>»Tja«, sagt wohl der eine oder andere.</p> + +<p>»Nun, wir wollen erst einmal abwarten!« Damit scheint zunächst die Ruhe +und Ordnung im Hafen wiederhergestellt.</p> + +<p>Joachim Becker ist dann mit dem Kapitän ins Verwaltungsgebäude +hinübergegangen, sie sind durch die leeren Bureauräume des +Erdgeschosses gewandert, die der Kapitän<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> nun allmählich mit seinem +Personal beleben soll. An der Treppe zum oberen Stockwerk sagt der +Generaldirektor:</p> + +<p>»Meine Frau kommt also heute nachmittag, um Ihnen in der Einrichtungs- +und Bedienungsfrage ein wenig zu raten. Sie wollte es sich nicht nehmen +lassen.«</p> + +<p>»Das ist sehr liebenswürdig,« sagt der Kapitän, »das ist ganz reizend«, +und er reibt seine trocknen Hände, daß es raschelt.</p> + +<p>»Ich habe Rechtsanwalt Bernhard gebeten, meine Frau zu begleiten. +Er ist ein Freund der Familie Friemann und kann Sie als unser +Rechtsbeistand gleichzeitig über einige juristische Fragen flüchtig +unterrichten.«</p> + +<p>»Rechtsanwalt Bernhard«, wiederholt der Kapitän, um sich den Namen +einzuprägen. »Sehr schön, sehr schön!«</p> + +<p>Sie gehen um die Schmalseite des fertigen Hafenbeckens herum, das +gerade vor dem Verwaltungsgebäude endet, und spazieren am Kai entlang.</p> + +<p>Generaldirektor Becker, der soeben von einer Reise aus England +zurückgekehrt ist, zieht eine Pfeife aus der Tasche, stopft sie +geschickt mit einer Hand, während er die Linke in der Hosentasche +hält, und steckt sie in den Mundwinkel. Er sieht dabei fast wie ein +leibhaftiger Engländer aus.</p> + +<p>»Ja«, sagt er, »die englischen Häfen. Davon können wir noch viel +lernen.«</p> + +<p>Vor der Lagerhalle I bleiben sie stehen, um dem Lagerkontoristen einen +Besuch zu machen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p> + +<p>Herr Karcher springt beim Eintritt der beiden Herren von seinem Stuhl +auf, und siehe da: er ist nicht viel kleiner als der Kapitän.</p> + +<p>Sie beratschlagen kurz, ob es besser sei, Herrn Karcher hierzulassen +oder in das Verwaltungsgebäude hinüberzunehmen, doch der Kapitän ist +dafür, daß alles beim alten bleibt.</p> + +<p>Der Generaldirektor muß sich nun verabschieden und empfiehlt dem +Kapitän Herrn Karcher zur weiteren Führung. Aber der Kapitän will sich +selbst orientieren.</p> + +<p>Er begleitet Joachim Becker vor die Tür und beginnt seinen Rundgang +beim Bodenmeister Ulrich in der Lagerhalle II.</p> + +<p>Nun ist der große Augenblick für den weltgereisten Herrscher des +künftigen Getreidespeichers gekommen.</p> + +<p>»Also Sie sind der Getreidefachmann«, sagt der Kapitän auf eine +diesbezügliche Bemerkung hin.</p> + +<p>»Ja,« erwidert der Bodenmeister mit strammer Haltung, »im Hafen von +Rustschuk bin ich zehn Jahre tätig gewesen.«</p> + +<p>»Ei sieh da, Rustschuk!« ruft der Kapitän gutgelaunt aus. »Da ist ein +hübsches Schloß. Und an neunundzwanzig Moscheen kann man sich mehrere +Tage lang nicht sattsehen. — Rustschuk«, wiederholt er in freundlicher +Erinnerung, während er vorangeht und die Lagerwaren betrachtet.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p> + +<p>Bodenmeister Ulrich folgt ihm stumm, betroffen. Vom großen Donauhafen +wollte er sprechen, von seinem technischen Wissen, aber die Moscheen +hat er nicht gezählt. Einsilbig erklärt er die Art der eingelagerten +Waren, und als der Kapitän die Halle verläßt, sieht er ihm +kopfschüttelnd nach.</p> + +<p>Nun kommt die Lagerhalle mit den Ölen und Fetten an die Reihe, auch +das große Freilager an Kohlen und Schrott wird besichtigt, der Kapitän +sieht sich alles eingehend an und sagt:</p> + +<p>»Sehr schön, sehr schön.«</p> + +<p>Dann bleibt er noch eine Weile beim Lademeister stehen und unterhält +sich mit ihm. Zum Schluß sagt er:</p> + +<p>»Ja, da will ich Sie also nicht länger von der Arbeit abhalten«, und +geht weiter.</p> + +<p>Er stellt sich nicht hin und sieht den Leuten zu, bis sie unsichere +Hände bekommen. Er spricht sie an und plaudert mit ihnen.</p> + +<p>Selbst mit dem kleinen flachsblonden Tom vom Schiffer Jensen will er +sich unterhalten. Der verschmitzte Bengel ist gerade der Schwester Emmi +davongelaufen, um zu seinem Pudel auf des Vaters Kahn zu flüchten.</p> + +<p>»Na, was machst du denn hier?« fragt der Kapitän mit seiner heiseren +Stimme, lächelnd.</p> + +<p>Das ist wohl nicht der richtige Verkehrston für Tom, denn er rennt +brüllend weiter. Es gelingt Schwester Emmi,<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> ihn vor der Flucht auf +den Kahn zu erreichen, denn hier wird ausgeladen, und da hat ein +vierjähriger Bengel nichts zu schaffen.</p> + +<p>»Warum ist er denn fortgelaufen?« fragt der Kapitän die Schwester.</p> + +<p>»Er ist heute noch nicht gewaschen, denn seine Mutter liegt im +Krankenhaus. Wie ich mich umdrehte, um den Schwamm zu nehmen, rannte er +davon.«</p> + +<p>Diese wilde Wasserratte, der Tom, auf dem Wasser geboren und immer dem +Wasser nahe, vor einem nassen Schwamm hat er Angst. Der Kapitän lacht.</p> + +<p>»Sie gehören auch zum Hafen?« fragt er.</p> + +<p>»Ja,« sagt Schwester Emmi, »ich bin die Fürsorgeschwester.«</p> + +<p>»So, so, da haben Sie ja eine schöne Aufgabe. Vielleicht besuchen Sie +mich einmal heute nachmittag, damit wir uns darüber unterhalten können.«</p> + +<p>Schwester Emmi bekommt Herzklopfen. Natürlich kann man sich darüber +unterhalten, da gibt es viel zu berichten, aber warum nicht gleich, +warum erst nachmittags, so daß sie bis dahin vor Angst vergeht?</p> + +<p>»Um welche Zeit, bitte?« fragt sie.</p> + +<p>»Nun, so gegen sieben.«</p> + +<p>Der Lademeister sieht einen Augenblick auf. Es geht ihn ja nichts an, +aber er denkt: bisher war hier im allgemeinen um vier Uhr Schluß für +diejenigen, die frühmorgens<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> angetreten sind, und Schwester Emmi ist +immer mit den ersten auf den Beinen. Jedenfalls wollte er einmal mit +seiner Frau darüber sprechen, was das für eine Art sei, ein junges +Mädchen um sieben Uhr in die Wohnung zu bestellen, denn ein Bureau ist +noch nicht vorhanden.</p> + +<p>Zwei Stunden später bereits hat der Kapitän mit der Generaldirektion +telephoniert und Möbel für zwei Bureaus angefordert, dazu eine +Sekretärin. Denn nun weiß er, was er im Hafen zu tun hat.</p> + +<p>Als nachmittags um fünf Uhr Frau Generaldirektor Adelheid Becker mit +Rechtsanwalt Bernhard im Hafen vorfährt, wird sie bereits im neuen +Privatkontor des Hafendirektors empfangen. Ja, das ist schnelle Arbeit!</p> + +<p>Frau Adelheid kann sich gar nicht fassen, so erstaunt ist sie über die +vielen Fortschritte im Hafen. Sie hat ihn seit der Geburt ihrer Tochter +nicht gesehen.</p> + +<p>»So, ein Töchterchen?« fragt der Kapitän, mit einem Blick auf ihr +kindliches rundes Gesicht.</p> + +<p>Sie errötet. »Ja,« sagt sie, »ich bin sehr glücklich darüber. Aber mein +Mann wollte eigentlich einen Sohn.«</p> + +<p>»Es ist ein reizendes Kind«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Es hat ganz +und gar die Augen der Mutter.«</p> + +<p>»Das sind die Friemannschen Augen,« sagt Frau Adelheid, »sie sehen bei +dem Kinde so traurig aus. Aber das verliert sich wohl.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span></p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard findet, daß Frau Adelheids Augen auch nicht +lustiger sind, ja sie dünken ihn sogar sehr traurig, und es wird +immer schlimmer damit. Als er die junge Frau abholte, waren die Lider +verdächtig gerötet, und Rechtsanwalt Bernhard gäbe viel darum, wenn er +das strahlende Lächeln der Adelheid Friemann aus der Tanzstundenzeit +nur ein einziges Mal wiedersehen könnte.</p> + +<p>»Wissen Sie noch,« fragt er, um sie abzulenken, »als wir zum ersten +Spatenstich hier waren?«</p> + +<p>»Ach ja«, ruft sie begeistert aus. »Das war hier alles ebene Erde mit +ein paar Bäumen. Und — ach, was meinen Sie wohl, Herr Doktor, wo mag +das gewesen sein — der Platz mit den Linden und den langen Tafeln, wo +wir nach der Feier gefrühstückt haben?«</p> + +<p>Ihr Gesicht ist selig verklärt, während sie zum Fenster hinausspäht und +den Platz sucht, zu dem ihr Mann sie damals geführt hatte, als sie sich +so glücklich geborgen fühlte, nachdem sie vorher wie ein verirrtes Kind +war.</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard überlegt. Plötzlich sagt er sehr laut und selbst +überrascht:</p> + +<p>»Ja, denken Sie, das war hier, genau hier, wo wir jetzt stehen. Man hat +das Verwaltungsgebäude auf diesen Platz gebaut. Ich weiß es bestimmt, +denn wir hatten den Blick auf den Kanal und die —«</p> + +<p>Er stockt, denn er wollte sagen »die Mühle«, aber gerade in diesem +Augenblick will er Frau Adelheid nicht an die<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> Nachbarn erinnern, über +deren Bedeutung sie sicher unterrichtet ist.</p> + +<p>Darum sagt er weiter: »Und die lange Tafel, an der wir die belegten +Brote aßen, hat vielleicht gerade hier gestanden, einen Meter unter uns +auf der weichen Erde. Ich weiß noch, wie Sie mit Ihrem schmalen Absatz +fast eingesunken waren, so locker war die Erde.«</p> + +<p>»Ja, wissen Sie das?« fragt sie gedankenlos. Es fällt ihr nicht einmal +auf, daß Rechtsanwalt Bernhard damals anscheinend gar zu genau ihre +Füße betrachtet hat, so erfüllt ist sie von dem beseligenden Gefühl, +auf diesem Platz zu stehen.</p> + +<p>»Und später,« sagt sie dann, um sich endlich von der Erinnerung +loszureißen, »später war ich einmal hier, da habe ich nur Löcher +gesehen. Überall wurde die Erde aufgerissen, aber es war noch kein +Wasser im Hafenbecken, und noch nicht <em class="gesperrt">ein</em> Gebäude wuchs heraus. +Seitdem bin ich, offen gestanden, nicht hier gewesen.«</p> + +<p>Sie sprach die letzten Worte etwas leiser, als sei es ihr peinlich, das +eingestehen zu müssen.</p> + +<p>»Dann darf ich hoffen,« sagt der Kapitän verbindlich, »daß Sie durch +mich heute einen willkommenen Anlaß zum Besuch fanden?«</p> + +<p>»Ach ja«, erwidert sie, von neuem errötend. Sie fühlt sich so erkannt.</p> + +<p>Der Kapitän bietet ihr eine Führung durch den Hafen an. Sie wehrt ab.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p> + +<p>»Nein,« sagt sie, »dann wird man von den Menschen so angestarrt. Ich +kann es auch von hier sehen.«</p> + +<p>Das Klingeln des Telephons befreit sie in diesem Augenblick aus +ihrer Verlegenheit, denn nun wird der Kapitän von ihr abgelenkt, und +Rechtsanwalt Bernhard ist ihr schon etwas vertrauter. Sie stellen sich +ans Fenster, während der Kapitän in den Apparat spricht.</p> + +<p>Plötzlich hört Frau Adelheid ihn sagen: »Gewiß, Herr Kommerzienrat, +also morgen früh.«</p> + +<p>»Ach — Papa,« ruft sie aus und macht unwillkürlich mit erhobenem Arm +einen Schritt zum Telephon.</p> + +<p>Der Kapitän hat sie verstanden und bittet den Kommerzienrat, einen +Augenblick zu warten.</p> + +<p>Sie nimmt den Hörer.</p> + +<p>»Ja, ich bin hier — Papa — Adelheid.« Sie sagt diese Worte mit +ganz kleiner schüchterner Stimme, wie ein Kind, das zum erstenmal +telephoniert.</p> + +<p>Die beiden Herren sind höflich zur Seite getreten. Der Kapitän +erkundigt sich nach den Prozessen, der Rechtsanwalt ist jedoch dafür, +in dieser Angelegenheit an einem anderen Tage vorzusprechen.</p> + +<p>»Ja — ja,« sagt Frau Adelheid nun mit fast ersticktem Ton. +Rechtsanwalt Bernhard sieht plötzlich das vermißte reizende Lächeln auf +ihrem heißen Gesicht. Es hält noch an, als sie den Hörer hinlegt und +sagt: »Papa kommt sofort hierher.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p> + +<p>Dann setzt sie eine ernste hausfrauliche Miene auf und erwähnt den +eigentlichen Zweck ihres Besuches: dem Kapitän behilflich zu sein. Sie +fragt, ob er schon einen Tapezierer für seine Wohnung habe, und wie es +mit der Reinigung stehe.</p> + +<p>Er dankt ihr sehr herzlich, die Vorhänge und Gardinen habe heute +nachmittag — soeben, ehe sie erschien — der Dekorateur befestigt, der +mit den Geschäftsmöbeln kam. Die Reinigung könne die Frau übernehmen, +die drüben im Lager das Kontor versehe.</p> + +<p>»Ich dachte an eine Wirtschafterin, die man Ihnen besorgen könnte, des +Essens wegen«, sagt sie hilfsbereit.</p> + +<p>Nein, das sei nicht nötig. Er würde in der Kantine essen.</p> + +<p>»Ach, Sie sind ja ein sehr anspruchsloser und praktischer Junggeselle.«</p> + +<p>»Ja, das wird man mit der Zeit«, sagt er; aber weil sie sehr enttäuscht +scheint, und damit sie den Zweck ihres Besuches nicht verfehlt habe, +meint er, daß er in anderen Fragen gern ihren Rat erbeten hätte, in +Geschmacksfragen bezüglich der Einrichtung. Ob er ihr die Wohnung +zeigen dürfe.</p> + +<p>»Ach ja.« Sie ist sehr erleichtert, und nun gehen sie zu dritt in die +erste Etage.</p> + +<p>Frau Adelheid gefällt alles sehr gut. Sie haben das Eßzimmer und das +Arbeitszimmer besichtigt. In den Schlafraum<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> hat sie nur durch die +offene Tür einen scheuen Blick geworfen.</p> + +<p>»Diese schönen alten Möbel,« sagt sie vor dem breiten +Mahagoni-Schreibtisch, »sie haben sicherlich einen großen Wert.«</p> + +<p>»Das kann sein. Für mich sind es jedenfalls kostbare Erinnerungen. Sie +stammen noch von meiner Mutter.«</p> + +<p>»Sie sind musikalisch?« fragt Rechtsanwalt Bernhard, mit einem Blick +auf den Geigenkasten.</p> + +<p>»Ein wenig. Nur für den Hausgebrauch«, meint der Kapitän. Er geht sehr +schnell über das Thema hinweg und fragt Frau Adelheid, ob nach ihrer +Ansicht dieses Bild richtig hänge.</p> + +<p>»Das Bild hängt sehr schön so, es wirkt sogar ganz ausgezeichnet an +dieser Stelle.« Nein, hier kann Frau Adelheid nichts verbessern. Sie +merkt, daß der Kapitän ihr nur gefällig sein wollte.</p> + +<p>Zum Glück fährt in diesem Augenblick der Wagen des Kommerzienrats vor. +Sie entschuldigt sich bei dem Kapitän und eilt die Treppen hinab, um +ihren Vater zu begrüßen. Die beiden Herren folgen langsam. Rechtsanwalt +Bernhard möchte sich gern über die moderne Musik mit dem Kapitän +unterhalten; er sei sehr musikalisch. Aber der Kapitän spricht lieber +von etwas anderem.</p> + +<p>Der Kommerzienrat ist ausgezeichneter Laune. Er hat sich in den Arm +seiner Tochter gehakt und schlägt eine gemeinsame<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Besichtigung des +Hafens vor. Nun hat Frau Adelheid keine Angst mehr, sie läßt sich +alles eingehend erklären, obgleich sie immer wieder eingestehen muß, +daß sie nicht viel davon begreift. Aber das Ganze macht auf sie einen +gewaltigen Eindruck.</p> + +<p>Selbst dem Kommerzienrat imponieren die Fortschritte. Er spricht sich +lobend dem Kapitän gegenüber aus, der doch daran noch gar keinen Anteil +hat.</p> + +<p>»Ja, und wenn mein Sohn seinen Doktor gemacht hat,« sagt er mit +väterlichem Stolz, »dann kann er bei Ihnen als Volontär eintreten, Herr +Kapitän.«</p> + +<p>»Papa, er hat ihn noch nicht gemacht«, warnt Adelheid mit +abergläubischer Ängstlichkeit.</p> + +<p>»Er <em class="gesperrt">wird</em> ihn machen, mein Kind,« meint er lächelnd, »in zwei +Monaten haben wir ein Telegramm.«</p> + +<p>Wenn er jetzt seine kleinen dicken Hände frei hätte, so würde er sie +vor Vergnügen ineinander legen, wie es zu Hause, im Familienkreis, +seine Art ist. Aber da er seine Tochter eingehakt hat, begnügt er sich +damit, ihren Arm ein wenig zu drücken. Er ist, weiß Gott, der beste und +dankbarste Vater, den man sich denken kann.</p> + +<p>»Ihr Sohn ist Nationalökonom?« fragt der Kapitän, um auch etwas zu +sagen.</p> + +<p>»Ja, erst hatte er sich zwar allzusehr für die schönen Künste +interessiert, wie das so in diesem Alter üblich ist, aber schließlich +wandte er sich doch einer gesünderen Kunst zu.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<p>Der Kommerzienrat lacht, und der Kapitän stimmt höflich ein.</p> + +<p>»Heutzutage werden die jungen Leute mit den tiefgründigen +Kunstgesprächen geradezu aufgepäppelt, dafür haben sie es aber auch +schneller überwunden«, fügt der Kommerzienrat hinzu.</p> + +<p>»Ja, das mag sein«, meint der Kapitän, er macht nicht den Eindruck, als +ob er in solchen Fragen kompetent sei.</p> + +<p>Schließlich fährt der Kommerzienrat mit seiner Tochter nach Hause, und +Rechtsanwalt Bernhard, der dem Wagen lange nachblickt, kann nun dem +Kapitän über die juristischen Angelegenheiten berichten.</p> + +<p>Pünktlich um sieben Uhr findet sich Schwester Emmi im Bureau des +Kapitäns ein.</p> + +<p>»Also, bitte, setzen Sie sich, Fräulein — wie war doch Ihr Name?«</p> + +<p>»Schwester Emmi.«</p> + +<p>»Also — Schwester Emmi — und erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten. Wo +sind Sie ausgebildet worden?«</p> + +<p>Schwester Emmi wird ganz zaghaft. Mein Gott, wann soll sie beginnen? +Bei ihrer Geburt? Wo sie ausgebildet wurde? Sie ist doch eigentlich +Säuglingsschwester. Aber das wird sie ihm nicht sagen. Sie wird seine +Frage einfach überhören. Über ihre Vergangenheit spricht sie nicht +gern. Von ihren Arbeiten im Hafen jedoch will sie erzählen. Natürlich<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> +wird sie an einer ganz falschen Stelle anfangen, sie weiß es genau. +Doch da sie etwas sagen muß, so redet sie darauf los, kunterbunt +durcheinander. Sie zählt alles auf, was sie bisher getan hat; dabei +merkt sie erst, daß es, so einfach summiert, gar nicht bedeutend wirkt. +Im Gegenteil, es ist sogar sehr wenig. Sie versucht, die gequetschten +Finger und verstauchten Füße zu zählen, die herausgezogenen Holz- +und Eisensplitter werden nicht vergessen, und die verwundete Hand +des Maurers Johannes rechnet sie als fünf kranke Finger. Aber dann +ist sie am Ende, und sie hat das Gefühl, daß nun alles verloren +sei. In Gottes Namen! Und wenn sie wieder zurückgehen muß zu den +egoistisch-glücklichen jungen Müttern und den hungrigen Ehemännern, so +soll es ihr auch gleich sein. Diese Qual hält sie nicht länger aus.</p> + +<p>Aber der Kapitän sagt: »Sehr schön, sehr schön.«</p> + +<p>Und dann läuft er im Zimmer umher, immer auf und ab, mit seinen +gespreizten steifen Beinen und erzählt auch etwas — von einem +Professor und einem wissenschaftlichen Institut, von klinischen +Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen, von Lehrschwestern und +so weiter. Die Schwester versteht nur die Hälfte davon, und sie weiß +nicht, wohin das alles führen soll.</p> + +<p>Schließlich hört sie überhaupt nicht mehr hin. Sie sieht den Kapitän +scheinbar andächtig und aufmerksam an und hat dabei ihre eigenen +Gedanken. Ob dieser Mann, der hier<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> so ledern und langweilig etwas von +Gott und der Welt erzählt, ob er wohl schon einmal verheiratet war?</p> + +<p>Sie hat so ein Gefühl dafür, sie kann es nicht erklären, ihr Instinkt +sagt ihr, daß dieser Kapitän mit den schmalen steifen Gliedern und +den langen dunkelbehaarten Händen kein echter Junggeselle sei. Nun — +wenn ihm eine Frau etwa davongelaufen sein sollte, so kann sie das +vollkommen verstehen. Während sie seine glatt und glänzend gebürsteten +dünnen Haare betrachtet, muß sie an Herrn Gregors vollen schwarzen +Schopf denken, und der Vergleich fällt nicht zu des Kapitäns Gunsten +aus. Da ist ihr doch ein weiches gepudertes Gesicht noch lieber als +dieser kantige Kopf mit der gebräunten trockenen Haut.</p> + +<p>Endlich scheint der Kapitän mit seiner Rede fertig zu sein. Schwester +Emmi warf einige Male ein »Ja« und »Gewiß« dazwischen, aber sie hat +sich dabei nur nach dem Tonfall seiner Stimme gerichtet. Jetzt kann sie +endlich wieder einen Satz dem Sinne nach erfassen, es ist, als wäre der +Kapitän damit zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt. Er sagt:</p> + +<p>»Der Herr Generaldirektor erzählt mir, daß Sie Ihre Sache bisher sehr +gut gemacht haben. Also lassen wir zunächst alles beim alten.«</p> + +<p>Großer Gott, dann ist es ja überstanden! Schwester Emmi atmet +erleichtert auf und erhebt sich. Sie hat in ihrer Freude das Wörtchen +»zunächst« ganz überhört.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p> + +<p>Der Kapitän drückt ihr fast schmerzhaft die Hand und begleitet sie zur +Tür. Er selbst geht in seine Wohnung hinauf.</p> + +<p>Schwester Emmi blickt geblendet in die Helle des milden Sommerabends.</p> + +<p>Schiffer Jensen und Karle Töndern sitzen vor ihren Selterflaschen neben +der Veranda. Sie grüßen die Schwester mit einem Griff an die Mützen und +mit einem recht vertraulichen Zwinkern. Ja, ja, blitzen die listigen +Augen, die jungen Mädchen werden nach sieben Uhr empfangen.</p> + +<p>Schwester Emmi sieht an der Hafenuhr, daß sie länger als eine halbe +Stunde beim Kapitän war. Ihr Herz ist so angefüllt, daß sie es +irgendwo ausschütten muß. Für dieses Geschenk ist am besten Irmgard +Pohl geeignet; die hört sich alles schweigend an, ohne gleich von sich +selbst zu sprechen — wie Frau Reiche oder Herr Gregor —, und dann +findet sie sogar noch einige ruhige Worte, die man mit nach Hause +nehmen kann. So geht sie wieder zum »feindlichen« Nachbarn hinüber.</p> + +<p>Schiffer Jensen und Karle Töndern starren zu den Fenstern der +Kapitänswohnung hinauf, denn ihre Köpfe sind mit diesem Problem noch +nicht fertig geworden. Sie stammen beide von der Wasserkante, und da +dauert es immer eine Weile, bis sie etwas zu Ende gedacht haben.</p> + +<p>Plötzlich senken sie ihre Blicke sehr interessiert auf ihre +Selterflaschen, denn oben — an einem Fenster — ist der Kapitän +erschienen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<p>Er hat nur das Fenster geschlossen. Das an diesem milden und schönen +Sommerabend!</p> + +<p>Die beiden haben ihrer neugierigen Blicke wegen kein ganz reines +Gewissen, aber sie denken: Wir werden wohl hier sitzen dürfen! +Schließlich ist die Kantine doch für uns da!</p> + +<p>Wie sie sich noch damit beschäftigen, vernehmen sie etwas Merkwürdiges: +langgezogene Töne, wie ferne Musik.</p> + +<p>»Hörst du das auch?« fragt Karle Töndern.</p> + +<p>»Ja, freilich hör' ich das«, sagt Schiffer Jensen etwas ungeduldig. Er +muß plötzlich an seine Frau denken, die immer noch im Krankenhaus liegt +und die nächste Fahrt wieder nicht mitmachen kann.</p> + +<p>»Es ist eine Violine, mein' ich«, sagt Karle Töndern.</p> + +<p>»Ja, das mag sein«, erwidert Schiffer Jensen. Ihm wird immer wehmütiger +ums Herz. Daran ist nur die verdammte traurige Musik schuld. Nun +liegt der Tom wieder allein in der Kabuse. Aber weggeben? Da soll die +Schwester sich nur ja keine Mühe machen. Diese blauen Augen, die in +Toms Gesicht stecken, gibt es nur noch einmal in der Welt, und die hat +Toms Mutter. Und wenn Schiffer Jensens Frau im Krankenhaus liegt, dann +muß Schiffer Jensens Tom immer auf dem Kahn bleiben, denn ohne diesen +blonden Schopf läßt sich der Kahn von keinem Schlepper ziehen. Das ist +so gewiß, wie Schiffer Jensen jetzt hier sitzt und mit dem Ärmel über +die Augen wischt.</p> + +<p>»Und es kommt aus der Wohnung vom Kapitän«, sagt Karle Töndern.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p> + +<p>»Hm«, macht Schiffer Jensen, denn nun bringt er keinen Ton mehr heraus.</p> + +<p>Aber da sagt auch Karle Töndern nichts mehr, und sie sitzen und horchen +und sind ganz still.</p> + +<p>Bis wieder ein Fenster geöffnet wird und der Kapitän nach einiger Zeit +unten in der Tür erscheint. Da stehen sie auf und ziehen ihre Mützen.</p> + +<p>Der Kapitän nickt ihnen zu und geht mit seinem gespreizten steifen Gang +zum Hafenbecken und immer weiter bis zum Kanal hinunter.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Verhaftung">Die Verhaftung</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-b" src="images/drop-b.jpg" alt="B"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">B</span>ei der Familie Friemann ist wirklich das Telegramm eingegangen: +»Doktor bestanden. Gratuliere. Felix.«</p> + +<p>Das sieht diesem Bengel, diesem Erzschelm ähnlich, daß er dazu seinen +Eltern gratuliert, anstatt seinerseits die Gratulation abzuwarten.</p> + +<p>Der Kommerzienrat war sich zwar längst über die angemessene Belohnung +dieses tüchtigen Jungen einig, aber er beruft dennoch Frau und Tochter +zusammen, um sich mit ihnen zu beraten. Joachim Becker ist zu sehr mit +seinen wichtigen Aufgaben für den Hafen beschäftigt, als daß er an +solchem Familienrat teilnehmen könnte.</p> + +<p>Die vom Kommerzienrat vorgeschlagene Nordlandreise findet auch den +Beifall der Frauen, aber die Mutter des tüchtigen Kandidaten will +deswegen nicht auf eine kleine Festlichkeit verzichten, ganz im +engsten Kreise der Familie. Weil die allernächste Verwandtschaft recht +ausgedehnt ist, kommt man immerhin auf dreißig Personen.</p> + +<p>Wann aber durfte man den Jungen zu Haus erwarten? Natürlich sollte +er den Feiern seiner Studienkollegen nicht entzogen werden, doch +konnte er nicht Nachricht geben, dieser<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> unverbesserliche Schlingel, +dieser Tausendkerl und Hallodri? Der Kommerzienrat findet immer mehr +freundliche Schimpfnamen für seinen ungeratenen Sohn.</p> + +<p>Währenddessen hebt draußen im Park der Villa ein großer Spektakel an. +Die Kommerzienrätin müßte nicht die Mutter ihres Sohnes sein, wenn sie +diese Stimme nicht erkennen sollte. Mit einem Aufschrei stürzt sie zur +Tür, sie rennt so schnell die Treppen hinab, als es ihre geschwollenen +Beine gestatten.</p> + +<p>Rasch ist die ganze Familie im Vestibül. Hier steht ein baumlanger Kerl +und sagt begütigend: »Aber, aber, meine Herrschaften!« Dabei kollern +ihm die Tränen über die weichen Backen, und er muß sich dauernd bücken, +um jemand zu umarmen. Das ist der junge <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann.</p> + +<p>»F. F.« fügt er gern nach der Vorstellung seinem Namen hinzu, denn +er ist, wie sein Vater, ein Freund von Witzen. Die Studiengenossen +nannten ihn die »Gaslaterne«. Sein weißes kugelrundes Gesicht mit den +Friemannschen Augen hinter den blitzenden Brillengläsern, meinten sie, +sei die Milchglaskugel, die lange dünne Figur der Laternenpfahl. Die +Jugend ist grausam und spottet gern über die Kuriositäten der Mutter +Natur.</p> + +<p>Wer jedoch damit Felix Friemann ärgern will, kommt nicht an den +rechten Mann! Er lacht wie über einen guten Witz und sagt in seiner +überhasteten Sprache: »Gewiß, ich will mich bessern, gewiß.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p> + +<p>Er hat die Eigenart, daß er in der Eile des Sprechens einige Silben +verschluckt. Weil er aber seinen Zuhörern diese schlechte Verständigung +nicht zumuten will, hat er sich daran gewöhnt, ein paar Worte, die +vielleicht verlorengegangen sein könnten, nachträglich zu wiederholen.</p> + +<p>Wer Geduld mit ihm hat oder ihn gar liebt, findet sich in dem +Kauderwelsch ganz gut zurecht. Doch es ist merkwürdig: vor solchen +Naturen befleißigt er sich einer ganz ausgezeichneten und normalen +Sprechweise.</p> + +<p>Und die drei glücklichen Menschen, die ihn nun mit Begeisterung und +Rührung begrüßen, brauchen sich weder über Wortverluste noch über +Wiederholungen zu beklagen.</p> + +<p>Der junge Doktor ist mit allem einverstanden, mit dem Familienfest und +mit der Nordlandreise. Wann hätte er die Vorschläge seines prächtigen +Vaters nicht großartig gefunden?</p> + +<p>Die bevorstehende Arbeit im Hafen kann er kaum erwarten.</p> + +<p>»Denke dir, meine Kommilitonen lachten, als ich ihnen erzählte, was +wir hier für einen Hafen bauen. Aber neulich hat mein Professor +doch wahrhaftig einmal im Kolleg das Projekt erwähnt. Na, ich habe +euch ja gleich darüber telegraphiert. Er fand es phänomenal und — +durchführbar!«</p> + +<p>»Wenn so ein Theoretiker das schon durchführbar findet, nicht wahr?« +fragt der Kommerzienrat lachend. »Nun will<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> ich dir auch gleich +verraten, daß ich dem Professor durch die Hafengesellschaft ein +ausgezeichnetes Exposé einschicken ließ.«</p> + +<p>»Also, das ist die Veranlassung gewesen?« fragt der Sohn ehrfurchtsvoll +und erstaunt.</p> + +<p>»Ja,« sagt die Kommerzienrätin stolz, »was unser Papa alles zustande +bringt! Er belehrt sogar die Professoren.«</p> + +<p>Hier sind vier Menschen, die mit allem einverstanden und zufrieden +sind, die sich nichts Besseres mehr wünschen.</p> + +<p>Was ist so ein unschlüssiger Schürzenjäger wie Herr Gregor dagegen +für ein unglücklicher Mensch! Nun treibt er die Tyrannei im Hause +Reiche tatsächlich doch auf die äußerste Spitze, und man kann nicht +voraussagen, wie lange die verliebte Kantinenwirtin sich das noch +gefallen läßt.</p> + +<p>Er findet ihr Essen miserabel, aber sie sagt nicht: »Sie haben ja schon +seit mehreren Monaten nichts mehr dafür bezahlt.« Sie flüstert: »Wenn +es angebrannt ist, so wirst du wohl am besten wissen, woran das liegt.«</p> + +<p>Was erwidert darauf Herr Gregor? Er schlägt mit der flachen Hand auf +den Tisch und steht auf. An der Tür sagt er verächtlich: »Was haben Sie +wieder für eine schmutzige Schürze umgebunden?«</p> + +<p>Es hilft Frau Reiche nichts, daß sie sofort eine schneeweiße breite +Schürze holt, und daß sie sich abends in ihrem besten Kleid auf die +Veranda setzt. Da muß sie zuweilen den Kopf auf die Arme werfen und +heftig schluchzen. Und sie<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> beruhigt sich erst, wenn sie endlich den +festen Entschluß gefaßt hat, Schwester Emmi Salzsäure ins Gesicht zu +gießen.</p> + +<p>Ihr Mann muß immer öfter hinter dem Schanktisch stehen und in seiner +schwerfälligen Art Selterwasser und Milch verkaufen. Früher hat Frau +Reiche in der Küche das beste Essen zustande gebracht und dabei immer +noch Zeit gefunden, mit den Gästen ein freundliches Wort zu wechseln.</p> + +<p>Jetzt hat nicht nur die Güte des Essens nachgelassen, die +Kantinenbesucher finden auch die Bedienung nicht flink und freundlich +genug. Der ehemalige Bäckermeister ist kein redseliger Mann, und mit +den guten Eigenschaften seiner Frau kann er sich freilich nicht messen. +Deswegen ist er auch schon sehr bescheiden geworden.</p> + +<p>Seine Frau versteht es, gut einzukaufen und mit den Lieferanten fertig +zu werden, sie eignet sich prächtig dafür, solchem großen Betrieb +vorzustehen, ohne es jemals geübt zu haben; er aber kann nur das, was +er in seinen Jugendjahren gelernt hat: Brot und Semmeln backen. Schon +mit dem Kuchen hat es immer etwas gehapert, der war den Leuten nicht +fein genug.</p> + +<p>So begnügt er sich nun damit, das zu tun, was seine Frau ihm befiehlt, +und er hat keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leibe, denn sonst würde er +sich dagegen sträuben, zur Bewachung der Wirtschaftsräume in einer +Kammer hinter der<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> Kantine zu schlafen, während seine Frau das schöne +große Schlafzimmer im ersten Stock allein gar nicht ausnutzen kann.</p> + +<p>Seitdem die Küchenmädchen in der Hafenwirtschaft mit Frau Reiche nicht +mehr zurechtkommen und alle acht Tage wechseln, hat Fräulein Spandau, +die neue Sekretärin des Hafendirektors, sich daran gewöhnt, das +Mittagessen für den Kapitän selbst abzuholen. Dabei hat sie auch immer +noch ein freundliches Wort für den Kantinenwirt, ja manchmal kann sie +ein paar Minuten bei ihm stehen, während das Essen eingefüllt wird, +und sich dafür interessieren, wie es in einer mustergültigen Bäckerei +zugehen muß. Sie ist nicht die Spur eingebildet auf ihren Posten, denn +sonst würde sie nicht freiwillig mit einem Tablett in der Hand über den +Platz gehen, was einer Sekretärin wirklich nicht zukommt.</p> + +<p>Der Kapitän weiß solchen Liebesdienst auch nach Gebühr zu schätzen.</p> + +<p>Er spricht den »besten Dank« immer doppelt aus, und obgleich er im +Laufe der Monate sich schon daran gewöhnt haben sollte, so steckt immer +auch etwas Verlegenheit hinter seinem Ton.</p> + +<p>Ja, Fräulein Spandau ist nun schon einige Monate im Hafen. Die Zeit +verfliegt so rasch, daß man es selbst kaum merkt. Man geht durch das +Tor des Hafens an einem Wächter vorbei und neben dem Gesicht eines +anderen Mannes<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> hinter dem Guckloch wieder hinaus, und siehe da: ein +Tag ist um. Wenn man jedoch am nächsten Abend einmal um sich schaut, +so hat der Turm des Verwaltungsgebäudes plötzlich sein siebentes +Stockwerk aufgesetzt, das zweite Hafenbecken ist von fertigen Kaimauern +eingefaßt, und der Getreidespeicher — ja, der Getreidespeicher sieht +aus, als stände er fix und fertig da.</p> + +<p>Aber wer das glaubt, der versteht nichts von einem modernen richtigen +Getreidespeicher, der ist ein Laie, eins der verächtlichsten Geschöpfe, +die für den Bodenmeister Ulrich existieren. Denn nun sind erst +die wahren Künstler an der Arbeit, die Ingenieure, die den ganzen +technischen Apparat einbauen.</p> + +<p>Dem Bodenmeister Ulrich lacht das Herz im Leibe, wenn er das mit +ansieht. Auch mit dem neuen Hafendirektor hat er sich wieder +ausgesöhnt, denn er ist inzwischen dahintergekommen, daß der Kapitän +nicht nur Moscheen im Kopf hat, er versteht auch sonst etwas von den +Angelegenheiten eines Hafens.</p> + +<p>Nun gibt es Menschen mit einem geweiteten Horizont, die sehen sich +nicht nur innerhalb der Mauern des Hafens um, die blicken darüber +hinaus zu den Nachbarn links und rechts. Und man muß staunen, was da +alles vor sich geht.</p> + +<p>Der Müller hat zwar schon immer einen Getreidespeicher, eine Mühle +und ein schmuckes kleines Wohnhaus jenseits des<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Kanals gehabt, doch +ist der Speicher nicht um zwei Stockwerke höher geworden? Und wenn +der Bodenmeister Ulrich sich so sehr viel auf das kommende Becherwerk +und die Getreideheber einbildet, so soll er nur schweigen: der +Mühlenbesitzer Pohl hat das alles längst. Er holt sich sein Getreide, +das direkt aus Rumänien und Rußland kommt, damit selbst aus den +Kähnen, und wenn es gebraucht wird, geht es ebenso maschinell in die +Mühle hinüber. Da gibt es keine gebückten Menschen, die schwere Säcke +hin- und herschleppen. Ein fleißiger Kran holt auch die Mehlsäcke aus +der Etage heraus, in der sie gerade liegen, und führt sie zu einem +Schiff hinüber, wenn sie dafür bestimmt sind, auf dem Wasserwege +weiterzureisen. Was jedoch auf den Bahnhof oder in die Stadt befördert +werden soll, wird auf Wagen geladen, denn Eisenbahnwaggons fahren an +der Mühle noch nicht vor. Nein, über einen Gleisanschluß verfügt der +Müller nicht. So weit hat er es nicht gebracht.</p> + +<p>Gleisanschlüsse sind nur im Hafen. Da stehen sogar eigene Lokomotiven +in einer Halle, die laut zischen und pfeifen, wenn sie angeheizt +werden, und die vielen Gleise geben dem Hafen ein recht industrielles +Aussehen. Natürlich sind auch schon ein paar Kräne da, und wenn die +Freilagerplätze mit Kohle oder verrostetem alten Eisen in hohen Bergen +geradezu überschüttet sind, so kann sich ein einzelner Müller mit +seinem Betrieb nicht allzu stolz daneben sehen lassen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p> + +<p>Trotzdem schöpft er seinen Vorteil aus der Nachbarschaft des Hafens, +und er hätte weder einen Anbau an seine Mühle gebraucht noch soviel +Lagergetreide in seinen Räumen, wenn der erste Getreidespeicher des +Hafens nicht in die Luft geflogen, sondern rechtzeitig fertiggestellt +worden wäre.</p> + +<p>So aber mußte man erst die anderen langgestreckten und flachen +Lagerhallen bauen, und die Firma Friemann, Getreide <em class="antiqua">en gros</em>, +lagert ihre Riesensendungen für Übersee so lange in den Seehäfen.</p> + +<p>Wer etwa die Ansicht vertritt, daß dieser Verlust ein Unglück für +den Binnenhafen sei, hat nicht den raffinierten Scharfsinn des +Kommerzienrats erkannt, denn nun besitzt man gute Freunde am offenen +Meer und die besten Verträge in der Tasche.</p> + +<p>Ja, auch Generaldirektor Becker hat fleißig gearbeitet. Er ist auf +mehreren Auslandsreisen gewesen, aber er hat es auch nicht verschmäht, +einige kleine unbedeutende Häfen an der Wasserkante und im Binnenlande +zu besuchen, und wenn man hin und wieder in die Zeitung sieht, so +kann man lesen, daß die Hafengesellschaft auch anderwärts tüchtig ist +und den Kommunen ihre Lasten abnimmt. Joachim Becker hat mit einigen +strategischen Stützpunkten seine Stellung befestigt.</p> + +<p>Nun ist auch sein Schwager im Hafen, der sich in das große und +weitverzweigte Gebiet einer Hafenbewirtschaftung einzuarbeiten +versucht und dabei ebensoviel Lust wie Unfähigkeit<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> beweist. Aber der +Generaldirektor ist weder ärgerlich noch traurig darüber, es kann nicht +allein tüchtige Menschen in der Welt geben. Nur, daß der Kerl noch +nicht richtig zu sprechen vermag, macht ihn nervös, denn man hat nicht +Zeit, nach jedem Satz zweimal zu fragen.</p> + +<p>Die englische Shagpfeife hat er im übrigen inzwischen über Bord +geworfen, denn sie ist ihm bei der Arbeit hinderlich. Dazu gehört +die gleichmütige Ruhe der Engländer, und die ist ihm nicht gegeben. +Außerdem fand er in der Zusammenarbeit mit seinen technischen und +wissenschaftlichen Beratern an den Einrichtungen der Engländer dieses +und jenes auszusetzen und zu verbessern.</p> + +<p>Inzwischen ist er auch in den Vereinigten Staaten gewesen, und nun +imponieren ihm neben der gewaltigen Organisation die großartigen +sozialen Einrichtungen der Amerikaner. Sie haben ihn seinem +Steckenpferd, der Fürsorge, wieder mit vollen Segeln zugeführt.</p> + +<p>Die Fußballplätze und Schwimmanlagen schweben ihm wieder vor, doch +wenn er zum Nachbar im südlichen Gelände hinüberblickt, so beschleicht +ihn ein scheußliches Unbehagen. Da, wo seine freien Menschen ihre +Siedlungen errichten und den Körper in sportlicher Übung kräftigen +sollten, werden nun von der Verhüttungsgesellschaft Erze gefördert.</p> + +<p>Ja, werden denn wirklich Erze zutage gebracht? Man sollte es wohl +annehmen, denn sie geben die Versuche nicht auf.<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Zwar herrschte +zuweilen wochenlang, ja einmal sogar monatelang peinliche Arbeitsruhe, +aber dann hatte sich anscheinend doch wieder ein Gesellschafter +gefunden, der sein Geld in dieser aussichtsreichen Sache anlegen +wollte, und die Sachverständigen rückten wieder an.</p> + +<p>Joachim Becker ist zum zweitenmal in seinem Leben feige und geht nicht +hin, um sich nach den Resultaten zu erkundigen. Es scheint nicht +immer leicht, seine privaten Gefühle mit beruflichen Interessen in +Einklang zu bringen, selbst wenn man sonst ohne Furcht und Falsch ist. +Die persönliche und sehr peinliche Angelegenheit, in der er sich zum +erstenmal nach einer unredlichen Tat feige verbarg, glaubt der junge +Generaldirektor zwar vollkommen aus seiner Erinnerung ausgestrichen zu +haben.</p> + +<p>Nur einige Konsequenzen wollen ihn noch dafür strafen, denn nun +fordert das Schicksal zur Vergeltung weitere Unaufrichtigkeit und +Heuchelei. Und weil er diesen beiden Götzen gerade in seinem engsten +Familienkreise dienen soll, so ist es am besten, wiederum zu flüchten +und in der Arbeit unterzutauchen. Das besorgt er nun bis zur letzten +Möglichkeit.</p> + +<p>Herr Gregor muß noch mehr als früher unter seiner Unduldsamkeit leiden, +denn jetzt fängt Joachim Becker an, unzufrieden mit ihm zu werden. +Dieser junge Sekretär treibt Luxus in Anzügen, Krawatten und seidenen +Strümpfen, sieht übernächtig aus und dünkt sich für jede Arbeit zu gut.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p> + +<p>Dabei hat er ein Tätigkeitsfeld, das jedem alten Beamten schmeicheln +würde. Seine Hauptbeschäftigung ist immer noch die Bearbeitung der +Lieferverträge für den Hafenbau. Mit seinem flinken, merkantilen +Verständnis für die Ausnutzung der Konjunktur und die Finanzlage der +Bewerber hat er besonders im Anfang gute Resultate erzielt.</p> + +<p>Nun aber wird er unvorsichtig und nachlässig, und auf seinem +Schreibtisch liegen die Papiere wüst durcheinander, so daß sich +bestimmt kein Mensch mehr herausfinden kann.</p> + +<p>Der Generaldirektor stellt sich ärgerlich neben den Tisch und sagt: +»Wer diese Unordnung auf dem Schreibtisch einreißen läßt, der hat sie +auch im Kopf.« Dann geht er in das Kalkulationsbüro und erkundigt sich +nach diesem und jenem.</p> + +<p>Herr Gregor hat zufällig auf einem der langen breiten Korridore zu tun +und sieht Joachim Becker auch in die Hauptbuchhaltung hineingehen.</p> + +<p>Ein Kollege fragt Herrn Gregor, ob er etwas verloren habe.</p> + +<p>»Nein,« gibt er zur Antwort, »aber mir fällt eben ein, daß ich etwas +vergaß.« Damit geht er wieder zurück.</p> + +<p>Vor dem Zimmer der Sekretärin bleibt er noch einmal mit zerfurchter +Stirn stehen. Er hat Schweres zu denken, man sieht es ihm an, und seine +Hände sind ganz feucht. Dann geht er hinein.</p> + +<p>»Sie haben wohl nicht die gestrigen Zahlungsanweisungen noch hier? Ich +sehe eben, daß ich mich verrechnet haben muß«, sagt er mit belegter +Stimme.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p> + +<p>»Nein,« erwidert die Sekretärin, »ich habe sie heute morgen +weitergegeben. Vielleicht liegen sie noch in der Kasse.«</p> + +<p>»Ja, danke, ich will sehen, daß ich sie dort vergleichen kann.« Er +bleibt unschlüssig stehen.</p> + +<p>»Sie werden sich aber beeilen müssen, denn es ist gleich +Geschäftsschluß, und die Kasse öffnet ihre Schränke nicht noch einmal.«</p> + +<p>»Richtig,« sagt er, »dann will ich es noch rasch versuchen.«</p> + +<p>Er schießt nicht gleich auf den Kassenschalter zu, sondern geht mit +schleppenden Schritten bis an das Ende des langen Korridors. Wie er um +die Ecke biegen will, bemerkt er mit halbem Blick den Generaldirektor +und den Hauptbuchhalter vor der Tür des Kassenraumes. Er schnellt +sofort zurück; man sah ihn nicht, denn die beiden sind in eine leise +und angeregte Unterhaltung allzusehr vertieft.</p> + +<p>Herr Gregor will nun mit seinen Anweisungen nichts mehr zu tun haben. +Er holt Mantel und Hut und verläßt das Haus.</p> + +<p>Drei Stunden später trifft er vor dem Hauptportal des Hafens Schwester +Emmi, die wieder einmal einen Besuch in der Mühle gemacht hat. Sie kann +jetzt nicht zu jeder Stunde hinüberlaufen, denn Irmgard Pohl ist eine +Angestellte, an Zeit und Ort gebunden. Wenn sie auch im Kontor ihres +Vaters arbeitet, so hat sie doch keine andere<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Vergünstigung, als daß +sie zu den Mahlzeiten ins Wohnhaus gehen darf, denn ihr Gehalt muß sie +sich ehrlich und redlich verdienen.</p> + +<p>So benutzt Schwester Emmi die Abendstunden, um sich Rat und Teilnahme +zu holen. Sie ist sehr angeregter Stimmung, denn nun hat Irmgard Pohl +ihr endlich versprochen, den ersten Besuch im Hafen zu machen, um sich +die kleine Wohnung der Fürsorgeschwester anzusehen.</p> + +<p>»Wenn Sie glauben, daß ich gegen fünf Uhr niemand treffen kann,« sagte +sie, »so will ich auf eine Viertelstunde kommen.«</p> + +<p>Schwester Emmi wird ihr alle ihre hübschen Kleinigkeiten zeigen: den +selbstgefertigten Frisiertisch mit Mullvorhängen und Fläschchen und +Büchsen, die hübschen Kissen aus Seidenresten, Stickereien und andere +Handarbeiten, denn ihre flinken Hände sind zu allem geschickt, sie +können niemals ruhen.</p> + +<p>Selbst in Herrn Gregors Gesellschaft bleibt sie nicht untätig, denn an +seiner Kleidung ist immer etwas zu verbessern. Frau Reiche, die sich +gegen Bezahlung für diese Arbeiten verpflichtete, ist längst nicht mehr +zuverlässig genug; sie hat es sogar fertig gebracht, ein Paar seidene +Strümpfe, die Schwester Emmi ihm zum Geburtstag schenkte, vollständig +zu zerschneiden.</p> + +<p>Wenn aber die praktische Arbeit geleistet ist, so folgt die viel +schwerere Aufgabe: Herrn Gregor zu trösten und zu zerstreuen;<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> er wird +immer nervöser von dem schweren und aufreibenden Dienst und kann oft +sehr mißgestimmt oder mutlos sein.</p> + +<p>Sie sieht es ihm heute sofort an, daß es schlimm um ihn steht, darum +zwitschert sie von allen lustigen Dingen, die ihr einfallen; sie macht +Witze und lacht selbst darüber. Sobald der schwache Schimmer eines +Lächelns über sein blasses leidendes Gesicht huscht, ist sie sehr +glücklich. Sie wirft nicht sobald die Flinte ins Korn, und ihre Geduld +rührt selbst Herrn Gregor.</p> + +<p>Er hat schon gegessen und fragt, ob er bei Schwester Emmi eine Tasse +heißen Tee trinken dürfe. Es ist mitten im Winter, und ein mitfühlender +Mensch kann wohl verstehen, daß man auf einer Straßenbahnfahrt +durchfriert und Verlangen nach einem freundlichen warmen Zimmer hat. +Die großen Herren haben ihre bequemen Wagen, die andern aber, denen +jede Möglichkeit zum Aufstieg abgeschnitten wird, obgleich sie auch +nicht weniger verstehen, sie müssen sehen, wo sie bleiben.</p> + +<p>Ach, sie ist durch Herrn Gregors scharfe Augen über die +Ungerechtigkeiten in dieser Welt aufgeklärt worden und kann manchmal +recht erbittert und unzufrieden sein. Doch sie hütet sich wohl, +solche Gefühle zu offenbaren, denn wer erst einmal als sonnige Natur +verschrien ist, hat nicht mehr das Recht, sich anders zu zeigen.</p> + +<p>So bewirtet sie Herrn Gregor mit heißem Tee und freundlichen Worten. +Sie rauchen auch eine Zigarette miteinander,<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> und als endlich eine +richtige Unterhaltung in Gang kommt, hat sie sogar ihre Angst vor Frau +Reiche vergessen, die angedroht hat, den Kapitän zu holen, wenn die +Fürsorgeschwester noch einmal Herrenbesuch in ihrem Zimmer empfängt.</p> + +<p>»Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die mich ganz zermürben,« sagt +Herr Gregor, »Sorgen mögen auch daran schuld sein.«</p> + +<p>»Aber was sollten Sie denn für Sorgen haben? Da ist doch kein Mensch, +der Ihnen etwas zuleide tut, und Angehörige haben Sie auch nicht. Ja, +wenn ich an Schiffer Jensen denke, dem im Herbst die Frau gestorben +ist. Jetzt lebt er ganz allein mit dem kleinen Tom, und das Schlimmste +ist, daß er nun, während er im Winterlager liegt, nicht durch Arbeit +und Abwechslung abgelenkt wird und immerfort daran denken muß. Sie +haben doch Ihre Arbeit und ein schönes Einkommen dazu.«</p> + +<p>Das mit dem Einkommen hat sie nicht ohne einen Zweck gesagt, sie +erwähnt es in letzter Zeit öfter. Ist es nötig, daß ein einzelner +Mensch ganz allein davon lebt und sich einen Anzug nach dem anderen +kauft? Nicht genug damit, er trägt sein Geld auch noch in die Bars +und Tanzlokale, und es kommt vor, daß er sich kleine Summen von +Schwester Emmi oder Frau Reiche leihen muß, wenn er in augenblicklicher +Verlegenheit ist.</p> + +<p>Wäre es für so einen Menschen nicht besser, eine solide und praktische +Frau zu heiraten, die ihn ans Haus fesselt und<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> sein Heim gut +verwaltet? Sie hätte nichts dagegen, Frau Gregor zu werden, und aus +keinem andern Grunde behandelt sie ihn zuweilen schlecht, wenn er mehr +Entgegenkommen erwartet. Sie weiß, was man tun muß, um von einem Mann +geachtet oder gar geheiratet zu werden, und sie ist, seitdem sie die +Fürsorgestelle im Hafen hat, ihren Vorsätzen treu geblieben.</p> + +<p>Fand sie nicht erst kurz zuvor eine Bestätigung für die Richtigkeit +ihrer Erkenntnis, da selbst bei einer Irmgard Pohl keine Ausnahme +gemacht wurde? Sie hat ein weites Herz, doch jetzt ist sie +fünfundzwanzig Jahre alt, und da muß eine Frau mindestens wissen, was +sie will.</p> + +<p>»Nein,« sagt Herr Gregor mit schwachem Lächeln, »solche Sorgen habe +ich nicht. Sie sind ja auch immer gut zu mir, darüber kann ich nicht +klagen.«</p> + +<p>Das klingt fast wie eine Werbung. Schwester Emmi rückt auch nicht ab, +während seine kalte Hand nach ihr tastet.</p> + +<p>»Aber ich hatte sehr schwere Geldverluste. Ein Rechenfehler, den ich +nicht rechtzeitig bemerkt habe. Später fehlte mir der Mut, es zu +melden, und nun muß ich den Verlust tragen.«</p> + +<p>»Das ist ja empörend«, ruft sie geradezu erregt aus. »Verlangt man auch +noch von Ihnen, daß Sie Geld zusetzen? Nein, das dürfen Sie sich nicht +gefallen lassen!«</p> + +<p>»Ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst daran schuld sei, weil ich es nicht +rechtzeitig meldete. Jetzt würde man es mir einfach nicht glauben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p> + +<p>»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist das eine bodenlose +Ungerechtigkeit.«</p> + +<p>»Ja, das glaube ich, daß Sie das nicht verstehen. Es ist auch zu +kompliziert, als daß ich es Ihnen auseinandersetzen könnte. Es muß sich +in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen entscheiden, was daraus +wird. Dann darf ich wohl alles erwarten, wenn ich es nicht vorher +gutmachen kann. Doch das Schlimmste wird sein, daß ich mir dann eine +Kugel durch den Kopf schießen muß.«</p> + +<p>»Großer Gott, was sagen Sie da?« Sie ist aufgesprungen und läuft ganz +entsetzt in ihrem kleinen Zimmer umher.</p> + +<p>»Ist es denn so schlimm?« flüstert sie, während sie vor ihm +stehenbleibt und die Hand auf seine Schulter legt.</p> + +<p>Da wirft er den Kopf nach vorn und stöhnt laut und gurgelnd auf. Die +Spannung der entsetzlichen letzten Wochen mit den fortdauernden kleinen +Unterschlagungen, von denen eine immer die andere nach sich zog, die +Erregung des heutigen Tages, da er sich entdeckt glaubt, das alles löst +sich in einem Schluchzen auf.</p> + +<p>Die Tränen fließen an seinen schmalen blassen Fingern vorbei auf den +empfindlichen Anzug. Aber er nimmt keine Rücksicht darauf, er ist nun +am Ende seiner Kraft. Auch die betäubenden Vergnügungen in den lauten +Lokalen, die ihn seine verzweifelte Lage doch nicht vergessen ließen, +der übermäßige Genuß von Alkohol und Zigaretten, der versäumte<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Schlaf, +das alles rächt sich nun, so daß er nicht mehr Herr über sich selbst +werden kann.</p> + +<p>Schwester Emmi versucht es immer wieder mit freundlichen und tröstenden +Worten, sie streichelt seinen Rücken, die vollen schwarzen Haare, und +sie ist selbst ganz verzweifelt, weil sie ihm damit nicht helfen kann.</p> + +<p>Endlich stützt sie die Arme auf den Tisch, gräbt die Finger in ihren +blonden Haarschopf und beginnt krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen. +Sie überlegt so angestrengt, daß ihr Gesicht ganz zerknittert ist.</p> + +<p>Mein Gott, es müßte ihm doch irgendwie zu helfen sein. Gibt es nicht +unzählige reiche Leute, die einem tüchtigen Menschen mit ein paar +Brocken ihres großen Vermögens das Leben retten könnten? Sie wollte +den sehen, der es fertigbrächte, ihn durch seine Weigerung einfach zu +töten, wenn sie ihm die Lage schilderte, wie sie wirklich ist.</p> + +<p>Bei diesem Gedanken kommt ihr der großartige Einfall. Sie schreit +geradezu auf vor Freude. Ja, das war ein Ausweg, sie wollte es tun!</p> + +<p>Sie packt Herrn Gregor bei den Schultern.</p> + +<p>»Hören Sie doch, ich kann Ihnen helfen! Sagen Sie mir, wieviel es ist.«</p> + +<p>Herr Gregor schüttelt sie ab und flüchtet in eine Ecke des Zimmers. Er +dreht ihr den Rücken und trocknet mit einem seidenen Taschentuch seine +Tränen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p> + +<p>»Was werden Sie nur von mir denken, daß Sie mich in diesem Zustande +sehen? Sie müssen mich verachten«, stammelt er.</p> + +<p>»Nein,« sagt sie, »ich verachte Sie nicht. Ich habe sogar den +Generaldirektor weinen sehen, damals bei der großen Katastrophe. Er +drehte sich um, wie Sie eben, aber an seinen Schultern habe ich es +erkannt, daß er weinte. Nun müssen Sie mir wieder Ihr Gesicht zeigen, +hier ist ein Schwamm, und dann sagen Sie mir, wie hoch die Summe ist, +damit ich Ihnen helfen kann.«</p> + +<p>Und weil er sich so ungeschickt mit ihrem Schwamm anstellt, wäscht sie +ihm das Gesicht wie dem kleinen Tom und trocknet es mit ihrem Handtuch. +Als er sie nun mit einem zagen Lächeln im rotgeriebenen Gesicht +ansieht, erinnert er gar nicht mehr an den gepuderten und blasierten +jungen Mann von einst, er ist ein großer hilfsbedürftiger Junge, und +sie gibt ihm plötzlich einen schallenden Kuß auf die kühlen Lippen. Da +packt er sie und will sie nicht wieder loslassen.</p> + +<p>»Sie müssen vernünftig werden,« mahnt sie, »Sie sollen mir die Summe +nennen, damit ich Ihnen helfen kann.«</p> + +<p>»Du kannst mir doch nicht mehr helfen. Es ist jetzt zu spät. Aber +allein lassen darfst du mich heute nicht, denn sonst bringe ich mich +um.«</p> + +<p>Schwester Emmi läßt keinen Menschen sehenden Auges in den Tod gehen. — +—</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p> + +<p>Am nächsten Vormittag kommt sie mit sehr blassem Gesicht zu Herrn +Karcher ins Bureau.</p> + +<p>»Darf ich hier telephonieren?« fragt sie.</p> + +<p>»Ja«, erwidert er. »Aber sind Sie krank?«</p> + +<p>»Ach nein«, wehrt sie ab. »Ich habe nur ein sehr wichtiges +Telephongespräch, dann bin ich immer vor Aufregung ganz blaß.«</p> + +<p>Herr Karcher schweigt, er beobachtet sie über seinen Federhalter +hinweg, während sie im Telephonbuch blättert.</p> + +<p>Nachdem sich der Teilnehmer gemeldet hat, bittet sie, mit Herrn Stein +persönlich zu verbinden. Herr Karcher will nicht indiskret sein, doch +es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte anzuhören, denn sie +steht direkt neben seinem Tisch.</p> + +<p>»Verreist?« stammelt sie fast tonlos. »Ja — aber — ja, wann kommt +er zurück? Heute abend? Ach danke, nein.« Sie scheint zum Schluß noch +etwas erleichtert.</p> + +<p>»Das ist doch Pech, nicht wahr?« sagt sie erklärend zu Herrn Karcher, +»wenn man einen Menschen in so wichtiger Angelegenheit sprechen will, +und er ist verreist.«</p> + +<p>»Ja, das ist unangenehm. Dann kommen Sie heute abend noch einmal?«</p> + +<p>»Ach ja. Aber ich habe gar nicht gefragt, um welche Zeit er zurückkommt +und ob ich ihn noch im Bureau antreffe. Das war nämlich in seinem +Geschäft. Mein Gott, wie dumm ich bin. Das kommt alles davon, daß ich +mich immer so aufrege,<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> wenn ich telephoniere. Was mache ich denn +jetzt? Können Sie mir einen Rat geben?«</p> + +<p>»Vielleicht rufen Sie da noch einmal an?« schlägt Herr Karcher +schüchtern vor.</p> + +<p>»Nein, nein. Dann will ich lieber heute nachmittag wiederkommen. — +Wenn es Ihnen recht ist.«</p> + +<p>»Mir ist es immer recht, Schwester Emmi. Sehr recht ist es mir. Aber +Sie haben einen Kummer, Schwester Emmi. Kann ich Ihnen nicht irgendwie +beistehen?«</p> + +<p>»Was Sie denken! Es ist wirklich nichts«, meint sie mit erzwungenem +Lächeln.</p> + +<p>»Sie haben mir die Knöpfe angenäht und mir manchmal warmes Essen +gebracht, Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Warum kann ich Ihnen +nicht etwas davon vergelten?«</p> + +<p>»Ach, das können Sie doch nicht«, ruft sie ganz verzweifelt aus, so daß +sich ihre Stimme überschlägt.</p> + +<p>Dann rennt sie ohne Gruß davon. Herr Karcher sieht sie am Fenster +vorbeiflüchten. Der kalte Nordwind zerrt an ihren blonden Haaren, daß +sie ganz zottelig um ihr kleines Gesicht wehen.</p> + +<p>Am Nachmittag kommt sie wieder. Sie ist jetzt viel gefaßter, nur ihre +Hand zittert, wie sie nach dem Hörer greift.</p> + +<p>Herr Stein ist noch nicht zurück. Er wird um sechs Uhr erwartet.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p> + +<p>Da läßt sie sich mit der Generaldirektion verbinden. Sie will Herrn +Gregor sprechen. Herr Gregor sei nicht da, wird ihr geantwortet.</p> + +<p>»Er ist nur nicht in seinem Zimmer, meinen Sie?« gibt sie gereizt +zurück.</p> + +<p>»Nein, er ist heute überhaupt nicht gekommen.«</p> + +<p>»Das ist doch nicht möglich,« sagt sie empört, »er ist doch heute +morgen ins Bureau gegangen —«</p> + +<p>Aber da wirft sie den Hörer hin, als ob er ihr die Finger verbrenne. +Was hat sie denn da für eine Dummheit gemacht? Wenn er nicht ins Bureau +gegangen ist, so hatte er wohl seine Gründe dafür, und es wäre keinem +Menschen etwas Besonderes aufgefallen, wenn sie nicht jetzt darauf +aufmerksam gemacht hätte. Ihr blieb es vorbehalten, ihn zu verraten.</p> + +<p>Sie rennt in dem kleinen Kontor zwischen Tür und Schreibtisch umher und +ringt die Hände.</p> + +<p>Herr Karcher hat das Telephon in Ordnung gebracht und sieht stumm und +hilflos in sein Kontobuch. Es ist fünf Uhr und seine Arbeitszeit war +vor einer Stunde beendet. Er mußte länger bleiben, weil Schwester Emmi +telephonieren wollte. Was hätte sie denn sonst anfangen sollen? —</p> + +<p>Vor dem Hafentor steht Irmgard Pohl, die um fünf Uhr eingeladen war. +Sie denkt keinen Augenblick daran, daß Schwester Emmi sie vergessen +haben könnte; es werden wichtige<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Arbeiten genug vorliegen, die sie +verhindern, ihr entgegenzugehen.</p> + +<p>Das Warten in der schönen klaren Winterluft wäre auch nicht so +unangenehm, wenn sie nicht fürchten müßte, Joachim Becker zu begegnen +und wenn nicht ein breiter untersetzter Herr mit einem kräftigen +Schnurrbart gleichfalls in der Nähe des Wächterhauses spazierenginge. +Sie weicht zwar seinen Blicken aus, aber sie fühlt, daß sie von Kopf +bis Fuß gemustert wird.</p> + +<p>Hinter dem Tor, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, erscheint immer +wieder ein kleiner Herr mit gespreiztem Gang, der gleichfalls jemand +erwartet. Wenn er auf seinem merkwürdigen Spaziergang in die Nähe +des Tores kommt, kann er sie sehen, obgleich sie sich Mühe gibt, ihm +auszuweichen. Irmgard weiß nach Schwester Emmis Beschreibungen, daß es +der Kapitän ist, sie hat ihn auch oft genug vom Mühlenplatz, jenseits +des Kanals, bemerkt, ebenso wie er bei gelegentlichen Blicken zum +Nachbarn die Mühle und ihre Angehörigen wohl beobachten kann.</p> + +<p>Als er wieder in die Nähe des Tores kommt, gibt sie endlich das Spiel +auf. Sie geht zum Wächter und fragt nach der Fürsorgeschwester, so daß +der Kapitän es hören kann.</p> + +<p>»Wollen Sie hier hinein?« fragt der Kapitän.</p> + +<p>Ja, wenn es erlaubt sei und sie Schwester Emmi sprechen könne. Und weil +sie glaubt, daß man sich hier als Besucher<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> ausweisen muß, fügt sie +hinzu: »Ich bin Ihre Nachbarin, Irmgard Pohl.«</p> + +<p>»Ah so,« sagt der Kapitän verbindlich, »das ist sehr interessant.« Und +dann stellt er sich vor. Sie wird hier ganz und gar als Dame behandelt, +obgleich sie nur die Fürsorgeschwester besuchen will.</p> + +<p>Er bittet sie in sein Bureau und sendet jemand aus, der Schwester Emmi +an ihre vernachlässigten Pflichten als Gastgeberin erinnern soll.</p> + +<p>Inzwischen plaudert er mit Irmgard Pohl, als wäre ihm nicht bekannt, +daß sie zum Feinde gehöre. Er habe schon lange die Absicht gehabt, +ihrem Vater einen Besuch zu machen, und er werde, wenn es erlaubt sei, +in den nächsten Tagen vorsprechen.</p> + +<p>Irmgard kennt nicht die Absichten der Hafengesellschaft — man hatte +bisher nur Rechtsanwalt Bernhard gesandt —, aber sie verspricht, ihren +Vater auf den Besuch des Kapitäns vorzubereiten.</p> + +<p>Sie ist erleichtert, als endlich Schwester Emmi erscheint, die nicht +zu versichern braucht, daß sie über der vielen Arbeit die Einladung +vergessen habe — man sieht es ihr an, wie sehr sie überanstrengt und +durch den Schrecken über ihre Nachlässigkeit verstört ist.</p> + +<p>Irmgard dankt dem Kapitän und will die Teestunde bei Schwester Emmi auf +einen anderen Tag verlegen. Doch sie wird mit vielen Worten überredet, +zu bleiben. Die Schwester<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> plaudert unaufhörlich, sie kann gar kein +Ende damit finden, sich zu entschuldigen und Erklärungen über ihre +Vergeßlichkeit abzugeben.</p> + +<p>Was hatte sie ihr alles zeigen wollen! Aber nun ist nicht einmal Gebäck +im Haus, und Irmgard muß selbst dafür sorgen, daß sie eine Tasse Tee +erhält, denn Schwester Emmi ist sehr zerstreut und läuft wie ein +Irrwisch umher, ohne etwas fertigzubringen. Auf dem Tisch liegen noch +Zigarettenreste, und das Zimmer ist nicht aufgeräumt. So empfängt man +einen Besuch, auf den man sich lange gefreut hat.</p> + +<p>Irmgard Pohl hat wohl gemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, es +liegt jedoch nicht in ihrer Art, zu fragen. Sie erzählt von dem kleinen +Michael und stellt fest, daß der Kapitän ein sehr liebenswürdiger Herr +sei. Es war kaum ihre Absicht, sich im Hafen offiziell empfangen zu +lassen, aber sie darf mit der freundlichen Aufnahme zufrieden sein.</p> + +<p>Schwester Emmi hat sich inzwischen etwas erholt. Sie kann sogar darüber +scherzen, was sie für eine schlechte Hausfrau sei.</p> + +<p>Als sie sich zum Tee niedergelassen haben, wird die Tür aufgerissen, +und Herr Gregor stürzt herein.</p> + +<p>»Kannst du mir eine Reisetasche leihen?« fragt er Schwester Emmi +hastig, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, »ich muß sofort +geschäftlich verreisen.«</p> + +<p>Seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, und er sieht nicht, daß +noch jemand im Zimmer ist. Irmgard Pohl blickt peinlich berührt in ihre +Teetasse.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span></p> + +<p>Schwester Emmi geht schweigend zum Schrank und reicht ihm einen kleinen +Koffer. Er reißt ihn ihr aus der Hand und läuft wortlos davon.</p> + +<p>Die Schwester bringt auch jetzt noch keinen Ton hervor. Aber in ihrem +Gesicht zuckt und kämpft es, daß Irmgard Pohl es kaum mit ansehen kann.</p> + +<p>Dann hört man draußen Schritte. Schwester Emmi läuft zur Tür und horcht +angespannt. Plötzlich reißt sie die Tür auf.</p> + +<p>In diesem Augenblick geht der Kapitän mit zwei Herren vorbei. Der eine +ist breit und untersetzt, mit einem kräftigen Schnurrbart. Sie öffnen, +ohne anzuklopfen, Herrn Gregors Tür und verschwinden.</p> + +<p>Irmgard Pohl versucht, Schwester Emmi, die am Türpfosten lehnt, in das +Zimmer zu ziehen. Doch sie ist wie taub, sie stemmt sich gegen alle +milden Versuche und bleibt so lange im Korridor, bis einer der beiden +Herren mit Herrn Gregor vorbeikommt. Der andere folgt an der Seite des +Kapitäns.</p> + +<p>Schwester Emmi starrt auf die Handschellen, die man Herrn Gregor +angelegt hat. Der Kapitän bleibt vor ihr stehen.</p> + +<p>»Der Herr Kommissar will nur die Personalien aufnehmen,« sagt er +höflich, »weil Sie die Nachbarin sind. Dürfen wir nähertreten?«</p> + +<p>In diesem Augenblick bemerkt er Irmgard Pohl. Er bittet, die Störung zu +entschuldigen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p> + +<p>Irmgard, die mit Herzklopfen den Vorgang verfolgt hat und den Herrn +wiedererkennt, der sie vor dem Hafeneingang beobachtet hat, steht auf +und sagt:</p> + +<p>»Bitte. Ich wollte ohnehin gehen.«</p> + +<p>»Darf ich vorher auch Ihre Personalien feststellen?« fragt der Beamte.</p> + +<p>Sie fährt erschreckt zusammen.</p> + +<p>»Ich habe doch mit der Angelegenheit nichts zu tun«, stammelt sie. »Ich +bin heute zum erstenmal hier.«</p> + +<p>Bei dem Gedanken, daß ihre Personalien in das Protokoll aufgenommen +und Joachim Becker vorgelegt werden könnten, packt sie der Mut der +Verzweiflung. Sie will ihren Namen auf keinen Fall preisgeben und sieht +den Kapitän hilfeflehend an.</p> + +<p>Er aber meint: »Es ist lediglich eine Formsache. Die Akten sind +vollkommen diskret.«</p> + +<p>»Nein, nein«, ruft sie aus. »Ich lasse meinen Namen nicht mit +hineinziehen!«</p> + +<p>Da erwacht endlich Schwester Emmi aus ihrer Erstarrung.</p> + +<p>»Ich kann es beschwören, daß die Dame Herrn Gregor nicht gekannt +hat und daß sie heute zum erstenmal hier ist. Sie ist eine frühere +Patientin von mir. Ich bin die Fürsorgeschwester vom Hafen.«</p> + +<p>Das sind die ersten Worte, die sie seit Herrn Gregors plötzlichem +Auftreten und seiner Verhaftung spricht, und sie gelten wieder einer +hilfreichen Tat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p> + +<p>Die beiden Herren schweigen.</p> + +<p>»Im übrigen«, fügt sie mutig hinzu, »weiß der Herr Kapitän den Namen, +und er wird sich denken können, daß die Dame mit der Sache nichts zu +schaffen hat.«</p> + +<p>Der Kommissar sieht ihn fragend an.</p> + +<p>»Wenn Sie auf die Personalien verzichten wollen?« fragt er den Kapitän, +als dieser sich nicht äußert.</p> + +<p>»Da Sie es selbst vorschlagen — ja.«</p> + +<p>Irmgard Pohl darf den Schauplatz verlassen. Sie blickt Schwester Emmi +dankerfüllt an. Dann eilt sie mit kurzem Gruß davon.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Mann_in_der_Mitte">Der Mann in der Mitte</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-a004" src="images/drop-a004.jpg" alt="A"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>uf der Föhrbrücke kehrt sie wieder um. Sie kann in dieser Erregung +unmöglich ihren Eltern begegnen.</p> + +<p>Ihr Gesicht brennt, und sie ist von heftigem Groll gegen den Kapitän +erfüllt. Während sie abenddunkle Straßen aufsucht, um ihre Gedanken +zu ordnen, wird ihre Abneigung gegen ihn immer stärker. Wohl hat er +sie sehr liebenswürdig empfangen, obgleich sie kein Verlangen danach +hatte, seine Bekanntschaft zu machen, aber als es darauf ankam, ihr +beizustehen, versagte er.</p> + +<p>Wie hätte Joachim Becker sich in dieser Situation benommen? Oh, er wäre +der Zumutung des Kommissars sofort ganz energisch begegnet. Er hätte +sie wie ein Ritter geschützt. Der Kapitän jedoch stand zwischen beiden +Parteien und wollte niemand zu nahe treten.</p> + +<p>Sie haßt diese lauen Menschen, sie haßt den Kapitän. Nur der Gedanke an +Schwester Emmis treue Bereitschaft söhnt sie wieder aus.</p> + +<p>Sie beginnt, sich von ihrem Groll gegen den Kapitän abzuwenden und über +Schwester Emmis Schicksal nachzudenken. Das ist ein armer schwacher +Mensch, der in seiner<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> Liebe zu den anderen wirklich sehr weit geht. +Hat sie sich nicht zuviel mit diesem eleganten, blassen Herrn Gregor +abgegeben, der nun verhaftet werden mußte?</p> + +<p>Irmgard Pohl weiß nicht, welches Vergehen dem Herrn Gregor vorgeworfen +wird, aber so viel stand fest, daß er von Schwester Emmi eine +Reisetasche forderte und flüchten wollte. Er kam einfach in ihr Zimmer +und sagte »Du« zu ihr.</p> + +<p>Frau Pohl hatte wohl recht damit, daß die blonde Fürsorgeschwester +leichtsinnig sei und keinen moralischen Halt habe. Doch warum sollte +sie diesen Menschen nicht auf ihre Art lieben?</p> + +<p>Da steht sie nun mutig vor den beiden Herren, läßt sich ausfragen und +gibt klare Antworten, ihr Freund aber ist mit Handschellen abgeführt +worden, und wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer geht, so begegnet sie +ihm weder auf dem Korridor noch unten im Hafen. Sie wird ihn nirgends +mehr treffen, denn er sitzt hinter dicken Mauern und hat viel Zeit, +über seine Vergehen und über Schwester Emmis Liebe nachzusinnen.</p> + +<p>Während Irmgard Pohl ihren Beruhigungsspaziergang fortsetzt und an das +Protokoll denkt, in dem nun ihr Name nicht verzeichnet ist, fällt ihr +ein, daß auch eine Reisetasche für das Verfahren von Bedeutung sein +kann. Hat der Verhaftete sie nicht für die Flucht benutzen wollen? Sie +gehört ihm nicht, und wer sie ihm gegeben hat, macht sich der<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Beihilfe +schuldig. Oh, das kluge Fräulein Pohl, das eine Handelsschule besucht +hat und jetzt Sekretärin in der Mühle ihres Vaters ist, vermag sehr +logisch zu denken, was sonst nicht Frauenart ist.</p> + +<p>Sie verfügt nun wieder über ihren klaren Verstand und hat alle Folgen +eines Strafverfahrens vor Augen. Man liest nicht ohne Gewinst die +Zeitungen und vernimmt von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen. Wer +weiß außer ihr, daß Herr Gregor den Koffer für eine Geschäftsreise +forderte und sonst kein Wort darüber verlor?</p> + +<p>Schwester Emmi hatte ihren Besuch mutig vor dem Protokoll gerettet. Was +aber tat Irmgard Pohl? Sie dachte nur an die Rettung ihres Namens und +rannte davon.</p> + +<p>Wie lächerlich erscheint ihr jetzt ihre Furcht vor Joachim Becker. Hat +er damals daran gedacht, daß sie ihren guten Ruf verlieren könnte? +Nein, er ließ sie im Stich und sorgte für sich selbst. Warum sollte +ihr Name nicht im Protokoll stehen? Weil es der Name ihres Vaters ist? +Michael Pohl ist es gleichgültig, was mit seinem Namen geschieht, wenn +man nur vor sich selber ein anständiger Mensch bleibt und die eigene +Achtung behält.</p> + +<p>Und darum muß sie nun zurückgehen und sich als Entlastungszeugin für +Schwester Emmi melden.</p> + +<p>Sie wird am Hafentor ohne weiteres eingelassen, denn der Kapitän selbst +hatte es ja erlaubt. Obgleich sie daran zweifelt, die Herren noch in +Schwester Emmis Zimmer zu<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> treffen, nimmt sie doch ihren Weg zunächst +in das Gebäude der Hafenwirtschaft.</p> + +<p>Auf der Treppe begegnet ihr Frau Reiche. Irmgard hat zwar noch nicht +die Bekanntschaft mit der Kantinenwirtin gemacht, aber nach Schwester +Emmis lebhaften Erzählungen ist ihr keine wichtige Person des Hafens +fremd.</p> + +<p>Frau Reiche hat rote geschwollene Augen.</p> + +<p>»Zu wem wollen Sie?« fragt sie mit harter Stimme.</p> + +<p>»Zur Fürsorgeschwester.«</p> + +<p>»Da brauchen Sie gar nicht weiterzugehen, die ist fortgegangen«, gibt +die Kantinenwirtin zurück.</p> + +<p>»Und der Kapitän ist auch nicht oben?« fragt Irmgard. Das ist eine +gar zu dumme Frage. Was sollte der Kapitän allein in Schwester Emmis +Wohnung? Sie hat durch das verstörte Gesicht und die rauhe Stimme der +Frau ihre Fassung wieder etwas verloren.</p> + +<p>»Das Bureau ist drüben. Hier hat der Kapitän noch nie gewohnt.«</p> + +<p>Wie Irmgard schon an der Haustür ist, ruft die Frau ihr keifend nach: +»Wird denn gar keine Ruhe im Haus? Kommen schon fremde Weiber hierher +und schnüffeln in den Korridoren?«</p> + +<p>Irmgard läßt die Tür entsetzt zufallen und eilt zum Verwaltungsgebäude +hinüber. Die Bureauräume im Erdgeschoß sind schon verdunkelt, nur aus +der Wohnung des Kapitäns<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> dringt Licht. Sie geht kurz entschlossen +hinauf und klingelt an seiner Tür.</p> + +<p>Der Kapitän öffnet selbst und ist gar nicht erstaunt, sie +wiederzusehen. An diesem ereignisreichen Tag ist man auf alles gefaßt.</p> + +<p>Er fragt, ob sie mit in das Bureau hinuntergehen oder nähertreten wolle.</p> + +<p>Nein, sie möchte ihn nur einen Augenblick sprechen. Er führt sie in +sein Arbeitszimmer.</p> + +<p>Da ist der große alte Mahagonischreibtisch, beleuchtet vom runden +Schein einer grünbeschirmten Lampe. Auf einem Stuhl daneben steht der +geöffnete Geigenkasten.</p> + +<p>»Ich habe Sie gestört«, sagt Irmgard entschuldigend. »Ich wollte Ihnen +nur einige Worte sagen. Es betrifft Schwester Emmi.«</p> + +<p>»Aber wollen Sie nicht ablegen?« sagt er. »Gestört haben Sie mich +nicht. Sehen Sie, ich bin immer allein. Ich wollte mir eben meinen Tee +bereiten. Ich glaube, ich muß mir doch noch eine Wirtschafterin nehmen.«</p> + +<p>Indem er über seine Angelegenheiten plaudert, läßt er ihr Zeit, sich +zu sammeln. Sie kann ihm plötzlich doch nicht mehr grollen, diesem +einsamen Mann mit dem Geigenkasten.</p> + +<p>Während sie sich umwendet, um ihr Taschentuch aus dem Mantel zu +nehmen, den er auf den Diwan gelegt hat, schließt er rasch den Kasten +und stellt ihn hinter<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> den Schreibtisch. Dann bietet er ihr den frei +gewordenen Stuhl an.</p> + +<p>So, nun wird er wieder kühl, fast geschäftsmäßig. Es scheint +wahrhaftig, als wäre es in seinen Augen eine Schande, wenn ein +Hafendirektor Geige spielt. Er schließt seine Gefühle fest ein und geht +im Zimmer umher, als sei nun alles in Ordnung.</p> + +<p>Irmgard bringt ihr Anliegen vor und berichtet von dem Koffer.</p> + +<p>»So,« sagt der Kapitän, »der Koffer gehört der Fürsorgeschwester? Das +ist sicherlich noch nicht bekannt. Ich werde es jedenfalls melden. Und +ob wir Sie brauchen, das steht noch nicht fest. Für alle Fälle danke +ich Ihnen.«</p> + +<p>Nun wäre Irmgards Mission beendet, aber sie steht nicht auf, um ihn zu +verlassen.</p> + +<p>»Wenn der Koffer bis jetzt keine Rolle gespielt hat,« meint sie +unschlüssig, »so brauchen wir das Verfahren damit vielleicht nicht +zu komplizieren. Schwester Emmi hat also anscheinend bisher mit der +Angelegenheit nichts zu tun. Könnte man denn nicht alles beim alten +lassen? Warum sollen wir sie unnötig hineinziehen?«</p> + +<p>Sie redet sehr vertraut mit ihm. Sie sagt »wir« und schließt ihn in +eine Partei ein, in die er als Direktor des Hafens wohl nicht gehört. +Das empfindet sie im Augenblick, da sie zu Ende gesprochen hat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p> + +<p>Der Kapitän nimmt auch gleich die richtige Stellung ein.</p> + +<p>»Was Sie mir gemeldet haben,« sagt er, »muß ich weitergeben. Das übrige +wollen wir den Gerichten überlassen.«</p> + +<p>»Ja,« erwidert sie nicht ohne Vorwurf, aber mit schwachem Lächeln, »Sie +müssen sich schon als neutrale Person in die Mitte stellen. Aber der +Schwester habe ich vielleicht mit meiner nachträglichen Meldung keinen +guten Dienst geleistet.«</p> + +<p>»Das können wir nicht wissen. Und warum soll sie ihre Tasche nicht +zurückerhalten? Es ist nur schade, daß Sie vorhin fortgegangen waren, +denn dann hätten wir Widersprüche vermieden.«</p> + +<p>»Widersprüche?« fragt Irmgard ängstlich. Sie weiß, daß Frauen in der +Notlage immer zuerst zu einer Lüge greifen. Was mochte also Schwester +Emmi ausgesagt haben?</p> + +<p>»Sie meinten vorhin, daß ich mich in die Mitte stelle. Damit haben +Sie recht. In diesem Fall gehöre ich dahin, und ich kann Ihnen nicht +die Erklärungen geben, die Sie vielleicht wünschen. Ihren Besuch +darf ich nicht ungeschehen machen, wenn Sie mir deswegen vielleicht +auch grollen. Sie sehen, wie unrecht es war, vorhin von der Mitte +abzuweichen und Ihnen die Vernehmung zu ersparen.«</p> + +<p>»Ach, sind Sie da schon von der Mitte abgewichen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p> + +<p>Er überhört durchaus nicht die Ironie in ihrer Frage. Sein Gesicht +scheint, soweit es überhaupt Gefühlsregungen verraten kann, traurig und +verfallen.</p> + +<p>»Ja,« sagt er, »wir Menschen in der Mitte werden verachtet, weil wir +es keinem recht machen — weder dem einen noch dem anderen. Wir haben +keine Feinde, aber wir verschaffen uns auch keine Freunde.«</p> + +<p>Er erhebt sich und tritt damit aus dem Lichtkreis der Lampe. Dann nimmt +er seine Wanderung im Zimmer wieder auf und spricht weiter:</p> + +<p>»Wer fragt danach, <em class="gesperrt">warum</em> es ein Mensch für richtig hält, immer +in der Mitte zu stehen und damit niemand unrecht zu tun? Wir würden +einander viel Ärger und Leiden ersparen, wenn wir uns alle daran halten +wollten.«</p> + +<p>Irmgard muß an Joachim Becker denken, der niemals in der Mitte steht, +sondern immer auf der einen Seite, während er der anderen Unrecht +zufügt. Und sie selbst gehört zu der leidenden Partei. Hätte er aber +sonst diesen Hafen gegründet?</p> + +<p>»Wohin sollte das führen?« fragt sie den Kapitän. »Wäre dann ein Cäsar +oder ein Napoleon möglich? Und wo blieben ihre ungeheuren Taten? +Ich denke mir, daß jedes große Werk ein Opfer auf der anderen Seite +fordert.«</p> + +<p>»Es gibt robuste Naturen, denen es möglich ist, die Konsequenzen +ihrer einseitigen Handlungen zu tragen. Es steht<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> mir fern, sie +zu verurteilen, denn ich sehe ihren Standpunkt ebenso wie den der +Schwachen.«</p> + +<p>»Richtig,« sagt Irmgard bitter, die jedes Wort als einen Hieb auf +Joachim Becker empfindet, »Sie dürfen ja nicht nur die Mittelmäßigkeit +verteidigen, Sie haben sich die Aufgabe gestellt, zwischen allen +Parteien zu stehen.«</p> + +<p>Sie wird ungerecht, ja, ihre Worte sind fast beleidigend, aber sie +spricht zu einem Mann, der auch ihre Ansicht verstehen muß. Was darf +sie ihm nicht alles sagen! Wird er nicht letzten Endes jedes Wort ruhig +hinnehmen müssen und verständnisvoll verzeihen? Die harten Worte kommen +aus einem schwachen oder starken Gefühl; er aber steht über allen +Schwankungen des Herzens und hat seinen Standpunkt in der Mitte.</p> + +<p>»Ach, wie schwer muß es sein, diesem Vorsatz treu zu bleiben!« fügt sie +seufzend hinzu, während sie aufsteht und sich verabschieden will.</p> + +<p>Sie hat kein Erbarmen mit diesem einsamen Menschen, der gehetzt im +Zimmer umherrennt und durchaus nicht den Eindruck hervorruft, als seien +seine Empfindungen klar und geebnet.</p> + +<p>»Bitte, bleiben Sie noch«, sagt er, ohne seine Wanderung zu +unterbrechen. »Sie wollen mich kränken. Sie sind grausam, und ich +weiß nicht, womit ich mir das verdiente. Haben Sie nicht darüber +nachgedacht, daß das, was Sie die Mittelmäßigkeit nennen, nach schweren +Kämpfen aus Stärke und<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Schwäche erwachsen kann? Wie viele Ursachen +dürften dafür vorhanden sein! Es gibt Erlebnisse, die das Wesen eines +Menschen von Grund auf verändern. Ich will nicht von mir sprechen, es +liegt mir fern, Sie damit zu langweilen. Aber nehmen wir ein Beispiel +an. Ich will es so wählen, daß auch Sie als Frau es verstehen können:</p> + +<p>Ein Mann glaubt, sehr geliebt zu werden. Er selbst — nun lassen wir +das. Er vertraut ihr und begibt sich auf eine weite Reise. Er fährt +in fremde Erdteile, vielleicht, weil es sein Beruf erfordert oder +weil es ihm Spaß macht. Jedenfalls bleibt er sehr lange fort, und er +hat keinen Grund, seiner Frau zu mißtrauen. Er zweifelt niemals an +ihrer Treue, darum trifft es ihn so unvermittelt, als sie ihm selbst +gesteht, ihn betrogen zu haben. Sie hat keine äußere Ursache, es ihm +zu sagen, ihr Gewissen treibt sie dazu, weil sie innerlich wieder zu +ihm zurückgefunden hat. Der Mann gehört aber nicht zu den Neutralen, +die auch die Schwächen der anderen verstehen. Nein, er sieht nur seine +Seite, das an ihm begangene Unrecht, das getäuschte Vertrauen. Mit +dem Recht des Starken verurteilt er, ja, er ist ohne Gnade, und die +Frau geht ganz verzweifelt fort. Vielleicht wissen Sie, wie grausam +ein Mensch sein kann, wenn er nur sein eigenes Herz schlagen fühlt und +nicht auch das Herz des anderen. Aber dann kommt die Stunde, da sich +plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt.«</p> + +<p>Der Kapitän bleibt stehen und blickt Irmgard Pohl mit<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> verlorenen +Blicken an. Nein, er sieht nicht das fremde junge Mädchen, das zu ihm +gekommen ist, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, er arbeitet an +seinem »Beispiel«. Und er geht wieder mit gespreiztem Gang im Zimmer +umher, während er die Hände auf dem Rücken fest ineinanderlegt.</p> + +<p>»Kaum ist sie fortgegangen, so daß er die Einsamkeit spürt, da sieht +er auch die andere Seite. Er stellt sich wieder nicht in die Mitte, +er springt zum anderen Extrem hinüber. Da beginnt er nun mit der +Verteidigung der jungen Frau, die er selbst dem vielfältigen Leben +schutzlos gegenübergestellt hat. Sie war jung und hat gefehlt, aber +sie macht kein Hehl daraus, sie bekennt offen ihr Unrecht. Wie muß sie +dem Manne vertraut haben, und welche Größe hat sie von ihm erwartet, +da sie seiner Verzeihung so gewiß war. Er aber jagt sie davon. So sind +die Menschen: wie man soeben den anderen verurteilt hat, so richtet +man nun sich selbst. Wir finden keinen guten Weg dazwischen. Er will +sie zurückholen, doch er weiß nicht, wo er sie suchen soll. Und er +irrt eine ganze Nacht am Hafen, an den Fleeten, an jedem Wasser und +auf allen Brücken umher und weiß sich keinen Rat. Am Morgen treibt ihn +seine Verzweiflung in irgendeine Kirche, ihn, der keine Konfessionen +kannte und kein Gebet, nur sein Vertrauen auf die eigene Kraft. Er +bittet irgendeinen Gott, ihm zu helfen. Er legt ein Gelübde ab, eine +Beichte, er faltet die Hände, er kniet, er will allen Religionen +gerecht werden, um den wahren Gott zu finden, der ihm helfen<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> kann. +Aber wie er nach Hause kommt, hat die Frau das Leben weggeworfen, das +sie neu beginnen wollte und das er ihr zerstört hat — —«</p> + +<p>Der Kapitän bricht plötzlich ab, ohne seine Stimme zu senken, als +wollte er etwas hinzufügen. Doch er schweigt. Er rückt ein Bild an der +Wand zurecht, eine afrikanische Landschaft, die mit seiner Erzählung +nichts zu schaffen hat. Man sieht, daß ihn selbst sein Beispiel nichts +angeht, es berührt ihn nicht, er kann sich sogar wieder mit einer +afrikanischen Landschaft beschäftigen, er ist ja der Mann in der Mitte. +Nur, daß er die Schlußfolgerung aus seiner Erzählung nicht mehr gezogen +hat, war ihm dabei entgangen.</p> + +<p>Aber das ist nicht nötig. Seine Zuhörerin hat ihn auch so verstanden. +Sie erhebt sich und sagt: »Ja, da will ich jetzt gehen. Verzeihen Sie +mir.«</p> + +<p>»Ach, wollen Sie gehen?« fragt er lächelnd. »Nein, ich habe nichts zu +verzeihen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater, und wenn es +recht ist, so will ich ihm demnächst meine Aufwartung machen.«</p> + +<p>Er begleitet sie bis zur Haustür und dankt ihr für den Besuch.</p> + +<p>Irmgard Pohl geht langsam zum Hafentor. Wieviel stürmt auf einen jungen +Menschen ein, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird! Soll man +sich nun noch mit den fremden Schicksalen beschäftigen? Sie ist fast +erdrückt unter der Last ihrer Gedanken und Gefühle.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> + +<p>Wie schön war es sonst, in solchen Stunden Schwester Emmi zu begegnen, +die plaudert und mit ihrem erheiternden Lachen alle schweren Gedanken +davonjagt. Eine leichte und sonnige Natur ist viel wert, aber nun kommt +Schwester Emmi kurz vor der Föhrbrücke Irmgard Pohl entgegen, und ihr +Gesicht scheint grau und alt.</p> + +<p>»Haben Sie mich gesucht?« fragt sie, während sie bei der Anstrengung zu +einem Lächeln den rechten Mundwinkel herabzieht.</p> + +<p>»Ja«, sagt Irmgard, obgleich es nicht ganz den Tatsachen entspricht. +»Wo sind Sie gewesen? Sie sehen elend aus. Warum bleiben Sie nicht zu +Hause?«</p> + +<p>»Ach, ich mußte einen wichtigen Besuch machen. Bei einem Herrn Stein +war ich, dem Mann einer früheren Patientin. Aber er hatte heute keine +Zeit für mich, er war eben von der Reise gekommen. Das hätte ich +mir denken können, nicht wahr? Ich weiß nicht, wo ich heute meine +Überlegung habe, ich mache alles verkehrt.«</p> + +<p>Irmgard sieht ihr prüfend in die starren Augen. ›Warum erzählt sie mir +das alles mit diesem unheimlichen Gesicht?‹ denkt sie. Nun forscht sie +weiter, um Schwester Emmi Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen und +aus ihrer Erstarrung herauszufinden.</p> + +<p>»Was wollten Sie von diesem Herrn Stein? Mußten Sie ihn noch heute +sprechen?«</p> + +<p>»Ja«, antwortet die Schwester. »Es mußte sofort sein,<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> obgleich es +schon zu spät ist. Aber vielleicht kann ich ihn doch noch retten.«</p> + +<p>»Meinen Sie Herrn Gregor?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Was kann dieser Herr Stein für ihn tun? Handelt es sich um Geld?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Und Sie glauben, daß Sie es von dem Herrn bekommen, wenn Sie abends in +sein Bureau gehen?«</p> + +<p>»Er hat es mir nicht direkt abgeschlagen, er meinte, falls ich morgen +abend käme, wenn er Zeit hätte, dann könnten wir in Ruhe darüber +sprechen.«</p> + +<p>»Wollen Sie nicht zu mir hinüberkommen? Wir gehen gleich in mein +Zimmer, damit uns niemand stört. Hier können wir nicht stehenbleiben«, +sagt Irmgard Pohl.</p> + +<p>Sie nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Schwester beim Arm und +führt sie über die Föhrbrücke zur Mühle.</p> + +<p>Unterwegs sagt die Schwester, die vor Kälte zittert: »Es ist so +furchtbar, daß ich morgen noch zu diesem Menschen gehen muß. Aber das +ist die einzige Rettung.«</p> + +<p>Im warmen Zimmer bettet Irmgard sie auf den Diwan, und dann beginnt +sie, mit milden und zärtlichen Worten auf sie einzureden. Wenn sie doch +weinen könnte, denkt sie, das wäre gut.</p> + +<p>Als das alles nicht hilft, versucht sie es auf eine andere Weise.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p> + +<p>»Was haben Sie sich denn gedacht?« sagt sie streng. »Wollen Sie sich an +diesen Herrn Stein verkaufen, um einen Menschen zu retten, der nicht +das geringste Opfer wert ist?«</p> + +<p>Die Schwester springt erregt auf. Es ist, als wollte sie davonstürzen, +aber dann wirft sie sich auf die Erde und weint, laut und +leidenschaftlich. Alle Demütigungen, die Angst, die zurückgedrängten +Tränen lösen sich auf in diesem befreienden Schluchzen.</p> + +<p>Als sie sich müde geweint hat, bettet Irmgard sie wieder auf den Diwan, +dann geht sie hinunter zu den Eltern.</p> + +<p>»Kommst du endlich?« sagt Frau Pohl vorwurfsvoll. Sie ist mit einer +Häkelei beschäftigt, während der Mühlenbesitzer seine Zeitung liest.</p> + +<p>Hier sitzen zwei Menschen wie in friedlichem Kreis um einen runden +Tisch und sind nur vom Schicksal ihrer eigenen kleinen Familie +umschlossen.</p> + +<p>»Ich habe Schwester Emmi mitgebracht«, sagt Irmgard, während sie ihren +Vater bittend ansieht. »Drüben ist in ihrer Gegenwart ein Angestellter +verhaftet worden. Sie wurde dadurch so erregt, daß ich sie nicht allein +lassen wollte.«</p> + +<p>Frau Pohl steht auf.</p> + +<p>»Dann will ich euch etwas Abendbrot besorgen«, sagt sie.</p> + +<p>Seitdem ihre Tochter in der Mühle eine geregelte Tätigkeit hat, wird +sie von Frau Pohl als selbständiger Mensch behandelt, der sich seine +Gäste mitbringen darf, und der sein<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> Essen zu fordern hat, wenn er das +Haus betritt. Frau Pohl versäumt niemals ihre Pflichten.</p> + +<p>Irmgard geht zu ihrem Vater. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und +lehnt stumm den Kopf an seine Schulter. Der Mühlenbesitzer legt die +Zeitung hin und schließt den Arm um seine Tochter.</p> + +<p>So sitzen sie, bis Irmgard die Schritte der Mutter hört. Sollte man +es wohl für möglich halten, daß eine Mutter auf ihre eigene Tochter +eifersüchtig ist?</p> + +<p>Wie Irmgard dem mißtrauischen Blick Frau Pohls begegnet, denkt sie, wie +schön es wäre, wenn noch einige Menschen so in der Mitte ständen wie +der Kapitän.</p> + +<p>Aber sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie es in vielen Fällen +gutheißen würde.</p> + +<p>Als sie in ihr Zimmer hinaufkommt, ist Schwester Emmi nach ganz kurzer +Ruhe erwacht und von neuen Sorgen erfüllt.</p> + +<p>»Nun wird man mich entlassen«, sagt sie verzweifelt. »Ich habe zwar +gesagt, daß ich Herrn Gregor heute überhaupt nicht gesehen hätte, aber +Frau Reiche wird dafür sorgen, daß man mich davonjagt.« Die ganze +Trostlosigkeit ihres Wanderlebens liegt wieder vor ihr.</p> + +<p>»Nein,« sagt Irmgard, »der Kapitän wird niemals zugeben, daß man Sie +entläßt. Davon dürfen Sie fest überzeugt sein.«</p> + +<p>»Haben Sie ihn gesprochen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Und er hat es Ihnen gesagt?«</p> + +<p>»Es war so gut, als hätte er genau das gesagt.«</p> + +<p>Und wiederum ist sie froh, daß sie sich auf den Mann in der Mitte +verlassen kann.</p> + +<p>Wer könnte dem Kapitän vorwerfen, daß er jemals von diesem Platz +gewichen wäre?</p> + +<p>Wenn die Kantinenwirtin bei ihm erscheint und mit sittlicher Entrüstung +meldet, daß sie am frühen Morgen einen Herrn aus dem Zimmer der +Fürsorgeschwester kommen sah, so sagt er nicht: »Dieser Skandal! Ich +werde die Schwester verwarnen oder entlassen.« Aber er fragt auch +nicht: »Warum werden Sie durch diesen Vorgang so erregt? Hätten Sie es +lieber gesehen, wenn der Herr aus einer anderen Tür gegangen wäre?«</p> + +<p>Nein, er sagt: »So. Ich werde es in Ordnung bringen.« Dann geht alles +seinen alten Gang, und durch eine Verhaftung ist jede Wiederholung des +beanstandeten Besuches unmöglich geworden, so daß sich das Weitere +erübrigt.</p> + +<p>Er macht auch dem Mühlenbesitzer Pohl den versprochenen Besuch, als +habe er keine Ahnung davon, daß die Hafengesellschaft mit ihm einen +Prozeß führe.</p> + +<p>»Ich komme mit einer Bitte«, sagt der Kapitän, ohne Herrn Pohl Zeit zu +anderen Erörterungen zu lassen. »Sie haben hier einen großen schönen +Speicher, und wir wissen<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> nicht, wo wir unsere Getreideladungen lassen +sollen. Könnten Sie uns nicht vorübergehend aushelfen?«</p> + +<p>»Der Speicher war ursprünglich nur für meinen eigenen Bedarf bestimmt, +aber nun habe ich seit Bestehen des Hafens schon oft ausgeholfen. Es +ist für manchen sehr günstig, sein Getreide bei mir zu lassen.«</p> + +<p>»Sie werden doch keinen Unterschied machen?«</p> + +<p>»Nein,« sagt Herr Pohl lächelnd, »warum sollte ich meine Prozeßgegner +schlechter behandeln?«</p> + +<p>Die Zeit geht über so vieles heilend hinweg, man muß nun über eine +erbitterte Feindschaft lächeln.</p> + +<p>»Also können wir einen Vertrag abschließen?« fragt der Kapitän.</p> + +<p>»Nein, um Gottes willen keine Verträge. Kommen Sie, wenn Sie meinen +Speicher brauchen, und ich will zusehen, wie ich einem so großen +Unternehmen helfen kann.«</p> + +<p>Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Händedruck. Während die +Prozeßgegner vor den Gerichten ihre Sache weiter verfechten, schließen +sie daheim friedlich ihre Geschäfte ab. Und das ist keinem anderen zu +verdanken als dem Kapitän, dem Mann in der Mitte.</p> + +<p>Oder der Bäckermeister Reiche, Kantinenwirt im Hafen, spricht bei ihm +vor und dreht lange verlegen an seiner Mütze, bis er endlich mit der +Sprache herausrückt.</p> + +<p>Also: er halte dieses Leben nicht länger aus, er sei Handwerker und +nicht Schankwirt. Und wenn das nicht bald ein<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Ende nähme, so wüßte +er nicht, was noch geschehen könnte. Er bittet um die Erlaubnis, das +Recht für die Bewirtschaftung der Kantine mit seinem eigenen geringen +Inventar verkaufen zu dürfen, damit er wieder imstande sei, sich eine +Bäckerei anzuschaffen.</p> + +<p>»Was sagt Ihre Frau dazu?« fragt der Kapitän.</p> + +<p>»Meine Frau?« wiederholt Herr Reiche, »sie trägt die Zigaretten und das +Essen aus der Kantine in das Untersuchungsgefängnis und verschenkt mein +Geld an fremde Menschen.«</p> + +<p>»Sie ist in der Wirtschaft sehr tüchtig, und man scheint allgemein +zufrieden mit ihrer Küche zu sein«, sagt der Kapitän. »Wollen Sie +es nicht auf eine andere Art mit ihr versuchen? Was Ihre Bäckerei +betrifft, so will ich Ihnen natürlich nichts in den Weg stellen.«</p> + +<p>Wie Herr Reiche im Vorzimmer an Fräulein Spandau, der stillen +Sekretärin, vorbeikommt, sieht er sehr zufrieden aus, als habe der +Kapitän ihm geholfen. Fräulein Spandau nickt ihm lächelnd zu, sie wird +es zwar sehr bedauern, wenn sie mit ihm nicht mehr jeden Tag um ein Uhr +ein paar Worte wechseln kann, doch sie freut sich in seinem Interesse, +daß er zu seinem Beruf zurückkehren darf.</p> + +<p>Fräulein Spandau hat ein blasses flaches Gesicht und dünne aschblonde +Haare, sie ist nicht hübsch, nein, das ist sie nicht. Aber sie +konnte noch nie einem Menschen ihr Mitgefühl versagen. Sie hat sechs +Geschwister und eine kranke<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Mutter. Wenn sie heimkommt, beginnt sie zu +kochen, zu waschen und zu nähen, und sie ist immer froh, wenn ihr nicht +weniger als fünf Stunden Schlaf verbleiben. Eine geordnete Bäckerei +mit weißgestrichenen Regalen und frischen Broten scheint ihr wie das +Paradies, der zufriedene Bäckermeister mit der großen, weißen Schürze +wie der gute Petrus, auch wenn er Sommersprossen und rote Haare hat.</p> + +<p>Wird Reiche nun in das Paradies einziehen? Ach — an Fräulein Spandau +vorbei geht auch die Kantinenwirtin zum Kapitän, diesmal in eigener +Angelegenheit. Auch sie kehrt befriedigt zurück. Und es bleibt alles +beim alten. Der Kapitän hat seinen Platz in der Mitte nicht verlassen.</p> + +<p>Selbst ein Herr Gregor hatte niemals Grund, sich über den anfangs +so gefürchteten Kapitän zu beklagen. Herr Gregor gehörte zur +Generaldirektion und der Kapitän zum Hafen, und so ging jeder seiner +Wege, bis die Verhaftung erfolgte und Herrn Gregors Posten frei wurde.</p> + +<p>Warum sollte der junge <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann nicht auf diesem Platz +seine guten Kenntnisse erproben? Hatte er sich nicht seit Monaten im +Hafen bewährt? Oder konnte jemand Klagen des Kapitäns nachweisen?</p> + +<p>Die Frage war wichtig genug, um einen Besuch des Generaldirektors beim +Kapitän herbeizuführen.</p> + +<p>Fräulein Spandau lauscht ängstlich auf die laute Stimme Joachim +Beckers.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p> + +<p>»Können Sie mir auch nur <em class="gesperrt">einen</em> praktischen Erfolg nachweisen?« +fragt er erregt.</p> + +<p>»Er steht am Anfang«, sagt der Kapitän. »Wir müssen Nachsicht üben.«</p> + +<p>»Nachsicht, Nachsicht! Ich brauche praktische Arbeiter. Ich muß +Positives leisten und kann mich nicht mit Theorien abgeben.«</p> + +<p>»Seine Ideen sind nicht schlecht«, wendet der Kapitän ein. »Er macht +zuweilen Vorschläge, die bei ihm überraschen.«</p> + +<p>»Haben Sie schon <em class="gesperrt">einen</em> davon ausführen können?«</p> + +<p>»Nein, das nicht, weil er noch nicht fähig war, über die Idee hinaus +einen Plan auszuarbeiten. Vielleicht lassen wir ihm Zeit dafür.«</p> + +<p>»Bitte«, sagt der Generaldirektor kurz. »Dann beantragen Sie seine +Weiterarbeit mit der Begründung, daß er Ihnen unentbehrlich sei.«</p> + +<p>So wurde auch diese Frage zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.</p> + +<p>Der Kommerzienrat sucht selbst den Kapitän auf, um ihm zu gestehen, wie +sehr er sich über die Erfolge seines Sohnes freue.</p> + +<p>Der Kapitän meint: »Ja, er wird sich mit dem Hafen entwickeln können. +Hier bei der praktischen Arbeit findet er am besten den Übergang aus +den Theorien.«</p> + +<p>»So ist es«, sagt der Kommerzienrat nun vollkommen befriedigt, weil er +sieht, daß der Kapitän seinen Platz in der<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Mitte behauptet. »Wir haben +uns früher unsere Ansichten aus der Praxis gebildet, heute ist es wohl +so, daß man mit ihnen hineingeht und versucht, ob sie auch passen.«</p> + +<p>Seine Kritik versagt selbst vor dem Sohne nicht, aber er ist geneigt, +den Zeitgeist für das negative Resultat verantwortlich zu machen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Vergangenheit">Die Vergangenheit</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-w001" src="images/drop-w001.jpg" alt="W"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">W</span>enige Wochen nach seinem ersten Besuch ist der Kapitän genötigt, noch +einmal in der Mühle vorzusprechen.</p> + +<p>Es handelt sich um eine große und wichtige Getreideladung, die während +unsachgemäßer Lagerung gelitten hat und gereinigt werden soll, ehe sie +weitergeht.</p> + +<p>Herr Pohl hat zwar zurzeit wenig Raum. Aber er erklärt sich schließlich +bereit, seine Einrichtungen dafür zur Verfügung zu stellen, wenn der +Kapitän die Arbeit überwachen läßt.</p> + +<p>Der Kapitän will selbst von Zeit zu Zeit das Getreide prüfen. So kommt +es, daß er nun oft jenseits des Kanals zu sehen ist.</p> + +<p>Wenn er Irmgard Pohl begegnet, so grüßt er sie mit seinem eckigen +Hutschwenken wie einen alten Freund. Sie hat keine Zeit, sich in eine +Unterhaltung mit ihm einzulassen, wenn er im dienstlichen Eifer um +das Bureau der Mühle stapft. Er nimmt ein Lächeln von ihr mit in das +Gebrumm der Maschinen, und sie sagt bei Tisch zum Vater:</p> + +<p>»Ich habe den Kapitän eben hier getroffen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p> + +<p>»Ja«, erwidert er. »Der hat jetzt öfter bei uns zu tun.«</p> + +<p>Frau Pohl erkundigt sich nach dem Mann, welche Stellung er im Hafen +bekleide, und — nach kurzer Pause — ob er verheiratet sei.</p> + +<p>Vater und Tochter wechseln einen raschen Blick. Sie geben ihr Auskunft, +und sie mag daraus entnehmen, daß sie es mit dem ersten und wichtigsten +Mann im Hafen, nach dem Kommerzienrat, zu tun habe, denn Joachim Becker +wird in stillem Einvernehmen nicht erwähnt.</p> + +<p>»Siehst du«, sagt Herr Pohl auf dem Weg ins Bureau zu seiner Tochter. +»Die Mutter hat einen Heiratskandidaten für dich.«</p> + +<p>»Ja«, sagt Irmgard. »Sie beschäftigt sich jetzt damit. Neulich fragte +sie mich, wie alt ich sei. Sie war lange sehr nachdenklich, als ich es +ihr wahrheitsgemäß gesagt hatte. Es wird immer schwerer, ihre Fragen zu +beantworten.«</p> + +<p>Herr Pohl nickt. »Sie möchte, daß du mehr unter junge Leute kommst, und +erklärte sich sogar bereit, Gäste zu bewirten.«</p> + +<p>Sie sind vor dem Bureau angekommen. Irmgard macht keine Anstalten, zu +ihm hineinzugehen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wendet sich halb +zu ihrer Tür, dann sagt sie, ehe sie im Hauptkontor verschwindet:</p> + +<p>»Wenn ihr wollt, könnt ihr ja den Kapitän einladen!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p> + +<p>Michael Pohl sieht ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach und geht +mit unzufriedenem Gesicht zu seinem Schreibtisch.</p> + +<p>Der Kapitän ist ihm nicht unsympathisch. Seinetwegen war er auch der +Hafengesellschaft entgegengekommen, denn er kann einem guten Menschen +schwer etwas abschlagen, während er sich die schlechten peinlich vom +Halse hält.</p> + +<p>Und gern sieht er es nicht mit an, wie die Tochter im Bureau sitzt und +sich daheim überflüssig fühlt.</p> + +<p>Der Kapitän wäre ihm als Gesellschafter bei einer guten Zigarre +gleichfalls recht. Aber nun kann er die Einladung verteufelt schwer +anbringen.</p> + +<p>Er legt die Hand wuchtig auf den Tisch. Seine Stirn hat sich bedenklich +gerötet.</p> + +<p>Zum Kuckuck, soll er seine Tochter jetzt vielleicht öffentlich +ausbieten? Nein, mit <em class="gesperrt">seiner</em> Einladung kommt der Kapitän nicht in +sein Haus. Das ist seine Ansicht, klipp und klar.</p> + +<p>Und er begegnet dem Hafendirektor, der ihm bisher wahrhaftig keinen +Anlaß zu Klagen gab, von nun an mit kühlen, fast finsteren Mienen.</p> + +<p>Die Arbeiten sind auch beendet, die Abrechnungen erledigt. Der Kapitän +hatte sich mehr als nötig selbst darum bemüht. Nun dürfte er eine Weile +auf der anderen Seite des Kanals bleiben. Herr Pohl atmet erleichtert +auf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p> + +<p>Irmgard Pohl hat selbst eingesehen, daß ihr einige Abwechslung gut +täte. Sie will zunächst einmal in ein Konzert gehen. Der Vater kann +sich noch immer nicht entschließen, seine Frau an den Abenden allein +zu lassen, sonst hätte er sie vielleicht begleitet, wie er es früher +zuweilen tat, bis Joachim Becker ihr ein besserer Gesellschafter wurde.</p> + +<p>Er hilft ihr in den Pelz und begleitet sie bis zum Tor. Ihr Gesicht +ist von innen erwärmt, und wie sie nun, hoch und schmal, mit behenden +Schritten von ihm fortgeht, sieht er ihr mit unverhülltem Vaterstolz +nach.</p> + +<p>Der Konzertsaal ist nicht sehr weit entfernt. Irmgard nimmt den Weg +als willkommenen Spaziergang. Es ist unvermeidlich, daß sie wieder +Erinnerungen nachhängt, denn sie hatte am Anfang ihrer Bekanntschaft +mit Joachim Becker auch einige Male versucht, ihn für gute Musik zu +interessieren. Er verstand wenig davon, ließ sich aber willig führen, +und dann waren sie taumlig von den Tönen durch die Straßen gesegelt. +Im Frühjahr und im Sommer fanden sie später andere Verwendung für ihre +Abende. Irmgard hatte jedoch schon viele Pläne für den neuen Winter +geschmiedet, der dann so trostlos und einsam verlief.</p> + +<p>Bei solchen Träumereien achtet man nicht auf die Umwelt. Der Kapitän, +der ihr entgegenkommt, kann ungesehen umkehren und eine ganze Weile +hinter ihr hergehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p> + +<p>Vielleicht überlegt er, ob er sie noch ansprechen soll. Er zögert +sehr lange. Das mag an ihrem leichten und wiegenden Gang liegen. Sie +hat nicht sonderlich kleine, aber sehr schmale Füße, die sie in ihrer +Verträumtheit langsam über das bereifte Pflaster führt.</p> + +<p>»Werden Ihnen in diesen dünnen Schuhen nicht die Füße erfrieren?« +sagt er schließlich dicht neben ihr, während er die Hand aus der +Manteltasche zieht, um sie nach dieser burschikosen Anrede zu begrüßen.</p> + +<p>Er hat sie selbstverständlich sehr erschreckt. Aber sie geht rasch +auf seinen Ton ein und sagt: »Wie hätten Sie die schönen neuen Schuhe +bewundern können, wenn sie in solchen Ungetümen von Überschuhen +steckten?«</p> + +<p>Sie mögen beide jetzt zu gleicher Zeit erkennen, daß das der geeignete +Verkehrston für sie ist. Menschen mit Enttäuschungen, die nicht +verbittern wollen, wählen gern den leichten Spott zum Verdecken ihrer +Grundstimmung.</p> + +<p>Nun haben sie das richtige Fahrwasser gewonnen und langen in munterer +Unterhaltung vor dem Konzerthaus an. Der Kapitän macht keine Anstalten, +sich zu verabschieden.</p> + +<p>Sie sieht ihn belustigt an: »Ja, wollen Sie denn auch hierher?«</p> + +<p>»Nein, das heißt ja, jetzt will ich es auch. Sie haben mich auf eine +ausgezeichnete Idee gebracht.«</p> + +<p>Sie ist einen Augenblick verlegen und bleibt stehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> + +<p>»Ich hoffe doch, Sie wissen, mit wem Sie hier hineingehen, und daß es +für Sie peinlich sein kann?« fragt sie und fühlt, wie ihr die Röte +langsam ins Gesicht steigt.</p> + +<p>»Ich weiß, was ich tue«, sagt er fast ärgerlich. »Und ich wüßte mir +keine angenehmere Gesellschaft.« Seine Worte verlieren dabei den Sinn +eines Komplimentes.</p> + +<p>»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht verstimmen wollen. Zuweilen muß +man sich selbst daran erinnern, damit man nicht zu übermütig wird. +Natürlich werden Sie wissen, was Sie zu unternehmen haben, um keinen +Menschen zu kränken.«</p> + +<p>»Wovon sprechen Sie, Fräulein Pohl?« fragt er plötzlich sehr streng.</p> + +<p>»Wovon?« fragt sie verwirrt. »Von dem, was Sie ebenso wissen wie alle +anderen, die mich kennen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß die +Menschen über das Unangenehme schweigen. Nur das Angenehme behalten sie +für sich. Warum soll ich diskreter sein als die anderen, zumal es sich +hier um mich selbst handelt?«</p> + +<p>»Nur mit dem Unterschied, daß Sie heute noch darüber sprechen, während +die anderen längst schweigen. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich +versuche, den Nachbarplatz zu bekommen.«</p> + +<p>Sie folgt der Aufforderung wie ein gestraftes Schulmädchen. Als sie +von ihrer Tasche hochblickt und die strengen Falten in seinem Gesicht +bemerkt, muß sie lächeln. Sie weiß<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> keine Erklärung dafür, daß sie sich +auf einmal unsäglich erleichtert fühlt.</p> + +<p>Er geht stumm neben ihr her, während sie sich der Billettkasse nähern. +Sie ist ihm so dankbar und möchte ihm irgend etwas Gutes sagen.</p> + +<p>Während sie ihn betrachtet, wie er zum Schalter herabgeneigt ist und in +seiner etwas umständlichen Art verhandelt, muß sie daran denken, daß +ihr die Achtung der Menschen doch nicht so gleichgültig ist, wie sie +es sich immer eingeredet hatte. Es ist sehr schön, zu wissen, daß man +trotzdem nicht von ihnen gerichtet wurde.</p> + +<p>Der Kapitän kommt zurück. Er hat drei Karten in der Hand.</p> + +<p>»Der Nachbarplatz war schon vergeben«, sagt er und blickt unschlüssig +auf die unverwendbare Karte.</p> + +<p>»Geben Sie, bitte!« sagt sie. Er läßt sich die Karte aus der Hand +nehmen. Sie steckt sie in ihre Handtasche. »Die hebe ich mir auf zum +Andenken an einen guten Mann.«</p> + +<p>»Sie sollten sie lieber einem armen Menschen schenken, der sich keine +Musik leisten kann«, erwidert er, auch jetzt nicht ohne Strenge.</p> + +<p>»Mein Gott, Herr Schulmeister, nun könnten Sie wieder etwas +freundlicher sein. Natürlich haben Sie recht.« Sie sieht sich suchend +um.</p> + +<p>Er lächelt. »Gehen wir wieder vor den Eingang! Hier haben die Leute +schon das Geld in der Hand.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p> + +<p>An der Tür begegnet ihnen ein junger Mensch mit rotgefrorenen Händen. +Ein armer Musikstudent vielleicht.</p> + +<p>Irmgard geht schüchtern auf ihn zu und sagt leise: »Ach verzeihen Sie, +wollen Sie vielleicht ...«</p> + +<p>Sie hält ihm die Karte hin. Aber ehe sie ausgesprochen hat, sagt er +barsch: »Danke«, und geht beschleunigt weiter.</p> + +<p>Erschreckt zieht sie die Hand zurück und gesellt sich kleinlaut +zum Kapitän. Der hebt die Schultern hoch, wie jemand, der einen +Bubenstreich ausgeheckt hat und nun flüchtet. Er nimmt ihren Arm, und +sie schlüpfen vor die Tür.</p> + +<p>»Aber das haben Sie ja ganz verkehrt angefangen«, sagt er draußen mit +seinem aufgeräumten trocknen Lachen. »Der Mann hat natürlich gedacht, +daß er Ihnen die Karte abkaufen soll, und er hat höchstens das Geld für +die Galerie. Soll ich es einmal versuchen?«</p> + +<p>»Bitte, wenn Sie es besser verstehen!«</p> + +<p>Sie beobachten nun beide die Passanten. Ein paarmal sieht der Kapitän +sie fragend an.</p> + +<p>»Sie können doch nicht irgendeinem Mann, der vielleicht zu einem +Rendezvous gehen will, eine Konzertkarte aufschwatzen!« Jetzt lacht sie +ihn aus, weil er es auch nicht geschickter anzufangen weiß.</p> + +<p>Zufällig fahren gerade viele Autos vor. Elegante, plaudernde Menschen +gehen in das Tor. Es ist inzwischen spät geworden. Sie müssen eilen, um +den Beginn nicht zu versäumen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p> + +<p>Er gibt es auf. »Ich habe mir das Verschenken wirklich leichter +gedacht«, sagt er resignierend.</p> + +<p>Schließlich nimmt sie die Karte wieder an sich, und sie begeben sich +hinein.</p> + +<p>»Ach ja, Beethoven kann man immer wieder hören«, sagt eine Frau +sehr laut neben ihnen, als wolle sie sich vor aller Öffentlichkeit +entschuldigen, daß sie noch zu so alter Musik geht.</p> + +<p>Die beiden sehen sich belustigt an. Sie sind in der Laune, die alles +mit einem heitern Spott betrachtet.</p> + +<p>Aber dann sitzen sie auf ihren Plätzen und werden schon bei den ersten +Tönen, die vom Stimmen der Instrumente in das schwatzende Publikum +fallen, sehr still.</p> + +<p>In der Pause gehen sie lange schweigsam auf und ab. Nach diesem +gemeinsamen Erlebnis will ihr neuer Verkehrston doch nicht mehr passen.</p> + +<p>Endlich beginnt er das Gespräch damit: »Ja, die Deutschen müssen sich +bei der Musik immer etwas denken. Sie machen sich zu jeder Symphonie +und selbst zu den Walzern einen Text.«</p> + +<p>Irmgard, die von den Tönen sehr angeregt wird und noch im tiefen +Nachdenken ist, sagt:</p> + +<p>»Sie sprechen von den Deutschen, als gehörten Sie nicht dazu.«</p> + +<p>»Verzeihen Sie, ich habe mich nicht korrekt genug ausgedrückt, ich +hätte sagen müssen ›wir‹ Deutschen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span></p> + +<p>»Ja, sehen Sie, das klingt schon mehr nach persönlichem Bekenntnis, und +darum vermeiden Sie es.« Sie kann es sich selbst nicht erklären, warum +sie ihm jetzt seine Schwäche vorhalten muß.</p> + +<p>»Sie haben recht,« erwidert er, »man gewöhnt sich daran, seine Gefühle +vor den Menschen zu verbergen.«</p> + +<p>Sie sehen einander einen Augenblick schweigend an. Da sagt sie +unvermittelt:</p> + +<p>»Sie haben eine Geige, und ich würde gern wieder Klavier spielen, wenn +Sie manchmal zur Begleitung herüberkämen.«</p> + +<p>Er wird nicht verlegen, wie es sonst seine Art ist, wenn man sein +Steckenpferd erwähnt.</p> + +<p>»Ja,« sagt er, »das will ich gern tun. Bestimmen Sie die Stunde!«</p> + +<p>Dann beginnt er, ehe sie geantwortet hat, sehr ausführlich davon +zu erzählen, wie andere Völker die Musik auffassen, die Südländer +etwa oder die Chinesen. Am wenigsten könne man als Europäer bei der +Negermusik etwas empfinden.</p> + +<p>Sie hört ihm sehr unaufmerksam zu. Er hat einen gleichmäßigen, +einschläfernden Tonfall. Es wäre ihr viel lieber, wenn er jetzt +schwiege.</p> + +<p>Sie muß daran denken, daß Joachim Becker sie niemals durch seine +Anwesenheit oder durch überflüssige Worte störte wie dieser gebildete +und rücksichtsvolle Mann, der von der<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Musik sehr erschüttert ist +und trotzdem so viele Worte macht. Aber sie ist gerecht genug, sich +einzugestehen, daß der ungeliebte Mensch eben nichts zur Zufriedenheit +machen kann, der geliebte aber selbst nach den schlechtesten Handlungen +noch in guter Erinnerung bleibt.</p> + +<p>Die Musik läßt sie diese Betrachtungen wieder vergessen. Und am Schluß, +nach dem ernüchternden Handgemenge an der Garderobe, sind sie wieder in +ihrem Fahrwasser. Irmgard wird viel betrachtet, der Kapitän nimmt mit +ironischen Bemerkungen davon Notiz.</p> + +<p>Sie hat unwillkürlich das Gefühl, daß sie noch etwas an ihm gutzumachen +habe. Es muß ihr immer erst einfallen, sie ist gewissermaßen mit dem +Verstande und nicht mit dem Herzen gut zu ihm.</p> + +<p>»Sie sind sehr weit gereist und haben viele Menschen und Gebräuche +kennengelernt. Auch mein Vater wird sich auf eine Unterhaltung mit +Ihnen freuen. Kommen Sie morgen abend!« sagt sie freundlich.</p> + +<p>»Danke, gern.«</p> + +<p>»Gegen sieben, zu einem Imbiß?«</p> + +<p>»Ja, wie Sie bestimmen. Noch weiß ich nicht, wo ich heute etwas zu +essen bekomme.«</p> + +<p>»Mein Gott«, ruft sie erschreckt aus. »Haben Sie heute abend noch nicht +gegessen?«</p> + +<p>»Ich wußte doch nicht, daß mir nur Musik vorgesetzt wird«, erwidert er +lächelnd.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p> + +<p>»Aber für heute kann ich Sie nicht einladen.«</p> + +<p>»Beileibe nicht. Doch wenn Sie mir noch bei einem Abendbrot +Gesellschaft leisten würden ...«</p> + +<p>»Nein«, sagt sie entschlossen.</p> + +<p>»Das ist sehr schroff. Die jungen Damen sind heute so selbständig, daß +ich nicht glaubte, gegen die guten Sitten zu verstoßen.«</p> + +<p>»Gewiß nicht!« erwidert sie. »Frauen, die einen guten Ruf haben, +dürften es vielleicht annehmen, die mit einem schlechten noch eher. +Aber wer sich sein Ansehen zurückerobern muß —«</p> + +<p>»Ja, kommen Sie nur, Sie Moralistin!« Er läßt sie den Satz nicht zu +Ende sprechen und begleitet sie unter vielen Erzählungen und Scherzen +nach Haus.</p> + +<p>»Im übrigen haben Sie ja Tee zu Haus, und in der Kantine wird auch noch +etwas für Sie zu essen sein«, sagt sie einmal zwischendurch. Er stellt +fest, daß sie sich sehr besorgt mit seinem Hunger beschäftigt, und wird +immer lebhafter.</p> + +<p>An der Föhrbrücke verabschieden sie sich. Sie fühlt seinen schmerzhaft +festen Händedruck noch, als sie in das erhellte Wohnzimmer tritt, wo +sie den Vater über der Zeitung antrifft.</p> + +<p>Er geht ihr entgegen und hilft ihr beim Ablegen. Es fällt ihr auf, daß +er sehr ernst ist. Sie war auch von ihm mit vielen guten Wünschen und +unter Scherzen entlassen worden. Es<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> scheint ihr, daß alle Menschen +heute gut und heiter waren.</p> + +<p>Sie legt daher ihren Arm um seine Schulter und lehnt das heiße Gesicht +an seine Wange.</p> + +<p>»Noch mein Kamerad?« fragt sie.</p> + +<p>»Ja«, sagt er lächelnd. Er selbst hatte ihr vor kurzem nach einer +tüchtigen Arbeit im Bureau diesen Titel gegeben. Nun bekommt er ihn +zurück.</p> + +<p>Er erkundigt sich, ob sie Hunger habe, und macht eine Bewegung zur Tür, +als wolle er sie selbst noch bewirten.</p> + +<p>Sie lehnt ab und beginnt zu berichten. Sie habe den Kapitän getroffen. +Er sei auch im Konzert gewesen. Unwillkürlich sagt sie nicht, daß er +ihretwegen mitgekommen sei. Sie überlegt, wovon sie zuerst erzählen +solle, vom Eindruck der Musik, vom Publikum oder vom Kapitän. Sie ist +ungewöhnlich plauderlustig und in einem inneren Gleichgewicht, wie sie +es seit Joachim Beckers Zeit nicht mehr kannte.</p> + +<p>Ein Geräusch, das vom Schlafzimmer herüberdringt, läßt sie aufhorchen.</p> + +<p>Herr Pohl rückt verlegen auf seinem Sofa.</p> + +<p>»Es ist der Junge«, sagt er zögernd. »Wir haben den Arzt schon kommen +lassen. Er hustet und hat leichtes Fieber.«</p> + +<p>Irmgard starrt ihn fassungslos an. Hier sitzt sie in ihrem silbergrauen +leichten Kleid, so reizvoll wie seit Jahren nicht, und wird mit dieser +Nachricht empfangen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p> + +<p>Sie ist nicht traurig, sondern fast ärgerlich. Als habe man ihr +rücksichtslos ein Vergnügen verdorben.</p> + +<p>»Es wird irgendeine gewöhnliche Kinderkrankheit sein«, meint Herr Pohl +beruhigend.</p> + +<p>»Dann werde ich mich umziehen und die Mutter ablösen«, sagt sie still.</p> + +<p>»Nein.« Er hält sie auf ihrem Stuhl zurück. »Ich wollte ohnehin in +diesen Tagen mit dir über die Mutter reden. Sie wird jetzt niemand zum +Knaben lassen. Du kennst ihren Eifer.«</p> + +<p>Er schweigt und holt dann sehr weit aus: »Wie du weißt, stammt ihr +Vater aus einer Hugenottenfamilie, und dieser Fanatismus mag ihnen von +den Ahnen her im Blute liegen. Wir können nicht dagegen ankämpfen. +Denn durch Widerstand unterstützen wir ihren Wahn. Nun scheint sich +in letzter Zeit ihr Erinnerungsvermögen viel mehr gestärkt zu haben, +als wir ahnen. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß sie der Wahrheit +schon sehr nahe ist, aber absichtlich nicht mehr fragt, weil sie sich +fürchtet.«</p> + +<p>Irmgard, die immer eine so aufmerksame Zuhörerin war, schweift mit +ihren Gedanken ab und vermag der Rede des Vaters nicht mit Interesse +zu folgen. Die vielfältigen Klänge des Orchesters, sanfte Tonfolgen, +Beethovensche Akkorde mit ihren dunklen Untertönen liegen ihr in den +Ohren. Sie hat Mühe, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben. Es drängt sie, +einherzugehen, leicht, mit schwebendem Rhythmus im Gang.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p> + +<p>Sie versteht nicht, warum der Vater gerade heute mit ihr darüber +sprechen muß. Merkt er nicht, daß sie in die »Welt« zurückgekehrt ist, +daß sie endlich, endlich mit der Vergangenheit abschließen will? Großer +Gott, daß sie einmal von Krankheit, Wahn und Kindersorge nichts hören +möchte?</p> + +<p>Sie blickt, ein wenig verträumt und gleichzeitig trotzig, in eine Ecke +des Zimmers, am Vater vorbei und sagt, mit einer fremden kühlen Stimme: +»Was soll ich denn tun? Ich kann ja verreisen, wenn du willst. Ja —«</p> + +<p>Sie springt auf und geht nun doch im Zimmer umher.</p> + +<p>»Reisen! Ich werde mir die Welt ansehen. Du sagtest neulich, der Mensch +muß seine alte Umgebung verlassen, um neu anfangen zu können. Gut, ich +will mir die Welt ansehen!«</p> + +<p>Sie hat die Arme auf dem Rücken ineinandergelegt und bleibt plötzlich +vor dem Vater stehen, während der weite silbrige Rock noch um ihre +schmalen Beine schwebt.</p> + +<p>»Komm einmal hierher!« sagt Herr Pohl in gutmütig befehlendem Ton +und macht ihr den Sofaplatz an seiner Seite frei. Etwas an seiner +Tochter gefällt ihm nicht. Es ist ein Zuviel in den Bewegungen, eine +Übertreibung im Ton.</p> + +<p>Er legt die Hand um ihre abfallenden Hüften und zuckt unwillkürlich vor +der weichen Seide zusammen, die seine Fingerspitzen so unendlich lange +nicht berührten. Wieviel<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Härte und Strenge, wieviel Entsagung ist doch +immer in seinem Hause gewesen, wo nur die Arbeit regiert. Er zieht die +Finger wieder fort und rückt ein wenig ab.</p> + +<p>»Ja,« sagt er langsam, »du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und das +ganze Leben liegt noch vor dir. Wir beide, deine Mutter und ich, sind +nun so weit —« Er stockt.</p> + +<p>»Nein, nicht erst jetzt«, setzt er mit leichter Bitterkeit fort. »Wir +waren immer so, daß wir nicht uns selbst, sondern den Pflichten lebten. +Man kann auch darin zu Egoisten werden. Man bildet sich ein, für die +anderen, für die Kinder etwa, zu leben, und hat sich rücksichtslos an +die Arbeit gehalten, um den Mangel an Lebensfreude nicht einzugestehen. +Siehst du, darin haben wir an dir gesündigt.«</p> + +<p>»Das darfst du von dir nicht sagen, denn du bist immer gut gewesen. Und +mit dir konnte man auch manchmal lustig sein.«</p> + +<p>»Manchmal!« wiederholt er. In seinem großen braunen Gesicht mit den +grauen, aufschimmernden Haaren, ist irgend etwas schief gezogen. Er +versucht krampfhaft, es fortzulächeln. »Was ich dir bisher in diesem +Arbeitshof geboten habe, war nicht die Freude.«</p> + +<p>»Vater, fast ein Jahr lang bin ich sehr glücklich und jung gewesen. Und +wenn es dann anders kam, so war ich daran schuld.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p> + +<p>»Nein,« erwidert er, »jetzt weiß ich, daß wir schuld sind. Mußtest +du in jener Zeit nicht von zwanzig Jahren ohne Zärtlichkeit und +Lebensfreude erlöst werden und alles einholen, was in dir ungehoben +blieb? Wenn wir ein klares Glas aus kalter Luft in die Wärme tragen, +so wird es blind. Aber bleibt es nicht blank, wenn es das Klima nicht +wechselt? Die Kinder, die Wärme und Heiterkeit in reichem Maße bei den +Eltern haben, werden selten in Gefühlsüberschwang geraten, der die +Grenzen verliert.«</p> + +<p>Irmgard lehnt den Kopf gegen das Polster und läßt ungehindert aus den +weitgeöffneten, lächelnden Augen Tränen tropfen.</p> + +<p>»Und nun sehe ich mit an, wie du dich um den Knaben quälst. Du wärst +vielleicht so weit, ihn der Mutter allein zu überlassen, weil er ihr +einziger Lebensinhalt ist und du jung und gesund genug wärst, um noch +auf ein eigenes Leben zu hoffen. Erst wenn man von sich selbst nichts +mehr erwartet, versenkt man sich vollkommen in seine Kinder. Aber +da ist dir von uns dieses Pflichtbewußtsein eingeimpft. Du glaubst, +die Achtung vor dir verlieren zu müssen, wenn du dich mit deinen +Muttergefühlen von ihm befreist.«</p> + +<p>Er spricht das alles vor sich hin, während sie still neben ihm sitzt. +Jetzt wendet er sich um und blickt offen in ihr tränenüberströmtes +heißes Gesicht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> + +<p>»Glaubst du,« fragt sie, während sie die Augen langsam schließt, »daß +es nicht unnatürlich wäre, wenn ich, wenn ich —«</p> + +<p>»Wenn du lebensfreudig genug wärst, um mit der Vergangenheit +abzuschließen?«</p> + +<p>Er versucht, zu lächeln und in leicht scherzendem Ton zu sprechen. »Du +gibst uns das — das Produkt unserer falschen Erziehung als Tribut +zurück und beginnst, dein junges Leben neu und richtig aufzubauen. +Jetzt wissen wir wohl, wie wir es machen müssen?«</p> + +<p>»Ja«, sagt sie leise. »Alle Sorgen werden heute von mir fortgenommen.«</p> + +<p>Sie denkt an den Kapitän, an die bewundernden Blicke der fremden +Menschen, an die Musik, die von ferne wieder aufklingt, an ihre eigenen +leichten wiegenden Schritte.</p> + +<p>Sie springt auf und gleitet mit den Händen über die weiche Seide ihres +Kleides, während sie sich in der Mitte des Zimmers hinstellt und mit +glänzenden Augen in die Luft blickt.</p> + +<p>»Jetzt —« sagt sie, als wäre sie voller Unternehmungslust, »jetzt muß +ich wohl schlafen gehen.«</p> + +<p>Herr Pohl steht auch auf und will sie zur Tür begleiten. Da schlingt +sie ihren Arm noch einmal um ihn und eilt davon.</p> + +<p>Er lauscht gedankenvoll ihren Schritten. Dann nimmt er langsam die Hand +von der Klinke.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p> + +<p>›Wir wissen wohl, wie wir es jetzt machen müssen,‹ denkt er, ›aber wir +haben nicht selbst die Entscheidung —‹</p> + +<p>Es ist fast Mitternacht. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche +mehr herüber. Er faltet seine Zeitung zusammen und geht hinein. —</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Sohn">Der Sohn</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i004" src="images/drop-i004.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">J</span>oachim Becker erscheint am nächsten Morgen im Verwaltungsgebäude, um +mit dem Hafendirektor einiges zu besprechen.</p> + +<p>Der Kapitän muß von Fräulein Spandau erst gesucht werden. Der +Generaldirektor geht solange in sein Zimmer, setzt sich vor den +Schreibtisch und kann es sich nicht versagen, in die umherliegenden +Papiere einen Blick zu werfen.</p> + +<p>Er ist so vertieft, daß er fast aufschreckt, als das Telephon neben ihm +rasselt. Er nimmt den Hörer ab und murmelt ärgerlich ein »Hallo« in den +Apparat.</p> + +<p>»Herr Kapitän?« hört er eine fragende Stimme.</p> + +<p>Er weiß nicht sofort, woher ihm dieser Tonfall bekannt ist, aber er ist +irgendwie davon betroffen und verliert so weit seine kühle Überlegung, +daß er möglichst tonlos in der Art des Kapitäns ein »Ja« murmelt.</p> + +<p>»Hier Irmgard Pohl«, vernimmt er nun, und es fällt ihm ein, daß er noch +niemals mit ihr telephoniert hat. Ihre Stimme wirkt in der Verwandlung +durch den Draht sehr tief und voll.</p> + +<p>Seine Herzschläge werden heftiger und rascher. Er ist ärgerlich +darüber, zumal ihm bewußt wird, daß er jetzt nicht länger hören darf, +was für ihn nicht bestimmt ist.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p> + +<p>»Ich muß Sie leider bitten, Herr Kapitän, heute nicht zu kommen. Unser +Michael hat den Keuchhusten. Wir möchten doch vermeiden, daß Sie die +Krankheit etwa zu den Kindern der Schiffer im Hafen bringen —«</p> + +<p>Er wirft den Hörer hin und rennt erregt im Zimmer umher.</p> + +<p>›Ist es nötig,‹ denkt er, ›daß der Kapitän mehr als das Geschäftliche +drüben erledigt? Was hat er mit der Tochter zu tun? Und was sind das +für Kinderkrankheiten drüben? Wie kommen Kinder in die Mühle?‹</p> + +<p>Er wird immer ärgerlicher, weil er hier vor etwas Fremdem steht, vor +einer Tatsache, die so unerwartet über ihn herfällt. Und weil er fühlt, +daß das Vergangene ihn doch nicht so unberührt läßt. Wäre er sonst +dermaßen erregt? Er ist unerklärlicherweise voller Zorn auf den Kapitän.</p> + +<p>Der kommt ahnungslos herein, begrüßt ihn mit dem stets freundlichen +Lächeln im braunen, hageren Gesicht und spricht gleich von den +geschäftlichen Dingen.</p> + +<p>Joachim Becker hört unaufmerksam zu. Er ist sehr nervös und muß sich +zusammennehmen, um nicht ungerechte, ärgerliche Bemerkungen zu machen. +Außerdem fürchtet er das erneute Klingeln des Telephons.</p> + +<p>Die Sache ist ihm verdammt peinlich. Er sieht ein, daß er nicht +schweigend darüber hinweggehen kann. Schließlich sagt er:</p> + +<p>»Übrigens — ich habe da vorhin eine telephonische Bestellung für Sie +entgegengenommen. Von der Mühle drüben<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> hat jemand angerufen, Sie +möchten nicht hinkommen, es hätte jemand den Keuchhusten —«</p> + +<p>Er ärgert sich über das doppelte »jemand«, das ihm zu betont +unpersönlich scheint. Dem Kapitän kann es nicht entgangen sein.</p> + +<p>»Das ist ja sehr unangenehm,« meint der Kapitän, »sehr unangenehm.«</p> + +<p>»Na, Sie werden sich doch nicht gleich den Keuchhusten holen«, sagt der +Generaldirektor laut, mit übertriebenem Gelächter.</p> + +<p>Der Kapitän lächelt höflich. »Nicht für mich natürlich. Ja, das tut mir +sehr leid.«</p> + +<p>Joachim Becker erhofft immer noch eine Erklärung. Er kann das Gefühl +nicht loswerden, daß der Kapitän sie ihm absichtlich vorenthält.</p> + +<p>»Da drüben sind anscheinend Kinder? Ich dächte doch, daß Erwachsene +keinen Keuchhusten haben?« fragt er endlich.</p> + +<p>»Allerdings nicht«, meint der Kapitän lächelnd. »Ja, ein Sohn ist da. +Ein Knabe, von etwa zwei Jahren glaube ich.«</p> + +<p>»So —« Der Generaldirektor fühlt, daß seine Ohren brennen und wendet +sich halb ab. In seiner Verlegenheit zieht er die Uhr und sucht seine +Aktentasche, um in sein Stadtbureau zurückzukehren.</p> + +<p>Obgleich das konziliante Lächeln im verschlossenen Gesicht des Kapitäns +ihn bis zum Äußersten reizt, gibt er ihm sehr liebenswürdig zum +Abschied die Hand.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span></p> + +<p>»Ja, was mir eben einfällt«, sagt er an der Tür. »War die alte Frau +Pohl drüben nicht gelähmt?«</p> + +<p>»Ich hörte auch einmal davon«, erwidert der Kapitän. »Soviel ich weiß, +ist sie jetzt gesund.«</p> + +<p>»Soso, das ist ja sehr erfreulich.« Er geht mit langen Schritten, ohne +sich umzusehen, zu seinem Wagen.</p> + +<p>Unterwegs rückt er auf den Polstern hin und her. Plötzlich lacht er +nervös auf.</p> + +<p>Der Chauffeur macht eine kleine Bewegung, als fühle er sich angerufen, +fährt aber in steifer Haltung weiter.</p> + +<p>›Zum Teufel!‹ denkt der Generaldirektor, ›was ist das für eine +verrückte Geschichte! Ich könnte doch wahrhaftig fast den Kerl da vorn +fragen, ob es möglich ist, daß ein altes Weib von beinahe fünfzig +Jahren, das lange Zeit gelähmt und wahnsinnig war, noch Kinder kriegen +kann.‹</p> + +<p>Und dann rechnet er und überlegt, ob in seiner Umgebung nicht ein +einziger Mensch ist, der es ihm gesagt haben könnte, wenn dieser Junge +wirklich — Er stellt fest, daß er ganz allein ist und daß alle, denen +es etwa bekannt war, gerade ihm gegenüber diskret schweigen mußten.</p> + +<p>Auch der Kapitän ist mit dem Gespräch nicht zufrieden. Er kann nur +annehmen, daß Irmgard Pohl ihm selbst die Mitteilung machen wollte. +Und nun sollte sie mit dem gesprochen haben, den sie gerade jetzt zu +vergessen im Begriff ist?</p> + +<p>Während er nervös umherläuft und überlegt, was er zu unternehmen habe, +vergißt er sogar, daß er nun um den<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> Besuch gebracht wird. Er war hier +in heiterer Stimmung spazierengegangen und hatte sich darauf gefreut.</p> + +<p>Da liegen seine Papiere und warten auf ihn. Er hat im Grunde keine +Zeit, sich während des Dienstes mit persönlichen Dingen abzugeben. Aber +er nimmt langsam den schief eingehängten Hörer ab und läßt sich mit +Irmgard Pohl verbinden.</p> + +<p>Sie meldet sich von der Wohnung aus, und er glaubt zu entnehmen, daß +sie in Ungeduld sei.</p> + +<p>»Hier v. Hollmann«, sagt er so laut, daß seine heisere Stimme mehr +Klang bekommt. Wenn er telephoniert, so ist es auch immer, als riefe er +gegen einen mächtigen Sturm, der ihm die Verständigung erschwert.</p> + +<p>Irmgard Pohl scheint im ersten Augenblick nicht zu wissen, mit wem sie +es zu tun hat, denn sie kannte ihn immer nur als den »Kapitän«. Dann +begrüßt sie ihn sehr herzlich und bedauert, daß die Verbindung vorhin +gestört worden sei.</p> + +<p>Ja, das bedaure er auch sehr lebhaft, noch mehr jedoch die Mitteilung +von der Erkrankung des Knaben.</p> + +<p>So, nun ist er im Bilde. Er atmet erleichtert auf. Aber blitzschnell +fährt es ihm doch durch den Kopf, während er sich nach Fräulein Pohls +Befinden erkundigt, daß der Generaldirektor aus irgendwelchen Gründen +eine Täuschung beging.</p> + +<p>Noch weiß er nicht, ob zu persönlichen oder geschäftlichen Zwecken. +Jedenfalls findet er, daß es nicht leicht ist, diesem Mann gegenüber +immer gerecht zu bleiben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p> + +<p>Irmgard nimmt alle guten Wünsche des Kapitäns entgegen und vertröstet +ihn mit ihrer Musikstunde auf spätere Wochen. —</p> + +<p>Es ist nicht mehr viel von der gestrigen heiteren und leichten Stimmung +in ihr. Und wenn zuweilen noch einige Harmonien in ihr Ohr klingen, so +werden sie bald von dem furchtbaren Stickhusten des kleinen Kranken +zerstört.</p> + +<p>Frau Pohl, die während der ganzen Nacht in ihrer Angst nicht schlafen +konnte, hat sich nun hinlegen müssen und der Tochter die Pflege des +Kindes nicht ohne Sorge überlassen.</p> + +<p>Irmgard nimmt bei jedem Anfall den kleinen zuckenden Körper in ihre +Arme, und die Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie diese Qual +miterlebt.</p> + +<p>Seine hellblonden geringelten Haare kleben naß auf dem Kopf, das +Gesicht ist rot und verquollen. Er hat nun das Alter erreicht, in +dem jedes Kind Freude bereitet. Fest und drollig trippelte er auf +seinen stämmigen Beinchen umher, seine Stimme war hell, die Aussprache +eigenwillig und ein steter Anlaß zu Belustigungen.</p> + +<p>Noch nie ist so viel in der Familie Pohl gelacht worden wie in den +letzten Monaten, während sich sein Sprachtalent entwickelte.</p> + +<p>Irmgard glaubt, daß sie diesen reizenden, munteren Burschen keineswegs +weniger lieben würde, wenn er ihr Bruder oder gar ein fremdes Kind +wäre. Daß er von offener und heiterer Art ist, kann ihm in diesem Alter +schon nachgesagt<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> werden. Wer sollte wohl solch einen Knaben, der +außerdem schön und anschmiegsam ist, nicht in sein Herz schließen?</p> + +<p>Man kann nicht übersehen, daß er nach Michael Pohl geraten ist. Nun, +da sein Kopf durch das Fieber breiter scheint und die Augen tiefer in +die Höhlen gesunken sind, tritt die Ähnlichkeit noch markanter hervor. +Irmgard denkt, wenn es wahr sei, daß die Gefühle der Mutter Einfluß auf +die Entwicklung der Kinder gewönnen, so wäre hier ein Beweis dafür, +denn sie hatte in jener Zeit fast mehr um den Vater als um Joachim +Becker gelitten.</p> + +<p>Nur der schmale Mund, die Unduldsamkeit und der herrische Ton in der +hellen, lauten Stimme mochten von ihm herrühren. Noch lieben sie alle +diese Eigenschaften an ihm und freuen sich ihres kleinen Tyrannen.</p> + +<p>Jetzt aber liegt er still in den Kissen, sein Atem geht pfeifend und +hastig, und wenn er hochgehoben wird, so schlingt er seine Arme fest um +Irmgards Hals und preßt das zerquälte heiße Gesicht gegen ihre Wange.</p> + +<p>Irmgard ist zu gesund und vernünftig, um auf den Gedanken zu kommen, +daß der Knabe nun so leiden müsse, weil sie gestern im Begriff war, ihn +aufzugeben, oder weil es sie im letzten Jahr immer weniger schmerzte, +wenn die Mutter ihn allein für sich in Anspruch nahm.</p> + +<p>Doch sie hat keine Sehnsucht mehr nach der »Welt«, sie nimmt es als +eine Mahnung hin, daß trotz allem in diesem Hause der Pflichterfüllung +ihr Platz sei. Sie weiß<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> wieder, daß sie im Grunde eine ernste und +arbeitsame Natur ist, die nur zuweilen feiertäglich beschwingt und +gelöst sein will. In der Erinnerung an diesen Abend der Klänge und +der Heiterkeit erkennt sie gleichzeitig, daß sie solcher Stunden auch +bedarf, um nicht wie die Mutter über ihrem Tagewerk zu erkalten.</p> + +<p>Sie beschließt, sobald der Knabe wieder gesund sei — der Gedanke an +eine ernstliche Gefahr liegt ihr vollkommen fern —, den Kapitän zu +bitten, daß er sie wieder in ein Konzert oder Theater begleite. —</p> + +<p>Als die Krankheit des Kindes sich steigerte und heftigere Formen +gewann, ließ Schwester Emmi es sich nicht nehmen, zu Herrn Pohl in +das Bureau hinüberzugehen, um dort einige Ratschläge aus ihrer Praxis +niederzulegen. In die Wohnung wollte sie sich »ihrer Kinder wegen« +nicht begeben, so gern sie persönlich geholfen hätte.</p> + +<p>Herr Pohl drückt ihr immer wieder die Hand. Er läuft in diesen Tagen +unruhig und mit vielen Umwegen in seinem Betriebe umher und kann nicht +still in seinem Schreibtischsessel sitzen. Nun schreibt er alles +getreulich auf, was Schwester Emmi ihm diktiert, und sagt kaum ein Wort.</p> + +<p>Das wäre wohl das letzte, daß er diesen kleinen Kerl verlieren sollte, +den er allmählich ohne viel Aufhebens in sein altes, viel getäuschtes +Herz aufnahm.</p> + +<p>Er begleitet Schwester Emmi bis vor die Tür und gibt beim Abschied ihre +kleine feste Hand langsam frei. Wie er<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> durch den dunklen Korridor zu +seinem Zimmer zurückgeht, stützt er sich ein paarmal mit der Handfläche +schwer gegen die Wand. —</p> + +<p>Vor der Kantine begegnet Schwester Emmi dem Generaldirektor. Sie +will ihm flink ausweichen, aber er tritt ihr entgegen und sagt sehr +ungehalten:</p> + +<p>»Ich sehe, Sie verlassen hier Ihren Platz!«</p> + +<p>Sie glaubt, daß er sah, woher sie kam, und greift rasch zu einer Lüge.</p> + +<p>»Ich hatte nur in der Mühle für die Verwaltung etwas auszurichten«, +stammelt sie.</p> + +<p>»So. Sie von der Fürsorge hätten am wenigsten Ursache, die ansteckende +Krankheit von drüben hierher zu verschleppen. Oder ist die Gefahr +vorüber?« fügt er etwas milder hinzu.</p> + +<p>Es fällt ihr ein, daß es sich doch eigentlich um seinen eigenen Sohn +handele und daß die Besorgnis ihr vor dem Generaldirektor zur Ehre +gereichen müsse. Sie antwortet daher mit betrübtem Blick:</p> + +<p>»Leider nein. Es steht sehr schlimm.«</p> + +<p>Unwillkürlich sieht sie dabei verlegen zu Boden, und da sie in +Anwesenheit von Vorgesetzten immer ein wenig verwirrt ist, zieht ein +roter Schein über ihr kleines Gesicht.</p> + +<p>Der Generaldirektor ist seit dem Telephongespräch in dieser +Angelegenheit mißtrauisch geworden. Er vermutet überall Mitwisser, +hämischen Klatsch. Im übrigen aber hofft er noch, daß seine +wahnwitzige Hypothese falsch sein könne. Er bringt<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> sich selbst in +schiefe Situationen, um endlich aus der scheußlichen Ungewißheit +herauszukommen. Vielleicht hat er zage vermutet, bei diesem Gespräch, +das zu einer glatten Zurechtweisung der armen Fürsorgeschwester wurde, +etwas zu erfahren.</p> + +<p>Ärgerlich wendet er sich ab und geht in das Verwaltungsgebäude.</p> + +<p>Am Schluß der geschäftlichen Besprechung mit dem Kapitän sagt er:</p> + +<p>»Ich sah vorhin die Fürsorgeschwester von der Mühle kommen. Was hat +gerade sie dort zu suchen, wo die ansteckende Krankheit ist? Hatten Sie +keinen anderen Boten?«</p> + +<p>Es verstimmt ihn, daß er nicht sofort davon sprach, sondern nervös +während der geschäftlichen Auseinandersetzung die geschickteste +Formulierung suchte. Seine Worte klingen daher schroffer, als es in +seiner Absicht lag.</p> + +<p>Der Kapitän ist nicht geneigt, sich von einem Vorwurf, zu dem keine +Veranlassung vorliegt, auf Kosten eines Angestellten zu befreien. +Außerdem weiß er nun, worauf Joachim Becker hinauswill.</p> + +<p>»Ja,« meint er leichthin, während er mit den Händen auf dem Rücken in +die Mitte des Raumes stelzt, »sie ist drüben bekannt, die Schwester +Emmi. Sie hat seinerzeit Fräulein Pohl gepflegt. Übrigens haben Sie +wohl auch nicht gewußt, daß sie eigentlich gelernte Säuglingsschwester +ist?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p> + +<p>»Nein«, sagt der Generaldirektor verdutzt. Nun hat er seine Gewißheit. +Auf so viel Aufklärung war er nicht einmal gefaßt. »Sie macht doch +ihre Sache bei unserer Fürsorge ganz gut?« bringt er, immer noch sehr +barsch, hervor.</p> + +<p>»Allerdings, ausgezeichnet«, erwidert der Kapitän, der nun seine +Stiefelspitzen beguckt. »Die Kenntnisse schaden durchaus nicht. Warum +sollen sie nicht auch hier im Hafen noch zu verwerten sein?«</p> + +<p>Er lacht wie über einen Witz. Der Generaldirektor nimmt es als eine +geschmacklose Anspielung und verabschiedet sich zum erstenmal von +diesem korrekten Mitarbeiter, ohne ihm die Hand zu reichen. — — —</p> + +<p>Eines Nachts, nachdem Frau Pohl in ununterbrochener Pflege um das Leben +des kleinen Kranken gekämpft hat, wird sie wieder von dieser Vision +erschreckt: ein Kind, noch unausgeprägt in seinen Formen, vielleicht +erst wenige Tage alt, liegt ohne Atem in ihrem Arm; sie lauscht, tastet +und kann die Starrheit des winzigen Körpers mit ihrer eigenen Wärme +nicht lösen.</p> + +<p>Unmittelbar anschließend erscheint ihr dann diese beängstigende +Barriere, die undurchdringliche Wand vor dem Abgrund in ihrer +Erinnerung.</p> + +<p>Sie weiß nichts mit diesem Bild zu beginnen, denn da liegt ihr Kind +mit den Zügen Michael Pohls, und es fehlt ihr jede Ordnung in ihrem +Gedächtnis.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p> + +<p>Sie beugt sich zu dem Knaben herab und lauscht, dicht am fiebernden +Körper, seinem geschwächten Herzschlag. Periodisch wiederkehrende +Erstickungsanfälle, wohl vierzig an diesem Tag, haben den kleinen +Organismus vollkommen erschüttert.</p> + +<p>Frau Pohl starrt mit ihren heißen, fanatischen Augen angespannt auf die +Uhr. Sie hat sich die Zeit für den nächsten Anfall ausgerechnet. Die +Sekunden schleichen. Aber der Zeiger rührt sich, rückt fürchterlich +vorwärts.</p> + +<p>Das Brausen und Feilen des Blutes in ihrem Kopf, die gleichmäßigen +Atemzüge ihres Mannes, der — hilfsbereit — angekleidet auf seinem +Bett liegt, das Ticken der Uhr scheinen ihr lärmende Geräusche in der +nächtlichen Stille.</p> + +<p>Der Knabe wirft sich herum. Frau Pohl umklammert das Gitter des Bettes, +vornübergebeugt, atemlos.</p> + +<p>Den Körper gestrafft, jedes Gefühl, jeden Gedanken ausgeschaltet, alle +Kräfte im wartenden Blick, im Lauschen des Ohrs gesammelt, so verharrt +sie ohne Gefühl für Zeit und Raum.</p> + +<p>Sie nimmt wahr, wie die Atemzüge allmählich reiner und gemäßigter +werden, wie der Körper sich beruhigt, wie die fiebernde Röte schwindet.</p> + +<p>Unvermittelt entsinnt sie sich der Uhr. Überschreitet der Zeiger nun +die Zahl, ohne daß die Stille von jenem grauenhaften Bellen und Stöhnen +des Kindes gestört wird?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span></p> + +<p>Sie wendet ihr Gesicht zum Zifferblatt. Es verschwimmt, grau, mit einem +tanzenden Zahlenkreis, vor ihrem Blick. Sie hebt die Hände über die +Augen und starrt fassungslos auf die Uhr. Zwei Stunden sind vergangen, +zwei Stunden war ihr eigenes Dasein ausgeschaltet, zwei Stunden bereits +beginnt der Knabe zu genesen.</p> + +<p>Sie preßt die Zähne gegen ihren Handrücken, um nicht vor Freude zu +schreien. Sie weint lautlos, mit krampfhaft unterdrücktem Schluchzen, +während sie in der Mitte des Zimmers steht, hager, abgezehrt, mit ihrem +glühenden, eingefallenen Gesicht.</p> + +<p>Dann setzt sie sich auf den Stuhl neben das Kinderbett und schläft +augenblicklich ein, die Hände im Schoß, den Kopf zur Seite geneigt, die +rissigen Lippen leicht geöffnet. —</p> + +<p>Im Morgengrauen erwacht Michael Pohl. Die Kleider kleben an seinem +Körper. Die Glieder sind schwer, ohne Gefühl.</p> + +<p>Ein schwaches, leise stöhnendes Husten läßt ihn erschreckt hochfahren. +Mit stechendem Schmerz fühlt er das Blut von der raschen Bewegung in +den Schläfen aufwallen und verebben.</p> + +<p>Er geht zum Kinderbett hinüber. Auch Frau Pohl ist von dem Geräusch +schreckhaft erwacht. Sie beugt sich über den Knaben und hebt das +Gesicht zu ihrem Mann wieder auf.</p> + +<p>»Er hat im Schlaf gehustet«, flüstert sie, mit einem weichen Lächeln im +ausgeruhten Gesicht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p> + +<p>Ihre Blicke haften ineinander, sekundenlang. Michael Pohl berührt +sachte ihre Schultern. Da fährt sie zusammen.</p> + +<p>»Wieder habe ich es gesehen«, flüstert sie ängstlich. »Jetzt, in diesem +Augenblick, ganz deutlich.«</p> + +<p>Er löscht das Licht und führt sie in das Nebenzimmer. Blaugraue +nebelverhüllte Morgenluft ist hinter den Fenstern.</p> + +<p>Während Frau Pohl starr geradeaus blickt, beginnt er, sie vorsichtig +auszufragen.</p> + +<p>Sie erzählt von der Vision.</p> + +<p>»Ja,« sagt er, den Blick ruhig, zwingend auf ihre Augen gerichtet, »das +war dein Sohn! Und der Knabe nebenan, den du dir heute nacht ins Leben +zurückgerettet hast, ist Irmgards Sohn. Aber nun gehört er dir, als +wäre er dein eigener.«</p> + +<p>Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Steif wendet sie ihn dem Fenster zu +und starrt wieder in ihre Erinnerung zurück.</p> + +<p>»Wie lange war ich krank?« fragt sie mühselig, tonlos.</p> + +<p>»Fünf Jahre.«</p> + +<p>»Fünf Jahre ...« wiederholt sie langsam.</p> + +<p>Michael Pohl nimmt ihre kalten, zuckenden Hände auf.</p> + +<p>»Alles,« flüstert sie hastig, »alles mußt du mir erzählen!«</p> + +<p>Und er berichtet langsam, was sie zunächst zu fassen vermag, bis +mählich ihre Augen ruhig werden und sie alle Zusammenhänge erkennt.</p> + +<p>Sie äußert sich nicht. Sie lehnt stumm den Kopf an seine Schulter und +schließt die Augen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p> + +<p>Er streicht zärtlich über ihre stumpfen braunen Haare mit den grauen +Streifen und atmet leichter, befreit. Ob jetzt das Leben auch für sie +beide noch einmal beginnt? — — —</p> + +<p>Nun weiß Joachim Becker, welche Bewandtnis es mit dem Knaben in der +Mühle hat, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Laufen nicht genug +Kinder in der Welt umher, die von ihren Vätern niemals gesehen wurden, +ja, von deren Existenz die Erzeuger keine Ahnung haben? Es wäre +wirklich keine Ursache, diese Angelegenheit allzu wichtig zu nehmen.</p> + +<p>Aber daß er gerade jetzt auch von der Krankheit erfahren mußte, +kompliziert den Fall. Schließlich ist er ein fühlender Mensch, und +wenn jemand schwer darniederliegt, kann er ihm seine Teilnahme nicht +versagen. Er malt sich aus, was der Verlust für Irmgard Pohl bedeuten +müßte, denn an ein Kind von fast zwei Jahren hat man sich immerhin +gewöhnt. Schon aus diesem Grunde hätte er gern gewußt, wie es mit dem +Knaben steht.</p> + +<p>Er findet eine geschäftliche Angelegenheit, die sofort mit dem +Kapitän besprochen werden kann. Also fährt er wieder in den Hafen +und sieht sich dort gelegentlich auch nach Schwester Emmi um. Man +könnte ihr heute ein freundliches Wort geben, obgleich ihm der Gedanke +nicht angenehm ist, daß sie recht viel von seinen rein privaten +Angelegenheiten weiß.</p> + +<p>Schwester Emmi wird ihn wohl rechtzeitig erspäht haben. Sie läuft nicht +ein zweites Mal blind in Ungelegenheiten<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> hinein. Aber der Kapitän ist +da, freundlich und höflich wie immer. Joachim Becker sieht ein, daß er +ihm neulich Unrecht getan hat.</p> + +<p>Er drückt ihm kräftig die Hand und bietet ihm von seinen Zigaretten an, +während sie sich über die Fortschritte am Bau ihres Getreidespeichers +unterhalten.</p> + +<p>»Nun werden wir es bald nicht mehr nötig haben, unser Getreide drüben +einzulagern.«</p> + +<p>»Wie steht es übrigens jetzt mit der Ansteckungsgefahr? Es wäre mir +sehr peinlich, wenn einer der Schiffer, die hier im Winterlager sind, +dadurch mit seinen Kindern Sorgen bekäme«, meint der Generaldirektor +bei dieser Gelegenheit. Es gelingt ihm der beabsichtigte leichte Ton.</p> + +<p>Vielleicht ist der Kapitän der Ansicht, daß die Sorge um die Kinder +der Schiffer erst an zweiter Stelle käme. Er rückt ein wenig an seinem +Stuhl und erwidert:</p> + +<p>»Wie solche Krankheiten manchmal verschleppt werden können, ist +nicht abzusehen. Ich habe mich gestern telephonisch erkundigt und +die betrübliche Nachricht erhalten, daß der Junge in größter Gefahr +schwebt. Ob die Krisis jetzt überwunden ist, weiß ich nicht.«</p> + +<p>Wenn er mehr Erbarmen mit Joachim Becker hätte, der so vortrefflich +seine Vatergefühle verbirgt, dann würde er vielleicht seiner Sekretärin +Auftrag gegeben haben, anzufragen, wie es jetzt »drüben« steht. Der +Generaldirektor hätte eine beruhigende Nachricht mitnehmen können, wenn +sie auch<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> sonst ohne Wert für ihn wäre. Doch der Kapitän unternimmt +nicht mehr, als für einen neutralen Mann nötig ist.</p> + +<p>Joachim Becker drückt sein Bedauern über den traurigen Fall aus und +wendet sich wieder den geschäftlichen Dingen zu.</p> + +<p>Nachdem er sich verabschiedet hat, läßt der Kapitän sich sofort mit +Irmgard Pohl verbinden, um seinerseits Gewißheit zu gewinnen.</p> + +<p>»So, das ist ja ausgezeichnet, ausgezeichnet!« antwortet er auf die +gute Auskunft hin. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, den Arm mit dem +Hörer aufgestützt, als wolle er sich noch lange in dieser angenehmen +Weise unterhalten.</p> + +<p>»Da gratuliere ich uns allen!« ruft er hinterher.</p> + +<p>»Ja, mir auch«, antwortet er auf Irmgards Frage, »denn ich habe doch +die Einladung nicht vergessen.«</p> + +<p>Er plaudert im gleichen angeregten Ton weiter: Gewiß, eine Woche würde +er sich gern gedulden, auch etwas länger, wenn es sein müßte.</p> + +<p>Dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Stimme wird noch lauter, weil +er den Ton sehr tief aus der Kehle holen muß.</p> + +<p>Wie? Verreisen? Wie lange? Ein ganzes Jahr? In die Schweiz? Er habe +doch recht gehört: sie selbst? Ja, dann wünsche er alles Gute. Ach, +in ein paar Wochen erst? Gewiß, dann hätte er noch Gelegenheit, sich +persönlich zu verabschieden. Demnach also auf Wiedersehen! Und eine +Empfehlung an die Eltern!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span></p> + +<p>Er legt den Hörer langsam hin. Sein schmales kantiges Gesicht mit den +vielen Falten in der braunen, trocknen Haut sieht nicht befreiter aus +als das Joachim Beckers, der vor wenigen Minuten diesen Raum verließ.</p> + +<p>Aber auch diese Woche vergeht, und er begibt sich eines Abends gegen +sieben Uhr auf den kurzen Weg zum Nachbarn. Seine Geige ist natürlich +zu Hause geblieben, denn nun hat es ja keinen Zweck, damit zu beginnen.</p> + +<p>Frau Pohl lernt er noch immer nicht kennen, weil sie der +Luftveränderung wegen mit dem Knaben verreist ist. Das sei ein gutes +Mittel gegen diese Krankheit, meinte Irmgard Pohl am Vormittag, +gelegentlich der telephonisch ausgesprochenen Einladung. Damit wäre +übrigens auch die Ansteckungsgefahr für »seine Kinder« beseitigt.</p> + +<p>Er wird von Vater und Tochter sehr liebenswürdig empfangen. Sie +essen gemeinsam, und der Kapitän bestreitet hauptsächlich die Kosten +der Unterhaltung. Das kann nicht schwer für ihn sein, da er soviel +auf seinen weiten Reisen erlebte. Auch von der Schweiz erzählt er. +Vielleicht dürfe er ihr für die Reise einige Ratschläge geben.</p> + +<p>»Ach, stellen Sie sich meine Reise nur nicht als eine wechselvolle +Vergnügungsfahrt vor, wie sie sich für einen Mann gestalten mag!« sagt +Irmgard Pohl lachend. »Wir haben an ein Institut geschrieben, wo ich +mich ein Jahr lang in praktischen Dingen und in Sprachen üben und mit +jungen Menschen etwas Sport treiben kann. Der Vater findet,<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> daß ich +hier zu wenig Bewegung habe und daß er zu alt für mich sei.«</p> + +<p>»Ja, das ist wahr,« meint Herr Pohl, »Jugend gehört zu Jugend. Wir +haben es uns reiflich überlegt. Und so wird es das Beste für alle sein.«</p> + +<p>»Da haben Sie recht«, bestätigt der Kapitän. »Da haben Sie vollkommen +recht.«</p> + +<p>Dann wird er etwas einsilbig. Das Essen ist abgeräumt. Sie sitzen um +den runden Tisch, Herr Pohl in seiner Sofaecke, und Irmgard findet es +an der Zeit, mit Wein und Gebäck aufzuwarten.</p> + +<p>Herr Pohl sagt: »Wir wollen auf das Wohl unserer beiden +Familienmitglieder anstoßen, die heute nicht bei uns sind.«</p> + +<p>Er sieht fast unternehmungslustig aus und läßt es sich nicht nehmen, +von den »beiden« zu erzählen. Er habe sie gestern zu seinem jüngeren +Bruder, dem Arzt, aufs Land gebracht. Da hätten sie die nötige +Luftveränderung und ständige Pflege.</p> + +<p>»Und Ihre Tochter wollen Sie auch noch fortschicken?« Der Kapitän +scheint mit so viel Veränderungen in der Familie wenig zufrieden zu +sein.</p> + +<p>»Erst müssen die beiden zurückkommen«, meint Irmgard Pohl einlenkend. +»Das kann drei bis vier Wochen dauern. Ich werde wohl erst im April +fahren.«</p> + +<p>»So, im April«, meint der Kapitän. »Das sind ja fast zwei Monate bis +dahin.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span></p> + +<p>Er wird wieder aufgeräumter. Zum Schluß ist es noch ein freundlicher +und angenehmer Abend.</p> + +<p>Herr Pohl begleitet seinen Gast ziemlich spät bis zum Tor hinter der +Mühle und sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen festen +steifen Schritten zu seiner einsamen Wohnung im riesengroßen dunklen +Verwaltungsgebäude hinüberstapft.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Das_Brot">Das Brot</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-n" src="images/drop-n.jpg" alt="N"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">N</span>un ist auch der Tag gekommen, an dem der fertige Getreidespeicher +seiner Bestimmung übergeben werden kann.</p> + +<p>Das zweite Hafenbecken ist vollendet, und die gewaltigen Konturen des +Speichers zeichnen sich auf seinem neuen Wasserspiegel ab.</p> + +<p>Der erste Kahn mit einer russischen Getreideladung wird hereingelassen, +und das ist ein großer und erhebender Augenblick.</p> + +<p>Sogar Kommerzienrat Friemann erschien, um diesem Vorgang beizuwohnen, +der die ersprießliche Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Hafen +einleitet. Auch der Generaldirektor nahm sich die Zeit, die er diesem +Entwicklungsstadium seines Hafens schuldig ist.</p> + +<p>Er stellt sich zu den Ingenieuren, die nun ihre Arbeit zu übergeben +haben, und freut sich ihres Eifers.</p> + +<p>Bodenmeister Ulrich steht neben dem Kapitän. Er hat die Augen fest +auf das Hebelbrett der Antriebsmotoren gerichtet, das er von nun an +bedienen wird. Heute übernehmen es noch die Ingenieure.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p> + +<p>Die langen Schläuche der Saugförderanlage werden in den Kahn +hinabgelassen, die Maschinen beginnen zu rattern.</p> + +<p>Auch Herr Karcher ist herbeigekommen, um ehrfürchtig das fertige Werk +der Technik zu bestaunen. Er stellt sich in der Nähe Schwester Emmis +auf, die von Felix Friemann in ein Gespräch gezogen wird. Es ist wieder +Frühling, und Schwester Emmi hat ein frischgewaschenes, hellblau +gestreiftes Kleid an, dazu eine blendend weiße Latzschürze, die sich +über dem Busen zierlich wölbt.</p> + +<p>»Es fängt an«, ruft sie aus. Sie ist die erste, die in den Speicher +eilt. Da steht schon der Bäckermeister Reiche und betrachtet die +ankommenden Getreidekörner mit feuchten Augen. Sie fallen in schmaler +Reihe aus den Rohren auf den Boden des Speichers herab und bilden +niedrige Häufchen, von einer Staubwolke umwogt.</p> + +<p>Aber seht, wie sie wachsen! Als der Kommerzienrat mit Joachim Becker +und dem Kapitän hinzutritt, sind es richtige Hügel geworden, die sich +in der Höhe und Breite vergrößern. Und wer Geduld hat zu warten, +kann es erleben, wie der Speicher sich füllt, wie es an den Wänden +hochklettert und die Räume überschwemmt. Nun sieht man keinen Fußboden +mehr, die Flut der kleinen prallen Körner wächst an den eisernen +Pfosten hoch, die den Raum wie Säulengänge teilen, sie steigt bis zu +den Fenstern hinauf, die dicht unter der Decke liegen, sie ist schwer +und reif wie ein fruchtbarer Segen im neuen Haus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<p>»Wir wollen uns auch das Becherwerk und die Bandförderung ansehen«, +sagt der Kommerzienrat. Er hat einst das Getreide kiloweise verhandelt, +und hier ist nun sein Getreidespeicher, der über 30000 Tonnen loses +Getreide faßt.</p> + +<p>Sie gehen zu den blitzschnell eilenden Bändern, die das Getreide +davontragen und verteilen. Während die Motoren surren, eilen die Körner +in dünner Schicht unter einer fliehenden grauen Wolke von Staub dahin, +aber wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, so sind sie wie Gold.</p> + +<p>Felix Friemann, der den Gefühlen seines Vaters ferner steht, geht mit +Schwester Emmi wieder zu den Kähnen hinaus, um mit ihr zu plaudern. +Auch er hat seine Freude an ihrem Lachen und an ihren hellen flinken +Worten. Herr Karcher zieht sich langsam in sein Lagerkontor zurück.</p> + +<p>»Nun habe ich mein Exposé über die Erweiterung und Organisation unserer +Fürsorgeeinrichtungen bei der Generaldirektion abgegeben«, sagt +<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann zu Schwester Emmi.</p> + +<p>»Ach, schriftlich haben Sie das sogar gemacht! Mein Gott, was wird uns +das für Umwälzungen bringen! Muß man dann die Finger auf eine modernere +oder wissenschaftlichere Weise verbinden?«</p> + +<p>Nein, sie nimmt die Wichtigtuerei dieses Kommerzienratssohnes durchaus +nicht ernst.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p> + +<p>»Nun, das gerade nicht! Doch es werden Abteilungen und Untergruppen +eingerichtet, und Sie sind dann nicht mehr die allmächtige Schwester +Emmi, sondern einfach Schwester eins.«</p> + +<p>»Herrjeh, wer wird dann Schwester dreizehn?« Sie will sich ausschütten +vor Lachen.</p> + +<p>»So weit wollen wir noch nicht gehen. Wir könnten getrost noch eine +Schwester Anni oder Elli bekommen, die liebenswürdiger sind als Sie, — +die Anni oder Elli.«</p> + +<p>Ihr Spott hat ihn etwas verwirrt, denn er fängt schon an, einzelne +Worte zu wiederholen.</p> + +<p>»Viel Vergnügen!« ruft sie aus. Sie blickt mit ihren lustigen Augen zu +ihm hoch und hebt sich auf die Fußspitzen, um auch seine übertriebene +Länge zu verspotten. »Die können Sie wirklich gebrauchen, die Anni oder +Elli«, sagt sie noch lachend, während sie bereits enteilt.</p> + +<p>Felix Friemann sieht ihr traurig nach. Er muß sich schon von einer +kleinen Fürsorgeschwester auslachen lassen, er will sich bessern, das +will er gewiß.</p> + +<p>Der Kommerzienrat und Joachim Becker sehen sich auch sonst noch den +Hafen an, dann fahren sie gemeinsam in das Stadtbureau zurück. Felix +Friemann kann die beiden im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch mit +seinen langen Beinen einholen und seinen Schwager bitten, an Adelheid +und seine Tochter Grüße zu bestellen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p> + +<p>Als alle Besucher fortgegangen sind und auch die Ingenieure mit dem +Kapitän im Verwaltungsgebäude verschwanden, steht der Bäckermeister +Reiche immer noch vor den Getreidemassen des Speichers und ist in +tiefes Nachdenken versunken.</p> + +<p>Er bückt sich und nimmt die Körner so voll in seine große helle Hand, +daß sie zwischen den Fingern herausdringen, dann läßt er sie fallen, +und wenn die Faust wieder leer ist, wird er von neuem traurig.</p> + +<p>Schließlich muß er den Speicher verlassen. Bodenmeister Ulrich wird +ungeduldig, er will endlich unumschränkter Herrscher in seinem Reiche +sein. Die Befehle an die Arbeiter sind knapp und bestimmt, als spräche +Joachim Becker mit ihnen.</p> + +<p>Herr Reiche geht langsam und schwerfällig bis an das Ende des +Hafenbeckens und um die Schmalseite herum zum Kanal, der den Hafen von +der Mühle trennt.</p> + +<p>Da steht der Speicher des Müllers, er ist nicht weniger vollkommen, +nur etwas kleiner und älter. Daneben arbeitet die Mühle, die aus den +prallen goldenen Körnern das Mehl bereitet. Und in der Stadt sind die +vielen Meister, die ihr Brot davon backen. Sie holen es glühendheiß +aus den Öfen, aber sie nehmen es trotzdem für den Bruchteil einer +Sekunde zwischen die Hände und fühlen den elastischen goldbraunen Laib. +Der ehemalige Bäckermeister glaubt den frischen sauer-süßen Duft zu +verspüren, dann denkt er an die Selter- und<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> Malzbierflaschen und an +die Milchgläser, die er täglich mit einer langen Bürste reinigt.</p> + +<p>Er ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und findet keinen Weg aus +seiner Not.</p> + +<p>Nun fällt sein Blick auf einen Wagen, der neben der Mühle mit Säcken +beladen wird. Er gehört einer großen Bäckerei, die sich ihr Mehl selbst +holt und dabei den Zwischenhändler und die Rollfuhrspesen spart.</p> + +<p>Herr Reiche beginnt, krampfhaft zu überlegen. Wenn man nun hier, direkt +neben der Mühle — zum Beispiel da, wo jetzt der Wagen steht — eine +Bäckerei errichtete, dann fielen nicht nur die Zwischenhändler und die +Rollfuhrkosten, sondern auch das eigene Fuhrwerk fort.</p> + +<p>Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine ganze Woche lang, Tag und Nacht. +Beim Gläserspülen greift er plötzlich nach irgendeinem Fetzen Papier +und rechnet. Und wenn er des Nachts erwacht, so hält ihn die Grübelei +stundenlang fest. Dabei sieht er nicht übernächtig aus, nein, im +Gegenteil: prall und frisch. Seine Ohren sind stets rot angeglüht, +seine Augen glänzen, nur in den Bewegungen scheint er sehr zerstreut.</p> + +<p>Endlich faßt er einen Entschluß. Er zieht zum Erstaunen seiner Frau +mitten an einem Wochentage seine besten Kleider an und geht fort. Zur +Stunde des Arbeitsschlusses, als in der Kantine wieder viel zu tun ist, +geht er, ohne eine Erklärung abzugeben, davon.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p> + +<p>Er hat keinen weiten Weg. An der Föhrbrücke biegt er links ab zum +Mühlengrundstück. Dort läßt er sich beim Mühlenbesitzer Pohl selbst +melden. Er wird in das Privatkontor geführt, und seine Ohren brennen +wie Feuer.</p> + +<p>Michael Pohl fordert ihn — was er bei jedem Besucher zu tun pflegt, +ob es nun der Kapitän oder der Kantinenwirt ist — mit einer stummen +Handbewegung auf, im alten Sessel gegenüber seinem Schreibtisch +Platz zu nehmen. Dann wartet er geduldig den Anfang der Rede ab. Er +zeigt weder Neugierde noch Erstaunen, denn er ist schon an manchen +eigenartigen Besuch, besonders aus dem Hafen, gewöhnt.</p> + +<p>»Herr Pohl,« beginnt der Bäckermeister, »wenn ich so die Mühle sehe und +die Getreidespeicher im Hafen und hier, da kommt mir so eine Idee — +der Herr Pohl wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist. +Hier ist das Getreide, sage ich mir, und das Mehl —«</p> + +<p>Er bricht seine Rede ab, um die Hauptsache nachzutragen:</p> + +<p>»Ich bin nämlich Bäckermeister von Beruf, aber nun verwalte ich die +Kantine im Hafen —«</p> + +<p>Diese Worte, die ihm als geschickte Umschreibung des Wortes +»Kantinenwirt« gefallen, hatte er sich mit großer Mühe zurechtgelegt, +und nun sind sie wirklich richtig und glatt herausgekommen. Er ist +geradezu glücklich darüber, stellt sich noch regelrecht mit seinem +Namen vor und hat den Mut, weiterzusprechen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p> + +<p>»— das Mehl, sage ich mir, und die Bäcker, die das Brot backen, müssen +es erst in die Stadt fahren oder sie bekommen es von anderwärts oder +vom Zwischenhändler — der Herr Pohl werden mich schon verstehen?«</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer nickt.</p> + +<p>»Nun sage ich mir, wie wäre es, wenn man das Mehl gleich hier verbacken +würde? An Ort und Stelle. Dicht neben der Mühle. Da ist ein freier +Platz, ich meine auf dem Grundstück vom Herrn Pohl, und wenn ich so +rechne und rechne, so denke ich, daß das Brot mindestens um fünf +Pfennig für das Stück billiger werden könnte als anderswo.«</p> + +<p>Er sieht den Mühlenbesitzer erwartungsvoll an. In seinem Kopfe braust +es, als säße er im Maschinenraum des Getreidespeichers, direkt neben +den fünfzig Antriebsmotoren.</p> + +<p>Mühlenbesitzer Pohl schweigt eine ganze Weile, dann sagt er langsam:</p> + +<p>»Der Gedanke ist nicht schlecht. Wie hatten Sie sich das weiter +gedacht?«</p> + +<p>Der Bäckermeister richtet sich in seinem Sessel auf und macht erst +einmal einen tiefen Atemzug. Jetzt fürchtet er sich nicht mehr. Die +Details sind ihm außerdem geläufiger als die einleitende Rede. Er +holt einen Zettel hervor, auf dem er die Resultate seiner Rechnereien +abgeschrieben hat, und erklärt.</p> + +<p>»Wer sollte nun die Bäckerei errichten?« fragt Herr Pohl.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span></p> + +<p>»Wenn der Herr Pohl sich beteiligen würden? Mit einer Kleinigkeit und +mit meiner Arbeitskraft könnte ich wohl mitmachen.«</p> + +<p>»Und wer würde die Ersparnis von fünf Pfennig gewinnen, da die +Brotpreise einheitlich geregelt sind?«</p> + +<p>»Der Herr Pohl dürfen nicht denken, daß es mir um den Profit zu tun +ist. Die Regelung will ich dem Herrn Pohl selber überlassen. Wenn +ich nur meine alte Arbeit wiederbekomme. Das Brotbacken war mir das +liebste, die Kinkerlitzchen überlasse ich den anderen.«</p> + +<p>»Ja, Herr Reiche, das wollen wir uns mal beide durch den Kopf gehen +lassen. Haben Sie noch zu einem anderen Menschen davon gesprochen?«</p> + +<p>»Keiner Seele habe ich ein Sterbenswörtchen gesagt.«</p> + +<p>»Dann wollen wir zunächst auch weiter darüber schweigen. Und Sie kommen +morgen um die gleiche Zeit noch einmal her.«</p> + +<p>Sie trennen sich mit einem kräftigen Händedruck.</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer steht am Fenster und sieht dem Manne nach, wie er +mit schweren wiegenden Schritten über den Mühlenplatz geht.</p> + +<p>Es gab eine Zeit, da der Bäckermeister Reiche sich für seinen neuen, +von der Frau ersehnten Beruf die nötige Trinkfestigkeit holen mußte. Er +hatte keinen Geschmack am Alkohol, aber wenn man ihn ausschenken soll, +muß man ihn auch trinken können. So übte er sich eine ganze Weile<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> +darin, und als er die alkoholfreie Kantine bekam, war ihm das Trinken +zur Gewohnheit geworden. Nun hat er wieder einen festen gleichmäßigen +Gang und sogar Ideen im Kopf.</p> + +<p>»Der Mann weiß gar nicht, was er hier für einen Plan aufgerollt hat«, +sagt der Mühlenbesitzer vor sich hin. — »Der Herr Pohl wollen es mir +nicht verübeln, wenn es nicht recht ist«, hört er im Geiste noch einmal +den Bäckermeister sagen. Michael Pohl schüttelt den Kopf und denkt nun +erst gründlich über die Sache nach.</p> + +<p>Dann geht er in das große Kontor hinüber und ruft seine Tochter.</p> + +<p>Noch ist sie hier in seinem Bureau, und er kann sie um ihren Rat +fragen. Aber in wenigen Tagen will sie ihre Reise antreten, und er weiß +noch nicht, wie er dann ohne seinen Kompagnon auskommen soll.</p> + +<p>Sie setzt sich im Privatkontor auf ihren angestammten Platz im +Ledersofa und sieht ihren Vater interessiert an.</p> + +<p>Michael Pohl erzählt ihr von der Idee des Bäckermeisters. Aus der +Bäckerei ist eine Brotfabrik geworden, die Brote zählen nicht nach +Hunderten, sondern nach vielen Tausenden, und die fünf Pfennig +Ersparnis für jedes Brot will er den Konsumenten überlassen, denn es +bleibt immer noch Verdienst genug.</p> + +<p>»Hier ist das Getreide,« sagt der Mühlenbesitzer, »hier das Mehl und da +das Brot für die ganze Stadt.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span></p> + +<p>Irmgard ist aufgesprungen. Sie sieht ihren Vater mit leuchtenden Augen +an.</p> + +<p>»Ja,« sagt sie, »Vater, das ist fast so groß wie damals das Projekt vom +Hafen.«</p> + +<p>Michael Pohl lächelt. »Nun, ganz so hoch wollen wir uns nicht +versteigen. Und vorläufig sieht unser Plan noch genau so schwierig aus +wie die Idee vom Hafen vor drei Jahren.«</p> + +<p>»Mein Gott,« sagt Irmgard, »was sollen dann die vielen Bäcker machen, +wenn wir das Brot allein backen wollen?«</p> + +<p>»Sie können es mit dem gleichen Verdienst verkaufen, als wenn sie es +selbst gebacken hätten. Aber sie werden natürlich ihr Handwerk nicht +aufgeben wollen, um Händler zu werden. Du siehst, daß hier schon eine +Schwierigkeit ist.«</p> + +<p>Wie flink denkt nun eine Frau!</p> + +<p>»Warum sollten sie nicht ihre Semmeln und Kuchen backen wie bisher? +Wenn ich an unseren Bäcker denke, der ein ganz besonderes Brot +bereitet, mit einem Geschmack, den man sonst nirgends wiederfindet, +dann sage ich mir, es könnte doch jeder seine Spezialitäten +weiterführen. Man zahlt dann gern etwas mehr, wenn man es sich leisten +kann. Wir aber backen hier nur das billige Einheitsbrot, das tägliche +Brot des Volkes, kurz: <em class="gesperrt">das</em> Brot.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> + +<p>Michael Pohl sieht sie befriedigt an. »Nun bleibt nur die Frage, wer +der Unternehmer wird, und wie man es den Beteiligten klar macht. Ich +meine die Produzenten, die den Gewinn dem Volke überlassen sollen.«</p> + +<p>»Ist das Projekt für einen einzelnen zu groß?«</p> + +<p>»Das auch, obgleich ich außer meinem freien Grund und Boden reichlich +Kapital dazugeben könnte.«</p> + +<p>»Könntest du das?«</p> + +<p>»Gewiß, die Mühle entwickelt sich von Jahr zu Jahr und wirft größere +Gewinne ab, unsere Ansprüche bleiben die gleichen. Nun ersetzest du mir +sogar noch eine Arbeitskraft, und deine Mutter kennt nur ihre peinliche +Pflichterfüllung. Ich habe das Geld nicht im Hafen unterbringen können, +dazu war es zu wenig, jetzt muß ich es endlich für unseren Sohn +anlegen.«</p> + +<p>»Aber —?« fragt Irmgard Pohl.</p> + +<p>»Aber für eine Brotfabrik, die den Bedarf der ganzen Stadt decken soll, +brauchen wir die Unterstützung der Kommune oder der Allgemeinheit. Das +ist ein volkswirtschaftliches Unternehmen, für das wir uns keine Feinde +aufladen dürfen.«</p> + +<p>»Wer sollte wohl feindlich gesinnt sein, wenn es sich darum handelt, +der Allgemeinheit das Brot zu verbilligen?«</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer lacht. »Wer? Die Konkurrenz, die Rechthaber, der +Neid, die Zwietracht. Es beständen viele Beweggründe.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span></p> + +<p>»Das Hafenprojekt hat sich auch verwirklichen lassen.«</p> + +<p>»Da handelte es sich nur darum, Interessenten zu finden, die durch +den gleichen Gedanken geeint werden: Geld zu verdienen. Dieses Motiv +versöhnt die heftigsten Feinde. Nun aber sollen wir für einen ideellen +Zweck werben. Meinst du, daß die Inhaber der bereits bestehenden +Brotfabriken mit der Verbilligung einverstanden sind? Was geht sie das +Volk an, wenn sie von ihrem Verdienst einbüßen?«</p> + +<p>»Ja, müssen wir darum den Mut verlieren?«</p> + +<p>»Nein, gewiß nicht. Wir wollen es versuchen. Das wäre sicherlich ein +großer Erfolg, unter so viel Köpfen eine Einigung zu erzielen. Es gälte +fast mehr als die Verbilligung des Brotes.«</p> + +<p>»Siehst du, da ist wieder der alte Schwärmer. Gott sei Dank! Ach, weißt +du, ich bin ganz stolz, daß wir nun auch so ein großartiges Projekt +haben.«</p> + +<p>Michael Pohl nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und lacht.</p> + +<p>»Man möchte es durchaus mit einem anderen aufnehmen!« Und mit +liebevoller Resignation fügt er hinzu: »Daran erkenne ich doch wieder +die Frau.«</p> + +<p>Sie schreibt ihm seine Briefe und ist ihm ein guter Kamerad, aber sie +verfehlt doch dabei ihren besten Daseinszweck.</p> + +<p>Als der Bäckermeister am nächsten Tage wiederkommt, kann der +Mühlenbesitzer ihn mit <em class="gesperrt">seinen</em> Berechnungen empfangen. Er +zieht seine tüchtige Mitarbeiterin zu den Beratungen<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> hinzu, und sie +beleuchten das Projekt von allen Seiten. Da wird nichts übersehen, und +ihr Fachmann, der schwerfällige Bäckermeister, kann immer wieder neue +Momente ins Treffen führen.</p> + +<p>Zum Schluß sind sie dahin einig geworden, daß die beiden Männer +zunächst eine Orientierungsreise unternehmen, um ähnliche Anlagen in +anderen Städten zu besichtigen. Dann wollen sie sich an die zunächst +Interessierten, die Bäckermeister, wenden.</p> + +<p>Frau Reiche hat die Augen gehörig geöffnet, als ihr Mann ihr kurz und +bündig erklärte, daß er eine Reise zu unternehmen gedenke. Es liegt +ihm fern, auf ihre Fragen etwa zu erwidern: »Ich habe dich auch nicht +gefragt, was du mit deinen Besuchen im Gefängnis bezweckst.« Nein, er +läßt sie nun ihres Weges gehen und macht seine Reise für sich.</p> + +<p>Nur daß er auch Fräulein Spandau keine Auskunft darüber geben kann, +geht nicht ganz nach seinem Herzen. Sie sieht ihn mit ihren müden Augen +stumm fragend an, und er sagt: »Auf Wiedersehen, Fräulein Spandau, wenn +ich zurück bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes erzählen.«</p> + +<p>Das befriedigt sie nicht weniger, als wenn er ihr ein prächtiges +Geschenk versprochen hätte.</p> + +<p>Wem wäre nicht eine Veränderung am Kantinenwirt Reiche aufgefallen, +als er von seiner Reise wieder heimgelangte? Er hatte eine andere Art, +zu gehen und zu sprechen,<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> und er stellte sich nicht mehr hinter den +Schanktisch, — dieses Amt überließ er seiner Frau.</p> + +<p>Aber das geschah beileibe nicht, weil er sich zu gut dafür dünkte, +sondern einzig und allein, weil er keine Zeit dafür fand. Wenn er nicht +seine geheimen Besprechungen mit dem Mühlenbesitzer hatte, so mußte +er mit dem Innungsmeister konferieren oder in den Versammlungen Reden +halten. Selbst vor dem Ersten Bürgermeister hat er eines Tages mit +Mühlenbesitzer Pohl und einigen Abgeordneten der Bäckerinnung gesessen.</p> + +<p>Er ist plötzlich ein geachteter Mann, man hört geduldig und ernst auf +seine Worte. Und auch dem Mühlenbesitzer gegenüber hat er ein anderes +Auftreten. Er sagt zum Beispiel: »Richtig, Herr Pohl, da haben Sie +wieder recht.«</p> + +<p>Wo ist der geduckte Kantinenwirt, der einmal sagte: »Der Herr Pohl +wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist?«</p> + +<p>Doch hier kann man wieder sehen, was der Prophet in seinem Vaterlande +gilt. Hat Frau Reiche etwas von der Größe ihres Mannes verspürt? Nein, +sie sagt: »Wie lange soll dieses Faulenzerleben noch dauern? Wenn das +Konferenzen sind, mit denen du dich aufhältst, dann verwalte ich hier +ein Hotel.«</p> + +<p>Als der Streit in der Bäckerinnung so lebhaft geworden war, daß die +Hilfe der Zeitungen angerufen wurde, da schreckte man nicht davor +zurück, dem Bäckermeister Reiche<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> vorzuwerfen, daß er nichts weiter als +ein Kantinenwirt sei. Vom Mühlenbesitzer Pohl jedoch wußte man, daß +seine Beteiligung beim Hafen seinerzeit abgelehnt wurde; man ist nicht +geneigt, ihn nun an einer Brotfabrik profitieren zu lassen.</p> + +<p>Wenn man keine sachlichen Bedenken finden kann, so gibt es der +persönlichen genug.</p> + +<p>Aber nun ist auch der Trotz in Michael Pohl erwacht. Er sagt zu Herrn +Reiche: »Sie können solange in meiner Mühle arbeiten.« Und er bietet +ihm einen Posten an.</p> + +<p>»Was,« sagt Frau Reiche, »du willst eine Brotfabrik gründen? Hätte ich +dir in deiner Bäckerei nicht die Brote verkauft, dann lägen sie heute +noch da.« Sie hat noch immer keine Achtung vor ihrem Mann und ist nicht +geneigt, ihren Platz in der Kantine zu verlassen.</p> + +<p>Herr Reiche verabschiedet sich von Fräulein Spandau, nachdem er die +Vermittlung des Kapitäns in Anspruch genommen hat, und sagt:</p> + +<p>»Ich lasse ihr alles hier, so wie es ist. Ich habe meine beiden Fäuste +zur Arbeit. Und wenn Sie einmal in der Mühle zu tun haben, so fragen +Sie nach Lagerverwalter Reiche. Dann wird es schon recht sein.«</p> + +<p>Inzwischen beleuchten die Zeitungen das Problem und suchen die Parteien +zu orientieren.</p> + +<p>»Wie lange wird die Verbilligung anhalten?« fragen die einen. »Wenn den +Meistern die Arbeit genommen ist, gehen<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> die Preise wieder in die Höhe, +und die Großunternehmer allein stecken den Gewinn ein.«</p> + +<p>»Man hat es auf zwei Berufe abgesehen«, klagen einige andere. »Der +Zwischenhandel und das Transportgewerbe sollen ausgeschaltet werden«, +und man rechnet den Interessenten vor, welche Schädigung das für sie +bedeutet.</p> + +<p>»Nun soll auch das gute ehrliche Handwerk unterjocht und versklavt +werden.« — »Das ist der Beginn der Vertrustung.« — »Das Kapital reißt +nun auch die Macht über das tägliche Brot an sich.« — So und ähnlich +lauten die Schlagworte, die auch von den Bäckermeistern aufgenommen +werden.</p> + +<p>Nur eine zaghafte Stimme vertritt die Ansicht, daß es der Stadt +zur Ehre gereichen würde, wenn man in dieser Frage eine Einigung +ohne Gewalt erzielte. Aber sie verknüpft diese einfache praktische +Angelegenheit mit ihren Idealen und macht sich selbst lächerlich. Denn +was hat eine Brotfabrik mit dem ewigen Frieden zu schaffen?</p> + +<p>Verliert der Mühlenbesitzer den Mut darüber? Nein, er verliert ihn +nicht; er war nicht ohne Vorbereitung in den Kampf eingetreten. Er +bietet sein Geld und eine gute Idee an, und wenn sie es ablehnen, so +wissen sie nicht, was sie tun. Er wäre nicht der erste, dem man seine +Gaben vor die Füße wirft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p> + +<p>Ein anderer beginnt allmählich, im Kampfe zu verzagen. Er ist auf einen +vorübergehenden Posten gestellt worden in Erwartung der großartigen +Gründung; die Wartezeit erstreckt sich auf zwei Monate, drei Monate, es +wird Herbst, und noch bezieht er mit bedrücktem Gewissen sein Gehalt +als Lagerverwalter in einer Mühle und nicht als Meister in einer +Brotfabrik. Was nutzt es ihm, daß er sich mit der modernen Technik +vertraut macht und im stillen eine neue Lehrzeit in den verzwickten +Büchern beginnt? Es ist nur gut, daß ein Fräulein Spandau eines Tages +den Lagerverwalter Reiche aufsucht und ihn fragt, ob man das Mehl in +der Mühle auch pfundweise kaufen könne.</p> + +<p>Nein, damit kann er nicht dienen, doch wenn er sie nach Hause begleiten +dürfe und sie sich noch für die Sache eines Mannes interessiere, den +man so lächerlich finde, so wolle er ihr einiges erzählen.</p> + +<p>Sie hat dagegen nichts einzuwenden und hört ihm auf dem weiten Wege mit +großem Interesse zu, obgleich er zuletzt sehr verbittert und mutlos ist.</p> + +<p>»Ach ja,« sagt sie zum Abschied, »wenn Sie es doch durchsetzen könnten! +Wir brauchen zu Hause täglich ein Brot, das sind fünf Pfennig pro +Tag und ein und eine halbe Mark im Monat. Sie glauben nicht, was das +bedeutet, da wir alle von meinem Gehalt leben müssen.«</p> + +<p>Ihr blasses Gesicht mit der dünnen unklaren Haut ist so<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> vertrauensvoll +zu ihm emporgewandt, daß es ihm wieder einen Ruck gibt, und er +verspricht, nichts unversucht zu lassen.</p> + +<p>Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, denkt er auf dem Heimwege, wenn +man denen nicht helfen dürfte, die es so dringend brauchen.</p> + +<p>Er spricht noch einmal mit dem Mühlenbesitzer darüber, und sie fangen +die Sache von einer anderen Seite an. Michael Pohl, der doch genug +Lehrgeld gezahlt haben sollte, gibt wieder eine schriftliche Erklärung +ab.</p> + +<p>Sie wirkt nicht gleich wie der wunderbare Stab vor dem Zauberberg, aber +dieser und jener läßt sich doch herbei, einen Blick auf das Dokument zu +werfen und ein wenig darüber nachzudenken. Da soll nun die Bäckerinnung +als Unternehmerin auftreten, und der Mühlenbesitzer will ihr die Mittel +vorstrecken. Jeder Meister in der Stadt ist Teilhaber der großen Fabrik +und hat schließlich auch eine Stimme ins Gewicht zu werfen.</p> + +<p>»Wenn ich das gleiche verdiene und weniger Arbeit habe, so soll es mir +recht sein«, meint nun der Bequeme, während der Arbeitsame befriedigt +feststellt, daß man ihm trotzdem seine Tätigkeit läßt.</p> + +<p>»Und wer sich das richtig überlegt, muß sich sagen, daß vom billigeren +Brot mehr gegessen wird«, wirft Lagerverwalter Reiche in einer +Versammlung ein. »Das Brot, das die eigene Familie ißt, fällt auch +nicht unter den Tisch,<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> es muß ebenso gerechnet werden, als ob es +verkauft wird, und das sind fünf Pfennig für das Stück.«</p> + +<p>In dieser Versammlung trägt er noch nicht den Sieg davon, aber als der +Winter den Hafen wieder im Bann hält und auf dem Kanal vor der Mühle +die Oberfläche glitzert und knackt, hat er endlich eine Abstimmung mit +Stimmenmehrheit erreicht.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Scheidung">Die Scheidung</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-e" src="images/drop-e.jpg" alt="E"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">E</span>r eilt in seinem Überschwang zur Mühle, mit der Absicht, den +Mühlenbesitzer sogar aus dem Bett zu holen, um ihm die freudige +Botschaft zu überbringen. Sie besitzen zwar noch lange keine +Brotfabrik, aber sie haben die Einigkeit. Er weiß, wieviel das dem +Mühlenbesitzer Pohl gilt.</p> + +<p>Nun hätte er auch Lust, dem schmalen Fräulein Spandau zu sagen, daß sie +in mindestens einem Jahr einundeinehalbe Mark monatlich sparen kann. +Doch diese Freude muß er sich bis zum nächsten Morgen aufheben.</p> + +<p>So frei und kräftig hat er sich lange nicht gefühlt, wie auf dem +Heimweg von der Versammlung. Wenn er es recht überlegt, so hat ein +Druck auf ihm gelastet, seitdem er in den Hafen kam.</p> + +<p>Kurz vor der Föhrbrücke bemerkt er eine Frau, die mit wiegenden Hüften +vor ihm hergeht und nicht viel Eile hat, vorwärtszukommen. Da sollte +doch —! Wenn das nicht seine Frau ist!</p> + +<p>Er findet es nicht übel, daß er ihr an diesem Abend noch begegnet. Man +könnte der Madame gleich zeigen, was man<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> für ein Kerl geworden ist, +damit sie endlich einmal die richtige Meinung erhält.</p> + +<p>Er ist nicht nachtragend. Nein, das kann niemand behaupten. Sie hat +ihn nicht nur betrogen und obendrein verspottet, weil er nicht zu den +Männern gehört, die deswegen einen Mord begehen, sie hat ihn auch um +seinen Beruf gebracht und ihm den Rest seiner Selbstachtung genommen.</p> + +<p>Aber nun sagt er »Guten Abend, Frau Reiche. Du hast anscheinend keine +Lust, nach Hause zu gehen.«</p> + +<p>»Ach, du bist's«, sagt sie. »Ich habe gehört, du willst dich von mir +scheiden lassen.«</p> + +<p>»Ich?« fragt er erstaunt. Auf diesen Gedanken war er bisher noch nicht +gekommen, nun scheint er ihm nicht schlecht, ja er findet ihn plötzlich +ausgezeichnet. Er muß unwillkürlich an Fräulein Spandau denken. Da +könnte er für einen Menschen einstehen und ihm Freude bereiten, denn da +wird alles dankbar angenommen. Ob sie wohl den Antrag eines Meisters in +der größten Brotfabrik der Stadt ausschlagen würde?</p> + +<p>Er streicht in stolzer Freude den Schnurrbart hoch. Nun ist er wieder +ein Mann, der auf sich hält und auch bei den Frauen einen Stein im +Brett hat.</p> + +<p>Es ist ihm fast, als sähe selbst seine Frau ihn wieder wohlgefällig an.</p> + +<p>»Nun, ich habe so etwas gehört. Wenn es dir recht ist, könnten wir ja +darüber reden. Neulich ist ein Rechtsanwalt<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> im Hafen gewesen, da habe +ich die Gelegenheit wahrgenommen und ihn gefragt, was zu tun wäre.«</p> + +<p>»So —« meint er. »Dann wirst du ja besser Bescheid wissen und kannst +mir Unterricht erteilen.« Er nimmt die Sache von der lustigen Seite, +und das ist fast etwas kränkend für eine Frau.</p> + +<p>»Wir könnten gleich darüber sprechen,« schlägt sie vor, »dann ist die +Sache abgemacht. Mein Bruder versieht die Wirtschaft, wie du gehört +haben wirst. Wir können also hinaufgehen und alles in Ordnung bringen, +wenn es dir recht ist.«</p> + +<p>Wie zahm sie geworden ist, denkt Herr Reiche. Sollte sie etwa schon +von der Versammlung gehört haben? Nun will er sich erst einmal das +Vergnügen erlauben und ihr erzählen, was er für ein Mann ist.</p> + +<p>»Ach, sieh einmal an«, sagt sie. »Was du nicht sagst. Wer hätte das +für möglich gehalten? Darauf müssen wir von meinem selbstgemachten +Kirschwasser trinken. Was meinst du dazu?«</p> + +<p>»Hm, das wäre ja wie eine Feier. Aber da wir doch miteinander zu reden +haben —« Das hätte er sich wahrhaftig im Traume nicht einfallen +lassen, daß er noch einmal ein freier lediger Mann würde. Es gibt doch +wirklich ganz einfache Gedanken, auf die man erst gestoßen werden muß. +Was wird das für ein Spaß sein, wenn man zu Fräulein Spandau sagen +kann: »Es gibt gewisse Männer, die einmal verheiratet <em class="gesperrt">waren</em>.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span></p> + +<p>»Huh«, macht Frau Reiche fröstelnd. »Wie ist das schon wieder kalt!« +Und sie hakt sich mit ihrem molligen Arm bei ihm ein, um sich zu +erwärmen.</p> + +<p>»Die Madame wird sich einen Schaden antun«, sagt er gutmütig spottend +über diese Äußerung einer ungewohnten Vertraulichkeit.</p> + +<p>Sie stößt ihn mit dem Ellenbogen an. »Jetzt, da wir uns scheiden lassen +—« meint sie lachend.</p> + +<p>Allmählich geraten sie in eine Stimmung hinein, in der sie alles +lächerlich finden. Sie setzen sich in ihrem alten Wohnzimmer über der +Kantine auf das Sofa, trinken von dem Kirschwasser und stoßen »auf eine +glückliche Scheidung« an.</p> + +<p>»Eigentlich,« sagt sie mit glucksendem Lachen, »wenn ich's mir +überlege, warst du ein ganz guter Ehemann. Ja, man erkennt die Vorzüge +erst, wenn es zu spät ist. Was meinst du wohl, wie ich daran gedacht +habe, wenn ich hier so allein war?« Sie sieht ihn mit ihren feuchten +Augen ermutigend an und rückt etwas näher.</p> + +<p>Der Bäckermeister hat wieder ganz rote Ohren, als wäre er in der +Backstube beim Ausholen der Brote.</p> + +<p>»Es ist verteufelt heiß hier bei dir«, bringt er halberstickt hervor.</p> + +<p>»Meinst du?« fragt sie, und sie sieht ihn dabei so komisch an, daß sie +wieder beide lachen müssen. Sie fährt ihm mit ihren Händen ins Gesicht +und sagt: »Fühl' nur, wie kalt sie sind.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p> + +<p>Er gibt keine Antwort darauf. Er hat vollkommen vergessen, daß er sich +vornahm, den Mühlenbesitzer aus dem Bett zu holen und einem blassen +schmalen Bureaufräulein zu roten Backen und einem glücklichen Lächeln +zu verhelfen, er schnappt plötzlich nach den kühlen Fingern vor seinem +Mund und lacht.</p> + +<p>»Nein, Mann, bist du denn verrückt geworden?« fragt Frau Reiche. Aber +er gibt jetzt erst recht keine Antwort mehr. —</p> + +<p>So ein Binnenhafen an einem dunklen Wintermorgen ist wie eine +verwunschene Stadt.</p> + +<p>Der Wächter am Tore wird müde und wärmebedürftig. Er achtet darauf, +daß seine Scheiben klar bleiben, denn sonst muß er das kleine Fenster +öffnen oder vor die Tür seines winzigen Häuschens treten und die +dunstige Wärme herauslassen.</p> + +<p>Aber gegen sieben Uhr morgens kommen noch nicht viele Menschen an ihm +vorbei. Im Getreidespeicher rattern zwar schon wieder die Maschinen, +und das Getreide beginnt seine unermüdliche Wanderung durch die +Stockwerke. Es darf nicht zur Ruhe kommen, damit es nicht feucht +oder muffig werde, und es bläst unterwegs seinen Staub in die Luft, +daß Bodenmeister Ulrich und seine Helfer wie graue Figuren durch die +Morgendämmerung wandern.</p> + +<p>Das Verwaltungsgebäude ist von den Gerüsten entkleidet. In den +Seitenflügeln flammen die ersten Lichter auf, im<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Mittelteil jedoch, +dem stolzen Turmbau, warten die grauen Räume auf die Tätigkeit der +Maler.</p> + +<p>Das war eine andere Zeit, als die Arbeiter in Scharen herbeiströmten, +auf die Gerüste kletterten und hinter Erdwällen verschwanden. Wie viele +Gebäude mußten fertiggestellt werden, und nun stehen sie alle da! Mit +verschneiten Dächern und vereinzelten Lichtern in den Fenstern.</p> + +<p>Aber die Hafenbecken — wo ist ihr Wasserspiegel? Er wird fast dicht +bedeckt von den großen Kähnen, die hier ihr Winterlager aufgeschlagen +haben, und darüber brauen die Nebel. Nur ein Becken ist wie ein langer +und breiter leerer Schlund: der Südhafen, aus dem man die harte Füllung +mit Dynamit sprengen mußte. Er hat noch keine Gebäude an den Seiten, +und auf dem Nachbargelände stehen ein paar verschneite halb verfallene +Holzschuppen. Ein Grundstücksmakler hat sein Schild danebengesetzt.</p> + +<p>Wenn die Hafengesellschaft ihre Tätigkeit am Südbecken +einstellte, so hatte das andere Gründe als die Arbeitsruhe der +Verhüttungsgesellschaft, die eines Tages Konkurs anmeldete und die +Erze im Schoße der Mutter Erde ließ. Man kann einem großen Projekt +zustimmen, doch man darf sich Zeit mit der Ausführung lassen. Zwei +Hafenbecken sind im Anfang genug, und wenn das Konsortium seine Gelder +zurückhält, so ist damit nicht gesagt, daß sie etwa knapp geworden +wären. Aber sie verkünden dem<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Generaldirektor: Nun mußt du dir das +dritte Hafenbecken erst verdienen!</p> + +<p>Das ist nicht leicht, zumal in den Wintermonaten, wenn die Schiffahrt +ruht. Als der ehemalige Kantinenwirt an diesem dunklen Morgen aus der +Tür der Hafenwirtschaft kommt, denkt er, daß hier immer noch Leben +genug sei. Da fahren die großen Lastwagen schon die während eines +langen Sommers aufgespeicherten Waren in die Stadt, die Lokomotiven +schnauben und kreischen auf den vereisten Schienen und bringen neues +Lagergut. Ja, diese treuen Eisenbahnstränge, sie sind doch etwas wert, +sie tragen ihre Lasten das ganze Jahr und verlangen keinen Winterurlaub +wie die anspruchsvollen Wasserstraßen.</p> + +<p>Der Bäckermeister schleicht mit scheuen Blicken neben den Wagen aus +dem Tor; es ist ihm angenehm, daß er dabei vom Wächter übersehen wird. +Er gehörte einst mit gutem Recht hierher, und in der Hafenwirtschaft +ist immer noch seine Ehefrau; über eine Scheidung wollten sie zwar +sprechen, aber nun haben sie es beide vergessen. Wenn er trotzdem mit +schlechtem Gewissen seinen Weg zur Mühle fortsetzt, so sind seine +Privatgefühle daran schuld.</p> + +<p>Er geht in sein Zimmer, das Michael Pohl ihm im Kontoranbau neben der +Mühle zur Verfügung gestellt hat und wartet auf das Frühstück. Es wird +ihm aus dem Wohnhaus gebracht. Man sorgt für ihn und nimmt sich seiner +an, er jedoch kommt nicht mit einer guten Nachricht schnurstracks<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> zum +Müller, sondern läuft erst einmal einem Weiberrock nach.</p> + +<p>Ein schlechter Patron bist du, sagt er vor sich hin, ein Schwächling, +ein Weiberknecht. Er kann nichts damit ungeschehen machen.</p> + +<p>Um acht Uhr geht er ins Kontor hinunter, um sich beim Mühlenbesitzer zu +melden. Er läuft ihm nicht mit »Halloh« und »Gute Botschaft« entgegen. +Er meldet das Resultat der Abstimmung und hält seine Mütze in der Hand.</p> + +<p>Da spürt er einen kräftigen Schlag auf der Schulter, und ein herzlicher +Händedruck rüttelt ihn wieder aus seiner Niedergeschlagenheit hoch.</p> + +<p>Ja, nun sollen sie wirklich das Brot für die ganze Stadt backen.</p> + +<p>»Aber das Schönste ist doch, daß sie einig geworden sind, — daß sie +für einen guten Zweck und nicht für einen Profit einig geworden sind!« +sagt der Mühlenbesitzer. Er beginnt, der Menschheit wieder seinen +Kinderglauben zu schenken.</p> + +<p>Nun gibt es zu tun! Donnerlot, was muß nun alles überlegt und +eingeleitet werden. Ein Winter ist kurz, wenn man eine so große Sache +bis zur Grundsteinlegung bringen will. Im Frühling schon soll mit dem +Bau begonnen werden. — — —</p> + +<p>Frühling im Hafen! Das ist wie Gesang. Ein stummes Dank- und Jubellied +schwebt unter der blauen Kuppel des<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> Himmels. Hier stehen zwar viele +Gebäude, ein Turmhaus sogar, und hohe Kräne recken ihre schwarzen Arme +auf, doch man kann sich an das Kopfende eines Hafenbeckens stellen und +Wasser, Himmel, Erde sehen, soweit das Auge reicht. Diese drei waren am +Anfang der Welt, und hier sind sie noch und beginnen ein neues Leben.</p> + +<p>Steigst du aber bis in den zehnten Stock des Turms im +Verwaltungsgebäude, so siehst du außerdem noch eine ganze große Stadt. +Und dort drüben zieht sich ein silbernes Band. Das ist der Fluß dieser +Stadt, an dem sie sich einstmals anbaute, weil es praktisch ist, diese +Straße zu haben. Und da ist ein zweites Band. Das ist der alte Kanal. +Und hier ein drittes: der Verbindungskanal.</p> + +<p>Nun sind sie aus ihrer Ruhe erwacht. Fleißige Schleppdampfer schicken +ihre schmalen Rauchsäulen zu den weißen Himmelswolken empor, und hinter +ihnen kommen sie in langer Reihe: die braven dunklen Kähne mit ihren +Schätzen im tiefen breiten Bauch.</p> + +<p>Der Kapitän tritt aus der Tür und geht in einer ganz anderen Art über +den Platz. Er stößt die Beine mit einer Lust in den warmen Tag hinein, +daß man fast glaubt, die Gelenke knacken zu hören. Wie war er hier doch +geschlichen mit seinem grauen Tuch um den Hals, in den Winterpaletot +geduckt, und wenn er, von seinem Reißen geplagt, den Kopf drehen +wollte, so ging es nicht, er mußte den ganzen steifen Körper wenden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p> + +<p>Nun reibt er die Hände und sagt »Guten Morgen, guten Morgen«, immer +in einer anderen Tonart. Wenn die Natur ihre neuen lustigen Melodien +singt, dann zieht auch der Mensch vielfältige Register.</p> + +<p>Schwester Emmi hat zum erstenmal ein helles Waschkleid an und läuft +auf ihren zierlichen Lackschuhen zu den eben angelangten Kähnen am +Zollspeicher. Felix Friemann verfolgt sie mit seinen langen Beinen aus +weiter Entfernung und ruft: »Schwester eins, Schwester eins!«</p> + +<p>Aber sie hört ihn nicht. Sie stellt sich vor einem Kahn auf und ruft: +»Tom!« Da rennt ein Pudel bellend zur Bordwand, ein blonder Knabenkopf +stößt in die Höhe, und dann setzen sie beide, der Junge und der Hund, +mit einem Sprung auf die Kaimauer.</p> + +<p>Schwester Emmi wird fast umgerannt, so stürmisch ist die Begrüßung des +kleinen Tom, und so heftig zerrt der Pudel an ihrem Rock. Sie sind +beide von ihrer ersten Ausfahrt zurückgekommen.</p> + +<p>»Ich glaube, Junge,« ruft die Schwester aus, »du bist inzwischen wieder +größer geworden! Hast du dich heute auch schon gewaschen?«</p> + +<p>Nein, gewaschen scheint er noch nicht zu sein, aber er hat blitzblanke, +saubere blaue Augen, und er ist seines Vaters Sohn!</p> + +<p>Nun hat auch Felix Friemann endlich bei Schwester Emmi Anker geworfen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span></p> + +<p>»Schwester eins«, sagt er atemlos. »Warum laufen Sie mir denn davon?«</p> + +<p>»Ach, Sie mit Ihrer eins. Wo ist denn die Schwester zwei?«</p> + +<p>»Wenn Sie nicht bald etwas netter werden, beantrage ich sie bestimmt.«</p> + +<p>»Ph — ich warte nur darauf.«</p> + +<p>»Aber ich habe Ihnen eine große Neuigkeit zu melden. Sie werden +staunen!«</p> + +<p>»So? Ich staune schon gar nicht mehr. Sind Sie endlich zum Direktor der +Fürsorgestelle ernannt?« fragt sie spitz.</p> + +<p>»Viel mehr! Ich schlage meine Sommerwohnung im Hafen auf!«</p> + +<p>»Was machen Sie?«</p> + +<p>»Ich ziehe in Herrn Gregors Zimmer.« Er sieht sie triumphierend an.</p> + +<p>»Meinetwegen —«</p> + +<p>»Freuen Sie sich denn gar nicht über den neuen Nachbarn?« fragt er +traurig, als sie sich von Tom und seinem Pudel verabschiedet hat und +weitergeht.</p> + +<p>»Was geht das mich an?« sagt sie mit bösem Gesicht. Und mit einem +Würgen in der Kehle setzt sie hinzu: »Wenn ihr mich doch endlich in +Ruhe lassen wolltet!«</p> + +<p>»Wen meinen Sie denn noch?«</p> + +<p>»Ach — ihr! Alle! Soll ich denn gar nicht zur Ruhe<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> kommen?« Sie +geht in das Kontor der Lagerhalle und schlägt die Tür vor <em class="antiqua">Dr.</em> +Friemanns Nase zu.</p> + +<p>»Sie sehen ja so böse aus«, sagt Herr Karcher, der mit immer +gleichmäßiger Freundlichkeit ihre Morgenbesuche aufnimmt.</p> + +<p>»Ja,« sagt sie, »am frühen Morgen wird man schon geärgert.«</p> + +<p>»Aber!« meint er bedauernd. Er fragt nicht; darum beichtet sie ihm +auch alles, was ihr Herz bewegt. Er ist allmählich zu ihrem Vertrauten +geworden, besonders wenn es sich um Telephongespräche handelt.</p> + +<p>»Was mache ich denn jetzt?« fragt sie. »Der Herr Gregor hat mir schon +wieder geschrieben. Er denkt, daß sein erster Brief unterschlagen sei, +weil ich ihm nicht antworte. Dabei schreibt er den Absender auf den +Umschlag, und ich will mich hängen lassen, wenn die Reiche das nicht +gesehen hat, denn die Schikanen gehen schon wieder an.«</p> + +<p>»Ja, ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist. Aber für Sie will ich es +gern tun und zu ihm hingehn«, meint Herr Karcher zaghaft.</p> + +<p>»Oder soll ich ihm lieber schriftlich mitteilen, daß ich nichts mit ihm +zu schaffen haben will?«</p> + +<p>»Das könnten Sie auch.«</p> + +<p>»Er schreibt, daß er sogar schon eine neue Stellung gefunden habe. Er +muß doch etwas taugen, wenn man ihn<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> engagiert, obgleich er eben erst +aus dem Gefängnis gekommen ist.«</p> + +<p>»Ja«, sagt Herr Karcher, während er sich wieder mit den Eintragungen in +seinen Büchern beschäftigt.</p> + +<p>Schwester Emmi sieht ihm eine Weile zu.</p> + +<p>»Als es ihm schlecht ging,« setzt sie ihren Gedankengang fort, »hat +er sich von Frau Reiche helfen lassen. Jetzt will er nichts mehr von +ihr wissen — Also ich werde ihm schreiben, daß er mich in Ruhe lassen +soll.«</p> + +<p>Felix Friemann hat den Wiegemeister der Lagerhalle <em class="antiqua">II</em> in ein +längeres Gespräch gezogen. Nun schließt er sich für den Rückweg der +vorbeieilenden Schwester Emmi an.</p> + +<p>Sie muß sich nach allen Seiten wehren.</p> + +<p>Vor der Kantine begegnen sie Rechtsanwalt Bernhard, der direkt zur +Mühle hinübergeht.</p> + +<p>Michael Pohl sieht diesem Beauftragten seines Prozeßgegners nicht mehr +finster abwartend entgegen. Er winkt ihn freundlich herbei und ist +ein wenig begierig, zu erfahren, was der Herr Generaldirektor nun im +Schilde führt.</p> + +<p>»Heute komme ich nicht zu Ihnen«, sagt der Rechtsanwalt. Es ist ihm +doch eine Erleichterung, diesen Mann nicht amtlich begrüßen zu dürfen. +»Ich suche Herrn Reiche.«</p> + +<p>»Dann gehen Sie nur da hinein und lassen Sie sich in das Baukontor der +neuen Brotfabrik führen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p> + +<p>»Ja«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Hier gehen große Dinge vor.«</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer lächelt. »Na, na,« meint er, »Sie sind doch andere +Dimensionen gewöhnt. Sehen Sie, der Grund ist schon gelegt. Die +Unterkellerung ist das schwierigste.«</p> + +<p>Sie bleiben eine Weile bei den Arbeiten stehen. Dann sucht der +Rechtsanwalt Herrn Reiche auf, der in einem hübschen kleinen Bureau +sitzt und seinen Besucher sogar ein wenig warten läßt, weil er mit dem +Baumeister und einem Ingenieur einiges zu besprechen hat. Aber er ist +noch nicht so verdorben, daß er deswegen ein Gespräch in die Länge +zieht und sich mit wichtigen Konferenzen entschuldigt, nein, er beeilt +sich und sieht es nicht gern, daß seinetwegen jemand warten muß.</p> + +<p>»Ich wollte wegen Ihrer Scheidung mit Ihnen sprechen«, meint der +Rechtsanwalt. »Da ich gerade hier draußen zu tun hatte, glaubte ich, es +sei am besten, wir bringen es gleich in Ordnung.«</p> + +<p>»Meinetwegen konnte es längst erledigt sein. Ich dachte, meine Frau +besorgt das schon.«</p> + +<p>»Ja,« sagt der Rechtsanwalt lächelnd, »so einfach ist das nicht. Sie +müssen sich schon auch ein wenig bemühen. Zum Beispiel brauchen Sie +einen Rechtsbeistand.«</p> + +<p>»Ich denke, Sie machen das?«</p> + +<p>»Hm, ich bin der Rechtsvertreter Ihrer Frau, also Ihr Gegner, doch ich +kann Ihnen einen Kollegen empfehlen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p> + +<p>»Wissen Sie — dazu habe ich eigentlich keine Zeit. Aber es soll mir +recht sein, wenn das endlich ins reine kommt.«</p> + +<p>»Na also. Sie wollen beide geschieden sein. Doch wir müssen erst einen +Grund finden.«</p> + +<p>»Finden? Ist das vielleicht kein Grund, wenn meine Frau mit diesem +Herrn Gregor die Ehe gebrochen hat?«</p> + +<p>»Tja, Ihre Frau behauptet, daß Sie in diesem Winter einmal bei ihr +gewesen wären und die Sache verziehen hätten. Seitdem kann man ihr +nichts nachweisen.«</p> + +<p>Der Bäckermeister will an diesen Wintertag nicht gern erinnert werden, +er bekommt sogar rote Ohren bei der Erwähnung. Das ist doch wirklich +eine komische Manier, davon zu einem Rechtsanwalt zu sprechen. Darum +sagt er auch heftiger, als es sonst seine Art ist:</p> + +<p>»Verziehen? Nein, verziehen habe ich ihr das nicht.«</p> + +<p>»Nach dem Gesetz aber gilt es so, wenn Sie die Behauptung Ihrer Frau +nicht widerlegen können, daß an jenem Abend —«</p> + +<p>»Herr Doktor,« sagt der Bäckermeister sehr aufgebracht, »wenn ich das +jetzt so höre, da möchte ich meinen, daß meine Frau das damals schon +gewußt hat.«</p> + +<p>»Das würde nichts am Tatbestand ändern, mein lieber Herr Reiche. Aber +ich denke, daß wir uns einigen werden. Es ist ja auch nicht üblich, die +Frau als schuldigen Teil bloßzustellen. Darum macht man es gewöhnlich +so, daß der Mann<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> die Schuld übernimmt, da es nach dem Gesetz nun mal +einer sein muß.«</p> + +<p>»Ich habe doch aber meiner Frau nichts zuleide getan. Oder ist es nach +dem Gesetz anders zu nehmen?«</p> + +<p>»Nein, durchaus nicht, Herr Reiche. Im Gegenteil, Ihre Frau hat sich +sehr lobend über Sie ausgesprochen. Das einfachste wird schon sein, wir +konstruieren einen Ehebruch auf Ihrer Seite.«</p> + +<p>»Wer? Ich?« ruft Herr Reiche entrüstet aus. »Und wenn ich noch einmal +heiraten will, welche Frau soll mich denn da nehmen, wenn ich ihr sage, +weswegen meine erste Ehe geschieden ist? Nein, Herr Doktor, da muß sich +das Gesetz schon etwas anderes ausdenken.«</p> + +<p>»Aber, lieber Reiche, das ist doch lediglich eine Formsache. Und +außerdem brauchen Sie doch als Mann nicht solche Bedenken —«</p> + +<p>»Herr Doktor,« sagt Herr Reiche, während er sich erhebt, »wenn ich +schon solche modernen Sachen wie Scheidung und so mitmache, deswegen +bin ich noch kein schlechter Mann. Und wegen der anderen Sache, da muß +ich erst noch mit jemand sprechen, ob sie keinen Anstoß daran nimmt.«</p> + +<p>»Wie meinten Sie?«</p> + +<p>»Daß ich's mir erst überlegen muß, meine ich, das mit der feinen Sache, +die das Gesetz verlangt.«</p> + +<p>»Selbstverständlich, Herr Reiche, es drängt Sie niemand.<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Ich meinte +nur, daß Sie selbst ein Interesse daran hätten, endlich geschieden zu +werden.«</p> + +<p>Der Rechtsanwalt geht mit einem Schmunzeln im Mundwinkel davon. Er hat +ja nun schon mancherlei Scheidungsfälle in seiner jungen Praxis gehabt, +aber so ein kurioser Mann ist ihm noch nicht vorgekommen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Streik">Der Streik</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-w002" src="images/drop-w002.jpg" alt="W"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">W</span>eil Rechtsanwalt Bernhard nun schon gewissermaßen mit dem Hafen +beschäftigt ist, fährt er gleich zur Generaldirektion ins Stadtbureau, +um noch eine andere Angelegenheit ins reine zu bringen. Er läßt sich +bei Joachim Becker melden und geht sofort auf sein Ziel los.</p> + +<p>»Nachdem nun mit Unterstützung der Stadt auf dem Pohlschen Grundstück +die Brotfabrik errichtet wird, kann die Hafengesellschaft, an der +die Stadt gleichfalls beteiligt ist, wohl nicht mehr gut den Prozeß +weiterführen«, meint er einleitend.</p> + +<p>»Richtig«, ruft Joachim Becker aus. »Sie kommen gerade zurecht. Ich +habe mit dem Vorstand schon darüber gesprochen. Wir wollen den Prozeß +beenden. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß wir auch ohne dieses Stück +arbeiten können. Wir dehnen uns nach Süden aus. Es wird da draußen ein +neuer Güterbahnhof geplant, dann läßt es sich mit dem Gleisanschluß +ganz gut machen.«</p> + +<p>»Das ist ja sehr schön«, sagt der Rechtsanwalt erfreut. Wie gut es doch +geht, denkt er, wenn man sich erst an einen anderen Gedanken gewöhnt +hat. Man versäumt die Gelegenheit,<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> eine unwürdige Feindschaft aus der +Welt zu schaffen, nur weil man sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das +scheinbar nicht auszutreiben ist.</p> + +<p>»Ja, wir wollen bis zum Herbst das dritte Hafenbecken fertigstellen. +Inzwischen wird wohl auch das Gelände der Verhüttungsgesellschaft +so weit im Preise gesunken sein, daß wir es zurückkaufen können. Im +nächsten Frühjahr soll der Hafen unseren Plänen entsprechend vollendet +sein. Dann wollen wir wieder ein Fest veranstalten.«</p> + +<p>Joachim Becker lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht den +Rechtsanwalt mit strahlenden Augen an. Nun, da er seinem Ziel so viel +näher ist, sind seine Blicke steter, die Bewegungen ruhiger.</p> + +<p>»Das wird wohl großartiger werden als die bescheidene Feier für den +ersten Spatenstich«, wirft Rechtsanwalt Bernhard ein.</p> + +<p>»Das will ich meinen!« Der Generaldirektor erhebt sich noch immer +nicht, um seinem Besucher das Ende der Konferenz anzudeuten, nein, er +spielt mit seinem Brieföffner und malt sich anscheinend die Feier aus.</p> + +<p>»Übrigens«, meint er liebenswürdig, »hat meine Frau kürzlich +festgestellt, daß Sie sich lange nicht bei uns sehen ließen. Wir wollen +in der nächsten Woche einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter der +Hafengesellschaft mit ihren Damen laden. Sie werden hoffentlich nicht +fehlen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p> + +<p>Gewiß nicht. Rechtsanwalt Bernhard hat noch nie eine Gelegenheit +versäumt, um Frau Adelheid wiederzusehen.</p> + +<p>Sie schütteln einander die Hände zum Abschied, da wird die Tür +stürmisch geöffnet, und <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann stürzt in heftiger +Erregung herein.</p> + +<p>»Die Arbeiter im Hafen wollen streiken,« bringt er unter großen +Wortverlusten hervor, »die Arbeiter im Hafen —«, fügt er dafür noch +einmal hinzu.</p> + +<p>»Was sagst du da?« ruft Joachim Becker aus. »Sind die Kerle +verrückt geworden? Da müßte man doch gleich mit Maschinengewehren +dazwischenfahren!«</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard macht ein sehr verlegenes, bedauerndes Gesicht +und verschwindet lautlos.</p> + +<p>Joachim Becker bestellt sofort seinen Wagen; er will von seinem +Schwager Näheres erfahren, denn die Nachricht trifft ihn ganz +unerwartet.</p> + +<p>»Wir sind mitten in der besten Arbeit. Das ist ja geradezu eine +Gemeinheit, sich diesen Termin dafür auszusuchen«, sagt er, im höchsten +Grade erregt.</p> + +<p><em class="antiqua">Dr.</em> Friemann kann ihm leider keine Erklärungen geben. Er ist +sofort hierher geeilt, um die Nachricht als erster zu bringen, und +brennt nun darauf, sie auch zu seinem Vater zu tragen. Solch eine +aufregende Angelegenheit ist ihm eine angenehme Abwechslung, obgleich +sie seine Sprache verwirrt.</p> + +<p>Der Generaldirektor wendet sich verärgert ab. Er versucht immer wieder, +seinem Schwager mit Nachsicht zu begegnen,<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> aber es will ihm nie +gelingen. Er fällt sogar in seine alte Unduldsamkeit zurück, wenn er +geschäftlich mit ihm zusammentrifft. Im Familienkreis dagegen findet er +einen liebenswürdig-ironischen Plauderton.</p> + +<p>Er fährt in den Hafen und trifft eine Abordnung der Arbeiter im Zimmer +des Kapitäns.</p> + +<p>Die Tätigkeit ist noch nicht eingestellt, doch man will sich dem +beabsichtigten Streik der Transportarbeiter anschließen.</p> + +<p>»Was wollt ihr denn?« fragt der Generaldirektor. »Genügt euch die +Bezahlung nicht?«</p> + +<p>»Uns wohl«, sagt Karle Töndern, der zum Sprachführer ernannt wurde. +»Wir sind mit allem sehr zufrieden. Aber unsere Arbeitskollegen in der +Stadt nicht.«</p> + +<p>»Ja, was geht das uns an! Deswegen könnt ihr doch eure Arbeit leisten +und uns nicht in diese Verlegenheit bringen. Oder sind Sie nicht +imstande, zu übersehen,« fragt er mit einem scharfen Blick auf Karle +Töndern, »was ein Streik jetzt dem Hafen für einen Schaden bringt?«</p> + +<p>»Das sehen wir wohl ein,« meint Karle Töndern ruhig und fast etwas +traurig, »es tut uns auch allen sehr leid, da wir zufrieden sind und +über Tarif bezahlt werden. Aber wir können unsere Kollegen nicht im +Stich lassen.«</p> + +<p>»Ihr seid doch im Grunde keine Transportarbeiter!«</p> + +<p>»Nein, das stimmt. Doch wir haben uns dem Verband angeschlossen, damit +wir allein nicht so schwach sind, und nun müssen wir zusammenhalten.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p> + +<p>Damit wir allein nicht so schwach sind! Mit diesen Worten ist Joachim +Becker geschlagen. Er hat es an sich selbst erfahren, wie es auf den +inneren Menschen wirkt, wenn er allein bleibt und sich an niemand +anschließt. Man verliert den Mut oder man wird hart. Vielleicht gibt es +noch eine dritte Möglichkeit, aber dazu muß man sehr stark sein. Diese +Männer hier, in deren Beruf der einzelne nichts auszurichten vermag, +sind nur stark in der Gesamtheit.</p> + +<p>Joachim Becker bekommt plötzlich Respekt vor dieser Geschlossenheit. +›Das ist es, was uns fehlt, uns Neunmalklugen‹, denkt er. ›Wir haben +nicht <em class="gesperrt">ein</em> Ziel, wir haben tausend Ziele, jeder ein anderes, und +dabei vergessen wir das Wesentliche und zersplittern uns. Hier ist +<em class="gesperrt">ein</em> einender Gedanke: sich gegenseitig stützen und treu bleiben. +Dafür bringen sie sogar persönliche Opfer.‹</p> + +<p>Er hatte mit den alten Mitteln auffahren wollen: Entlassungen, +Einstellung von Streikbrechern. Nun sagt er zum Kapitän:</p> + +<p>»Was können wir da unternehmen?«</p> + +<p>»Mit dem Arbeitgeberverband sprechen?« meint der Kapitän fragend.</p> + +<p>»Wir dachten uns, daß es vielleicht nicht lange dauert,« wendet Karle +Töndern ein, »denn was der Hafen bezahlen kann, dachten wir, warum +sollen das die anderen nicht auch können?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p> + +<p>›Was sagst du da in deiner Einfalt?‹ denkt Joachim Becker. ›Du machst +mir klar, daß ich der Ungetreueste bin, daß ich meinen Genossen in den +Rücken fiel. Weil ich eingesehen habe, daß die Löhne zu niedrig sind, +und mir mit unterernährten Arbeitern nicht gedient ist, habe ich für +<em class="gesperrt">mein</em> Teil gesorgt und die Löhne erhöht, anstatt zum Verband zu +gehen und zu sagen: wir müssen es <em class="gesperrt">alle</em> so machen, oder warum +könnt ihr es nicht? Nun muß ich bei Gott noch von meinen geringsten +Arbeitern lernen und ihnen nacheifern.‹</p> + +<p>Hat er nicht vor einer halben Stunde erst gesagt: »Da müßte man mit +Maschinengewehren dazwischenfahren?« Nun nimmt er demütig ihre Lehren +entgegen und hat das eigenartige Gefühl, daß er trotzdem wieder ein +Stück gewachsen sei.</p> + +<p>Er reicht den Männern die Hand und sagt: »Wir wollen deswegen keine +Feinde sein, ich will versuchen, ob ich etwas ausrichten kann.«</p> + +<p>Da ziehen sie befriedigt ab und fürchten sich nicht einmal vor +Lohnausfall und Sorgen.</p> + +<p>Bis zum Abend hat Joachim Becker, der nicht eher ruht, bis er eine +Sache zu Ende durchgeführt hat, verschiedene Versuche unternommen. +Er langt erschöpft und entmutigt zu Hause an und muß sich noch +einem Gast widmen: Direktor Haarland, dem Amateurboxer und jüngsten +Aufsichtsratsmitglied der Hafengesellschaft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p> + +<p>Die zarte junge Frau Haarlands, die den größten Teil des Jahres in +Davos leben muß, hat sich an Frau Adelheid angeschlossen. Dann setzen +sich die beiden Männer in das Rauchzimmer und plaudern.</p> + +<p>»Und wissen Sie, was man mir geantwortet hat?« sagt Joachim Becker zu +Direktor Haarland, der sich in seinem Sessel wie auf einem Liegestuhl +ausstreckt. »Als wäre das so ganz in der Ordnung, meinten sie: +›Selbstverständlich zahlen viele über Tarif. Das steht jedem frei, +aber wir wollen niemand dazu zwingen. Für die Allgemeinheit muß der +alte Tarif erhalten bleiben.‹ Sie gebrauchten sogar noch das Wort +Allgemeinheit!«</p> + +<p>Direktor Haarland lacht. »Haben Sie sich schon mal zur Allgemeinheit +gezählt? Sehen Sie, das macht nämlich keiner. Für uns ist das bloß ein +Wort. Im übrigen ist jeder ein ›Ich‹, eine Besonderheit, auf die er so +recht stolz sein muß.«</p> + +<p>»Natürlich will man die Individualität nicht ausgeschaltet wissen, aber +der Zusammenhalt, die Geschlossenheit!« ruft Joachim Becker aus.</p> + +<p>»Da muß ich Sie wieder was fragen: wenn einer Konkurs anmeldet, haben +wir dann schon mal gesagt: Donnerwetter, eine betrübliche Lücke in +unserer Phalanx, wieder einer weniger? Nee, wir sagen: Gott sei Dank, +ein Konkurrent weg. Und wenn's nach uns ginge, so könnten 99 Prozent +fallieren, dann bleibt eben die Chose für einen<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> ganz allein. Wissen +Sie, ich kann das nur wieder mit meinem Boxsport vergleichen: man will +dem Gegner nicht nur eine kleine Blessur beibringen wie etwa mit dem +Florett, um seine Kunst zu zeigen, nein, man möchte ihn am liebsten für +alle Zeiten kaputtschlagen. Dann ist man ihn los, den Kerl, und kann +sich feiern lassen. Darin liegt nämlich der Witz: wir betreiben eine +Sache nicht der Sache wegen, sondern um eines Endzwecks willen. Und der +ist immer nur: Geld, Ruhm und alles, was sich damit kaufen läßt. Wir +haben den Genuß am tätigen Leben verloren.«</p> + +<p>»Den Genuß am tätigen Leben —«, wiederholt Joachim Becker langsam. +»Ja, das klingt geradezu paradox.« — — —</p> + +<p>Nun hat der Hafen also auch seinen Streik.</p> + +<p>Eine Explosionskatastrophe, der Konkurs eines Mitläufers, +vorübergehende Arbeitseinstellung, ein Streik — das sind Beigaben, +die wie Kinderkrankheiten hingenommen werden müssen. Man kann +sie in vielfacher Weise erleben, sie schmieden das Werk wie die +Schicksalsschläge den Menschen: der eine wird mutlos, der andere hart, +der dritte aber trägt alles als einen Gewinn fort.</p> + +<p>Und wenn das Leben ihm so recht nach Herzenslust mitgespielt hat und +wir begegnen ihm, so sagen wir: Siehe, ein Mensch!</p> + +<p>Joachim Becker hat von diesem Streik gleichfalls manches gelernt. +Er mußte schon viele Wandlungen erleben. Er ist zum Beispiel einmal +mit einer Shagpfeife herumgelaufen<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> und hat sich von den Engländern +imponieren lassen, er bewunderte auch die Amerikaner und ließ in +seinem Hafen ein Turmhaus bauen. Man kann nicht sagen, daß es +gleich die Wolken kratzt, doch es hat so viel Räume, daß selbst die +überorganisierteste Hafengesellschaft sie nicht auszufüllen vermöchte.</p> + +<p>Aber ebenso wie man eine Shagpfeife wegwerfen darf, weil sie nicht +schmeckt, so kann man ein Verwaltungsgebäude vermieten, wenn man selbst +nur einen halben Seitenflügel braucht.</p> + +<p>Joachim Becker hat es zwar einmal nicht erwarten können, ein Projekt +in seiner vollen Größe sofort verwirklicht zu sehen, er ist nicht für +langsame Entwicklungen, aber er findet letzten Endes doch noch einen +gesunden Weg.</p> + +<p>Und das Schicksal straft ihn für seine Ungeduld, indem es ihn ein +langsames Wachstum seines inneren Menschen erleben läßt.</p> + +<p>Hat er nicht seinen Arbeitern die Hände geschüttelt, obgleich sie ihm +den Streik verkündeten? Jetzt rennt er wütend in seinem Hafen umher und +möchte am liebsten jeden hinauswerfen oder verprügeln, der die Hände in +den Taschen hält und sich müßig die vollen Kähne beguckt.</p> + +<p>Karle Töndern steht bei Schiffer Jensen und sagt:</p> + +<p>»Da liegst du nun fest mit deiner Ladung.«</p> + +<p>»Ja,« sagt Schiffer Jensen, »da ist mal nichts zu machen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p> + +<p>Sie nehmen es beide wie eine Schicksalsfügung geduldig hin. Der Tod +holt sich eine blonde junge Frau und kümmert sich nicht darum, wie dem +Manne mit seinem kleinen Jungen nun zumute ist. Aber auch dann hadert +Schiffer Jensen noch nicht einmal mit seinem Gott.</p> + +<p>Karle Töndern trottet zum Getreidespeicher hinüber. Da rattern die +Maschinen ohne Unterbrechung. Bodenmeister Ulrich hält auf seinem +Posten aus, er ist ungeheuer beschäftigt. Die Generaldirektion hat ihm +zwar einige Helfer geschickt: Grünschnäbel aus dem Bureau, die ihm +nur im Wege stehen, und ein paar Mechaniker, die vielleicht mit einer +Wasserleitung fertig werden ... Doch mit einem Getreidespeicher...? +Einen Getreidespeicher versteht nur er, Bodenmeister Ulrich.</p> + +<p>Hier vermag also Karle Töndern mit seinen gebundenen Händen auch nichts +auszurichten, er macht einen großen Bogen um den Generaldirektor +und den Kapitän und schlängelt sich in die Hafenwirtschaft hinein. +Vielleicht kann er bei Frau Reiche ein wenig von seiner vielen Zeit +loswerden. Er hört ihr lautes Kreischen schon vor der Tür.</p> + +<p>»Na, da kommt ja noch so ein Faulenzer!« ruft sie ihm entgegen. »Wenn +es heute hier Alkohol gäbe, dann wärt ihr jetzt schon alle besoffen!«</p> + +<p>Sie machen ihre Witze und sind scheinbar ebenso guter Laune wie Frau +Reiche, die sich in ihrer Ausgelassenheit<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> keinen Rat mehr weiß. Und +nun bringt sie wahrhaftig ihr Kirschwasser an und traktiert alle Gäste.</p> + +<p>»Erstens ist das meine private Angelegenheit,« sagt sie zu ihrer +Rechtfertigung, »und zweitens kann es mir ja jetzt schon ganz egal +sein, da ich doch von hier weggehe.«</p> + +<p>Was? Hat man recht gehört? Das ist doch wirklich eine Nachricht, nicht +weniger wichtig, als wenn der Generaldirektor selber demissionierte.</p> + +<p>»Ja,« sagt sie mit stolzem, breitem Lachen, »ich werde jetzt geschieden +und tausche die Kantine gegen ein Zigarrengeschäft.«</p> + +<p>Aha! Nun wissen sie Bescheid. Sie denken sich ihr Teil und sind nicht +so engherzig, es für sich zu behalten.</p> + +<p>Ob sie wohl schon einen Geschäftsführer für den Zigarrenladen hätte? +Einen mit seidenen Strümpfen und feinen Krawatten? Haha, dann wäre ja +alles in Ordnung.</p> + +<p>»Wem es nicht paßt,« sagt Frau Reiche drohend, »dem kann ich auch nicht +helfen!« Sie lachen, daß die Wände dröhnen. Ab und zu verschwindet +einer von den Gästen ohne viel Aufhebens, aber dann ist gleich wieder +ein anderer da, und die Unterhaltung bleibt weiter im Gange.</p> + +<p>Karle Töndern schiebt sich zur Tür hinaus. Er bohrt die Hände fest in +die Taschen und macht das gleichmütigste Gesicht von der Welt.</p> + +<p>›Das allerschlimmste ist,‹ denkt er, ›daß man nicht weiß, wie man seine +Zeit totschlagen soll.‹ Karle Töndern erlebt<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> seinen ersten Streik. +Er ist seit zehn Jahren in der Stadt und hat immer seine Tätigkeit +gehabt. Manchmal dachte er, du möchtest doch auch einmal die Straßen +am Vormittag sehen; besonders im Winter, wenn er in der Dunkelheit zur +Arbeitsstelle ging und wiederum im Dunkel nach Hause kam. Da konnte man +sich die ganze Woche Frau und Kinder nicht im Tageslicht begucken.</p> + +<p>Aufrührerische Ideen hatte Karle Töndern noch nie gehabt, aber zuweilen +meinte er doch: einen Werktag möchtest du mal für dich haben und dir +die Welt zu jeder Stunde betrachten, besonders zwischen sieben und +vier. Nun hat er diesen Tag.</p> + +<p>Er könnte sich zum Beispiel auf jene Bank setzen, die zwischen ein paar +grünen Bäumen aufgestellt ist und den Großstädter zur Ruhe auffordert. +Da dürfte er die Natur genießen und vielleicht auch den spielenden +Kindern zuschauen. Aber was sieht er? Seine Frau, die daheim an den +Kochtöpfen hantiert und nicht wagt, ein Stück Fleisch hineinzulegen.</p> + +<p>Sie glaubten gerade, eine schleppende Last, die durch Krankheiten der +Kinder entstanden war, bald abschütteln zu können, da bringt der Streik +neue Sorgen. Das zieht sich dann von Woche zu Woche hin, und wenn du +denkst: ›den nächsten Lohn kannst du endlich einmal glatt einteilen, +damit du für jeden Tag etwas hast,‹ da ist plötzlich der Winter +eingezogen, und du brauchst Kohlen und warmes Zeug für die Kinder.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p> + +<p>Nein, auf dieser Bank ist doch kein schönes Verweilen. Da geht Karle +Töndern lieber zum Verbandslokal und hört, was die anderen sagen. Man +kann sie schon von weitem sehen, denn sie stehen auf der Straße umher, +reden über dieses und jenes und warten.</p> + +<p>Von der Streiklage hat noch niemand Näheres gehört. Aber hier ist +einer, der könnte heute seinen 25. Streik feiern.</p> + +<p>»Da kannst du mit mir noch gar nicht mit«, sagt ein anderer, und er +lacht, ohne das Gesicht zu verziehen.</p> + +<p>Karle Töndern guckt einigen verstohlen auf die Beine und denkt: solche +geflickten Hosen hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gehabt. +Und dann unterhält er sich mit mehreren, die auch ihren ersten Streik +erleben.</p> + +<p>Viele tragen dünne Rucksäcke auf dem Rücken, darin haben sie ihren +Proviant für den ganzen Tag. Wenn jetzt die Parole erteilt wird »Arbeit +aufnehmen«, dann können sie gleich hingehen, und für ihr Essen ist +gesorgt.</p> + +<p>Manche haben sich schon etwas »Mut« geholt. Ihre Augen schwimmen, und +sie sagen auch mal was Lustiges, worüber keiner lacht.</p> + +<p>Und da stehen sie alle und warten.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Begegnung">Die Begegnung</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-d004" src="images/drop-d004.jpg" alt="D"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">D</span>er Streik ist nach wenigen Tagen beigelegt worden und hat dem Hafen +keinen nennenswerten Schaden gebracht.</p> + +<p>Beide Hafenbecken liegen voller Schiffe, und es ist wieder ein +lebhaftes Getriebe an allen Kaimauern, in den Lagerhallen und auf den +freien Plätzen.</p> + +<p>Irmgard Pohl muß, von ihrer Reise zurückgekehrt, feststellen, daß +der großartige erste Eindruck durchaus nicht hinter dem Bild ihrer +Erinnerung zurücksteht. Gewiß hat sich während ihrer Abwesenheit +manches im Hafen geändert. Es wurde immer weiter gebaut, sogar ein +drittes Hafenbecken kann bald in Betrieb genommen werden, und alles ist +noch mächtiger, als es war. Aber welche Wandlungen sind diesseits des +Kanals vor sich gegangen!</p> + +<p>Daß sie von Frau Pohl herzlich, ja sogar mit gerührtem Überschwang +begrüßt wird, überrascht die Heimgekehrte ebenso wie die äußere +Veränderung an der Mutter.</p> + +<p>Sie waren in diesem Jahr der ersten räumlichen Trennung in einen +angeregten Briefwechsel hineingeraten, der alle Gegensätze zu +überbrücken schien. Irmgard wußte jedoch, daß<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> die Mutter zu jenen +Naturen gehört, die sich nur dem körperlich fernen, dem unsichtbaren +Menschen ganz erschließen können, und sie fürchtete sich vor der +Schranke, die sich bei der persönlichen Begegnung zwischen ihnen +aufrichten würde.</p> + +<p>Und nun steht Frau Pohl neben ihr, den Arm ohne Scheu zärtlich um die +Schultern der Tochter gelegt, mit einem mütterlich-weichen Lächeln im +entspannten Gesicht, und aus den Augen ist endlich der starre Glanz +gewichen.</p> + +<p>Sie eilt nicht gehetzt von einer Arbeit zur anderen, sondern sie läßt +sich hier und da nieder und sieht zu, wie die Zeit langsamer davongeht.</p> + +<p>»Ja,« sagt sie fast entschuldigend, während sie sich wieder vom +pausbäckigen und sehr dreibastigen Sohn tyrannisieren läßt, »so +vertrödelt man seine Zeit«. Und dann kostet es sie einige Mühe, sich +vom Stuhl zu trennen, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.</p> + +<p>Irmgard geht zum soundsovielten Male in den alten Räumen umher und +feiert Wiedersehen. Ihre Bewegungen sind ausholender geworden, sie +bewegt die Arme nach allen Seiten, und es scheint, als wären die Zimmer +nun zu eng für sie.</p> + +<p>Zuweilen betrachtet sie den kleinen Michael, der bei der Begrüßung +kein gutes Gedächtnis verriet, sondern seiner »Schwester« sehr +eindringlich vorgestellt werden mußte. Sie sieht ihm von der Seite zu, +wie er seine Spielsachen umherwirft,<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> und lauscht mit Vergnügen seinen +Selbstgesprächen, aber sie muß es sich gefallen lassen, daß er ihre +Beteiligung am Spiel zunächst noch ablehnt.</p> + +<p>Herr Pohl kommt zur Mittagsstunde herein und setzt sich in den Sessel +am Fenster, mit einer gewohnten stillen Geste, als wäre es an der +Tagesordnung, daß er hier erst eine Weile auf sein Essen wartet.</p> + +<p>Der Tisch ist noch nicht gedeckt, Irmgard sieht kopfschüttelnd auf die +Uhr.</p> + +<p>»Sag' einmal, Vater,« fragt sie, mit übertriebenem Staunen, »verspätet +man sich hier mit dem Essen?«</p> + +<p>Der Vater nimmt ihren Spott lächelnd hin. »Das kommt jetzt zuweilen +vor,« meint er milde, »doch es ist sehr schön, indessen hier zu sitzen +und ein wenig zu sich selbst zu kommen.«</p> + +<p>»Ja, ja,« sagt seine Tochter, während sie sich hinter ihm aufstellt und +mit den Fingern über seine grauen Haare fährt, »es gehen große Dinge +vor in einem Jahr.«</p> + +<p>Sie lacht übermütig und begibt sich wieder auf ihre unruhigen +Entdeckungswanderungen.</p> + +<p>»Ich glaube, hier ist sogar etwas Staub liegengeblieben. Und wo sind +denn nur die scheußlichen Nippessachen, die überall herumstehen +mußten?« ruft sie aus einer Ecke des Zimmers zu ihm hinüber.</p> + +<p>»Die hat der Junge so nach und nach entzweigeschlagen«, erwidert Herr +Pohl gutmütig lachend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p> + +<p>Irmgard kann es sich nicht versagen, den Knaben in ihrer Freude darüber +hochzuheben und mit einem Kuß zu belohnen. »Für die Rettung der Kunst«, +meint sie belustigt.</p> + +<p>Aber der so jählings in seiner Beschäftigung Gestörte rächt sich dafür +durch einen tüchtigen Griff in ihre Haare. Irmgard setzt ihn, ärgerlich +über die Abwehr und den körperlichen Schmerz, barsch auf seinen Platz +zurück.</p> + +<p>»Pfui, du bist ja ein ganz verzogener, brutaler Bengel geworden!«</p> + +<p>Der dreijährige Michael kann eine derartige Beleidigung nur mit einem +fürchterlichen Gebrüll beantworten, das sein guter alter Kamerad, der +Vater, besänftigen muß.</p> + +<p>Als er die letzten Seufzer auf seinem Knie verschluckt hat, meint +Michael Pohl entschuldigend zu seiner Tochter:</p> + +<p>»Siehst du, so ist es: was wir dir an Strenge zuviel gaben, hat der +Junge nun zu wenig. Man ist in der Jugend zu hart und im Alter zu +milde. Wo ist das goldene Maß im Leben?«</p> + +<p>Irmgard ist wieder besänftigt. Sie muß unwillkürlich an den Kapitän +denken und sagt nach einer Weile:</p> + +<p>»Wie geht es unserem gerechten Mann, dem Kapitän? Ich habe ihm auch +zwei Karten geschickt.«</p> + +<p>Herr Pohl findet, daß zwei Karten nicht viel sind, aber er gibt seine +Ansicht darüber nicht preis. Er wischt die Tränenspuren vom wieder +strahlenden Gesicht seines kleinen Adoptivsohnes und erwidert:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span></p> + +<p>»Er hat oft am Abend hier bei uns gesessen. Ja, man kann wohl sagen, +daß er immer noch so ist, wie er war. Wir drei haben uns recht gut +verstanden. Die Mutter freute sich stets, wenn er kam, denn sonst ist +es sehr still bei uns gewesen. Übrigens wurde der Prozeß mit dem Hafen +jetzt aus der Welt geschafft. Da mag ebenfalls der Kapitän seine Hand +im Spiele gehabt haben.«</p> + +<p>Irmgard ist zwar auch damit zufrieden, daß dieser unerquickliche Streit +beseitigt wurde, aber sie sieht nicht ein, warum man das nur dem +Kapitän anrechnen soll. Konnte nicht Joachim Becker inzwischen auch +einsichtiger geworden sein?</p> + +<p>»Daß der Kapitän dich immer grüßen ließ, hat die Mutter dir wohl +geschrieben?« fragt Herr Pohl nebenbei. »Wir haben ihn zu morgen abend +eingeladen. Es ist dir doch recht?«</p> + +<p>Gewiß freut sie sich auch darauf, ihn wiederzusehen.</p> + +<p>»Ich habe mich doch sehr nach allem, was hier so rundherum ist, +gesehnt«, fügt sie hinzu.</p> + +<p>Sie stellt sich ans Fenster und blickt in das lebhafte Getriebe am +Mühlenplatz, auf die erweiterten Gebäude und das Getümmel um die +Baugrube der neuen Brotfabrik. Sie denkt daran, wie sie damals nach +Michaels Geburt hier saß und sich in das neue Leben nicht hineinfinden +konnte. Und wie später ihre überreizten Nerven diesen Pulsschlag +einer großen Stadt nicht vertragen wollten. Nun erlebt sie alles<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> +mit gesunden Sinnen und freut sich auf Arbeit und Kampf und auf die +Überraschungen, die das Leben ihr noch zu bieten hat.</p> + +<p>Auch der Kapitän findet am nächsten Abend bei der Begrüßung, daß man +ihr die gesunden Nerven und die Unternehmungslust ansehe. Er kann es +nicht oft genug versichern.</p> + +<p>»Ja, Reisen wandeln den Menschen. Man sollte sich immer wieder einmal +neue Luft um die Nase wehen lassen. Ich habe auch schon daran gedacht, +daß es noch andere Häfen in der Welt gibt.«</p> + +<p>»Hier ist es doch sehr schön«, meint Irmgard Pohl. »Ich will jetzt zu +Hause bleiben und wieder Vaters Kompagnon werden. Was soll eine Frau +auch allein auf Reisen!«</p> + +<p>Ja, da habe sie recht. Darin muß der Kapitän ihr vollkommen zustimmen, +eine Frau brauche einen Begleiter.</p> + +<p>»Und sie denken doch kaum im Ernst daran, uns zu verlassen?« fragt Frau +Pohl nicht ohne Besorgnis.</p> + +<p>»Nein, nein, im Ernst noch nicht.« Für später hätte er daran gedacht. +Aber es habe noch Zeit, noch bliebe er hier.</p> + +<p>Und dann erzählt er wieder von seinen Reisen, von den vielfältigen +Wundern in der Welt. Er spricht sehr lange und ausführlich, in seiner +gleichmäßigen absatzlosen Art und mit Anstrengung in der Stimme. +Schließlich kommt er wieder zu dem Resultat, daß es gut sei, zu reisen. +Doch nicht allein. Das sei für keinen gut. Am wenigsten in der Fremde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span></p> + +<p>Es scheint schwer, zur rechten Zeit aufzuhören, wenn man in so gutem +Fahrwasser ist. Irmgard, die sich vom Institut her an zeitiges +Schlafengehen gewöhnt hat, wird sehr müde, als der Kapitän sich endlich +verabschiedet.</p> + +<p>»Findest du nicht auch,« sagt sie zum Vater, der den Gast noch +begleitet hat, »daß der Kapitän im letzten Jahr sehr gealtert ist?«</p> + +<p>»Nein,« erwidert Herr Pohl, »er blieb genau so, wie er war.«</p> + +<p>»Aber jedenfalls ist er nicht mehr der jüngste«, meint Irmgard Pohl, +die jetzt einen anderen Maßstab anlegt. »Und seine arme Stimme hat er +sich auch bald ganz ausgeschrien.«</p> + +<p>›So ist die Jugend!‹ denkt Herr Pohl resignierend und ein wenig bitter +über so viel gedankenlose Grausamkeit. —</p> + +<p>Wer könnte dem Kapitän jetzt seine gute Laune verderben! Er rennt im +Hafen umher, als gäbe es keinen Schreibtisch mit einem Telephon, mit +Briefen und Verträgen, die auch bedacht sein wollen. Fräulein Spandau +muß ihn immer wieder in den Lagerhallen, auf den Kähnen oder ganz +hinten bei den Schrott- und Kohlenbergen suchen, weil er gleichzeitig +im Verwaltungsgebäude verlangt wird.</p> + +<p>Um diesen Riesenbau macht er am liebsten einen recht großen Bogen. Er +ist nie ein Freund von Schreibtischarbeit gewesen, lieber noch würde +er beim Ausladen der Schiffe selbst mit anpacken. Am wohlsten aber +war ihm immer, wenn<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> er Planken unter den Füßen fühlte, und wenn die +Welt begann, sich fortzubewegen, langsam gleitend, während er selbst +feststand und unangefochten in ihr Getümmel sah, bis er außer Sehweite +war und nur das Meer in seiner gewaltigen Einsamkeit ihn umgab.</p> + +<p>Unangefochten? Der Kapitän reibt sich die Hände und rennt zum anderen +Hafenbecken hinüber.</p> + +<p>Oh, nun, da der leidige Winter überwunden ist und die Frühlingssonne +ihm den Rücken wärmt, will er sich auch wieder rühren und ein wenig +mittummeln. Allzulange ist er Zuschauer gewesen. Auf seinem Posten in +der Mitte.</p> + +<p>Nachdem er genügend seine Beine gerührt hat, geht er endlich zu seinem +Bureau zurück. Vor der Kantine trifft er die Fürsorgeschwester.</p> + +<p>»Na, Schwester eins,« sagt er gutgelaunt, »nun denken Sie wohl schon +wieder an Ihre Ferienkinder?«</p> + +<p>Sie lächelt. Der junge Friemann hat ihr einen schönen Spottnamen +verschafft. Aber vom Kapitän will sie den Scherz gern hinnehmen.</p> + +<p>Ob sie auch wüßte, daß Herr Pohl mit seiner Tochter heute nachmittag +den Hafen besichtigen werde, fragt der Kapitän, nach kurzer +Unterhaltung über ihre Aufgaben und Sorgen.</p> + +<p>Nein, das wußte sie nicht. »Aber ich habe Fräulein Pohl auch schon +begrüßt«, sagt sie. »Sie hat sich wirklich sehr verändert.<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> Ach, es ist +wohl schön, wenn man sich ein ganzes Jahr erholen kann«, fügt sie mit +einem kleinen Seufzer hinzu.</p> + +<p>Der Kapitän setzt seinen Weg fort. ›Ja, ja, der Neid der lieben +Mitmenschen‹, denkt er dabei abschließend über die Fürsorgeschwester. —</p> + +<p>Joachim Becker fährt an diesem Nachmittag im Hafen vor und will mit +gewohnter Eile in das Verwaltungsgebäude hineingehen, als er die Stimme +des Kapitäns aus unmittelbarer Nähe vernimmt.</p> + +<p>Er wendet sich um und sieht ihn, wenige Schritte entfernt, im +angeregten Gespräch mit seinen Gästen stehen.</p> + +<p>Es ist nicht schwer, den Mühlenbesitzer Pohl zu erkennen, zumal er +den Hut in der Hand hält und sein großer Graukopf unter den Strahlen +der rotglühenden Abendsonne silbrig aufleuchtet. Er dreht dem +Verwaltungsgebäude den Rücken und hat von dem Ankömmling nichts gemerkt.</p> + +<p>Dem Kapitän konnte das Einfahren des bekannten Autos nicht entgehen. +Er bleibt gleichfalls dem Hafenbecken zugewendet und spricht +geflissentlich weiter.</p> + +<p>Nur Irmgard Pohl sieht sich, durch das Surren des Motors abgelenkt, in +weiblicher Neugierde unwillkürlich um.</p> + +<p>Natürlich hat sie beim Betreten des Hafens daran gedacht, daß +sie Joachim Becker zufällig begegnen könnte. Sie war sich auch +über ihre stolze und abweisende Haltung, mit der sie ihm nun ihre +Gleichgültigkeit dokumentieren mußte, vollkommen im klaren.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p> + +<p>Was aber sind alle Vorsätze? Sie fühlt in der plötzlichen Begegnung +mit seinem Blick, daß ihr Genick steif wird, daß sie jede Gewalt über +den Ausdruck ihrer Augen verliert. Ihr Blut schießt vom Herzen in +die entspannten Glieder, es klopft in den Schläfen, und sie hat nur +den beseligenden Gedanken, nicht allein zu sein in dieser gewaltigen +Rebellion. Denn auch Joachim Becker steht sekundenlang auf seinen Platz +geschmiedet und ist nicht imstande, den starren, ärgerlich-strengen +Blick von ihr zu lösen.</p> + +<p>Erschreckend nah und mißtönig klingt plötzlich die Stimme des Kapitäns +in Irmgards Ohren.</p> + +<p>»Sie fürchten doch nicht um Ihr helles Kleid, Fräulein Irmgard, wenn +ich Ihnen jetzt auch noch die Kohlenverladestelle zeige?« fragt er und +hat gar keinen Klang mehr in seiner gepreßten Stimme.</p> + +<p>Er redet sie aus unerklärlichen Gründen mit ihrem Vornamen an. +Vielleicht weil er sich durch den Familienverkehr in seinen Gedanken +daran gewöhnt hat.</p> + +<p>Sie wendet ihm ihr glühendes Gesicht zu, doch sie weiß keine Antwort zu +geben, denn sie hat nicht ein einziges Wort seiner Frage verstanden.</p> + +<p>Der Kapitän beginnt, mit vielen fachwissenschaftlichen Ausdrücken von +der Verladeanlage, von der Schutthöhe der Kohlenlagerung, von der +Elektrohängebahn mit den Laufkatzen, von den Greifern und den fahrbaren +Brücken und anderen wichtigen Einrichtungen im Führerton zu berichten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span></p> + +<p>Er versucht, seine Erklärungen ab und zu durch einen Scherz zu würzen. +Doch wer sollte über so viel verzweifelten Humor lachen können?</p> + +<p>Seht: Michael Pohl lacht, als hätte er noch nie so gute Witze gehört.</p> + +<p>»Was bin ich weißer Müller gegen so viel schwarze Macht!« sagt er, +gleichfalls bemüht, die Stimmung zu retten.</p> + +<p>Der Zustand des Kapitäns entgeht ihm ebensowenig wie das verwirrte +Gesicht seiner Tochter. Im Zusammenhang mit dem Einfahren des +Automobils kann er sich manches erklären.</p> + +<p>Er denkt: ist dieser Mann, dem auf die Dauer keiner seine Sympathie +versagt, so lange einsam gewesen, so wird er auch noch einige Zeit +warten können. Geduld dürfte er in seinem unsteten Dasein genügend +gelernt haben.</p> + +<p>Ja, Geduldsübung ist dem Kapitän ohne Zweifel vertrauter als Joachim +Becker, der im Zimmer des Hafendirektors wie ein gefangenes Tier +umherrennt und die Fäuste ballt.</p> + +<p>Natürlich hat es keinen Sinn, hier zu warten, daß der Kapitän heute +noch für geschäftliche Zwecke Zeit findet. Er führt seinen Besuch +spazieren und kümmert sich nicht darum, daß man ihn zu sprechen wünscht.</p> + +<p>Trotzdem stellt sich der Generaldirektor ans Fenster, um zu verfolgen, +wie weit der Kapitän sich vom Verwaltungsgebäude zu entfernen gedenkt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p> + +<p>Die drei gehen an der Kaimauer entlang, gemächlich und scheinbar +in ständiger Unterhaltung. Der Kapitän weist zuweilen mit eckigen +Bewegungen zu den Kränen und Laderampen hinüber, während er, schräg zu +seinen Besuchern gewandt, die steifen Beine bewegt.</p> + +<p>Es ist noch zu erkennen, wie Michael Pohl, der breit und wuchtig +neben ihm geht, beifällig mit dem Kopfe nickt. Diese stumme Geste der +Zustimmung ist dem Beobachter am Fenster nicht fremd. Wie oft hat er +zu seinen Plänen vom Hafen so genickt und ihn dabei mit den hellen, +teilnahmsvollen Augen ernst angeblickt. Auch als Joachim Becker ihn +damals, etwas verlegen über diese Situation, um seine Tochter bat, +hatte er zunächst nur mit einem Nicken zugestimmt, ehe er seine Ansicht +äußerte, daß es gut sei, noch zu warten, damit niemand sich bei einem +so schwerwiegenden Schritt übereile.</p> + +<p>Das sind peinliche Gedankengänge, denen man sich lieber entzieht, +wenn man kein reines Gewissen hat. Der Generaldirektor rennt wieder +in die Tiefe des Zimmers. »Verfluchte Warterei«, murmelt er zwischen +den Zähnen, während er mit langen Schritten über den Teppich eilt, die +Hände fest in die Taschen gebohrt.</p> + +<p>Dann steht er wieder am Fenster und sieht doch noch Irmgard Pohl nach, +ehe sie seinem Blickfeld entschwindet.</p> + +<p>Sie geht mit kleinen Schritten, die Arme eng an den Körper gepreßt, als +fühle sie sich beobachtet und wisse nicht, wie sie sich bewegen soll.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span></p> + +<p>Er stellt möglichst sachlich fest, daß sie in allem noch so wie damals +ist, in der Erscheinung wie im ruhigen Ausdruck des klaren Gesichts, +das er vorhin, für einen Augenblick, wie etwas Verlorenes in sich +aufnahm.</p> + +<p>Man sieht ihr nicht an, was sie hinter sich hat, denkt er, zum Teil +seines Gewissens wegen beruhigt und gleichzeitig enttäuscht darüber, so +leicht vergessen zu sein. Ja, sie scheint besser daran als er. Sie hat +ihn überwunden, wenn sie auch noch bei seinem Anblick errötet.</p> + +<p>War sie nicht damals schon von dieser ausgeglichenen fraulich-gütigen +Harmonie? Und blickten ihre klugen ernsten Augen nicht von jeher — +in diesen jungen Jahren bereits — ruhig und milde, obgleich sie +gleichzeitig mädchenhaft ausgelassen sein konnte und ihn sogar zu +kindischen Spielen anregte? Sie stand daneben und lächelte, sie hatte +ihren Spaß daran, ihn zu einem Popanz zu verwandeln, zu »ihrem großen +Jungen«, wie sie mit mütterlicher Überlegenheit sagte.</p> + +<p>Aber er hatte dieser Jugendeselei ein Ende gemacht. Er durfte bei +seinen großen Plänen keine Zeit mehr zu albernen Spielen haben. Eine +ernste und vernünftige Ehe entsprach eher seiner Position. Besitzt er +nicht eine gute Frau und eine hübsche kleine Tochter mit großen braunen +Augen, die jeder bewundert, weil sie so »reizend melancholisch« sind? +Nein, er hat wahrlich keine Ursache, unzufrieden zu sein.</p> + +<p>Die Zeit renkt auch alles weise zurecht. Der unangenehme Prozeß ist +beendigt, nun geht sein Prozeßgegner sogar im<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> einstmals feindlichen +Hafen spazieren. Und es sieht ganz danach aus, als wolle der zweite +Hafendirektor, der Kapitän, die Tochter des Gegners heiraten und +für alle Zeiten rehabilitieren. Obgleich sie diese Ehrenrettung +nicht einmal nötig hätte, da ihr kluger Vater durch eine freundliche +Vertuschung das Ansehen der Familie längst wieder aufgerichtet hat.</p> + +<p>Teufel nochmal, das hätte er diesem geraden Manne nicht einmal +zugetraut! Aber man sieht: andere Leute unternehmen auch Winkelzüge im +Interesse ihrer Reputation.</p> + +<p>Ja, er ist über die Vorgänge im Hause des Mühlenbesitzers unterrichtet. +Länger als ein Jahr. Seit er die gräßliche Ungewißheit nicht mehr +ertrug. Er mußte doch mindestens erfahren, ob sein Sohn noch am Leben +war oder nicht. Wozu gab es Auskunfteien, Leute, die dazu da sind, +Erkundigungen einzuziehen, damit man sich nicht durch unpassende Fragen +seine Autorität verscherzt?</p> + +<p>Er bekommt seine laufenden Informationen und weiß nun, daß der +Mühlenbesitzer nicht einen Enkel, sondern einen Adoptivsohn besitzt. +Die Tochter wird auf ein Jahr fortgeschickt, und hier geht sie nun in +seinem Hafen spazieren. Schön und jung, mit einem ansehnlichen und +geduldigen Bewerber zur Seite.</p> + +<p>Der Kapitän wäre wohl der Mann, über den Schatten in der Vergangenheit +einer Frau hinwegzusehen, dieser ewig Gerechte und Höfliche, den nichts +aus dem Gleichgewicht bringen kann.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span></p> + +<p>Nun bekommt sie also noch ihren Hafendirektor und einen guten Namen +dazu. »v. Hollmann« hat einen anderen Klang! Was ist er, der Sohn +des kleinen Beamten, dagegen! Was half es ihm, daß er sich in den +Nächten das bißchen Bildung und Wissen einpaukte, um sich Geltung zu +verschaffen? Er war doch erst etwas geworden, nachdem er die verliebte +Tochter eines Getreidehändlers zur Frau bekam.</p> + +<p>Und nimmt man ihn ernst? Lächelt man nicht im stillen über ihn und +stellt hämisch fest, daß man mit dem Geld eines reichen Schwiegervaters +ebensoviel erreichen könnte? Was nutzt ihm alle Arbeit, alle Energie? +Wer erkennt seine wahren Leistungen an? Hat man darum so lange +geschuftet, vom Morgen bis in die Nacht, ohne einzuhalten, ohne eine +Freude, ohne Befriedigung, um jetzt hier das Fazit zu ziehen, daß alles +vergebens war?</p> + +<p>Er bleibt in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände auf dem Rücken +ineinandergelegt. Sein Mund ist hart, schmal und verkniffen, die +senkrechte Falte zwischen den Augen wirkt wie eine Narbe.</p> + +<p>Sein Blick fällt auf den Schreibtisch des Kapitäns. Hier hat er +damals ihre Stimme gehört, diesen ruhigen, volltönigen Klang. Einen +Augenblick denkt er an den Duft der Linden. Er läßt sich in einen +Sessel fallen und schließt die Augen. Das leise Rauschen in den Wipfeln +der alten Bäume hängt ihm wieder in den Ohren, da er sich dieser Stimme +entsinnt.<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> Es scheint ihm, als lägen die Erinnerungen ein Menschenalter +und nicht knapp vier Jahre zurück.</p> + +<p>Der Kapitän! Joachim Becker kennt keinen Menschen, der soviel +allgemeine Achtung und Sympathie genießt wie dieser stille und +bescheidene Hafendirektor.</p> + +<p>Aus welchem Grunde sollte er wohl seit anderthalb Jahren in der +Familie des Mühlenbesitzers verkehren und nun hier mit der Tochter +spazierengehen?</p> + +<p>Selbstverständlich wird er nicht im Hafen bleiben, denn er wäre nicht +der Mensch, der seine junge Frau durch den gebotenen gesellschaftlichen +Verkehr in schiefe Situationen bringt. Die großen Reedereien, die +ihn als Vertrauensmann für den Hafen empfahlen, würden auch eine +angemessene andere Verwendung für ihn haben.</p> + +<p>Er kann seiner Frau etwas bieten! Er würde ihr die Welt zeigen und +sie in seine angesehenen Kreise führen. Hatte er nicht die großen +Passagierdampfer befehligt und auf die Weltmeere geführt, so daß +weitgereiste Leute, die seinen Namen hören, respektvoll fragen: ›v. +Hollmann, ist das nicht der Kapitän, der damals das und das Schiff +fuhr?‹ Dieses Mannes entsinnt sich jeder gern.</p> + +<p>Wer aber weiß Gutes von <em class="gesperrt">ihm</em> zu sagen? Er besitzt keinen Freund, +keinen Menschen, der das Recht dazu hätte, ihn zu verteidigen. Obgleich +er stets nur das Beste wollte, seine Kräfte nicht vergeudete, immer nur +an sein Werk dachte und niemals an sich selbst.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span></p> + +<p>Er preßt die Fäuste gegen die Augen und sitzt, die Ellenbogen auf die +Knie gestützt, lange im fremden Zimmer, ohne jede Haltung und Würde. +Wie er sich wieder aufrichtet, ist sein Gesicht blaß und verstört, mit +roten Flecken auf der Stirn vom schmerzhaft festen Druck seiner eigenen +Hände.</p> + +<p>Nun muß er aufstehen und sich zu seinem Wagen begeben. Er wird nach +Hause fahren. Und alles ist noch so wie es war.</p> + +<p>Scheu, mit schlechtem Gewissen hetzt er durch den Korridor und vom +großen Haupteingang des Verwaltungsgebäudes zu seinem Wagen.</p> + +<p>Er vermag an diesem Tage nicht mehr in das Bureau und zur Arbeit +zurückzukehren. Er läßt sich in seine Wohnung fahren, um sich von +dem einzigen Menschen, der immer gut und milde zu ihm war, von Frau +Adelheid, aufrichten zu lassen.</p> + +<p>Sie ist nicht allein. Ihr Bruder leistet ihr Gesellschaft. Wenn +Schwester Emmi im Hafen nicht für ihn zu sprechen ist und es also +keinen Zweck hat, an dieser Stätte emsiger Arbeit länger als nötig zu +verweilen, hält er sich gern bei seiner Schwester auf, die mit ihren +einsamen Abenden so wenig anzufangen weiß.</p> + +<p>Sobald sie ihre Tochter zu Bett gebracht hat, überfällt sie ihre alte +Melancholie, die sie ihrem stillen Kinde schon vererbt hat. Darum +schließt sie sich gern den häufigen Theaterbesuchen<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> ihrer Verwandten +an oder weilt bei den Eltern, während ihr Mann bis in die späten +Abendstunden über der Arbeit sitzt. Oft sehen sie einander tagelang nur +in Gesellschaft Fremder und sind abgespannt und einsilbig, wenn sie +heimkehren.</p> + +<p>Man hat an diesem Abend beabsichtigt, ein Theater zu besuchen, eine +sehenswerte Neueinstudierung, also eine Premiere gewissermaßen, die +Felix Friemann sich nicht entgehen läßt. Seine Eltern folgen in +diesem Punkte gern seiner Führung. Selbstverständlich trifft man auch +Verwandte und Bekannte, und der Abend ist gut angewandt.</p> + +<p>Joachim Becker hat Frau Adelheid nicht nur mit seiner frühen Heimkehr +überrascht und beglückt; er erklärt sich auch bereit, sie zu begleiten.</p> + +<p>Vom ungewohnten glänzenden und lauten Leben im Zuschauerraum verwirrt, +sitzt er dann still in seiner Loge. Er fürchtet sich schon jetzt vor +der Pause, vor den vielen geputzten Menschen, denen er begegnen wird +und die mit höflichen und freundlichen Worten bedacht sein sollen.</p> + +<p>›Ist es nicht eine Ungerechtigkeit!‹ sagt er sich an diesem Tage, an +dem eine Begegnung ihn so in seinem ganzen Wesen aufstören konnte, ›daß +du in deinem Innern nicht zur Ruhe kommen sollst! Du fällst in alte +Fehler zurück, wirst unzufrieden mit dir, und wenn du vorwärts blickst, +so türmen sich Berge auf, die für andere scheinbar nicht bestehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p> + +<p>Aber was weißt du von deinen Mitmenschen und ihrem Tun? Einstmals +glaubtest du, mit ihrem Studium fertig zu sein, und jetzt meldet sich +der Drang, daß du einen nach dem anderen aufschließen möchtest und in +seiner Seele erkennen.</p> + +<p>Warum ist es dir nicht gegeben, sie zu meistern wie der Kommerzienrat +oder sie zu übersehen wie dein Schwager?</p> + +<p>Siehe, dieser <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, er hat die schönen Künste so +vollständig in sich aufgenommen, daß er nun in jeder Gesellschaft +darüber reden kann, er hat das Praktische studiert, und nun wird ihm +durch eine kleine blonde Fürsorgeschwester ein angenehmer Kummer +geschenkt. Sie ist ihm ein Ziel, zu dem nur der Weg Freuden bereitet; +also seien wir nicht traurig, wenn es etwas länger währt. Ja, Felix +Friemann ist ein fertiger Mensch, der mit sich und den anderen +zufrieden ist.‹</p> + +<p>Joachim Becker, der junge Generaldirektor jedoch, der vor den Frauen +und bei den Gesprächen über die schönen Künste errötet, weil er +die einen so wenig kennt wie die anderen, sitzt steif da und weiß +nicht, während er den Vorgängen lauscht, ob er in der Pause ein +bedeutungsvolles oder ein bedenkliches Gesicht zeigen soll.</p> + +<p>Als sie schließlich in das Foyer gehen, hat er sich für seine alte +kühle Maske entschieden.</p> + +<p>Felix Friemann gesellt sich zu ihnen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span></p> + +<p>»Dieser Ibsen hat seine Probleme wirklich manchmal sehr weit +hergeholt«, meint er überlegen. »Auf Wildenten haben wir übrigens +damals in Norwegen auch geschossen.«</p> + +<p>Die Familie Friemann begrüßt ihre Bekannten. Sie zeigen einander +die berühmten Kritiker, und einige reden von dem »Stück«. Die +Kommerzienrätin hat es sich zum Prinzip gemacht, nicht eher über eine +Aufführung zu sprechen, als bis die Kritiken erschienen sind, und sie +erwähnt frühere heftige Eindrücke.</p> + +<p>Auch Rechtsanwalt Bernhard ist da. Er will sich traurig zur Seite +stellen, da er Frau Adelheid zärtlich an den Arm ihres Mannes gelehnt +sieht, aber Joachim Becker geht ihm entgegen und begrüßt ihn mit +ungeheuchelter Freude.</p> + +<p>›Das ist noch ein natürlicher Mensch,‹ denkt Joachim Becker, ›er hat +sogar ein Herz.‹ Und sie verbringen zu dritt plaudernd die Pause, wobei +jeder in einer anderen Art seine Rechnung findet.</p> + +<p>Obgleich Joachim Becker sich nach Stille und Dunkelheit sehnt und +Ablenkung von allen quälenden Gedanken wohl gebrauchen könnte, fürchtet +er sich vor der Fortsetzung des Spiels.</p> + +<p>Muß er denn an diesem Abend in seiner Unzufriedenheit so weit gehen, +daß er in jeder verzerrten Gestalt sich selbst sieht? Er ist wahrhaftig +am Ende mit seiner Nervenkraft und sehnt den nahen Sommer herbei. In +diesem Jahre will er zum erstenmal wirklich ausspannen und mit seiner +Frau helle<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> Sommertage irgendwo in den Bergen oder an der See verleben, +damit er wieder zu Kräften und Selbstbewußtsein gelangt.</p> + +<p>Es ist, weiß Gott, lächerlich, hier Parallelen zu ziehen und sich +mit diesem pathetischen Hjalmar Ekdal, diesem Photographen mit der +Flatterkrawatte, zu vergleichen. Warum sollen gerade ihn die Vorgänge +auf der Bühne etwas angehen, ihn so persönlich berühren, daß er der +Selbstzerfleischung nahe ist?</p> + +<p>Ein hirnverbrannter Gedanke, heute in dieser Verfassung hierherzugehen! +Laufen denn nicht soundsoviel andere auch in Gottes weiter Welt umher, +die einen Schatten, einen dunklen Punkt in ihrem Leben haben, an den +man am besten nicht rührt?</p> + +<p>Oh, er möchte wohl wissen, wie wenige es sind, die so einem +Wahrheitsfanatiker wie Gregers Wehrle begegnen dürften, ohne mit der +Wimper zu zucken oder gar ihr ganzes Lebensgebäude einstürzen zu sehen.</p> + +<p>Und sieht man es nicht an diesem Beispiel, wie verkehrt es ist, ans +Tageslicht zu ziehen, was lieber verborgen bliebe? Man hat Fehler +begangen, man sieht sie ein und vermeidet sie in Zukunft. Man hat +einmal nicht anständig gehandelt. Aber kann man das aus der Welt +schaffen? Ist es nicht vernünftiger, Geschehenes zu vergessen, um +ungestört weiter zu kommen?</p> + +<p>Er hat mit seiner Frau niemals über seine Vergangenheit, über die +Beziehungen zum Hause Pohl gesprochen. Vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span> haben ähnliche +Wahrheitsfanatiker wie dieser Narr auf der Bühne sie aufgeklärt, so +daß sie unnützen Gedanken nachhängt und öfter traurig und verweint +ist als notwendig wäre. Denn das muß er sich eingestehen: schlecht +behandelt hat er sie in ihrer mehr als dreijährigen Ehe nie. Er ist +sehr beschäftigt, wälzt imposante Pläne, und es paßt nicht zu seiner +großen Stellung, zu seinem verantwortlichen Posten als Generaldirektor +eines Werkes von Weltbedeutung, daß er sich wie ein Täuberich benimmt.</p> + +<p>Da rühren sich wieder seine Gedanken von heute nachmittag: er durfte +mit Irmgard Pohl nicht mehr jung und ausgelassen sein, weil es sich mit +seinen großen Ideen nicht vereinbarte. Und nun meint er auch, daß er +kein zärtlicher Ehemann sein darf, weil es zur strengen, energischen +Haltung eines Generaldirektors, der sich Respekt und Autorität +verschafft, nicht gehört. Ist es seine Pflicht, nur als Arbeitsmaschine +zu funktionieren und sich niemals wie ein gewöhnlicher Mensch zu +benehmen?</p> + +<p>Immer haftete er an den festgelegten Gesten, die zu seinem Amte +gehören. Zwischendurch probierte er es einmal mit der Shagpfeife und +mit der nachlässigen Haltung des Engländers, der seine Hände in den +Hosentaschen hält. Aber er ließ es wieder und fand Gefallen am smarten +Amerikaner, der nicht zu verblüffen ist und mit kühler Jovialität +seinen Leuten begegnet. Eine Weile versuchte er es, in dieser Weise zum +Beispiel seinen Angestellten entgegenzukommen, um von ihnen<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> nicht nur +gefürchtet, sondern auch geliebt zu werden. Aber er hatte den Eindruck, +daß man ihm den lässigeren Ton als Schwäche auslegen könnte. Und so +kehrte er zu seiner alten Maske zurück: streng, energisch, militärisch +korrekt. Um von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen, um sich +nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, das ist es: er läuft mit einer +Maske umher. Nur in den Stunden der Zerknirschung, der Schwäche, der +Selbsterkenntnis fällt sie von ihm ab.</p> + +<p>Hat er nicht doch Berechtigung, sich mit diesem Photographen zu +vergleichen, der sich auch eine männliche und selbstgefällige Pose +zurechtgelegt hat wie so manche, denen man im Leben begegnet? Der +Kommerzienrat zum Beispiel mit seiner betont soignierten Haltung im +Geschäftsleben, während er daheim in seiner Familie nicht mehr als ein +gutmütiger alter Trottel ist?</p> + +<p>Oh, wie grausam betrachtet er nun sich selbst. Gewiß, auch der +Kommerzienrat hat seine Maske vor den Menschen, ebenso wie die vielen +anderen, die der klugen Ansicht sind, daß man ohne sie im Lebenskampf +nicht auskomme; daß man mißbraucht werde, wenn man der Allgemeinheit, +den Konkurrenten, den Neidern, den lauernden Feinden den wahren +Menschen zeige. Aber verwandeln sie sich nicht, ebenso wie der +Kommerzienrat, zeitweise in ihr eigenes Wesen zurück?</p> + +<p>Wann jedoch ist er ein Mensch ohne jede falsche Geste? Wann und wo +zeigt er seine wahren, seine geheimsten Empfindungen,<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> das Zarte, das +auch in ihm sich regt, und seine Sehnsucht nach Wärme und Liebe?</p> + +<p>So wie dieser Hjalmar Ekdal soeben seine Haltung zu verlieren im +Begriff war, als man ihm sein Lügenhaus enthüllte, so hat er heute +nachmittag ohne jede Würde im Zimmer des Kapitäns gesessen und klar, +entsetzlich klar erkannt, daß sein Ansehen, seine Arbeit, sein ganzes +Leben in den letzten drei Jahren sich auf eine Lüge stützt.</p> + +<p>Und er ging nicht mit offenen Worten zu Frau Adelheid, um der Lüge ein +Ende zu bereiten. Nein, wie dort auf der Bühne das Dokument wieder +zusammengeklebt wird, das die Fortsetzung des alten Lebens erfordert, +so war er zu seiner Frau zurückgegangen, als wäre nichts geschehen, als +hätte nicht die wahre Erkenntnis ihm eben die Augen geöffnet.</p> + +<p>Das Licht flammt auf. Joachim Becker sieht in Adelheids +tränenüberströmtes Gesicht. Rasch zieht er sie fort, ehe sie noch von +der Familie mit Gesprächen und Abschiedsworten aufgehalten werden +können. Sie nehmen irgendeinen Wagen, der vor der Türe steht, und +fahren nach Hause. Unterwegs trocknet er ihre Tränen und küßt die +kalten blassen Hände. Wieviel hat er an ihr gutzumachen. Es ist keine +Pose, keine Lüge, wenn er ihr nun die Hände küßt und sie herzlicher +behandelt als sonst. Nein, er ist ihr so unendlich dankbar für ihre +Güte und Geduld. Gehört es nicht als erstes zu seinem neuen Leben, daß +er ihr die warme Regung seines aufgestörten Herzens verrät?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span></p> + +<p>Nie war Frau Adelheid so schmerzhaft glücklich wie in dieser Stunde.</p> + +<p>Sie sprechen kein Wort, und erst zu Haus fragt Adelheid schüchtern-zart:</p> + +<p>»Darf ich dich zu einer Tasse Tee in meinem Zimmer einladen?«</p> + +<p>»Ja«, sagt er mit weicher Stimme, während er ihren treuen Augen dankbar +begegnet.</p> + +<p>Er lehnt gegen den hohen Kamin und blickt in seine Vergangenheit, +während Frau Adelheid mit stillen Bewegungen den Teetisch bereitet.</p> + +<p>Die freundlichen Bilder sind nicht mehr durch falsche Strenge oder +Spottlust verzerrt. Sie sind hell und sprechen wie Erkenntnisse. +Irmgard Pohl hält ihm die feste, kameradschaftlich treue Hand hin und +sagt: ›Wie könnte ich an dir zweifeln? Das darfst du niemals denken!‹ +Und Michael Pohl ist in seiner Erinnerung wieder vertrauensvoll und +gut zu ihm. Er schlägt ihn auf die Schultern und spricht: ›Ja, dann +sage ich von heute an du zu dir!‹ In seinen hellen tiefliegenden Augen +schimmert dabei seine geheime Zärtlichkeit.</p> + +<p>Joachim Becker sieht seine Fehler unerbittlich und klar. Sie sagen: Nun +weißt du wohl, wie wir auszugleichen sind? Ja, das weiß er. Es ist so +einfach: man ist fortan nur gut zu jedermann, man geht zu zwei Menschen +und sagt: »Verzeiht!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span></p> + +<p>Adelheid ruft ihn an und berührt ihn am Arm. Ihre Augen sind ängstlich +und traurig, denn sie weiß, daß er mit seinen Gedanken wieder nicht in +ihrer Nähe weilt.</p> + +<p>Er blickt sie ganz verwirrt an. War nicht eben alles so einfach und +klar? Er lacht bitter auf.</p> + +<p>Nein, nichts ist klar, denn das Geschehene ist nicht auszulöschen! +Und eine Schurkerei bleibt eine Schurkerei. — Was sollte die +rücksichtslose Wahrheit daran ändern?</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Kran">Der Kran</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-a003" src="images/drop-a003.jpg" alt="A"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>ls im dritten Hafenbecken nun auch ein Wasserspiegel glänzte und an +den Kais eine Tankanlage für zwei Millionen Liter Benzin errichtet war, +konnte man endlich sagen, daß hier ein fertiger Hafen sei.</p> + +<p>Im Norden ragt der mächtige Getreidespeicher, und schon wird die Frage +aufgeworfen, ob er auch ausreichen werde. Es steht nur noch nicht fest, +ob der Mühlenbesitzer Pohl, die Genossenschaft der Brotfabrik oder die +Hafengesellschaft den neuen Speicher bauen. Diese drei muß man nun in +einem Atemzuge nennen, denn sie gehören zusammen. Der Kapitän geht zum +Beispiel zum Nachbarn hinüber und sagt:</p> + +<p>»Nun komme ich, um Ihrer Brotfabrik <em class="gesperrt">unseren</em> Speicher anzubieten. +Vor nicht zu langer Zeit haben Sie uns ausgeholfen.« Und der mächtige +Herr Pohl nimmt dankend an. Er ist nun ein Faktor, den niemand mehr +übersehen darf.</p> + +<p>Aber bei ihm finden wir nur Getreide, Mehl und bald auch Brot — was +ist jedoch im Hafen? An seinem Mittelbecken wird alles in Empfang +genommen, eingelagert und verzollt, was aus dem Lande und aus fernsten +Erdteilen nur herangeschafft werden kann. Da sind viele tausend +Oxhoft<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span> Weine aus Frankreich und Spanien, Talg aus Skandinavien, +Eier aus Holland, Tabak aus Bulgarien, Fleisch, Schmalz und Speck +aus Amerika, Därme aus China, da sind alle Lebensmittel, die eine +Riesenstadt braucht: Mehl, Kaffee, Kakao, Zucker, Butter, Öl, und ganze +Dampferladungen von Heringen werden bis an die Decke der Schuppen +gestapelt.</p> + +<p>Im Süden legen die flachen schweren Tankschiffe an, die Kesselwagen +rollen hin und her, und wenn man einen Blick auf die große und +imposante Kohlenverladeanlage wirft, dann glaubt man, in einem der +berühmten Industriebezirke zu weilen und nicht im einfachen Binnenhafen +einer großen Stadt, die sich in kurzer Zeit zum Stapelplatz für den +ganzen Handel des Landes heraufgearbeitet hat.</p> + +<p>Nun ist die Mauer zum Gelände der verschollenen Verhüttungsgesellschaft +gefallen, und die riesigen Freilagerplätze mit ihren Bergen von Kohle, +Koks, Eisen, Sandsteinen, Zement, Holz und vielem anderen mehr sind +dorthin verlegt.</p> + +<p>Es sieht alles so mächtig und imponierend aus, daß endlich die große +Eröffnungsfeier veranstaltet werden könnte. Aber es scheint noch nicht +genug zu sein.</p> + +<p>Man will jetzt den Riesenkran aufstellen, der alles in einem +Binnenhafen Dagewesene überbieten soll. Dann erst dürfen die Gäste +kommen. Wie man einen besonders schönen Blumenstrauß für den Ehrengast +auf den Tisch stellt, so wird<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> der Kran für die erste öffentliche +Besichtigung in den Hafen gepflanzt.</p> + +<p>Was weiß ein Laie von einem Kran? Wer aber zur Hafengesellschaft +gehört, ist von der Wichtigkeit des Ereignisses erfüllt, als das +Ungetüm nach mühevoller Arbeit endlich dasteht und seine Leistungen +vollbringt.</p> + +<p>»Das ist ein Bulle, was?« sagt Karle Töndern bewundernd.</p> + +<p>Bodenmeister Ulrich meint: »In den Seehäfen, bei den großen Werften, +gibt es noch andere Dinger. Die können einen ganzen großen Ozeandampfer +heben.« Er weiß zwar nicht genau, ob das stimmt, aber es macht einen +guten Eindruck.</p> + +<p>»Na,« sagt Schiffer Jensen, »meinen Kahn nimmt der jedenfalls mit +Leichtigkeit hoch.« So wenig Respekt hat er vor seinem Kahn.</p> + +<p>Wer hätte gedacht, welche unheilvolle Bedeutung dieser Riesenkran, +neben dem die anderen zahlreichen Kranarme wie Kinder wirken, noch +erlangen sollte?</p> + +<p>Es war eine unglückliche Idee von Frau Adelheid, dem schwarzen Koloß, +den ihr Bruder nicht genug preisen konnte, einen Besuch abzustatten. +Als einen Wahnsinn jedoch bezeichnete man es später, daß sie auf +diesen Weg ihre kleine Tochter mitnahm, die gerade laufen konnte und +mit ihren runden Augen recht eigenartig in die Welt guckte. Wer diesen +traurigen Ausdruck, der das hübsche Kindergesichtchen<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> so traumhaft +verschleierte, gekannt hatte, meinte später, dem Kinde Frau Adelheids +sei eine Ahnung seines fürchterlichen Geschicks schon von Geburt an +mitgegeben.</p> + +<p>Kann man es aber der tapferen kleinen Frau Joachim Beckers verdenken, +daß sie ihrer Tochter einen Eindruck von dem gigantischen Werk ihres +Vaters vermitteln wollte? Sie verstand zwar noch nichts davon, sie +plauderte in einem reizenden Kauderwelsch und war so ahnungslos, wie +man es mit zwei Jahren noch ist. Doch sie könnte zuweilen fragen, ach, +Kinder fragen so oft, sie fragen zum Beispiel nach ihrem Vater. Dann +könnte sie also antworten:</p> + +<p>»Der ist dort, wo wir neulich waren, im Hafen, wo das viele Wasser ist +und der große, große schwarze Zeiger!« Das würde sie verstehen. Darum +nahm sie ihre kleine Tochter mit, als der vom Hafen fiebrig erfüllte +<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann ihr keine Ruhe mehr ließ.</p> + +<p>Felix Friemann ist mit allen seinen Gedanken und Gefühlen im Hafen. +Er könnte in einem prächtigen schloßartigen Hause bei seinen Eltern +wohnen, er hätte sogar das Geld, auf einer Jacht im Mittelmeer zu +kreuzen, aber er schlägt seine Sommerwohnung im Hafen auf und läuft +immer noch einer kleinen standhaften Fürsorgeschwester nach. So ist der +Mensch mit allen seinen Widersprüchen!</p> + +<p>Schließlich muß er wohl selbst am besten wissen, was ihm gefällt. Es +macht ihm nun einmal Spaß, im Sommer eine Stunde früher aufzustehen und +vor der Hafenwirtschaft zu<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> promenieren, damit er als erster der frisch +gewaschenen und geputzten Schwester Emmi mit den Lackschuhen begegnet.</p> + +<p>Zuweilen fällt doch ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn ab, +denn an manchen Tagen funkelt die Sonne gar zu blank über dem Hafen mit +seinem Wasser und der herrlichen Weite, so daß eine Fürsorgeschwester +ihren Frohsinn siegen läßt.</p> + +<p>Dann kann sie ein Liedchen summen oder die Arme recken, daß alle ihre +zierlichen Formen sich unter dem hellen Kleide abzeichnen, und in den +Frühlingstag hineinjubeln:</p> + +<p>»Ach, es gibt nichts Schöneres als Sonne im Hafen!«</p> + +<p>Das ist ihr zweiter Hafenfrühling, und drei Jahre ist es her, seitdem +an einer langen Tafel unter den Linden der erste Spatenstich gefeiert +wurde. Daran hatte Schwester Emmi noch nicht teilgenommen, aber für das +Fest der Einweihung erträumt sie sich schon ein Kleid, einen Hut und +Schuhe, die den Staat aller vornehmen Damen in den Schatten stellen +sollen. Die Frau des Generaldirektors mit eingerechnet, denn Schwester +Emmi hat gelegentlich festgestellt, daß Frau Adelheid ungeschickte Füße +habe.</p> + +<p>Zuweilen kann Schwester Emmi zwar noch ihrem treuen Anbeter, dem +<em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, schnippische Antworten geben und ihn streng +ersuchen, sie in Ruhe zu lassen. Sie ist sogar so grausam, sich über +seinen Sprachfehler lustig zu machen.</p> + +<p>»Ist der Kapitän schon da, der Kapitän —« fragt sie ihn zum Beispiel +mit spöttischem Augenblitzen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span></p> + +<p>Er aber blickt sie nur mit seinen Friemannschen Lichtern traurig an, +und sein gesenkter runder Kopf auf dem langen dünnen Körper ist dann +wahrhaftig so trostlos wie eine Gaslaterne, die am hellichten Tage +brennt.</p> + +<p>Aber einmal sagte Schwester Emmi: »Bitte sehr, wenn Sie etwas von mir +wollen — ich bin noch unverheiratet!«</p> + +<p>So, das war geradeheraus gesagt! Es fiel ihr nicht ein, sich aus purer +Gutmütigkeit noch einmal zu opfern. Dafür waren ihre Erfahrungen zu +teuer erkauft.</p> + +<p>Warum sollte sie nicht Frau <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann werden, wenn sie seiner +Liebe würdig war? Ist sie vielleicht geringer oder weniger klug als +diese lächerliche Bohnenstange? Oh, sie hat so wenig Achtung vor ihm, +wie man es von der Frau, die einen Mann seines Geldes wegen heiratet, +nur erwarten kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß sie aus diesem +Manne noch etwas machen könnte, wenn es einmal soweit wäre. Sie würde +schon seine Schätze würdig repräsentieren. In solch einem Anzuge und +mit diesen Krawatten dürfte er dann auf keinen Fall mehr herumlaufen! +Was ihren Toilettenaufwand aber betraf — Nun, das fällt in das Gebiet +ihrer heimlichsten Träume, die sie keinem offenbart.</p> + +<p>Ob der <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann nicht eine gewisse Absicht damit verband, +wenn er Frau Adelheid durchaus in den Hafen lotsen wollte und noch dazu +mit dem Kinde? Es wäre eine so zwanglose Gelegenheit, sie mit Schwester +Emmi bekanntzumachen,<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> um einen Bundesgenossen in der Familie zu haben, +denn wenn er sich Schwester Emmi neben seinen Eltern vorstellt, so wird +ihm doch himmelangst. Felix Friemann hat durchaus alles berechnet, er +denkt sogar daran, daß Schwester Emmi bei Kindern sehr beliebt ist; sie +würde sich also im Verkehr mit Frau Adelheids kleinem Mädchen besonders +vorteilhaft ausnehmen.</p> + +<p>So kommt Frau Adelheid in den Hafen und zum großen unerbittlichen Kran.</p> + +<p>Der Kapitän empfängt sie am Wagenschlag und hilft ihr beim Aussteigen. +Dann hebt er ihre kleine Tochter heraus. Er faßt sie behutsam um den +schmalen Körper und spürt ihren frischen Atem, den unvergleichlich +liebreizenden Duft gepflegter Kinderhaut.</p> + +<p>Was mochte in diesem steifbeinigen Kapitän wohl vorgehen, als das zarte +Gesicht dabei seinen Kopf leise streifte? Ob er nicht auch zuweilen an +weiche Kinderhände gedacht hatte, als er im letzten Winter so einsam +und frierend hier hockte und so viel Hoffnungen auf den neuen Frühling +und das Ende einer langen Reise setzte?</p> + +<p>Frau Adelheids Tochter in dem weißen duftigen Kleidchen begrüßt den +Onkel Kapitän mit einem Knicks, der ihre Beine bis zum kurzen Saum des +Spitzenröckchens verschwinden läßt. Sie kann fast von der Erde nicht +wieder hochkommen. Dabei sind ihre runden dunklen Augen so ängstlich in +die Höhe gerichtet, daß der Kapitän mit seinen spröden Händen<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> zärtlich +über ihre seidenweichen Locken fährt. Dieser einsame und gesottene +Junggeselle.</p> + +<p>Da kommt Felix Friemann gestikulierend an. Das ist eine vertraute +Gestalt für die Kleine. Sie tappt ihm entgegen, und er hockt nieder, um +sie mit seinen langen Armen aufzufangen.</p> + +<p>So, nun hat er sie in seinem Reich. Er bittet sich die Erlaubnis aus, +die Nichte führen zu dürfen und trippelt mit ihr davon. Er muß sich +ein wenig bücken, damit sein Arm bis zu dem winzigen Geschöpfchen +herabreicht, und stolpert bei den zierlichen Schritten fast über seine +dünnen Beine.</p> + +<p>Die Schiffer auf den Kähnen und die Hafenarbeiter stoßen einander an +und ziehen die Gesichter krampfartig zusammen. Felix Friemann nickt +ihnen zu und lacht. Da lachen sie auch. Und die kleine Tochter des +Generaldirektors jauchzt und findet kein Ende mit ihren Fragen.</p> + +<p>Frau Adelheid und der Kapitän folgen langsam nach. Zuweilen bleiben sie +stehen, um einiges zu besichtigen.</p> + +<p>Felix Friemann geht nun schon weit voraus. Er kann es nicht erwarten, +der Kleinen Schwester Emmi und den großen Kran zu zeigen.</p> + +<p>»Ach,« sagt Frau Adelheid zum Kapitän, als er ihre Tochter lobt, »ich +wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich sie nicht +hätte.«</p> + +<p>Sie bleiben stehen und plaudern noch über etwas, das Frau Adelheid +sehr bewegt. Sie hat sich im geselligen Verkehr,<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> der sie oft mit dem +Kapitän zusammenführte, so vertrauensvoll an ihn angeschlossen, daß sie +ihm manches Geheimnis ihres tapferen Herzens preisgibt.</p> + +<p>»In letzter Zeit«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln, »zeigt er viel mehr +Interesse für sie. Er wird es wohl nie verschmerzen, daß er keinen Sohn +hat und daß sie so gar nicht nach ihm geartet ist, aber denken Sie: er +setzt sich mit ihr auf den Teppich und läßt sich an den Haaren zupfen +und die Puppen zeigen. Neulich hat er eine Eisenbahn und ein kleines +Schiff gekauft. Das hat er ihr dann alles erklärt, ach wissen Sie, so +ungeschickt für Kinder, sie hat gar nichts verstanden und machte bald +alles entzwei. Aber es war so schön, wie er da mit ihr saß und sprach +und sprach, daß ich — ach, jetzt werden Sie mich sentimental finden. +Ich mußte rasch hinausgehen und weinen.«</p> + +<p>Der Kapitän schweigt.</p> + +<p>»Manchmal«, erzählt sie weiter, »ist er zu lebhaft für sie. Er macht +zu heftige Bewegungen oder er wird ungeduldig, weil sie ihn nicht +versteht, dann weint sie und will von ihm fort. Das trifft ihn immer so +hart, daß er schweigend in sein Zimmer geht und niemand sprechen mag. +Zuweilen kann er das tagelang nicht vergessen, und ich zerbreche mir +den Kopf, wie die Kleine ihn wieder versöhnen könnte.«</p> + +<p>»Aber es ist doch noch ein unvernünftiges Kind,« meint der Kapitän +tröstend, »man darf ihm doch keinen Vorwurf machen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span></p> + +<p>»Nein, das darf man nicht.«</p> + +<p>»Ich glaube,« sagt der Kapitän langsam, während sein Blick Frau +Adelheids blasses Gesicht mitleidsvoll streift, »ich glaube, ihm fehlt +die Güte.«</p> + +<p>»Nein!« protestiert Frau Adelheid lebhaft, »nein — die Güte fehlt ihm +nicht!«</p> + +<p>Der Kapitän sieht bestürzt zu Boden. Hat er nicht zum erstenmal seinen +Platz in der Mitte verlassen?</p> + +<p>»Verzeihen Sie mir,« sagt er leise, »Sie müssen es wohl besser wissen +—«</p> + +<p>Indessen erklärt Felix Friemann dem Kinde den großen Zeiger, der in +weitem Bogen seine Lasten herumführt und neben ihnen absetzt.</p> + +<p>»Sieh, da oben ist der Mann, der ihn lenkt. Er drückt auf einen Hebel, +und da wandert das schwarze Ungeheuer wieder leer zum Schiff zurück.«</p> + +<p>Aber seine Nichte hat kein Interesse dafür. Vielleicht fürchtet sie +sich auch vor dem Kran. Jedenfalls zieht sie das Gesicht weinerlich +herab. Nicht einmal Schwester Emmis Überredungskunst gelingt es, +ihr einen Begriff von der Großartigkeit der Hafeneinrichtungen +beizubringen. Sie muß sich etwas anderes ausdenken, bis Frau Adelheid +mit dem Kapitän nachkommen und ihre Tochter in Empfang nehmen wird.</p> + +<p>»Ach —,« sagt sie sehr wichtig, »ich habe ja etwas ganz Reizendes für +dich. Das will ich dir sofort bringen —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span></p> + +<p>Die Kleine blickt ihr voll stummer Erwartung nach. Schwester Emmi kann +einen gar zu verheißungsvollen Ton anschlagen.</p> + +<p>»Wohin, Schwester eins?« fragt <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann, während er +hinter ihr herrennt. Er hat sich so daran gewöhnt, Schwester Emmi +nachzulaufen, daß er nun sogar das Kind im Stich läßt, um zu erfahren, +wohin sie geht.</p> + +<p>Das kleine Geschöpf trippelt, sich selbst überlassen, wie ein verirrter +Vogel umher und merkt nicht, was über ihm geschieht. Es sieht drüben +an der Kaimauer etwas Helles aufblitzen und eilt hin, es sich zu +holen. Die Sonne hat sich in ein paar Wasserpfützen gespiegelt, aber +nun sind ihre Strahlen verdeckt, denn der große Arm des Drehkrans ist +stehengeblieben und läßt langsam seine mächtige breite Ladung sinken. +Vielleicht glaubt die Kleine, daß eine große Wolke über den Himmel +ziehe. Sie setzt sich auf den sonnengewärmten Steinen des breiten Kais +nieder und hält nach geeigneten Spielen Umschau. Doch es wird immer +dunkler über ihr, und plötzlich, als ahne sie die Gefahr, beginnt sie +leise zu weinen.</p> + +<p>Ein Arbeiter schreit mit rauher Stimme auf. Er stolpert über einen +Kameraden und reckt beide Arme, um das Kind zu packen, die breite +schwere Ladung anzuhalten oder was er sonst in seinem Wahnsinn zu +tun gedenkt. Da hören auch die anderen einen kläglichen verlorenen +Kinderschrei, und die Last hat sich herabgesenkt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span></p> + +<p>Heisere Kehlen rufen zu dem Manne im Portal hinauf, die Ketten beginnen +wieder zu arbeiten; Felix Friemann packt die Männer bei den Schultern, +schafft sich zu der verhängnisvollen Stelle Zutritt und erlebt als +erster den grauenvollen Anblick, als der ungeheure, von schwarzen +Ketten umschlungene Kasten langsam wieder hochgewunden wird.</p> + +<p>Schwester Emmi stürzt mit bleichem Gesicht herbei, sie ahnt, daß Felix +Friemann eben in rasendem Lauf sie streifte, sehen konnte sie ihn +nicht. Sie hält sich am Arm eines Arbeiters fest und legt die Hand vor +die Augen.</p> + +<p>Frau Adelheid hört die Rufe, sie sieht ihren Bruder wie einen +Besinnungslosen stumm vorbeieilen — der Kapitän und sie laufen in +dumpfer Ahnung zu der Menschenansammlung. Niemand hätte diese Eile und +Kraft vermutet, die Frau Adelheid vorwärts stößt — durch die Mauer der +Arbeiter zum fürchterlichen Platz unter der schwebenden Last des Krans.</p> + +<p>Sie fällt steif gegen die hilflos blickenden Männer zurück. Man fängt +sie auf, und nun kann man einer Ohnmächtigen helfen, ihr Kind wagt +keine Hand mehr zu berühren.</p> + +<p>Schwester Emmi wird gerufen. Sie lehnte mutlos gegen die Mauer der +Lagerhalle. Nun gibt sie Anordnung, Frau Adelheid zur Kantine zu +tragen, denn hier sind keine Belebungsmittel, und es ist gut, wenn Frau +Adelheid beim Erwachen den Kran nicht mehr sieht. Der Kapitän stimmt +ihr mit wortlosem Nicken zu. Die Fürsorgeschwester kann wieder einmal +zuerst klar denken und helfend eingreifen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span></p> + +<p>Felix Friemann fällt ihr auch wieder ein. Sie blickt sich um. Da sieht +sie ihn weit drüben an der anderen Seite des Hafenbeckens in das +Verwaltungsgebäude laufen.</p> + +<p>Hat er so viel Besinnung behalten, daß er nach einem Arzt telephoniert? +Immer wieder blickt sie auf das Haus, während sie den Männern folgt, +die Adelheid tragen.</p> + +<p>Plötzlich reißt sie die Arme hoch, schreit:</p> + +<p>»Da — da —«</p> + +<p>Der Kapitän, die Männer schrecken auf, sie folgen Schwester Emmis Blick +bis oben zum Turm des Verwaltungsgebäudes. Dort, im zehnten Stockwerk, +auf der Balustrade steht eine hohe schmale Gestalt, jetzt hängt sie in +der Luft —, und sie schließen alle die Augen, um nichts mehr zu sehen. +— — —</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Das_Fieber">Das Fieber</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-a005" src="images/drop-a005.jpg" alt="A"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">A</span>delheid vernimmt die besorgt fragende Stimme der Fürsorgeschwester. +Aus weiter Ferne treffen sie gedämpfte Laute: Wasserrauschen, +Stuhlrücken, die leisen Anordnungen des Kapitäns; Fragen, deren Sinn +sie nicht erfaßt.</p> + +<p>Jemand sagt: »Aber sie hat doch die Augen geöffnet.« Da läßt sie die +Lider sinken, wie man im Halbschlaf zu neuer Ruhe sich bereitet, wenn +Stille und Finsternis der Nacht in das Unterbewußtsein drangen.</p> + +<p>Das Surren eines Motors, Stimmengewirr, Wagenrollen wecken sie +wiederum, sie fühlt harte Polster unter ihrem Rücken und wird doch wie +auf Wellen sanft bewegt. Heftiges Knattern, das vertraute Läuten einer +Straßenbahn lassen sie aufschrecken. Sie schnellt hoch und findet sich +sitzend im Auto, gegenüber dem Kapitän, der sie mit ausgestreckten +Armen hält und auf die Polster zurücklegt. Schwester Emmis Stimme ist +ganz nahe an ihrem Ohr. Dann verschwindet wiederum alles in der Stille +der Ohnmacht.</p> + +<p>Zum drittenmal erwacht sie. Verhaltenes Schluchzen, eine ganz ruhige +Stimme umgeben sie. Weiche Kissen fallen auf<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> ihre Glieder, und +wohltuende Wärme steigt auf. Sie vernimmt die Stimme der Mutter und ihr +Weinen.</p> + +<p>Sie will rufen, aber sie hat keinen Ton in der Kehle, sie will sich +aufrichten, aber sie ist gebannt wie in spukhaften Träumen, da +Verfolgung und Angst lähmend den Körper hemmen.</p> + +<p>»Es ist eine einfache Operation, gnädige Frau«, hört sie wieder +erschreckend laut. Noch einmal versucht sie, sich zu stemmen, den +Schleier über ihrem Bewußtsein zu zerreißen. Aufzuspringen —</p> + +<p>Stöhnen der Mutter und jetzt tonlos, leise der Vater: »Sie sind sicher, +daß der Schrecken es unterbrochen hat und daß eine Operation nötig ist?«</p> + +<p>Sie hat jedes Wort verstanden, sie erfaßt den Sinn und liegt dennoch +ausgestreckt, hilflos; hat keinen Ton, keine Bewegung. Sie wartet auf +die Fortsetzung des Gespräches. War nicht eine Frage gestellt? Doch es +folgt keine Antwort.</p> + +<p>Dröhnend kehrt abermals kurzes Bewußtsein zurück.</p> + +<p>»Noch heute. Ich habe den Krankenwagen schon bestellt.« Wieder der +ruhige laute Klang inmitten des Brausens in ihren Ohren.</p> + +<p>»Sie hat die Augen geöffnet«, sagt eine vertraute Stimme.</p> + +<p>»Mutter —« Sie sieht sekundenlang das schmerzverzerrte, besorgte +Gesicht der Mutter; groß, blaß, mit wirren Haaren<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> Da fühlt sie ihren +Körper hart in die Kissen fallen, und alles ist ausgelöscht.</p> + +<p>Dann rollen Räder, ein Motor singt, rhythmisch surrend.</p> + +<p>»Ach Sonne und die grünen Blätter«, flüstert die Kranke erwachend.</p> + +<p>»Ja, mein Kind, es ist Sommer!«</p> + +<p>Sie blickt sich um und ist ganz wach. Weiße Wände umgeben sie, ein +Fenster leuchtet oben an der niedrigen Wand. Bäume, in lauten Straßen +gerade aufgerichtet, eilen vorbei.</p> + +<p>»Wohin fahren wir?«</p> + +<p>»In die Klinik, mein Kind.«</p> + +<p>»Ist das ein Krankenwagen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Es ist schön mit der Sonne draußen und den Bäumen.«</p> + +<p>»Erkennst du mich, Adelheid?«</p> + +<p>»Ja, Mutter.«</p> + +<p>»Wir sind da«, hört sie eine fremde Stimme. Krankenschwestern beugen +sich zu ihr herab. Sie fühlt sich hochgehoben, durch die warme Luft +einer hellen Straße getragen.</p> + +<p>Ganz deutlich verfolgt sie nun den Weg durch die dämmrige Kühle des +Flurs. Türen werden geöffnet, ein Fahrstuhl bewegt sich aufwärts. Es +ist schön, still zu liegen, ohne Gefühl, ohne Gedanken. Nur die Augen +sehen, die Ohren hören.</p> + +<p>»Wie kühl sind die Betten, Mutter«, sagt sie, behaglich ausgestreckt, +ohne Wunsch und Willen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span></p> + +<p>Der Arzt beklopft ihre Wangen mit väterlicher Geste.</p> + +<p>»Na also«, vernimmt sie seine gesunde kräftige Stimme. »Wir wollen ihr +bis morgen früh Ruhe lassen. Merken Sie vor, Schwester, als erste.«</p> + +<p>Dann versinkt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.</p> + +<p>Sie erwacht von aufsteigender Kälte in ihren Gliedern. Nacht umgibt +sie: Finsternis und Stille. Sie schließt die Augen und versinkt von +neuem in Halbschlaf, indes das nervöse Frösteln sich unaufhaltsam +ausbreitet, bis im heftigen Schüttelfrost ihre Lippen zittern, die +Zähne aufeinanderschlagen.</p> + +<p>Ihre Finger sind ohne Gefühl, wie vereist. Sie tastet zur Seite, als +suche sie Wärme, Beistand und stößt hart gegen die gestrichene Wand.</p> + +<p>Plötzlich weiß sie, daß sie allein im kahlen Zimmer eines Krankenhauses +liegt. Sie entsinnt sich, daß ihre Tochter tot ist und daß man ihr +morgen früh das zweite Kind nehmen wird. Vielleicht ist es der von +ihnen beiden so sehnsüchtig erwartete Sohn. Nun ist er in ihr gestorben +und breitet die Eiseskälte in ihrem kranken Körper aus.</p> + +<p>Sie schreit laut auf, ihre Stimme hallt von den kahlen Wänden wider und +kommt kläglich, leer zu ihr zurück.</p> + +<p>Helles Licht blendet ihre weit aufgerissenen Augen. Eine Schwester +betastet sie, fühlt ihren Puls.</p> + +<p>»Ich gebe Ihnen etwas Heißes zu trinken, gnädige Frau. Dann werden Sie +wieder warm.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span></p> + +<p>Die klare, gesunde Stimme, die körperliche Nähe eines aufrechtstehenden +und schreitenden Menschen, das harte Licht über Stuhl, Tisch und Wänden +schrecken den gräßlichen Nachtspuk zurück. Die Kranke sieht sich wieder +als sorgsam betreute Patientin. Der Arzt vom Nachtdienst erscheint und +blickt ihr in das tränenüberströmte Gesicht. Er stellt ohne Staunen +fest, daß leichtes Fieber eingesetzt habe.</p> + +<p>»Sie sollen sehen, wie Ihnen der heiße Tee gut tun wird«, sagt er +leise, mit sonorem Klang. Sein Gesicht ist jung, von straffer Haut +überspannt. Die Brauen sind wie ein gerader Strich über schmalen +dunklen Augen. Sie erinnern Adelheid an ihren Mann.</p> + +<p>So glatt war damals seine Stirn, als noch niemand ihre Liebe erriet, so +strahlend und dunkel blickten seine Augen, von den Lidern bis zu einem +Spalt verdeckt, wenn er sie lächelnd grüßte; sie, die Tochter seines +Chefs, die seine Nähe suchte.</p> + +<p>Die Schwester stützt ihren Kopf, und sie schluckt gierig den heißen +Trank, den sie brennend durch den erkalteten Körper strömen fühlt.</p> + +<p>Sie fällt in die Kissen zurück, der Arzt lächelt ihr abschiednehmend +zu, die Tür klappt leise. Sie blickt erschreckt auf. Gedämpftes Licht +ist im Raum, die Schwester sitzt still neben der verhüllten Lampe mit +einem Buch auf den Knien.</p> + +<p>»Sie müssen versuchen, zu schlafen, gnädige Frau«, ruft die Schwester +aufmerksam herüber.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span></p> + +<p>Ihr Kopf glüht; prickelnd beginnen ihre Glieder zu brennen, wie in +erster Wärme nach abtötendem Frost.</p> + +<p>Eine Erinnerung steigt auf: sie liegt frierend im Hotelzimmer und +fühlt gleichfalls mählich leichtes Fieber im erstarrten Körper sich +ausbreiten ...</p> + +<p>In Arosa war es, in jenem schneereichen Januar, da sie und Joachim +Becker ihre erste gemeinsame Reise unternahmen, ihre Hochzeitsreise. +Lachend, in munteren Gesprächen promenierten die sorglosen, +lebensfrohen Menschen vor den großen Hotels. Der Schnee knirschte unter +ihren Schritten, er leuchtete ringsum; über den Dächern im Tal und mit +blauem Schimmer von den Bergen. Die Sonnenstrahlen fielen wärmend durch +die klare Luft. Bobsleighs sausten lautlos in der Ferne zu Tal.</p> + +<p>Junge Mädchen in bunten Jacken, ihre Begleiter mit rotbraunen +Gesichtern über weißen Sweatern zogen die Rodelschlitten hinter sich +her, hatten die Skier geschultert und eilten zu den Sportplätzen. +Kunstläufer schleiften ihre schwungvollen Bogen über das spiegelnde Eis.</p> + +<p>Hier hatte Adelheid Friemann einst mit ihren Eltern still beobachtend +gestanden und davon geträumt, wie sie mitleben, mitjagen würde auf den +weißen Bahnen, unter lauten jubelnden Schreien, wenn auch sie einen +Begleiter an der Seite hätte. Groß mußte er sein, schön, energisch. +Damals schon hatte sie an den Prokuristen ihres Vaters gedacht, den sie +nicht vergessen konnte, seitdem sie ihn einmal auf dem<span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span> langen Korridor +im ernsten Geschäftshaus hatte vorbeieilen sehen.</p> + +<p>Und dann stand sie an derselben Rodelbahn, Joachim Becker an ihrer +Seite. Ihr Mädchentraum, ihr sehnlicher Wunsch war erfüllt. Aber sie +waren wieder nur stille Beobachter. Keine überschäumende Lebensfreude +trieb sie an. Joachim Becker sah mit spöttischen Blicken in das +Getriebe und dachte an seine Arbeit.</p> + +<p>»Wollen wir uns nicht auch einen Schlitten nehmen?« hatte sie +schüchtern, mit verhaltener mädchenhafter Freude am Spiel gefragt.</p> + +<p>»Nein,« hatte er fast brüsk erwidert, »ich habe keine Neigung, mich mit +diesen Nichtstuern herumzutollen.«</p> + +<p>Sie mußte zugeben, daß er zu ernst, zu bedeutsam für diese kindischen +Spiele war. Ihre Liebe stellte sich willig auf seine Gedankengänge ein, +und sie begann, die flirtende Jugend gleichfalls mit Überlegenheit zu +kritisieren. Aber sie fühlte sich einsam und nicht mehr jung.</p> + +<p>Ihr Mann bekam seine Arbeit nachgesandt. Täglich war sein erster Gang +zum Postempfang. Er nahm die dicken Briefe mit den Plänen und den +Offerten für den Hafenbau und ging in sein Zimmer. Sie stellte sich +indessen ans Fenster und sah auf die sorglose fröhliche Jugend herab.</p> + +<p>Die lauten Stimmen, die harten Schritte der Sportschuhe in den +Korridoren störten den jungen Direktor in seiner Arbeit. Er wurde +nervös und reizbar.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span></p> + +<p>»Wollen wir uns nicht auch Skier geben lassen und Ausflüge machen, +um dem Lärm zu entgehen?« fragte sie wieder, als er über die Störung +ungehalten war.</p> + +<p>»Du weißt anscheinend nicht, daß ich in meinem Leben noch keine Zeit +hatte, mich mit diesem Sport abzugeben. Das ist etwas für diejenigen, +die in jungen Jahren genießen und nicht arbeiten«, hatte er, nicht ohne +Bitterkeit, geantwortet.</p> + +<p>»Aber du könntest es doch jetzt lernen«, warf sie ein.</p> + +<p>Wie, hier sollte er sich vor diesem Volk produzieren und sich auslachen +lassen? Sie glaube wohl selbst nicht daran, daß er dazu fähig wäre.</p> + +<p>Auch das sah sie schließlich vollkommen ein.</p> + +<p>Doch eines Tages hatte sie die drückende Stille und Enge ihres Zimmers +nicht länger ertragen. Die hellen Stimmen vor den Fenstern lockten; +sie galten nicht ihr. Sie hatte immer wieder die Briefe ihrer Mutter +gelesen, die Mitteilungen lebenslustiger Freundinnen, sie hatte +versucht, sich in Bücher zu versenken, indes ihr Mann im Nebenraum +nervös arbeitete und es nicht erwarten konnte, wieder zu Hause zu +sein, in seinem Hafenterrain, wo man die Häuser bereits abriß und die +Mehrzahl der Bäume fällte, um seinem Werke Platz zu machen.</p> + +<p>Sie vernahm seine ruhelosen Schritte, sie wußte, welches Opfer er ihr +brachte, indem er die für die Hochzeitsreise festgelegte Zeit hier in +Ungeduld verlor.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span></p> + +<p>Da war sie trotzig zu ihm hineingegangen. Sie hatte ihn auffordern +wollen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Heftige Vorwürfe +sollten ihn für den Fall der Ablehnung treffen. Doch als sie ihn +mit soviel Ernst und Eifer in seine Arbeit vertieft sah, sagte sie +bescheiden:</p> + +<p>»Du kannst mich wohl jetzt nicht begleiten?«</p> + +<p>Und um seinen Kampf zwischen Pflicht und Wunsch zu beenden, war sie +allein hinausgegangen, zu den jungen, in Gemeinsamkeit fröhlichen +Menschen.</p> + +<p>Sie ließ sich Schneeschuhe geben und eilte scheu durch die belebten +Promenaden zu den Abhängen.</p> + +<p>Aber die große Stille hatte ihr nicht die gewünschte Harmonie gegeben. +Bitterkeit überfiel sie.</p> + +<p>Mußte sich in solchen Stunden nicht Mißtrauen einschleichen? Der +Gedanke lag nicht fern, daß er sie nur ihres Geldes wegen genommen +hatte, weil sie ihn so hingegeben liebte. Sie konnte ihre Gefühle von +jeher schlecht verbergen.</p> + +<p>Die Eltern hatten sie wohl warnend darauf aufmerksam gemacht, daß +diese Möglichkeit gegeben wäre. Sie verschwiegen ihr auch nicht, daß +er Beziehungen zu einer anderen, gleichfalls vermögenden jungen Dame +unterhielt.</p> + +<p>Nahm er denn ihren Reichtum in Anspruch? Nein, er ging in seinen alten +Kleidern umher, die er schon trug, als sie ihn kennenlernte. Gewiß, +sie waren nicht schlecht. Doch er hätte sich diesem internationalen +Publikum anpassen<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> können, damit er nicht aus dem Rahmen fiel. Er blieb +bescheiden in seinen Ansprüchen. Er sehnte sich von diesem Platz der +Begüterten fort. Die Table d'hote störte ihn, der ganze Reichtum war +ihm offensichtlich lästig. Er war der Mann der Arbeit geblieben.</p> + +<p>Es ließ ihn auch gleichgültig, daß die Frauen ihm oft und lange +nachsahen. Nur Adelheid haben diese Blicke stets in ungewöhnlichem Maße +bewegt, obgleich ihr Anteil an Joachim Becker dadurch weder größer noch +geringer wurde. Sie ließen ihre Liebe sehnsüchtiger und schmerzlicher +aufflammen.</p> + +<p>So hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, während sie die Anhöhen +erklomm und von den schrägen Flächen herabglitt. Die Sonne senkte sich +plötzlich. Die Berge in der Ferne verschwammen. Erste Lichter flammten +auf. Ihre Füße wurden müde und schwer. Kaum konnte sie noch die Höhe +erklettern, und dann glaubte sie, die Richtung zu verlieren.</p> + +<p>Sie schnallte die Schneeschuhe ab, als sie endlich auf einen +ausgetretenen Weg gelangte, denn sie vermochte diese Last nicht mehr +zu heben. Den Versuch, sie auf der Schulter zu tragen, gab sie bald +auf. Sie warf sie in den Schnee. Ihre Beine waren nun befreit, aber wie +abgestorben. Sie begann zu frösteln, die Zähne schlugen aufeinander — +wie in dieser Nacht, da die Erinnerungen wieder lebendig werden.</p> + +<p>Wie jetzt die Wärme in ihrem Körper sich brennend ausbreitet, das Blut +in die Schläfen drängt und ihre Mundhöhle ausdörrt, so hatte sie damals +im fremden Hotelzimmer<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span> gelegen, am Anfang ihrer Ehe, als die große +Einsamkeit begann.</p> + +<p>Ihre Gedanken arbeiten unablässig weiter. Sie liegt mit geschlossenen +Augen da, die Glieder gerade ausgestreckt, die Arme eng an den Körper +gepreßt. Die Kissen lasten wie ungeheure luftgefüllte Volumen dennoch +schwer auf ihr, so daß sie sich nicht zu bewegen vermag. Sie sinkt +immer tiefer und schwerer hinab und glaubt, die Matratze müsse unter +ihrer Last brechen.</p> + +<p>Sturzbachgleich fallen die Erinnerungen in ihr fieberndes Hirn. Alle +einsamen Stunden rotten sich zusammen, sie gewinnen phantastische +Formen, sie werden gleichsam körperlich und klagen den großen +Schuldigen an: den Hafen!</p> + +<p>Der Hafen mit seinen bleckenden kalten Wasserspiegeln und mit dem +grausamen schwarzen Kran! Seine Eisenarme wachsen ins Unermeßliche, sie +recken sich ihr entgegen.</p> + +<p>Sie haben ihr Joachim Becker genommen, sie haben ihr die Tochter +entrissen, sie verlangen nach dem zweiten Kinde, das sie tot in ihrem +kranken Körper birgt.</p> + +<p>Sie schreit wiederum laut auf und fühlt, wie ihr eigener Ruf sie in +ihrer Glut fröstelnd erstarren läßt. Fahles Morgenlicht umgibt sie, +ihre Schultern werden sanft hochgehoben. Der Rand eines Glases ist vor +ihren Lippen. Sie schlürft eine bittere Flüssigkeit langsam herab und +blickt in das graue übernächtige Gesicht der Krankenschwester.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span></p> + +<p>»Der Hafen«, flüstert sie entsetzt und liegt wieder ausgestreckt, allen +Schrecknissen neuer Fieberphantasien preisgegeben.</p> + +<p>Aber mählich beruhigt sich ihr krankes Blut, und sekundenlang erhellt +vollkommene Klarheit ihren verwirrten Geist. Als eine große heilsame +Erkenntnis steht es vor ihr: »Der Hafen allein ist schuld!«</p> + +<p>Damit dieser Riesenbottich der großen Stadt zum Leben erwache, nahm +Joachim Becker ihre Liebe an, stürzte er sie und sich selbst in +Einsamkeit und Qual.</p> + +<p>Nun, da der Hafen mit allen seinen Schiffen und Kränen atmet und sich +rührt, hebt er seine Arme, seine unheimlichen schwarzen Kranarme, um +sie alle zu zermalmen.</p> + +<p>Sie weiß, daß die Vision zerrinnt, wenn sie die Augen öffnet, doch sie +ist nicht mehr imstande, die Lider zu heben. Lähmendes Gift schleicht +durch ihren Körper und versenkt sie in einen kurzen betäubenden Schlaf.</p> + +<p>Schmerzhaft grell, von Licht umstrahlt, fühlt sie sich, wieder +erwachend, hochgehoben und auf ein hartes Lager gebettet. Sie vernimmt +das elastische Rollen von Rädern, sieht lange weiße Korridore und +erkennt, daß sie nun in den Operationssaal gefahren wird. Sie kann sich +nicht wehren, das Gift hat ihre Glieder gelähmt. Sie ist hilflos und +ohne Willen.</p> + +<p>Der Laut vielfacher Stimmen, das Klirren der Instrumente,<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span> +Wasserrauschen hallt hart von den kühlen Wänden zurück und dringt in +den Rhythmus ihres Blutes. Sie schmeckt das bittersüße und kühlende +Narkotikum und sinkt immer tiefer in ein dunkel brausendes Chaos hinein.</p> + +<p>»Zählen Sie!« vernimmt sie eine Stimme hart und nah.</p> + +<p>Sie vermag den Mund nicht zu öffnen. Aber immer geräumiger wird +mit jedem tiefen Atemzuge die unwirkliche Welt. Da beginnt mit +leuchtenden Farben und leichten Melodien fernste Vergangenheit vor ihr +aufzuklaffen: sie selbst, Adelheid Friemann im duftigen Tüllkleid, ganz +jung und ohne Schwere, schwebt in fließenden Tänzen; Alfred Bernhard an +ihrer Seite, und Helene Uhl, die lachende Freundin, gleitet mit ihrem +Bruder Felix vorbei.</p> + +<p>Von weit her, unendlich gezogen, als tropfen sie nur langsam in ihr +Bewußtsein, hört sie die Worte:</p> + +<p>»Vorsichtig! Denken Sie an das schwache Herz der kleinen Frau — Frau +— Frau —«</p> + +<p>Das Wort wird zum gedehnten Gesang, es nimmt kein Ende; die sphärischen +Melodien verströmen darin und brechen plötzlich klirrend ab. —</p> + +<p>Adelheid Becker kehrt mählich, aus unsagbar süßem Schweben über +wehenden Luftwellen, in Bewußtheit und zu neuem Leben zurück.</p> + +<p>Die Stimme der Mutter nimmt sie milde, heimatlich auf.</p> + +<p>Sie öffnet die Augen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span></p> + +<p>Bleich, in Zartheit und Liebe verklärt, ist das Antlitz der Mutter vor +ihrem ersten Blick.</p> + +<p>»Wir haben getanzt, Mutter. Helene Uhl war da, Alfred Bernhard und +Felix. Es war so schön.«</p> + +<p>Sie spricht noch mühselig und langsam, ihre Stimme aber ist kindlich +hoch und hell.</p> + +<p>Die Geräusche rücken immer näher zu ihr heran; sie fühlt die Lippen der +Mutter auf ihren Händen.</p> + +<p>»Ist noch jemand hier?« fragt sie, als ahne sie die Nähe des Vaters und +ihres Mannes.</p> + +<p>»Ja«, vernimmt sie Joachim Beckers Antwort.</p> + +<p>Sie versucht sich aufzurichten, doch die Hände der Krankenschwester +drücken sie sanft in die Kissen zurück. Da erspäht sie aus halb +geöffneten Augen sein herabgeneigtes Gesicht. Prüfend, erstaunt gleitet +ihr Blick über die Falten auf seiner Stirn, zu der senkrechten Kerbe, +die wie eine Narbe tief zwischen die Brauen schneidet, und bleibt auf +den trüben, fast entzündeten Augen haften.</p> + +<p>Ihre Lider fallen müde herab. Joachim Becker richtet sich schwankend +auf. Sie hat kein Wort für ihn.</p> + +<p>Dann fühlt sie den Druck einer breiten weichen Hand auf ihrer Stirn. +Vertraute Wärme dringt in ihre Haut ein. Der Atem des Vaters streift +ihr Gesicht.</p> + +<p>Sie öffnet die Augen und lächelt ihm zu.</p> + +<p>Joachim Becker ist so vermessen oder so trostbedürftig, daß er sich in +dieser Stunde auch nach einem Lächeln Adelheids<span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span> sehnt. Er stellt sich +noch einmal neben ihr Bett und küßt ihre Hand. Da schließt sie wieder +die Augen und flüstert, von Grauen erfaßt:</p> + +<p>»Der Hafen! Nun weiß ich es: der Hafen ist schuld.«</p> + +<p>Und weil sie immer wieder bei seinem Anblick erregt wird, muß man ihren +Mann bitten, ihr in der nächsten Zeit fernzubleiben, zumal noch die +Nachricht vom Tode Felix Friemanns ihr bevorsteht.</p> + +<p>Zwei Wochen später kann sie bereits in die Wohnung ihrer Eltern +übergeführt werden. Notlügen von einer Reise des Bruders lassen sich +nicht länger fortsetzen, aber man braucht ihr auch die Wahrheit +nicht zu sagen, denn im Hause ihrer Eltern, in dieser Heimstätte +unversiegbarer Liebe und engsten Zusammenhalts, teilt sich die +Schrecknis vom Tode des einen wie in mystischer Verbundenheit dem Blute +des anderen mit.</p> + +<p>Und Adelheid findet, in das leere Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt, +die ersten Tränen seit dem Tode ihrer Tochter.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Abschied">Der Abschied</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i005" src="images/drop-i005.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">J</span>oachim Becker irrt ruhelos in seinem verlassenen Haus umher. Adelheid +ist zu ihren Eltern heimgekehrt; man bat ihn, zu warten, bis sie nach +ihm verlange. Aber sie ruft ihn nicht.</p> + +<p>Er bleibt auf dem Treppenabsatz im Vestibül stehen und denkt: hier +stand sie, mit ihrer schönen kleinen Tochter im Arm, deren traurige, +große Augen ihm fragend — oder unbewußt anklagend? — nachblickten. +Die winzigen Hände winkten, und Adelheids mütterlich-stilles Lächeln +leuchtete neben dem ernsten Kindergesicht.</p> + +<p>Er stellt sich an den hohen Kamin in ihrem Zimmer und gedenkt des +Abends nach dem Theaterbesuch, da er alles so klar gesehen hatte und +dennoch schwieg.</p> + +<p>Und wenn er zwischen zwei Konferenzen am Schreibtisch seines +Arbeitszimmers sitzt, deckt er zuweilen die Hand über die Augen. Scham +entbrennt in seinem zerquälten Gesicht, und alle falschen Gesten fallen +von ihm ab.</p> + +<p>Drei Wochen sind vergangen, und Adelheid hat noch nicht nach ihm +verlangt. Seine Selbstvorwürfe werden mit jedem Tage heftiger, +Mutlosigkeit überfällt ihn. Dieser tüchtige junge Generaldirektor, der +so ausgezeichnete und grandiose<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> Pläne zu entwerfen versteht, hat Plan +und Ziel für sein eigenes Leben verloren.</p> + +<p>Eines Tages geht Kommerzienrat Friemann in das Arbeitszimmer seines +Schwiegersohnes und bleibt einen Augenblick in der Mitte des großen +Raumes stehen.</p> + +<p>Joachim Becker denkt, daß er das gleiche energiegesammelte Gesicht habe +wie einst, als er einen für sie alle entscheidenden Schritt unternahm. +Damals sagte er ohne Einleitung mit festem Blick: »Ich habe gehört, daß +meine Tochter Sie liebt. Wie stellen Sie sich dazu?« Joachim Becker +stand auf und sagte entschlossen, ohne die Augen zu senken: »Ich bitte +um ihre Hand.«</p> + +<p>Heute kann er dem Blick seines Schwiegervaters nicht offen begegnen. +Und der Kommerzienrat sagt, während seine tonlose Stimme leise schwankt:</p> + +<p>»Meine Tochter hält es für gut, daß die Scheidung eingeleitet wird.«</p> + +<p>Joachim Becker ist aufgesprungen. Er steht ein wenig gebeugt da und +stützt eine Hand auf die Schreibtischplatte.</p> + +<p>»Kann ich sie nicht selbst sprechen?« fragte er leise, ohne +hochzublicken.</p> + +<p>»Sie will dich erst wiedersehen, wenn die Scheidung vollzogen ist.«</p> + +<p>Darauf vermag er nichts zu erwidern. Unwillkürlich bleibt der Ton +dieser Worte noch in seinen Ohren hängen. Klang die vertrauliche Anrede +nicht zögernd?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span></p> + +<p>»Ich habe bereits mit Rechtsanwalt Bernhard gesprochen. Er hat die +Vertretung abgelehnt.«</p> + +<p>Er sieht erschreckt auf. Scheut man sich schon, für ihn tätig zu sein? +Sagen sich jetzt alle von ihm los?</p> + +<p>»Er kann es weder für dich noch für Adelheid übernehmen und gibt vor, +daß er euch beiden menschlich zu nahe stehe. Er hat einen Kollegen +empfohlen, und du wirst dich wohl selbst nach einem Rechtsvertreter +umsehen? Ich nehme an, daß du gegen Adelheids Vorschlag nichts +einzuwenden hast und daß wir uns alle Erörterungen sparen können.«</p> + +<p>Der Kommerzienrat wendet sich ohne ein versöhnendes Wort um. Er hat +nicht nur seinen Erben und das einzige Enkelkind verloren, nein: nun +gibt er auch den auf, der ihm allmählich ein zweiter Sohn werden +sollte. So wie er die Hoffnung nicht sinken ließ, daß ihm der Sohn auch +noch ein tüchtiger Mitarbeiter würde, so glaubte er bis jetzt, daß der +durch die Arbeit ihm Verbundene auch innerlich der Seine werden könnte.</p> + +<p>Er geht nun leer davon, mit schwerfälligen Schritten, aber er ist nicht +so grausam, ohne einen letzten Blick zu scheiden. Sein unermüdlicher +Helfer der Arbeit steht noch halbgebeugt da. Das Kinn ist ihm auf die +Brust gesunken.</p> + +<p>Da sagt der Kommerzienrat leise: »Adelheid hat mir ausdrücklich einen +Gruß für dich aufgetragen.«</p> + +<p>Diese Botschaft hatte er verschweigen wollen! Er richtet sie im letzten +Augenblick mit großer Mühe aus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span></p> + +<p>Die Tür klappt. Joachim Becker hebt den Kopf. So hat er sich seine +Befreiung aus der erzwungenen Ehe kaum vorgestellt.</p> + +<p>Er denkt an Adelheids Worte, die letzten, die er aus ihrem Munde +vernahm: »Der Hafen ist schuld!« Aber jetzt weiß er, wer der wahre +Schuldige ist. Er ist nicht mehr so feige, die Schuld auf sein Werk +abzuwälzen. Nun nimmt er alle Anklagen freimütig auf seine Schultern, +und er kennt keine Schonung mit sich selbst.</p> + +<p>Doch auch das Schicksal hat nicht viel Erbarmen mit ihm, es erspart +ihm keine Demütigungen und keine Enttäuschungen. Denn noch ein anderer +kommt nach einigen Tagen in sein Arbeitszimmer, um ihm eine wichtige +Mitteilung zu machen: der Kapitän.</p> + +<p>Nun müsse er um seinen Abschied bitten, sagt er ohne viele Umschweife. +Seine alte Reederei habe wieder Verwendung für ihn, und aus bestimmten +Gründen könne er nicht lange warten.</p> + +<p>Der junge Generaldirektor lehnt stumm in seinem Sessel und nimmt die +Mitteilung als eine gerechte Strafe hin. Er glaubt die Gründe zu +kennen, die den Kapitän zu einem schnellen Abschied zwingen. Kann es +etwas anderes sein, als daß er mit Irmgard Pohl einig geworden ist und +sie so bald wie möglich von der Nähe des Hafens fortführen will, damit +sie keinen unliebsamen Begegnungen mehr ausgesetzt ist?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span></p> + +<p>Es scheint, als habe Joachim Becker ganz im geheimen gehofft, er könne +sich noch wiedererringen, was er einst, von seinen Ideen besessen, +so leichtsinnig aufgab, denn sein Gesicht ist nun besonders grau und +verfallen.</p> + +<p>Seine Stimme klingt brüchig, während er die bedauernden Worte über den +Abschied des Kapitäns ausspricht.</p> + +<p>»Ich habe soeben mit Herrn Kommerzienrat Friemann gesprochen. Er will +sich noch heute mit Ihnen beraten und die Beschlüsse des Vorstandes +herbeiführen«, sagt der Kapitän und erhebt sich, um zunächst wieder in +seinen Hafen zurückzukehren.</p> + +<p>Er hält sich nicht länger auf, als unbedingt nötig ist. Sein Händedruck +ist zwar kräftig wie immer, aber er vermeidet es, den Blicken Joachim +Beckers zu begegnen.</p> + +<p>Nun steht dem Generaldirektor also noch eine geschäftliche Unterredung +mit seinem Schwiegervater bevor, der ihm bald wieder ein Fremder sein +wird. Er geht lange in seinem Zimmer auf und ab, und dann hat er seinen +Entschluß gefaßt.</p> + +<p>Er begibt sich in das Bureau des Kommerzienrats und sagt:</p> + +<p>»Da meine vorbereitenden Arbeiten in der Generaldirektion so gut wie +beendet sind, möchte ich um den Posten des Kapitäns bitten.«</p> + +<p>Der Kommerzienrat ist nicht sehr erstaunt, aber er fragt:</p> + +<p>»Und wer soll dieses alles hier übernehmen?«</p> + +<p>Joachim Becker schweigt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span></p> + +<p>»Dann werde ich dem Aufsichtsrat vorschlagen, daß du die +Generaldirektion in den Hafen hinübernimmst, denn ich bin jetzt zu alt +für solche Aufgaben, und sonst ist niemand mehr da.«</p> + +<p>So hatte er also gehofft, sein Sohn könne dereinst selbst dafür +befähigt sein. Er wendet sich zur Seite, und Joachim Becker kann ihm +nicht einmal zum Dank für die Erfüllung seines Wunsches die Hand +drücken. — — —</p> + +<p>Wie rasch ist ein Mensch entbehrlich, besonders wenn er so bescheiden +seines Amtes waltet, wie der Kapitän!</p> + +<p>Er kann nach wenigen Wochen schon seine Pflichten in die Hände des +Nachfolgers legen und Abschied nehmen.</p> + +<p>Es ist wieder August. Genau zwei Jahre habe er am Steuer dieses +Riesenschiffes gestanden, sagte der Kapitän in seiner Abschiedsrede.</p> + +<p>Daß er in Wahrheit kein Schiff gelenkt hatte, mußte er wohl erfahren. +Die Welt war nicht wie sonst an ihm vorbeigeglitten, während er +feststand und nach allen Seiten unbeteiligt Ausschau hielt. Er hatte +keine Planken unter den Füßen gehabt.</p> + +<p>Nein, er war in seinem Hafen unruhig umhergelaufen, und dann hatte er +ihn sogar verlassen, um Besuche beim Nachbarn zu machen. Da war die +Welt wieder dicht an ihn herangerückt, sie nahm ihn auf und wirbelte +ihn wie die anderen herum, und er verlor wie sie den Stand in der +Mitte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span></p> + +<p>Nun macht er sich auf, um den ersten Abschiedsbesuch abzustatten. Die +Stunde des Arbeitsschlusses in der Mühle scheint ihm geeignet dazu. +Vielleicht könnte man auf der Bank im Garten sitzen und doch noch +Gelegenheit finden, einige Worte unter vier Augen zu sprechen.</p> + +<p>Er trifft Herrn Pohl mit seiner Tochter noch im Bureau an. Herr Reiche +sitzt bei ihnen, und sie beraten zu dritt eine Angelegenheit der +Brotfabrik.</p> + +<p>Der Kapitän bedauert es sehr, sie bei dieser wichtigen Arbeit zu +stören, er wolle sie nicht lange aufhalten, beim Abschied könne man +sich kurz fassen.</p> + +<p>Herr Pohl steht auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wie, +das wäre wohl noch schöner, wenn er sich auf diese Weise von ihm +verabschieden sollte! Er drückt dem Kapitän beide Hände und meint, daß +er ihn heute nicht so rasch freigeben würde.</p> + +<p>»Ich denke, wir werden noch ein Glas Wein miteinander trinken, wie +seinerzeit, als Sie den ersten Besuch bei uns machten?« fügt er +herzlich hinzu.</p> + +<p>Der Kapitän muß sich leider einen längeren Aufenthalt versagen. Er sei +für heute abend von Kommerzienrat Friemann eingeladen.</p> + +<p>Er schenkt den letzten Abend nicht den Zufriedenen, sondern den +Einsamen, vom Schicksal Geschlagenen, denn der Kommerzienrat ist nun +allein in seinem großen Haus und dürfte etwas Gesellschaft gebrauchen. +Frau und Tochter sind<span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span> im Bade, und nur stille Ablenkung kann ihn +zeitweise den Sohn vergessen lassen, der das Haus einst mit Lärm und +Fröhlichkeit erfüllte.</p> + +<p>Herr Reiche will in der kurzen Zeit, die dem Kapitän hier noch +verbleibt, nicht mit seinen Arbeiten störend dazwischen sitzen. Er +verabschiedet sich vom Kapitän, der auch ihn immer zufriedengestellt +hatte.</p> + +<p>Der Kapitän sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen Papieren +geruhig und selbstbewußt abzieht.</p> + +<p>Herr Pohl fängt den Blick auf und sagt: »Ja, der ist hier nun glücklich +und gut aufgehoben.« Aber er bereut seine Worte sofort, weil der +Kapitän so ertappt zusammenzuckt, als habe man ihm diesen Gedanken von +der Stirn gelesen und ihm, dem Mann in der Mitte, gar Neid zugetraut.</p> + +<p>Irmgard hat bisher schweigend auf ihrem Platz im alten Ledersofa +gesessen. Plötzlich steht sie neben dem Kapitän. Sie nimmt ihn am Arm +und sagt:</p> + +<p>»Nun dürfen wir aber keine Zeit mehr verlieren. Sie müssen gleich mit +hinüberkommen, damit wir noch etwas plaudern können.«</p> + +<p>Der Kapitän lacht über das ganze Gesicht, so daß die trockene braune +Haut sich in unzählige kleine Falten legt. Einen so guten Empfang hat +er, weiß Gott, nicht erwartet.</p> + +<p>Er fühlt Irmgards warmen runden Arm, der von keinem Stoff verhüllt ist. +Sie hat sich eingehakt, ihr Kleid berührt<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span> ihn in der Bewegung und +er spürt den Duft ihrer Haare ganz nahe an seinem Gesicht. Doch als +sie ihn bis zum Ausgang gezogen hat, läßt sie die Tür für den Vater +geöffnet, und dann hängt sie sich auf der anderen Seite in den Arm des +Vaters. So gehen sie zu dritt über den Hof und haben sechs Augen und +sechs Ohren.</p> + +<p>Wie sollte da der Kapitän seine Rede anbringen, die er sich noch für +die letzte Stunde aufhob? Er verstand sich nie auf die Frauen. Zweimal +versuchte er es, ihnen sein Herz zu öffnen. Aber er hat es beide Male +nicht richtig angefangen. Nun gibt er den aussichtslosen Versuch auf.</p> + +<p>›Spät bin ich alter Trottel dahinter gekommen, daß sie mir ausweicht. +Diese Geste des Mitleids erst mußte mir alles verraten‹, denkt er nun +bitter.</p> + +<p>Er trinkt noch ein Glas Wein mit den dreien, von denen Frau Pohl +seinen Fortgang am offensichtlichsten und sehr wortreich bedauert. +Dann schüttelt er allen — auch dem eigenwilligen kleinen Michael — +herzlich die Hände und winkt sogar von der Föhrbrücke aus noch einmal +zurück.</p> + +<p>Es ist gut, daß die Stunde für den Abendbesuch sehr nahegerückt ist +und er in seiner einsamen Wohnung nicht lange zu verweilen braucht. +Sie hatte in letzter Zeit zu viel alte schmerzliche Erinnerungen +aufgestört. Denn sein Weg führte ihn immer über einen Platz, auf dem +ein junger Mensch sein Leben zerschmetterte. Er war fünfundzwanzig +Jahre alt,<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span> genau so alt wie eine Frau, die auch einer Schuld wegen ihr +Leben wegwerfen mußte.</p> + +<p>Der Kapitän blickte fest auf die Hafenwirtschaft oder über die Kähne +hinweg, irgendwohin, wenn er diesen Fleck überschritt. Es war nichts +zu sehen als heller Asphalt wie überall, aber er zuckte zusammen, wenn +sein Fuß darübertrat, und das mußte die Nerven des kräftigsten Mannes +auf die Dauer zermürben.</p> + +<p>Wollte er das Fenster schließen, um mit seiner Geige allein zu sein, so +irrte sein Blick unwillkürlich dorthin. Er ging vom Fenster zurück und +ließ die Geige im Kasten. So blieb er ohne Trost und ohne Ruhe.</p> + +<p>Und nun macht er seinen letzten Abschiedsbesuch bei einem, der auch +ruhelos im großen schönen Haus nach einem Anker sucht.</p> + +<p>Er wird vom Kommerzienrat mit stummer Herzlichkeit empfangen und +muß bei seinem Händedruck unwillkürlich an Herrn Pohl denken. In +Erscheinung und Wesensart grundverschieden, haben die beiden ein +Gemeinsames: sie lebten — während der eine Geld aufhäufte und +der andere nur seine Pflicht erfüllte — niemals für sich und +verschwendeten ihre einmalige scheue Zuneigung, ihr rückhaltloses +Vertrauen an ihren Gegensatz, an Joachim Becker, der noch nie etwas +anderes als sich selbst und sein Ziel sah. Nun wenden sie sich in der +gleichen Enttäuschung resignierend dem zu, der nicht beglückt und +nicht verletzt, der in seiner stets gleichbleibenden<span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span> Bereitschaft +zu Teilnahme und Gerechtigkeit gern da gesehen wird, wo er weder +überschäumende Freude noch den ersten erbitterten Groll durch sein +Gleichmaß beschämen kann.</p> + +<p>Der Kapitän ist sich seiner Rolle schmerzhaft bewußt, aber da sie ihm +nicht abgenommen wird, und man ihm seinen Eingang in den ungerechten +schwankenden Kampf der Gefühle verwehrt, waltet er weiter still seines +Amtes.</p> + +<p>Er lobt die Küche des Kommerzienrats, seine gut gelagerten Weine +und erzählt von den lukullischen Genüssen anderer Völker, von +erfrischenden und berauschenden Getränken in aller Welt, von einem +kleinen Spezialgebiet seines vielfältigen Wissens, während er bemerkt, +daß der Kommerzienrat nur zeitweise seine langatmigen, ungewürzten +Schilderungen verfolgt. Er verstummt nicht, denn die ermüdenden Reden, +die keine Antwort und kein anhaltendes Interesse beanspruchen, ja +dem Zuhörer leichte Nebengedanken erlauben, tragen oft Lastendes und +Quälendes unmerklich fort und leiten in eine besinnliche Stille hinüber.</p> + +<p>Nach dem Essen stellt sich auch Rechtsanwalt Bernhard ein. Er bekommt, +mit einem gewissen Gewohnheitsrecht, einen kleinen Imbiß nachserviert, +und dann gehen die drei in das Rauchzimmer, wo selbst der junge Alfred +Bernhard, der getreue Tanzstundenfreund Frau Adelheids, sich dem +langsamen Genuß der kommerzienrätlichen Zigarren hinzugeben bemüht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span></p> + +<p>In seinem Bureau sitzt nun nicht mehr eine einzige Stenotypistin, die +mit Handarbeiten die Arbeitsstunden umzubringen versucht. Nein, er hat +einen eigenen Bureauvorsteher und einen Stab von Schreibfräuleins, die +den ganzen Tag gut ausgeklügelte und dennoch mit sicherem Geschmack +parierende Schriftsätze in Scheidungssachen schreiben. Er ist gewiß +nicht durch einen blinden Zufall, sondern durch eine offensichtliche +Begabung allmählich ein Spezialist in Ehescheidungen geworden. Seine +friedliebende Natur, die unermüdlich bestrebt ist, Ausgleich und +reibungslose Auseinandersetzung herbeizuführen, selbst wenn anscheinend +unüberbrückbare Hindernisse entgegenstehen, erwarb ihm den guten Ruf. +Man sucht ihn bereits und hält ihn in bester Erinnerung, weil er das +unerquickliche Ende ohne Schrecken zu finden weiß.</p> + +<p>Er bewies seine diplomatischen Künste im Prozeß der Hafengesellschaft +gegen Michael Pohl, den er drei Jahre ohne unnötige Dissonanzen in +der Schwebe zu halten verstand, bis er an seinem eigenen Widerspruch +zerrann. Er wußte selbst einen Querkopf wie den Bäckermeister Reiche +davon zu überzeugen, daß man recht haben kann und dennoch sein Unrecht +zugeben muß. So führt er immer seine Parteien langsam und ohne +kleinliches Gezänk — mit einer Geduld, die nervöse Kollegen fast +pathologisch nennen — zum gewünschten Ziel. Wenn es auch zuweilen +in neuer Versöhnung besteht, so verdient er daran nicht geringere<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span> +Honorare, weil er es sich zum weisen Prinzip macht, diese Akten gut zu +verwahren. Er weiß, daß solcherart Klienten nicht ohne Anhänglichkeit +sind.</p> + +<p>So hat er in seiner Praxis Gelegenheit zu manchen Beobachtungen +gefunden, die er auch im Privatleben anzuwenden weiß. Wie hätten +ihm also die Anzeichen für den Bruch einer ihn so besonders +interessierenden Ehe entgehen können? Zumal er die Tanzstundenfreundin, +die in seinen Gedanken die scheue Adelheid Friemann blieb, nicht aus +den Augen ließ.</p> + +<p>Vielleicht sind viele seiner guten Erfolge in anderen Ehescheidungen +darauf zurückzuführen, daß er so intensiv immer nur an den einen Fall +dachte, den nun endlich ein Kollege bearbeitet. Man sagt ihm nach, +daß er mit besonderem Geschick stets die Schuld der männlichen Partei +übertrug, so daß er hauptsächlich die Unschuldigen vertrat. Aber die +Klientin, die er mit so unermüdlicher Geduld erwartete, schickte er +dennoch zur Konkurrenz. Nein, in dieser »Sache« hätte er keinen Finger +rühren können.</p> + +<p>Es ist seine große Tragik, daß er in den eigenen Angelegenheiten von +den beruflichen Fertigkeiten verlassen ist. Wie redegewandt kann er vor +dem Richter oder in seinen Schriftsätzen für die Interessen anderer +eintreten, und wie stumm war er geblieben, als Adelheids Gefühle noch +nicht abgeirrt waren. Er könnte nun mit Recht hoffnungsvoller und +ruhiger in die Zukunft blicken, denn man kann annehmen, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span> seine +Treue noch einmal anerkennen wird. Doch je näher der Termin ihrer +Freiheit heranrückt, um so nervöser wird Alfred Bernhard, der wieder +alle Qualen der Tanzstundenzeit erlebt. Er hat noch jeden Tag in der +Erinnerung, an dem er die Gelegenheit und das richtige Wort versäumte, +bis sie Joachim Becker kennenlernte und er einsah, daß es zu spät +geworden war.</p> + +<p>Nun zieht er hier in scheinbarer Ruhe an der schweren Zigarre, lauscht +zerstreut den Gesprächen der beiden »alten Herren« und denkt mit banger +Freude an den Herbst, der Adelheid wieder hierherführen wird.</p> + +<p>»Und doch sind solche Krankheiten oft heilsam,« hört er den Kapitän +sagen, »sie befreien den Menschen nicht nur körperlich, sie lassen ihn +nach einiger Zeit auch seelisch genesen. Wir müßten alle ab und zu nach +einer gründlichen Aufräumung der alten Stoffe wieder neu beginnen.«</p> + +<p>»Ich glaube, daß Sie darin noch zu optimistisch sind, lieber Kapitän«, +erwidert der Kommerzienrat, während er den Blick in die Luft richtet. +»Bei jungen Leuten mag das zutreffen. Vielleicht sind Sie dafür auch +noch jung genug. Aber unsereins —«</p> + +<p>Der Kommerzienrat schiebt seinen Körper zur anderen Seite des Sessels +und stützt den Arm mit der hochgehobenen Zigarre schwer auf die Lehne.</p> + +<p>»Sehen Sie, ich habe auch gedacht: du wirst zunächst nur Geld +verdienen, und dann fängst du von neuem an. Es ist<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> nicht mein +Jugendtraum gewesen, mit Getreide zu handeln, hochfliegende Pläne +habe ich allerdings auch nicht gehabt. Im Gegenteil, sie waren sehr +bescheiden und standen in einem gewissen Zusammenhang mit meinem +Gewerbe. Ich habe nämlich das Getreide geliebt. Aber nicht auf dem +Ladentisch und nicht an der Börse. In die Erde wollte ich es versenken. +Säen wollte ich es, sein Wachstum still verfolgen, von Gott und dem +Wetter abhängig sein und nicht von den Schwankungen, die uns die +Trusts und die Spekulanten diktieren. Ja, man hat es oft satt gehabt +und sich Geduld gepredigt, weil man glaubte, noch warten zu müssen. +Aber die gewohnte Haut wächst einem schließlich so fest an den Leib, +daß man sie nicht mehr herunterstreifen kann. Immer weiter schiebt man +den Zeitpunkt. Erst sollte es mindestens ein kleiner Bauernhof sein, +dann ein Rittergut, und schließlich wollte man das, was man sich hier +so mühsam in einem ganzen Leben erwarb, auch nicht aufgeben und den +Kindern vererben, ehe man sich zurückzieht. Und nun —«</p> + +<p>Er wirft sich wieder auf die linke, dem Kapitän abgewandte Seite des +Sessels und läßt den Arm mit der kalten Zigarre sinken. Der Kapitän +sucht nach einigen wohlgefügten und geeigneten Worten, um über die +Situation hinwegzuhelfen. Der Kommerzienrat jedoch spricht mit neuem +Anlauf weiter:</p> + +<p>»Je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so mehr komme ich dahinter, +daß der Junge, der Felix, gar nicht hierher gepaßt<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> hat. Das war zu +groß und zu unruhig für ihn. Er hat sich mit seinem lebhaften Geist für +alles interessiert. So kam es, daß er seine Kräfte zersplitterte und +daß er nichts zu Ende denken konnte. Und so durfte er auch sein Leben +nicht zu Ende leben.«</p> + +<p>Er schweigt. Seine beiden Zuhörer finden keine Entgegnung. Der Kapitän +denkt: ›Wäre ich nicht auf dem Sprung, ihn für immer zu verlassen, so +würde er kaum das alles in meiner Gegenwart erzählen. Man gibt seine +geheimsten Erkenntnisse nicht dem preis, den man täglich wiedersehen +kann.‹</p> + +<p>Oder sind die Worte an Rechtsanwalt Bernhard gerichtet, den der +Kommerzienrat schon fast zur Familie rechnet und der beizeiten erfahren +soll, welche Fehler er zu vermeiden hat?</p> + +<p>»Er hätte in das einfache Leben gepaßt, das ich für mich reservieren +wollte«, fügt der Kommerzienrat mit gepreßter Stimme hinzu. Es scheint +doch, als spräche er nur, um sich von den Selbstvorwürfen laut zu +befreien.</p> + +<p>»Sie haben, soweit ich beurteilen kann, immer das Beste für Ihre Kinder +gewollt und sie selbst wählen lassen«, sagt der Kapitän tröstend.</p> + +<p>»Gewiß«, erwidert der Kommerzienrat. »Scheinbar haben sie selbst +gewählt. Aber ihr Wille gehörte ja nicht ihnen. Er war durch die +Erziehung und die Umgebung, die ich ihnen schuf, beeinflußt. Sie trafen +also eine Wahl, die ich ihnen indirekt aufzwang und die nicht einmal +meiner wahren Neigung<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> entsprach. Ich selbst war mit meinem Herzen +immer bei der Scholle, die Kinder aber verpflanzte ich hierher, wo sie +ebensowenig Wurzeln fassen konnten wie ich. Und es hätte doch sehr +nahe gelegen, daß sie nach mir oder meiner Frau arteten, die in ihrer +Bescheidenheit überhaupt keine eigenen Wünsche mehr hat. Oder glauben +Sie, daß der Junge aus dem Leben gegangen wäre, wenn ihn etwas stark +genug gefesselt hätte?«</p> + +<p>»Es war eine Gefühlswallung, die in der Erregtheit über den ersten +Unglücksfall leider niemand schnell genug hemmte«, erwidert der Kapitän.</p> + +<p>»Können Sie sich vorstellen, daß zum Beispiel mein Schwiegersohn +dasselbe getan hätte, wenn er sich die Schuld an einem großen Unglück +hätte zuschreiben müssen?«</p> + +<p>»Nein.«</p> + +<p>»Und warum nicht?«</p> + +<p>Das ist eine schwere Frage an den Kapitän. Er findet keine neutrale +Antwort und schweigt.</p> + +<p>»Dann will ich es Ihnen verraten,« sagt der Kommerzienrat, »weil ihn +die selbstgewählte Arbeit fesselt. Ich glaube, das ist die stärkste +Bindung an das Leben. Die Arbeit, der man sich mit Liebe hingibt, kann +niemals enttäuschen. Sie holt aus sich selbst die neue Kraft, während +die erzwungene Arbeit ständig ermüdet.«</p> + +<p>»Und wenn sie vom Ehrgeiz angetrieben wird?« fragt der Kapitän zögernd.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span></p> + +<p>»Es war nicht Ehrgeiz,« erwidert der Kommerzienrat, »seine Liebe zur +<em class="gesperrt">Arbeit</em> war echt. Über alles andere hat er uns und — ich glaube +— auch sich selbst getäuscht.«</p> + +<p>Der Kapitän fühlt sich zum zweitenmal beschämt. Vater und Tochter, die +vielleicht mehr Grund gehabt hätten, Joachim Becker zu verurteilen, +müssen ihn Gerechtigkeit lehren.</p> + +<p>»Verzeihen Sie«, sagt er leise. »Ich habe ihn als Menschen zu wenig +gekannt.«</p> + +<p>Er sieht ein, daß es höchste Zeit für ihn ist, vom Schauplatz der +Gefühle endgültig abzutreten und seinen festen Stand in der Mitte nicht +mehr zu verlassen. —</p> + +<p>Am nächsten Tage werden die alten Möbel zum Seiteneingang des +Verwaltungsgebäudes wieder hinausgetragen. Der kleine Herr mit dem +braunen Gesicht und dem gespreizten Gang, den Frau Reiche damals +durchaus nicht für den neuen Hafendirektor halten wollte, hält seine +Liste in der Hand und prüft wiederum, ob alles in Ordnung sei.</p> + +<p>Dann geht er still für immer aus dem Hafentor hinaus ...</p> + +<p>Frau Reiche kann ihn diesmal nicht beobachten, sie ist Inhaberin eines +Zigarrengeschäfts und hat mindestens für einige Zeit einen eleganten +jungen Geschäftsführer.</p> + +<p>In der Kantine sind neue Leute, die nun für den Generaldirektor selbst +das Essen zu beschaffen haben. Fräulein Spandau muß sich neben einer +anderen Sekretärin an zweiter Stelle einfügen. Sie sah dem scheidenden +Kapitän mit großer Trauer nach, denn sie war immer mit ihm zufrieden.<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span> +Aber sie ist von der Art, die mit der Treue und Dankbarkeit eines guten +Hundes jedem Herrn dient.</p> + +<p>Vielleicht ist Joachim Becker in dieser Wohnung noch einsamer als sein +Vorgänger, denn neben seinem Schreibtisch steht kein Geigenkasten, den +er in den Abendstunden öffnen kann. Dafür hat er sich einige Bücher +hingelegt, die ihm die Liebe der Menschen ersetzen sollen.</p> + +<p>Seine »Stützpunkte« an der Küste und im Binnenlande sind errichtet; +er hat sich mit Hilfe seiner erweiterten Tankanlage das Benzinmonopol +für die Stadt erobert; man baut ihm einen großen Güterbahnhof zur +Unterstützung neben seine Freiladeplätze. Er braucht nicht mehr in den +Hafen zu fahren, um die geleistete Arbeit zu betrachten. Er kann sie +nun von seinen Fenstern aus fast überschauen. Doch wenn sein Blick auf +einen Kran fällt, beißt er die Zähne zusammen.</p> + +<p>An einem der letzten warmen Herbsttage, als der Generaldirektor nach +Arbeitsschluß ein gerichtliches Dokument weggeschlossen hat und in +seinem Zimmer wieder ruhelose Wanderungen unternimmt, fährt ein Wagen +im Hafen vor, und Rechtsanwalt Bernhard springt heraus.</p> + +<p>Er schließt nicht den Wagenschlag, sondern hebt eine Hand und hilft +Frau Adelheid Becker beim Aussteigen.</p> + +<p>Da ist sie also noch einmal im Hafen. Sie blickt sich aufatmend um, sie +sieht auch einen Kran, aber sie zuckt nicht zusammen. Jetzt ist sie +so weit, daß sie der Welt wieder gerade ins Gesicht blicken kann. So +sind die Frauen! Die Männer<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span> beißen die Zähne zusammen und machen den +vergeblichen Versuch, etwas zu unterdrücken; die Frauen richten sich +auf und fangen von neuem an.</p> + +<p>Frau Adelheid nickt Rechtsanwalt Bernhard zu und sagt:</p> + +<p>»Erwarten Sie mich hier, ich will allein mit ihm sprechen.«</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard verneigt sich und hat seine Freude daran, ihr +nachzublicken, wie sie mit festen Schritten in das Verwaltungsgebäude +hineingeht.</p> + +<p>Joachim Becker öffnet ihr selbst. Frau Adelheid muß das erste Wort +finden, denn dieser forsche und tatkräftige Generaldirektor steht ganz +ratlos da und schweigt.</p> + +<p>»Du hast doch nicht gedacht, daß ich es schlecht mit dir meine, weil +ich solange nicht kam?« fragt sie, während sie ihm die Hand hinhält, +die er nicht ergreift.</p> + +<p>»Hat dir mein Vater nicht bestellt —« beginnt sie noch einmal, nun +schon wieder etwas ängstlich.</p> + +<p>Da faßt er nach beiden Händen und zieht sie in das Zimmer.</p> + +<p>»Doch,« stammelt er, »doch! Das hat er bestellt. Es war der einzige +Trost, der mir blieb.«</p> + +<p>»Gott sei Dank!« sagt sie, »ich habe es ihm doch auch so erklärt, daß +nur ich daran schuld war.«</p> + +<p>»Woran sollst du schuld gewesen sein?« fragt er in höchstem Erstaunen.</p> + +<p>Sie betrachtet ihre Handschuhe. »An unserer Ehe«, meint sie leise.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span></p> + +<p>Dann sieht sie ihm wieder ins Gesicht und sagt:</p> + +<p>»Ich wußte, daß du damals so gut wie verlobt warst. Trotzdem hatte ich +es mir in den Kopf gesetzt, dich für mich zu gewinnen. Wenn es mir +nicht gelang, so lag es daran, daß du zu aufrichtig warst. Du hast +niemals geheuchelt, so daß ich dich nur noch immer mehr lieben mußte. +Wenn du besonders gut zu mir warst, so hatte ich dich für kurze Zeit +mit meiner Liebe bezwungen, doch in deinem Herzen bist du einer anderen +treu geblieben.«</p> + +<p>Sie ist sehr rot geworden und blickt starr gegen die Fensterscheiben. +Er schweigt.</p> + +<p>»Ich hätte Achtung davor haben sollen, anstatt dich zu quälen«, spricht +sie weiter. »Aber da war unsere Tochter —«</p> + +<p>Ihre Stimme beginnt nun doch zu schwanken. Joachim Becker ist so +hilflos, daß er ihr nicht einmal beisteht, sondern sie weiter nach +Worten suchen läßt.</p> + +<p>Frau Adelheid sieht, wie es um ihn bestellt ist, und da findet sie +selbst die Kraft, beiden zu helfen.</p> + +<p>»Das ist jetzt alles vorbei, und ich denke, daß wir nun, nachdem uns +nichts mehr äußerlich bindet, gute Freunde werden könnten.«</p> + +<p>Sie reicht ihm ihre kleine Hand, von der sie noch rasch den Handschuh +abgezogen hat, damit er den warmen Druck ganz unmittelbar verspüren +kann.</p> + +<p>Er neigt sich so heftig darüber, daß sie etwas atemlos sagen muß:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span></p> + +<p>»Unten wartet Rechtsanwalt Bernhard, er wollte dich auch begrüßen.«</p> + +<p>Sie gehen gemeinsam hinunter, und wieder freut sich Joachim Becker, dem +jungen Rechtsanwalt in die guten, etwas verträumten Augen zu blicken.</p> + +<p>Er hilft Frau Adelheid in den Wagen, und wie er schon die Tür schließen +will, beugt er sich noch einmal vor und sieht ihr mit einem dankbaren +Lächeln ins Gesicht.</p> + +<p>Dann rollt der Wagen davon. Der Wächter schließt das Tor, und Joachim +Becker ist wieder allein in seinem Hafen.</p> + +<p>Er geht am Wasser entlang; grüßt die Schiffer, die mit ihren Pfeifen +neben der Kajüte stehen, und wandert zu den Lagerhallen.</p> + +<p>Vor dem großen Kran bleibt er stehen. Er beißt nicht mehr die Zähne +zusammen.</p> + +<p>Er sieht zu ihm auf und sagt:</p> + +<p>»Einen grausameren und gewaltigeren Mahner konnte man mir nicht +hinstellen als dich!« —</p> + +<p>Rechtsanwalt Bernhard sitzt immer noch stumm neben Frau Adelheid +im Wagen und sieht mit Schrecken, daß sie sich dem Villenviertel +bedenklich nähern. Sicherlich ist es für das richtige Wort noch viel zu +früh, aber an diesem entscheidenden Tage, an dem sie ihm so gewaltig +imponiert, müßte er ihr doch mindestens sagen, welche Verehrung er ihr +entgegenbringt. Er weiß aus seiner ganzen Praxis keine einzige Frau, +die soviel Seelengröße gezeigt hätte wie sie.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span></p> + +<p>Sie starrt mit ihren schönen dunklen Augen ununterbrochen auf den +Rücken des Chauffeurs. Alfred Bernhard kann sich nicht denken, daß +ihr gerade dieser Anblick ein Vergnügen bereitet, er weiß jedoch kein +Mittel, um sie abzulenken.</p> + +<p>Plötzlich platzt er damit heraus:</p> + +<p>»Wissen Sie noch, Adelheid, wie wir damals nach der ersten Tanzstunde +zum ›Historischen Gasthof‹ fuhren?«</p> + +<p>»Ja.« Sie zieht den starren Blick erschreckt ein und betrachtet die +herbstlich bunten Bäume in den Gärten, die sich nun jenseits der Straße +mit ihren prunkvollen Villen im Hintergrund ausdehnen.</p> + +<p>»Es war auch so ein warmer Herbsttag wie heute«, setzt er fort, während +er bemerkt, daß sie an der nächsten Kurve in ihre Straße einbiegen. +»Helene Uhl war damals mit und — und —«</p> + +<p>»Ja, Felix war auch dabei. Ich entsinne mich noch genau«, sagt sie +tapfer, nachdem er stockte, diesen Namen auszusprechen. »Während meiner +Krankheit habe ich einmal geträumt, daß wir tanzten. Sie und ich und +Felix mit Helene Uhl. Es war sehr schön.« Sie spricht dieses »schön« +wieder so kindlich verzückt aus wie damals beim Erwachen aus der +Narkose, als sie im Halbbewußtsein der Mutter davon erzählte.</p> + +<p>Das hohe Gitter der Friemannschen Villa ist bereits zu sehen, da +springt Alfred Bernhard plötzlich auf und sagt zum Chauffeur, während +sich seine Stimme fast überschlägt:</p> + +<p>»Fahren Sie zum ›Historischen Gasthof‹!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span></p> + +<p>Adelheid sieht ihm erstaunt zu, aber als er sich neben ihr niederläßt, +sagt sie, wieder vollkommen gefaßt:</p> + +<p>»Ach, das ist wirklich eine gute Idee.«</p> + +<p>Dann sitzen sie eine Weile stumm da und beobachten den Chauffeur bei +seinen Bemühungen, den Wagen zu wenden. Alfred Bernhard fühlt, wie +die Hitze, die im entscheidenden Augenblick in ihm aufstieg, langsam +verebbt. Während sie wieder auf geraden Straßen dahingleiten, gelingt +es ihm sogar, anregende Gesprächsstoffe zu finden, die sie zuweilen +veranlassen, ihn anzusehen oder ihm ein Lächeln zu schenken.</p> + +<p>Dann steigen sie vor dem Gasthof aus, der zwischen den alten Bäumen +hervorlugt und an diesem herbstlichen Wochentage anscheinend keine +anderen Besucher als sie beide angelockt hat. Adelheid bleibt vor dem +Eingang stehen und blickt zu der Inschrift mit den verschnörkelten +alten Buchstaben hoch.</p> + +<p>»So haben Sie auch damals hier gestanden und die Tafel entziffert«, +sagt er erinnerungsselig.</p> + +<p>»Ja, und dann haben Sie mir die Jahreszahl ›übersetzt‹, weil ich die +römischen Ziffern niemals lesen kann.« Sie sieht ihn dabei mit diesem +reizenden, sorglosen Lächeln an, nach dem er sich so lange gesehnt hat.</p> + +<p>»Achtzehnhundertachtundvierzig ist das«, erwidert er, ohne den Blick +von ihrem Gesicht fortzunehmen, das nach seiner Ansicht noch genau so +jung aussieht wie damals vor sechs Jahren.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span></p> + +<p>Sie errötet auch wieder, weil die anhaltende Betrachtung ihrer +bescheidenen Person sie immer verlegen macht. Dann gehen sie über die +alten Fliesen des Flurs zum Garten, der hinter dem Hause liegt. In +stummer Vereinbarung steuern sie sofort auf den gleichen Tisch zu, an +dem sie damals zu viert gesessen hatten. Felix Friemann, der zu jener +Zeit in die langgliedrige lustige Helene Uhl verliebt war, hatte den +Platz ausgesucht, der ganz im Hintergrund, zwischen der historischen +Eiche und einer hohen Hecke, versteckt ist. Er war immer findig im +Ausspüren solcher Gelegenheiten, und es liegt nahe, daß die beiden nun +wieder an ihn denken.</p> + +<p>»Und wie mag es Helene Uhl wohl jetzt gehen?« fragt Adelheid +gedankenschwer.</p> + +<p>»Sie ist verheiratet.«</p> + +<p>»Ja, ich weiß, sie hat zwei Kinder. Man erzählte es einmal. Ich habe +sie kaum gesehen, seit Felix sich nicht mehr für sie interessierte.«</p> + +<p>Ein Mädchen kommt aus dem Haus. Rechtsanwalt Bernhard bestellt Kaffee +und Kuchen.</p> + +<p>»Sie ist neulich bei mir gewesen«, sagt er, nachdem das Mädchen +gegangen ist.</p> + +<p>»Wer?«</p> + +<p>»Helene Uhl.«</p> + +<p>»Helene Uhl, bei Ihnen in der Praxis?« fragt Adelheid leise, fast im +Flüsterton.</p> + +<p>Er nickt. »Sie will sich scheiden lassen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span></p> + +<p>»Und die Kinder?«</p> + +<p>»Ich habe ihr eben deswegen zugeredet, es doch noch weiter zu +versuchen. Aber sie sagte, dann müßte sie seelisch zugrunde gehen. Ihr +Mann ist ihr nicht treu.«</p> + +<p>»Vielleicht hätte sie doch unseren Felix nehmen sollen. Dann wäre alles +anders gekommen.« Sie sitzt mit geschlossenen Augen da und mag sowohl +an Schwester Emmi wie an den furchtbaren Kran denken.</p> + +<p>»Ja«, erwidert Alfred Bernhard und müht sich um irgendein passendes +Wort ab, das noch hinzugefügt werden müßte, damit sie wieder die Augen +öffnet und ihn ansieht. Und dann sagt er ganz leise, während die Stimme +bei einzelnen Silben den Ton versagt:</p> + +<p>»Manchmal ist die erste Liebe die richtige, und man weiß es nicht.«</p> + +<p>»Ja«, erwidert sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hat sich gegen das +rauhe Holz der breiten Bank zurückgelehnt und reicht ihm ihre Hand hin. +Er sitzt in einigem Abstand neben ihr, sie braucht nicht nach ihm zu +tasten, er greift sofort mit beiden Händen zu.</p> + +<p>Als sie seine brennenden Lippen auf ihren kühlen Fingern spürt, öffnet +sie die Augen und blickt auf den herabgeneigten Kopf mit dem knabenhaft +schlanken Nacken. Sie hat sich hochgerichtet und sitzt einen Augenblick +mit steifem Rücken da, während sie ihm die Hand zart zu entziehen +sucht. Er gibt sie frei, aber sein Kopf sinkt auf ihre Knie herab,<span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span> und +sie spürt den heißen Atem durch den Stoff ihres Kleides.</p> + +<p>Da fährt sie mit kurzen, zarten Bewegungen über sein volles Haar, +und wie er das Gesicht zu ihr aufhebt, strahlt sie ihn mit ihrem +mütterlich-sanften Lächeln an, dem Joachim Becker schmerzlich nachsann, +als sie ihm verloren war.</p> + +<p>Für Alfred Bernhard sind die sechs Jahre ausgelöscht, er ist wieder +so jung und stumm wie damals. Er weiß, daß es jetzt keiner Worte mehr +bedarf.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Einweihung">Die Einweihung</h2> +</div> + +<div class="dc"> + <img class="h3em" id="drop-i006" src="images/drop-i006.jpg" alt="I"> +</div> + +<p class="p0"><span class="hide-first">I</span>m nächsten Frühjahr kann neben der Mühle von Michael Pohl die große +Brotfabrik eröffnet werden, die Spenderin des täglichen Brotes für die +ganze Stadt.</p> + +<p>Man veranstaltet kein Fest und ladet auch keine Gäste. Die Teigmassen +wälzen sich aus den großen Knetmaschinen, sie rollen geformt aus einem +Räderwerke heraus und verschwinden gleichzeitig zu Hunderten in den +großen Öfen.</p> + +<p>Da gleiten schon die braunen Laibe herab, und dort ziehen die nächsten +rohen Formen hinein.</p> + +<p>Meister Reiche nimmt das erste heiße Brot in seine abgehärteten Hände +und legt es auf eine Schüssel. Dann geht er damit hinaus, über den +großen Platz, an Mühle und Speicher vorbei zum Wohnhaus des Müllers.</p> + +<p>Michael Pohl sitzt mit seiner Familie am Mittagstisch, da tritt Meister +Reiche mit der Schüssel ein und sagt feierlich:</p> + +<p>»Das erste Brot!«</p> + +<p>Michael Pohl erhebt sich und mit ihm auch seine Frau und seine Tochter, +nur der jetzt vierjährige Michael bleibt<span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span> auf seinem Stühlchen sitzen +und sieht der Szene mit großer Spannung zu.</p> + +<p>Sie sind alle von der Feierlichkeit dieses Augenblicks durchdrungen.</p> + +<p>Michael Pohl sagt:</p> + +<p>»Wir wollen gemeinsam davon essen.«</p> + +<p>Frau Pohl reicht ihm ein Messer, er schneidet vier Stücke von dem +heißen Laib und spricht einige kurze Worte mit seinem Herrgott. Sie +falten alle die Hände, und dann nehmen sie das Brot.</p> + +<p>Sie verzehren es wie das heilige Abendmahl.</p> + +<p>Meister Reiche reibt mit seinen großen Fäusten an den Augen, Frau Pohl +aber gibt ihren Tränen freien Lauf, sie reicht ihrem Manne die Hand und +läßt sich in seine Arme ziehen.</p> + +<p>Dann sagt sie: »Ich will auch unserem Sohne von dem heiligen Brot +geben.«</p> + +<p>Und sie steckt ihm einen Bissen in den Mund, obgleich sie weiß, daß er +sich daran den Magen verdirbt. —</p> + +<p>Wenige Wochen später ist der Hafen zur offiziellen Feier der Einweihung +gerüstet. Aus dem ganzen Lande sind die Gäste geladen. Fahnen wehen +über allen Gebäuden, und auf den Gewässern liegen die Kähne und +Schleppdampfer in dichten Reihen.</p> + +<p>Man hat die Schiffer lange darauf vorbereitet, daß es erwünscht wäre, +wenn am 1. Mai recht viele von ihnen<span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span> hier anlegten und sich den +staunenden Gästen präsentierten.</p> + +<p>Gegen elf Uhr fahren die Wagen vor. Sie müssen hinter dem Tore halten, +und bald ist die Straße bis zur Föhrbrücke gesperrt. Immer neue +Menschenmengen strömen herein. Sie kommen einzeln und in Gruppen: die +Herren von der Regierung und von den Kommunen, von Handel, Industrie +und Gewerbe, die Schaulustigen und die Damen.</p> + +<p>Vor dem Verwaltungsgebäude ist eine geschmückte Rampe errichtet. Hier +soll der Hafen gewissermaßen aus der Taufe gehoben werden. Die Reden +sind vorbereitet, und die Schiffer auf dem Wasser hinter dem Rednerpult +setzen sich neben ihre bekränzten und bewimpelten Kajüten und denken, +daß sie diesmal auch etwas zu hören bekommen.</p> + +<p>Die Gäste promenieren und sehen sich staunend um, bis sie an der Kanzel +versammelt werden, weil der erste Redner erscheint.</p> + +<p>Es ist der Oberbürgermeister, der sie im Hafen begrüßt und dann +nicht minder erhebende Worte spricht als vor vier Jahren zum ersten +Spatenstich.</p> + +<p>Dann folgt der Vertreter der Regierung, und das ist diesmal der +Handelsminister selbst.</p> + +<p>Es reden die Exponenten von Industrie, Handel und Finanz, und die +Zuhörer werden schon etwas müde, als Joachim Becker, der junge +Generaldirektor und Anreger zu diesem Werk, die Schlußworte spricht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span></p> + +<p>Er faßt sich sehr kurz. Er sagt, daß er nicht viel Worte zu verlieren +brauche, denn heute sprechen die Erfolge selbst. Er ladet zu einer +Besichtigung der Hafenanlagen ein, dann werde jeder sehen, daß +dieser neue große Binnenhafen ein wichtiger Faktor im deutschen +Wirtschaftsleben sei, der seine Existenzberechtigung bewiesen habe.</p> + +<p>Er spricht diesmal nicht von Kampf, Mut und Ausdauer, nicht vom +»Größten«, das alles andere übertrumpfen soll, oder von einer +Weltmacht. Er sagt »Urteilt selbst«, dankt für das Interesse und +verneigt sich.</p> + +<p>Dreißig große, mit Nummern bemalte Schilder stehen da, die von den +Bureaudienern und Boten der Generaldirektion an hohen Stangen getragen +werden; ebenso viele Führer, die mit dem Hafen vertraut sind, haben die +Pflicht, für die Einteilung der Erschienenen in Gruppen zu sorgen und +ihnen die Anlagen zu erklären.</p> + +<p>Da finden sich nun diejenigen zusammen, die im Rang zueinander +gehören, eine besondere Gruppe ist für die Presse gebildet, und die +Schaulustigen suchen sich die Gesellschaft, die ihnen gerade gefällt.</p> + +<p>Meister Reiche zum Beispiel, den man auch geladen hat, ist zufällig +neben Fräulein Spandau gelandet. Sie lassen sich die technischen Wunder +erklären, obgleich sie ihnen nicht fremd sind. Aber sie bleiben oft ein +wenig zurück und halten eine Privatbesichtigung.</p> + +<p>Im Getreidespeicher, da, wo Meister Reiche vor mehr als<span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span> zwei Jahren +die ersten Körner fallen sah, hält er sich längere Zeit auf. Er spricht +in seiner schwerfälligen, etwas stockenden Art von den eigentümlichen +Gefühlen in jener Stunde, und Fräulein Spandau hört ihm andächtig zu.</p> + +<p>»Und was würden Sie sagen,« fragt er zum Schluß, »wenn nun ein Mann vor +Ihnen steht, der über sich selber wieder Herr und Meister ist?«</p> + +<p>Fräulein Spandau sieht ihn so erstaunt an, als wüßte sie nicht, worauf +er hinaus wolle, obgleich eine stille Ahnung wohl in ihr dämmern mag.</p> + +<p>Die Teilnehmer ihrer Gruppe kommen unter lebhaftem Geplauder von der +Besichtigung der oberen Stockwerke schon wieder zurück. Die beiden +lassen sie vorbeiziehen, und Fräulein Spandau sagt:</p> + +<p>»Nun, ein Meister waren Sie trotzdem immer geblieben.«</p> + +<p>»So meinte ich es nicht. Ich wollte sagen, daß ich wieder ein freier +Mann bin und möchte gern wissen, ob Ihnen das gefällt.«</p> + +<p>»Herr Reiche«, sagt Fräulein Spandau errötend.</p> + +<p>»Und was hier auf dem Papier steht,« er klopft auf die Brusttasche, +»das von der unsauberen Sache in meiner Ehescheidung, würde Sie das +wohl stören?« fragt er, während er ihre Hand ergreift. Er mag wohl an +die Störung selbst nicht recht glauben, denn sonst würde er ihr nicht +so treuherzig und siegesgewiß in die Augen schauen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span></p> + +<p>Fräulein Spandau errötet noch tiefer. Sie blüht geradezu auf, so daß +sie hübsch und gesund aussieht.</p> + +<p>»Herr Reiche«, flüstert sie noch einmal. Er nimmt es als eine passende +Antwort hin. —</p> + +<p>Joachim Becker zeigt sich bei jeder Gruppe und spielt den +liebenswürdigen Gastgeber. Es ist für einen Boten, der ihm ein +Telegramm überbringen soll, nicht leicht, ihn zu finden, weil er sich +immer wieder an einer anderen Stelle aufhält.</p> + +<p>Endlich ist die Sendung übergeben. Joachim Becker geht zur Seite, um +ungestört lesen zu können. Seine Augen werden immer heller und klarer, +während sie auf den nüchternen Buchstaben ruhn.</p> + +<p>Dann eilt er mit seinen leichten schwingenden Schritten davon und sucht +den Kommerzienrat. Er winkt ihn beiseite und übergibt ihm das Telegramm.</p> + +<p>»Es ist aus Venedig«, sagt er, während er lächelnd auf die gesenkten +Augen seines ehemaligen Schwiegervaters sieht.</p> + +<p>Der Kommerzienrat liest:</p> + +<p>»Generaldirektor Joachim Becker. Gratulieren zur Einweihung des Hafens +und wünschen von Herzen Glück und Heil. Alfred Bernhard und Frau +Adelheid.«</p> + +<p>Er faltet das Papier langsam und sorgfältig zusammen, so daß es +aussieht, als käme es eben von der Postanstalt. Dann reicht er es +Joachim Becker zurück,<span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span> und weil seine Hand zittert, fällt es zur Erde. +Joachim Becker hebt es auf. Wie er sich wieder hochrichtet, das Gesicht +vom Bücken etwas gerötet, sagt der Kommerzienrat leise:</p> + +<p>»Dann will ich dir auch noch dazu gratulieren, daß dir alles so gut +gelungen ist.«</p> + +<p>Joachim Becker steckt das Telegramm in die Tasche und geht damit eine +Weile tatenlos umher. In seinem energischen schmalen Gesicht, auf der +klaren hohen Stirn ist ein ungewohntes stilles Leuchten. Er greift noch +einmal nach dem Papier, und er mag dabei denken, daß <em class="gesperrt">eine</em> Schuld +nun ausgestrichen sei.</p> + +<p>Wie er dem Justizrat Bernhard begegnet, wird er so kindisch in seiner +Freude, daß er ihm das Telegramm zeigt und einleitend sagt:</p> + +<p>»Ihr Neffe hat mir aus Venedig telegraphiert. Sie glauben nicht, wie +ich mich darüber freue.«</p> + +<p>»So, ist er jetzt in Venedig?« fragt der Justizrat. Dann gibt er ihm +das Papier zurück und meint: »Ja, er ist ein braver Bursche, der +Alfred. Ich glaube, daß er noch ein gesuchter Rechtsanwalt wird.«</p> + +<p>Dann gehen sie, ein jeder seines Wegs. Der Justizrat ist zwar +diesmal befriedigt, weil er die Rede des Oberbürgermeisters vorher +durchgesehen hat, aber er denkt: ›Ganz richtig ist das nicht, daß der +Junge dem ersten Mann seiner Frau gratuliert. Nun wollen sie wohl +gar gesellschaftlich miteinander<span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span> verkehren? Es wird doch immer noch +allerhand Vorsicht außer acht gelassen.‹ Und er schüttelt bedenklich +sein graues Haupt.</p> + +<p>Redakteur Undlet und der ausländische Pressevertreter, mit dem er sich +damals, beim ersten Spatenstich, zusammenfand, ist auch wieder da. Sie +haben inzwischen beide die Blätter gewechselt, aber sonst sind sie die +gleichen geblieben.</p> + +<p>»Was sagen Sie nun?« fragt Undlet interessiert.</p> + +<p>»Hm. Sie haben ganz Tüchtiges geleistet. Etwas bescheidener sind sie +geworden.«</p> + +<p>»Bescheidener? Ich denke doch, daß sie in kürzester Zeit ausgeführt +haben, was sie versprachen.«</p> + +<p>»Ich meine nur, daß sie jetzt nicht mehr soviel Worte machen.«</p> + +<p>»Ja, so ist das,« meint Redakteur Undlet, »wenn man erst gezeigt hat, +was man kann, darf man schweigen. Vorher werden einem die besten Worte +nicht geglaubt.«</p> + +<p>Sie gehen zur langgestreckten, mit Girlanden geschmückten Lagerhalle, +wo die Tafeln für die Gäste gedeckt sind.</p> + +<p>Man läßt sich nieder, ißt und hört sich noch einige Reden an.</p> + +<p>Dann fahren die ersten Wagen vor, der Kommerzienrat und Joachim +Becker begleiten die prominenten Gäste bis zum Ausgang. Schließlich +verabschieden sie sich voneinander, und der Kommerzienrat fragt:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span></p> + +<p>»Du kommst doch heute abend zum Festessen ins Hotel?«</p> + +<p>»Wenn du es mir nicht übelnehmen würdest,« sagt Joachim Becker, »möchte +ich heute gern allein bleiben.«</p> + +<p>»Nein, gewiß nicht. Ich werde dich bei den Herren entschuldigen.«</p> + +<p>Auf dem Rückweg begegnet dem Generaldirektor Schwester Emmi.</p> + +<p>Sie trägt heute nicht ihre einfache Tracht, nein, sie ist mit ihrer +Eleganz wahrhaftig mancher hochgestellten Dame überlegen, wenn auch an +ihrer Seite nur Herr Karcher geht.</p> + +<p>Dieser Herr Karcher, er ist mit großer Freude ihrer Einladung, sie +beim Feste zu begleiten, gefolgt, und nun wandert er neben ihr her, +als wäre das selbstverständlich und gar nicht eine große und besondere +Vergünstigung. Zwar sind mit der Generaldirektion viele junge Männer +in den Hafen gekommen. Sie rufen Schwester Emmi zuweilen einige +Scherzworte zu, denen sie in der alten schlagfertigen Frische begegnet, +doch sie hat keinen gefunden, der ihr ständig auf den Fersen folgt wie +seinerzeit Herr Gregor und der <em class="antiqua">Dr.</em> Felix Friemann.</p> + +<p>Nun betrachtet Herr Karcher sie beinahe als einen festen Besitz, und +es ist merkwürdig: irgend etwas fehlt ihm dabei. Wenn sie mit Herrn +Gregor oder <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann tändelte, so hat sich sein Herz immer +so wehmütig zusammengezogen, aber es war ein unvergleichlich schöner, +süßer Schmerz, der<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> ihn den ganzen Tag begleitete und seinem Leben eine +melancholische Melodie gab.</p> + +<p>Dieser Schmerz ist heute, da er von ihr bevorzugt wird, wie +ausgelöscht, und dem leidgewohnten unvernünftigen Herzen fehlt ein +treuer Gast.</p> + +<p>Wie nun Joachim Becker den beiden entgegenkommt, sieht Schwester Emmi +rasch prüfend an sich herab. Sie zieht die Handschuhe glatt und hebt +die Lackspitze eines Schuhs bis hoch oben zum Seidenstrumpf, um einen +winzigen Fleck fortzuputzen. Dann befeuchtet sie die Lippen und geht +dem Generaldirektor mit einem reizenden Lächeln entgegen.</p> + +<p>Joachim Becker begrüßt sie sehr liebenswürdig und drückt ihr sogar die +Hand.</p> + +<p>»Ja, Schwester Emmi,« sagt er, »nun, da die Einweihungsarbeiten vorüber +sind, werden wir beide uns einmal zusammensetzen und versuchen, wie wir +nach dem Entwurf von <em class="antiqua">Dr.</em> Friemann die Fürsorgestelle erweitern +können.«</p> + +<p>Dann plaudern sie noch ein wenig. Herr Karcher steht schweigsam +daneben, und siehe: da ist er wieder, der unvergleichlich schöne, süße +Schmerz. —</p> + +<p>Das große Fest im Hafen kann auch dem Nachbarn nicht entgehen. Die +offiziellen Nachrichten dringen überall hin, und für die Verbreitung +der internen Mitteilungen in der Familie Pohl hat Schwester Emmi wieder +gesorgt, seitdem<span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span> der Kapitän nicht mehr als gern gesehener Gast +empfangen werden kann.</p> + +<p>Während Irmgard Pohl mit ihrem Vater zum Mittagessen über den +Platz geht, muß sie auch einen Blick zu den lustig wehenden Fahnen +hinüberwerfen.</p> + +<p>Sie bleibt stehen und sagt: »Vater, wenn Joachim Becker einmal +wiederkehrte, um uns zur Versöhnung die Hand zu reichen, käme er dann +als Sieger oder als Besiegter?«</p> + +<p>»Als Sieger!« sagt Michael Pohl so schnell, als wäre er auf die Antwort +vorbereitet gewesen.</p> + +<p>»Und sein Sohn?« fragt Irmgard leise.</p> + +<p>Der Mühlenbesitzer sieht sie eine Weile schweigend an. Dann sagt er: +»Auch der Sieger kehrt in sein Land mit Verlusten zurück. Wer sich in +den Kampf einläßt, muß ihn in jedem Falle mitbezahlen.« —</p> + +<p>Als auch der letzte Gast verschwand, spaziert Joachim Becker noch ein +wenig in seinem Hafen umher. Die Arbeit ist noch in vollem Betrieb, +denn eines Festes wegen darf die Tätigkeit nicht ruhn. Die Angestellten +haben auch ihr Freibier bekommen, und nun führen sie ihren Arbeitstag +zu Ende.</p> + +<p>Joachim Becker bleibt neben dem Verwaltungsgebäude stehen und denkt +an die alten Linden, die hier einstmals wuchsen. Über dem zweiten +Hafenbecken sieht er eine Kirche und ein Fräuleinstift.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span></p> + +<p>Unter diesen Bäumen ist er damals auf- und abgegangen mit so +hochfliegenden Gedanken, daß er manchmal selbst davor erschrak. Oft war +er nicht allein gewesen, die Wärme und der Duft Irmgard Pohls hatten +ihn verwirrt, so daß seine Pläne in die Ferne gerückt und ihm noch +wahnwitziger erschienen waren. Er, der Prokurist einer Getreidefirma, +hatte vor die Gewaltigen der Stadt treten wollen, um ihnen zu sagen: +»Ich werde euch einen Hafen bauen!«</p> + +<p>Wenn er so recht mutlos geworden war und gedacht hatte: »In deinem +ganzen Leben wirst du das nicht fertigbringen«, hatte er zuweilen +eine weiche Frauenhand gefühlt, und Irmgard Pohl mit ihrer festen +zuversichtlichen Stimme hatte gesagt:</p> + +<p>»Ich glaube an deine Kraft, und ich weiß, daß du dich durchsetzen +wirst!«</p> + +<p>Dann war der Plan wieder näher gerückt, und er hatte mit seinen +Gedanken weiter daran bauen können.</p> + +<p>Noch nicht fünf Jahre später steht er nun hier und blickt auf seinen +fertigen Hafen.</p> + +<p>Er geht zum Hafentor, als wolle er sein Werk auch von außen betrachten.</p> + +<p>Aber ohne zurückzuschauen, lenkt er seine Schritte zielsicher zur Seite +und wandert über die Föhrbrücke und an der Brotfabrik, der Mühle und +dem Getreidespeicher entlang.</p> + +<p>Das ist ein weiter Weg, und er will gar kein Ende nehmen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span></p> + +<p>Ob man wohl von den Fenstern des Wohnhauses sehen kann, wie er mit +seinen festen Schritten daherkommt?</p> + +<p>Nun ist er am Gartentor. Er schreitet an Frau Pohls gepflegtem Rasen +vorbei, und wie er vor dem Hause endlich angelangt ist, öffnet sich die +Tür.</p> + +<p>Michael Pohl steht auf der Schwelle. Er reicht ihm stumm die Hand und +führt ihn in das Haus.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75396 ***</div> + </body> +</html> + diff --git a/75396-h/images/cover.jpg b/75396-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3f7ea8c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/cover.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-a001.jpg b/75396-h/images/drop-a001.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd5190c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-a001.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-a002.jpg b/75396-h/images/drop-a002.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd5190c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-a002.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-a003.jpg b/75396-h/images/drop-a003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd5190c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-a003.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-a004.jpg b/75396-h/images/drop-a004.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd5190c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-a004.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-a005.jpg b/75396-h/images/drop-a005.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd5190c --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-a005.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-b.jpg b/75396-h/images/drop-b.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..f96dc76 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-b.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-d001.jpg b/75396-h/images/drop-d001.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3123442 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-d001.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-d002.jpg b/75396-h/images/drop-d002.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3123442 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-d002.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-d003.jpg b/75396-h/images/drop-d003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3123442 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-d003.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-d004.jpg b/75396-h/images/drop-d004.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3123442 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-d004.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-e.jpg b/75396-h/images/drop-e.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..5f714d6 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-e.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i001.jpg b/75396-h/images/drop-i001.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i001.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i002.jpg b/75396-h/images/drop-i002.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i002.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i003.jpg b/75396-h/images/drop-i003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i003.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i004.jpg b/75396-h/images/drop-i004.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i004.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i005.jpg b/75396-h/images/drop-i005.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i005.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-i006.jpg b/75396-h/images/drop-i006.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1a4bb46 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-i006.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-n.jpg b/75396-h/images/drop-n.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..32d3945 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-n.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-w001.jpg b/75396-h/images/drop-w001.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..ac2dddc --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-w001.jpg diff --git a/75396-h/images/drop-w002.jpg b/75396-h/images/drop-w002.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..ac2dddc --- /dev/null +++ b/75396-h/images/drop-w002.jpg diff --git a/75396-h/images/illu-003.jpg b/75396-h/images/illu-003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..626b806 --- /dev/null +++ b/75396-h/images/illu-003.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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