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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-01-30 12:21:13 -0800
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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***
+
+
+
+=======================================================================
+
+Anmerkungen zur Transkription:
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler
+korrigiert. Die Verlagswerbung wurde an das Ende des Textes verschoben.
+
+Für die verschiedenen Schriftformen sind folgende Zeichen benutzt
+worden:
+
+ ~gesperrt gedruckter Text~ +antiqua gedruckter Text+
+
+=======================================================================
+
+
+ Ruth.
+
+
+ Erzählung
+
+ von
+
+ Lou Andreas-Salomé.
+
+
+ Zweite Auflage.
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ Stuttgart 1897.
+
+ Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger.
+
+
+
+
+ Alle Rechte vorbehalten.
+
+
+ Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
+
+
+
+
+ Muschka
+
+ gewidmet.
+
+
+
+
+ I.
+
+
+In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene
+Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite,
+ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen
+Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache
+Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein
+Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges;
+der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von
+den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen
+hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den
+Vogelgesang hineinklang.
+
+Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein
+Holzbau, mit geflossenen Fensterläden und bretterverschlagener
+Balkonthür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig
+beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für
+den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen
+Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.
+
+Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt
+von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas
+feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber
+den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden,
+breiteten einen zarten, bräunlichen Schleier darüber, und rings über
+den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen
+Blattknospen.
+
+»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in
+gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein
+halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der
+Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur
+offenen Terrasse mit der Eingangsthür emporführten.
+
+Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf,
+wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen
+Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten
+Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Thür zu
+einem kleinem Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu
+sein schien. Von den Sachen, die man, beim Auszug aus der Stadtwohnung,
+im gemieteten Landhause vorrätig gefunden hatte, war offenbar alles
+Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und
+Gemütlichkeit zu schaffen.
+
+An der Thür, auf einem deckenumhangenen Ruhebett, lag eine bleiche,
+nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren
+ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter halbgesenkten
+Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und
+Gehenden.
+
+Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln
+durch die großen blauen Augen ging.
+
+»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«
+
+Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in
+deren Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf
+den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging über den Flur in das
+Zimmer.
+
+Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr
+trat.
+
+»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die
+Sonne durch den Nebel, und dann trage ich dich in den Garten hinaus.
+Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen
+aufgestellt.«
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher
+Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik?
+Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt
+du, das ist das Schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht
+ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«
+
+»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätte es auch sonst,
+aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«
+
+Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern
+sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du
+dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich
+bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter
+der blitzendsten aller Theemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt
+dessen, jahraus, jahrein, daliegen und es unthätig mit ansehen, wie
+deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben.
+Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken.
+Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«
+
+»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur
+wolltest.«
+
+»Daß er wie eine Tochter ist? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie
+kannst du nur solchen Unsinn sagen, Bel.«
+
+»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist
+er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber
+mir zu dienen macht ihm Freude, -- auch in den häuslichen Dingen.
+Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«
+
+»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht,
+daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen --«
+
+Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann
+ablohnen.
+
+Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der
+Stube gesetzt worden war.
+
+»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf
+herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«
+
+Als sie hinausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln
+in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.
+
+»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns
+auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«
+
+»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben
+wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht. Ich habe ja nichts
+dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen
+drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das
+viele Geld zu verdienen.«
+
+»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade
+ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so
+schön, daß ich's sogar umsonst thäte! Es dürfte dann freilich nicht
+bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. -- Nein, du, in diesem
+heiligen Lande vergesse ich bald, daß ich überhaupt Kraft anzuwenden
+~habe~. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn
+-- ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr
+hierher gepilgert?«
+
+Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.
+
+»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu
+wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische.
+Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch
+mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?«
+
+Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern
+kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers.
+Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehen
+und blickte hinaus.
+
+Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der
+Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren
+Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde
+schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch
+die Kätzchen niederhingen, die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten
+ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach.
+
+Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des
+Jahres entgegen. Einen Augenblick lauschten sie stumm.
+
+Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren,
+fiel die Aehnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker
+dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf,
+breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, dieselbe ein wenig stumpf
+abschließende Nase und derselbe große, im Sprechen und Lachen sehr
+ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften
+sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken.
+Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und
+Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend
+von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das
+in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen
+ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen
+Blauaugen der Mutter finden, und deren blendende Haut, die nur das
+Krankenlager an ihr entfärbt hatte.
+
+Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In
+ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen
+Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen, so
+wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es
+war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals
+von Jonas' Alter unterschied -- einundzwanzig Jahre zählte Erik erst,
+als sein Knabe ihm geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine
+Regung von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll
+genug in sie verliebt, um sie, mitten in seiner leichtlebigen Pariser
+Studentenzeit, frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte,
+ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann band sich an sie, das
+einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen
+Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die
+vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden
+Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gelugt, in dem
+er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach
+England und lebten ein paar Jahre von dem ganz geringen Vermögen, das
+schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen,
+sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen,
+aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem
+Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine
+kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im
+Meer, auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde,
+daß ihre verrückte, glückliche Studentenehe in so stille, geordnete
+Verhältnisse mündete, aber für Erik that es ihr leid. Denn erstens
+war er sicherlich zu viel Größerem berufen, als zu diesem abhängigen
+Stillleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar
+nicht anders vorstellen, als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und
+im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die
+ihn fortriß, und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen
+Menschen des Volkes dastehen sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter
+Prinz. Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch
+schon die Leute verzaubern, bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen
+besser entsprächen.
+
+Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand
+seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn
+ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen, wie in seiner frühern
+Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu
+echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung
+beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet, Grübeleien über
+seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war er
+eine zu aktive Natur dazu.
+
+Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu
+bethätigen, und an die Zukunft, -- an die glaubte er so fest, wie ein
+Kind an Gott.
+
+Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte
+den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals.
+
+Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte.
+Die kunstvoll geordneten Locken, die, statt jeder festen Frisur,
+dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe
+wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn
+geworden, ja, dort hatte sich sogar eine ganz kleine, verheimlichte
+Glatze gebildet.
+
+»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und
+wandte sich vom Fenster.
+
+»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert.
+
+»Ja. Aber deshalb brauchst du mich nicht wieder am Thorweg der
+Mädchenschule abzuwarten und dort herumzulungern,« versetzte Erik
+mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu
+erwidern, trollte dieser sich aus der Stube.
+
+»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel
+lächelnd, und als stände es mit ihren Worten in irgend einer
+Gedankenverbindung, griff sie zwischen allerlei Sachen, die auf einem
+niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten
+Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen
+willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich
+vor?«
+
+Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es
+war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik
+kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch.
+
+»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.«
+
+»Ja, Bel?«
+
+»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen
+Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?«
+
+Er fing an zu lachen.
+
+»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.«
+
+»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?«
+
+»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten
+Frau.«
+
+»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würde ich es nicht
+denken. Glaubst du das von ihr?«
+
+Er sah seine Frau verwundert an.
+
+»Ja, natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch ist ihr nicht der
+geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die
+Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. -- Und es ist gut,
+-- vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden
+anstiftet. Adieu, Bel: es ist Zeit für uns zum Bahnhof.«
+
+Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr
+niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn
+einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest.
+
+Er hielt geduldig still.
+
+»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los.
+
+Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und
+geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte
+Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen
+angelegt; alles andre eher. Aber wenn man ewig so stillliegen mußte,
+immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so
+geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An
+sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt.
+Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche
+Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas, und die gefürchtete
+Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den
+dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte
+meinen können, es seien tausend.
+
+Erik hatte vorhin also gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern
+Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr
+empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund herumging,
+beunruhigte es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber
+sie war blond, und ihr schien es, als ob die Braunen ihn ebenfalls
+interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber
+nur ein einziges Mal erschrak sie, -- schrak förmlich auf aus aller
+bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er
+an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm
+nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich --
+ja endlich that sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging
+ihm heimlich nach.
+
+An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos,
+und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem
+kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in
+Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste
+Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen, wegen
+ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen
+Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung,
+aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn ein feiner, liebevoller
+Menschenkenner sie zum Sprechen brachte.
+
+Es war Frau Larsen, eine lahme, sechzigjährige Frau.
+
+Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem
+Mann. --
+
+Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium;
+gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die
+ziemlich entfernt lag.
+
+Er war in eine vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer
+der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah
+erhitzt aus, behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und
+fächelte sich mit dem Taschentuch.
+
+»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in
+der Stadt ist der Mai schon unerträglich, -- wirklich, -- wenigstens im
+Gehen. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden
+Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß.
+Ohne Uebergänge, ohne Normaltemperatur. Ein möderisches Klima.«
+
+Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den
+Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wieder abkühlen. Erik
+betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden, ungefähr
+gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes
+Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah.
+
+»Ob das meine Zukunft hier ist? -- der Mai unerträglich!« dachte er,
+und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen
+russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und
+gefährlicher wie jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert
+so lange und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön,
+daß man seinen Augen nicht traut.«
+
+»Ja, ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß
+immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen
+Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk, -- immer in
+den Ferien in Deutschland. ~Das~ ist meine Erholung. Da bleibt für den
+Sommer wenig übrig. So geht es uns eben allen -- allen, die wir uns
+geistig überarbeiten müssen.«
+
+Erik schwieg einen Moment, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen
+Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als
+›Geistesarbeiter‹.«
+
+»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, -- weil Sie etwas
+lange in ländlichen Verhältnissen --? aber ich bitte Sie, bei Ihrem
+Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk
+schreiben?«
+
+Erik lachte.
+
+»Nein, so meinte ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein
+wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn
+wir -- der Lehrer vor allen Dingen, arbeitet doch vorwiegend mit
+Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der
+Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.«
+
+»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man
+doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die
+Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie
+vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen haben eröffnen wollen?
+Was war es damit?«
+
+Eriks Augen verdunkelten sich.
+
+»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal
+verweigert.«
+
+»Sehen Sie, -- sehen Sie! das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung
+des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie
+ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit
+gebundenen Händen, -- Sie wissen's doch! Aber mit Einem sollten Sie
+sich wirklich trösten: es ~gibt~ hier ja gar keine Menschen, unter
+denen irgend etwas zünden und wirken kann. Es gibt nur das Volk, zu
+dem wir weder sprechen dürfen noch können, -- und ein Publikum, das
+sich amüsieren will.«
+
+Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die
+Pferdebahn hielt und beide stiegen aus.
+
+»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen!«
+nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam
+einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte,
+sah er ebenso schwerfällig und versonnen aus, wie vorhin hastig und
+zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie
+hatten diese Klasse ja erst im Herbst anzutreten.«
+
+»Es war aber Not am Mann. Auch wollte ich die Mädchen kennen lernen,
+Fühlung gewinnen, ehe ich sie im Herbst ganz übernehme.«
+
+»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist
+entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen.
+Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.«
+
+»Gott sei Dank!« sagte Erik.
+
+»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man
+das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?«
+
+»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast
+bekümmerte Miene seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch
+rechtzeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung.
+Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte.
+Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich
+ließ sie mir nur geben, um mich zu orientieren. Auch habe ich eine
+wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.«
+
+»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der
+Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein
+beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen
+Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Alpdrücken verursachten.«
+
+»Das war nur gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen
+hohen Thorbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten,
+»warum gab er auch Aufsatzthemata, wie zum Beispiel das letzte hier:
+›Ueber das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben
+sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.«
+
+Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen, das von der
+Flurhalle zu den Klassen emporführte.
+
+»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls daran, und das
+ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte
+Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an
+kein Glück gedacht, zu dem man die Schule verlassen haben muß. -- Aber
+hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.«
+
+»Also auf Wiedersehen!«
+
+»Wünsche beste ›Anregung‹.«
+
+Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang, an welchem
+die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines derselben und blickte auf
+seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten
+Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt;
+man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise herumgehen
+und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte,
+stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe
+halberwachsener Mädchen bequem, -- das Kichern und Schwatzen drang
+deutlich bis zu Erik herauf.
+
+In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten
+nur klappte eine Thür oder wurde ein Ruf laut. Aus den zur Hälfte
+niedergelassenen Fensterrouleaux brütete die Sonne und einzelne
+Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen aus den staubigen Pulten.
+
+Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei
+er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren
+dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist
+interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch
+interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den
+Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich
+ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste
+Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender?
+
+Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende
+Mädchengruppe am Brunnen. Diejenigen, welche er von seinem Standort
+sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also
+die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen,
+während er sie so anblickte, -- diese frischen Geschöpfe, die noch das
+Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren ganz bestimmte
+Typen unter ihnen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen
+Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander.
+Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr
+weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, -- sowohl dieser
+schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig
+gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam
+stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich
+kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr
+vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Urtypisches im ganzen,
+wenig Individuelles, -- man konnte sie schon klassifizieren, sie waren
+schon fest geprägt durch ihre Umgebung, in der sie erzogen wurden, in
+der es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks
+Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen.
+
+Unwillkürlich suchte seine Hand zwischen den Heften, als wünsche er
+sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter
+den Aufsätzen, -- etwas höchst Individuelles jedenfalls.
+
+Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Ueber das Glück« trug er die
+Ueberschrift »Seligkeit!« -- und wie ein Sehnen und Jauchzen klang dem
+Lesenden etwas von dieser Ueberschrift aus jeder Zeile entgegen. Er
+war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa
+geschrieben, sondern in Versen, -- in gänzlich unkorrigierbaren und
+wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem
+wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder
+vielmehr: hingeträumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren
+Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort
+und Logik, aber es steckte eine mit sich fortreißende Gefühlsmacht
+darin. Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber
+man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem,
+der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß
+er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige
+Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen aus Gott bezog,
+dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein?
+
+Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und rissen ihn aus
+dem Lesen auf. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie
+sagen: »Er ~muß~ unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie
+nur möglich. Sonst thue ich es nicht.«
+
+»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton.
+
+»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es
+nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.«
+
+»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht
+daran! Er ist und bleibt unglücklich, sage ich euch. Ein für allemal.
+Aber heiraten werde ich ihn nicht.«
+
+Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett
+und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame
+Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen
+wollte und ihn nicht einmal heiratete.
+
+Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern
+so umstellt, daß Erik sich nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von
+unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit
+vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen.
+
+Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand.
+
+Dann sagte ein bildhübscher, dunkelhaariger Backfisch, während er
+herzhaft in einen Apfel hineinbiß: »Ich finde es wirklich komisch
+von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern
+Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch
+das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll,
+so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können, -- meint ihr nicht?«
+
+»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder
+etwas Neues vor, -- vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines,
+blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie
+nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.«
+
+»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrieen sie erwartungsvoll.
+
+»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste
+Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt
+ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu
+deklamieren:
+
+
+ »In Liebesarmen ruht ihr trunken,
+ Des Lebens Früchte winken euch;
+ Ein Blick nur ist auf mich gesunken,
+ Doch bin ich vor euch allen reich.
+
+ Das Glück der Erbe miss' ich gerne,
+ Und blick', ein Märtyrer, hinan,
+ Denn über mir, in goldner Ferne,
+ Hat sich der Himmel aufgethan.«
+
+
+Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte,
+gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht, verklangen.
+
+»Huh!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine
+zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich --«
+
+Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen
+heraus, so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle, daß
+Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte, mitzulachen,
+und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen
+begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es.
+
+»Du hast gar keinen Lebensernst!« sagte die Erste der Klasse strafend,
+eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre
+eigene Sache, und uns mit.«
+
+Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende
+zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den
+›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg
+thun?«
+
+»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so
+glücklich, als ihr wollt.«
+
+»Also denkst du an einen andern?«
+
+Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in
+diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich
+ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt
+in der Sonne.
+
+»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit
+ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen
+gemacht.
+
+Und er sah sie.
+
+Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die
+Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten
+Regenfaß, das, in diesem beliebten Brunnenwinkel, gelegentlich als
+Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde, glanzlose
+Haar offen, so daß es, weich und lockig, in einiger Verwirrung, ihr
+über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, welches es
+wohl am Hinterkopf zusammenhalten sollte, war hinabgeglitten und
+bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und
+Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem
+losen, graublauen Gewande, das keinerlei Aehnlichkeit mit den hübsch
+gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern
+aufwies. Ueber den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel
+kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum
+den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas
+sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges
+Gesichtchen, das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Uebermut
+wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgezogen, die ziemlich
+dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen, wie in beginnendem
+Gelächter oder wie in verlangendem Durst, halb geöffnet, so daß unter
+der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne
+hervorschauten, -- da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf
+in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über
+alle Stränge zu schlagen, -- fast unwillkürlich dachte man sich einen
+Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, -- und der
+Bacchusknabe war fertig.
+
+Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang,
+erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte
+hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat,
+kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit. Zwei Lämmer in
+seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt
+an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und
+Taugenichts.
+
+Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken
+lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort
+durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann
+schwächte der Lärm sich ab, die Klassenthüren fielen ins Schloß;
+hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne
+Lehrer, sämtlich in ihrem dunkelblauen Frack, der an diesen Schulen
+vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder
+blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehen. In Eriks Klasse
+war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen,
+als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick
+lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden
+und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und
+aufmerksamen Augen zu ihm ausschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal
+aus diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand,
+fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die
+ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie
+seinem eigenen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das
+thatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, -- den
+Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen
+wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte,
+einen wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht als eine leblose
+Pflichtmaschine zu absolvieren.
+
+Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte,
+sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind
+zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die
+Fortsetzung viel besser. In Bezug auf einen Aufsatz darin möchte ich
+aber eine Erkundigung einziehen.«
+
+Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen
+ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?«
+
+Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben; sie hatte sich
+bereits erhoben, ehe ihr Name von seinen Lippen fiel.
+
+Er richtete einen bestürtzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe
+aus dem Schulhof.
+
+Jetzt freilich machte sie den kuriosen Eindruck nicht mehr so ganz.
+Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« aus
+ihrem Gesicht störte ihn, -- vielleicht auch, daß sie die Augen
+niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre Erik ihr mit der Hand über das
+Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter
+die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige,
+lachende Junge von vorhin gewesen, -- und das deckte sich so wenig
+mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche
+Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein.
+
+»Unmöglich!« entfuhr es ihm.
+
+Sie sah verwundert auf.
+
+»Doch!« sagte sie.
+
+»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man
+konnte es ihnen anhören, wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren,
+und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden.
+
+»Verse, -- das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie
+keineswegs schön. Ganz im Gegenteil. Aber ein Schulmädchen --«
+
+Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch
+gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und ~eine~ von ihnen
+mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm ein Gedanke: vielleicht
+ist es gar kein selbständiger Aufsatz?
+
+Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz darin.
+Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam
+nachgezogene Linien -- und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei
+den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das
+nicht die Lösung des Rätsels sein?«
+
+Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte,
+und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten
+werde, ihr habe niemand geholfen.
+
+Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft
+niemand.«
+
+Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Gerade so, als
+habe sie unter Thränen gesagt: »Ich bin ja so mutterseelenallein!«
+Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, -- etwas so ganz Neues,
+Unerwartetes, das er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen
+konnte.
+
+Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen
+Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam
+seinen Ausdruck darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die
+Bank, in die Mitte der übrigen.
+
+Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Uebereilung bewußt und
+kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück.
+
+»In der Aenderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine
+auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine
+Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er.
+
+»Er zog sie vor! sie durfte thun, was sie wollte!« schrieen einige.
+
+»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!«
+riefen andre.
+
+»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth.
+
+»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn.
+
+Sie hob die Augen.
+
+»Nein. Nur aus den Stunden.«
+
+Wie beider Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht
+nur die Augen thaten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen, wie ein
+Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren
+Zügen wie ein vorgehaltener Schleier.
+
+Er gab ihr einen Wink, daß sie sich setzen möge.
+
+»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und ab gehend,
+und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob
+für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für beide. Doch setzte er
+rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz
+nicht.«
+
+Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts, keine Bemerkung
+mehr an sie, vermied es auch während der Stunde ihren Namen aufzurufen,
+obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehen wollte. Aber er
+begriff, daß dieses lebhafte Interesse an einem merkwürdigen Kinde,
+wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst
+erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig
+geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihr vor einigen Dutzend
+neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen
+Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch
+er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch
+möglichst daran fest, daß sein eigenes Benehmen ihn nicht verriete,
+wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, -- was doch
+unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut.
+
+Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen
+mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin,
+und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er
+vortrug, sondern merkte sich nur die Art, ~wie~ er vortrug, und die ihm
+eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände
+von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei
+einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie,
+-- und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die
+breite, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein, wie
+ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen,
+kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen
+Ruck zurückwarf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb. Es
+war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie
+förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, -- nur
+ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen; die sahen
+aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte
+sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber
+stützte sie den Mund auf die Hände.
+
+Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen
+mit solchen Aeußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie
+angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach.
+So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von
+ihm unbemerkt.
+
+Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als
+nach Beendigung des Unterrichts ein ganzer Schwarm von Mädchen sich zum
+Heimgehen um sie drängte. Sie hatte diesen Augenblick kaum erwarten
+können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der
+aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den
+Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab
+und bogen in den Newsky Prospekt ein, Ruth voraus und ohne auf sie zu
+achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge,
+auf den Wegen, die Ruth sie führen sollte; aber die Straße war ziemlich
+menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den
+Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen
+sah man Erik herankommen.
+
+»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera
+zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche Geschichten treiben kann. Ich
+glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum. Ja, es ist ganz
+anders, wenn man noch Eltern hat.«
+
+»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging,
+und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein
+schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme
+Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, --
+in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«
+
+»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose
+Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und
+gerade da möchte ich so gern hin.«
+
+»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von
+ihnen etwas unsicher.
+
+Ein schallendes Gelächter erhob sich.
+
+»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre
+nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit.«
+
+»Da kommt er!« sagte Ruth mit einemmal.
+
+Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im
+ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie
+sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die
+Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.
+
+»Hier, der Blonde.«
+
+»Nein! Der Herr im Cylinderhut.«
+
+Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft geradeaus, und einem
+Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger, brünetter Mann,
+im hellen Sommerüberzieher, mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen
+Schnurrbart und mandelförmigen Augen.
+
+Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, -- darüber waren
+alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten, wie ein Meerwunder,
+passierte vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch
+nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn; ganz ernsthaft grüßte
+sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten
+Bekannten.
+
+Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert,
+jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder.
+Ziemlich vertraulich that er das.
+
+Die hübsche Wjera schrie fast aus vor Ueberraschung und Vergnügen; sie
+war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden,
+mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein
+paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt,
+sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf
+dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der
+heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen,
+die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz
+verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln
+zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein
+paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht
+müde, zurückzusehen.
+
+»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem
+Straßendamm los, »es ist geradezu sündhaft!«
+
+»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen
+haben. Ruth hat es gethan. ~Sie~ hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch
+so gleichgültig drauf los geht, als ginge es ~sie~ nichts an.«
+
+»Ja, was schadet es denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas
+betreten.
+
+»Gewiß schadet es, -- abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete
+die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn
+man ein Verhältnis gehabt hat?«
+
+»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine
+zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja
+nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie
+schlagend hinzu.
+
+Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.
+
+»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß
+doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen
+weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle
+Gefahr ist vorbei.«
+
+»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn
+uns nicht zeigen sollen, Ruth.«
+
+Diese zuckte ungeduldig die Achseln.
+
+»Das kann ich nicht ~so~ trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja
+auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.
+
+»Nein, erst mußt du es weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr
+lustig. Gerade als ob man zweimal lebt: einmal zu Hause und in der
+Schule -- und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles gerade so ist,
+wie man es sich ausdenkt. -- Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht
+wieder gehen.«
+
+»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis
+jetzt am Streit nicht beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem
+»Unglücklichen« zu thun gemacht, der irgendwo an einer Straßenecke
+stehen geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal
+interessanter, als all die Phantastereien drum herum. Was hat man denn
+von denen? Sie amüsieren uns nur, weil man uns eingesperrt hält!«
+
+Ueber ihrem Hin- und Herreden beachteten sie es gar nicht, daß sie
+an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren, das heißt, daß die
+meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim
+entfernt hatten. Sie liefen gewohnheitsmäßig mit, wie eine Hammelherde,
+Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen. Jetzt blieb sie
+zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust, nach einer Seitenstraße
+umzubiegen, und der Nötigung, zur gewöhnlichen Stunde bei ihren
+Verwandten einzutreten. Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit, einen
+Vorwurf zog sie sich nicht zu, und was ihr jetzt vorschwebte, war süß
+und lockend gleich einem Frühlingsmärchen.
+
+Aber es gab da etwas andres, das sie zurückhielt: wenn sie jetzt
+hineinging, so blieb sie, wie immer, gänzlich unbemerkt und unbeachtet
+im ganzen Hauswesen; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen
+fortblieb, so wurde sie vielleicht bemerkt, befragt, belästigt. Und das
+entschied.
+
+Wie eines jener kleinen Insekten, welche zum Schutz vor feindlichen
+Mächten die Farbe des Holzes oder des Laubes annehmen, auf dem sie
+sitzen, so verhielt sich, halb unbewußt, auch Ruth gegenüber ihrer
+Umgebung. Es war ihre Art sich zu wehren.
+
+Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand
+hinter den hohen Thürflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes,
+vor dem ein Soldat Wache stand. Eine Abteilung des Kriegsministeriums
+lag darin, nebst mehreren großen Kronswohnungen, von denen Ruths Onkel,
+der Staatsrat war, eine inne hatte.
+
+Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Jetzt erst
+erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend
+eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den
+Droschkenkutschern, welche sofort, laut schreiend und sich gegenseitig
+nach Möglichkeit unterbietend, sie umringten.
+
+Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr; sie hatten sich ausgezeichnet
+unterhalten, sich ordentlich echauffiert! Morgen, wenn sie nach neuer
+Nahrung begierig wurden, kam sie wieder.
+
+ * * * * *
+
+Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt, denn er
+hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden
+zu geben. Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf, die geräumig
+und freundlich, aber vier Treppen hoch lag: dafür konnte man aus den
+Fenstern die Newa überschauen, durch deren blaue, mächtige Wogen
+noch der Ladogasee seine letzten Eisschollen trieb. Sie schimmerten
+durchsichtig im blendenden Maisonnenschein. Ueber seine Aussicht freute
+Erik sich täglich von neuem.
+
+Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen, allerlei zu erledigen
+und eingelaufene Briefe mitzunehmen, denn die Landpost galt als
+unzuverlässig. Heute war er kaum eingetreten, als es klingelte.
+
+Er öffnete die Thüre und blieb mit einem Lächeln neben derselben
+stehen.
+
+»Warwara Michailowna!« sagte er.
+
+»Was ist denn das?« fragte sie, rasch um sich blickend, »schon auf dem
+Lande? umgezogen? allein hier? Ich wußte es nicht! Dann haben Sie also
+meinen Brief -- --?«
+
+»Ich habe ihn gestern hier vorgefunden,« versetzte er, sie in die
+angrenzende Wohnstube führend, wo die Polstermöbel schon ihre
+Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen
+gleich Gespenstern herumstanden. Unter dem runden Sofatisch war der
+Teppich entfernt worden, und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte
+in der Luft.
+
+»Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen -- oder
+bei Ihrer Frau!« sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der
+weißbezogenen Sessel sinken, »trotz Staub und Sonne bin ich also da.
+Ich muß wissen, weshalb Sie nicht kommen wollen.«
+
+Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer
+Frühjahrskleidung, mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie
+in den tiefdunkeln Augen, die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem
+munteren Wesen bildete.
+
+»Ich danke Ihnen!« erwiderte Erik und blickte sie an, »aber Sie nehmen
+mir in der That die Antwort schon von den Lippen: ich wollte wirklich
+nicht kommen. Mich eine Zeit lang ganz auf dem Lande vergraben. --
+Dort können wir ja, wenn Sie erst hinausgezogen sind, so poetisch
+Fangball spielen und Croquet. -- Ich bin diesen Winter gar zu stark ins
+Gesellschaftstreiben geraten.«
+
+»Und was schadet das? Fragen Sie nur Klare-Bel, ob sie Sie nicht auch
+im Gesellschaftsrock am liebsten sieht? Der Salon ist Ihr natürliches
++milieu+. Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister,
+wie sie mitunter mit goldenen Brillen und blonden Vollbärten zu uns
+kommen! Erst seit einigen Generationen hat sich Ihre Familie dort
+niedergelassen -- an der friesischen Grenze irgendwo, -- französische
+Emigranten, -- weiß ich's nicht gut?«
+
+»So weit wollen Sie den Beweis herholen, daß ich in Gesellschaft gehen
+soll?«
+
+Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms
+gegen die Tischplatte.
+
+»Sie sind ein Spötter. Ich wollte nur sagen: bilden Sie sich nicht ein,
+daß Sie zum Schulmeister geboren sind. Trotz der blauen Uniform da, die
+Sie noch anbehalten haben, -- die Ihnen übrigens gut steht, weil es ein
+Frack ist. Sie sind zum Weltmann geboren. Wenn Sie uns -- +mondains+ --
+meiden, thun Sie sich selbst weh. -- -- Ich weiß es. Lachen Sie nicht.«
+
+»Ich lache ja nicht. Sie sind sehr scharfsichtig, Warwara Michailowna.
+-- Vielleicht zu sehr.«
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Sie würden unsrer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen, wenn
+Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden. Habe ich nicht
+recht?«
+
+»Nun, nehmen wir also an, ich will nicht berauscht werden,« sagte Erik
+und kreuzte die Arme; »daß gerade Sie als Versucherin kommen, ist
+freilich schlimm für mich. Ein Glück, daß die Saison zu Ende geht.«
+
+Sie machte einen schmollenden Mund.
+
+»Ich weiß schon. Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher
+Oberflächlichkeit.«
+
+Er widersprach nicht.
+
+Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide, und zwischen ihnen lag,
+unmöglich zu überhören, Warwaras stumme Frage: »Bin ich es, die dich
+berauscht?«
+
+»Sie sind ein Egoist,« sagte sie dann aufblickend, »sonst hätten
+Sie bemerken müssen, daß Sie sich irren. Wissen Sie nicht, weshalb
+ich Sie so gern da habe, mitten unter den Menschen? Weil ich gerade
+ebensogut fühle wie Sie, daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl
+ist, -- inhaltsleer, -- und es mich dennoch berauscht -- wie Sie. Ihre
+Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich. Hand aufs
+Herz! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen? Wir haben eine
+gemeinsame Versuchung.«
+
+Er blickte sie fest an. Sie sprach rasch, ein wenig erregt, mit dem
+weichen, klingenden Tonfall, den er an den Slaven so einschmeichelnd
+fand. Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar, ob sie
+mit ihm kokettierte, oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm
+sprach, als je mit sich allein. Es schien ihr wirklich manchmal -- und
+besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins, -- als triebe ein
+verwandter Zug sie zu einander. Und dann war ihr Erik interessant: als
+Mensch. So, wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist.
+Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie
+einer, der ungeduldig auf Beute ausgeht, und, weil er die ihm gemäße
+dort nicht findet, seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht.
+
+»Also: Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung!« sagte Erik
+wegblickend -- »vielleicht ein Wettkampf, wer ihr besser erliegt?«
+
+Sie erhob sich, um zu gehen.
+
+»Sie haben vielleicht recht zu spotten, und es würde nur sentimental
+klingen, wenn ich antworten wollte: nein! mehr als das, -- eine
+gemeinsame Sehnsucht,« entgegnete sie, dicht neben ihm, der ebenfalls
+aufgestanden war, »Sie haben tausendmal recht. Wir haben ja nie ein
+ernstes Wort miteinander gesprochen. Und ein Mann braucht keinen
+Bundesgenossen. Er kann's allein.«
+
+Sie sprach ganz ernst, es klang beinahe echt, und was sie sprach,
+stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunkeln Augen. Eine
+Minute, -- eine verschwindende Minute lang, fühlte Erik, wie seine
+Phantasie ihm etwas vorgaukelte. Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf,
+über die der Verstand lachte, -- und ein wilder, herrischer Wunsch,
+den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen
+Selbstbetrug wahr zu machen.
+
+Ohne genau zu wissen, was er that, hatte er die Hand ausgestreut; es
+war eine fast befehlende Bewegung, wie ein: »Bleib!« Er sah nichts mehr
+deutlich, er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt, dieser
+Augen, von denen Sehnsucht ausging.
+
+Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die
+Wange. Nicht tändelnd, versuchend. Rasch, heftig, fast gewaltthätig.
+
+Er murmelte halb unverständlich: »Mach es wahr! mach es wahr! laß mich
+nicht aufwachen! Suchtest du mich?«
+
+Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck.
+Sie war selbst berauscht gewesen, einen Augenblick lang, aber die
+Wucht, mit welcher er darauf einging, ernüchterte sie ebenso rasch.
+Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas
+von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm, an die sie
+unvorsichtig gerührt hatte. Nicht wie eine Dreistigkeit die erstaunt
+oder verletzt, empfand sie seinen Kuß, sondern wie eine lähmende Gefahr
+für Leib und Seele, die zu verschlingen droht, was ihr zu nahe gekommen
+ist.
+
+Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht.
+
+Ihr Blick lief über ihn hin. Eigentlich sollte er ihr wie ein Kind
+vorkommen, das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger
+Erwartung, daß es nicht mehr zu spielen vermag. Es zerbricht gewaltsam
+das dargebotene Spielzeug, um zu sehen, was dahinter ist, und bleibt
+mit enttäuschtem Gesicht stehen.
+
+Das wollte sie nicht. Lieber noch gespielt haben, als zu ernst genommen
+werden, -- so ernst, daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen
+Illusionen gemessen würde. Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten
+Gesicht.
+
+Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung. Aber sie weckte auch
+ihn. Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen, daß sie spielte. --
+Seine Erregung verflog sofort. Nur etwas Spott blieb in den Augen und
+um den Mund zurück. Spott über sich selbst.
+
+Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül. Fast ungehindert schien
+die Sonne durch die dünnen, weißen Fenstervorhänge, und mißtönend
+klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf.
+
+Warwara war langsam in den Vorflur gegangen, und Erik geleitete sie an
+die Hausthür. Sie wechselten kein Wort miteinander.
+
+Erst an der Thür wandte sie sich um zu ihm und maß ihn mit einem
+sonderbaren Blick, den er nicht verstand. Bedauern lag darin, aber auch
+Ablehnung, eine kleine Ueberlegenheit über ihn, den Mann, und dann noch
+etwas, wie ein ganz leises Eingeständnis: »Ich möchte wohl die sein,
+die du brauchst, und die dich sättigen könnte, du Wilder. Aber ich
+bin's nicht.«
+
+»Ich nehme an: Sie kommen nicht,« bemerkte sie dabei zerstreut.
+
+»Mit Ihrer Erlaubnis: nein!« entgegnete er, und sann dem Blick nach.
+
+Die Thür fiel ins Schloß. --
+
+ * * * * *
+
+Ruth war pünktlich um vier Uhr, zur festgesetzten Mittagsstunde, im
+Speisesaal erschienen, der, hoch und groß, mit dunkeln Mahagonimöbeln
+ausgestattet, in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag. Sie hatte
+ihren äußern Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt, wie der
+Onkel, die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten, und saß
+schweigsam auf ihrem Platz am Tisch, den ein Diener in weißbaumwollenen
+Handschuhen geräuschlos bediente. Während des Essens, das die
+Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte, blieb die Unterhaltung
+recht einsilbig. Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche, und
+seine Frau hatte genug damit zu thun, ihn mit den richtigen Stücken zu
+versorgen.
+
+Erst als die Mundspüler von grünem Glas, die kein Mensch benutzte, vor
+jeden einzelnen niedergesetzt waren, und vor der Tante die silberne
+Kaffeemaschine stand, auf der sie den Kaffee immer eigenhändig
+bereitete, wurde es ein wenig lebhafter bei Tisch. Darauf schien Ruth
+nur gewartet zu haben. Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte
+verschwinden.
+
+»Gehst du schon auf dein Zimmer, mein Kind?« fragte die Tante, »dann
+sieh dich mal darin um. So unordentlich, so wenig zierlich sollte es
+bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen.«
+
+Ruth machte eine Armesündermiene. »Ich will wunderschön aufräumen,«
+sagte sie eilig; »darf ich dann bis zum Thee noch einmal fortgehn?«
+
+»Bis zum Thee? Ist es denn etwas so Dringendes?«
+
+»Es ist etwas Dringendes,« sagte Ruth. Der Onkel sah auf.
+
+»Zu wem willst du denn gehn? Es ist wohl jemand aus der Schule?«
+
+»Ja,« erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Thürgriff, den sie schon in
+der Hand hielt.
+
+»Sage dem Diener, daß er dich begleitet und dort auf dich wartet.«
+
+Der Onkel blickte ihr nach, wie sie leise die Thür hinter sich schloß.
+
+»Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch,« meinte er dann, seine
+Cigarette anzündend, »ich kenne niemand, der weniger verlangt und sich
+weniger bemerkbar macht als sie.«
+
+»Weil man ihr alles gewährt,« ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen
+Stimme, die den baltischen Accent noch unangenehmer hervortreten ließ.
+Sie war eine Baronesse aus Livland.
+
+»Alles? nun weißt du, ein andres Kind würde nicht so zurückhaltend
+sein. Sie weiß zum Beispiel: dies ist die Stunde des intimsten,
+ungestörtesten Beisammenseins, -- und immer geht sie fort. Aber mit
+knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.«
+
+»Nein, das thut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt
+uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal
+denke ich: sie ist vielleicht herzlos.«
+
+»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses
+nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in
+der Pension loben und zurückverlangen.«
+
+»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär.
+Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin
+es gerade, die deswegen für Ruths Uebersiedlung zu uns gewesen ist. Wir
+sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht
+und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von
+vlämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und die
+Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.«
+
+Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für
+seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen
+»diese Leute« waren, -- während für ihn, gerade umgekehrt, die
+Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur
+die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich
+vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem
+französischen Namen und den sowohl deutschen wie slavischen Elementen
+in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie
+eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte.
+Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten
+seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt.
+
+»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen, Mama,« bemerkte
+die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man
+doch so gut in die Welt geführt werden wie hier.«
+
+»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel
+lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften
+begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn und
+macht sich nichts daraus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht
+noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit
+dir, Liuba.«
+
+»Nun bist du wahrhaftig im stande und setzest dein eigenes Kind
+für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen
+scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien
+reisen!«
+
+»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch
+ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein. Als eine der
+unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre
+unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, gegen die es niemals einen
+Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser
+gänzliche Mangel an Humor.
+
+Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich
+verdorben. --
+
+Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch
+den unschuldigen Störenfried spielte, ja, sie hatte im Augenblick
+vielleicht fast vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien
+oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo sie sich befinde. Die
+Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging
+sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den
+Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank
+während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet,
+und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mir ihren
+Gedanken nicht recht ins reine kommen.
+
+Nach einer Weile blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn
+und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit
+ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag,
+wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies
+gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend
+wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift
+der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches
+kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und
+sogar einer Nippesetagère, auf der ein gläserner Mops stand. Aber
+es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut
+eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten
+etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und
+träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich auch zu dieser
+Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.«
+
+Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen
+Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine
+Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube
+neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer
+putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer
+im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als
+Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, singen und schlafen waren
+seine liebsten Beschäftigungen. Wie er Ruth rufen hörte, schlüpfte er
+eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Hausthür.
+
+Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort
+entließ sie ihn.
+
+»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm,
+als er mit gezogenem Hut an der Waggonthür stand, »aber um neun Uhr
+mußt du mich hier wieder erwarten.«
+
+Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine
+kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine
+kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten«
+gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite
+Welt hinauffahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele
+Betrunkene auf den Straßen gab.
+
+»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und
+kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig aus sein Vergnügen zu
+verzichten.
+
+Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast
+treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf.
+
+»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehen!« sagte sie feierlich.
+
+Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh
+ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang
+vor, als führe sie wirklich weit -- weit, in eine ganz andre Welt.
+Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach
+dem richtigen Wege durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zu Mut.
+Was ihr vorgeschwebt hatte, -- zwingend, unwiderstehlich, -- war
+ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran
+herummalte, schien alles sich ihr von selbst zu verwirklichen. Das
+Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den
+Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen,
+wenn alles sich auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie
+man es sich eben träumen läßt.
+
+Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, wie sie endlich dem
+Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich
+und befinde sich todesallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche
+Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit und wie gelähmt blieb sie
+am Gartengitter stehen.
+
+Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn
+die Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und
+daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie
+sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt.
+
+»Die Augen zumachen -- fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das
+durfte sie nicht. Ihren eigenen Willen durfte sie ganz gewiß nicht
+hinterdrein im Stich lassen.
+
+Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun.
+
+Und leise -- leise, mit werbendem Klang, lockte aus der Tiefe des
+Gartens die zweite.
+
+Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben
+entzückt darauf haften.
+
+»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut.
+
+Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie
+sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Wege vom Bahnhof,
+unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße
+Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig
+Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten,
+unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier
+mußte er kommen; und nun stand sie dicht am Gitter, hinter welchem er
+blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er
+mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie
+ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war
+fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskam.
+
+Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand
+stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei.
+
+»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend. --
+
+Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im
+Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau
+lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages. Voll
+Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in
+der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig.
+
+Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt. »Papa! da ist jemand, der
+dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer
+geführt.«
+
+»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur thun! Da drin
+muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik!
+bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!«
+
+Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort.
+
+Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth
+mitten in demselben, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die
+Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wieder der des
+Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt
+hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehen sah und sie ihm mit
+großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr
+an den ausgelassenen Jungen im Schulhof.
+
+Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines
+unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas
+Freundliches sagt. All dies Gethue kam ihm wie zu einer andern
+Welt gehörig vor, -- jedes konventionelle Wort vergaß er dieser
+schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt
+gegenüber. Es war, als stände sie auf einer einsamen Insel, am weiten
+Meeresstrande, ganz allein vor ihm -- ein Kind aus dem Volke -- und
+ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen.
+
+Ganz unwillkürlich, aus diesem Eindruck heraus, fand er nur das Wort
+der Freude: »Kommst du zu mir?«
+
+Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser
+Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende
+Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, -- sie umwandelte zur
+traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte.
+
+Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr
+ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren
+Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!«
+
+Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte
+ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel
+ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck
+übermütiger Lebenslust, den er an ihr gesehen, darüber wegtäuschte.
+
+»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte aus dem schmalen
+Gesichtchen.
+
+Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie
+ein Vogel, auf den eine fremde Hand sich legt.
+
+»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kamst? Sage mir,
+weshalb du kamst.«
+
+Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief
+sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten
+Schuleindruck an, -- aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren
+wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen. Sie versuchte, die
+Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein
+unmöglich.
+
+Und plötzlich brach Ruth in Thränen aus.
+
+»Mein liebes Kind!« sagte er sanft, und strich ihr das lose, lockige
+Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann
+nahm er ihre Hände wieder in die seinen.
+
+»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er.
+
+»Ja!« sagte sie leise.
+
+»Unbedingtes?«
+
+»Ja!« sagte sie wieder.
+
+»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal
+ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.«
+
+Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper
+ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr
+gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun
+sage mir, weshalb du kamst. Sage es, so gut du kannst. Versuche es nur.
+Ich werde dir helfen.«
+
+Sie seufzte und begann unsicher. »Ich komme nun bald nicht mehr in die
+Schule --«
+
+»Nein. Ich weiß. Und --?«
+
+»Und da mußte ich hierher.«
+
+Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern
+hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!«
+
+Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Nie noch meinte er eine so
+tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben, wie diesem Kinde
+gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen,
+wie auf etwas, das ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß
+er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten
+ließ.
+
+»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er.
+
+»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!«
+
+Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus
+und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagte
+»Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem
+Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen.
+
+Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen
+Plan.
+
+»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei
+Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend,
+»wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei
+mir nehmen?«
+
+Sie nickte eifrig.
+
+»Gut. Wir würden also miteinander arbeiten,« -- und in leichtem Tone
+setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen?
+In dem Aufsatz da, -- der hat uns ja zu einander geführt, nicht wahr?
+-- nun, da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen
+so ungeordneten kleinen Kopf, mit so krausen, wilden, unfertigen
+Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du
+das wohl?«
+
+Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du
+wirst es schon ordnen und entwirren!«
+
+Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein
+scheuer, kleiner, mattgeflogener Vogel, der sich hilflos verflattert
+hat, und sich mit einemmal in einemn weichen Neste findet.
+
+Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und durch den feinen Nebel
+hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg,
+fielen ihre Strahlen beinahe rot, wie flüssiger Purpur. Die beiden noch
+vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus.
+
+Ein herber, frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen
+Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der
+Nachtigallen.
+
+Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung.
+
+»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann
+war, den du auf der Straße grüßtest?«
+
+Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte
+es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen
+verräterisch zwei Schelmengrübchen.
+
+»Ich -- -- -- ach, der! Den kenne ich ja gar nicht.«
+
+»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie
+kam denn das?«
+
+»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer, und überlegte, »-- es
+ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich habe ihn mir ausgesucht,
+aber er weiß ja nichts davon.«
+
+»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehen,«
+sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich
+deutlicher. -- Nun?«
+
+»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es
+war eine bloße Geschichte, -- die wir untereinander spielten, -- im
+Schulhof, in der Frühstückspause, -- und da mußte jemand vorkommen, der
+ungefähr so aussah. Und da -- habe ich mir diesen ausgesucht, weil es
+schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.«
+
+»Aber was sollte er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du
+ihn zuerst grüßtest?«
+
+»Das mußte ich ja thun! Wie sollte er sonst wissen, was er zu thun
+hatte? Ob er grüßen durfte?«
+
+»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn
+das nicht überlegt?«
+
+Sie sah erstaunt auf.
+
+»Das durfte er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt.
+Er mußte edel und unglücklich sein.«
+
+Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt
+auf sie.
+
+»In eurem kindischen Spiel -- ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er
+langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst
+du das nicht auseinander halten? Das mußt du können, Ruth! Und nun
+sage mir, was du gethan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle
+gefallen wäre?«
+
+Sie dachte nach.
+
+»Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.«
+
+»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zumachst?«
+
+»Ich? Nein! aber doch er. Denn dann hätte ich ja einen andern suchen
+müssen.«
+
+»Einen andern?!«
+
+Sie nickte.
+
+»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig.
+
+»Und das hättest du wirklich gethan? Besinne dich mal! Wäre es dir
+wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist
+dein Benehmen war?«
+
+Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf.
+Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht
+begreifen, was dieser fremde Mann, außerhalb seiner Rolle, sie kümmern
+sollte?
+
+»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir!« rief sie mit kläglichem
+Gesicht.
+
+Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor
+Ruth stehen, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte.
+
+»Sage mir, gibt es mehr solcher fremder Menschen, die du auf der Straße
+grüßest?«
+
+»Ja. Alle Straßen sind voll davon.«
+
+»-- Männer --?« fragte er zögernd.
+
+»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen,
+Kinder, alte Leute.«
+
+»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«
+
+»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am
+liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre
+Geschichten, -- viel, viel schönere, -- wunderschöne,« fügte sie
+lebhaft hinzu, -- »und die mit Kindern sind nur die liebsten.«
+
+»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Sie finden sie nicht schön!« sagte Ruth traurig.
+
+Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und
+neigte sich ein wenig vor.
+
+»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst, »aber
+alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht
+hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen
+phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen
+Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur
+mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören.
+-- Wirst du es bedingungslos und gehorsam thun?«
+
+Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte
+es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach
+Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch
+einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm
+so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt
+dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes
+wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und
+kniete bei Erik hin, -- wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz,
+erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.
+
+Sie fühlte sich so glücklich. Zu Hause. Geborgen. Von hier aus mußte
+alles Gute kommen.
+
+Er strich ihr leise über das Haar. »Also höre unsern Vertrag zu Ende,«
+sagte er in dem ruhigen Tone, unter dem sie ganz still wurde und
+lauschte, »wenn du mir deine Geschichten schenkst, dann schenke ich dir
+auch etwas. Du sollst, soweit es an mir liegt, nicht in deiner eigenen
+Phantasie stecken bleiben, sondern mit klarem Blick so weit schweifen
+lernen, wie das Leben -- das wirkliche, herrliche Leben -- reicht. Und,
+wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte, meinst du
+nicht, daß ich dich damit etwas Schöneres lehren werde, als du bisher
+dir geträumt und zusammengedichtet hast?«
+
+»Ach ja!« rief sie sehnsüchtig, als strebe sie verlangend beide
+Hände nach etwas Erwartetem aus, -- »das ist sie ja: von allen die
+allerschönste Märchengeschichte!«
+
+Ihm fiel der Ausdruck auf, weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen
+gegenüber gebraucht hatte.
+
+»Gerade das sagtest du ja, als du heute morgen den Mädchen erklärtest,
+daß du etwas Neues vorhabest. Was war es denn?«
+
+Zu seinem Erstaunen fuhr Ruth zusammen, und senkte den Kopf.
+
+Erik sah betroffen aus.
+
+»Was war es?« fragte er streng.
+
+»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.«
+
+Er faßte ihre Hand hart im Gelenk, so daß es sie schmerzte.
+
+»Wenn es etwas ist, was dir so schwer fällt, auszusprechen, dann ist es
+um so notwendiger, daß du es sagst. Ich muß es wissen, -- jetzt gleich,
+Ruth.«
+
+Sie versuchte, die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen, und als
+es ihr nicht gelang, senkte sie das Gesicht noch tiefer, so daß es sich
+an seinem Rockärmel fast versteckte.
+
+Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht. Es war über und
+über in Glut getaucht.
+
+»Es hilft nichts, sich zu verstecken,« sagte er unerwartet sanft, »du
+wirst mir immer nachgeben müssen, mein Kind. Mach es kurz!«
+
+Ihre Hände schlangen sich nervös auf seinen Knieen ineinander, dann hob
+sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf.
+
+»Es war nur, -- ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt;
+alles stockte auf einmal, -- nichts mochte ich mir weiter ausdenken. So
+schön ich es mir auch ausdachte, mit so vielen Menschen drin ich es nur
+auch ausdachte, -- ich blieb immer allein. Die Menschen grüßten, und
+gingen vorüber. Und da -- da kam eine solche Sehnsucht, -- seit vier
+Tagen solche Sehnsucht. Ich konnte nicht mehr spielen. Nie mehr.«
+
+»Sehnsucht -- wohin?« fragte er halblaut.
+
+»Hierher!« sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg.
+
+Er ließ ihn frei, ließ zu, daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel
+versteckte.
+
+Beide Arme hatte er um sie geschlungen.
+
+
+
+
+ II.
+
+
+Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und
+Handschuhe auf den Knieen und blickte nachdenklich darauf nieder,
+während er dem Gespräch der beiden zuhörte.
+
+»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte
+der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist
+Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohnedies nicht, was
+die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die
+meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.«
+
+Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde
+stark durch dieselbe beeinflußt. Der Onkel, mit seinem aschblonden,
+schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen
+Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und mit seinen frauenhaft
+feinen Händen, gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte
+er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine
+ausgesprochene Antipathie.
+
+»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären jetzt
+auch durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte
+er aufblickend; »sie muß zu thun haben, -- wirkliche Arbeit
+und Anstrengung muß sie haben. Selbst körperliche oder geistige
+Ueberanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In
+diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am
+meisten.«
+
+»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem
+Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man läßt sie viel zu viel gewähren.
+Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.«
+
+»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen
+Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie
+doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?«
+
+»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du mir wirklich nicht
+vorzuhalten, -- es ist ja gerade, als ob ich Ruth Dinge verrichten
+ließe, die sich nur für den niedersten Dienstboten schicken!« sagte
+seine Frau, die scherzende Uebertreibung unerbittlich ernst nehmend,
+»aber ein wenig sich im Häuslichen umsehen, -- das hätte Ruth ganz wohl
+können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der
+Beruf der Frau.«
+
+Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große,
+stattliche Erscheinung der Tante, an der es ihm charakteristisch für
+ihr ganzes Wesen vorkam, daß die ihr gewohnten guten Formen des äußeren
+Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht verdecken
+konnten.
+
+»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie
+sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von
+allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹,
+bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall
+eine gleichgültige Spielerei, -- im schlimmern Fall weckt sie die
+Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätte ich gegen das
+Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.«
+
+Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau
+gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muß bekennen,
+daß ich gar nicht begreife, warum sie alle beide so versessen darauf
+sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich habe ich nicht das Geringste
+gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen,
+-- im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie
+doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch
+auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht
+zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer
+Faulheit vergnügt zu sein.«
+
+»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton,
+»Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem
+selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch
+zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem
+Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung
+gesehen. Wenn dieselbe nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft
+Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.«
+
+Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf.
+
+»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst
+praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie
+eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt
+und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur
+wissen, wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst
+ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann
+Liuba gar nicht mitkommen.«
+
+Seine Frau sah ihn verletzt an.
+
+»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt, »Liuba würde
+nicht umhergehen, wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es
+so am bequemsten ist. Und überhaupt, -- denken Sie nur, neulich höre
+ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›paß nur auf; wenn du ein Jahr
+älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und häßlich ist, und
+wirst am Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ -- -- Mein Gott, Sie
+wissen ja, wie junge Mädchen so untereinander reden! Aber was antwortet
+Ruth darauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht
+lieber: wie gefällt er mir?‹«
+
+In diesem Augenblick ging die Thür auf, und Ruth trat ein.
+
+Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, daß sie Besuch vorfinden
+würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde
+glühend rot. Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der
+Ihrigen, die ihr so fern standen, -- die unerwünschte Vermischung
+eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und
+floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie
+wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben
+niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; -- etwa so, wie wenn
+man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des
+Pöbels übersetzt findet.
+
+Daß Erik herkommen, daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten
+auseinandersetzen mußte, das fiel ihr nicht im geringsten ein. Er
+hätte das schon so einrichten müssen, daß es eine Angelegenheit aus
+einer andern Welt -- aus ~ihrer~ Welt blieb. Lieber noch wäre sie dann
+des Nachts, heimlich, und auf bloßen Füßen bis zu ihm hingelaufen.
+
+Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und
+mit scheuem Gesicht, in die Thürspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit
+empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham,
+-- Scham darüber, daß etwas Zartes, ihr Zugehöriges, vor fremden Augen
+herumgezeigt und besprochen wurde.
+
+»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend,
+»kannst du nicht näher kommen?«
+
+Da that sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände vor die Augen, und
+so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind,
+das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den
+geschnitzten, runden Sofatisch, um den sie saßen.
+
+Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte
+strafend: »Ein so großes Mädchen!«
+
+Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte
+sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er
+die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich
+heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie.
+
+Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu
+Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so
+dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz
+anders -- hier, an dieser Stelle, -- es klang wie die Anrede, die man
+einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen dasteht.
+Ja, sie stand ihm und den andern ~gegenüber~, und sie verhandelten da
+über sie, als wäre sie verraten und verkauft, -- als handle es sich gar
+nicht um ihre -- ~ihre~ eigene, ~eigenste~ Angelegenheit.
+
+Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft.
+
+»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte
+der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es
+aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab'
+ich dich noch nie gesehen.«
+
+Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr
+abzulenken.
+
+»Wir wollen schon mit einander zurechtkommen,« sagte er mit warmer
+Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und
+Stunde des geplanten Unterrichts.
+
+Ruth stand teilnahmlos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu
+beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte
+einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie
+blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster
+des Parkettfußbodens.
+
+Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie
+ihren Onkel sagen: »Also, wenn es Ihnen wirklich kein zu großes Opfer
+ist, erwarten wir Sie jedesmal hier, am Nachmittag, nach Ihren
+Schulstunden!«
+
+»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie
+aufwachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum
+andern; »~hierher?~ das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinauskommen.«
+
+Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine
+Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch.
+
+»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich
+bei, »und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns
+verbringen will, so wäre es in der That während dieser Sommertage
+vorzuziehen.«
+
+Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie
+vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so
+peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch
+auf ihn überzugehen, als ahne oder begriffe er plötzlich ihre zornige
+Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen,
+fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit
+einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen,
+als in seinem eigenen, stillen Zimmer, -- dort, wo sie zu ihm gekommen
+war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall
+zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie
+sich ersehnt und erträumt hatte.
+
+Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante
+hinausging, blieb Ruth regungslos stehen, die Hände auf dem Rücken,
+den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im
+Flur hörte sie die Hausthür gehen, dann einen raschen Schritt auf der
+steinernen Treppe. Darauf wurde es ganz still.
+
+Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von
+blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und
+Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den
+vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen
+Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten.
+
+Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, auf dem Erik vorhin gesessen hatte.
+Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf
+darauf.
+
+Und dann fing sie an bitterlich zu weinen. --
+
+Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte
+ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in
+ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht
+wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch
+nicht. Er war doch kein Hellseher.
+
+»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis
+plötzlich ärgerlich.
+
+»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick.
+
+»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das thut ja jeder Mensch.
+Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?«
+
+»Jetzt eben dachte ich an Großpapa,« sagte Ruth.
+
+Darüber freute sich ihr Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte
+seinen Vater unendlich lieb gehabt.
+
+»Du warst erst fünf Jahre, als deine Eltern starben, und du damals
+hierher kamst; erinnerst du dich denn seiner noch?«
+
+Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und
+deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein
+schneeweißer, großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen
+-- Kinderaugen eigentlich.
+
+»Einmal hob er mich aus dem Bett -- er sah so schön aus, mit Bändern
+und Sternen, und blitzte über und über, -- und da kam seine brennende
+Cigarette an meinen bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm
+Thränen in die Augen -- aber wirkliche, große Thränen, so daß die
+Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und
+küßte mich, -- auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den
+ganzen Körper. -- So war Großpapa. -- Jetzt würde ich mir gern den Arm
+abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte
+sie wild hinzu.
+
+Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie
+vergessen können.
+
+»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte
+darüber nach, was er ihr schenken könnte.
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom
+Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten
+goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider
+von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da habe
+ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich habe es noch. -- Und so
+sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.«
+
+Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so
+sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider
+aus Seidenpapier -- das waren doch sicherlich normale und harmlose
+Phantasien eines Kinderkopfes. --
+
+Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde
+fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr
+zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehme ich dich in Schutz!«
+--
+
+Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr
+nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht
+mehr so lange einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging
+geradeaus -- nicht hinten die Terrasse hinauf und in das Haus, sondern
+weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt
+hatte.
+
+Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen
+zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar
+keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen.
+
+Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf
+und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er
+die Jacke abgeworfen.
+
+»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach
+seiner Jacke, die auf dem Rasen lag.
+
+»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den
+dicken Stamm einer alten Ulme.
+
+Daraus wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige
+Augenblicke.
+
+»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken,
+und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Aesten
+empor, die über ihr rauschten.
+
+Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts.
+
+»Wo ist das schöne?« fragte er verwundert.
+
+»Diese kleinen, drolligen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon
+viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den
+Knospen -- und alle miteinander an den Zweigspitzen, -- als getrauten
+sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den braunen,
+klebrigen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht
+aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut?
+Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie
+wieder wegfliegen.«
+
+»Sie fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder
+seinen vermeintlichen Raupen zu.
+
+»Nein. Nur diese hier thun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand
+gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung
+die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten.
+
+»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von den roten,
+durchsichtigen,« meinte Jonas, »denn die esse ich am liebsten. Sonst
+haben wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen.«
+
+»Sie sehen ebenso schön aus,« entgegnete Ruth; »wenn man am Gitter
+steht, sieht es aus wie ein Märchen. Aber später werden sie so grün und
+natürlich wie die andern Bäume. Nur kleiner.«
+
+»Das muß so sein,« erklärte Jonas gleichmütig, »sonst würde der
+Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen. Und der ist das Beste
+vom Sommer. Denn gerade hier, am Springbrunnen unter den Obstbäumen,
+liegt meine Mutter im Ruhestuhl. Und sie kann die viele Sonne nicht
+vertragen.«
+
+Ruth sah ihn mit Interesse an. Es kam ihr als etwas Besonderes vor, daß
+er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten
+freute und die grünen Blätter besser fand, als all die wunderschönen
+weißen Blüten. Die Schulmädchen, die sie kannte, besaßen zwar
+meistenteils auch Mütter, aber die pflegten gesund zu sein, und nie
+hatte sie gehört, daß sie sich derentwegen auf den Sommer freuten,
+sondern immer nur wegen der Ferien. Und dann waren es Mädchen. Dies
+hier aber war ein Junge.
+
+Sie betrachtete Jonas genauer, und er gefiel ihr sehr gut. Und auch er
+sah jeden Augenblick zu ihr hinüber, und auch sie gefiel ihm über die
+Maßen.
+
+»Ist sie sehr krank?« fragte sie nach einer Weile zaghaft.
+
+»Nicht sehr. Sie kann nur nicht aufstehen, -- schon viele Jahre nicht;«
+belehrte er sie, »wenn sie das thun will, dann nimmt Papa sie in die
+Arme und trägt sie. Das kann er so prachtvoll. Manchmal hat sie auch
+Schmerzen, und weint. Und dann muß Papa immer bei ihr sein, und das
+hilft ihr.«
+
+Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu, wo die kranke Frau
+lag, und wo er war, der sie trug, und der ihr half, wenn sie Schmerzen
+hatte.
+
+»Hinter diesem Fenster,« sagte Jonas und wies mit der Hand über die
+Terrasse nach dem Wohnzimmer; »da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen
+hineingetragen worden.«
+
+Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu
+sehen, der ihnen den Rücken zukehrte. Und nun wandte er sich langsam
+um.
+
+Ruth löste sich ein wenig hastig vom Stamm, an dem sie lehnte. »Jetzt
+will ich hineingehen,« sagte sie.
+
+Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten
+sehen, war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und
+hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt, wo sie
+mit Jonas stand und plauderte.
+
+Klare-Bel lag neben dem Fenster, mit einer mühsamen und kunstvollen
+Handarbeit beschäftigt, die darin bestand, an einer schadhaft
+gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen. Man nannte diese
+Arbeit in Holland »Maazen«. Und wer es ernst damit nahm, der wollte das
+»Maazen« bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt
+wissen.
+
+»Kommt Ruth noch immer nicht herein?« fragte sie nach einer langen
+Pause.
+
+Er zog die Uhr.
+
+»Nein. Noch fehlen einige Minuten an der Zeit,« bemerkte er einsilbig.
+
+»Das ist doch eigentlich kein Grund, nicht hereinzukommen, wenn sie
+einmal da ist. Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und
+plaudert mit Jonas, als daß sie im Zimmer sitzt und lernt, Erik. Das
+ist am Ende auch ganz natürlich.«
+
+Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre
+Handarbeit nieder. Erik konnte das »Maazen« nicht leiden. Er
+behauptete, es verdürbe die Augen, und sogar den Charakter.
+
+»Bitte, hör' jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf,« sagte er und
+nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand, »ich weiß nicht, -- das Zeug
+macht nervös.«
+
+Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr.
+
+Ihm war die Ahnung gekommen, daß es doch nicht so ganz von selbst
+gelingen werde, bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen, wie er
+es sich an jenem wundersamen Maiabend gedacht. Sie wollte durch
+keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung seinerseits in ihrem
+selbständigen Traumleben gestört werden, und erhob sie ihn auch zum
+Helden ihrer »allerschönsten Märchengeschichte«, so mußte er sich dabei
+doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen, --
+sonst entglitt sie ihm leise wieder, so leise und traumhaft, wie sie in
+sein Leben gekommen war.
+
+Das durfte nicht sein; der Erzieher in ihm litt es nicht, daß ihm
+mißlinge, was er sich mit Ruth vorgenommen hatte. Er wußte: er würde
+nicht eher ruhen, als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte. Aber
+welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben!
+
+Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige
+Freude. Freude über den Kampf, der ihm mit Ruth bevorstand. Erik,
+der andre weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte
+gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein
+jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte.
+
+Er wandte sich dem Garten zu.
+
+»Jetzt kommt sie!« sagte er, und wirklich, es klang wie ein Seufzer der
+Erleichterung.
+
+Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf.
+»Nun, viel Erfolg, Erik! Vergiß nur nicht, daß wir um neun Uhr den Thee
+nehmen. Du wirst sie hungrig und durstig machen, denke ich mir.«
+
+Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen und öffnete schon
+von innen her die Thür, als Ruth kam und anklopfen wollte.
+
+»Endlich!« bemerkte er, während sie eintrat, »weißt du, Ruth, was meine
+Frau soeben meinte? Sie meinte, du seiest gewiß viel lieber mit Jonas
+draußen im Garten, als bei mir hier in der Stube. Was sagst du dazu?«
+
+Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in
+den Ledersessel, der am Fenster stand. Dann erwiderte sie mit
+niedergeschlagenen Augen: »Ich bin doch gekommen, weil ich wollte, --
+nur weil ich's wollte. Daß Jonas auch hier ist, wußte ich doch gar
+nicht. Das ist ja nur Zufall. Den fand ich hier.«
+
+Er wußte nicht gleich, was ihn an der Antwort, die keine war,
+überraschte. Sie betonte ausschließlich, daß sie ganz aus freien
+Stücken hier sei. Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar
+nicht ein.
+
+»Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt, mein liebes Kind,«
+sagte er, an seinen Schreibtisch tretend, und legte einige Hefte und
+Bücher zurecht, »denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehen
+wirst du ja in der Folge nur, wenn du ›willst‹, das heißt, wenn
+Stimmung und Laune dir zufällig danach stehen. Hier hingegen, wo du
+freiwillig hergekommen bist, kann es doch nicht ganz so bleiben. Hier
+wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten, das vom
+Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist. Also auch etwas, wovon
+du manchmal denken wirst: ›ganz so möchte ich's nicht, -- ganz so
+meinte ich's nicht, -- dies da soll anders sein, -- das da soll heute
+nicht da sein‹. Ist es nicht so?«
+
+Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes Gesicht. Es war
+ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen, was er da sagte.
+Aber daß er das wissen konnte, kam ihr sehr unangenehm vor.
+
+Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze, die sie aufbehalten
+hatte, vom Haar.
+
+»Nun, Ruth, gestern hast du mich nicht ansehen wollen, und heute willst
+du mich nicht anreden. Hältst du so unsern Vertrag? Und ich hoffte
+bestimmt, daß du mir viel erzählen würdest. Viel -- alles. Alle deine
+schönsten Geschichten.«
+
+»Nein,« erklärte Ruth, »nie und nimmer. Ich will nichts erzählen. Ich
+will alles für mich allein behalten.«
+
+»Du Geizhals!« sagte er und lachte, »das ist sehr schlimm. Ist es nicht
+schlimm, wenn man einen zu Gaste geladen hat und dann die Hausthüre
+vor ihm zuschlägt? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr, Ruth.
+Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt? Hast du das vergessen?
+Nun sind sie mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will.
+Ich kann sie dir aus dem Kopf herausnehmen und für mich ganz allein
+behalten.«
+
+»Ach nein!« fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach
+ihrem Kopf, »das geht ja gar nicht. Es geht nicht, wenn ich nicht
+will.«
+
+»Du spricht so viel von deinem Willen, Ruth. Und daß du nur hier bist,
+weil du gerade willst. Aber weißt du denn eigentlich auch, ~wozu~ du es
+willst?«
+
+Sie stutzte und blickte auf. Als sie nicht gleich eine Antwort fand,
+fügte er hinzu: »Ich weiß es für dich: du wolltest eben diesen Willen
+klären und erziehen lassen von jemand, der dich lieb genug dazu hat.
+Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu.«
+
+Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels, und ihr Gesicht
+wurde noch ablehnender. »Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte!«
+dachte Erik, sie betrachtend. Aber hinter diesem Visier arbeitete eine
+steigende Erregung in ihr. Die passive Stimmung, in der sie heute
+hergekommen war, hielt unter Eriks Andrängen nicht stand, aber noch
+weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten
+Abends wieder zu erhaschen. Sie verschloß und verbarg sich daher
+instinktiv vor ihm, wie vor einer Macht, die man sich erst genau
+ansehen muß, ehe man sich mit ihr einläßt.
+
+»Alles ist heute anders!« murmelte sie.
+
+»Es wird immer anders sein, als du es dir willkürlich ausmalst,«
+entgegnete er in ruhigem Ton, »und das soll es auch, Ruth! Es soll zu
+ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie. Siehst du, auch ich habe
+mir etwas Schönes ersonnen und geträumt, das ich in dir verwirklicht
+sehen möchte. Ich versprach dir doch: für die Geschichten, die du
+mir ~erzählen~ wolltest, solltest du eine durch mich ~erleben~. Die
+Allerschönste -- sagtest du nicht so? Mit dem Erzählen mußt du es nun
+halten, wie du willst, aber mit dem Erleben wirst du es halten, wie
+ich will. Es war mein Geschenk für dich. Und wenn du heute auch nichts
+davon wissen willst, so wirst du es doch trotzdem annehmen müssen.«
+
+Ruth wurde unruhig. Sie kannte nur zwei Sorten Menschen, und daß sie
+Erik in keiner von beiden unterbringen konnte, ängstigte sie. Die eine
+Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung, die ihr meistens
+störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt; die
+andre bestand aus den fremden Menschen, die sie, wie Schattenbilder,
+aus der Ferne betrachtete, und denen sie die äußere Anregung zu ihren
+Phantastereien entnahm. Zu denen konnte Erik nicht gehören, denn die
+thaten nur, was sie wollte, -- sie ~waren~ ja nur, was sie wollte. Er
+hingegen war eine Wirklichkeit, die auf sie eindrang. Sie konnte ihn
+aber auch nicht abwehren, wie sie die Ihrigen von sich abwehrte, denn
+es war etwas da, was sie mächtiger reizte und anregte, als es alle
+Schattenbilder zusammen gethan.
+
+Sie sah ihn scheu an.
+
+»Ich will lieber ein andres Mal kommen,« bat sie leise, »ich kann heute
+nicht lernen. Ich kann's nicht.«
+
+»Doch! doch!« entgegnete er beschwichtigend, »du kannst es. Und im
+Grunde willst du es auch. Aber wir können nicht in jedem Augenblick den
+Kampf darum von neuem aufnehmen. Der muß ein für allemal entschieden
+werden. Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.«
+
+Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich: »Dann kann ich auch
+fortbleiben.«
+
+Es war ihr ganz spontan, wider alle Ueberlegung, entfahren. Aber nun
+half es nichts. Nun war es heraus.
+
+Erik sah, wie sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand,
+und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn. Ihm kam es vor, als habe
+er sie mißhandelt, und sein Blick wurde sehr weich.
+
+Aber er dachte nicht daran, dieser weichen Regung nachzugeben. Er
+wünschte, die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag
+zu bringen. Am Gelingen zweifelte er nicht. Und voll Freude fühlte er:
+war es erst überstanden, so konnte er alle Strenge in die Rumpelkammer
+werfen. Dann war er Ruths für alle -- alle Zeit sicher.
+
+»Gewiß kannst du fortbleiben,« bestätigte er ruhig, »wenn es sich
+für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat, als um einen solchen
+Zeitvertreib, wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt. Weißt du
+noch, was du von dem Fremden sagtest, den ihr in euer kindisches Spiel
+hereingezogen habt? ›Wenn er mir nicht gepaßt hätte, wenn er aus der
+Rolle gefallen wäre, die ich ihm zugewiesen, dann hätte ich mir einfach
+einen andern suchen müssen, -- ich hätte die Augen zugemacht und wäre
+fortgelaufen.‹ Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so, -- --
+dann laufe nur fort.«
+
+Während er sprach, fühlte er beständig das große Mitleid. Sie sah nur
+ein einziges Mal auf, und wie sie seinem weichen Blick begegnete, da
+war es, als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über, --
+als suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem
+Leiden befreien, ihm weh thun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die
+Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben,
+und da nahm ich ihn mir!«
+
+Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und
+drückte sie zwecklos in den Händen zusammen.
+
+»Ich will nach Hause gehen!« wiederholte sie, und zitterte am ganzen
+Leibe.
+
+»Wie du willst.«
+
+»Also adieu,« sagte sie, und ging langsam, wie gelähmt, der Thüre zu.
+
+»Adieu, mein Kind.«
+
+Sie hatte Mühe, den Thürgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände
+waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Thür offen stand, und
+sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Thür mit
+brennenden Augen ins Zimmer zurück.
+
+Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster. Er hatte
+den rechten Arm auf die Lehne desselben gestützt und die Hand über die
+Augen gelegt.
+
+Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein
+Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich
+überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, -- um sie leide, die ihn
+verletzt hatte.
+
+Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dieses Gefühl war seltsam und
+berauschend; es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein
+Glück anfühlte.
+
+Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst
+der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht,
+sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen.
+
+Wer Ruth über den Flur gehen sah, der konnte meinen, sie sei
+trunken. --
+
+Um neun Uhr -- Gonne hatte bereits den Thee und die gerösteten
+Brotschnittchen auf den Tisch gebracht -- kam Erik endlich in das
+Wohnzimmer herüber.
+
+»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in
+sein Gesicht, »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte
+doch, daß sie mit uns bleiben sollte?«
+
+»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht
+weiter.
+
+Aber Jonas that es statt ihrer.
+
+»Ruth habe ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald
+wieder her, Papa?«
+
+»Bald!« sagte dieser.
+
+»Denke dir nur, sie wollte es mir nicht sagen,« plauderte Jonas weiter,
+»ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da
+sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so,
+-- sie sah aus, als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte.«
+
+»Was geschenkt?« wiederholte Erik, und setzte das Theeglas, das er zum
+Munde führen wollte, hart auf das Tischtuch nieder.
+
+»Ja, ganz gewiß, gerade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht,
+und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.«
+
+»Es ist ihr doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt.
+
+»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser habe ich ihr vom
+Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. -- Ich habe ihr aber
+noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu.
+
+»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnte
+es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.«
+
+»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas
+geschenkt bekommen hätte.«
+
+Er sprach in leichtem Ton, doch beschämte ihn, was Jonas erzählt
+hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich
+zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte und selbst, daß sie weglief,
+begriff er ganz gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er
+nicht. War es denn möglich, daß sie gern, -- mit Freude, fortging? --
+-- Und daß sie nicht wiederkam? -- --
+
+Während sie noch beim Thee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter
+heraus. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die
+dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah. Ein Sturmwind
+fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein,
+den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand
+unvermittelt. Und gleich darauf prasselte, unter grellzuckenden Blitzen
+und gewaltigen Donnerschlägen, ein heftiger Platzregen nieder.
+
+»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! bitte, Jonas, iß nicht mehr!
+Ach, Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen
+schloß.
+
+Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in
+den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück.
+Die Gewitterangst war etwas, das sie überkommen hatte, seitdem sie
+hilflos dalag. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik
+würde es an ihr auch wohl nicht geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld
+damit.
+
+»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf
+einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!«
+
+»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und
+legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?«
+
+Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände.
+
+Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag.
+Auf Augenblicke sah der Garten aus wie unter bengalischer Beleuchtung,
+und im bläulichen Scheine konnte man die vom Sturm losgerissenen
+Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinander fliegen sehen.
+
+Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal
+zusammen.
+
+»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, ehe es losging?« fragte sie.
+
+»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,«
+beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei
+diesem Unwetter nicht zu holen braucht.«
+
+Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig
+nachließen, und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach
+niedertrommelte.
+
+»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von
+ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte
+Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte.
+
+Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und
+blickte, über deren Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus.
+Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte
+hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen.
+
+»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen
+Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so wie Ruth es gesagt hat! wie leid
+wird es ihr thun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon
+wieder blau, Papa.«
+
+»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel, »solche Aufregung und Verwirrung
+draußen ist schrecklich. Man wird förmlich mit hingerissen.«
+
+»Ja, das ist nichts mehr für dich, meine Arme,« sagte Erik, »es gab
+aber Zeiten, wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des
+Meeren aushalten mußtest, ohne daß ich bei dir war.«
+
+»Das war auch entsetzlich, Erik, ganz entsetzlich war es,« versicherte
+sie zusammenschaudernd, »damals, als du mit den Leuten hinausfuhrst,
+wenn ein Schiff in Gefahr war. Und das eine Mal, weißt du, wo du ganz
+allein es warst, der den Niels und die andern dazu beredete. Denn die
+hatten ja auch Frau und Kind. Aber das hast du immer so gut gekonnt:
+die Leute bereden. ›Es wird gehen!‹ sagtest du ihnen, und da glaubten
+sie dir.«
+
+»Du glaubtest mir ja auch, Bel, wenn du allein Zurückbleiben mußtest,
+und wenn es dir schien, als ginge das nicht.«
+
+»Ja, Erik. Manchmal dachte ich, der Schreck würde mich töten. Aber dann
+sagtest du so zuversichtlich: ›Wenn ich nach Hause komme, naß und müde,
+Bel, dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen, und
+beide vergnügt und gesund.‹ Nun, und da mußte es wohl so sein.«
+
+Er schwieg. Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht, in welcher er, aus
+wirklicher Lebensgefahr heimkehrend, seine Frau gefunden hatte, wie
+sie, das Kind neben sich, mitten in der kleinen Stube auf den Knieen
+lag und laut betete.
+
+Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen
+geblieben, denn noch nie hatte er sie beten sehen. Als sie heirateten,
+waren ihm unter ihren Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände
+gefallen, und wie sie ihn darin blättern sah, fragte sie ihn: »Glaubst
+du an das, was darin steht?« Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt
+und geantwortet: »Nein, Bel.« Seitdem war dieser Gegenstand nur noch
+ein einziges Mal, nach Jahren, im Gespräche wieder berührt worden,
+und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen, daß seine Frau,
+ohne es auch nur selbst recht zu merken, ihren Glauben gar nicht mehr
+besaß. Auf seine Frage, wie denn das geschehen sei, hatte sie mit ihrem
+freundlichen Gleichmut verwundert erwidert: »Ja, Erik, wenn es doch gar
+nicht so ~ist~, -- was kann es dann noch nützen, daran zu glauben?«
+
+Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln
+und seinem nassen Wollwams hereintrat, da hörte sie auf zu beten und
+streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen. Er hob sie
+von den Knieen auf und küßte sie. »Thust du ~das~, Bel, wenn ich nicht
+bei dir bin?« fragte er sie leise.
+
+»Wenn du nicht bei mir bist, Erik!« sagte sie weinend, »denn dann,
+scheint mir immer, muß ich es thun!«
+
+Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde. Kurz darauf that sie den
+gefährlichen Sturz, der ihr die Gesundheit kostete, und das Kindchen
+wurde tot geboren.
+
+Als Gonne mit einer brennenden Lampe hereinkam, fuhr Erik aus seinen
+Gedanken auf.
+
+»Ich möchte jetzt zu mir hinübergehen,« bemerkte er und küßte seine
+Frau auf die Stirn, »ich habe noch Schularbeiten für morgen. Sobald du
+müde wirst, mußt du mich rufen lassen.«
+
+Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel. Nur von ein paar
+rosenroten Wölkchen, die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden
+hatten und nun mit heiterm Leuchten selbständig auf einem breiten
+Stück Himmelsblau herumschwammen, fiel ein schwacher Schein durch die
+Fenster. Man konnte in ihm den Schreibtisch, den Bücherschrank, das
+alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen.
+
+Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen.
+
+Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt, daß auf dem
+Ledersessel am Fenster Ruth säße. An Halluzinationen konnte er doch
+nicht leiden.
+
+Mit einem Gefühl des Aergers über sich selbst schloß er hinter sich
+die Thür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter, um Licht zu
+machen.
+
+Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin. Auf dem Sessel
+saß wirklich jemand.
+
+»Ich bin es!« sagte eine klägliche Stimme.
+
+»Ruth!« rief er laut.
+
+Sie war es. Durchnäßt bis auf die Haut, in Kleidern, von denen das
+Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte, und die an einer Seite
+zerrissen niederhingen. Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander.
+
+Erik hatte sie in seine Arme gerissen und betastete sie besorgt und
+erregt, mit liebkosenden Händen, -- Brust und Arme und das verworrene
+Haar, das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte.
+
+»Wann -- wann, -- von wo bist du gekommen? Warst du denn nicht zu
+Hause?«
+
+»Ich war nicht zu Hause,« sagte sie zaghaft und schmiegte sich
+frostbebend an ihn; »ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren.
+Und hergelaufen. Gerade als es losging. Ich will nicht nach Hause,«
+fügte sie flehend hinzu, »mich friert so!«
+
+»Mein Liebling, du sollst nicht nach Hause! Du sollst hier bleiben!
+Aber wie lange mußt du hier schon sitzen? Wie konntest du das nur thun?
+Und es hat dich doch niemand an der Thür auf der Terrasse läuten
+hören?«
+
+»Ich habe nicht geläutet. Ich schämte mich. Ich bin hier in das Fenster
+geklettert. Aber es ging schwer,« gestand sie, und Mund und Augen
+lachten übermütig zu ihm auf.
+
+»Und dann? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingetreten wäre?«
+
+»Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen!« erklärte sie
+schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene
+Katze. Und dann sagte sie ganz leise: »Denn vor den andern konnte ich
+es nicht sagen. Und doch mußte ich es sagen. Deshalb kam ich ja zurück!
+Ich mußte sagen: Ich will alles thun, was ich soll.«
+
+Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof geschickt worden,
+um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben, daß sie draußen übernachten
+müsse. Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt, welches
+Gonne eilig für sie hergerichtet hatte. Dann bekam sie heißen Thee zu
+trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer.
+
+Jonas fühlte sich sehr stolz, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß
+er Ruth das wichtigste Möbel, das der Mensch besitzt, sein Bett,
+abgetreten habe. Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend
+in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus, dessen Polsterwerk
+an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch
+war Jonas zu aufgeregt, um bald einzuschlafen, und alle Augenblicke
+guckte er durch die Thürritze und fragte, was denn Ruth jetzt wohl
+mache.
+
+Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr
+durcheinander.
+
+»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt
+mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich.
+Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so
+wunderschön zum Kneten!«
+
+Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg.
+
+Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie
+mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es
+keine eigentlichen Fieber-Phantasien, sondern sie enthielten einen
+deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht
+oft so mit sich selbst spräche, ohne daß ein Mensch es hörte, und daß
+jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es
+unbewußt vor Menschenohren zu thun.
+
+Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem
+Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise,
+als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen
+ihren Willen des Weges geschoben worden, -- mit Gewalt hinausgetrieben
+in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen,
+dunkeln Weg dahingehen, während Hagel und Wind ihr entgegentosten, und
+ihre Füße im tiefen, durchweichten Lehmboden stecken blieben.
+
+Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild: der Versuch vor
+etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht.
+
+»Ich laufe und laufe, und bleibe immer am Fleck!« klagte sie unruhig,
+und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte.
+
+Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, zu seinem Schulgang
+fertig angekleidet, zu ihr hereintrat, saß sie aufrecht im Bett, in
+einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und
+blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen.
+
+Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe
+hereingeschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von
+seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung
+abgerissen.
+
+»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich.
+
+»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen,
+sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich.
+Wollten wir nicht zusammen arbeiten?«
+
+»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehen,
+so daß die Blumen von der Decke glitten.
+
+»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!«
+
+»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die
+Augen schloß.
+
+Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls.
+
+»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er
+dazwischen, »dann finde ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz
+gesund. Nicht wahr?«
+
+»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen. Aber auf ihrem
+Gesicht war ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte.
+
+Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn.
+
+»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh!
+Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich
+nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn
+nicht mehr gern bei mir? Thut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?«
+
+Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an.
+
+»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie. --
+
+Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden
+bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten
+Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch,
+etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo die Tante, im
+Morgenhäubchen, sich noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich
+ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im
+Begriff, wie allmorgendlich, ins Ministerium hinunterzugehen, saß in
+Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten
+Glase Thee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften besorgten Fragen
+nach Ruth entgegen. Erik erzählte, wie sie auf dem Heimweg umgekehrt,
+ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei.
+
+»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf
+sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe,
+»wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn
+Ruth einmal unerwartet vom Warmen ins Kalte gerät, da schaudert ihr
+die ganze Haut und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz
+entsetzlich fürchten.«
+
+Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten
+Augen Thee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben.
+
+»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal
+eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.«
+
+Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf.
+
+»Hat sie ~dazu~ Anlage gezeigt?« fragte er langsam.
+
+»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist
+schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in
+der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid mit bloßem Halse. Es
+war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest
+lieber davon still sein.«
+
+»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum
+saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie
+ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern.
+Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe
+auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein.
+Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.«
+
+»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, -- »das, was
+die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war
+nämlich als Kind fest überzeugt davon, daß in den Raupen, Schlangen und
+allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer
+voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In
+solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen, und auch
+geblieben. Sie hat dasselbe Grauen unvermindert noch heute.«
+
+»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie
+daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik.
+
+»Das hätte es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein
+Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht
+behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen, wenn
+man ihr nützen will.«
+
+Er erhob sich, um Abschied zu nehmen.
+
+Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen
+Cigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich
+zu Erik: »Wissen Sie, -- ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die
+Ruth bei Ihnen ist.«
+
+»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik
+einfach.
+
+»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn herantrat,
+»ich glaube, gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor
+die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die
+rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: ~nach Hause~.«
+
+»Aber, ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach
+deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.«
+
+»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich. »Nein, gut
+behandelt, natürlich, wie sollte es denn anders sein? Aber wozu sollen
+wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es
+verstehen. Neulich fühlte ich's schon, heute weiß ich's ganz deutlich.
+Ich ~freu'~ mich ja auch an ihr, -- ja, das thu' ich, weiß Gott, --
+aber im übrigen: das Kind ~hat~ nichts davon. Das ist es nur, was ich
+meine.«
+
+»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar
+sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als
+ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und
+wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege
+sie.«
+
+Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebsten nie
+wiedergegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan,
+für den er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren beinahe Freunde geworden.
+--
+
+Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen
+Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück
+gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht
+hatte, schützte sie vor der Morgensonne.
+
+Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber
+entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die
+letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch
+den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die
+frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die
+inmitten derselben ruhte.
+
+»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte
+liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du
+weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die
+Nacht krank dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß
+du nun zu mir kommen kannst.«
+
+Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansehen konnte, wie
+rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen sein
+mochte. Und, einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und
+küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an,
+wie den kostbarsten Gegenstand hier im Hause.
+
+»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt
+ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?«
+
+Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom
+Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum
+ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt.
+
+»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit
+emporgezogenen Knieen auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens,
+aus dessen geborstener Wasserurne über ihr ein langes, dünnes
+Schlinggewächs sich schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es
+am allerschönsten in der ganzen Welt!«
+
+»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend,
+fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer
+ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher
+gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon
+einmal am Meer gewesen?«
+
+»Ja, mehreremale,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wäre ich gerade da
+gewesen, wo Sie gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel. Aber ich wußte
+damals nichts davon. Nein, ich wußte es nicht.«
+
+Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor,
+daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie
+spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so
+ernsten und bewegten Gesicht.
+
+»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck
+hinzu, »alles, ganz so wie es war. War es wunderschön?«
+
+Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik
+viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten.
+
+»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an.
+
+»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier,
+trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das
+Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.«
+
+Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nachdem
+sie beschrieben, wie dörflich-klein und doch wie wunderbehaglich es
+gewesen sei, trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen
+Fensterscheiben, die von der Salzluft immer beschlagen waren, --
+kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus- und eingingen.
+Viele Menschen waren das, -- ein ganzes Volk schien es Ruth, -- und
+immer scharte Klare-Bels Erzählung sie um den einen, den sie in den
+Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles
+that, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen
+Lächeln grüßten.
+
+Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie
+wahrzunehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie ergänzte unbewußt das Bild
+bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben
+übermalte, die Klare-Bel selbst ihr auf die Palette rieb. Und um dieses
+ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und
+schäumen.
+
+Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen
+knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie
+den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie
+idealisierte, was sie Ruth beschrieb.
+
+Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten
+Wangen.
+
+»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar; »ich möchte nichts
+andres thun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das
+möchte ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!«
+
+»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch
+nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eigenen Erzählung.
+Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen, nur von
+Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die
+sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer,
+Ruth. Denn es ist schwer, mit so vielen teilen zu müssen, die alle
+von demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in
+Anspruch nehmen, -- ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß
+bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.«
+
+»~Das?~« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möchte ich lieber nicht. Das
+hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen
+stehen und alles können, als ob man ein Hexenmeister wär' -- das muß
+herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf
+einmal wäre -- und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.«
+
+Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische
+Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie
+dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu
+wollen, sich einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte.
+
+Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich
+ausgemalt. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch
+nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Ringsherum Wasser, so daß
+da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können,
+nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen darauf. Ich weiß
+nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, -- und dann etwas
+Gewaltiges thun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.«
+
+Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das
+sei es vielleicht so ungefähr gewesen, was ihr Mann einst gewünscht und
+erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung
+war.
+
+»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah
+Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher
+so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das
+Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Aerzte, die Reisen, die
+Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus.
+Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.«
+
+Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig
+sagen konnte.
+
+»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt wider Willen hervor.
+
+»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie
+du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen.
+Sogar in das Schwerste: stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen
+sorgen zu dürfen für das Behagen derjenigen, die man liebt. Denn das
+ist das Allerschwerste, Ruth.«
+
+Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes
+Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte
+es nur, den andern nicht mehr dienen zu können.
+
+Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen
+Fall den andern noch dienen konnte. Was sie so entsetzte, war die
+Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß
+ein Andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, ~seiner~ Sache zu dienen.
+
+Es verwirrte sie ganz, daß die sanfte kranke Frau ihr gar nicht leid
+that. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid thun, wenn sie
+nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik
+denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum
+Weinen.
+
+Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen
+Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie
+sie es hätte behalten mögen, -- so klar und blau und ruhig, wie der.
+
+»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz verstummt war,
+»einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb
+hast. ~Dazu~ gesund zu sein, und schön und gut und klug obendrein!
+Gleichviel, ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, --
+daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere.
+Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als derjenige zu sein,
+dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.«
+
+»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß
+es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätte Gott
+es ja schlechter als die Menschen!«
+
+Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, --
+einen tadelnden Blick. Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern
+sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth.
+Klare-Bel fühlte sich nur sicher, so lange Ruth zuhörte. Sie hörte
+so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und
+eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als
+für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine
+Spezialität.
+
+Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in
+den Garten getreten, und man sah ihn, den Schulranzen auf dem Rücken,
+zwischen den Bäumen im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein
+kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges
+Butterbrot, in das er hineinbiß.
+
+Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und
+sagte: »Du, -- Sie -- haben --,« stockte und wurde rot.
+
+»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn.
+
+»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr aus dem Rande
+des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen.
+Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie
+alt bist du denn?«
+
+»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth.
+
+»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich
+sein Gesicht auf, -- »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht
+mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir
+essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,«
+fügte er hinzu und brach, im lebhaften Drang sein Brot mit ihr zu
+teilen, es in zwei Hälften.
+
+»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer.
+
+»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er, »aber das war auch
+ein rechtes Glück, weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns
+geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen.
+Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben
+können.«
+
+»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wäre ich auch fortgegangen,«
+bemerkte Ruth tiefsinnig.
+
+Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte
+er schnell. »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar
+nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten hindurch fließt ein kleiner
+Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern; der
+Zaun ist nur niedrig.«
+
+»Nein,« erwiderte sie, »gehe nur hinter das Gehölz. Ich muß jetzt hier
+bleiben.«
+
+»Was willst du denn hier thun?«
+
+»Ich muß nachdenken.«
+
+»Nachdenken?«
+
+Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine
+Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf
+und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich daran
+beteiligen könnte.
+
+Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knieen
+sitzen, die Arme auf die Kniee, und das runde Kinn auf die geballten
+Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor
+sich auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand,
+und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie
+wußte ganz genau, wo sie stehen geblieben war, als Jonas kam und sie
+aufhören mußte.
+
+Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne
+strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende
+Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die
+Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig
+ihr Lied.
+
+Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in
+goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels
+Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen,
+halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so
+lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, -- in einem warmen
+Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte
+Ruth nicht.
+
+Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die
+sie sonst kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher,
+-- fast als ob es nur lauter Leiber wären, in denen so gut wie nichts
+drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich
+nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie
+wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, -- die sahen viel
+schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden, und
+so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von
+Gedanken.
+
+Ruth durchwanderte ihre ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage,
+fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten darin den einzigen, wenn
+er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und
+Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stände er ihr ganz allein
+gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, --
+der ~erste Mensch~ am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und
+ein Wunder. Mit innerm Staunen stand sie still vor ihm, als müsse
+sie fragen. »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier
+herrschen?« Er beschädigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so
+stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken
+verlor und nur ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas
+Besonderes, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei,
+wenn sie ihn da dulden sollte.
+
+Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz,
+Licht auf Licht auf ihn zu häufen.
+
+Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich
+aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die
+Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die
+Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald. Sein erster
+Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf
+haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber
+der leidende Ausdruck von heute morgen war völlig aus ihren Kinderzügen
+verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik
+wohlgefiel, lag in ihren Augen.
+
+Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur
+Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel
+sie auf sich zukommen.
+
+»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen,
+meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen
+Augenblick länger daliegen.«
+
+Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und
+nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein
+Kind an der Brust bettet.
+
+»Du allzuleichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus.
+
+Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen
+Nacken geschlungen.
+
+Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die
+Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst
+Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu thun, was Erik that. Das Mitleid,
+das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in
+nichts verflogen, -- und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen.
+Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß die kranke Frau sich nicht als
+Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß
+sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang.
+
+Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es heute
+zum erstenmal geschah, und daß sie erst gestern hatte weglaufen wollen.
+Sie fühlte sich als ein längst hierher gehöriger Hausgenosse, --
+zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen.
+
+»Von deinem Onkel bring' ich dir was mit,« sagte Erik, der sie zu
+Mittag neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier
+zu bleiben, als du willst. Ich denke, wir antworten ihn vorläufig: den
+ganzen Sommer. Was meinst du?«
+
+Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf
+sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen
+Bissen gegessen haben.
+
+Als sie beim Kaffee waren, und die Kinder hinausliefen, blickte Erik
+seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?«
+
+»O Erik! mir gefällt sie gut für dich! Denn sie hat etwas so
+Unverständliches, finde ich. Das ist gerade was für dich. Was zum
+Raten.«
+
+»Sie ist ein scheuer Vogel,« sagte er mit einem Lächeln, »und es ist
+noch nicht gewiß, ob ich sie eingefangen habe. Eine falsche Bewegung,
+-- und sie fliegt mir fort.«
+
+»Ja, Erik, das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend. Es macht
+doch unsicher. Förmlich schwindlich würde es mich machen. Wie ein
+konfuses Stickmuster.«
+
+»Unsicher? Nein, Bel, im Gegenteil. Man wird sich wieder dessen bewußt,
+was man vermag -- ~ob~ man's vermag. Man sammelt die Kraft, -- die
+vergessene, eingerostete. Und so kommt man endlich wieder zur großen
+Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst.«
+
+»Ja, ja, Erik. Wenn nur alles gut geht.«
+
+Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern:
+»Sorgenmütterchen! nur ein einziges Mal: laß die Sorgen, die grauen!
+Mir ist froh. Du sollst es noch sehen: an dem Mädel wächst mir mein
+Meisterstück!«
+
+Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht. Daß er Ruth zu
+sich nahm, das war ungefähr so, wie wenn ein Gelehrter eine recht
+unentzifferbare Handschrift irgendwo ausgräbt, -- meinte sie; an der
+liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch.
+Es war nun einmal nicht anders: darin steckte sein Talent und sein
+Beruf.
+
+Erik ging fort; er wollte noch nach dem Bahnhof, um zu veranlassen, daß
+Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herübergeschafft würden; der
+Onkel hatte sie bereits herausgeschickt.
+
+Klare-Bel lag und dachte nach. Sie zwang sich dazu, an die Zeit zu
+denken, die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob. Es war
+doch schön, daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von
+sanguinischen Hoffnungen. Das war doch besser und natürlicher für ihn,
+als diese langen, langen Leidensjahre, in denen nur der ~eine~ Gedanke
+ihn erfüllte: wie seine Frau wieder gesund zu machen sei.
+
+Ein einziger jahrelanger Kampf, -- ein schmerzensreicher, gräßlicher.
+
+Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner
+Hoffnungszähigkeit willen, die nicht nachließ, nichts unversucht ließ,
+die noch ans Unmögliche anrannte, und mit unermüdlichem Trotz den alten
+Kampf immer wieder aufnahm. Es war nicht leicht, denn wegen einer
+geringen Herzschwäche durfte bei Klare-Bel die Narkose nicht angewendet
+werden. Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis, neuer Qual zu
+überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen. Er war in
+diesem Kampfe zum Arzt geworden; was er früher aus Lust und natürlicher
+Begabung nebenher betrieben, wurde ihm Beruf. Seine ganze, ungeteilte
+Kraft warf er hinein: er wollte es nicht glauben, nicht dulden, daß ein
+einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten
+könne.
+
+Und nun, da er's glauben und dulden mußte, war es doch hart, alles das
+umsonst geopfert zu haben, woran noch seine Hoffnungen gehangen hatten.
+Und wenn Ruth ihm nur eine davon zurückgab, wollte Klare-Bel sie
+lieben. Es war ja nicht mehr als eine kleine, späte und unscheinbare
+Blume für einen ganzen Strauß, den das Leben ihm schuldig geblieben.
+
+Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden, wie heute, seit dem
+Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten.
+
+Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts. Er
+griff nach einem Bund Garn, das Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte,
+und hielt es ihr auf den Fingern.
+
+»Wird Ruth nun bei uns bleiben, Mama?« fragte er.
+
+»Jawohl. Du hörtest es doch. Freut es dich nicht?«
+
+»Ueber alles freut es mich. Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst
+anstrengen.«
+
+»Wie meinst du das, mein Kind?«
+
+»Ich meine: Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich. Ganz
+gewiß. Sie ist sehr klug, -- meinst du nicht?«
+
+»Das kann ich unmöglich wissen. Aber was ist das für ein Unsinn, Jonas.
+Weil Papa dich lieb hat, will er ja, daß du dich mehr anstrengst und
+besser vorwärts kommst.«
+
+»Ach, Mama, ich strenge mich schon an so sehr, wie ich kann. Ich komme
+ja auch vorwärts. Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen. Er
+ist der strengste Lehrer bei uns. Sie fürchten ihn alle. Aber ich am
+meisten. Von mir verlangt er am meisten.«
+
+»Darüber solltest du froh sein. -- Mach nur jetzt keine
+Eifersüchteleien, Jonas; hörst du?«
+
+Da lachte er über das ganze Gesicht, scheinbar völlig unmotiviert, so
+daß er wirklich einfältig aussah.
+
+»Nein, Mama, das thue ich gewiß nicht. Wenigstens nicht so, wie du es
+meinst. Aber wenn es Ruth einfallen sollte, -- Papa lieber zu haben als
+mich -- --«
+
+»Aber Jonas!«
+
+Er ließ das Garn vom Finger gleiten, so daß es fast in Verwirrung
+geriet.
+
+»Verzeih, Mama. Ich bringe es gleich wieder in Ordnung. -- Weißt du, du
+hattest eben ganz recht, als du sagtest, ich solle nur froh sein, daß
+Papa so viel verlangt. Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer, als es
+ist. Sie wird das noch merken. Und ich werde nie etwas Unangenehmes von
+ihr verlangen.«
+
+»Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge!« sagte Klare-Bel
+ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an. Er machte ein ganz
+treuherziges Gesicht. Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen
+verkrochen. »Wenn Papa so was hörte. Und da wunderst du dich noch, wenn
+Papa Ruth dir vorziehen sollte.«
+
+»Ich wundere mich ja gar nicht, Mama. Das kann ich ihm doch nie im
+Leben übelnehmen. Wie sollte Ruth ihm denn nicht besser gefallen als
+ich?«
+
+»Wo steckt Ruth nur eigentlich?«
+
+»Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen, wo Gonne noch
+herumwirtschaftet. Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten, sagt sie.«
+
+Als Erik vom Bahnhof zurückkam, und Ruths Kopf oben aus dem offenen
+Fenster herausschaute, stieg er zu ihr hinauf. Das kleine, nach
+hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung. Außer dem heute
+beschafften Bett und einer großen Holzkiste, die durch zierlich
+gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer
+wirklichen Waschtoilette bekommen hatte, gab es jedoch hier noch
+nicht viel zu sehen. Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem
+Oelanstrich machte sich bemerklich.
+
+Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett, zu dessen Seiten schon
+kleine weiße Gardinen niederhingen; die Leiter lehnte noch daneben.
+Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der
+Terrasse, so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast
+Ruths Gesicht berührten. Man sah von hier oben nur in die Wipfel der
+Bäume, und das, fand Ruth, sah lustig aus: wie ein grünes rauschendes
+Gewoge, von dem man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne
+Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer darin nisten! Und
+unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei
+vorjährige Schwalbennester.
+
+Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers
+bemerkte, fing er an zu lachen.
+
+»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder,
+die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Thür
+stehen, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß.
+Meinst du nicht, Ruth?«
+
+»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast
+übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht
+fertig, und das ist das schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst
+fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich es haben will.«
+
+»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er
+lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster; »als wir zuerst aus dem
+Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unsrer Stadtwohnung
+auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte
+so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen.«
+
+Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an.
+
+»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer
+gewesen sein, -- da von der kleinen Insel weg -- und hierher; weg vom
+Meer und von all den vielen Leuten?«
+
+Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang
+sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich
+Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten.
+
+»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt
+es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, -- schlimme kleine
+Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.«
+
+»Ach, -- die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den
+Achseln, »die sind's nicht wert.«
+
+»Auch du?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an.
+
+»Ja, auch ich,« meinte sie treuherzig.
+
+»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig,
+Ruth. Das ist nicht gut.«
+
+»Warum ist nun das auch wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut.
+
+»Weil es nicht aus dir selbst herauskommt, Mädel. Nicht aus deiner
+Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die
+er sich verrenken muß. Das sollst du nicht thun.«
+
+Sie erwiderte nichts darauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre
+Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, das sie nicht anzubringen
+wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh
+aus. In den Augen -- und überhaupt. Warum?«
+
+»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst.
+
+»Mich! aber all die andern?«
+
+»Wen denn, Ruth?«
+
+Nun hielt sie es nicht länger aus.
+
+»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht
+wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres thun zu dürfen,
+etwas viel, viel Größeres, -- so groß wie ein Meer mit allen Schiffen
+darauf,« versuchte sie es auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne
+es zu merken, erregt an seiner Uhrkette.
+
+Er sah erstaunt auf sie nieder.
+
+»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er
+eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es
+klar sagen können. Nun?«
+
+»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine
+Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber, -- am Vormittag.«
+
+»Mit meiner Frau?«
+
+Ruth nickte.
+
+»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so
+wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.«
+
+»So. Thut sie das? Ader was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und
+sein Blick war forschend und gespannt.
+
+»Alles. Und da, -- ja, da schien es mir so ganz entsetzlich, -- so
+ganz unmöglich schien es mir, daß nichts daraus geworden ist. Aus all
+den großen Plänen nichts geworden,« sagte sie leidenschaftlich, und
+ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas
+zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben
+soll. Es kann ja nicht so bleiben.«
+
+Sie sprach beinahe zornig, und in ihren Augen standen große Thränen.
+
+Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft
+hin über ihr loses weiches Haar, und als Ruth aufblicken wollte, da
+glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen.
+Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel,
+und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zu Mute. Er wußte,
+daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam; weder die
+leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des
+Bedauerten war seiner Frau möglich. Noch nie, seit er sich verheiratet,
+hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den
+Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn
+seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Thränen und härmte sich um
+diese Enttäuschungen, als seien es ihre eigenen.
+
+Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf
+tiefer, und ihre Hand sank von seiner Uhrkette.
+
+»Ich will es gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend.
+
+Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen.
+
+»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,«
+versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft,
+»niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen,
+-- und nun gar Kümmernisse, mein Kind, -- solche kindischen und
+phantastischen Kümmernisse.«
+
+Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das
+Gesicht im Schatten.
+
+»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?«
+
+Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte
+sehen, daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag, und daß sie
+sich als Kind behandelt fühlte.
+
+»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein
+großes, weites Feld zu bebauen, -- ein Feld, wohl so groß wie ein
+Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es
+noch wenige, -- viel zu wenige. Aber es kam anders, als er es sich
+gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht
+mitarbeiten. Nur ganz fern, in einem äußersten Winkel desselben, wies
+man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und
+Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.«
+
+Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm
+aufgeschlagen. Groß, ungeduldig hingen sie an seinen Lippen. Ihre ganze
+Seele war in diesen Augen.
+
+»Und da --?« fragte sie atemlos.
+
+»Und da,« fuhr er fort, »fand er eines Tages unter seinen Kohl- und
+Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze. Von irgendwoher
+mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein. Es war nur
+ein unscheinbarer, zarter Trieb, dem man noch nicht ansehen konnte,
+was darin steckte. Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen
+auswachsen. Und wenn das gelang, -- wenn ein guter Gärtner an diesem
+Bäumchen unablässig seine Dienste that, und wenn das Bäumchen sich
+willig behandeln und biegen, pfropfen und beschneiden ließ, -- dann, --
+ja, dann konnte es am Ende seltnere Früchte tragen, als irgend etwas,
+was sonst auf dem Feldwinkel wuchs.«
+
+»Bin ich das Bäumchen?« fragte sie naiv und glitt leise vom
+Fensterbrett.
+
+Er antwortete nicht, aber er zog sie näher an sich, so daß ihr Haar
+seine Schultern berührte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der kein
+Lächeln war und kein Ernst, und doch wie ein gesteigerter Abglanz von
+beiden, der einer Ekstase glich. Er erinnerte Erik plötzlich an jenen
+Aufsatz mit der Ueberschrift: »Seligkeit!« Zum erstenmal erinnerte
+ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den
+geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft.
+
+»Möchtest du ein solches Bäumchen für den Gärtner werden, Ruth?« fragte
+er sie mit gesenkter Stimme.
+
+Sie atmete tief auf.
+
+»Noch lieber möchte ich der Gärtner werden,« sagte sie unerwartet,
+»aber es ist vielleicht fast dasselbe.«
+
+
+
+
+ III.
+
+
+Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach wurde, fanden Erik und
+Ruth sich im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden
+zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit
+ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ.
+
+Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da, und stand, ihn
+erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen
+Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur
+käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so
+übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, -- als Lehrer
+fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur
+vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und
+die alte Schüchternheit.
+
+Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat
+Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann
+schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie
+eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur
+eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und
+Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte.
+Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie
+sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in
+die Morgenarbeit über.
+
+Als Erik heute morgen die Thür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen
+Augenblick überrascht stehen. Vor den Fenstern waren die weißlackierten
+Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur
+durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit
+trübem Schein auf dem Schreibtisch. Vor demselben saß Ruth, umgeben von
+Heften und Büchern, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken.
+
+Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das
+Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam
+er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt
+emporfuhr.
+
+Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und
+blickte sie aufmerksam an.
+
+»Du hast geweint. Worüber?«
+
+Sie errötete und zauderte einen Augenblick.
+
+»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden
+Augen.
+
+Er lachte.
+
+»Du bist nicht dumm. Habe ich das gesagt? Wenigstens nicht
+hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst du es auch nicht
+zu thun.«
+
+Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand.
+
+»Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten. Nie ohne mein
+Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen
+habe, dann sollst du aufhören.«
+
+»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die
+ganze Nacht durch. Im Gehölz rief ein Kuckuck; die Drosseln vor meinem
+Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.«
+
+Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, in dem sie geschrieben
+hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihr
+ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt.
+
+»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft.
+
+Schweigend las er darin eine Zeit lang, während Ruth mit gefurchter
+Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß.
+
+Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin.
+
+»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und
+Ueberwindung gekostet?«
+
+»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es
+schadet nichts.«
+
+»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte
+nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch
+das, was deinen kleinen phantastischen Kopf am härtesten anmutet, durch
+das, was ihm am schwersten fällt, gerade da muß er hindurch.«
+
+Er löste ihre im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den
+seinen.
+
+»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du
+dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest; es that weh, nicht wahr? Aber
+es mußte sein. Und nun, -- nun bekomme ich dich allmählich gerade so,
+wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?«
+
+»Wunderschön ist es!« rief sie, mit leuchtenden Augen sich nach ihm
+zurückwendend, »das denke ich ja immer dabei, wenn es mir schwer fällt!
+Ich such's zu vergessen und denke mich nur hinein: wie wunderschön muß
+es sein, jemand, der ganz anders ist, gerade so zurecht zu kriegen, wie
+man ihn haben will!«
+
+Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen.
+
+»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst solle es
+glücklich machen.«
+
+»Das thut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf.
+
+»Was willst du nun heute morgen thun? Wir wollen in den Garten gehen.
+Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?«
+
+Sie schüttelte lachend den Kopf.
+
+»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung
+und Morgenfrische,« sagte Erik; »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht
+solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die
+Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist
+Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich
+ermüdet, desto besser.« --
+
+Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel
+lag schon neben demselben in ihrem Stuhl, als Erik, Ruth und Jonas,
+erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz
+erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand
+trug er einen hohen Eimer, den er von Gonne erbeutet hatte und jetzt
+auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei
+Fuß lange, stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.
+
+»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so
+greuliches Tier herbringen! Könnte sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«
+
+»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.
+
+»Aber eine prachtvolle, Mama! ich fand sie hinter dem Gehölz, da
+wo der kleine Bach sich im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll
+Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund that, war ihm ein
+ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen
+gerechnet, und höchstens auf eine Blindschleiche.
+
+Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange,
+die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee
+tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet
+waren, verhielt Ruth sich ganz still. Sie hatte heimlich gehofft,
+Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte
+sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das
+war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.
+
+Jetzt gelang es der Ringelnatter, nach mehreren vergeblichen Versuchen,
+sich auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren
+Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die
+Anwesenden an.
+
+Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern
+durchlief, und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.
+
+»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch,
+»siehst du denn nicht, daß Ruth sich ängstigt?«
+
+»Nein, lasse sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze
+Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen
+werden.«
+
+Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß
+du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie
+Lügen.«
+
+»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt.
+»Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas fürchterliches, -- kalt und
+grausig, -- was so gewaltsam von außen kam, -- so, wie wenn man einen
+umbringt.«
+
+»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen
+sein?«
+
+»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.
+
+Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber
+sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es
+nur eine Raupe gewesen war.
+
+»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen;
+Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den
+Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon
+etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst
+du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und -- und bewunderst
+mich.«
+
+Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar.
+
+»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte er, »denn schon ist
+die Zeit ganz nah, wo Ruth sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle
+begnügen wird. Wo sie selbst, freiwillig, aus eigenem Antriebe, an die
+Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper
+hinaufkriechen läßt.«
+
+Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.
+
+»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.
+
+»Wann? vermutlich schon bald.«
+
+»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen
+Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«
+
+»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor,
+daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«
+
+»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.
+
+Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen
+konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß
+Erik ihr etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte
+unwillkürlich zusammen.
+
+»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall
+verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg: -- thu's eben
+nicht! Einfach! denke nur: du brauchst es ja einfach nicht zu thun!«
+
+Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch
+wandte sich andern Dingen zu.
+
+Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt,
+mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen,
+der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als
+schaue er nur gerade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz
+allein mit der Schlange.
+
+Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu
+erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, in dem alles Unheimliche
+sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle,
+schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die
+Schlange lauerte schon auf sie.
+
+Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken
+konnte.
+
+Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.
+
+Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.
+
+Da, als Erik sich vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den
+Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild. »Dann
+lieber gleich!«
+
+Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt
+im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Ueberraschung.
+
+»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut
+noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Uebertreibung wie das mit dem
+Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir jetzt nicht fest genug
+dazu.«
+
+»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich
+nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen
+sehen, -- Tag für Tag, -- immer näher, -- immer gewisser; -- mit einer
+Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, -- und die mit der
+ganzen Familie immer intimer wird, -- -- und nur auf mich lauert, --
+nein, das kann ich wirklich nicht!«
+
+Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht.
+
+»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und
+Haar aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten
+in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich
+geschieht. Ueberlege es dir! Denn, wenn du darauf bestehst, gibt es
+kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würde ich
+nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«
+
+»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.
+
+»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«
+
+Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich
+von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen
+mußte, wenn sie etwa »umfiel«.
+
+Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes,
+beinahe finsteres Gesicht. Als er sich aber nach dem Eimer bückte,
+und sie, dicht vor sich, die Schlange in seiner Hand sich winden sah,
+überfiel sie ein Schwindel.
+
+Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen
+sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte
+zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.
+
+Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«
+
+Sie nickte fast unmerklich.
+
+»Dann wollen wir es lassen, mein Kind.«
+
+Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.
+
+»Für immer?« fragte sie schnell.
+
+Er mußte lächeln.
+
+»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt
+nicht.«
+
+Sie nahm sich zusammen.
+
+»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.
+
+Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand.
+Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie
+ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich
+hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen,
+glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die
+erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie
+die Ringelnatter sich an ihrem Arm hochstreckte, sich um denselben
+herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur
+Seite niederhängen ließ.
+
+Der Arm blieb ausgestreckt, als wäre er erstarrt. Und Ruth machte ein
+Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.
+
+»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie
+gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«
+
+Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in
+den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.
+
+»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch
+›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr
+einen Stuhl zu.
+
+Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehen, mit
+unsicheren Schritten an Erik vorbei, quer über die Terrasse und in den
+Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie
+sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in
+den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.
+
+Erik sah ihr verwundert zu.
+
+»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du
+froh sein, und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«
+
+Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll
+an.
+
+»Ich thue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.
+
+Jonas, der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden, aber auf einen
+Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten
+hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll
+an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.
+
+Eine Stunde später fuhr Ruth aber dennoch mit ihm und Erik zur Stadt.
+
+Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch.
+Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im
+Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei
+Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine
+kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die
+Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher
+fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt
+wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den
+Ferien, zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der
+Fleißigsten.
+
+So gab es doch eine gewaltige Freude, als heute, in der Freistunde,
+Ruth wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm,
+unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie,
+und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den
+Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe, und warum die
+Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.
+
+Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen
+stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer
+Weltferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern.
+All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene
+begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und
+es blieb nichts, als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück,
+der an ihrer Statt erzählte.
+
+Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo das
+überragende Dach sie vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie
+damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand
+Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.
+
+Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten,
+wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter
+ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß
+sie nicht sprach, entging ihnen vollständig; der in ihnen selbst
+aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und, anstatt
+dessen, was sie von ihr erfahren wollten, erfuhr Ruth binnen weniger
+Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis heute,
+nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.
+
+Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut.
+Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes, blondes Mädchen von
+frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als
+Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine
+Inschrift triumphierend vorgezeigt, -- der glatte goldene Traureif fiel
+Ruth in den Schoß.
+
+Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt
+zu werden. Sie war begreiflicherweise mit ihren Gedanken längst aus der
+Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das
+unendliche Interesse verbunden, welches ihr, ihrem Liebsten, und ihrem
+Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete
+sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann
+gebracht.
+
+»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die
+besonders zärtlich an Ruth hing, »ach, Ruth, ein solcher, wirklicher
+Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denke dir nur, was man als
+Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie
+spricht von ~ihm~ und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint
+man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren
+mit ihrem Kram.«
+
+»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«
+
+Gretchen schwieg etwas betroffen.
+
+»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!« fiel eine andre
+ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht
+wunderschön?«
+
+»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif
+in ihrer Hand; »vielleicht ist es wunderschön.« Dann gab sie ihn
+der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das
+Wunderschöne daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«
+
+Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich
+zum erstenmal zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein
+besaß, als Braut, -- was sie mit den andern nicht gemein haben konnte.
+»Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich
+mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich, mit Scham und
+Stolz. Und während sie den Ring überstreifte und Ruth anblickte, konnte
+sie dem Gedanken nicht wehren: »Diese hier ist gewiß die nächste
+Braut.«
+
+»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen
+ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer
+zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das
+Uebergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte, »was hattest du
+immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und
+jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin die einzige, die noch dem
+›Edlen, Unglücklichen‹ nachsteigt.«
+
+»Ist der noch da?« fragte Ruth.
+
+»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht
+förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«
+
+»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte
+sie, »es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis! Warum bist du
+auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«
+
+Ruth hatte ihren Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in
+den verregneten Hof. Gerade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein,
+dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß
+auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe
+Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte
+es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.
+
+»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den
+Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«
+
+»Wieso ein Notbehelf?«
+
+»Würdest du uns keine mehr erzählen?«
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor
+einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es
+hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter
+Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr
+wolltet es ja so.«
+
+»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«
+
+»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«
+
+»O!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten
+alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse,
+»dahinter gibt es das Leben.«
+
+In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die
+Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den
+meisten selbst der »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden
+erschien. In den Gesichtern prägte es sich deutlich aus, daß ein neuer
+Hunger sich geltend machte.
+
+»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.
+
+Ruth lachte.
+
+»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann
+geht man geradeaus, und noch rechts und nach links, ringsherum und nach
+allen Seiten. Bis man alt ist.«
+
+»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend,
+»seht ihr denn nicht, wie sie euch foppt? Gerade so machte sie es immer
+mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil
+wir's ernst nehmen.«
+
+»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den
+Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.
+
+»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch
+über die Mauer zu helfen?«
+
+»Das könnt ihr ja thun.«
+
+»Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu!«
+
+»Die hat er gewiß,« versicherte Ruth; »und Lust hat er auch. Er hat
+alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«
+
+Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an.
+Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.
+
+Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu
+sein.
+
+»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm ist? Hast du da
+auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen
+vorsichtig.
+
+»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr
+beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit gestern noch nicht trocken
+geworden waren.
+
+Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen
+verließen den Platz am Brunnen.
+
+»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche
+Wjera, »das kostet nichts.«
+
+»Warum?« entgegnete Ruth; »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was
+kosten.«
+
+In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber
+blieb es unbeachtet, daß Ruth ihnen nicht folgte. Ueber der Spannung,
+die sie hervorgerufen, war sie selbst vergessen worden. Als die Mädchen
+sich dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden,
+war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war
+ein Gelächter.
+
+Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben
+wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So
+kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo Ruth ihn erwarten
+sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es
+hier noch zu thun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform
+zu entrinnen. Als Ruth sich dann immer noch nicht melden wollte,
+öffnete er etwas beunruhigt die Thür zum Wohnzimmer und schaute hinein.
+
+Da lag sie und schlief.
+
+Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl
+gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen Füßen, auf dem
+weißen Leinwandbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das
+Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie, mit ernstem Gesicht und
+schlafgeröteten Wangen, fest und eifrig, wie ein Kind.
+
+Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben.
+
+Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassenen
+Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, in denen der Staub in breiten
+Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein
+leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen über dasselbe hin und blieb
+auf den Lippen stehen, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher
+wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie
+heftig niesen.
+
+Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie
+auf und hörte Erik lachen.
+
+»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf.
+
+»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch
+weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er.
+
+Ruth rieb sich die Augen.
+
+»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie; »ja, mit
+den Mädchen ist es nichts. Glaub's nicht. Aber mir ist eingefallen:
+wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, -- dann gäb's am
+Ende auch noch ein andres Mittel.«
+
+»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?«
+
+»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt mit den Füßen vom
+Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und
+drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich habe es mir nämlich
+so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, -- in sie
+hineinwirken, -- an ihnen was Großes schaffen, -- und man findet nicht
+recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß
+man es ~so~ machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor
+Augen stellt, -- so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie
+Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom
+Allerschönsten reden und nicht müde werden, -- bis sie Lust kriegen.«
+
+Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich
+bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, das sie da, wie einen Traum,
+mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien.
+
+»Wer soll das thun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie
+gebannt, und trat heran an den Tisch.
+
+»~Sie~ sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir
+immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben
+ist schön und weit. Ich glaub's ja! Ader nun weiß ich, wozu die
+Phantasiegeschichten gut sind, -- denn zu etwas sind die auch gut.
+Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es
+hinzuthun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?«
+
+Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als
+lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich
+in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit
+Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch
+den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung
+verlangt. Und er, durch die Verhältnisse enttäuscht, hatte versucht,
+sie von sich abzuschieben, -- zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte
+er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu
+vergessen.
+
+Ruth saß und folgte ihm mit den Augen.
+
+»Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie.
+
+Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Beide merkten nichts davon,
+daß die Luft im Zimmer dick und staubig war, und ungezählte Mücken
+umherschwirrten.
+
+Dann blieb Erik stehen, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke
+dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest,
+was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen
+Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.«
+
+Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm.
+
+»Ja!« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen
+und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges
+hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein
+Eigentum, und ich kann mit ihnen machen, was ich will.‹ Und nun werden
+Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.«
+
+Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und
+Erwartung, und dann fügte sie bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören
+dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie es
+mir erzählen?«
+
+Erik blickte auf sie nieder. So kindhaft kam sie ihm vor, als sie so
+in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur
+Schulter.
+
+Wie heute morgen am Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr
+Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche,
+bittende Kinderaugen.
+
+»Wir werden es uns zusammen ausdenken!« sagte er. --
+
+Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause
+kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete
+den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich
+langsam, im Schritt, abkühlen.
+
+Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem, behaglichem
+Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen
+Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen.
+
+Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken
+Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde: Sie
+empfand es wohlthuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag
+eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder
+etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft
+zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben
+zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den
+ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig
+im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so
+einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu
+Hause.
+
+Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es
+auch andern Bekannten gegenüber nicht geschah. Sie wußte: dies hier
+war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte, als
+mit ihrem Mann.
+
+Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte
+sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins
+Zimmer trat, war sie enttäuscht.
+
+Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet.
+
+Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm,
+vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich
+schüchtern zurückzog, -- jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht
+ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon
+geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied,
+als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene, Formsichere und
+Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber.
+
+Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz
+als eine von vielen und gab auch sich selbst so, wie eine unter den
+vielen, aus denen die Gesellschaft besteht.
+
+Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen
+worden sei.
+
+»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich
+noch nicht.«
+
+Man wußte nicht, war es bescheiden oder übermütig gemeint?
+
+»Wenn die nicht durchtrieben ist!« dachte Warwara bei sich und musterte
+sie schärfer.
+
+Bald trat Erik dazu, eine heitere Unterhaltung in Gang bringend.
+Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst
+kürzlich auch hier eingelaufen war. Ein sensationeller Rückgang, denn
+die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in
+einen andern verliebt.
+
+Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser
+Sachlage unbeachtet zu lassen, lachte laut.
+
+Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen.
+
+»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht
+hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so
+kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?«
+
+Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst
+geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden,
+haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute
+Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in
+der That im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, -- in der
+eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge
+festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.«
+
+»Sie meinen, der Mann bedarf eines solchen Gebetes nicht,« bemerkte
+Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen.
+
+Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er; »ich glaube, der Mann
+ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur
+besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den
+Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen
+desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, -- nein: ~das er an sich
+gebunden~ hat. Das ist's!«
+
+»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des
+Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den ~wir~, -- die
+Frauen, -- nicht --«
+
+»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein: nur ein
+Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut:
+nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der
+für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem
+Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine
+Hand bewußt auf dieses ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu:
+›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen,
+-- verantworten wollen, -- herrschen dürfen.«
+
+Warwara schüttelte sich.
+
+»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie; »mir jedoch ist wahrlich
+die Vorstellung lieber, nach welcher die Frau des Mannes Königin ist.«
+
+»Sie sehen, -- ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er
+lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es
+eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, -- was alles ganz
+heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann
+hingegen wäre untreues Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was
+ihm wider die Scham geht.«
+
+Warwara lachte ihm ins Gesicht.
+
+»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwickelungskämpfe,
+und auch für die der Frauen, so gern eintritt!« rief sie; »es ist eine
+schauderhafte Inkonsequenz und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn
+Sie sich nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die
+nicht mehr so mittelalterlich denkt, und sie ~nicht unterkriegten~?«
+
+»Das würde ich doch!« sagte Erik. »Sonst würde ich mich vielleicht
+für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen
+achten, -- aber lieben, -- wie sollte ich das? So wenig, als wenn
+ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir
+vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer
+Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe -- nie! Und ein
+Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt, -- wirkt nicht als
+Weib.«
+
+»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur
+in eurem jahrhundertelang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara
+entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem
+solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen,
+wenn wir lieben?«
+
+Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das thun wir, nicht
+weil wir unter ihm stehen. Sondern weil wir glücklich sein wollen.«
+
+Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu
+fahren.
+
+»Nun sollt' ich hiervon eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut
+gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule
+erfuhr ich, daß diesmal Sie bei dem feierlichen Schulschluß die übliche
+große Rede halten werden. Da komme ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine
+sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich
+habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.«
+
+Erik mußte lachen.
+
+»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre
+schönsten Reden für Toaste genommen werden,« versetzte er, »und
+daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den
+Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer
+oberflächlichen Gesellschaft sind.«
+
+»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte
+Warwara gekränkt zu Klare-Bel; »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht
+weh thäte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dieser
+Barbar würde dann ~Sie~ auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft
+unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.«
+
+»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt.
+
+»Doch! doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt,
+auf Grund einer Konsultation mit dem Professor, eine Behandlung meiner
+Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und
+geleitete sie an ihren Wagen.
+
+Jonas war später nach Hause gekommen, als Erik mit Ruth, und kam
+seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war, und
+man sich schon zu Tisch setzte.
+
+Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den
+tropfenden Bäumen verbracht, im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine
+Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als
+wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch
+einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt
+und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze
+geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.
+
+Um es zu thun, mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten.
+Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die
+Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus,
+der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht
+recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer;
+Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit seinen schwarzen
+Aeuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.
+
+Da ging ihm ein altes Märchen tröstend durch den Sinn, von einer
+Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem
+verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht
+mehr, ob es sich genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine
+Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.
+
+Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem
+Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheures Opfer, fand er, was sie da
+beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange
+blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut, wie über
+ein Reitpferd.
+
+Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen,
+die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die
+Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen
+Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.
+
+Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und ein Telegramm für
+Erik überbrachte.
+
+Erik erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller
+zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine
+freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten.
+
+»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er; »denke
+dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs.
+Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals
+waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner?«
+
+»O ja, Erik! Wie sollte ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß
+du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am
+liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist
+Römer denn eigentlich geworden?«
+
+»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb
+mir noch manchmal in frühern Jahren.«
+
+Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber.
+Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es
+Ruth, als stiege plötzlich eine ganze, fremde und ferne Vergangenheit
+zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, bei der sie nicht zugegen
+gewesen war. Ueberhaupt noch nicht auf der Welt! Es schien ihr ganz
+unmöglich.
+
+»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.
+
+»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau.
+Dort ist irgend eine Aerzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werde
+ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«
+
+»Zu einer Aerzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.
+
+»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng
+verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze
+Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den
+Charakter.«
+
+»Haben sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders
+zu interessieren pflegte.
+
+»Ich glaube nicht.«
+
+»Keine Kinder?« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war
+ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht
+wieder Mutter werden konnte; »das ist doch eine traurige Ehe, so zu
+zweien.«
+
+»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie
+hatten wiederholt ein junges Mädchen bei sich, das an der Universität
+studierte.«
+
+»An der Universität studierte? Können junge Mädchen das?« erkundigte
+sich Ruth erstaunt.
+
+Erik blickte sie mit einem Lächeln an.
+
+»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja
+nichts im Wege, daß du eines der nächsten Hauskinder bei Römers wirst.
+Hast du Lust dazu?«
+
+Er sagte es scherzend, aber der Blick, mit dem sie ihm antwortete, war
+so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.
+
+Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von
+alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen, aber sie
+blieb sitzen und hörte zu.
+
+Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen; Jonas lehnte in der
+Hausthür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich
+vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir
+doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das
+paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, thust du es doch
+nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen
+nun einmal nicht haben kannst.«
+
+»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der
+schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das
+haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«
+
+»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein, ohne einen
+wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so
+viel lieber dein Mann sein, als der Mann in all den Räubergeschichten,
+bei denen ich mich immer so anstrengen muß.«
+
+»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und
+saß und schaukelte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel
+anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du bei alledem jedesmal die
+Hauptperson und der Held bist.«
+
+»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.
+
+»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein.
+Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich --«
+
+»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt; »aber wenn du mir alles
+immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es
+ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«
+
+»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«
+
+Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; -- wenn
+sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine
+Ueberlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten
+und Schmeicheln zu bewegen! Denn, hätten sie »Schlangenbändiger«
+gespielt, da wäre er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm,
+ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.
+
+Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er
+fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die
+Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.
+
+»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er;
+»warst du es etwa?«
+
+»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest
+du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du
+dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«
+
+»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei
+meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.
+
+Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich ans niedrige
+Flurfenster, an dem der Regen herunter rieselte, und drückte ihr
+Gesicht platt gegen das Scheibenglas, so daß es sich satyrhaft verzog.
+Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme:
+sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth
+immer zum Lachen.
+
+Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.
+
+»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein
+Junge!«
+
+Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte.
+Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch
+alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie thun, es würde ihr gar
+nicht einfallen, -- davon war er fest überzeugt.
+
+Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster
+des Wohnzimmers und fragte, ob er noch bis zum Abendthee einen
+Kameraden aufsuchen dürfe.
+
+Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in Lenneps Novellen
+las, blickte bei seinen Worten verwundert aus.
+
+»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein
+Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht
+nur noch an das Mädchen, Erik.«
+
+»Strohfeuer!« versetzte dieser.
+
+Er stand und schaute verträumt hinaus. Seine Gedanken weilten noch
+in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine
+willkommene Zerstreuung, und darüber freute sie sich für ihn. Ihm war
+es mehr als das.
+
+»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt: »aber du
+meintest doch selbst, Jonas sei flüchtig und zerstreut im Lernen
+geworden.«
+
+»Das ist er wohl ein wenig, aber was ihm an Schulweisheit vielleicht
+dadurch abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung,
+die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm
+keine Schule.«
+
+»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er
+nun sein Herz so ganz an sie hängt --?«
+
+»Dann laß ihm diese Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an
+nichts Besseres hängen, Bel.«
+
+Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren
+Händen. Sie faltete sie im Schoß.
+
+»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.
+
+Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam.
+Wie ausgestorben schien das Haus, weil man seinen Schritt und seine
+Stimme darin nicht hörte.
+
+Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel.
+Nachts ließ er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.
+
+Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit
+fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst
+darauf folgendem unzertrennlichen Beisammensein. Aber dafür war Ruth
+heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle
+seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur
+ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«
+
+Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.
+
+Ruth dachte immerfort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie
+folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm
+den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen
+hineinzuversetzen.
+
+Als Klare-Bel ihm am Morgen beim Weggehen zurief: »Adieu, Erik,
+amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam
+ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst
+sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter
+allem, was er in gewohnter Weise sprach oder that, fühlte Ruth es
+heraus, wie eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich
+in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die ~amüsieren~, --
+sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von
+der die Gegenwart verdunkelt wird.
+
+Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl
+war auf die Terrasse geschoben worden; unten konnte sie nicht bleiben,
+weil Erik fehlte, um sie wieder heraufzutragen. Ein warmer Sommerduft
+stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und
+auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche
+drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub
+und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen
+Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie
+ein großer grüner Farbenklecks.
+
+Als der Abendthee auf der Terrasse getrunken wurde, fiel es Klare-Bel
+doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.
+
+»Es ist doch, als könnte sie es gar nicht mehr ertragen, daß Erik sich
+mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm
+keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie
+und fragte laut: »Aber, Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für
+wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du mit Erik dort?«
+
+Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie
+schüchtern an.
+
+»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen
+Erstaunen Klare-Bels.
+
+Diese zog sich nach dem Abendthee bald in ihr kleines Gemach zurück,
+um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig
+leidend. Vielleicht griff die neue Behandlung sie an, die Erik seit
+kurzer Zeit mit ihr vornahm, und die er ihr auf viele Monate hinaus
+in Aussicht gestellt hatte. Er fing wirklich schon an, wieder neue
+Hoffnung zu schöpfen.
+
+Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet, und
+Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den
+zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen
+liebte.
+
+Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob
+auch sie, ganz leise -- leise, heimlich, die neue Hoffnung hätschele?
+Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu
+werden, Erik entgegengehen zu können auf ihren zwei gesunden Füßen.
+
+Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann
+würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen
+frühern Enttäuschungen auch. Denn das hatte er gethan, -- nicht gerade
+mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen
+Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und
+manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so,
+denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen
+Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein,
+durch die er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So
+oft konnte sie es mit Verwunderung beobachten im täglichen Leben unter
+den Menschen seiner frühern Umgebung, wie belebend es auf ihn wirkte,
+daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug
+Erik wirklich schlecht.
+
+Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit
+offenen Augen. Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die
+Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; von fernher
+verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher
+Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer
+herein.
+
+Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie
+über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie,
+»wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein
+schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen
+wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen
+konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik
+also nicht sie, wie sie ihn?
+
+Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig
+streckte ihre Sehnsucht sich ihm entgegen. --
+
+Wie sie es vorausgesehen, befand sich Erik erst Stunden später auf dem
+Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum
+Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen,
+-- ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen
+der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich
+nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden; er
+erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.
+
+Der lange Gang von der Station aus that ihm nach den verflossenen
+Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein
+Lufthauch bewegte sich; am fast taglichten Himmel stand blaß und
+glanzlos der Vollmond; einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und
+von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.
+
+Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der
+Nachthelle dalag, wich langsam die noch erregte Stimmung einem Gefühl
+ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei ~den~
+Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.
+
+Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf
+die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast
+geräuschlos die Hausthür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale
+Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß.
+Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien
+Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.
+
+»Aber, Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins
+Bett!« sagte er.
+
+Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes
+Gesicht wie einen Willkommgruß.
+
+»War es schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen
+überwachen Augen an, »sollte ich denn dabei schlafen? Nein, das konnte
+ich nicht! denn ich war auch da, -- immer mit da. War es schön?«
+
+Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest.
+Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die von ihnen aufgewühlt
+worden, verflogen; er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich
+gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.
+
+Was bedeutete ihm alle Anregung, ja, was aller so ersehnte Beifall oder
+Erfolg, nach dem er im Leben gegeizt und gerungen, gegenüber dem zarten
+Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete?
+Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge
+ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden für
+so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.
+
+Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf und darüber vergaß er zu
+antworten.
+
+Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose
+umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so
+einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze
+Welt um sie her im Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt
+mit Leben; und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen,
+-- verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, -- ein Lebenverlangendes,
+Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und
+ergriffen hatte, als er Ruth zuerst im Schulhof sah, mit dem Uebermut
+in den Augen und den erhobenen Armen.
+
+Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle,
+in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.
+
+»Hätte ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und
+blickte sie mit einem Lächeln an.
+
+»Doch! aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme
+verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, in der sie den
+Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die
+nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als Ruth sie meinte,
+aber Blick, Ton und Haltung drückten es so kindlich aus, daß sie sich
+in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe
+Rührung über ihn kam.
+
+Ihm schien, Ruth sah wie verzaubert aus, -- anders, lieblicher als
+sonst.
+
+Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme.
+Nur durch die offen gebliebene Hausthür zog es ganz leise wie ein
+geheimnisvolles Raunen und Rauschen, -- ein Flüstern, das draußen durch
+das niedrige Gebüsch ging, -- die erste Ankündigung des neuen Tages.
+
+»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute
+Nacht! Guten Morgen. Liebling!«
+
+Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich, -- fest, so daß sie
+an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.
+
+Als er sie ebenso rasch wieder losließ, hatte Ruth seine Hand ergriffen
+und drückte ihre warmen Lippen darauf.
+
+Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube
+hinauf.
+
+Erik öffnete die Mittelthür im Flur, die in das Zimmer von Jonas
+führte. Er mußte hindurchgehen, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer
+zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.
+
+»Na, Papa, war es schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken
+auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«
+
+Damit schlief er weiter.
+
+Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein
+farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus,
+und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.
+
+Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am
+Boden hin, es hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der
+wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und dann schwoll
+es machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel
+durchklang, die vorhin lautlos gegen den hellen Nachthimmel starrten.
+
+Wie ein Morgenchoral klang es, und -- ganz leise, -- versuchend, wie im
+Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und
+bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein lang gezogener unermüdlicher
+Buchfinkentriller.
+
+Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden
+Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine
+geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen.
+Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung, eine
+Morgentraumstimmung, so schien ihm.
+
+Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie heute, daß sie ja
+unwiderruflich zu einander gehörten, daß sie im Grunde gleichgeartet,
+gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen:
+»Mich mitnehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm
+erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte
+stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem,
+unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß,
+Verstand und Wille gewesen. Und daß in ihr mit reiner Flamme brannte,
+was in ihm die Berührung mit dem Leben mit Schlacken und Asche vermengt
+hatte.
+
+Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.
+
+Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind
+schwieg still. Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den
+Himmel, durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen. In einem
+breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.
+
+Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben.
+Im Sonnenschein war er eingeschlafen.
+
+Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich, weder
+auf den gestrigen Tag, noch auf die Nachtstunde. Irgend ein Traum, ein
+wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt
+ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm
+zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht; ich
+glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie -- Ruth. Es ist ja Ruth.«
+
+Und ihm schien, es könne nur ~eine~ solche geben.
+
+Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.
+
+Und blitzähnlich wurde er vollständig wach.
+
+Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner
+Liebe.
+
+Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht,
+weil es überhaupt wenig seiner Natur entsprach, über sich nachzudenken.
+Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen
+Interesse am Menschen, nicht am Weibe, entsprungen war.
+
+Plötzlich war das alles anders geworden. --
+
+Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch
+auf Erik, als er endlich zu ihnen heraustrat. Klare-Bel bemerkte
+augenblicklich etwas Verändertes, Verschlossenes in seinem Gesicht,
+und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von
+Gleichgültigem zu reden begann.
+
+Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches vom Zusammensein mit
+dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine
+Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.
+
+Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch,
+-- ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.
+
+Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar
+beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung
+reichlich überwacht und angegriffen aussähe.
+
+Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der
+Morgensonne,« dachte Erik, während sein Seitenblick sie streifte.
+Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber
+unterdrückte, daß er verschlafen habe. Sie hatte nicht verschlafen. Sie
+hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.
+
+Mit der gemeinsamen Arbeit wurde es heute nun nichts. Hastiger als
+sonst stand Erik auf, um zu gehen. Die Zeit drängte, und Jonas war
+schon fort.
+
+Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm lag, und er
+wieder mit sich selbst allein blieb. Aber dennoch war ihm weder zum
+Träumen noch zum Grübeln zu Mute. Nur nach ~einem~ verlangte es ihn
+dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar
+ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor
+ihm stand. Nur nach ~einem~ verlangte ihn: davor stillzustehen und
+den Blick darauf ruhen zu lassen, fest und forschend, wie auf einem
+fremden Antlitz.
+
+Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und
+beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was
+bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt
+hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah
+er vorbei, -- ganz gerade, ganz unverwandt auf den ~einen~ Punkt, ohne
+nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick,
+kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über
+~Hindernisse~, und wären es Menschen, geht's hinweg. --
+
+Ehe Erik sich mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm einmal eine
+Photographie geschenkt, auf der sie sich im Kreise ihrer ganzen
+Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen
+Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in das er eine nur Bels Gestalt
+entsprechende Oeffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein.
+Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.
+
+Erik war es sich nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso machte: mit
+feiner eigenen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen
+Umgebung, ja, mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken
+weglöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite,
+eine Welteinsamkeit, in der nur Ruths Bild vor ihm stand.
+
+Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.
+
+Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick.
+Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an
+sein Bewußtsein heranbringen konnten, das ging von dem fröhlichen
+Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in
+ihm wurde still.
+
+Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindhafte, in
+dem noch, geheimnisvoll und verheißungsvoll, die ganze Fülle der
+Möglichkeiten ruhte, -- dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, das
+noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, -- den zarten,
+kostbaren Stoff, nach dem seine Hand sich nur herrisch ausgestreckt,
+weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?
+
+Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er
+Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt
+seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine
+Gärtnerhoffnungen.
+
+Je länger Erik sich aber so in das ihm vorschwebende Bild vertiefte,
+um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl. Er sprach zu sich
+selbst nur noch mit geringer Ehrlichkeit. Unwiderstehlich erhob
+sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren.
+Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer
+Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.
+
+Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm,
+der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte,
+damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der
+Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt. --
+
+Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die
+diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.
+
+Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für
+sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht.
+Am besten hätte es ihr gepaßt, jetzt Jonas da zu haben, aber der saß
+in der Schule und lernte, der Aermste. So entschloß sie sich denn, zu
+Gonne in die Küche hinunterzugehen. Denn lieber noch wollte sie mit
+den Händen thätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und irgendwie
+lebhaft sich bethätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so
+vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und zum »Nachdenken«. Und
+dann war es auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu
+plantschen.
+
+Gonne litt es glücklicherweise gut, wenn Ruth ihr so unerbeten mitten
+in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der hierzulande üblichen
+Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth,
+daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm es auch nicht
+anders, und zum entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer weichen
+ungeschulten Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte
+tiefernst zu.
+
+Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und
+zurückgestreiften Aermeln singend und seelenvergnügt am Brunnen.
+Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste
+von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die
+verklärte Gestalt seiner Phantasie, um derentwillen er die wirkliche
+Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische
+Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen,
+die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die
+lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen
+von der Sonne schwach gebräunten Hals.
+
+Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen, machte Erik
+plötzlich Halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.
+
+Dort, auf dem Schreibtisch, lagen noch, unordentlich, Ruths Hefte und
+Bücher umher, die heute morgen umsonst auf ihn gewartet hatten. Erik
+setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut
+hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander.
+-- -- --
+
+Mußte Ruth fort?
+
+Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich
+eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken
+umschleierte.
+
+Halb mechanisch blickte er über die Hefte hin, die aufgeschlagen
+dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als
+enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den
+Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen.
+Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger
+Schnörkel.
+
+Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine
+fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, -- ihrem Ueberströmen. Etwas
+merkwürdig Logisches.
+
+Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.
+
+Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die
+noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?
+
+Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths Kopf erschien zwischen
+den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz
+emporkletterte.
+
+»Soll ich arbeiten?« fragte sie.
+
+»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er
+und stand auf, »weißt du, was es für eine Ueberraschung gab, -- in der
+letzten Stunde vor den Ferien, in der Mädchenschule? Sie erhoben sich
+alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht
+leicht herausbringen. Sie wußten es selbst nicht genau. Sie wollten
+dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten es nur nicht zu
+bewerkstelligen.«
+
+Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule um
+sich zu hören geglaubt. Ganz deutlich empfand er aus dem unerwarteten
+»Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber
+gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit
+gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen
+Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden
+Mädchenköpfe, schaute ihm, wie aus einem Vexierspiegel, Ruths
+Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch
+mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben
+zwischen den Hopfenranken dastand.
+
+»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich ans
+Fenster; »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht
+in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht bei
+Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«
+
+Sie sah ihn voll Interesse an.
+
+»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser.
+Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder
+fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas
+fort.«
+
+»Die Braut?«
+
+»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie es jetzt bald alle
+kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr,
+meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste.
+Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«
+
+Er blickte auf sie.
+
+»So. Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es
+das Allerhöchste sei, und daß dann all das andre keinen rechten Zweck
+mehr hat?«
+
+»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie es
+dann ist? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich
+kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.
+
+Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so
+betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er:
+»Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen
+Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie
+sein zukünftiges Leben sich gestalten mag. Und deine Phantasie soll
+nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er
+mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen
+bist.«
+
+»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit
+gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man
+einen lieb haben. Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in
+der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«
+
+»~Wie~ lieb, Ruth?«
+
+Seine Stimme klang gedämpft und heiser.
+
+Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick. Nie noch, meinte
+er, eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick
+gesehen zu haben.
+
+»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.
+
+Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die
+Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten.
+Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich
+zur Faust.
+
+Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck,
+der über sein Gesicht ging.
+
+Da, wie Erik, fast furchtsam, aufschaute und die fragenden Augen vor
+sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine
+Blick und Augenblick über ihn entscheide.
+
+Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine
+Augen.
+
+»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, -- denn jetzt
+bist du doch nur erst ein kleines Mädel, -- aber wenn du längst eigene
+und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge, und viele
+andre noch, -- dann -- ~dann~ sollst du noch einmal zu mir kommen und
+mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir
+-- ~von mir~ dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwickelung.
+Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der
+Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer
+ich dann bin, das weiß ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter
+Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du
+ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste
+Hoffnung.«
+
+Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.
+
+Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und
+blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.
+
+An einem der nächsten Tage, um die Mittagsstunde, füllte eine bunte
+Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der
+Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten
+und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause
+so viel erzählten.
+
+Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen
+und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den seine Klasse ihm
+gemacht, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule
+hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken
+von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwickelung für die
+Frau, als die Gegenwart sie ihr außerhalb der Schuljahre gewähre.
+Ueber die Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft
+heraufzuführen, sprach er ihnen, und über die Zukunft der Frau, die,
+erst geahnt und nur halbenthüllt, noch vor ihr liege, von der sie aber
+Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung
+und Vollendung näher bringe.
+
+Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte,
+mitzukommen; denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der
+er redete. Sie war es ja, die in ihm die Lust wiedererweckt hatte,
+zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man
+für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er
+seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr
+erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem
+Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen
+Formen.
+
+Es war, wie wenn er eine überlebensgroße Gestalt vor den gebannten
+Menschenaugen aufrichtete, in der durch diese Größe die individuellen
+Züge unerkennbar wurden. Zu groß sicherlich, für das wirkliche Leben,
+aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit
+fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig
+einprägte.
+
+So stand Erik und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe,
+und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner
+Worte eine eigentümliche Wucht.
+
+Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie es
+ihm vorhergesagt. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als
+sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie, mit ihrem
+feinen Instinkt, immer schon dunkel und undeutlich geahnt, wenn sie mit
+Erik zusammen gewesen: daß er Gewalt über Menschenleben besaß, und daß
+er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie
+zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, -- das,
+was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Scene in
+seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht.
+Aber selbst damals hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und
+sehnend und ungeduldig er aus das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn
+enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.
+
+Als sie damals aus seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr
+fortwährend ein ganz abscheulicher Vergleich aufgedrängt. Sie konnte
+denselben nicht verscheuchen. Immer sah sie ein Weib vor sich, das
+falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des
+Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte ihre Koketterie
+nicht ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische
+Entblößung. Und die Arbeit an sich selbst.
+
+Es war aber wirklich ein abscheulicher Vergleich. Und zum größten
+Erstaunen ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.
+
+Nach dem Schluß desselben, im Treppenhause, wo Warwara beiseite trat,
+um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, bemerkte Erik sie und
+kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten so. Warwara war blaß.
+
+»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr
+gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor ihren Augen? Vielleicht war es
+wirklich einer.«
+
+»Wenn es einer war, so könnte ich wohl auf ~die~ eifersüchtig -- nein,
+aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte
+sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht
+blieb ernst; »~unser~ Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie
+anderswohin gehören wollen, als unter uns Gesellschaftsgelichter.«
+
+»Aber, Warwara Michailowna!« sagte er, von ihrem Ausdruck frappiert,
+»warum nehmen Sie sich nicht aus?«
+
+Sie schüttelte den Kopf.
+
+»Aus Selbsterkenntnis. Ich hab' Sie heut verloren,« entgegnete sie und
+gab ihm die Hand, »also adieu, -- nicht nur für heute. Ich verzichte
+auf Sie. Ich entlasse Sie. -- Aber nun hören Sie: es ist doch der
+Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«
+
+Er sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber
+als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was
+ihm, durch den Scherz hindurch, heute an ihrem Wesen so aufgefallen
+war.
+
+Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten,
+über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen
+mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen
+Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.
+
+Ja, nun begannen die Ferien, und die langen, nicht enden wollenden
+Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern, in
+die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn,
+-- einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein
+Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die
+Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich wurden, gleich
+denen, die da noch wachsen.
+
+Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.
+
+Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am
+kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß
+darauf, und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich
+ausgedacht«. Zusammen wollten sie's sich ja ausdenken, hatte er ihr
+versprochen.
+
+Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen,
+aus denen seine unbefriedigte Thatkraft ruhelos und vergeblich in die
+Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit
+und Aufgabe, -- daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken,
+Träumen und Schaffen in ~eins~ zusammen. In Ruth war etwas, das machte
+sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte,
+so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehört.
+
+Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den
+Bäumen, ums Gehölz herum, eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas -- und
+noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem
+dunkeln Vollbart und Brille. Der jagte sich mit Ruth, und haschte
+vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.
+
+Es war Bernhard Römer.
+
+Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.
+
+»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig
+außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorene
+dichte braune Haar; »-- und die Ruth nehme ich gleich mit fort, --
+das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir
+ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten,
+»das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind.
+Vierzehnjährig.«
+
+»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.
+
+»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. -- Es ist ungerecht, daß
+du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«
+
+»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau?« fragte Erik,
+ihn unterbrechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der
+Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.
+
+»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück.
+Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß Bel
+dir nicht fortlaufen kann. -- Meine Frau, die reist also herum und
+besichtigt Suppenanstalten.«
+
+»Suppenanstalten?«
+
+»Na ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana.
+Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte
+ich wohl meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer
+Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann
+bin ich nun doch nicht.«
+
+»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel staunend, »da Sie Ihrer Frau
+alles das erlauben.«
+
+»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr.
+»Meine liebe gnädige Frau, ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe
+gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundere nämlich ein
+wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie
+Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, -- sagen
+wir lieber: im winzigen. -- Aber nun will ich dir etwas sagen, mein
+lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche
+Pläne gemacht von Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, -- aber
+meine Frau, die führt sie im kleinwinzigen aus. Nur sie. Das ist die
+Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich
+wohlbestallter und -- wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur
+so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das Leben ist Frauenhand und
+Frauenarbeit -- mutige. Wir sind Stümper dagegen.«
+
+»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh,
+sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu
+sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?«
+
+»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren?
+Ja, -- doch in der Arbeitszeit, da behelfe ich mich schon mit der
+Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei:
+'s ist Arbeitzeit, Wochentag. Aber in den Ferien, -- ~meinen Ferien~,
+-- da muß ich Sonntag haben. Da muß ich -- muß ich meine Frau um mich
+haben.«
+
+Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen
+Worte. Freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß
+er selbst es war: der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf,
+-- sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem
+kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel.
+
+Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die
+alten Erinnerungen, wie sie es schon heute morgen miteinander gethan.
+Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden
+beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit war.
+
+Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung.
+
+Ruth mit Römer, -- nicht mit ihm: er konnte das Bild nicht loswerden.
+
+Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes
+Heim, -- das seltenste: eine vollglückliche Ehe. Neben dem Mann die
+gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht
+sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen
+in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine
+ewigfrische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offene
+Herz und die offene Hand.
+
+Dort würde Ruth haben, was ihr not that: in körperlicher, geistiger,
+praktischer Beziehung. Und indem sie ~ihn~ verlor, eine mütterliche
+Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte.
+
+Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere
+Liebe. Schütze sie vor dir selbst.«
+
+Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte
+Linie.
+
+Nun ja, er gestand es sich ein: daß er selbstlos Ruth dienen wollte,
+das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu
+verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das
+Letzte, -- das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst.
+
+Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes
+führe manchen zur wahren, menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaft
+thatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken.
+
+Gewiß gab es solche milden Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm?
+Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein!
+
+Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen.
+Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er,
+um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu
+sich zwingen in irgend einer Form, -- und um jeden Preis.
+
+Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen konnte, einst selbst die
+Axt an die Wurzel zu legen?
+
+Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück.
+
+Er versuchte, gewaltsam, den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an
+den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen,
+die er sich unterwegs für seine Winterpläne entworfen. Er versuchte,
+sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der
+Treppe, im Vorbeigehen, studiert, und in denen er den Ausdruck der
+Freude und der Anregung gelesen hatte.
+
+Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah
+nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, -- ohne
+Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick.
+
+Unschöne, an denen sein Auge vorüberglitt, -- hübsche, aus denen es
+teilnahmslos haften blieb.
+
+
+
+
+ IV.
+
+
+Kurz und glühend, wie immer, war der russische Hochsommer
+vorübergeflogen, und früh, mitten im August, nistete sich leise der
+Herbst im Garten ein und verlöschte mit seinen langen dunkeln Abenden
+die Sonne. Der Rasen sah fahl und versengt aus, und längs den Kieswegen
+sammelten sich die ersten dürren Blätter.
+
+Gerade da, wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes
+lag, konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten
+goldgelben Fleck hineinschauen, der täglich ein wenig zunahm. Und von
+Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter, drehte sich in der Luft
+ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder.
+
+Gleich daneben stand ein Tisch, roh aus ungeschälten Baumästen
+gezimmert, und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk
+von Weidenzweigen. Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und
+arbeiteten.
+
+Klare-Bel konnte nicht begreifen, wie sie das nur so ununterbrochen
+aushielten; manchmal schienen es ihr allerdings nur Unterhaltungen
+und Gespräche zu sein, die sie führten, aber sie wußte, wie ernst sie
+es damit nahmen, und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb, um seinen
+Unterricht vorzubereiten.
+
+Gern lag sie so und lauschte darauf; nicht auf die Worte, aber auf die
+Stimmen. Denn darüber täuschte sie sich nicht: nur in solchen Stunden
+noch klang Eriks Stimme gerade so froh wie früher. Und da war es
+wirklich gut, daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer
+in ihrer Nähe saß, wo sie ihn hören konnte.
+
+Oft dachte sie dabei mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten
+Tag im Juni zurück, den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in
+der Stadt verbracht hatte. Seit dem darauffolgenden Morgen blieb er
+verändert. Und mit diesem Tage mußte es zusammenhängen. Aber den wahren
+Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit: namentlich seitdem sie
+den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen.
+
+Denn seitdem begriff sie ganz gut, daß Erik vielleicht noch im
+stillen den alten Erinnerungen nachgehen mochte. Kehrten doch sogar
+ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück, wohin es keine
+Rückkehr gibt.
+
+Die Jugend ersteht nicht wieder auf.
+
+Wenn es doch eine Freude gäbe, -- dachte sie ganz heimlich bei sich, --
+eine große, gewaltige Freude, die sie einmal über Eriks Leben bringen
+könnte, so daß er alles darüber vergäße! Aber sie besaß nichts, -- sie
+hatte immer nur so dagelegen, mit leeren Händen, und Opfer gekostet.
+
+Vor wenigen Tagen brachte Erik unerwartet den Professor heraus, den er
+manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog. Sie war auf ihr Bett gelegt
+worden, und dann hatte Erik die in Angst und Schmerz Zitternde ganz
+fest in seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten überstanden
+waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen.
+
+»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend.
+
+»Es muß sein. Eine Aenderung ist da,« antwortete er ausweichend.
+
+Aenderung! vielleicht Genesung!
+
+Ja, nur ~eine~ große, gewaltige Freude konnte es noch geben: wenn sie
+selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat aus eigenen Füßen, --
+da mußte er wohl wieder froh werden.
+
+Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen
+Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken
+verträumten sich.
+
+Als die Strahlen der Nachmittagssonne schräger fielen, und die Schatten
+der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die
+beiden am Tisch, und Ruth stand auf.
+
+Da erschien Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich bei diesem
+Unterricht, daß immer Ruth es war, die seinen Schluß angeben sollte.
+Erik wollte es so; nur diese selbst konnte genau wissen, wann ihre
+volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur
+seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, --
+und das that er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und des Geistes
+und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein
+Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt.
+
+Er blickte sie an, wie sie, sonnengebräunt und mit vornübergewehtem
+Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von
+grobem, ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken
+und Oberärmeln, -- fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein
+Fürstenkind war sie doch.
+
+Er hatte ein Heft herangezogen, ohne Absicht es durchzusehen; nur
+mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb
+neben ihm stehen, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken.
+Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich, wegen eines
+geringfügigen Versehens, das er fand, herrschte er sie so heftig an,
+daß Klare-Bel erschrocken aufsah.
+
+Ruth zog Schultern und Augbrauen hoch und schüttelte entrüstet den
+Kopf.
+
+»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, -- nicht
+wahr? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit
+unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort.
+
+Erik war verblüfft und mußte über sie lachen.
+
+Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte
+etwas derartiges sie scheu gemacht, -- sie ~ver~scheucht. Jetzt
+weinte sie nicht mehr darüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie
+lachte. Lachte sich aus. -- Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen
+verspottete sie eigentlich? Sich selbst, -- daran war kein Zweifel.
+Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von
+Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus
+seinem Wesen heraus.
+
+Was war diese Selbstentrückung, dieses Uebermaß von Selbstvergessen
+im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, halbbewußt und wider
+seinen Willen, -- wartete?
+
+Klare-Bel hatte mitgelacht.
+
+»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du mit dem
+Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles
+teilen mußt. Wirst du nicht eifersüchtig sein, wenn nun eines von den
+Mädchen mehr kann als du?«
+
+»Warum nicht?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann
+wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da.
+Je mehr es sind, desto besser.«
+
+Erik blickte auf. Am Ende würde sie wirklich eine dritte im Bunde mit
+Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte
+niemand wissen, was sie bei sich dachte.
+
+Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie
+vor Sonnenuntergang hereinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den
+ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen
+herumgetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er
+Ruth in Beschlag nehmen konnte.
+
+Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den
+Birken auf und ab gehen. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen
+sich gegenseitig an den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst
+das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes
+Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln.
+
+Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von
+Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr mit ihrer Hand
+liebkosend über seine eigene Wange.
+
+»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an.
+
+Der schrak auf bei dem Ton.
+
+»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher.
+
+»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik, und schämte sich vor
+sich selbst.
+
+Ruth folgte Jonas ins Haus.
+
+Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach.
+
+Da war es wieder, -- dies Kindhafte, Kindische, dieses Unausgewachsene
+und sonderbar Unreife, über das er in Ruths Wesen nicht hinwegkam. Es
+nahm nicht ab, es nahm zu, -- es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne
+ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie
+junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle
+kindlichen Elemente sich entwickelten und zu immer vollerer Auslebung
+drängten, -- und daneben andere, beinahe männliche, die er in
+ihr bis dahin nur geahnt. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre
+Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische
+Richtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik
+der Träume gelebt. Sichtlich hatte das Unentwirrbare, Unklare und
+Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst
+zusammengehangen und fiel mit diesen von ihr ab.
+
+Erik ging langsam in das Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit
+resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber
+im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten
+abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war
+ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten
+wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen
+Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf
+sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel, und daß der Vater sich gerade
+die Wochentage genommen hatte.
+
+Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube
+hinauf gegangen sein.
+
+Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts
+rege.
+
+Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen
+Holztreppe.
+
+Wie ein Dieb erschien er sich selbst, als er da, in der Halbdämmerung,
+auf dem untersten Treppenabsatz zögerte.
+
+Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten.
+
+Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, -- ganz allein.
+-- --
+
+Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme.
+Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, in dem sich ihre Sachen
+befanden, und kramte darin.
+
+Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht
+viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen
+gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie die Straßenhändler sie
+auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen, am Boden,
+Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war bedeckt mit
+Bleistiftzeichnungen, die einen breiten Tintenrand als Rahmen empfangen
+hatten. Sie rührten alle von Jonas Hand her und stellten alle irgend
+einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar.
+
+Erik sah auf den Tisch nieder, auf dem Nähzeug und Papiere unordentlich
+durcheinander lagen.
+
+Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber
+in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach
+einem Wort und zog eines der Papiere unter dem Nähzeug hervor.
+
+»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht.
+
+Sie wurde dunkelrot.
+
+»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja
+auch gar nicht! Aber manchmal, wenn -- manchmal muß ich es noch thun.«
+
+»So Verborgenes thun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß
+kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf
+geht.«
+
+Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten.
+
+»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken.
+Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen
+sich, und dann muß man Verse schreiben.«
+
+Erik lachte.
+
+»O weh, die armen Verse!« bemerkte er, »also einen solchen stillen
+Winkel hast du dir noch in deinem Kopf referiert, während es aussieht,
+als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den
+Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt eine wunderschöne,
+unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?«
+
+Sie sah ihn ganz ernsthaft an.
+
+»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig.
+
+»Würdest du denn fraglos thun, was ich will? Auch im geheimsten, was
+du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?«
+
+»Immer.«
+
+Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.
+
+»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? und wenn es zufällig
+gerade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgend wann einmal,
+vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches
+geistiges Zu Hause? würdest du dann auch noch ebenso antworten: ›Was
+Sie wollen‹?«
+
+»Ja!« sagte sie einfach.
+
+Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte,
+dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben welchem,
+an der Seitenwand, ein kleiner Bücherbort hing.
+
+Ein paar Minuten vergingen.
+
+Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die
+sich in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr erkennen ließen.
+Aber Erik wußte ungefähr, was alles sich hier auf das sonderbarste
+einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus
+Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht,
+eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Uebersetzung und ein
+zerrissener Band alter russischem Volkserzählungen, Ueberwegs »System
+der Logik« und die französische Uebersetzung des Don Quixote mit den
+Illustrationen von Doré, und so fort.
+
+»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom
+Fenster her.
+
+»Weil ich es nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben verstehe ich nicht,
+Ruth. Und mir schien wohl auch immer: Bücher sind tot, nur das
+gesprochene Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können,
+nie verstehen, mein armes Mädel.«
+
+»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte etwas andres.«
+
+»Was möchtest du denn?«
+
+»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eines, in dem alles drin ist. Aber
+nicht mit Worten.«
+
+»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, malen oder meißeln
+müssen, wenn du es mitteilen willst.«
+
+»Es muß noch auf bessere Weise gehen,« meinte Ruth.
+
+»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem
+lieben Menschen an den Augen ablesen.«
+
+»Das ist schon besser,« sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen das
+Fensterkreuz zurück.
+
+Kurze Zeit schwiegen beide.
+
+Die Dämmerung sank tiefer. Ueber den Steinfliesen der Terrasse unter
+ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet.
+
+Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse.
+Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter
+Ruths Rücken hin und her im Zickzack.
+
+Erik stand mit einemmal im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände
+und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen,
+lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern
+liegen, und er beugte sich tief über Ruth.
+
+»Sage mir das nicht mehr, -- was du vorhin sagtest: daß du immer und
+fraglos thun würdest, was ich will,« bemerkte er mit gesenkter Stimme,
+»du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. -- Ich könnte ja
+auch ein Unrecht von dir wollen. -- Hast du daran nicht gedacht?«
+
+Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf.
+
+Er umfaßte sie fester.
+
+»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du
+thun?«
+
+Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien
+sich den Fall ernsthaft zu überlegen.
+
+»Unrecht thun!« sagte sie dann laut.
+
+Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie
+lachte aber über das ganze Gesicht.
+
+»Für mich ist immer ~das~ das Rechte, was Sie wollen, -- niemals ein
+Unrechtes. Besser weiß ich es nicht. Ich brauche es aber auch nicht
+besser zu wissen.«
+
+»Mein armes Kind,« sagte er leise.
+
+Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in
+ihr Gesicht.
+
+»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und
+machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles?
+Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja ~Ihr~ Kind!«
+
+Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden
+Armen und schüttelte dieselben mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich
+es denn nicht?« fragte sie wild. »Worum soll ich nicht mehr thun, was
+Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann wäre es
+besser, tot zu sein.«
+
+»Ruth!« rief er erschüttert.
+
+Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und
+schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf.
+
+»Ich will alles thun, -- alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, --
+alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die
+Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, -- Ihr Kind sein dürfen, --
+zu Ihnen sagen dürfen: ich will thun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das
+muß ich -- muß ich dürfen. -- -- Darf ich?«
+
+Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde
+unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und
+ihre Stimme klang wie Metall. Und nun ein ganz weicher, kindlicher Ton:
+»-- Darf ich?«
+
+Erik wurde zu Mute, als schaue er plötzlich, erst in diesen
+vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte
+Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum
+erstenmal hinein in das Geheimnis ihres Wesens, -- hinein in die
+stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit
+rückhaltloser Gewalt die langgehemmte, lang aufgestaute Inbrunst
+hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das
+hieß: endlich -- endlich ~Kind sein dürfen~, gehorchen, sich hingeben,
+sich weggeben, auf den Knieen noch. Es hieß sammeln und ausstürzen
+dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch
+keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen -- nur dessen
+bedurfte.
+
+Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an.
+
+»Bin ich noch immer arm, -- ein armes Kind?« schienen sie ihn
+unverwandt zu fragen.
+
+»Du bist nicht arm, -- mein Kind bist du, -- und darfst gehorchen, --
+mir folgen, -- du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser.
+
+Und er öffnete die Thür nach der Treppe, über der hell das Lampenlicht
+aus dem Flurraum heraufschien. --
+
+Diesen Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Thee in sein
+Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die
+halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht
+ausfiel.
+
+Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die
+Stadt mitzunehmen seien.
+
+»Willst du zur Stadt fahren? gerade heute? am Sonntag?« fragte seine
+Frau erstaunt.
+
+»Ja. Ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen
+notwendigen Besuch machen,« versetzte er.
+
+Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an
+Römer nach Heidelberg, der andere an dessen Frau nach Moskau. Beide
+doppelt frankiert.
+
+Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu
+schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschlossenes Gesicht.
+Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag
+traurig und besorgt diesem Gesicht nach.
+
+Dies Wortkarge, Verschlossene kannte sie als ein schlimmes Zeichen.
+Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so
+litt er. Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm
+geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht
+ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr
+immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge, die wohl auch
+sie zu Eriks Innerem hätte finden müssen, -- um ihm nahe zu kommen,
+um ihm notwendig zu werden. Aber gerade wenn er litt, wurde er am
+unzugänglichsten, -- wurde er stets abweisend, bis zur Schroffheit. Nur
+in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr.
+
+So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm
+so gern bringen wollte, -- noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm
+getragen hätte. --
+
+Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz
+gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von
+Wiesbaden zurückgekehrt war, um, nach kurzem Aufenthalt, zu den Ihrigen
+nach Livland zu reisen, wohin ihr Mann sie begleiten sollte.
+
+»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte
+der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst
+nach längeren, zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu
+seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben,
+eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denke ich mir. Wenn Sie Ihre
+Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der
+Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?«
+
+»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war
+eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für
+Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn
+das ihre Abreise unberechenbar beeilen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen
+damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen
+Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals,
+als ich sie Ihnen fortnahm.«
+
+»Ich weiß keinen Menschen aus der weiten Welt, zu dem ich mehr
+Vertrauen fassen könnte, als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei
+Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was
+Ruth betrifft, so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als
+ob selbst so nahe Verwandte wie wir, Ihnen ein Recht auf die Kleine
+abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr
+gehandelt ist, handeln Sie so! Ich meinerseits will, -- wenn ich sie
+nicht wiedersehe, -- ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen
+und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.«
+
+»Aber ich bitte dich! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim
+ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes
+unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren?
+Ich meine, mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier
+geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein
+undenkbar.«
+
+»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das
+Weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.«
+
+Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der
+»Zeit« überlassen? Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er
+für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz sicherlich ein
+Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen.
+
+»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,«
+bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich zu verabschieden, »aber
+um so mehr muß ich ein Wort hinzufügen. Du sprichst so ruhig von
+Recht abtreten, Louis! Aber ~ein~ Recht kannst du doch nie und nimmer
+abtreten. Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit. Das
+mag ja eine altmodische Ansicht sein. Aber ich möchte doch wissen, wie
+Herr Matthieux darüber denkt.«
+
+Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten
+Augen. Zum erstenmal gefiel sie ihm. Eben die Kampflust gefiel ihm.
+Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte, war sie doch ein besserer Wächter als
+er.
+
+»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so fürchten Sie, daß ich mit
+meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber
+übernehmen würde. Wenn es etwas gibt, was Sie von dieser Furcht
+befreien kann, so nennen Sie es nur.«
+
+Der Onkel sah fast verlegen aus, aber sie beachtete es nicht.
+
+»Ich antworte Ihnen als gläubige Frau,« entgegnete sie, die stolz
+war auf baltische Ueberzeugungstreue, »mir bedeutet moralische
+Verantwortlichkeit: schuld sein wollen an einem Menschen, -- schuld
+an dem, was an seinem innern Menschen geschieht. Nicht zulassen, daß
+er Schaden daran nimmt. Wie sollte man das ohne Gott, ohne religiösen
+Glauben auf sich nehmen können? Wenn Sie nun Ruth fortgeben, -- können
+Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen?«
+
+Ueber Eriks Züge ging ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wußte, der
+sie aber wider ihren Willen ergriff.
+
+»Nun verstehen wir uns,« sagte er mit unterdrückter Bewegung, »denn
+eben das soll mein Recht sein: ich will schuld sein an diesem Kinde!«
+
+Sie fand, es klang arroganter als je. Es war nichts, das ihre
+religiösen Bedenken beruhigen konnte. Aber ihr war dennoch, als habe er
+»Gott« gesagt. --
+
+Erik ging dem Bahnhof zu. Fast kein Mensch außer ihm in den leeren
+Straßen; auch die letzten, die den Sommer in der heißen, ungesunden
+Sumpfluft der Stadt zubringen mußten, entrannen ihr am Sonntag. Nur
+hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Thür einer
+Kellerschenke, oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über
+das schadhafte Holzpflaster, das stellenweise noch weit aufgerissen
+dalag und darauf wartete, daß seine alljährlichen Löcher in schöner
+Mosaikarbeit zugestopft würden.
+
+Verlorene Glockenklänge, die letzten von einer der zahllosen Kirchen,
+zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin, wie Grabgeläute über
+einer Totenstadt.
+
+Erik ging langsam, müden Schrittes heimwärts.
+
+»Nicht zulassen, daß sie Schaden nimmt,« wiederholte er die eben
+gehörten Worte. Ja, genau das wollte er doch. Noch war die Umpflanzung
+in einen neuen Boden möglich, wenn er seinen kleinen Baum behutsam,
+mit allen feinsten Würzelchen, dort eingrub. Nur so konnte er jetzt
+seine Gärtnerdienste an ihm thun, damit derselbe nicht Schaden nehme an
+seiner Entwickelung, die noch in hart und fest geschlossenen Knospen
+vor sich ging, -- undurchsichtig von allen Seiten.
+
+Denn manchmal, da wachte etwas Gewaltthätiges in ihm auf, -- im
+pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben, der sich am
+Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte, um zu sehen, ob
+eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft.
+
+Aber er fiel sich selbst in die gewaltthätige Hand; er selbst riß Ruth
+sich aus der Hand.
+
+Verdirbt denn ein Vater sein Kind, ein Mann sein Weib, ein Künstler
+sein Werk?
+
+Und ihm schien: seine Liebe zu Ruth sei alles dieses.
+
+Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet; als er kam, wurde
+es einsilbig eingenommen. Klare-Bels Hoffnung, Erik werde erzählen, bei
+wem er den Besuch gemacht, erfüllte sich nicht.
+
+Er wußte wohl, daß er nun davon sprechen mußte. Mit ihr und mit Ruth.
+Es war ihm das Schwerste.
+
+Das dachte er, als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers
+stand und wartend in den Hintergarten hinausblickte, wo Ruth sich mit
+Jonas erging: »Nur nicht sprechen, -- nur nicht grübeln, -- handeln!
+Sie aus den Arm setzen und forttragen. Handeln! Wer es wortlos dürfte!«
+
+Und nun ging Jonas ins Haus.
+
+Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter.
+
+Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steinrand des Springbrunnens.
+Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast
+im Grase.
+
+Wie sie ihn kommen sah, warf sie ihren Zweig fort und lief ihm
+entgegen. Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch, zum verspäteten Essen,
+und nun schlich sich ihre Hand in die seine.
+
+Ohne recht zu bemerken, was er that, steckte er sie mitsamt der seinen
+in die Seitentasche seiner Joppe.
+
+Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf, aber als sie den ernsten,
+beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah, verstummte sie ebenso
+plötzlich.
+
+Sie gingen einige Schritte dem kleinen Gehölz zu.
+
+»Heute war ich bei deinen Verwandten, Ruth,« sagte Erik, »sie waren
+beide da. Ich wollte sie einmal etwas auf das hin ausfragen, was wir in
+den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben. Weißt
+du nicht? Ich meine daraufhin, ob du nicht einmal im Auslande tüchtig
+weiterlernen könntest.«
+
+Sie sah ihn erwartungsvoll an. Dies da interessierte sie sehr und ein
+wenig beunruhigte es sie auch. Denn es handelte sich doch eigentlich
+erst um ein ganz allgemein gehaltenes, unbestimmtes Zukunftsbild, --
+nicht um etwas, was schon erwogen und besprochen werden mußte.
+
+»Nun? und was meinten sie darauf?« fragte Ruth gespannt, als er
+schwieg.
+
+»Sie haben nichts dagegen einzuwenden, Ruth. Nichts Ernstliches. Da ist
+es denn Bernhard Römer gewesen, an den wir dabei gedacht haben. Dort
+wüßte ich dich im richtigen Hause geborgen. Es wäre fast so, als wenn
+ich selbst bei dir bleiben konnte.«
+
+Ihre Hand, die er noch umfaßt hielt, erkaltete in der seinen.
+
+»Ja, -- aber -- das ist ja noch so lange hin!« meinte Ruth ganz
+langsam, und dann immer schneller, in wachsender Unruhe: »Es ist doch
+noch lange hin? Sehr lange? Ich soll doch nicht -- bald fortgehen? ~Von
+hier~ -- -- fortgehen!«
+
+Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu, die unter den
+Birkenbäumen standen.
+
+»Komm zu mir,« sagte er sanft, »setze dich zu mir her, mein Liebling,
+und laß uns ruhig darüber sprechen. Ganz ruhig, -- hörst du?«
+
+Sie folgte ihm schweigend, aber ihre Augen hingen unverwandt, mit
+tausend aufgestörten bangen Fragen, an seinem ernsten Gesicht.
+
+»Sieh, Kind,« fuhr Erik fort, »wenn wir hier, während unsrer
+gemeinsamen Arbeit, an deine Zukunft dachten, dann schwebte sie dir wie
+ein erwünschtes, lockendes Bild vor. Ich wollte, daß du dich später
+weiter entwickelst, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir,
+wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich selbst einst erstrebt,
+könntest, in andrer Form, du einst verwirklichen. Aber was so, als
+Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näher rücken müssen,
+bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich
+wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.«
+
+»-- -- Wie nahe -- -- ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum
+war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre
+beiden Hände flach gegen die Ohren preßte.
+
+»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will es nicht wissen! bitte,
+nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.«
+
+Einen Augenblick schloß er die Augen.
+
+Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang dieselben zu sich
+nieder.
+
+»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich
+vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Gerade hiervon werden
+wir weitersprechen. Denn, je mehr du noch davor zurückscheust, desto
+dringender, desto eher muß es geschehen.«
+
+Ruth war sehr blaß geworden.
+
+Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie
+noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen konnte, was aber vor
+ihr empordämmerte, -- unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, --
+schattenhaft, gleich einem Riesengespenst.
+
+»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will
+nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!«
+
+Er beugte sich zu ihr und suchte ihren Blick.
+
+»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will
+es? Auch nicht, wenn ich selbst es bin, der dich bei der Hand nimmt,
+dich vor etwas hinstellt, das dir schwer fällt, damit du lernst, es
+herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?«
+
+Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter.
+
+»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln, »-- irgend
+etwas Schreckliches ist da, -- seit gestern ist es da, -- und
+kommt heran, immer näher, -- ganz dicht heran, -- ganz nahe. Wie
+ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. -- Ist es etwas
+Schreckliches -- --?«
+
+»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »-- nur das,
+was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was
+du mir versprachst? die Probe stellen. Wenn ich es nun thue, Ruth, --
+ziehst du dein Versprechen zurück?«
+
+»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es
+keine Auflehnung. Nur Gehorsam.
+
+»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich
+thun?«
+
+Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen zusammengezogen, und
+seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen
+Schmerz.
+
+Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend bei einander.
+
+Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ein rundliches
+gelbes Birkenblatt nach dem andern ihnen in den Schoß. Mühsam schien
+die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den
+Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner, satter Ton
+die Stille um sie.
+
+Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst
+dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal
+in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst thun, was du schon einmal
+thatest, als dir das langsame Herankommen, -- Näherkommen von etwas
+Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als Jonas uns die Schlange ins
+Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht
+mehr, was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand?«
+
+»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein
+Mittel?«
+
+»Du sagtest: ›Dann lieber -- gleich!‹«
+
+Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen
+ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte.
+
+Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Kniee,
+in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag.
+
+»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein
+Kind! mein Liebling! hörst du mich?«
+
+Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das
+Bewußtsein verloren.
+
+Inzwischen kam Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus
+beobachtet hatte, wie der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz
+hineingegangen war.
+
+Wie versteinert stand er still, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen
+hervortreten sah und Ruth mit geschlossenen Augen regungslos in seinen
+Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die
+linke hing schlaff herunter.
+
+»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halte mir die Thüren
+offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.«
+
+Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus,
+nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzuschauen, und ins Haus
+hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die
+Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen
+oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Thür, durch
+welche man das schmale weiße Bett mit den zurückgeschlagenen Decken
+sehen konnte.
+
+Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht; er wäre so gern
+mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend
+an ihm vorbei und zog die Thür hinter sich zu.
+
+Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der
+Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während ~er~
+zurückbleiben mußte.
+
+Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches,
+einen starren, wortlosen Ernst, -- so, wie wenn Ruth schon so gut wie
+tot sei.
+
+Jonas überlief es kalt.
+
+Er klammerte sich an den Thürgriff und lauschte mit zurückgehaltenem
+Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme,
+halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine
+Pause, -- und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber
+so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte.
+
+Was that man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was that der Vater ihr
+an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im
+kleinen Gehölz vor sich gegangen sein.
+
+Und er durfte die Thür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine
+rasche, wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in
+ihm auf: daß er ein Knabe war, und der Vater ein Mann! Daß er nicht
+eindringen durfte mit gleichem Recht, -- mit Gewalt!
+
+Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehen,
+wenn sie bei seinem Vater war.
+
+Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben
+der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein.
+
+Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und
+brach in Thränen aus.
+
+»Ruth ist halbtot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt!
+Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, -- ich weiß nicht, was
+Papa thut, aber ganz bestimmt thut er ihr weh. Sie darf aber nicht
+sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch
+die Blätter im Garten!«
+
+Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er
+selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob Erik nicht
+bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam.
+
+»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in
+großer Unruhe entgegen.
+
+»Sei nur ruhig; es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas
+einen Wink, hinauszugehen. Dann trat er an seine Frau heran und sagte:
+»Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend
+vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in
+diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.«
+
+Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen
+Staunens an.
+
+»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du
+denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?«
+
+»Das muß ich doch können, Bel.«
+
+Im beginnenden Zwielicht vermochte sie nicht seine Züge genau zu
+erforschen. Aber dieselben kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und
+diesen Ausdruck kannte sie.
+
+»Erik!« sagte sie ängstlich, »thu nur nichts so gewaltsam. Du siehst
+ja, daß es sie krank macht. -- Warum siehst du so hart aus, Erik?«
+
+»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen
+kann ich nicht. Aber ängstige dich um nichts. Ruth wird morgen gesund
+sein, und auch gefaßt. Für ihre Haltung stehe ich ein. Aber sei gut und
+freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.«
+
+»Verreisen? Du reisest fort, Erik? Wohin?«
+
+»Nach Moskau.«
+
+»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft.
+
+»Ja. Ihr soll Ruth sich anschließen. Und sie wird sich wahrscheinlich
+hier nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und
+besprechen. Mündlich.«
+
+Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum
+hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen.
+
+Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt.
+
+»Erik!« flüsterte sie, »-- laß mich dich bitten: lasse sie noch ein
+Weilchen bei uns. -- -- -- Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!«
+
+»Du -- -- -- Bel?«
+
+»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.«
+
+Er zog ihre Hand an sich, und an den Mund und küßte sie voll Scham und
+Ehrfurcht.
+
+»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht
+sein.« --
+
+Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung
+mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war
+er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau ab.
+
+In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik.
+Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth werde bis zum Spätherbst bei ihnen
+im Haus und dann, vom Hause ihres Onkels aus, nach wie vor in engster
+Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob
+sie dann, später, mit Jonas zusammen auf die Universität abgehen solle?
+Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang
+an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus.
+
+Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise
+zu üben. Da er es so wollte, mußte es so wohl gut sein. Gut für Ruth.
+Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben.
+Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam.
+
+Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hatte sie
+geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu
+thun. Zum erstenmal fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für
+Ruth, -- nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurchging
+und alles auf ihn bezog. --
+
+Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von
+den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer
+einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß
+und ernst, aber gesund, wie Erik es gesagt hatte, und ganz gefaßt und
+still.
+
+Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte Klare-Bel ihr die Arme
+entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denke
+nicht an die Abreise. Noch bist du hier!«
+
+Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht
+verändert hätte, und schüttelte den Kopf.
+
+»Ich bin schon fort!« entgegnete sie.
+
+Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es lag etwas
+Schmerzlicheres darin, als in Klagen und Thränen, -- etwas, das die
+bloße Ankündigung der Trennung schon mit ganzer Wucht als Trennung
+empfand und nicht mehr davon los konnte.
+
+Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam Erik ihr
+doch hart vor. Wie konnte er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus,
+von Hand zu Hand ging. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die
+wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit
+griff sie nach dem Höchsten, das sie gekannt hatte.
+
+»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,«
+sagte sie zögernd, »wir wissen es nie. Es steht in Gottes Hand.
+Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehen. Gott ist
+allgegenwärtig.«
+
+Ruth lächelte flüchtig.
+
+»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott
+allgegenwärtig ist, wenn die Menschen es doch nicht sind? die Menschen,
+von denen wir fortgehen.«
+
+Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu
+wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen
+zugleich. Wer mochte darauf antworten?
+
+Ueber Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht
+davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht darüber, ihn nicht
+zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in Auflösung begriffen.
+
+Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es
+ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er
+nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war
+seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt.
+
+Gern hätte er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei,
+aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem, fremdem Blick an
+ihm vorbei, daß er es nicht herausbrachte. So begnügte er sich damit,
+so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne
+gelegt, und von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu
+streicheln. Manchmal duckte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß
+Ruth es beachtete.
+
+Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung,
+daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten
+hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt, aus Todesgefahr errettet,
+-- wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem.
+
+Spät abends, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war,
+patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf
+und ab, und es that ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte.
+Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett,
+aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder.
+
+Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf
+einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen
+Morgengrauen, noch Licht brennen.
+
+War sie krank? unglücklich?
+
+Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und
+kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte
+Ulme; sie besaß einen bequemen Sattel, von dem aus zwei mächtige Aeste
+sich gabelten. Wie eine Katze glitt Jonas am bemoosten, von den starken
+Niederschlägen der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf.
+
+Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der
+Giebelstube fiel.
+
+Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie
+hinaufgestiegen war, saß sie noch da; die Arme vor sich hingestreckt,
+die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr
+Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über
+die dunkeln Wipfel des Gartens.
+
+Sie schaute so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne.
+Und um die festgeschlossenen Lippen lag ein stiller Ausdruck, -- lag
+Ergebung.
+
+Jonas starrte auf sie hin mit weitgeöffneten Augen. Er war so im Bann
+des ~einen~ Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das
+flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht,
+daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, --
+nicht, daß auf ihnen ein offener, halbgefüllter Koffer stand, und daß
+die Wände, ohne den Schmuck seiner Bleistiftsskizzen, kahl und leer auf
+Ruth niederblickten.
+
+Er sah nur sie, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden
+Heiligen, und alles, was in dem gestrigen Erlebnis seine schwerfällige
+Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute
+Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde zu etwas Geheimnisvollem und
+Leidendem für ihn; aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen,
+das seine Schwärmerei wachrief.
+
+In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut von gestern; er sah
+sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, -- und sein Herz
+schlug beklommen. Er vermochte die Augen nicht vom Fenster abzuwenden.
+
+Die Nacht war kalt; vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und
+blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz
+klang verschlafen ein Rabenkrächzen.
+
+Jonas fror; er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und
+drückte sich dichter gegen die breiten Aeste, deren Feuchtigkeit ihn
+allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffeln
+klatschend aus die Terrasse nieder.
+
+Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er
+hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte Ruth
+sich. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit
+geweckt.
+
+Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern.
+
+Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten
+Hemde, die zarte Wölbung der Brust.
+
+Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die
+entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Kniee
+und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper
+langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen.
+
+Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh,
+er hatte die Kälte vergessen.
+
+Vor seinen Augen flimmerte es.
+
+Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um
+nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett.
+
+Ueber ihm glomm langsam der Morgen herauf. --
+
+ * * * * *
+
+Als Gonne früh morgens, beim Fegen der Terrasse, den Pantoffel auflas,
+war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos
+vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein
+starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum
+sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber. Auf Klare-Bels besorgtes
+Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben.
+
+Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett.
+
+Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn
+erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug
+benutzt.
+
+Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte
+unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun
+seines, -- was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften
+von seiner Hand, -- der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den
+Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben
+von ihrer Hand.
+
+Da vernahm sie unerwartet im Flur einen raschen, festen Schritt.
+
+Die Thür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine
+Brust.
+
+Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der
+einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv
+hin.
+
+Um so mächtiger jedoch wirkte der plötzliche Anblick Eriks jetzt auf
+sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, -- in diesem einen
+Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der
+bevorstand, -- leugnete ihn, vernichtete ihn, -- in diesem Augenblick
+wurde alles, -- alles gut.
+
+Sie vermochte nichts zu denken, als daß er da war. Und daß sie bei ihm
+war.
+
+Fest, -- fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, fest barg sich
+an seiner Schulter ihr Gesicht.
+
+So stehen bleiben, -- für immer so stehen bleiben, festgewurzelt für
+immer an dieser Stelle, hineingeschmiegt in die weiten, weichen Falten
+des geöffneten Reisemantels, -- nichts fühlen, nichts vernehmen, als
+den starken, dumpfen Herzschlag, der ihr entgegenpochte, -- für das
+ganze Leben nichts -- nichts mehr.
+
+Sie wechselten kein Wort.
+
+Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten; stumm hielt
+er Ruth an der Brust, schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr
+Haar.
+
+Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern, um ihre
+Hüften, und umschlossen sie mit so gewaltthätigem Griff, daß es wie
+Schmerz und Ersticken über sie kam, -- als müsse er sie nun zerbrechen.
+Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust, -- sterben, --
+nicht fortgehen, -- dachte sie, und es überflutete sie mit einem
+jauchzenden Glücksgefühl, wie sie es nie gekannt.
+
+Erik sah sie lächeln.
+
+Er verlor die Besinnung.
+
+»Wahnsinn!« schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf, »Wahnsinn! Wahnsinn,
+sich zu lassen, wenn man sich liebt.«
+
+Eine Sekunde lang, -- dann ließ er sie so jäh los, daß sie
+zurücktaumelte. --
+
+»Erik!« rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer, »Erik, bist du
+wieder da?«
+
+Er hing den Mantel an den Ständer, dann öffnete er die Thür zu der
+Wohnstube, in der sie lag.
+
+»Denke nur, Erik, Jonas ist inzwischen krank geworden, -- so schwer
+erkältet, -- hoffentlich ist es nicht schlimm. Er hat -- -- aber was
+ist dir?«
+
+Er stand da wie ein Betäubter, das Blut in den Augen.
+
+»Nichts. Ein Schwindel,« murmelte er, setzte sich an den Tisch und
+stützte den Kopf auf die Handflächen.
+
+»Das ist diese übertriebene Eile!« klagte sie besorgt, »-- daß es mit
+solcher Windeseile vor sich gehen soll. Wann ist es denn nun, daß sie
+reist, Erik?«
+
+»Morgen, -- um Mittag,« sagte er leise.
+
+»Mein Gott, so schnell ist es aber doch rein unmöglich! Denke doch nur,
+was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt.
+Ruth braucht doch gewiß noch manches, was für sie beschafft werden
+muß.«
+
+»Es kann alles in Heidelberg beschafft werden.«
+
+»Nun ja, Erik. Aber wenn du wüßtest, wie tief es ihr geht. Wie blaß und
+elend sie ausgesehen hat, gestern und heute. Sie ist doch nur zart.«
+
+»Hör auf!« sagte er zwischen den Zähnen.
+
+»Ach, Erik, ich widerspreche dir ja nicht! Das thue ich ja niemals! Sie
+thut mir nur so leid. So allein ist sie, und so liebebedürftig. Und
+nun: von Haus zu Haus, von Hand zu Hand. Und wenn sie nun erkrankt, --«
+
+»Hör auf!« unterbrach er sie außer sich und sprang auf, und warf den
+Stuhl zurück, daß er zu Boden schmetterte, »hör auf, Bel! Es ist genug!
+Ich will es so!«
+
+Damit verließ er das Zimmer.
+
+Mit erschrockenen Augen sah sie ihm nach. Erik war fast immer sanft
+gegen sie, obschon -- oder vielleicht weil -- ihr Wille gegen den
+seinen nie recht in Betracht kam. In so heftigem Ausbruch hatte sie ihn
+lange nicht mehr gesehen, -- wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr.
+Kranke sind gute Lehrmeister!
+
+Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe. Da war ihm der rasche Zorn noch
+nicht verraucht, da ward er leicht heftig, wenn seine Frau nicht ganz
+dem entsprach, was er erwartet, was er mit ihr gewollt hatte.
+
+Seltsam: damals erschreckte es sie nicht, -- nein, mehr noch, so
+wunderlich es auch sein mochte: sie liebte diesen Zorn. So deutlich
+fühlte sie, daß Eriks Liebe damit verknüpft war. Gegen einen ihm
+gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden. Mit dem Interesse
+an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen, ihn
+zu formen, zu gestalten, nach seinem Willen umzuprägen. Liebe und Härte
+fielen zusammen.
+
+Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen, da befanden
+sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen: die eine,
+im roten Sarafan, auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel
+dreinschlug, lachte über das ganze Gesicht; die zweite, im blauen
+Sarafan, saß daneben am Weg auf einem Stein, sah neidisch zu und weinte
+sich die Augen aus, indes ihr Liebster mit einer andern spazieren ging.
+
+Das war gewiß eine dumme Geschichte. Aber diese beiden Bauersfrauen
+konnte Klare-Bel gut verstehen.
+
+Niemals sollte sein Zorn sie schrecken: nur, daß er mit seinem Zorn
+seiner Liebe vergäße. --
+
+Der Tag schlich langsam zu Ende. Es war so still im Hause, als ob
+keiner darin anwesend sei. Erik hatte lange bei Jonas gesessen,
+ihn genau angesehen, alles Notwendige veranlaßt und den heftig
+Widerstrebenden gezwungen, sich ganz zu Bett zu legen. Es handelte sich
+um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber.
+
+Ruth stand auf dem Flur, gegen das Treppengeländer gelehnt. Sie wußte
+selbst nicht, warum sie dort stand. Wahrscheinlich weil alle Thüren
+sich in den Flur öffneten. Und aus einer der Thüren mußte doch endlich
+Erik kommen. Und wenn er kam, mußte er doch zu ihr treten. Sich nach
+ihr umwenden. Er mußte doch einsehen, daß es unmöglich war, so fremd
+aneinander vorüberzugehen, wie er es heute abend that.
+
+Sie wollte so wenig: nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte
+sie, -- nur seine Hand fühlen, einen Augenblick lang.
+
+Seitdem Erik sie an sich gerissen, und von sich gestoßen hatte, war
+eine ratlose Verzweiflung über Ruth gekommen. Die äußere Trennung,
+die nahm sie ja hin, wie etwas Furchtbares, aber Unabwendbares, weil
+er es so forderte. Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von
+sich losriß, das konnte sie nicht ertragen. Ihn den Blick absichtlich
+fortwenden zu sehen, -- ohne ein Wort der Liebe für sie, ihn wie einen
+Fremden dastehen zu sehen, -- das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen.
+
+Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus. Als er Ruth an
+der Treppe bemerkte, sagte er ihr gute Nacht. Sie machte eine Bewegung
+auf ihn zu, ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf.
+Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er gab ihr nur flüchtig die Hand.
+Dann ging er an ihr vorüber, zu Jonas hinein.
+
+Bald darauf siegte die Uebermüdung über ihn; wider Erwarten fiel er in
+einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten
+seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß
+bedeckten.
+
+Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und
+gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere
+Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer
+Theaterposse, als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der
+unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick. Und da,
+als er in der Angst des Traumes gewaltsam seine Augen von der Fratze
+wandte, -- fort, einem andern Ruthbilde zu, -- da wandelte es sich vor
+ihm -- zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth, -- und
+schamlos, fremden Männern preisgegeben, -- einen weißen Körper, der
+nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, --
+und doch wußte er: es sei Ruth.
+
+Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus
+hörte er küssen und lachen.
+
+Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den
+Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an
+Eriks Ohr.
+
+Er richtete sich auf und lauschte.
+
+Das Weinen kam aus Jonas' Bett, welches neben der offenen
+Verbindungsthür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, wie er
+es in den Kissen zu ersticken suchte.
+
+Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas'
+Bett. Als dieser ihn kommen hörte, verkroch er sich nur tiefer in seine
+Decken.
+
+»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker
+geworden?«
+
+»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt
+im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat
+nichts genützt, es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht
+wußte, habe ich gehört! Ich habe gehorcht und habe es gehört!«
+
+Erik schwieg einen Augenblick betroffen.
+
+»Du sprichst im Fieber,« sagte er dann, »was weißt du denn, was hast du
+gehört?«
+
+»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!«
+
+Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen.
+
+Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm die Hand besorgt an die
+trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß seine Hand zurück.
+
+»Nein!« sagte er fast keuchend, -- »du willst es ja, -- du bist
+es ja -- schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth,
+-- schützen, denn was weißt du, -- wie ihr zu Mute ist. Du weißt
+nicht, hast nicht gesehen, -- wie sie daliegt die Nächte, -- halb
+ausgekleidet, an ihrem Bett, -- wie gestern.«
+
+Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so
+daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß, um den Schmerz zu
+beherrschen.
+
+»Was hast du -- gestern -- gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme.
+
+Jonas setzte sich auf.
+
+»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie,
+-- oder betete, -- so geheimnisvolle Augen hatte sie, -- und ich habe
+mit ihr gewacht, -- ganze Nacht, heimlich, oben, in der alten Ulme vor
+der Terrasse.«
+
+Erik sprach kein Wort.
+
+Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas
+über Stirn und Haar hin. Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen.
+Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten
+liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehen und Mitfühlen, das
+ihn um die letzte Fassung brachte.
+
+Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein
+unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halbverständlich, brachen die Worte
+aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln:
+»Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann es nicht aushalten, daß sie
+fortgeht! Ich war böse auf dich, -- nimm's nicht übel, -- hilf mir!
+halte sie, Papa! sie bleibt da, wenn du es willst. Früher war ich mal
+eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebst als mich.
+Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich
+liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf
+der Welt!«
+
+Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest.
+
+»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen
+Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst nicht
+hier liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber.
+Nimm dich zusammen.«
+
+Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam.
+
+Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände los
+zu lassen.
+
+»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein
+Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du
+mir folgst, aber anders als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt
+trennen. Wir alle müssen es. Denn morgen schon reist sie fort, und bis
+dahin wirst du nicht aufstehen dürfen.«
+
+Jonas fuhr empor.
+
+»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht!
+Ich muß Ruth küssen, -- ich muß sie küssen, -- wenn sie geht!«
+
+»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht
+küssen wollen, hoffe ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede
+Widerrede abschnitt; »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern
+auch alles thun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen,
+wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit,
+keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung
+mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du thun. Ich muß mich
+unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen
+soll. -- Kann ich es?«
+
+»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er
+konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt.
+
+»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen
+ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas
+war, als spräche er mit den Lauten seiner Mutter zu ihm, »wenn Ruth von
+dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein
+Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran,
+daß du bald ein ganzer Mann wirst, -- damit du ihr einst ein ganzer
+Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du, in allem was
+du thust, zu ihr zurück, -- ihr nahe. Dulde es nicht, daß sie dich so
+ganz überflügelt und dich einst weit -- weit hinter sich zurückläßt!
+Jetzt kannst du zeigen, was du wert bist, -- und ob du's wert warst,
+Ruth gehabt zu haben.«
+
+Jonas lag ganz still und lauschte.
+
+»Ja!« sagte er begeistert, »das will ich! ach, Papa, das will ich!«
+
+Und er hob den Kopf und küßte den Vater. Erik hielt seinen Kopf einen
+Augenblick lang an sich.
+
+»Wir werden ~nie mehr~ hiervon miteinander sprechen,« sagte er leise,
+-- »nie mehr. Aber vergiß es nicht. Zwinge deine Gedanken auf die
+Arbeit, auf das, was vor dir liegt. Suche dich mit mehr Festigkeit zu
+beherrschen. Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen.
+Streng mit dir sein müssen, mein Junge. Mache es mir nicht schwer.«
+
+»Papa,« versetzte Jonas so zutraulich, wie er sonst nur mit Klare-Bel
+zu sprechen verstand, »ich will mich nie wieder vor dir fürchten. Sei
+so streng du willst gegen mich. Du hilfst mir ja damit, nicht wahr?
+Tüchtig zu werden. So fest und tüchtig wie kein andrer. Ausstechen muß
+ich jeden andern! Hilf mir schnell, ein ganzer Mann zu werden! -- Ein
+Mann für -- für -- ich meine: ein Freund für Ruth.«
+
+Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert; Erik mußte
+ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen. Nun schwieg er; er
+lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft.
+
+Erik war außer stande, sich wieder schlafen zu legen; er kleidete sich
+vollständig an. Er fühlte sich frei; wie erfrischt von einem langen,
+gesunden Schlaf, wie gekühlt und gestählt durch ein erquickendes Bad.
+Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend, die noch auf
+seinen Träumen gelastet hatte, war verflogen. In der Einwirkung auf
+einen andern, dessen Unruhe er bezwang, dessen innerste, widerstrebende
+Gedanken er bestimmte, -- im kurzen Kampf mit dem Knaben, der zugleich
+sich gegen ihn auflehnte und ihm vertraute, hatte er sich selbst
+zurückgefunden. Seine Kraft geweckt und gesammelt. Er wußte recht
+wohl, wie es damit stand: wenn er sich am schwächsten fühlte, dann
+erstarkte er an der Kunst, andre in überlegener Behandlung zur Stärke
+zu veranlassen; an der gehobenen und mutigen Stimmung, die er von ihnen
+forderte und in ihnen hervorrief, -- an seinen eigenen überzeugten,
+überredenden Worten kletterte er selbst zu neuem Mute, neuer Zuversicht
+empor, wie an einer langen Leiter, die sich manchmal mitten aus seiner
+eigenen Verzagtheit erhob, aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien,
+-- bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen.
+
+Viele tausend solcher Leitern, festgehalten von den Händen einer
+Menschenmenge, die ihn umdrängte, die an ihn glaubte, die auf ihn
+angewiesen war, -- und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen.
+
+Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen! denn Stützen
+waren es, -- wie sehr auch er selbst als der Stützende dabei erschien.
+Niemand ist absolut stark.
+
+Erik wußte recht wohl, wo seine Gefahr lag, wo auch in ihm der
+Schwächling steckte: da, wo er sich allein überlassen blieb.
+
+Draußen herrschte noch dunkle Nacht. Es schlug drei Uhr.
+
+Erik litt es nicht im engen, warmen Zimmer. Er öffnete leise die
+Hausthür und trat hinaus.
+
+Die Finsternis war so dicht, daß er nur langsam der Tiefe des Gartens
+zugehen konnte. Er empfand den aufsteigenden Nebel, ohne ihn zu sehen.
+Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des
+kleinen Gehölzes. Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein
+verlorener Stern. Das letzte Mondviertel, der schmale, blasse Vorläufer
+der Morgenröte, war noch nicht sichtbar.
+
+Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen. Er vernahm
+absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter. Aber er fühlte, daß
+er nicht allein sei.
+
+»Ruth!« murmelte er unwillkürlich.
+
+»Ja! was soll ich?« fragte sie schüchtern.
+
+Mit einem Schritt stand er neben der Bank; er tastete nach ihr.
+
+»Was du sollst?! Im Bett sein!«
+
+Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um.
+
+»Was thust du hier mitten in der Nacht? Weißt du nicht, daß Jonas sich
+in dieser gefährlichen, kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat?«
+
+»Ja, ich weiß es. Aber mir schadet das nichts,« versetzte sie zaghaft,
+»das Fieber thut so gut; ich kenne es gut: da liegt man im Traum und
+hört auf zu denken. Und da dachte ich, ich könnte es auch so gut
+haben.«
+
+Jetzt fühlte sie seine Hand, die sich fest um ihr Handgelenk legte.
+
+»Was sagst du da?« fragte er ganz langsam, »du ~suchtest~ das Fieber?«
+
+»Nein! nein!« rief sie flehentlich, »ich will es ja nur ein wenig, --
+ein klein wenig nur, -- nicht so, daß es die Abreise hindern sollte!
+Ganz gewiß nicht!«
+
+Ein Laut brach von seinen Lippen, wie wenn er verwundet würde. Sie
+konnte hören, wie seine Zähne leise übereinanderknirschten.
+
+Er beugte sich über sie.
+
+»Und das -- das glaubtest du zu dürfen,« sagte er matt.
+
+»Ja, ich durfte es; denn ich will ja thun, was ich versprochen habe.
+Bin nicht ungehorsam. Nur so ganz allein bin ich. Niemand, der nur ein
+bißchen hilft. Da sollte das Fieber mir helfen. Ich darf thun, was ich
+will, -- wenn es nichts aufschiebt,« versetzte sie finster.
+
+»So. Und wenn du nur rechtzeitig fortgekommen bist, meinst du, --
+dann könntest du thun, was du willst? Auch vielleicht dich irgendwo
+hinsetzen und krank werden, wenn dir das ›hilft‹? Du irrst dich, mein
+Kind. Ich lasse dich nicht los, indem ich dich fortlasse. Und aus der
+Ferne sollst du mir doppelt gehorchen. Dein Versprechen geht auf dein
+ganzes Leben. Du bist mein. -- Bist du es?«
+
+»Ja!« rief sie inbrünstig.
+
+»Steh auf und geh hinauf.«
+
+»Ich kann es nicht so, -- ich muß erst wissen, -- wann reise ich?«
+
+»Ich werde es dir morgen sagen. Heute nacht nicht. Du sollst dich
+hinlegen und zu schlafen versuchen. An nichts denken als daran, daß du
+schlafen sollst. Wirst du es?«
+
+Sie war schon aufgestanden.
+
+»Ja!« murmelte sie, »morgen! Ich muß morgen fragen, was ich will.«
+
+»Das sollst du.«
+
+Er gab ihr die Hand.
+
+»Geh voraus. Gehe nur. Ich folge schon. Warte im Hause nicht auf mich.«
+
+»Gute Nacht!« sagte sie gehorsam und ging.
+
+»Mein Liebling! gute Nacht!« rief er ihr nach.
+
+Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen, nach denen sie
+den ganzen Tag, die ganze Nacht gehungert hatte.
+
+»Verzeih mir! Liebling,« sagte er reuig vor sich hin, während er ihr
+langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in
+dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer
+bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute, -- aus
+Furcht vor seinen Sinnen, -- und vor diesem unwissenden Kindersinn, der
+ihm mit einem Lächeln entgegenkam.
+
+Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in
+letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und
+gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie
+die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das,
+was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, -- mit
+einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das
+nie geliebkoste Kind kennt.
+
+Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie
+umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutterliebe, -- aus
+einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller
+Bedenken entschlagen konnte, -- daß er sein Liebstes nur noch wie auf
+starken Armen hob und trug, -- es einem schlummernden Kinde gleich in
+einem letzten Traum hinübertrug in die fremde, die kältere Welt. --
+
+Der Hausflur war schwach erhellt von dem Licht, das an der offenen Thür
+zu Eriks Zimmer stand. Ruth hing die Joppe über den Thürgriff, und ohne
+sich nach Erik umzusehen stieg sie hinauf.
+
+Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich
+ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des
+Dunkels, der Einsamkeit.
+
+Seit der Stunde seiner Rückkunft gestern verlangte ihn unbewußt nach
+dieser Stille und Einsamkeit.
+
+In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau
+hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag, und Bels
+Stimme ihn rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief:
+»Erik, bist du wieder da?« -- Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst
+du fort von mir?«
+
+Und als er sie wiedersah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut
+kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine
+lange, lange -- jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau
+nicht gesehen, nicht mit sich genommen, -- ja, vergessen hatte. Es war
+fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen.
+
+Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine
+Selbstbesinnung zu.
+
+Aber jetzt -- jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die nämliche
+Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete
+er ihr: »Es ist eine lange, lange Reise gewesen. Ich ~habe~ dich nicht
+wiedergesehen all diese Zeit hindurch, -- dahin nicht mehr gesehen, wo
+du bist: dich vergessen.
+
+Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks.
+Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollte ich nur
+~einen~ Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, -- in
+eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was
+hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen
+hat, und dasteht wie ein Bettler oder wie ein König, wollte ich meine
+Hände aufheben zu meinem Glück.
+
+Dann -- einst -- ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und
+Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, um sich
+mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren. Zum Kampf. Zum
+Kampf um mein Glück.«
+
+Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf -- -- --
+Glück.«
+
+Er öffnete, wie erwachend, die Augen.
+
+Es war hell um ihn. Die Nacht vorbei. Glutrot stand der Himmel, wie in
+Flammen.
+
+Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein
+ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner
+Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden.
+
+Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten
+vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob
+Gonne ihnen wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar
+Krumen zuwerfen werde?
+
+Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit.
+
+Er hatte Bel geliebt, -- so sehr, wie, nach seiner Meinung, der Mann
+bisher das Weib überhaupt lieben kann: nicht nur mit der Habgier der
+Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe«
+hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein
+Priester, das nur der eigene, bewußte Wille besiegelt. Es war gewesen,
+wie er damals, im scherzenden Gespräche über die Ehe, zu Warwara
+gesagt: kein Pflichtbewußtsein, sondern das dauernde Glücksbewußtsein,
+seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in
+allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder
+Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu
+ändern vermocht.
+
+Wenn er ihr je untreu geworden in einer heißen Aufwallung des
+begehrlichen Blutes, -- oder auch in einem bittern Rückblick auf die
+zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte
+er sich gegen sich selbst auf mit Kraft und Härte. Niemals hätte er es
+doch zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne
+als sein Wille, seine Bürgschaft.
+
+Und nun, wenn er alles sammelte, was er an Scham und Selbstvertrauen,
+an Stolz und Herzensgüte besaß, -- wenn er das alles sammelte und
+zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen
+Kampf mit ihm zu schützen? Oder, wenn es denn in der Zukunft zu einem
+solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was
+stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten
+und gegen ihn selbst zu siegen?
+
+Erik schaute geradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er
+wollte, -- er mußte ehrlich sein.
+
+Und er sagte sich: »Nein.« -- -- --
+
+ * * * * *
+
+Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch
+blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Thee auf sein Zimmer
+bestellt, dann ging er zu Jonas hinein, um nach ihm zu sehen.
+
+Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten.
+
+Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus.
+
+»Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.«
+
+Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster.
+
+Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber
+sie blickten sicher, -- fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe
+kalt.
+
+Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück.
+
+»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl.
+Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im
+Garten und -- bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen
+gehört uns allein. Uns zusammen. Und den wolltest du krank zubringen.«
+
+Sie antwortete nicht.
+
+Ganz leise nur beugte sie gegen ihn den Kopf vor, so daß seine Hand
+durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still.
+
+»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich
+etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still thun. Niemals
+in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal
+schwerer. Aber niemals sollst du es dir erleichtern. Durch nichts. Nur
+war ich dieses Mal selbst nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie
+krank, -- nicht wie ich sein sollte. Siehst du, nun beichte ich es dir
+auch. -- -- -- Ist es nun gut?«
+
+Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf.
+
+»Eins fehlt noch,« sagte sie.
+
+Ihm kam ein Lächeln.
+
+»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvolles Fürstenkind?«
+
+»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?«
+
+»Das darfst du. Halte deine Hände offen, Liebling, und laß dich
+beschenken.«
+
+Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knieen,
+und hob ihr Gesicht auf zu ihm, -- Trotz in den Augen.
+
+»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.«
+
+Erik stutzte.
+
+Er schaute forschend in ihre Augen, mit dem fest auf ihn gerichteten
+rätselhaften Blick.
+
+»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach.
+
+Sie flüsterte kaum hörbar: »Daß ich erfahre, ~warum~. Das plötzliche
+Fortmüssen, -- -- -- ~warum~?«
+
+Er legte ihr die Hand über die Augen.
+
+Eine lange Pause entstand.
+
+»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann,
+»zwischen uns fehlt ~eins~. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und
+mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, -- daß wir im Alter so
+weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal du, das
+gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es
+bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, -- mitzuteilen. Aber
+nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen
+dir und mir, -- ~sie~ eint uns gerade. Nur sie macht, daß ich dich
+leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll
+knieen kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir
+aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich
+habe den halben Weg schon zurückgelegt. -- Oder könntest du das missen?
+möchtest du lieber, ich stände neben dir, von gleichem Wuchs wie du?
+noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?«
+
+»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.«
+
+»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.«
+
+Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie ihr Herz wild zu schlagen
+begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. -- Sie war
+gestern irre geworden. --
+
+Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, --
+sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen:
+Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre
+Gefühle in Gärung gekommen sein, -- mochte eine Welt von unverstandenen
+Empfindungen in ihr ringen.
+
+Die feine, ruhige, gerade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so
+kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig,
+-- sie schien sich zu biegen, -- eine Wendung zu machen: eine Wendung
+zu ihm hin -- oder von ihm fort.
+
+Ueber Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen Fähigkeiten
+aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte, und
+jegliche sinnliche Erregung vollkommen niederhielt.
+
+Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück.
+Ihre Lippen zitterten.
+
+»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in
+dir geregt? Brich den letzten Trotz, -- denn es war einer. Laß mich
+ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib
+nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich rechtlos.
+Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu
+gehen, ohne ein Warum.«
+
+»Wann -- gehen?« fragte sie undeutlich.
+
+Er drückte ihren Kopf an sich.
+
+»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein,
+nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch
+diese Stunde, Ruth. Dann bringe ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der
+ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.«
+
+Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als
+solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte
+nicht länger. Sie gab nach, willenlos.
+
+Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor,
+der sie überfiel. Gestern war sie doch irre geworden an ihm, -- und
+morgen? -- -- da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr,
+was in ihr vorging.
+
+Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh thun will,
+sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh thun ~kann~.
+Gib dich dieser Liebe, Ruth, -- ohne Rückhalt, ohne Zweifel, -- gib
+dich ganz. Denke täglich, daß ich es zu dir sage, -- des Morgens mit
+deinem Erwachen, des Abends mit deinem Einschlummern: ~Ich hab' dich
+lieb.~«
+
+Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, -- mit grenzenlosem Dank in den
+Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund,
+-- ein wenig zaghaft noch.
+
+»Da gehe ich ja nicht fort, -- da nehme ich Sie ja mit,« sagte sie,
+fast schelmisch.
+
+Das Glück brach aus ihren Augen, -- ja, der Schalk.
+
+Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im
+Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden
+berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie
+sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem
+Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, nicht
+stärker sich aneignen als in diesem Augenblick, wo er sie von sich
+löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war.
+
+Einigung und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges
+Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen
+verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in
+einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens.
+
+»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß
+wir ~nicht~ sind wie ›zwei Kinder im Wald‹, die sich verlaufen? Für
+die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren,
+-- verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie von der Hand.
+Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehen siehst, und
+doch um dich weißt -- über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie
+jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, -- der
+aber doch alles weiß, was dir not thut und gut thut wie --«
+
+»Wie Gott,« sagte Ruth keck.
+
+Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin.
+
+Aus Gespensterfurcht?
+
+Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst
+aufwachen mochte, an unbewußtem, ungeheurem Fordern und Bewundern und
+Erwarten.
+
+Sie sagte es, gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie
+ein Kind einen Kuß gibt.
+
+Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so
+nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, -- dem vermessensten.
+
+Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts.
+
+Und er küßte sie aufs Haar.
+
+»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch für dich: wie dein Gott.« --
+
+Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu
+schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das
+Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein
+leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, welche das Gepäck
+aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen.
+
+Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem
+Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte erstaunt auf. Weder er noch
+Ruth machten ein trauriges Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt,
+dort im Zimmer, hatte er es Ruth mitgeteilt.
+
+»Wie er das nur zu stande gebracht hat? Er kann doch alles, was er
+will!« dachte sie bewundernd.
+
+Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in
+beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik
+scherzte darüber, und Ruth harte ihre Schelmengrübchen in den Wangen.
+
+Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln
+Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden
+Perlen überblitzt.
+
+Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen,
+verschämten Gesicht.
+
+Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen.
+Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus.
+
+Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehen, -- den
+letzten, grüßenden Zuruf seiner Mutter, -- die Thüren gingen, -- --
+dann eine Minute der Pause, -- -- und nun fiel, mit einem schwachen
+Knarren, die Gartenpforte ins Schloß. -- -- --
+
+Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am
+frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück.
+
+Aber es blieb so still wie zuvor.
+
+Jonas hielt es nicht länger im Bett aus; er stand auf, und seinen
+kalten Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden,
+stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters.
+
+Der Vater war nicht da.
+
+Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er mußte machen, daß er
+fertig wurde, ehe der Vater ihn hier überraschte.
+
+Und seine Feder kratzte über das Papier.
+
+Er schrieb an Ruth:
+
+»Süße, liebe Ruth!
+
+Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem du
+arbeitetest.
+
+So ungeheuer gern wär' ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollte ich
+aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff
+(vielleicht war es gar nicht dein Zug), da habe ich trotzdem ein
+bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort.
+
+Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will dir noch nicht
+sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange
+ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich dir
+nicht schreiben. Aber dann schreibe ich dir, daß du meine Frau werden
+mußt. Im Spiel hast du es niemals sein wollen, und das hat mich
+manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß
+ich ein ganzer Mann für dich geworden sein.
+
+Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt.
+
+Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es dir gleich schreiben, damit
+du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn du dort einen andern Jungen
+findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja
+hier so ganz umsonst anstrengen.
+
+Aber vielleicht findest du keinen.
+
+Ich küsse dich mit tausend Küssen.
+
+Dein Freund, (dein zukünftiger Mann,) Jonas.
+
++Pst. Scr.+: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf.
+Sonst würde er dich sicher grüßen lassen.«
+
+ * * * * *
+
+Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube.
+
+Er stand am Fenster und weinte.
+
+
+
+
+ V.
+
+
+ Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,
+ Wo's flatternd eine Zuflucht fände,
+ So bin ich, flüchtend nur, gelangt,
+ Ein armes Kind, in deine Hände.
+
+ Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, --
+ Doch nur von Einsamkeit getrieben,
+ und kniete schweigend bei dir hin,
+ und wollte nichts, als Etwas lieben.
+
+ Und wollte nichts, als, kurze Zeit,
+ Gleich einem Kind mich wieder wissen,
+ Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit
+ Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.
+
+ Nichts, als von kindlich tiefer Qual
+ Auf einen Augenblick nur rasten,
+ Nichts, als die junge Brust einmal
+ In heißer Hingebung entlasten.
+
+ Wie ward mir wohl, da ich dich fand,
+ Als müßte jeder Wunsch sich stillen,
+ Seitdem du mich, mit sanfter Hand,
+ Geborgen ganz in deinem Willen.
+
+ Als würde plötzlich alles klar,
+ Als müßten alle Wirren weichen,
+ Seit über das verwehte Haar
+ Mir deine lieben Hände streichen.
+
+ Bis daß ein jeder Schmerz hinfort
+ Versank vor zaubermächt'gem Troste,
+ Seit, mit dem ersten Liebeswort,
+ Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;
+
+ Bis ganz die Welt um uns versank, --
+ Und nichts von allem mehr geblieben,
+ Als nur ein grenzenloser Dank, --
+ Und nur ein grenzenloses Lieben.
+
+
+Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth
+hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten
+Versen.
+
+Er wußte es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen
+Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissene Blatt mit den
+gestammelten Versen gelegen.
+
+Und seitdem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete
+an ihnen.
+
+Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es gethan.
+
+Aber so, -- so in jedem Worte würde sie sie gedichtet haben, -- ein
+wenig später, -- im Rückblick.
+
+ * * * * *
+
+Sie saßen alle zusammen.
+
+Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube, in einem großen, bequemen
+Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch: er hatte die Lampe dicht herangerückt,
+um besser sehen zu können, was er in sein Schulheft schrieb. Erik am
+Kamin, in welchem mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte
+er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter, der mit
+Tannenzapfen gefüllt war, ein paar von den braunen, herzigen Zapfen in
+die Glut.
+
+Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der
+leichten Sommergardinen schwere, schützende Fenstervorhänge, am Kamin
+zwei Sessel aus der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine
+Tatzen vorstreckte.
+
+Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging,
+war dieses Jahr die Uebersiedelung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen.
+Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur
+Genesung führte.
+
+In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen
+Stöcken mußte sie täglich einige Schritte thun. »Laufen lernen,« wie
+Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese
+Schritte sollte sie in frischer Luft thun.
+
+Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in
+halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die
+sie vorgehabt, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren
+wenigen Schritten.
+
+Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen
+Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen, blonden Flaum an Kinn
+und Lippe, bückte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte
+er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.
+
+Und Erik blickte in die Glut -- --
+
+»Bis ganz die Welt um uns versank --«
+
+Gonne war es, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den
+Abendthee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre
+täglich neu genossene Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen
+wieder Hausfrau zu sein.
+
+»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,«
+bemerkte sie dabei, »man muß sagen: sie schreibt treulich, --
+regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manchmal ein Buch!«
+
+»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?«
+fragte der Vater, »sie will oft von dir wissen.«
+
+Jonas wurde sehr rot.
+
+»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu thun,« murmelte
+er über seinem Theeglas.
+
+»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte
+Klare-Bel, »Ruth ist doch sicherlich begabt, nicht wahr? Und sind ihre
+Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«
+
+»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«
+
+»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es
+ist, -- ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang
+erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr
+selbst.«
+
+Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung,
+selbst des geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie
+umgab, und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, -- das alles lag
+neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war
+nicht Verschlossenheit, -- es war Haß gegen das Wort, das ungenügende.
+Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, -- ehe
+er das nicht wiedergesehen, nicht wiedergehört, war Ruth für ihn wie
+begraben.
+
+Und wieder schwiegen sie.
+
+Der Theetisch wurde abgeräumt. Nur eine Fruchtschale mit Aepfeln blieb
+darauf stehen. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder
+auszubreiten.
+
+Erik hinderte ihn daran.
+
+»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen
+Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«
+
+»Ich bin es ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch
+treiben. Einer von den Jungens hilft mir in der Freistunde darin.«
+
+»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins
+Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«
+
+»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit
+russischen Stunden Geld verdienen.«
+
+Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Ueberlaß mir das
+doch.«
+
+»Erlaube es mir, bitte. Thue ich nicht genug für die Schule?«
+
+»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas!
+Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine
+Kraft in den Knochen. Nicht genug.«
+
+»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem
+Ernst, der ihm drollig genug stand.
+
+»Aber der Uebel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,«
+ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters
+mit solchen Citaten kommst, dann werde ich dich noch ganz von den
+leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre.«
+
+Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.
+
+Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei
+andres, das drängte.
+
+Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.
+
+Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten; sie schickte sie
+ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war
+immer noch nicht »Ruth«.
+
+Er nahm eine Mappe vom Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus
+Heidelberg lagen, vom vorigen August bis zum heutigen April.
+
+Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben,
+sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war
+zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine
+Ankunft.
+
+Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein
+kurzer Brief von Frau Römer:
+
+»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch
+einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen
+Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt,
+ich meine es aber auch -- als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind;
+wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so entfernen
+Sie auf immer aus Ihren Briefen alles, -- auch das Geringste, was
+Sehnsucht wecken könnte.«
+
+Nach einer Woche schrieb Frau Römer:
+
+»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr
+erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder
+bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und
+sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹
+
+Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer, ihrem Bett
+gegenüber, gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hereintrat, um nach
+ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht
+im Bett, -- den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den
+Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.
+
+Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, -- nun
+ist er fort!‹ sagte sie traurig. Sie war in einer halben Ohnmacht, am
+ganzen Körper kalt.
+
+Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den
+andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.
+
+In aufrichtiger Freundschaft
+
+Irene Römer.«
+
+Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte
+Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:
+
+»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«
+
+In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von
+Eriks Hand, -- ein vollständiges Briefkonzept, welches anfing:
+
+»Mein Herzenskind!
+
+Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für
+Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹
+
+In ururalten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche
+einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu fremden und bösen
+Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln beschwören
+ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen gethan haben: aus
+Kleinmut oder Hochmut; aus dem mangelnden Glauben, daß im Willen ihrer
+Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen waltet, -- oder
+aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.
+
+Du machst es doch nicht ebenso, -- gleichviel aus welchem dieser
+beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus
+eigener Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst
+doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen
+Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu
+entführen, die keine ist?
+
+Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich an die Wirklichkeit hingeben, die
+um Dich ist, -- ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu
+Hause bist --«
+
+Hier brach das Briefkonzept ab; die nächsten Zeilen waren
+ausgestrichen, -- wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm
+sichtlich schwer von der Hand gegangen.
+
+Aber die Konzepte mehrten sich; hinter jedem Briefe Ruths folgte eines;
+Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: ~daß~ sie da lagen, das besagte
+genug.
+
+Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine,
+charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte das Gefühl
+nie ganz los werden, als ob er mit ihr -- oder sie mit ihm? -- in
+einem geheimen, unbewußten Kampf stände; und doch erquickten ihn diese
+Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein
+herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu
+messen.
+
+Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, -- man mußte sich wohl
+darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen,
+was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu
+vernehmen: eine heitere, entschlossene Stimme.
+
+Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren frühern Platz
+legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen
+Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als
+die übrigen, -- auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern
+Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich
+verschrieben: da stand einmal »Du«, anstatt »Sie«.
+
+Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm
+beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's
+treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹
+sagen.«
+
+Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu
+bleiben, -- und er schaute oft hinein.
+
+Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich
+würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen
+nicht. Sie ~hatte~ »Du« zu ihm gesagt, an jedem Tage, in jeder
+Stunde fast, mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum
+verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose
+Nähe.
+
+Erik schob die Briefe von sich; er wollte arbeiten. Arbeiten, -- nur
+nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen
+und Gedanken, -- dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit
+dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die
+Trennungszeit für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis
+zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für
+Ruth.
+
+Nun der Rückschlag. Nachlassen, -- gehen lassen. Es machte ihn fast
+krank.
+
+Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der blauen Schulhefte
+nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt
+war.
+
+Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las
+er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«. --
+
+Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung.
+Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen. Noch zog
+sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte
+Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die
+saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen,
+geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund
+hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel
+und Sonne wieder; vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin
+umher.
+
+Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu thun;
+neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er,
+mit sich daran anschließenden Vorträgen, in diesem Winter durchführte:
+teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener, teils in
+einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.
+
+Diejenigen, die sich hier einfanden, gehörten ebenfalls der Schule
+nicht mehr an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen
+entnehmen, mit denen sie ihn meistens erwarteten. Es wurde nicht
+mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und
+Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen
+Einbildung existierten. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht
+etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines
+Mädchen beim Frühgebet im großen Schulsaal umgefallen und liegen
+geblieben war, -- ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen
+wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt,
+auf die Zuckende hingestarrt, welche, Schaum an den Lippen, vor ihnen
+lag.
+
+Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem
+unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen.
+Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden.
+
+»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an, »ich
+möchte wissen, wozu? Ob es dir wohl angenehm ist, daß er immer nur
+Spott für dich hat?«
+
+»Und Lob für dich; da ziehe ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit
+Ueberzeugung; »laß ihn nur spotten, das thut ihm gut, er ist bei
+schlechter Laune. Glaubst du, daß dein Fleiß ihn beglückt, mein
+geliebtes Gänschen?«
+
+»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung
+des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.
+
+Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich
+vermissen, -- zum Beispiel Verstand. -- -- Lieber Gott, was kann es
+nützen, sich so anzustrengen?«
+
+»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte,
+-- du am meisten.«
+
+Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne
+ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel,
+den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer
+umstanden war.
+
+»Ich glaube nicht daran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte
+sie; »es wäre der reine Betrug. Entweder hat Ruth uns gefoppt, -- oder
+wir sind -- dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte ~das~, als sie so außer
+sich vor Entzücken sagten ›O -- -- dahinter gibt es das ganze Leben?‹
+Wir stehen noch ~vor~ der Mauer, -- wie eine Hammelherde.«
+
+»Na, so geh doch hinüber.«
+
+»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, -- »noch heute. Wollt ihr? Mit
+~einem~ Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«
+
+Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.
+
+»Was wirst du thun?!«
+
+Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und
+spitzte den Mund ein wenig.
+
+»Ein Kuß?!«
+
+Sie schrieen jetzt schon.
+
+Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete
+es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie
+eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie
+liebte; er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeregt, fortwährend
+seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe
+seiner selbst stehen, um niemals fehlzugreifen.
+
+Das war hier unnütz.
+
+Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Rapier in der
+Hand, auf Erik zu.
+
+»Sollte es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie
+wolle ihm eine Arbeit vorlegen, »es wäre das erste Mal.«
+
+Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich zu
+ihm, -- so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes
+berührten sich fast die beiden Gesichter.
+
+Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht
+aushalten können.
+
+Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war,
+kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.
+
+Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste
+Schrei vorherging, ob er folgte, -- ob sie sich niedergebeugt, weil
+sie im Stürzen war. -- Er hatte auch vom Fall im Schulsaal gehört, und
+jetzt ergriff die Erinnerung daran die Mädchen mit kopflosem Entsetzen.
+
+Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf
+die Bänke, -- auf das Fensterbrett.
+
+Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme
+gehoben und trug sie hinaus.
+
+Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer
+zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte
+sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem
+flog; wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und
+jetzt -- jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.
+
+Blitzschnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine
+Lippen gedrückt.
+
+Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt
+-- hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine
+sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick,
+wo er Ruth, wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett
+getragen.
+
+Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk
+und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügelthür, die den
+Hallengang gegen das Treppenhaus hin abschloß. Er stieß die Thür auf.
+
+»Hinaus. Ohne Wiederkehr,« sagte er kurz.
+
+Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für
+Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse
+wohl denken, wenn sie nie wieder kam? Daß er ihr über die Mauer
+geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.
+
+Und das Schlimmste: sie hatte eine gehörige Beule weg, gerade vorn an
+der Stirn. --
+
+Erik gab sich Mühe, bei der Rückkehr in seine Klasse, der Stimmung
+Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich
+jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher
+Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen, und dennoch fest
+entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut.
+Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte
+jetzt, von was für einer Art von Phantasie.
+
+Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen
+jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse
+auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er
+hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber
+nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein
+mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und
+Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse sich auch noch
+in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er
+bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen
+als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen
+Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu
+geben, so mißlang ihm alles. --
+
+Am Thorweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren
+zusammen nach Hause aufs Land.
+
+Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie
+bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad
+reisen?«
+
+»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In
+Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur,
+daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du
+dann thun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«
+
+»Wenn ich Medizin studieren werde,« bemerkte Jonas nach einer Pause,
+»dann wird es mir immer vor Augen stehen, das Wunderbare, daß es mit
+Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt zu sein, und ein einziger
+solcher Fall, -- das muß auf alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen
+machen.«
+
+»Du bist ein guter Kerl, Jonas. -- Ich hätte übrigens nicht
+gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte:
+Naturwissenschaften.«
+
+»Ja, ich selbst auch, -- früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine
+so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet überall sein Brot.«
+
+»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht
+sein. Es kam immer noch auf die Stärke der besondern Neigung und
+Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre war dann meine Sache.«
+
+»Ich möchte aber so früh als es geht unabhängig werden, Papa.
+Selbständig.«
+
+»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge?
+Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine
+Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«
+
+Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen
+Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.
+
+Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer
+blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete
+auf sie.
+
+Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf
+den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.
+
+»Aber, Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude
+errötete, »etwas so Kostbares und Ueberflüssiges! Im russischen April!«
+
+»Ueberflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem
+geschliffenen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und
+ich meinte: in einem Landhause müßte er wenigstens drinnen sein, wenn
+er schon nicht draußen ist.«
+
+Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen; sie schlug sie nieder,
+damit er es nicht sähe. Der Frühling ~war~ ja drinnen eingekehrt, ~ihr~
+Frühling, auf den sie gewartet hatte, wie auf eine Lebenserneuerung
+gerade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig
+geblieben.
+
+Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung
+dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber ~das~ mußte
+sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, -- die Trennung von
+Ruth. Solange Bel ihn glücklich gesehen, war sie arglos und sorglos
+geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr, bei Tag und bei Nacht.
+
+»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach
+einer Pause.
+
+»Ja. Noch nicht völlig beendet,« erwiderte er.
+
+Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den
+duftenden Dolden.
+
+»Da war doch, -- ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern
+haben?«
+
+»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub' ich,
+eine kurze Zeit bei ihnen wohnen, -- draußen am Schloßberg. Sie wollten
+allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«
+
+Eine kleine Pause entstand.
+
+»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«
+
+»Ungefähr zweiundzwanzig Jahre, glaub' ich.«
+
+»Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um
+ein Brotstudium?«
+
+»Nein.«
+
+Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen
+Russen eifersüchtig, -- nein, das war er unter keinen Umständen.
+
+»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz
+und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut
+geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd.
+Er kennt ihren Onkel hier. Hat einmal früher mit seinen Eltern dort
+verkehrt, -- mit ihr gespielt, als sie acht und dreizehn Jahre alt
+waren.«
+
+Sie lehnte den Kopf zurück.
+
+»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte --
+~müßte~ er eifersüchtig sein. Trotz seinem starken Selbstvertrauen.
+Jugend sucht Jugend.«
+
+Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein.
+Ich habe einen so großen Wunsch.«
+
+»Einen so schlimmen, Bel? Nun, heraus mit ihm.«
+
+»Ich wünsche so sehnlich, -- ich möchte so sehr gern, nur ein einziges
+Mal, -- lesen, was du an Ruth schreibst.«
+
+Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich
+darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.
+
+»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«
+
+Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick
+nicht aushielt. Er sah hinweg.
+
+Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, -- lesen zu sehen. Am
+liebsten wäre er hinausgegangen.
+
+Er trat an das Fenster und schaute in die Dunkelheit.
+
+Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was es wiedergab, war noch einmal das
+Zimmer, mit der Lampe auf dem Tisch, den zarten Fliederzweigen und der
+lesenden Frau im Lehnstuhl.
+
+Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.
+
+»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »-- ich kann mir gar nicht vorstellen,
+daß du so an Ruth schreibst.«
+
+»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen
+habe,« entgegnete er.
+
+»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu, was nur im
+Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und
+frisch im Wesen, Erik.«
+
+»Nun, -- und?«
+
+Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich
+nüchtern,« wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte
+nicht ihr Inneres aussprechen, -- und er durfte nicht.
+
+»Ja, -- nun, -- ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, Erik. Aber
+in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann, mit langem
+weißem Bart und Haar, -- ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben
+Gott vorstehen.«
+
+Es durchzuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«
+
+Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was
+für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, -- im
+lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, -- das mochten wohl zwei
+ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.
+
+Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit,
+ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen
+vermochte. Für ~sie~ war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen
+Persönlichkeit, eine ~Verklärung~ derselben: er hatte ihr ja auch
+mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und gerade das
+idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten,
+-- »ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben Gott vorstellen.«
+
+Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an
+seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben, wie er an den ihren. Denn
+er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging an
+derselben vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam -- froh. Denn sie litt
+doch nicht? Nein, das that sie gewiß nicht.
+
+Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt
+anregen, bereichern, entwickeln mußte, -- sie beglücken und sie
+erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten
+in diesem Leben, -- wie mit weit ausgebreiteten Armen.
+
+Nein, sie -- sie litt nicht.
+
+Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken
+nach, und wieder wurde es heute ein schweigsames Abendessen. Wie sie
+da zu dreien bei einander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung
+verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner
+von ihnen teil hatte an der stummen Welt des andern.
+
+Als nach dem Essen Erik sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte Jonas,
+ohne Schularbeiten, sich zur Mutter.
+
+»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann
+ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf
+größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«
+
+Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand.
+Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.
+
+»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald -- viel sein. Wirst du es
+auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel
+-- viel Freude machen, Jonas.«
+
+»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen, Mama,« erklärte er
+treuherzig, »das werde ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz
+Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«
+
+»Freust du dich sehr auf das ungebundene, neue Leben draußen?«
+
+»Auf draußen, -- ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar
+nicht so schön. Ich finde es viel schöner so, wie Papa es gehabt hat.«
+
+»Wie denn, mein Kind?«
+
+»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir
+nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob --. Eine Studentenstube,
+-- ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den
+Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In
+der Ecke ein schönes Skelett und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die
+Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitze ich, -- ich meine:
+sitzt Papa.«
+
+»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen
+und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war,
+dann mußte er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In
+einer kleinen Wiege.«
+
+»Eine kleine Wiege?«
+
+Jonas wurde ziemlich rot. An dieses Stück der Zimmereinrichtung hatte
+er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber
+wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch ~das~, was ihn
+fleißig machte. Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren,
+wenn man's für jemand thut, den man so über alles lieb hat.«
+
+»Das sage du Papa lieber nicht. Das würde ihm vielleicht mißfallen. So
+hat er es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so
+ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er.
+Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte,
+da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich
+hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, -- mag es noch
+so viel Plage geben, -- frisch für meine Ziele: das Mittel bist du,
+Bel‹. Ja, so sagte er.«
+
+Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor seiner Mutter herabsetzen,
+aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.
+
+»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.
+
+Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in
+die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe
+sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr
+Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen
+Arbeiten saß, und sie ihn leise, -- ganz leise mußte es sein, --
+umsorgte. Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich
+wie vor Thränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, -- saß Jonas; -- und
+immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich
+allein, -- allein mit dem Sohn.
+
+Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern
+wollte, schreckte der Gedanke sie auf, als müsse sie über irgend etwas
+angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln.
+
+Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus; irgend einer der
+zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte
+sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo,
+in der Nähe des Kaminfeuers, ein Schreibtisch für ihn improvisiert
+worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar
+finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne
+neckend bereits wieder hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das
+Zimmer hin.
+
+Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden.
+Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie
+hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn ihr verraten?
+Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht
+offen sprechen. Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr
+verbarg er sich -- befangen und mühsam.
+
+»Wo steckt Jonas eigentlich?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen
+gebeugt.
+
+»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen
+Freund besuchen.«
+
+»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten, -- mit dem Freunde?«
+
+»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«
+
+»Ja. Höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das
+muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine
+Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit
+übertroffen.«
+
+»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein
+Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«
+
+»Ja. Gerade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht
+eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«
+
+»Ach, Erik, wenn er nur brav wird.«
+
+»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus!
+Heidelberg wird ihm gut thun, denke ich, und Römers Einfluß. Man muß
+sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm
+knapp zugemessen werden.«
+
+»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel, »ja, in solchen Dingen ist er immer
+unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der
+lernen kann, zu genießen.«
+
+Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus,
+dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abging. Allerspätestens
+dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon
+früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie mit Beginn der
+Sommerferien in Deutschland abholen konnte.
+
+»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.
+
+Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch -- ohne ihre
+stützenden beiden Stöcke. Sie hatte sich selbständig erhoben und war
+durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen, -- allein.
+
+Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.
+
+Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er
+blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen
+sollte.
+
+Er bemerkte es nicht.
+
+Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.
+
+»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer
+gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.
+
+Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt
+dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.
+
+Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt.
+Jetzt war er ganz bei ihr.
+
+»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen
+Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir
+schlecht, meine arme Bel.«
+
+Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.
+
+»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.
+
+Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit
+geschlossenen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise
+streichelte, sagte sie: »Siehst du, -- ach, Erik, es war ja gewiß recht
+kindisch. Aber siehst du, -- hierauf hab' ich mich ja schon so lange
+gefreut. Auf deine Freude, -- wenn ich einmal so zu dir käme, -- ohne
+Stütze, auf eigenen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller
+Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«
+
+»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme,
+gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.
+
+»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest, und mich in die
+Arme schlössest, -- nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich
+stand, aufrecht neben dir stand, -- dann wollte ich dich fragen, --
+ganz leise wollte ich dich fragen, -- ach, Erik! ich kann es nicht
+mehr.«
+
+Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend,
+mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den fest
+geschlossenen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.
+
+»Ich will es dir sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr
+zu lassen, »wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den
+Mut, es zu hören? Willst du es?«
+
+Sie schlug ihre Augen auf, -- hilflos, thränengeblendet, -- hilflos wie
+ein gestelltes Wild vor dem Schuß.
+
+»Erik!« stieß sie flüsternd heraus, und das Entsetzen vor seiner
+Antwort vergrößerte ihre Augen, »-- Erik, liebst du sie?«
+
+Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.
+
+»Ja, Bel,« sagte er laut.
+
+In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom
+das ganze Zimmer, daß Klare-Bels Lider sich unwillkürlich davor
+schlossen, in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel
+selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab,
+und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch
+zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die
+hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er
+draußen vom Strauch geschnitten.
+
+»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »-- ich möchte auf mein Bett, -- mach's
+dunkel.«
+
+Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem anstoßenden kleinen
+Gemach auf ihr Bett, hinter welchem er die Fenstervorhänge aus den
+Klammern löste und zuzog.
+
+Sie suchte nach seiner Hand.
+
+»Die Briefe, Erik, -- wie du ihr geschrieben hast, -- war es lauter
+Verstellung? Oder hast du ihr -- hast du nicht auch anders geschrieben?
+Niemals?«
+
+»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige
+Mal, daß ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich
+allein. Sie hat's nie gelesen.«
+
+»Du hast es nicht abgeschickt? -- Hast du diese Briefe noch, Erik?«
+
+»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren,
+vernichtet.«
+
+»Wozu hast du es dann nur gethan, Erik?«
+
+»Es half mir.«
+
+Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich
+mußte zu ihr sprechen.«
+
+Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und
+ich hatte keine Ahnung, -- nein, keine Ahnung hatte ich, daß du sie um
+deswillen von dir gabst. Nun erst weiß ich es.«
+
+Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte
+sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu
+werden seiner Liebe?
+
+Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an
+dich habe ich dabei gedacht.«
+
+Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute?
+Litt sie nicht genug, -- maßlos?
+
+Er vermochte es nicht.
+
+Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück,
+an die offene Thür des Wohnzimmers.
+
+Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das
+Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht, -- mit
+einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.
+
+Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel
+hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner
+Schneeschauer um das Fenster, -- dasselbe Aprilspiel wie zuvor.
+
+Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut,
+und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, -- ein Duft
+nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich
+dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen
+geputzten Christbaum in der Zimmerecke.
+
+Weihnachten, -- -- -- auch in diesem Winter hatten sie den Baum
+geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum erstenmal hatten sie sich
+wie drei arme Erwachsene gefühlt, die am Fest der Kinder leer ausgehen.
+Erik, der zu beschenken wußte, wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu
+freuen, wie nur ein Kind, war karg, -- war wortkarg geblieben.
+
+Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche
+kleinen, kleinlichen Rückerinnerungen heftete.
+
+Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen.
+
+Nicht daß sie jetzt dalag und litt, -- aber daß sie so lange -- lange
+umsonst auf seine Freude gewartet hatte, in seinen Zügen nach Freude
+gespäht, all diese Monate hindurch, -- das erschütterte ihn so tief.
+Genesen war sie, -- wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten
+unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit
+tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie
+frohe Kinder darum geschart -- --.
+
+Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr
+hineingehen, er mochte nicht fortgehen. Noch immer ging er auf und ab,
+wie ein Verurteilter.
+
+Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt
+schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das
+Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.
+
+»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht in der Stadtwohnung im Briefkasten.
+Zwei an dich.«
+
+»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«
+
+Während Jonas ans Bett trat, leise, auf den Fußspitzen, griff Erik nach
+den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu
+wissen, warum, erbrach er Warwaras kurzes Billet zuerst: die Bitte,
+morgen bei ihr zu speisen; sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges
+Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen; in etwa einer
+Woche verreise sie bereits ins Ausland.
+
+Erik setzte sich an das Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein
+längerer als sonst. Acht Seiten.
+
+»Lieber Freund!
+
+Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth
+betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum
+Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern
+vorläufig nur eine Möglichkeit.
+
+Sie erraten wohl, daß es sich um Jurii handelt. Ich wußte wohl von
+seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu
+beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen
+Menschen. Jetzt aber glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt, und
+daß er im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem
+Interesse für Sie, es sei denn, daß Ruth ihn wiederliebt. Dafür habe
+ich keinerlei stichhaltigen Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man
+nie ganz ergründen kann, was in Ruth vergeht, und wie sie in ihrem
+innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offener,
+nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt;
+verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie, noch hinter allem
+andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, von dem
+sie selbst nicht recht weiß, aus dem aber dennoch alle entscheidenden
+Gefühle und Gedanken bei ihr kommen. So könnte sie recht gut einmal
+sich selbst zur Ueberraschung handeln, -- ihrer ganzen klaren,
+frischen, heitern Unbefangenheit zur Ueberraschung, -- und gerade damit
+ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. --
+
+Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vortreffliches
+mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter,
+-- mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt,
+ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich
+unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel
+auf einmal. Ueber Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das
+Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da Ruth denselben
+mit ihm teilt, und da die Zeit ihn so gründlich heilt.
+
+Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth
+vorauslaufen, -- auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie
+rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache
+stellen wollen. Denn gegen Ihren Willen, -- nein, auch nur ohne Ihren
+vollen Willen, -- würde ja wohl Ruth nie etwas thun --«
+
+Erik las nicht weiter.
+
+Er überflog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.
+
+Ruths Schweigsamkeit, -- war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm,
+eine stille Wandlung?
+
+Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen
+wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine
+Gedanken hin, wie draußen.
+
+»Aprilwetter, -- in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über
+sich; »in Angst um eine Aprillaune, -- in Angst, in den April geschickt
+worden zu sein!«
+
+Er war so zornig, so ungerecht als möglich, gegen sie, gegen sich
+selbst.
+
+Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über
+die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen.
+
+Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein.
+
+So schlich er sich in seine Stube.
+
+Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen
+ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.
+
+Erik ging zu ihr.
+
+Sie saß aufrecht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher.
+Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem, wie zur Nacht, glatt
+zurückgestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angstvoll
+entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.
+
+Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren
+Händen, und küßte diese.
+
+»Bel, -- Bel, -- verzeihe mir.«
+
+Sie gab sich Mühe zu lächeln; es war ein merkwürdiges, schwaches,
+kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.
+
+»Ach, Erik, -- nicht so. Es ist mir zu -- es ist mir so ungewohnt.
+Schrecklich ist es mir. Sprich nicht so zu mir.«
+
+Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.
+
+»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.
+
+»Ja, Erik. Du mußt nicht böse darüber sein. Es sind so alte Bücher, --
+die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte
+mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu
+lesen, Erik.«
+
+Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.
+
+Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen.
+Und das andere. P. A. de Génestets »Laiengedichte«, -- diese echt
+holländischen Lieder, in denen Trotz und Glaube, Trost und Zweifel sich
+seltsam genug mischen.
+
+»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht,
+wie nur. -- Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt.
+Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. --
+Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen
+liegt drin.«
+
+Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei
+heraus.
+
+»Höre nur, -- Erik, -- nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es
+schön finden. Es heißt ›+Peinzensmoede+‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich
+glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«
+
+Und sie las mit ihrer sanften Stimme:
+
+
+ »Wo -- wo sind die Priester,
+ Die dich erklärten?
+ In Rätseln wandelt
+ Der Mensch auf Erden.
+ Geheimnis -- das Leben,
+ Geheimnis -- der Tod,
+ Die Schöpfung, sie predigt
+ Keinen liebreichen Gott.
+ Natur nur umgibt dich,
+ Die nicht auf dich hört,
+ Gleichviel ob sie wohlthut
+ Oder ob sie zerstört.
+
+ Und doch, -- nisten Zweifel
+ Mir auch in der Brust, --
+ An dich, meinen Vater,
+ Glaub' ich unbewußt.
+ Nicht weil deine Schöpfung
+ Dein Lieben enthüllt, --
+ Nein! nein! nur trotz allem,
+ Dem Zweifel entquillt!
+ Trotz jeglichem Rätsel,
+ Trotz jeglicher Not,
+ Trotz Angst und Verderben,
+ Trotz Schmerzen und Tod!
+
+ Ich schmachte, vom Schicksal
+ Zu Tode getroffen,
+ Meine Hoffnung ist Wehmut,
+ Meine Wehmut ist Hoffen.
+ Ich ~will's~ -- ~will~ es glauben,
+ Daß ich deine Hand
+ Im Leben wohl spürte,
+ Nur sie nicht erkannt; --
+ ~Will's~ glauben, was Kirche
+ und Priester mich lehrten:
+ Daß niemand umsonst dich
+ Gesucht hat auf Erden.«[1]
+
+
+ [1] Frei nach dem Holländischen.
+
+Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig
+gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der
+Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht;
+rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter
+ein Gebet nachspricht.
+
+Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele -- in all ihrer
+Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin, -- ohne jeden
+falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.
+
+Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es
+geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein
+verirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbouquet.
+
+Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken zu
+Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand.
+Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch: »Dieser
+Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel,
+Bel; ›+Peinzensmoede+‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde.
+Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung lässig dir
+übergeworfenes Kleid, -- ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von
+dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«
+
+Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch
+glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Von wo einen Halt nehmen?
+Du warst mein Halt. Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner
+Hand hinweg, und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid
+anthun? Dich ermorden? ~Sie~ vergiften? Ich bin keiner von den
+Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen.
+Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt
+Hilflosigkeit; -- das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer
+Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«
+
+»Weil ich diese Stütze hasse, -- diesen Halt, der mich ersetzen soll.
+Nein, weil ich mich dessen schäme, -- daß er mich ersetzen muß. Weil
+ich kein Mitleid mehr mit dir habe, -- nur noch Zorn und Haß und Scham
+vor mir selbst.« -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein
+Schweigen.
+
+»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, beinahe bittend, »--
+mich macht es glücklich.«
+
+»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. --
+
+Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich
+mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, -- als er seine
+Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler
+nehmen ließ, als er war, -- und jetzt wieder, wo seine Lippen anders
+redeten, als seine beschämten, zornigen Gedanken, -- hatte er gegen
+seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehen
+lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, -- aus gerechter
+Ueberzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht
+in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden
+mußte.
+
+Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste
+Natur handeln zu müssen.
+
+Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um
+seine Gedanken von allem loszureißen, was ihn quälte, und auf seine
+Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth
+als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In beiden Fällen war er
+der entthronte König.
+
+»Einen neuen Gott die eine, -- einen neuen Mann die andre, -- es ist
+fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit
+seiner Gedanken.
+
+In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während welcher
+er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus
+seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, -- nur
+durchflogen, -- und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl thun, diese
+Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was
+in einem Menschen aufgewühlt werden kann.
+
+Und er las weiter.
+
+»Es ist ja nicht notwendig, daß Ruth sich schon so jung bindet.
+Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, -- vielleicht
+nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie
+Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für
+die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wäre ich wohl ein
+nichtsnutziges Ding geblieben, -- mit etwas Interesse für Tand und
+einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert
+auf Ruths geistige Entwickelung. Ich auch. Aber dazu verhält sich
+ein frühes gleiches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die
+einzige gesunde, natürliche Grundlage auch des Geistesstrebens im
+Weibe. Nicht nur damit Sie Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja
+gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, -- desto besser. Von meinem Mann
+glaube ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes
+unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden
+war. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht
+selbstlos. Wohl aber, um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und
+Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung
+ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten bei einander stehen
+wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe ‹ --.«
+
+Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch. Etwas ganz andres,
+als er gesucht, hatte er darin gefunden, -- etwas ganz Unerwartetes:
+einen unbewußten Vorwurf.
+
+Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die
+zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen,
+der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war.
+
+So würde es wohl Frau Römer ausdrücken.
+
+Römers standen eben von vornherein anders zu einander. Sie bewunderten
+sich gegenseitig, -- eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht
+darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten.
+
+Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie
+fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbethörend schön, bereits fertig
+mit ihrer kurzen Entwickelung, -- ein in gewisser Weise viel fertigerer
+Mensch als er, -- was hätte er da wohl andres thun können, als dürstend
+in sich aufzusaugen, was, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, sich ihm
+darbot?
+
+Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in seinen Besitz
+nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung: ihn nicht wieder
+von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf
+hinein zwischen Scham und Mitleid, bei jedem leisesten Versuch, sich
+dieser Verpflichtung zu entziehen.
+
+Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. -- Auch -- Ruths
+Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich,
+stündlich auf sie wirkte, sie beeinflussen mußte, mächtiger als alle
+Worte, alle Grübeleien, -- das war Frau Römers Ehe. Eine heilig
+gehaltene, glückliche Ehe.
+
+Sobald sein Unterricht ihn freiließ, ging Erik zu Warwara. Mehr, als er
+es sich selbst gestehen wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach
+Hause zu fahren.
+
+Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange, hagere Engländerin,
+Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer.
+
+»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu
+Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?«
+
+Sie mußte hell auflachen.
+
+»Etwas passiert, -- ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.«
+
+»-- Verlobt?! -- war das die Mitteilung?! -- Mit wem?«
+
+Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleichviel, mit wem. Ein Ihnen
+ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen
+Verlobungskarte lesen.«
+
+»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?«
+
+»Wie meinen Sie das?«
+
+»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den Sie
+heiraten wollen.«
+
+»Daran zweifeln Sie?«
+
+Er schwieg.
+
+»Ich will es Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern.
+Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.«
+
+»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.«
+
+»So will ich Ihnen noch mehr eingestehen. Was ich in der Ehe suche, --
+das Glück, das ich suche, -- ist nicht der Mann.«
+
+»Sondern?«
+
+Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie
+sich zu schaffen machte.
+
+»Das Kind.«
+
+Erik schwieg überrascht.
+
+Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes
+Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, -- mehr, als Sie
+wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat
+gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter,
+als wir gethan, ernste Dinge miteinander teilen sollen.«
+
+»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da
+sagen, macht mich froh. Ich bedurfte gerade dessen.«
+
+»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß
+ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand
+und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen,
+-- dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen
+geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und
+Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen
+kann, -- das Beste, was in mir ist.«
+
+»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?«
+
+»Von der Mutterschaft -- ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der
+Mutterpflicht. -- Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgend
+wann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann gebe ich
+mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen
+heranziehen helfen, Sie Menschenlehrer.«
+
+»Hätten Sie ~das~ Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen
+Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.«
+
+»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen
+Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.«
+
+»Mit andern Worten, keine Kraft zur Pflichttreue.«
+
+»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur, trotz allem, daß Sie im Grunde
+Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können, --
+Menschen oder Ideen, -- und da, wo man sehr liebt, sich rückhaltlos
+verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit
+solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, -- all die Sicherheit und
+Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, --
+nein, -- daran glaub' ich auch für Sie nicht.«
+
+»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut.
+
+»Wie? Sie geben's mir zu?« fragte sie überrascht, »welch ein fremder,
+guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es
+ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig
+wir alle vom Glück sind, -- wir armen Weltkinder alle? Vom fruchtbaren
+Erdfleckchen, auf dem auch für uns noch ein ganzes Glück, eine ganze
+Liebe, -- und dadurch allein! -- auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit
+wachsen kann.«
+
+»Und wenn wir dies Erdfleckchen, gerade dies, nicht bebauen dürfen?«
+
+»Dann verdorren wir, -- oder verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie
+auch.«
+
+Ein Diener erschien in der Portierenthür und bat zur Tafel.
+
+Warwara stand auf.
+
+»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?«
+
+»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie einmal vor langer --
+sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹
+Es erkennen, heißt hart werden, -- gegen alles, was uns hindert, uns
+fruchtbar auszuleben.« --
+
+Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas
+fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß,
+dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste.
+Er war bemüht, sie zu unterhalten.
+
+Klare-Bel hörte nicht recht hin; ihre Blicke hingen an einem Brief,
+den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der
+Stadtwohnung dort eingelaufen.
+
+Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache,
+thörichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses
+Geplauder hineinredete.
+
+Als Erik, bald nach dem Abendthee, zu Hause eintraf, bemerkte er sofort
+den Brief, der für ihn bereit lag. Sein Blick streifte Jonas, --
+flüchtig nur, -- aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehen. Der
+Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, -- aber er sollte
+ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an
+Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, --
+auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn
+ja doch den Weg zu Ruth.
+
+Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik, während
+er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, -- die Seite umgerissen, --
+eine zweite, blitzschnell, -- und er ballte das Papier in der Hand.
+
+Er war grau im Gesicht.
+
+»Erik! was ist es? -- etwas Schlimmes, -- für dich Schlimmes, -- Erik!«
+
+Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen.
+
+Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen
+Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb«, und, am Schluß,
+etwas wie »den Kuß gab ich ihm«, -- mehr hatte er nicht gelesen. Er biß
+die Zähne aufeinander.
+
+Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau.
+
+Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe.
+
+»Am Schloßberg. Dienstag.
+
+Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb
+habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen
+ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es.
+Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen, weil ich mit Husten zu
+Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine
+Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause.
+Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es
+war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich mit
+den Galoschen nicht ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich
+liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das
+sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir
+sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie
+mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt.
+Sterben möcht' ich.‹ Darüber, daß er sterben wollte, wurde ich ganz
+traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm
+und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in
+den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte
+mich ins Bett und kochte heißen Thee auf. Ich lag und weinte, denn ich
+wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein
+könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und
+da lag jemand und that dasselbe. Frau Römer kam herein, und horchte,
+ob nebenan auch jemand weinte und lächelte etwas und sagte, wir wären
+rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein
+Haar zurück (das thut sie gerade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii
+denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja.‹ Da sagte sie: ›Ich
+meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen
+Welt ist? gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste
+auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie:
+›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es
+später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu
+sein?‹ Das konnte ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie
+küßte mich und ging fort.
+
+Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich
+stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich
+im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die
+aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte.
+Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß.
+Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß
+gab ich ihm auch.
+
+So ist es gewesen.
+
+Ruth.«
+
+Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewendet. Sein Gesicht
+verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein
+Schreck umsonst gewesen war.
+
+Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth that oder
+unterließ, -- das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen.
+
+Sie hatte gemeint, das Schwerste sei über sie gekommen: gestern. Aber
+nicht, es zu wissen, war das Schwerste, -- nein, es mit wissenden Augen
+zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen
+kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, -- das
+war schwerer. Nicht nur schwerer, -- unmöglich war es.
+
+Und dann, -- wenn Ruth einen andern abwies, -- dann liebte wohl auch
+sie Erik. Und wenn sie ihn liebte -- dann erst war er für Bel verloren.
+Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten -- für Bel; auf Ruths
+Glück nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe
+blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch
+um das Glück des andern.
+
+So empfand Klare-Bel.
+
+Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr
+auf ihr Zimmer bringen müssen.
+
+Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden
+und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben. Aber
+diesmal gelang es ihm schlecht, -- ein gequälter Ton klang durch.
+
+Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine
+Felldecke über den Knieen. Sie sah nicht krank aus. Vielmehr klar und
+gesammelt.
+
+»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge.
+
+»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein
+-- ganz allein, -- ohne Jonas.«
+
+Und sie umfaßte seine Hand mit ihren beiden Händen.
+
+»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja
+doch bald sein. Laß es jetzt sein!«
+
+Er schwieg einen Augenblick. Diese Bitte war beredt.
+
+»Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will
+alle Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich
+hinbringen.«
+
+»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt.
+Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so
+feine Augen. Vor ihm will ich nicht --«
+
+Sie brach ab; aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz,
+schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen,
+in meinem Elend!«
+
+»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen.
+Darauf bestehe ich, Bel.«
+
+»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«
+
+»Was denn?«
+
+Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans
+Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine
+Bel vollkommen, -- jede leiseste Regung in ihr kannte er, -- und
+beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm
+Entrücktes aus, -- etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne es sich noch
+erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames
+Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.
+
+»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist,
+daß auch du verreisen sollst, -- so bald als möglich. Nicht erst zum
+Sommer, um mich abzuholen. Bald, -- eher, -- in den Ostertagen. Wo du
+zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob
+wohl auch sie -- --. Ganz gewiß, das mußt du thun. Denn sonst bist du
+zeitlebens unglücklich, Erik. Und das -- siehst du -- das könnt' ich ja
+nicht aushalten.«
+
+Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die
+Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen das Fensterglas.
+
+Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehen und
+handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!
+
+Wie hatte er nur an Kampf denken können -- mit Bel! Kampf? Nein,
+ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie
+beschenkte ihren Räuber, -- freiwillig, überreich beschenkte sie ihn:
+»Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, -- ich kann's entbehren, bin die
+Stärkere, -- ich kann entsagen, -- du -- nicht.«
+
+Und glühend brannte in ihm die Scham empor, -- glühende Scham, -- und
+Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein
+Beschenkter!«
+
+Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen
+und benommen war sie von dem Schweren, das sie vorhatte, daß ihre
+Blicke ihn nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.
+
+»Heut nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre!
+Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören,
+an sie zu denken, und ich, -- wie sollte ich, -- wie sollte ich nicht
+anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik.
+Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es
+kann traurig werden, -- sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll
+es nicht. Ich ertrüg's nicht.«
+
+Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, -- was wußte sie wohl von »Haß«. Von
+Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen
+Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und
+ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele.
+Sie dachte nichts Häßliches.
+
+»Und nun hab' ich auch verstanden, -- heut nacht, -- warum ich gesund
+geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum
+wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf
+meinen Füßen stehen und gehen konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«
+
+»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse Exaltation war ihm
+entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik.
+Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt
+du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«
+
+Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie
+von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr
+mein, -- dies mehr dein.«
+
+Er trat an ihr Bett.
+
+»Höre mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß -- über nichts,
+-- ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offener als bisher.
+Denn du weißt nicht alles.«
+
+»Ach, Erik, -- sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! -- Nichts,
+-- nein! Nur eines -- hätt' ich von dir erbeten!«
+
+Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie
+sanft fest.
+
+»Es ~muß~ sein, Bel. Du mußt mich hören.«
+
+»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, -- sage mir nur erst: -- hast du --
+ihr schon geschrieben?«
+
+»Ja,« versetzte er erstaunt.
+
+»Ich meine -- den ~andern~ Brief?«
+
+»Ja, -- auch den andern.«
+
+»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, -- das hast du doch?«
+
+In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er
+an die Tasche seiner Joppe. Es knisterte leise unter seinen Fingern.
+
+»Erik! -- das ist das Einzige, -- was ich von dir erbitten wollte.«
+
+Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne, zerknitterte Papier,
+-- wieder stieg eine Blutwelle ihm ins Gesicht, -- wieder die Röte der
+Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, -- nur das nicht! Das
+konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, --
+sein Heiligstes und sein Unheiligstes, -- den Aufruhr der wildesten
+Stunde, -- die Andacht der stillsten --.
+
+Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, --
+tausendmal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war,
+was sie erfahren mußte, -- sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr
+war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, -- wenn er selbst es
+war, mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, mit allem
+Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, -- dann war es gut so.
+
+Vor seinen Worten scheute sie sich, -- vor der endgültigen Klarheit:
+und in dieses Dunkel griff sie verlangend, -- vermessen. Wer ergründet
+wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier!
+
+Er reichte ihr das zerdrückte Blatt, -- zusammengeballt war es zu einer
+Kugel.
+
+»Du hast es gewollt.«
+
+Dann verließ er sie.
+
+Nebenan im Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas
+hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen.
+
+Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere.
+
+»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht
+entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleids, -- nicht in der
+schlimmern: der Versuchung der Scham.«
+
+Ihm war, als handle es sich gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch
+weniger um ein Weib, -- nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch
+sein konnte, -- um alles, was er überhaupt berühren konnte, schaffend,
+wirkend, liebend, -- um sein eigenes Menschsein.
+
+Es konzentrierte sich alles in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen,
+die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.
+
+Entsagen hieß: in die Wüste gehen, -- nicht nur mit seiner Liebe,
+-- auch mit seiner Thatkraft, -- mit seiner Kraft überhaupt, -- ins
+Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.
+
+Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit
+standhielt? Ja, in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines
+andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, -- keiner Augen, die da
+glaubten, und warteten, und an sie appellierten?
+
+Ja vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die
+Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln, -- spottend oder
+genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eigenen Erregungen
+sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, -- auch sie ihr
+eigenes Publikum!
+
+Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher
+auch hilflos in sich selber, -- wenn sie sich nicht dadurch helfen
+können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken, -- und sich selbst
+erkennen, wiedergespiegelt im Auge eines andern.
+
+Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch
+in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und schüchtern war und
+keineswegs ihr eigenes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen
+suggerierten Zuschauer, -- mit dem da oben, der alles sah. Auch sie
+hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, -- das
+Gottesauge, den blauen Himmelsspiegel!
+
+Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels
+kleinem Nebengemach. Es war, als wolle sie Erik in seinen bittern
+Gedanken unterbrechen, -- widerlegen.
+
+Er trat zur offenen Thür.
+
+Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den unteren Rand
+der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot, in den Händen
+vergraben.
+
+»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel
+bist, und in die Herzen der Menschen hineinsiehst, nimm mir meine Liebe
+aus meinem Herzen!« --
+
+ * * * * *
+
+Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der
+Straße traf und von der bereits jetzt bevorstehenden Abreise seiner
+Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige
+Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu
+lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie
+der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen
+mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer
+Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß
+die Gatten sich nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.
+
+Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete Erik sich nur kurz und hastig von
+ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.
+
+Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn
+eigentlich als Mann in seinem eigenen Heim befriedigt, aber als
+Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend
+oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit
+gelegentliche Versuche, die hungernde Thatkraft durch Näschereien und
+Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so
+völlig zurückgezogen lebte, -- schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus
+der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war,
+die ihn einst fesselte, und die er gefesselt hatte? War eine Frau im
+Spiel? --
+
+Wenige Tage später, an einem Sonntag vormittag, wollte Warwara eine
+notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik
+vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der
+Grenze heimgekommen sei.
+
+Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte
+sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß
+eine ganz junge Dame und blickte mit großen, erwartungsvollen Augen zum
+Fenster hinaus.
+
+Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr
+zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Aeußerlichkeiten auf.
+
+Ein zarter, geschmeidiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue
+Tuchkleid mit offenem Jackenteil, auf tiefrotem englischen
+Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen
+weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte, in ungeduldiger
+Bewegung, unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken
+Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und
+Schläfen in seinem Gelock aus einem weichen Barett von dunkelblauem
+Sammet hervor.
+
+In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht,
+an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr
+Gegenüber, daß dasselbe sich ein wenig befremdet nach ihr umwandte.
+
+Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend
+ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.
+
+Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.
+
+»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend:
+»Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte
+und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben: Ihr
+Vorname.«
+
+»Es genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben Einen
+Weg?«
+
+»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte
+nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines
+reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten
+Sie?«
+
+Ruth errötete und schüttelte den Kopf.
+
+»Nein; ich bin sehr -- ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,«
+entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.
+
+Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, -- die
+›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals
+hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«
+
+»Da wird es Ihnen leid thun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut,
+»denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen?
+Sie ist schon abgereist.«
+
+»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnte ich ja noch nicht wissen! Es
+hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das thut mir leid!«
+
+Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß
+Warwara sich schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon; es war nicht
+verabredet; was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie sich,
+und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth: »Nein, kein schlimmer
+Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man es nie hat erwarten dürfen,
+und nun geht es stetig bergauf. Im Anfang des Winters hat sie freilich
+noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz:
+›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Eine
+Operation hat er selbst gemacht, weil die Aerzte es nicht wollten --
+ohne Betäubung. ~Der~ Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig
+geschüttelt. Ich hab' ihn ein paarmal gesehen: blaß wie ein Tuch.«
+
+Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die
+Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als
+Warwara schwieg, atmete sie tief auf.
+
+»Das schrieb er nicht, daß er selbst, -- -- daß er ihr eigentlich
+selbst die Gesundheit wiedergegeben hat. Aber so mußte es sein! Er
+kann alles, was er will! Und das wollte er ~so~ aus voller Seele, daß
+sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie
+grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten
+geleitet hat! Nun, wo es ist, wie ~er~ will: ~wo sie glücklich~ ist.«
+
+Sie sprach hingerissen; ihre Augen blitzten.
+
+Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie
+damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil
+wie ein Wesen, an dem alles Beseelung und nichts mehr Form ist. Eine
+Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, -- -- und
+Liebe? Dann konnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und
+Freude sprechen. Keine Liebe? Dann konnte sie nicht mit diesem Blick
+und diesem Ton sprechen.
+
+Der Zug hielt. Sie stiegen aus.
+
+Warwara bequemte sich dazu, eines der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu
+benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen, und deren Kutscher sie
+sofort umschrieen. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.
+
+Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.
+
+»Es ist etwas an ihr, das nicht in das Leben gehört, -- Poesie. Poesie
+im Konflikt mit dem Leben, -- was ergibt das wohl?« dachte sie; -- »es
+ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte: --
+o pfui, nein! -- oder: die letzte eines Märchens.«
+
+Ruth ging langsam hin, zwischen den kahlen Birken am Wegrande; nicht
+in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden
+Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein, als ob er in
+tausend Blüten um sie stände. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht,
+-- und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer
+Gegenwart. Man hörte ihn; in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang
+er von den blattlosen Zweigen.
+
+Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in
+verhaltenem Glanze nieder, -- Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft,
+verhüllt, und wie eine Verheißung.
+
+Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte.
+Sie öffnete, durchschritt den Garten und stieg, zaudernd, leise, ein
+paar Stufen zur Terrasse hinauf.
+
+Vorsichtig vornübergebeugt spähte sie von der Seite her in das breite
+Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.
+
+Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt; hinter den Tellern mit
+kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.
+
+Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand,
+an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ dasselbe an der
+roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die
+Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu
+fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark
+an Erik.
+
+Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen; es glitt plötzlich von der
+Gabel und fiel hinein.
+
+Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um, und spießte ein neues auf;
+diesmal gelang es besser.
+
+Dann spülte er einen Theetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und
+machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter
+den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte
+ihm die Hand.
+
+Jonas machte den Mund weit auf und fing an auf einem Bein im Zimmer zu
+tanzen.
+
+Vom Fenster erklang helles Gelächter.
+
+Er blieb stehen, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm
+niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck, als trauten sie
+sich selbst nicht, richteten sich seine Augen nach dem Fenster.
+
+Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschlossenen
+Scheibe, das ihn auslachte, und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob
+er Ruth träumte, oder ob er Ruth sah.
+
+Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, daß
+es dabei fast in Splitter schlug, und heraus streckten sich die Hände
+nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.
+
+»Aber, Jonas! laß mich nur erst zur Thür hineinkommen!«
+
+»Nein, -- nicht!« murmelte er, als könne sie ihm doch noch wieder wie
+ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich laß dich
+nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehen. Setz den Fuß auf die Rampe, --
+ganz fest, -- hörst du? Ich hebe dich.«
+
+Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.
+
+Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im
+Zimmer.
+
+Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie da vor ihm stand, nicht
+mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine
+grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.
+
+»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, -- von wo bist du nur
+gekommen?« Er starrte sie an, als sei er überzeugt, daß sie vom Himmel
+gefallen sei.
+
+»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. -- Und -- dein Papa?«
+
+»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge
+macht er, allein, -- seit Mamas Abreise.«
+
+»O Jonas, -- daß Mama gesund geworden ist, -- nicht wahr? Ist es nicht
+wie ein Wunder, -- immer noch?«
+
+»Ja. Und jetzt werde ich auch Arzt. Weißt du es? Für den Fall, daß du
+später einmal krank wirst.«
+
+Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen,
+übermütigen Augen.
+
+»Hoffentlich werde ich später einmal krank. -- -- Wie ist es dir nur
+ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«
+
+Er sah rot und verwirrt aus.
+
+»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, -- ich dachte ja, -- -- Du! willst du
+nicht eine Tasse Thee haben?«
+
+»Nein, danke,« sagte sie lachend; »aber die Hauptsache ist: bald kommst
+du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas. Da studieren wir
+zusammen.«
+
+»Ja,« versetzte er tiefatmend, »-- endlich: -- bald! endlich! endlich
+zusammen! Ja, -- siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. --
+-- Hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender
+Heftigkeit fort, »-- muß in deiner Nähe sein, Ruth. -- Bei dir. Ja,
+-- du! -- ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, -- -- nimm mir's
+nicht übel, -- aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab'
+nichts, bin nichts, -- muß mich eben erst durchbeißen, -- aber bei dir
+sein will ich wenigstens, -- jedem die Faust zeigen, der's auch will,
+-- der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen
+jeden -- --«
+
+»Jonas! Du rasest!«
+
+Sie war aufgesprungen, blaß vor Schreck.
+
+Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, -- und plötzlich
+stürzte er vor ihr in die Kniee, das Gesicht in den Falten ihres
+Kleides.
+
+»Ach, Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, -- es war ja so schrecklich
+für mich, -- all die Zeit, -- so stumm in mich hineingewürgt, alles.
+Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, -- es kommt nie wieder,
+bis --: Ich weiß, -- ich darf noch nicht. Aber einmal, -- ~einmal~
+mußt' ich, -- ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so
+grenzenlos unglücklich, bis -- bis du mein -- mein -- geworden bist!«
+
+»Jonas!« flüsterte sie, »-- Jonas, ich bitte dich, -- steh auf, -- laß
+mich los, -- du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht --«
+
+Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern
+losen wollte, -- er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte.
+
+»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer
+unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine
+Zähne in ihren Handrücken.
+
+Dunkel drang das Blut vor.
+
+Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg.
+
+Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand.
+
+»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Thränen aus, »Ruth
+-- hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was --
+was sind wir uns denn? was -- in Zukunft?«
+
+Sie faßte ihn an beide Schultern; -- angstvoll und liebevoll sah sie
+ihm ins verstörte Gesicht.
+
+»Jonas! Jetzt, -- und in Zukunft, -- und immer, -- ~Geschwister~!«
+
+Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen
+Schritte bis zur Thür, öffnete sie, -- und stürzte hinaus, über die
+Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten.
+
+Totenstill wurde es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und
+lohten hell auf im Kamin.
+
+Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer
+Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in
+Flammen stand.
+
+Was that sie hier, -- allein, -- im Hause, -- ein Eindringling, -- der
+Jonas hinausgetrieben?
+
+Die Thür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!«
+
+Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr
+großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, -- leer. -- -- --
+
+Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe
+des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf
+der Bank unter den überhängenden Birken.
+
+Erik blieb stehen, blickte schärfer hin, und kam langsam näher. Sie
+bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht, in den
+grauen Frühling hinein, so daß sie ~da~, -- in unsicheren Umrissen,
+-- dann immer lebenswärmer, -- immer beseelter vor seinen Augen, kein
+blasses Gedankenbild mehr: Wirklichkeit. Weich hob der blonde Kopf sich
+ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die
+Sonne matt durchdrang, in einem Schattenspiel von rosigvioletten
+Farben.
+
+Ruth überfiel es wie eine Schwäche, lähmend, je näher Erik ihr kam, je
+näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause!
+jetzt erst zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben
+sich ihm entgegen.
+
+Dieses seltsam Stille, dieses Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder
+lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, -- als fürchte er zu
+verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und
+überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde.
+
+Ueber Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf
+schwankendem Zweig und sang hell.
+
+Wie Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog
+davon.
+
+Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog
+ihre Hände fest an sich.
+
+»Lieb' -- Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht.
+
+»Ich, -- -- der Brief, -- er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas
+Fremdes, -- Zweifel war darin. Ich mußte fort.«
+
+Er hörte nur ihre Stimme; er mußte sie wieder hören.
+
+»Mit dem Rotkehlchen -- hergeflogen?« fragte er.
+
+Sie sah ihn an, -- etwas zaghaft, etwas schelmisch; »Durchgebrannt,«
+sagte sie.
+
+Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen.
+
+»Von Römers?!«
+
+»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie --
+sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹
+sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, -- heimlich.
+Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. -- Durfte ich?«
+
+Sie fragte es schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie
+ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knieen gelegen, --
+aber das sagte sie nicht.
+
+Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem
+Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie.
+
+»Ob du durftest? -- ~Heimkommen~, -- ja! Bei Tag und bei Nacht;
+heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wäre ich gekommen
+-- zu dir. Vergiß den Brief, -- alle Briefe, -- das Fremde, den
+Zweifel, -- vergiß alles -- alles. Sei nur bei mir.«
+
+Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend,
+Heimatsgefühl, -- nein, mehr als nur das, noch etwas andres, -- dieses
+Unbedingte und Ausschließliche, das keine Macht im Himmel und auf Erden
+ihr gab: nur er ganz allein.
+
+»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und
+wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Thut es so weh?«
+
+»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt
+über ihr Glück.
+
+Erik stand auf.
+
+»Komm hinein. Komm, Liebling. ~Zu Hause~ bist du erst in meinem Zimmer,
+-- im alten Ledersessel, -- nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt
+für dich, zu windig.«
+
+Während sie dem Hause zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch
+einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm,
+daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir thut es so
+leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig -- --«
+
+»Laß das,« unterbrach er sie halblaut, »-- ich werde dir später alles
+erzählen, -- später.«
+
+Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm. Etwas, das sie fremd
+berührte, klang aus seinem Ton. Es war nur ein einzelner
+durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr
+in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, -- wie vorhin,
+-- bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher.
+
+Erik ließ sie unbemerkt einen Schritt vorausgehen.
+
+Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen
+aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark
+gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper kräftiger,
+weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen,
+weichen Formen ab.
+
+Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn.
+
+»Der Knoten nimmt dich mir fort, -- den duld' ich nicht,« sagte er
+beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit
+geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In
+dichten lockigen Wellen fiel es nieder bis zum Gürtel, wie einst.
+
+»Ach nein, -- nicht, -- wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt
+und griff nach dem Rücken.
+
+»In meiner Joppentasche. -- Aber wiederhole das noch einmal. Nun?
+›Sie?‹ oder ›Du?‹. Im Brief stand einmal ›Du‹. Nur einmal? Oder
+eigentlich -- immer?« fragte er leise.
+
+Sie errötete verwirrt.
+
+»Sie -- -- du -- -- ich --«
+
+Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich ihren Kopf
+nach vorwärts, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm
+aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und
+gab seiner Hand nach.
+
+Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen.
+
+»Mein. Mein Fürstenkind, meine Königin,« flüsterte er.
+
+Und er beugte sich, und seine Lippen küßten den leise bebenden Mund.
+
+Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei, und öffnete die Thür zu
+seinem Arbeitszimmer.
+
+»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging dem Fenster
+zu. Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb
+sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln
+gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie
+hinauf zur Zimmerdecke mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht.
+
+»Was ist dir?« fragte er unruhig, »-- Ruth! -- was ist dir?«
+
+Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, -- sie wachzuküssen: »Du
+liebst mich, -- du liebst mich ja, du weißt es noch nicht, aber ich
+weiß es für dich! Weiß es gewiß, -- fühle es, sehe es, daß sie da ist,
+-- daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!«
+
+Aber er schwieg.
+
+Ja, sie war da, -- und doch konnte er so nicht handeln, so nicht
+sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, -- wie das Rotkehlchen
+auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da,
+-- aber greifen konnte er sie nicht.
+
+Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann
+setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster.
+
+»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz
+zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, --
+will mich nicht einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner
+Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.«
+
+Da löste sie sich vom Ofen, sie flog zu ihm, sie glitt nieder zu seinen
+Knieen, -- ganz blaß.
+
+»Ja!« sagte sie außer sich, »-- fremd, -- etwas Fremdes, -- ich kann es
+nicht verstehn und quäle mich.«
+
+»Was ist es? Sage es mir.«
+
+»Ich kann nicht,« murmelte sie.
+
+»Doch, doch! Du kannst. Mußt es wieder lernen, -- zu sprechen, oder
+auch nur zu stammeln, aus dem Innersten heraus, -- noch aus dem
+Unklarsten, Unverstandensten --. Es ist nur Scheu. Ueberwinde sie.«
+
+»Es ist, -- im Kuß war es,« sagte sie leise.
+
+»Hat es dich verletzt, -- daß ich dich geküßt habe?«
+
+»Mich?! verletzt? mich?! nein! -- was liegt an mir?«
+
+»-- Für mich -- alles, Ruth. -- Aber warum quält es dich dann?«
+
+Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
+
+»-- Weil, -- es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen,
+-- als ob er gar nicht von Ihnen kam, -- und dann: wie ich von Ihrer
+Frau sprach, im Garten, -- und dann: im Kuß, -- da fühlte ich es ganz
+deutlich, das Fremde darin, und daß es -- --«
+
+»Daß es --?«
+
+»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob ~Sie~ es
+nicht sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.«
+
+Er antwortete nicht.
+
+Wie sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen
+geschlossen.
+
+Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme: »Du täuschest dich.
+Es ist nichts Fremdes, -- nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, --
+und in dir selbst ist es, du erkennst es nur nicht, -- mit deinen
+Kinderaugen.«
+
+Er strich ihr über das Haar hin, und sah hinweg über sie, die, den Kopf
+unter seiner Hand gebeugt, erwartungsvoll lauschte.
+
+»Weißt du noch, -- als du das erste Mal hier warst, -- was wir da an
+dieser Stelle miteinander sprachen, und was ich dir versprach? Ich
+wollte dich aus der Welt der Phantasie, in der du träumtest, in die
+Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und
+du bist nicht das Kind mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender
+Mensch, der lebt, -- lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt
+du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe
+bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab,
+wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen,
+alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser
+Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht
+auf die Wirklichkeit, sondern, über jede Wirklichkeit weit hinaus,
+auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest
+und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem über alle
+Menschen emporgehobenen Bilde, -- in deinem Innern. Aber diese ganze
+Traumschönheit, Ruth, in der dein Verhältnis zu mir noch steht, --
+sie ist dennoch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche
+Umhüllung, -- nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem
+Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet
+darauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie
+dein ganzes übriges Wesen.«
+
+Er brach ab.
+
+Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu
+folgen.
+
+»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause
+fort, »habe ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben
+aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem
+Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem
+ganzen Herzen verwachsen ist, -- und dir Schmerz damit zufüge, -- wirst
+du dein Vertrauen behalten, Ruth, deine Liebe -- zu mir?«
+
+Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich.
+Er hielt sie zurück.
+
+»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir
+fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst
+war; -- daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und
+mein Glück langer nicht entbehren kann; -- daß ich es nicht ertrug,
+dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil -- ich keine Frau
+mehr habe, -- weil sie sich von mir trennen wird.«
+
+»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht
+glauben, auch wenn Sie es mir -- -- Nie und nimmer kann das sein. Kann
+nicht. Denn sie -- sie war ja so glücklich -- bei Ihnen.«
+
+»Sie?« antwortete er schwer, »-- ja, Ruth, -- sie war es wohl, --
+früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.«
+
+Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht prägte sich ein
+grenzenloses Befremden aus, -- Zweifel, Unglaube, ja, Entsetzen prägte
+sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, -- nach
+Erik rufen, -- ihn zu ihrer Hilfe rufen, vor einem Unverstandenen,
+Unbekannten. Aber er -- er war es ja gerade, der da vor ihr stand --.
+
+Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ
+ihn. Er fühlte nur noch Angst, -- die Angst, sie zu verlieren.
+
+»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es
+thun, vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, -- du bist kein
+Kind mehr, -- ein Weib, -- mein Weib!«
+
+In diesem Augenblick wurde die Thür vom Flur aus aufgerissen. Jonas
+erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Thür wieder
+ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen.
+
+»Jonas!« murmelte Ruth, halb bewußtlos, »-- wir müssen, -- er hat
+gehört, -- wir müssen nach Jonas sehen.«
+
+Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth
+war schon bei der Thür. Sie öffnete sie.
+
+Im Flur lag Jonas am Boden, -- lang hingestreckt. Mit dem Kopf war er
+im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Ueber seine linke Schläfe
+träufelte Blut.
+
+Ruth stieß die Mittelthür auf. Sie half Erik, ihn hineinzubringen in
+das anstoßende Zimmer, auf sein Bett. In den nächsten Minuten sprachen
+sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt.
+
+»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut,
+-- und dann, über ihn gebeugt: »Er kommt zu sich.«
+
+Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück; ihre Augen richteten sich
+auf Jonas mit einem Ausdruck des Grauens, daß er sie erkennen, -- daß
+er sie sehen würde.
+
+Sie machte Erik ein stummes Zeichen, und ging leise in sein
+Arbeitszimmer zurück.
+
+Dort blieb sie verwirrt stehen.
+
+Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte
+sie bleiben, -- nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort.
+Fort, ehe Erik kam. Fort, ehe Jonas kam.
+
+Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Thür zu, durch die sie
+soeben aus dem Schlafzimmer eingetreten war.
+
+Nein, -- wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschiednehmen? von wem? Ohne
+Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. -- Für immer?
+
+Sie trat in den Flur hinaus, -- wie hinausgetrieben von ihren eigenen
+verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn.
+
+Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein
+paar kleine hellrote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel.
+
+Der weite, dunkle Reisemantel, den er damals trug, -- als sie fort
+sollte, -- und er heimkehrte, -- und als sie ihm an die Brust fiel. --
+--
+
+Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und
+verhaltenem Atem.
+
+Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit
+sich fort, -- wild, glühend, unerträglich, -- das Trennungsweh.
+
+Mit den Händen faßte sie den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seine
+losen, weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen
+Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte
+sie den Saum.
+
+Damals, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei,
+wozu es sei, -- bis in den Tod, bis in das Verbrechen hinein, -- hätte
+sie es nicht blind gethan?
+
+Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie
+gleich laut schreien.
+
+O Gott, auch jetzt, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin
+es sei, wozu es sei, -- sie hätte es blind gethan! Blind gehorchend,
+-- gegen allen Augenschein, gegen alles eigene Wissen und Verstehen!
+Mit ihr durfte er thun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen
+mochte, -- was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo
+sie ihn gesehen, -- sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie
+gewesen, -- an ihm lag Alles!
+
+War er sonst noch ~Erik~?
+
+Sie sah ihn vor sich, wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai
+im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in
+seinen starken Armen. So hatte Ruth ihn zuerst mit ihr gesehen, -- so
+ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du
+allzuleichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang
+vertrauend die Hände um seinen Nacken.
+
+Aber nun -- nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glücklich
+vertrauende Lachen verstummte, -- und sie, die sich an ihm
+festgehalten, ließ er fallen, -- er öffnete die Arme und ließ sie,
+die Hilflose, zu Boden fallen, -- denn eine Last war sie, eine
+allzuschwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die
+sich ausbreiteten nach Ruth.
+
+ * * * * *
+
+Ruth richtete sich auf; sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und
+schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag
+ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und
+fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehen!« schrie es in ihr. Aber Eriks
+Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe
+nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.«
+
+Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine
+fremde Schrift. Das wollte sie also thun? Ja, das wollte sie. Er
+hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen,
+in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, -- so
+ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden.
+Wenn sie es selbst verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben
+verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit
+ihr gewollt, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von
+ihm. Sie hatte ja alles von ihm, -- nur von ihm allein. Sie kannte alle
+seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht
+nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn.
+
+Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl.
+
+Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zu Mut,
+sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen:
+sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen.
+
+Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, -- seinen
+eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eigenen Willen festhalten!
+Haltung! Sich selbst gehorchen, -- hörst du?«
+
+Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er
+ihr bei: Erik gegen Erik.
+
+Leise schlich sie sich aus dem Hause.
+
+Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück.
+
+Nein, dafür konnte er nichts, -- Erik konnte nichts dafür, daß er
+anders war, und daß das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht
+hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal ihre Phantasiegeschichten
+gar nicht. Die mußte man erst hinzuthun.
+
+Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, -- das ganze verflossene
+Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelsang, da mochte es
+ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo
+sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in
+den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der
+ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein
+Märchen, das »allerschönste von allen«.
+
+Ja, das allerschönste von allen.
+
+So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals.
+
+So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das
+Leben bot. Niemals.
+
+So schön, daß es nichts mehr geben konnte, -- im ganzen Leben nichts,
+-- was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen, -- und zu
+gering befinden würde.
+
+ * * * * *
+
+Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne
+es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend
+über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem
+Buschwerk umwuchsen.
+
+Dann ging sie, ohne sich noch umzuwenden, mit gesenktem Kopf den
+Landweg zwischen den Birken zurück zur Station, und ihr langes loses
+Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde. --
+
+ * * * * *
+
+Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen,
+den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem
+die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen.
+
+Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm
+wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen, wenn er Gedanken dafür
+übrig behalten hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach
+Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, -- dieser Anstrich von
+Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und
+Thorheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament,
+an Jugendfeuer war das gewesen, -- sondern eiserne Ausdauer,
+Selbstbeherrschung.
+
+Kinderei oder nicht, -- es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen.
+
+Aber der -- -- achtete ihn nicht.
+
+Jetzt, in dieser Stunde nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem
+Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete Erik jetzt, und er mußte nun seine
+volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen.
+
+Ein leises Knaben der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken. Bei
+dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck.
+
+Er öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er
+ging über den Flur in das Wohnzimmer. Ruth war nicht da.
+
+Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte
+ihm die Brust zusammen.
+
+»Ruth!« rief er laut, und erkannte seine eigene Stimme nicht.
+
+Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an
+die Bank vor dem Gehölz.
+
+Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang.
+
+Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken; ganz
+regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, --
+und sang und sang in den grauen Frühling hinein --.
+
+
+
+
+Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart.
+
+
+ Andreas-Salomé, Lou, Ruth. Erzählung. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 2. Aufl
+ --"-- Aus fremder Seele. Eine Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ Spätherbstgeschichte.
+ Bobertag, Bianca, Moderne Jugend. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ Bourget, Paul, Das gelobte Land. Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Boy-Ed, Ida, Die Lampe der Psyche. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ Ebner-Eschenbach, M. v., Erzählungen. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ 3. Aufl.
+ --"-- Boŭna. Erzählung. 3. Aufl. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ --"-- Margarete. 3. Auflage. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ Eckstein, Ernst, Nero. Roman. 5. Auflage. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.--
+ Fulda, L., Lebensfragmente. 2 Novellen. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ 2. Aufl.
+ Heyse, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ Hopfen, Hans, Der letzte Hieb. Geh. M. 2.50 Geb. M. 3.50
+ 3. Auflage.
+ Junghans, S., Schwertlilie. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ 2. Aufl.
+ Kirchbach, W., Miniaturen. Fünf Novellen. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ Lenbach, Ernst, Abseits. Erzählungen. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Lindau, Rudolf, Martha. Roman. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.--
+ Loti, Pierre, Japanische Herbsteindrücke. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Mauthner, Fritz, Hypatia. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 2. Auflage.
+ Petri, Julius, Pater peccavi! Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Proelß, J., Bilderstürmer! Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 5.--
+ 2. Auflage.
+ Schunsui, Tamenaga, Treu bis in den Tod. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Sudermann, H., Frau Sorge. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 34. Aufl.
+ --"-- Geschwister. Zwei Novellen. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 15. Auflage.
+ --"-- Der Katzensteg. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 28. Auflage.
+ --"-- Im Zwielicht. 19. Auflage. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ --"-- Jolanthes Hochzeit. Erzählung. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ 18. Aufl.
+ --"-- Es war. Roman. 21. Auflage. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.--
+ Telmann, K., Trinacria. Sizilische Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ Geschichten.
+ Wereschagin, W., Der Kriegskorrespondent. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
+ Widmann, J. V., Touristennovellen. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ Wilbrandt, A., Der Dornenweg. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ 3. Aufl.
+ --"-- Novellen aus der Heimat. 2. Aufl. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ --"-- Hermann Ifinger. Roman. 4. Aufl. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ --"-- Meister Amor. Roman. 2. Aufl. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
+ --"-- Die Osterinsel. Roman. 2. Aufl. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
+ --"-- Die Rothenburger. Roman. 3. Aufl. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ --"-- Vater und Sohn u. andere Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
+ Geschichten. 2. Aufl.
+ Wildenbruch, E. v., Schwester-Seele. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
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+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***
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+ Ruth | Project Gutenberg
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***</div>
+
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler korrigiert.
+Die Verlagswerbung wurde an das Ende des Textes verschoben.</p>
+
+<p class="p0"> Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp46" id="cover" style="max-width: 100em;">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="cover">
+</figure>
+
+
+<h1>Ruth.</h1><br>
+
+<p class="s3 center">Erzählung</p><br>
+<p class="center">von</p><br>
+<p class="s2 center"><b>Lou Andreas-Salomé.</b></p>
+<hr class="k">
+<p class="p4 center">Zweite Auflage.</p><br>
+
+<figure class="figcenter illowe5_3125" id="signet">
+ <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="signet">
+</figure>
+
+<p class="p4 center">Stuttgart 1897.</p>
+<p class="center">Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger.</p>
+
+<div class="chapter">
+<p class="p4 center">Alle Rechte vorbehalten.</p>
+</div>
+<p class="center">Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p>
+<span style="margin-left: 15em;"><b>Muschka</b></span><br>
+<span style="margin-left: 25em;">gewidmet.</span><br>
+</p>
+</div>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
+
+<h2>I.</h2>
+</div>
+
+<p>In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene
+Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite,
+ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen
+Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache
+Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein
+Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges;
+der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von
+den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen
+hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den
+Vogelgesang hineinklang.</p>
+
+<p>Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein
+Holzbau, mit geflossenen Fensterläden und bretterverschlagener
+Balkonthür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig
+beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für
+den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen
+Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.</p>
+
+<p>Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt
+von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas
+feuchtem Wiesengrund<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber
+den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden,
+breiteten einen zarten, bräunlichen Schleier darüber, und rings über
+den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen
+Blattknospen.</p>
+
+<p>»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in
+gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein
+halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der
+Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur
+offenen Terrasse mit der Eingangsthür emporführten.</p>
+
+<p>Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf,
+wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen
+Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten
+Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Thür zu
+einem kleinem Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu
+sein schien. Von den Sachen, die man, beim Auszug aus der Stadtwohnung,
+im gemieteten Landhause vorrätig gefunden hatte, war offenbar alles
+Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und
+Gemütlichkeit zu schaffen.</p>
+
+<p>An der Thür, auf einem deckenumhangenen Ruhebett, lag eine bleiche,
+nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren
+ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter halbgesenkten
+Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und
+Gehenden.</p>
+
+<p>Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln
+durch die großen blauen Augen ging.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p>
+
+<p>»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«</p>
+
+<p>Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in
+deren Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf
+den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging über den Flur in das
+Zimmer.</p>
+
+<p>Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr
+trat.</p>
+
+<p>»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die
+Sonne durch den Nebel, und dann trage ich dich in den Garten hinaus.
+Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen
+aufgestellt.«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher
+Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik?
+Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt
+du, das ist das Schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht
+ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«</p>
+
+<p>»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätte es auch sonst,
+aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«</p>
+
+<p>Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern
+sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du
+dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich
+bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter
+der blitzendsten aller Theemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt
+dessen, jahraus, jahrein, daliegen<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> und es unthätig mit ansehen, wie
+deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben.
+Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken.
+Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«</p>
+
+<p>»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur
+wolltest.«</p>
+
+<p>»Daß er wie eine Tochter ist? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie
+kannst du nur solchen Unsinn sagen, Bel.«</p>
+
+<p>»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist
+er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber
+mir zu dienen macht ihm Freude, — auch in den häuslichen Dingen.
+Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht,
+daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen —«</p>
+
+<p>Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann ablohnen.</p>
+
+<p>Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der
+Stube gesetzt worden war.</p>
+
+<p>»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf
+herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«</p>
+
+<p>Als sie hinausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln
+in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.</p>
+
+<p>»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns
+auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«</p>
+
+<p>»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben
+wir uns eins der teuersten Landhäuser<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> ausgesucht. Ich habe ja nichts
+dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen
+drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das
+viele Geld zu verdienen.«</p>
+
+<p>»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade
+ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so
+schön, daß ich's sogar umsonst thäte! Es dürfte dann freilich nicht
+bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. — Nein, du, in diesem
+heiligen Lande vergesse ich bald, daß ich überhaupt Kraft anzuwenden
+<em class="gesperrt">habe</em>. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn
+— ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr
+hierher gepilgert?«</p>
+
+<p>Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.</p>
+
+<p>»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu
+wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische.
+Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch
+mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?«</p>
+
+<p>Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern
+kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers.
+Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehen
+und blickte hinaus.</p>
+
+<p>Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der
+Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren
+Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde
+schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch
+die Kätzchen niederhingen,<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten
+ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach.</p>
+
+<p>Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des
+Jahres entgegen. Einen Augenblick lauschten sie stumm.</p>
+
+<p>Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren,
+fiel die Aehnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker
+dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf,
+breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, dieselbe ein wenig stumpf
+abschließende Nase und derselbe große, im Sprechen und Lachen sehr
+ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften
+sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken.
+Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und
+Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend
+von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das
+in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen
+ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen
+Blauaugen der Mutter finden, und deren blendende Haut, die nur das
+Krankenlager an ihr entfärbt hatte.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In
+ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen
+Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen, so
+wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es
+war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals
+von Jonas' Alter unterschied — einundzwanzig Jahre zählte Erik erst,
+als sein Knabe ihm geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine
+Regung<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll
+genug in sie verliebt, um sie, mitten in seiner leichtlebigen Pariser
+Studentenzeit, frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte,
+ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann band sich an sie, das
+einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen
+Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die
+vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden
+Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gelugt, in dem
+er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach
+England und lebten ein paar Jahre von dem ganz geringen Vermögen, das
+schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen,
+sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen,
+aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem
+Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine
+kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im
+Meer, auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde,
+daß ihre verrückte, glückliche Studentenehe in so stille, geordnete
+Verhältnisse mündete, aber für Erik that es ihr leid. Denn erstens
+war er sicherlich zu viel Größerem berufen, als zu diesem abhängigen
+Stillleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar
+nicht anders vorstellen, als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und
+im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die
+ihn fortriß, und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen
+Menschen des Volkes dastehen sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter
+Prinz. Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch
+schon die Leute verzaubern,<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen
+besser entsprächen.</p>
+
+<p>Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand
+seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn
+ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen, wie in seiner frühern
+Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu
+echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung
+beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet, Grübeleien über
+seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war er
+eine zu aktive Natur dazu.</p>
+
+<p>Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu
+bethätigen, und an die Zukunft, — an die glaubte er so fest, wie ein
+Kind an Gott.</p>
+
+<p>Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte
+den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals.</p>
+
+<p>Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte.
+Die kunstvoll geordneten Locken, die, statt jeder festen Frisur,
+dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe
+wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn
+geworden, ja, dort hatte sich sogar eine ganz kleine, verheimlichte
+Glatze gebildet.</p>
+
+<p>»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und
+wandte sich vom Fenster.</p>
+
+<p>»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert.</p>
+
+<p>»Ja. Aber deshalb brauchst du mich nicht wieder am Thorweg der
+Mädchenschule abzuwarten und dort<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> herumzulungern,« versetzte Erik
+mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu
+erwidern, trollte dieser sich aus der Stube.</p>
+
+<p>»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel
+lächelnd, und als stände es mit ihren Worten in irgend einer
+Gedankenverbindung, griff sie zwischen allerlei Sachen, die auf einem
+niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten
+Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen
+willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich
+vor?«</p>
+
+<p>Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es
+war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik
+kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch.</p>
+
+<p>»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.«</p>
+
+<p>»Ja, Bel?«</p>
+
+<p>»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen
+Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?«</p>
+
+<p>Er fing an zu lachen.</p>
+
+<p>»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.«</p>
+
+<p>»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?«</p>
+
+<p>»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten
+Frau.«</p>
+
+<p>»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würde ich es nicht
+denken. Glaubst du das von ihr?«</p>
+
+<p>Er sah seine Frau verwundert an.</p>
+
+<p>»Ja, natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> ist ihr nicht der
+geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die
+Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. — Und es ist gut,
+— vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden
+anstiftet. Adieu, Bel: es ist Zeit für uns zum Bahnhof.«</p>
+
+<p>Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr
+niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn
+einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest.</p>
+
+<p>Er hielt geduldig still.</p>
+
+<p>»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los.</p>
+
+<p>Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und
+geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte
+Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen
+angelegt; alles andre eher. Aber wenn man ewig so stillliegen mußte,
+immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so
+geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An
+sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt.
+Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche
+Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas, und die gefürchtete
+Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den
+dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte
+meinen können, es seien tausend.</p>
+
+<p>Erik hatte vorhin also gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern
+Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr
+empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund herumging,
+beunruhigte<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber
+sie war blond, und ihr schien es, als ob die Braunen ihn ebenfalls
+interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber
+nur ein einziges Mal erschrak sie, — schrak förmlich auf aus aller
+bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er
+an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm
+nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich —
+ja endlich that sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging
+ihm heimlich nach.</p>
+
+<p>An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos,
+und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem
+kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in
+Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste
+Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen, wegen
+ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen
+Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung,
+aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn ein feiner, liebevoller
+Menschenkenner sie zum Sprechen brachte.</p>
+
+<p>Es war Frau Larsen, eine lahme, sechzigjährige Frau.</p>
+
+<p>Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem
+Mann. —</p>
+
+<p>Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium;
+gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die
+ziemlich entfernt lag.</p>
+
+<p>Er war in eine vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer
+der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah
+erhitzt aus, behielt nach der<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Begrüßung den Hut in den Händen und
+fächelte sich mit dem Taschentuch.</p>
+
+<p>»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in
+der Stadt ist der Mai schon unerträglich, — wirklich, — wenigstens im
+Gehen. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden
+Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß.
+Ohne Uebergänge, ohne Normaltemperatur. Ein möderisches Klima.«</p>
+
+<p>Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den
+Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wieder abkühlen. Erik
+betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden, ungefähr
+gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes
+Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah.</p>
+
+<p>»Ob das meine Zukunft hier ist? — der Mai unerträglich!« dachte er,
+und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen
+russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und
+gefährlicher wie jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert
+so lange und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön,
+daß man seinen Augen nicht traut.«</p>
+
+<p>»Ja, ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß
+immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen
+Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk, — immer in
+den Ferien in Deutschland. <em class="gesperrt">Das</em> ist meine Erholung. Da bleibt für den
+Sommer wenig übrig. So geht es uns eben allen — allen, die wir uns
+geistig überarbeiten müssen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p>
+
+<p>Erik schwieg einen Moment, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen
+Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als
+›Geistesarbeiter‹.«</p>
+
+<p>»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, — weil Sie etwas
+lange in ländlichen Verhältnissen —? aber ich bitte Sie, bei Ihrem
+Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk
+schreiben?«</p>
+
+<p>Erik lachte.</p>
+
+<p>»Nein, so meinte ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein
+wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn
+wir — der Lehrer vor allen Dingen, arbeitet doch vorwiegend mit
+Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der
+Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.«</p>
+
+<p>»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man
+doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die
+Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie
+vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen haben eröffnen wollen?
+Was war es damit?«</p>
+
+<p>Eriks Augen verdunkelten sich.</p>
+
+<p>»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal verweigert.«</p>
+
+<p>»Sehen Sie, — sehen Sie! das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung
+des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie
+ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit
+gebundenen Händen, — Sie wissen's doch! Aber mit Einem sollten Sie
+sich wirklich trösten: es <em class="gesperrt">gibt</em> hier ja gar keine Menschen, unter
+denen irgend etwas zünden und wirken<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> kann. Es gibt nur das Volk, zu
+dem wir weder sprechen dürfen noch können, — und ein Publikum, das
+sich amüsieren will.«</p>
+
+<p>Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die
+Pferdebahn hielt und beide stiegen aus.</p>
+
+<p>»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen!«
+nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam
+einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte,
+sah er ebenso schwerfällig und versonnen aus, wie vorhin hastig und
+zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie
+hatten diese Klasse ja erst im Herbst anzutreten.«</p>
+
+<p>»Es war aber Not am Mann. Auch wollte ich die Mädchen kennen lernen,
+Fühlung gewinnen, ehe ich sie im Herbst ganz übernehme.«</p>
+
+<p>»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist
+entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen.
+Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank!« sagte Erik.</p>
+
+<p>»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man
+das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?«</p>
+
+<p>»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast
+bekümmerte Miene seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch
+rechtzeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung.
+Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte.
+Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich
+ließ sie mir nur geben, um mich zu<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> orientieren. Auch habe ich eine
+wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.«</p>
+
+<p>»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der
+Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein
+beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen
+Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Alpdrücken verursachten.«</p>
+
+<p>»Das war nur gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen
+hohen Thorbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten,
+»warum gab er auch Aufsatzthemata, wie zum Beispiel das letzte hier:
+›Ueber das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben
+sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.«</p>
+
+<p>Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen, das von der
+Flurhalle zu den Klassen emporführte.</p>
+
+<p>»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls daran, und das
+ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte
+Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an
+kein Glück gedacht, zu dem man die Schule verlassen haben muß. — Aber
+hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.«</p>
+
+<p>»Also auf Wiedersehen!«</p>
+
+<p>»Wünsche beste ›Anregung‹.«</p>
+
+<p>Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang, an welchem
+die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines derselben und blickte auf
+seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten
+Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt;
+man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise herumgehen<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span>
+und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte,
+stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe
+halberwachsener Mädchen bequem, — das Kichern und Schwatzen drang
+deutlich bis zu Erik herauf.</p>
+
+<p>In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten
+nur klappte eine Thür oder wurde ein Ruf laut. Aus den zur Hälfte
+niedergelassenen Fensterrouleaux brütete die Sonne und einzelne
+Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen aus den staubigen Pulten.</p>
+
+<p>Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei
+er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren
+dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist
+interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch
+interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den
+Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich
+ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste
+Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender?</p>
+
+<p>Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende
+Mädchengruppe am Brunnen. Diejenigen, welche er von seinem Standort
+sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also
+die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen,
+während er sie so anblickte, — diese frischen Geschöpfe, die noch das
+Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren ganz bestimmte
+Typen unter ihnen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen
+Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander.
+Er<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr
+weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, — sowohl dieser
+schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig
+gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam
+stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich
+kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr
+vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Urtypisches im ganzen,
+wenig Individuelles, — man konnte sie schon klassifizieren, sie waren
+schon fest geprägt durch ihre Umgebung, in der sie erzogen wurden, in
+der es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks
+Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen.</p>
+
+<p>Unwillkürlich suchte seine Hand zwischen den Heften, als wünsche er
+sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter
+den Aufsätzen, — etwas höchst Individuelles jedenfalls.</p>
+
+<p>Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Ueber das Glück« trug er die
+Ueberschrift »Seligkeit!« — und wie ein Sehnen und Jauchzen klang dem
+Lesenden etwas von dieser Ueberschrift aus jeder Zeile entgegen. Er
+war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa
+geschrieben, sondern in Versen, — in gänzlich unkorrigierbaren und
+wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem
+wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder
+vielmehr: hingeträumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren
+Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort
+und Logik, aber es steckte eine mit sich fortreißende Gefühlsmacht
+darin. Man wurde im höchsten<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber
+man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem,
+der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß
+er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige
+Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen aus Gott bezog,
+dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein?</p>
+
+<p>Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und rissen ihn aus
+dem Lesen auf. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie
+sagen: »Er <em class="gesperrt">muß</em> unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie
+nur möglich. Sonst thue ich es nicht.«</p>
+
+<p>»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton.</p>
+
+<p>»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es
+nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.«</p>
+
+<p>»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht
+daran! Er ist und bleibt unglücklich, sage ich euch. Ein für allemal.
+Aber heiraten werde ich ihn nicht.«</p>
+
+<p>Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett
+und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame
+Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen
+wollte und ihn nicht einmal heiratete.</p>
+
+<p>Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern
+so umstellt, daß Erik sich nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von
+unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit
+vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span></p>
+
+<p>Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand.</p>
+
+<p>Dann sagte ein bildhübscher, dunkelhaariger Backfisch, während er
+herzhaft in einen Apfel hineinbiß: »Ich finde es wirklich komisch
+von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern
+Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch
+das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll,
+so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können, — meint ihr nicht?«</p>
+
+<p>»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder
+etwas Neues vor, — vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines,
+blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie
+nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.«</p>
+
+<p>»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrieen sie erwartungsvoll.</p>
+
+<p>»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste
+Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt
+ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu
+deklamieren:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»In Liebesarmen ruht ihr trunken,</div>
+ <div class="verse indent0">Des Lebens Früchte winken euch;</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Blick nur ist auf mich gesunken,</div>
+ <div class="verse indent0">Doch bin ich vor euch allen reich.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Das Glück der Erbe miss' ich gerne,</div>
+ <div class="verse indent0">Und blick', ein Märtyrer, hinan,</div>
+ <div class="verse indent0">Denn über mir, in goldner Ferne,</div>
+ <div class="verse indent0">Hat sich der Himmel aufgethan.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte,
+gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht, verklangen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p>
+
+<p>»Huh!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine
+zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich —«</p>
+
+<p>Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen
+heraus, so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle, daß
+Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte, mitzulachen,
+und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen
+begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es.</p>
+
+<p>»Du hast gar keinen Lebensernst!« sagte die Erste der Klasse strafend,
+eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre
+eigene Sache, und uns mit.«</p>
+
+<p>Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende
+zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den
+›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg
+thun?«</p>
+
+<p>»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so
+glücklich, als ihr wollt.«</p>
+
+<p>»Also denkst du an einen andern?«</p>
+
+<p>Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in
+diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich
+ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt
+in der Sonne.</p>
+
+<p>»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit
+ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen
+gemacht.</p>
+
+<p>Und er sah sie.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p>
+
+<p>Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die
+Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten
+Regenfaß, das, in diesem beliebten Brunnenwinkel, gelegentlich als
+Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde, glanzlose
+Haar offen, so daß es, weich und lockig, in einiger Verwirrung, ihr
+über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, welches es
+wohl am Hinterkopf zusammenhalten sollte, war hinabgeglitten und
+bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und
+Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem
+losen, graublauen Gewande, das keinerlei Aehnlichkeit mit den hübsch
+gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern
+aufwies. Ueber den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel
+kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum
+den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas
+sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges
+Gesichtchen, das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Uebermut
+wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgezogen, die ziemlich
+dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen, wie in beginnendem
+Gelächter oder wie in verlangendem Durst, halb geöffnet, so daß unter
+der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne
+hervorschauten, — da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf
+in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über
+alle Stränge zu schlagen, — fast unwillkürlich dachte man sich einen
+Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, — und der
+Bacchusknabe war fertig.</p>
+
+<p>Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> ins Haus sprang,
+erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte
+hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat,
+kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit. Zwei Lämmer in
+seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt
+an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und Taugenichts.</p>
+
+<p>Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken
+lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort
+durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann
+schwächte der Lärm sich ab, die Klassenthüren fielen ins Schloß;
+hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne
+Lehrer, sämtlich in ihrem dunkelblauen Frack, der an diesen Schulen
+vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder
+blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehen. In Eriks Klasse
+war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen,
+als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick
+lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden
+und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und
+aufmerksamen Augen zu ihm ausschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal
+aus diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand,
+fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die
+ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie
+seinem eigenen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das
+thatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, — den
+Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen
+wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte,
+einen<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht als eine leblose
+Pflichtmaschine zu absolvieren.</p>
+
+<p>Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte,
+sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind
+zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die
+Fortsetzung viel besser. In Bezug auf einen Aufsatz darin möchte ich
+aber eine Erkundigung einziehen.«</p>
+
+<p>Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen
+ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?«</p>
+
+<p>Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben; sie hatte sich
+bereits erhoben, ehe ihr Name von seinen Lippen fiel.</p>
+
+<p>Er richtete einen bestürtzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe
+aus dem Schulhof.</p>
+
+<p>Jetzt freilich machte sie den kuriosen Eindruck nicht mehr so ganz.
+Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« aus
+ihrem Gesicht störte ihn, — vielleicht auch, daß sie die Augen
+niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre Erik ihr mit der Hand über das
+Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter
+die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige,
+lachende Junge von vorhin gewesen, — und das deckte sich so wenig
+mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche
+Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein.</p>
+
+<p>»Unmöglich!« entfuhr es ihm.</p>
+
+<p>Sie sah verwundert auf.</p>
+
+<p>»Doch!« sagte sie.</p>
+
+<p>»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man
+konnte es ihnen anhören, wie stolz sie<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> auf diese Schwarzkunst waren,
+und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden.</p>
+
+<p>»Verse, — das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie
+keineswegs schön. Ganz im Gegenteil. Aber ein Schulmädchen —«</p>
+
+<p>Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch
+gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und <em class="gesperrt">eine</em> von ihnen
+mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm ein Gedanke: vielleicht
+ist es gar kein selbständiger Aufsatz?</p>
+
+<p>Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz darin.
+Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam
+nachgezogene Linien — und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei
+den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das
+nicht die Lösung des Rätsels sein?«</p>
+
+<p>Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte,
+und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten
+werde, ihr habe niemand geholfen.</p>
+
+<p>Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft
+niemand.«</p>
+
+<p>Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Gerade so, als
+habe sie unter Thränen gesagt: »Ich bin ja so mutterseelenallein!«
+Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, — etwas so ganz Neues,
+Unerwartetes, das er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen konnte.</p>
+
+<p>Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen
+Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam
+seinen Ausdruck<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die
+Bank, in die Mitte der übrigen.</p>
+
+<p>Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Uebereilung bewußt und
+kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück.</p>
+
+<p>»In der Aenderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine
+auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine
+Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er.</p>
+
+<p>»Er zog sie vor! sie durfte thun, was sie wollte!« schrieen einige.</p>
+
+<p>»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!«
+riefen andre.</p>
+
+<p>»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth.</p>
+
+<p>»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn.</p>
+
+<p>Sie hob die Augen.</p>
+
+<p>»Nein. Nur aus den Stunden.«</p>
+
+<p>Wie beider Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht
+nur die Augen thaten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen, wie ein
+Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren
+Zügen wie ein vorgehaltener Schleier.</p>
+
+<p>Er gab ihr einen Wink, daß sie sich setzen möge.</p>
+
+<p>»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und ab gehend,
+und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob
+für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für beide. Doch setzte er
+rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz
+nicht.«</p>
+
+<p>Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts,<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> keine Bemerkung
+mehr an sie, vermied es auch während der Stunde ihren Namen aufzurufen,
+obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehen wollte. Aber er
+begriff, daß dieses lebhafte Interesse an einem merkwürdigen Kinde,
+wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst
+erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig
+geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihr vor einigen Dutzend
+neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen
+Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch
+er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch
+möglichst daran fest, daß sein eigenes Benehmen ihn nicht verriete,
+wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, — was doch
+unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut.</p>
+
+<p>Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen
+mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin,
+und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er
+vortrug, sondern merkte sich nur die Art, <em class="gesperrt">wie</em> er vortrug, und die ihm
+eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände
+von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei
+einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie,
+— und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die
+breite, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein, wie
+ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen,
+kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen
+Ruck zurückwarf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> blieb. Es
+war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie
+förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, — nur
+ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen; die sahen
+aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte
+sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber
+stützte sie den Mund auf die Hände.</p>
+
+<p>Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen
+mit solchen Aeußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie
+angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach.
+So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von
+ihm unbemerkt.</p>
+
+<p>Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als
+nach Beendigung des Unterrichts ein ganzer Schwarm von Mädchen sich zum
+Heimgehen um sie drängte. Sie hatte diesen Augenblick kaum erwarten
+können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der
+aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den
+Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab
+und bogen in den Newsky Prospekt ein, Ruth voraus und ohne auf sie zu
+achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge,
+auf den Wegen, die Ruth sie führen sollte; aber die Straße war ziemlich
+menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den
+Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen
+sah man Erik herankommen.</p>
+
+<p>»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera
+zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> Geschichten treiben kann. Ich
+glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum. Ja, es ist ganz
+anders, wenn man noch Eltern hat.«</p>
+
+<p>»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging,
+und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein
+schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme
+Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, —
+in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«</p>
+
+<p>»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose
+Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und
+gerade da möchte ich so gern hin.«</p>
+
+<p>»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von
+ihnen etwas unsicher.</p>
+
+<p>Ein schallendes Gelächter erhob sich.</p>
+
+<p>»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre
+nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit.«</p>
+
+<p>»Da kommt er!« sagte Ruth mit einemmal.</p>
+
+<p>Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im
+ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie
+sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die
+Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.</p>
+
+<p>»Hier, der Blonde.«</p>
+
+<p>»Nein! Der Herr im Cylinderhut.«</p>
+
+<p>Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft geradeaus, und einem
+Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger, brünetter Mann,
+im hellen Sommerüberzieher,<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen
+Schnurrbart und mandelförmigen Augen.</p>
+
+<p>Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, — darüber waren
+alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten, wie ein Meerwunder,
+passierte vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch
+nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn; ganz ernsthaft grüßte
+sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten
+Bekannten.</p>
+
+<p>Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert,
+jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder.
+Ziemlich vertraulich that er das.</p>
+
+<p>Die hübsche Wjera schrie fast aus vor Ueberraschung und Vergnügen; sie
+war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden,
+mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein
+paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt,
+sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf
+dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der
+heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen,
+die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz
+verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln
+zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein
+paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht
+müde, zurückzusehen.</p>
+
+<p>»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem
+Straßendamm los, »es ist geradezu sündhaft!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+
+<p>»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen
+haben. Ruth hat es gethan. <em class="gesperrt">Sie</em> hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch
+so gleichgültig drauf los geht, als ginge es <em class="gesperrt">sie</em> nichts an.«</p>
+
+<p>»Ja, was schadet es denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas
+betreten.</p>
+
+<p>»Gewiß schadet es, — abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete
+die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn
+man ein Verhältnis gehabt hat?«</p>
+
+<p>»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine
+zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja
+nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie
+schlagend hinzu.</p>
+
+<p>Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.</p>
+
+<p>»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß
+doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen
+weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle
+Gefahr ist vorbei.«</p>
+
+<p>»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn
+uns nicht zeigen sollen, Ruth.«</p>
+
+<p>Diese zuckte ungeduldig die Achseln.</p>
+
+<p>»Das kann ich nicht <em class="gesperrt">so</em> trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja
+auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.</p>
+
+<p>»Nein, erst mußt du es weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr
+lustig. Gerade als ob man zweimal lebt: einmal zu Hause und in der
+Schule — und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles gerade so ist,
+wie man<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> es sich ausdenkt. — Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht
+wieder gehen.«</p>
+
+<p>»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis
+jetzt am Streit nicht beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem
+»Unglücklichen« zu thun gemacht, der irgendwo an einer Straßenecke
+stehen geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal
+interessanter, als all die Phantastereien drum herum. Was hat man denn
+von denen? Sie amüsieren uns nur, weil man uns eingesperrt hält!«</p>
+
+<p>Ueber ihrem Hin- und Herreden beachteten sie es gar nicht, daß sie
+an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren, das heißt, daß die
+meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim
+entfernt hatten. Sie liefen gewohnheitsmäßig mit, wie eine Hammelherde,
+Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen. Jetzt blieb sie
+zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust, nach einer Seitenstraße
+umzubiegen, und der Nötigung, zur gewöhnlichen Stunde bei ihren
+Verwandten einzutreten. Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit, einen
+Vorwurf zog sie sich nicht zu, und was ihr jetzt vorschwebte, war süß
+und lockend gleich einem Frühlingsmärchen.</p>
+
+<p>Aber es gab da etwas andres, das sie zurückhielt: wenn sie jetzt
+hineinging, so blieb sie, wie immer, gänzlich unbemerkt und unbeachtet
+im ganzen Hauswesen; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen
+fortblieb, so wurde sie vielleicht bemerkt, befragt, belästigt. Und das
+entschied.</p>
+
+<p>Wie eines jener kleinen Insekten, welche zum Schutz vor feindlichen
+Mächten die Farbe des Holzes oder des<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Laubes annehmen, auf dem sie
+sitzen, so verhielt sich, halb unbewußt, auch Ruth gegenüber ihrer
+Umgebung. Es war ihre Art sich zu wehren.</p>
+
+<p>Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand
+hinter den hohen Thürflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes,
+vor dem ein Soldat Wache stand. Eine Abteilung des Kriegsministeriums
+lag darin, nebst mehreren großen Kronswohnungen, von denen Ruths Onkel,
+der Staatsrat war, eine inne hatte.</p>
+
+<p>Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Jetzt erst
+erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend
+eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den
+Droschkenkutschern, welche sofort, laut schreiend und sich gegenseitig
+nach Möglichkeit unterbietend, sie umringten.</p>
+
+<p>Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr; sie hatten sich ausgezeichnet
+unterhalten, sich ordentlich echauffiert! Morgen, wenn sie nach neuer
+Nahrung begierig wurden, kam sie wieder.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt, denn er
+hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden
+zu geben. Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf, die geräumig
+und freundlich, aber vier Treppen hoch lag: dafür konnte man aus den
+Fenstern die Newa überschauen, durch deren blaue, mächtige Wogen
+noch der Ladogasee seine letzten Eisschollen trieb. Sie schimmerten
+durchsichtig im blendenden Maisonnenschein. Ueber seine Aussicht freute
+Erik sich täglich von neuem.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p>
+
+<p>Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen, allerlei zu erledigen
+und eingelaufene Briefe mitzunehmen, denn die Landpost galt als
+unzuverlässig. Heute war er kaum eingetreten, als es klingelte.</p>
+
+<p>Er öffnete die Thüre und blieb mit einem Lächeln neben derselben stehen.</p>
+
+<p>»Warwara Michailowna!« sagte er.</p>
+
+<p>»Was ist denn das?« fragte sie, rasch um sich blickend, »schon auf dem
+Lande? umgezogen? allein hier? Ich wußte es nicht! Dann haben Sie also
+meinen Brief — —?«</p>
+
+<p>»Ich habe ihn gestern hier vorgefunden,« versetzte er, sie in die
+angrenzende Wohnstube führend, wo die Polstermöbel schon ihre
+Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen
+gleich Gespenstern herumstanden. Unter dem runden Sofatisch war der
+Teppich entfernt worden, und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte
+in der Luft.</p>
+
+<p>»Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen — oder
+bei Ihrer Frau!« sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der
+weißbezogenen Sessel sinken, »trotz Staub und Sonne bin ich also da.
+Ich muß wissen, weshalb Sie nicht kommen wollen.«</p>
+
+<p>Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer
+Frühjahrskleidung, mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie
+in den tiefdunkeln Augen, die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem
+munteren Wesen bildete.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen!« erwiderte Erik und blickte sie an, »aber Sie nehmen
+mir in der That die Antwort schon von den Lippen: ich wollte wirklich
+nicht kommen.<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Mich eine Zeit lang ganz auf dem Lande vergraben. —
+Dort können wir ja, wenn Sie erst hinausgezogen sind, so poetisch
+Fangball spielen und Croquet. — Ich bin diesen Winter gar zu stark ins
+Gesellschaftstreiben geraten.«</p>
+
+<p>»Und was schadet das? Fragen Sie nur Klare-Bel, ob sie Sie nicht auch
+im Gesellschaftsrock am liebsten sieht? Der Salon ist Ihr natürliches
+<em class="antiqua">milieu</em>.. Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister,
+wie sie mitunter mit goldenen Brillen und blonden Vollbärten zu uns
+kommen! Erst seit einigen Generationen hat sich Ihre Familie dort
+niedergelassen — an der friesischen Grenze irgendwo, — französische
+Emigranten, — weiß ich's nicht gut?«</p>
+
+<p>»So weit wollen Sie den Beweis herholen, daß ich in Gesellschaft gehen
+soll?«</p>
+
+<p>Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms
+gegen die Tischplatte.</p>
+
+<p>»Sie sind ein Spötter. Ich wollte nur sagen: bilden Sie sich nicht ein,
+daß Sie zum Schulmeister geboren sind. Trotz der blauen Uniform da, die
+Sie noch anbehalten haben, — die Ihnen übrigens gut steht, weil es ein
+Frack ist. Sie sind zum Weltmann geboren. Wenn Sie uns — <i>mondains</i> —
+meiden, thun Sie sich selbst weh. — — Ich weiß es. Lachen Sie nicht.«</p>
+
+<p>»Ich lache ja nicht. Sie sind sehr scharfsichtig, Warwara Michailowna.
+— Vielleicht zu sehr.«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Sie würden unsrer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen, wenn
+Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden. Habe ich nicht
+recht?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p>
+
+<p>»Nun, nehmen wir also an, ich will nicht berauscht werden,« sagte Erik
+und kreuzte die Arme; »daß gerade Sie als Versucherin kommen, ist
+freilich schlimm für mich. Ein Glück, daß die Saison zu Ende geht.«</p>
+
+<p>Sie machte einen schmollenden Mund.</p>
+
+<p>»Ich weiß schon. Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher
+Oberflächlichkeit.«</p>
+
+<p>Er widersprach nicht.</p>
+
+<p>Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide, und zwischen ihnen lag,
+unmöglich zu überhören, Warwaras stumme Frage: »Bin ich es, die dich
+berauscht?«</p>
+
+<p>»Sie sind ein Egoist,« sagte sie dann aufblickend, »sonst hätten
+Sie bemerken müssen, daß Sie sich irren. Wissen Sie nicht, weshalb
+ich Sie so gern da habe, mitten unter den Menschen? Weil ich gerade
+ebensogut fühle wie Sie, daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl
+ist, — inhaltsleer, — und es mich dennoch berauscht — wie Sie. Ihre
+Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich. Hand aufs
+Herz! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen? Wir haben eine
+gemeinsame Versuchung.«</p>
+
+<p>Er blickte sie fest an. Sie sprach rasch, ein wenig erregt, mit dem
+weichen, klingenden Tonfall, den er an den Slaven so einschmeichelnd
+fand. Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar, ob sie
+mit ihm kokettierte, oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm
+sprach, als je mit sich allein. Es schien ihr wirklich manchmal — und
+besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins, — als triebe ein
+verwandter Zug sie zu einander. Und dann war ihr Erik interessant: als
+Mensch. So, wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist.<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span>
+Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie
+einer, der ungeduldig auf Beute ausgeht, und, weil er die ihm gemäße
+dort nicht findet, seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht.</p>
+
+<p>»Also: Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung!« sagte Erik
+wegblickend — »vielleicht ein Wettkampf, wer ihr besser erliegt?«</p>
+
+<p>Sie erhob sich, um zu gehen.</p>
+
+<p>»Sie haben vielleicht recht zu spotten, und es würde nur sentimental
+klingen, wenn ich antworten wollte: nein! mehr als das, — eine
+gemeinsame Sehnsucht,« entgegnete sie, dicht neben ihm, der ebenfalls
+aufgestanden war, »Sie haben tausendmal recht. Wir haben ja nie ein
+ernstes Wort miteinander gesprochen. Und ein Mann braucht keinen
+Bundesgenossen. Er kann's allein.«</p>
+
+<p>Sie sprach ganz ernst, es klang beinahe echt, und was sie sprach,
+stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunkeln Augen. Eine
+Minute, — eine verschwindende Minute lang, fühlte Erik, wie seine
+Phantasie ihm etwas vorgaukelte. Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf,
+über die der Verstand lachte, — und ein wilder, herrischer Wunsch,
+den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen
+Selbstbetrug wahr zu machen.</p>
+
+<p>Ohne genau zu wissen, was er that, hatte er die Hand ausgestreut; es
+war eine fast befehlende Bewegung, wie ein: »Bleib!« Er sah nichts mehr
+deutlich, er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt, dieser
+Augen, von denen Sehnsucht ausging.</p>
+
+<p>Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die
+Wange. Nicht tändelnd, versuchend. Rasch, heftig, fast gewaltthätig.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p>
+
+<p>Er murmelte halb unverständlich: »Mach es wahr! mach es wahr! laß mich
+nicht aufwachen! Suchtest du mich?«</p>
+
+<p>Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck.
+Sie war selbst berauscht gewesen, einen Augenblick lang, aber die
+Wucht, mit welcher er darauf einging, ernüchterte sie ebenso rasch.
+Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas
+von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm, an die sie
+unvorsichtig gerührt hatte. Nicht wie eine Dreistigkeit die erstaunt
+oder verletzt, empfand sie seinen Kuß, sondern wie eine lähmende Gefahr
+für Leib und Seele, die zu verschlingen droht, was ihr zu nahe gekommen
+ist.</p>
+
+<p>Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht.</p>
+
+<p>Ihr Blick lief über ihn hin. Eigentlich sollte er ihr wie ein Kind
+vorkommen, das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger
+Erwartung, daß es nicht mehr zu spielen vermag. Es zerbricht gewaltsam
+das dargebotene Spielzeug, um zu sehen, was dahinter ist, und bleibt
+mit enttäuschtem Gesicht stehen.</p>
+
+<p>Das wollte sie nicht. Lieber noch gespielt haben, als zu ernst genommen
+werden, — so ernst, daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen
+Illusionen gemessen würde. Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten
+Gesicht.</p>
+
+<p>Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung. Aber sie weckte auch
+ihn. Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen, daß sie spielte. —
+Seine Erregung verflog sofort. Nur etwas Spott blieb in den Augen und
+um den Mund zurück. Spott über sich selbst.</p>
+
+<p>Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül. Fast ungehindert schien
+die Sonne durch die dünnen, weißen<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> Fenstervorhänge, und mißtönend
+klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf.</p>
+
+<p>Warwara war langsam in den Vorflur gegangen, und Erik geleitete sie an
+die Hausthür. Sie wechselten kein Wort miteinander.</p>
+
+<p>Erst an der Thür wandte sie sich um zu ihm und maß ihn mit einem
+sonderbaren Blick, den er nicht verstand. Bedauern lag darin, aber auch
+Ablehnung, eine kleine Ueberlegenheit über ihn, den Mann, und dann noch
+etwas, wie ein ganz leises Eingeständnis: »Ich möchte wohl die sein,
+die du brauchst, und die dich sättigen könnte, du Wilder. Aber ich
+bin's nicht.«</p>
+
+<p>»Ich nehme an: Sie kommen nicht,« bemerkte sie dabei zerstreut.</p>
+
+<p>»Mit Ihrer Erlaubnis: nein!« entgegnete er, und sann dem Blick nach.</p>
+
+<p>Die Thür fiel ins Schloß. —</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Ruth war pünktlich um vier Uhr, zur festgesetzten Mittagsstunde, im
+Speisesaal erschienen, der, hoch und groß, mit dunkeln Mahagonimöbeln
+ausgestattet, in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag. Sie hatte
+ihren äußern Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt, wie der
+Onkel, die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten, und saß
+schweigsam auf ihrem Platz am Tisch, den ein Diener in weißbaumwollenen
+Handschuhen geräuschlos bediente. Während des Essens, das die
+Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte, blieb die Unterhaltung
+recht einsilbig. Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche, und
+seine Frau hatte genug damit zu thun, ihn mit den richtigen Stücken zu
+versorgen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span></p>
+
+<p>Erst als die Mundspüler von grünem Glas, die kein Mensch benutzte, vor
+jeden einzelnen niedergesetzt waren, und vor der Tante die silberne
+Kaffeemaschine stand, auf der sie den Kaffee immer eigenhändig
+bereitete, wurde es ein wenig lebhafter bei Tisch. Darauf schien Ruth
+nur gewartet zu haben. Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte
+verschwinden.</p>
+
+<p>»Gehst du schon auf dein Zimmer, mein Kind?« fragte die Tante, »dann
+sieh dich mal darin um. So unordentlich, so wenig zierlich sollte es
+bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen.«</p>
+
+<p>Ruth machte eine Armesündermiene. »Ich will wunderschön aufräumen,«
+sagte sie eilig; »darf ich dann bis zum Thee noch einmal fortgehn?«</p>
+
+<p>»Bis zum Thee? Ist es denn etwas so Dringendes?«</p>
+
+<p>»Es ist etwas Dringendes,« sagte Ruth. Der Onkel sah auf.</p>
+
+<p>»Zu wem willst du denn gehn? Es ist wohl jemand aus der Schule?«</p>
+
+<p>»Ja,« erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Thürgriff, den sie schon in
+der Hand hielt.</p>
+
+<p>»Sage dem Diener, daß er dich begleitet und dort auf dich wartet.«</p>
+
+<p>Der Onkel blickte ihr nach, wie sie leise die Thür hinter sich schloß.</p>
+
+<p>»Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch,« meinte er dann, seine
+Cigarette anzündend, »ich kenne niemand, der weniger verlangt und sich
+weniger bemerkbar macht als sie.«</p>
+
+<p>»Weil man ihr alles gewährt,« ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen
+Stimme, die den baltischen Accent<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> noch unangenehmer hervortreten ließ.
+Sie war eine Baronesse aus Livland.</p>
+
+<p>»Alles? nun weißt du, ein andres Kind würde nicht so zurückhaltend
+sein. Sie weiß zum Beispiel: dies ist die Stunde des intimsten,
+ungestörtesten Beisammenseins, — und immer geht sie fort. Aber mit
+knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.«</p>
+
+<p>»Nein, das thut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt
+uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal
+denke ich: sie ist vielleicht herzlos.«</p>
+
+<p>»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses
+nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in
+der Pension loben und zurückverlangen.«</p>
+
+<p>»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär.
+Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin
+es gerade, die deswegen für Ruths Uebersiedlung zu uns gewesen ist. Wir
+sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht
+und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von
+vlämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und die
+Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.«</p>
+
+<p>Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für
+seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen
+»diese Leute« waren, — während für ihn, gerade umgekehrt, die
+Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur
+die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span>
+vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem
+französischen Namen und den sowohl deutschen wie slavischen Elementen
+in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie
+eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte.
+Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten
+seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt.</p>
+
+<p>»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen, Mama,« bemerkte
+die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man
+doch so gut in die Welt geführt werden wie hier.«</p>
+
+<p>»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel
+lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften
+begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn und
+macht sich nichts daraus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht
+noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit
+dir, Liuba.«</p>
+
+<p>»Nun bist du wahrhaftig im stande und setzest dein eigenes Kind
+für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen
+scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien
+reisen!«</p>
+
+<p>»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch
+ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein. Als eine der
+unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre
+unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, gegen die es niemals einen
+Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser
+gänzliche Mangel an Humor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p>
+
+<p>Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich
+verdorben. —</p>
+
+<p>Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch
+den unschuldigen Störenfried spielte, ja, sie hatte im Augenblick
+vielleicht fast vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien
+oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo sie sich befinde. Die
+Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging
+sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den
+Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank
+während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet,
+und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mir ihren
+Gedanken nicht recht ins reine kommen.</p>
+
+<p>Nach einer Weile blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn
+und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit
+ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag,
+wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies
+gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend
+wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift
+der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches
+kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und
+sogar einer Nippesetagère, auf der ein gläserner Mops stand. Aber
+es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut
+eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten
+etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und
+träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> auch zu dieser
+Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.«</p>
+
+<p>Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen
+Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine
+Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube
+neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer
+putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer
+im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als
+Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, singen und schlafen waren
+seine liebsten Beschäftigungen. Wie er Ruth rufen hörte, schlüpfte er
+eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Hausthür.</p>
+
+<p>Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort
+entließ sie ihn.</p>
+
+<p>»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm,
+als er mit gezogenem Hut an der Waggonthür stand, »aber um neun Uhr
+mußt du mich hier wieder erwarten.«</p>
+
+<p>Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine
+kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine
+kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten«
+gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite
+Welt hinauffahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele
+Betrunkene auf den Straßen gab.</p>
+
+<p>»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und
+kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig aus sein Vergnügen zu
+verzichten.</p>
+
+<p>Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast
+treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
+
+<p>»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehen!« sagte sie feierlich.</p>
+
+<p>Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh
+ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang
+vor, als führe sie wirklich weit — weit, in eine ganz andre Welt.
+Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach
+dem richtigen Wege durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zu Mut.
+Was ihr vorgeschwebt hatte, — zwingend, unwiderstehlich, — war
+ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran
+herummalte, schien alles sich ihr von selbst zu verwirklichen. Das
+Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den
+Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen,
+wenn alles sich auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie
+man es sich eben träumen läßt.</p>
+
+<p>Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, wie sie endlich dem
+Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich
+und befinde sich todesallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche
+Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit und wie gelähmt blieb sie
+am Gartengitter stehen.</p>
+
+<p>Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn
+die Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und
+daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie
+sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt.</p>
+
+<p>»Die Augen zumachen — fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das
+durfte sie nicht. Ihren eigenen<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> Willen durfte sie ganz gewiß nicht
+hinterdrein im Stich lassen.</p>
+
+<p>Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun.</p>
+
+<p>Und leise — leise, mit werbendem Klang, lockte aus der Tiefe des
+Gartens die zweite.</p>
+
+<p>Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben
+entzückt darauf haften.</p>
+
+<p>»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut.</p>
+
+<p>Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie
+sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Wege vom Bahnhof,
+unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße
+Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig
+Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten,
+unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier
+mußte er kommen; und nun stand sie dicht am Gitter, hinter welchem er
+blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er
+mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie
+ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war
+fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskam.</p>
+
+<p>Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand
+stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei.</p>
+
+<p>»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend. —</p>
+
+<p>Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im
+Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau
+lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages.<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Voll
+Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in
+der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig.</p>
+
+<p>Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt. »Papa! da ist jemand, der
+dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer
+geführt.«</p>
+
+<p>»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur thun! Da drin
+muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik!
+bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!«</p>
+
+<p>Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort.</p>
+
+<p>Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth
+mitten in demselben, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die
+Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wieder der des
+Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt
+hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehen sah und sie ihm mit
+großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr
+an den ausgelassenen Jungen im Schulhof.</p>
+
+<p>Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines
+unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas
+Freundliches sagt. All dies Gethue kam ihm wie zu einer andern
+Welt gehörig vor, — jedes konventionelle Wort vergaß er dieser
+schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt
+gegenüber. Es war, als stände sie auf einer einsamen Insel, am weiten
+Meeresstrande, ganz allein vor ihm — ein Kind aus dem Volke — und
+ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p>
+
+<p>Ganz unwillkürlich, aus diesem Eindruck heraus, fand er nur das Wort
+der Freude: »Kommst du zu mir?«</p>
+
+<p>Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser
+Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende
+Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, — sie umwandelte zur
+traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte.</p>
+
+<p>Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr
+ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren
+Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!«</p>
+
+<p>Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte
+ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel
+ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck
+übermütiger Lebenslust, den er an ihr gesehen, darüber wegtäuschte.</p>
+
+<p>»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte aus dem schmalen
+Gesichtchen.</p>
+
+<p>Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie
+ein Vogel, auf den eine fremde Hand sich legt.</p>
+
+<p>»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kamst? Sage mir,
+weshalb du kamst.«</p>
+
+<p>Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief
+sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten
+Schuleindruck an, — aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren
+wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen. Sie versuchte, die
+Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein
+unmöglich.</p>
+
+<p>Und plötzlich brach Ruth in Thränen aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p>
+
+<p>»Mein liebes Kind!« sagte er sanft, und strich ihr das lose, lockige
+Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann
+nahm er ihre Hände wieder in die seinen.</p>
+
+<p>»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er.</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie leise.</p>
+
+<p>»Unbedingtes?«</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie wieder.</p>
+
+<p>»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal
+ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.«</p>
+
+<p>Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper
+ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr
+gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun
+sage mir, weshalb du kamst. Sage es, so gut du kannst. Versuche es nur.
+Ich werde dir helfen.«</p>
+
+<p>Sie seufzte und begann unsicher. »Ich komme nun bald nicht mehr in die
+Schule —«</p>
+
+<p>»Nein. Ich weiß. Und —?«</p>
+
+<p>»Und da mußte ich hierher.«</p>
+
+<p>Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern
+hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!«</p>
+
+<p>Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Nie noch meinte er eine so
+tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben, wie diesem Kinde
+gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen,
+wie auf etwas, das ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß
+er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten
+ließ.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p>
+
+<p>»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er.</p>
+
+<p>»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!«</p>
+
+<p>Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus
+und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagte
+»Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem
+Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen.</p>
+
+<p>Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen
+Plan.</p>
+
+<p>»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei
+Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend,
+»wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei
+mir nehmen?«</p>
+
+<p>Sie nickte eifrig.</p>
+
+<p>»Gut. Wir würden also miteinander arbeiten,« — und in leichtem Tone
+setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen?
+In dem Aufsatz da, — der hat uns ja zu einander geführt, nicht wahr?
+— nun, da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen
+so ungeordneten kleinen Kopf, mit so krausen, wilden, unfertigen
+Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du
+das wohl?«</p>
+
+<p>Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du
+wirst es schon ordnen und entwirren!«</p>
+
+<p>Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein
+scheuer, kleiner, mattgeflogener Vogel, der sich hilflos verflattert
+hat, und sich mit einemmal in einemn weichen Neste findet.</p>
+
+<p>Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> durch den feinen Nebel
+hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg,
+fielen ihre Strahlen beinahe rot, wie flüssiger Purpur. Die beiden noch
+vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus.</p>
+
+<p>Ein herber, frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen
+Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der
+Nachtigallen.</p>
+
+<p>Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung.</p>
+
+<p>»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann
+war, den du auf der Straße grüßtest?«</p>
+
+<p>Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte
+es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen
+verräterisch zwei Schelmengrübchen.</p>
+
+<p>»Ich — — — ach, der! Den kenne ich ja gar nicht.«</p>
+
+<p>»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie
+kam denn das?«</p>
+
+<p>»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer, und überlegte, »— es
+ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich habe ihn mir ausgesucht,
+aber er weiß ja nichts davon.«</p>
+
+<p>»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehen,«
+sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich
+deutlicher. — Nun?«</p>
+
+<p>»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es
+war eine bloße Geschichte, — die wir untereinander spielten, — im
+Schulhof, in der Frühstückspause, — und da mußte jemand vorkommen, der
+ungefähr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> so aussah. Und da — habe ich mir diesen ausgesucht, weil es
+schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.«</p>
+
+<p>»Aber was sollte er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du
+ihn zuerst grüßtest?«</p>
+
+<p>»Das mußte ich ja thun! Wie sollte er sonst wissen, was er zu thun
+hatte? Ob er grüßen durfte?«</p>
+
+<p>»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn
+das nicht überlegt?«</p>
+
+<p>Sie sah erstaunt auf.</p>
+
+<p>»Das durfte er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt.
+Er mußte edel und unglücklich sein.«</p>
+
+<p>Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt
+auf sie.</p>
+
+<p>»In eurem kindischen Spiel — ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er
+langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst
+du das nicht auseinander halten? Das mußt du können, Ruth! Und nun
+sage mir, was du gethan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle
+gefallen wäre?«</p>
+
+<p>Sie dachte nach.</p>
+
+<p>»Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.«</p>
+
+<p>»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zumachst?«</p>
+
+<p>»Ich? Nein! aber doch er. Denn dann hätte ich ja einen andern suchen
+müssen.«</p>
+
+<p>»Einen andern?!«</p>
+
+<p>Sie nickte.</p>
+
+<p>»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p>
+
+<p>»Und das hättest du wirklich gethan? Besinne dich mal! Wäre es dir
+wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist
+dein Benehmen war?«</p>
+
+<p>Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf.
+Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht
+begreifen, was dieser fremde Mann, außerhalb seiner Rolle, sie kümmern
+sollte?</p>
+
+<p>»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir!« rief sie mit kläglichem
+Gesicht.</p>
+
+<p>Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor
+Ruth stehen, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte.</p>
+
+<p>»Sage mir, gibt es mehr solcher fremder Menschen, die du auf der Straße
+grüßest?«</p>
+
+<p>»Ja. Alle Straßen sind voll davon.«</p>
+
+<p>»— Männer —?« fragte er zögernd.</p>
+
+<p>»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen,
+Kinder, alte Leute.«</p>
+
+<p>»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«</p>
+
+<p>»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am
+liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre
+Geschichten, — viel, viel schönere, — wunderschöne,« fügte sie
+lebhaft hinzu, — »und die mit Kindern sind nur die liebsten.«</p>
+
+<p>»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Sie finden sie nicht schön!« sagte Ruth traurig.</p>
+
+<p>Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und
+neigte sich ein wenig vor.</p>
+
+<p>»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst,<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> »aber
+alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht
+hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen
+phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen
+Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur
+mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören.
+— Wirst du es bedingungslos und gehorsam thun?«</p>
+
+<p>Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte
+es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach
+Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch
+einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm
+so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt
+dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes
+wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und
+kniete bei Erik hin, — wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz,
+erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.</p>
+
+<p>Sie fühlte sich so glücklich. Zu Hause. Geborgen. Von hier aus mußte
+alles Gute kommen.</p>
+
+<p>Er strich ihr leise über das Haar. »Also höre unsern Vertrag zu Ende,«
+sagte er in dem ruhigen Tone, unter dem sie ganz still wurde und
+lauschte, »wenn du mir deine Geschichten schenkst, dann schenke ich dir
+auch etwas. Du sollst, soweit es an mir liegt, nicht in deiner eigenen
+Phantasie stecken bleiben, sondern mit klarem Blick so weit schweifen
+lernen, wie das Leben — das wirkliche, herrliche Leben — reicht. Und,
+wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte, meinst du
+nicht, daß ich dich<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> damit etwas Schöneres lehren werde, als du bisher
+dir geträumt und zusammengedichtet hast?«</p>
+
+<p>»Ach ja!« rief sie sehnsüchtig, als strebe sie verlangend beide
+Hände nach etwas Erwartetem aus, — »das ist sie ja: von allen die
+allerschönste Märchengeschichte!«</p>
+
+<p>Ihm fiel der Ausdruck auf, weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen
+gegenüber gebraucht hatte.</p>
+
+<p>»Gerade das sagtest du ja, als du heute morgen den Mädchen erklärtest,
+daß du etwas Neues vorhabest. Was war es denn?«</p>
+
+<p>Zu seinem Erstaunen fuhr Ruth zusammen, und senkte den Kopf.</p>
+
+<p>Erik sah betroffen aus.</p>
+
+<p>»Was war es?« fragte er streng.</p>
+
+<p>»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.«</p>
+
+<p>Er faßte ihre Hand hart im Gelenk, so daß es sie schmerzte.</p>
+
+<p>»Wenn es etwas ist, was dir so schwer fällt, auszusprechen, dann ist es
+um so notwendiger, daß du es sagst. Ich muß es wissen, — jetzt gleich,
+Ruth.«</p>
+
+<p>Sie versuchte, die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen, und als
+es ihr nicht gelang, senkte sie das Gesicht noch tiefer, so daß es sich
+an seinem Rockärmel fast versteckte.</p>
+
+<p>Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht. Es war über und
+über in Glut getaucht.</p>
+
+<p>»Es hilft nichts, sich zu verstecken,« sagte er unerwartet sanft, »du
+wirst mir immer nachgeben müssen, mein Kind. Mach es kurz!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p>
+
+<p>Ihre Hände schlangen sich nervös auf seinen Knieen ineinander, dann hob
+sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf.</p>
+
+<p>»Es war nur, — ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt;
+alles stockte auf einmal, — nichts mochte ich mir weiter ausdenken. So
+schön ich es mir auch ausdachte, mit so vielen Menschen drin ich es nur
+auch ausdachte, — ich blieb immer allein. Die Menschen grüßten, und
+gingen vorüber. Und da — da kam eine solche Sehnsucht, — seit vier
+Tagen solche Sehnsucht. Ich konnte nicht mehr spielen. Nie mehr.«</p>
+
+<p>»Sehnsucht — wohin?« fragte er halblaut.</p>
+
+<p>»Hierher!« sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg.</p>
+
+<p>Er ließ ihn frei, ließ zu, daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel
+versteckte.</p>
+
+<p>Beide Arme hatte er um sie geschlungen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p>
+
+
+<h2>II.</h2>
+</div>
+
+<p>Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und
+Handschuhe auf den Knieen und blickte nachdenklich darauf nieder,
+während er dem Gespräch der beiden zuhörte.</p>
+
+<p>»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte
+der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist
+Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohnedies nicht, was
+die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die
+meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.«</p>
+
+<p>Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde
+stark durch dieselbe beeinflußt. Der Onkel, mit seinem aschblonden,
+schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen
+Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und mit seinen frauenhaft
+feinen Händen, gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte
+er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine
+ausgesprochene Antipathie.</p>
+
+<p>»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären jetzt
+auch durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte
+er aufblickend; »sie muß<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> zu thun haben, — wirkliche Arbeit
+und Anstrengung muß sie haben. Selbst körperliche oder geistige
+Ueberanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In
+diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am
+meisten.«</p>
+
+<p>»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem
+Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man läßt sie viel zu viel gewähren.
+Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.«</p>
+
+<p>»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen
+Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie
+doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?«</p>
+
+<p>»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du mir wirklich nicht
+vorzuhalten, — es ist ja gerade, als ob ich Ruth Dinge verrichten
+ließe, die sich nur für den niedersten Dienstboten schicken!« sagte
+seine Frau, die scherzende Uebertreibung unerbittlich ernst nehmend,
+»aber ein wenig sich im Häuslichen umsehen, — das hätte Ruth ganz wohl
+können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der
+Beruf der Frau.«</p>
+
+<p>Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große,
+stattliche Erscheinung der Tante, an der es ihm charakteristisch für
+ihr ganzes Wesen vorkam, daß die ihr gewohnten guten Formen des äußeren
+Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht verdecken
+konnten.</p>
+
+<p>»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie
+sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von
+allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹,
+bestehe sie<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall
+eine gleichgültige Spielerei, — im schlimmern Fall weckt sie die
+Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätte ich gegen das
+Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.«</p>
+
+<p>Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau
+gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muß bekennen,
+daß ich gar nicht begreife, warum sie alle beide so versessen darauf
+sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich habe ich nicht das Geringste
+gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen,
+— im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie
+doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch
+auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht
+zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer
+Faulheit vergnügt zu sein.«</p>
+
+<p>»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton,
+»Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem
+selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch
+zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem
+Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung
+gesehen. Wenn dieselbe nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft
+Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.«</p>
+
+<p>Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf.</p>
+
+<p>»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst
+praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie
+eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt
+und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur
+wissen,<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst
+ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann
+Liuba gar nicht mitkommen.«</p>
+
+<p>Seine Frau sah ihn verletzt an.</p>
+
+<p>»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt, »Liuba würde
+nicht umhergehen, wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es
+so am bequemsten ist. Und überhaupt, — denken Sie nur, neulich höre
+ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›paß nur auf; wenn du ein Jahr
+älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und häßlich ist, und
+wirst am Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ — — Mein Gott, Sie
+wissen ja, wie junge Mädchen so untereinander reden! Aber was antwortet
+Ruth darauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht
+lieber: wie gefällt er mir?‹«</p>
+
+<p>In diesem Augenblick ging die Thür auf, und Ruth trat ein.</p>
+
+<p>Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, daß sie Besuch vorfinden
+würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde
+glühend rot. Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der
+Ihrigen, die ihr so fern standen, — die unerwünschte Vermischung
+eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und
+floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie
+wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben
+niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; — etwa so, wie wenn
+man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des
+Pöbels übersetzt findet.</p>
+
+<p>Daß Erik herkommen, daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten
+auseinandersetzen mußte, das fiel ihr<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> nicht im geringsten ein. Er
+hätte das schon so einrichten müssen, daß es eine Angelegenheit aus
+einer andern Welt — aus <em class="gesperrt">ihrer</em> Welt blieb. Lieber noch wäre sie dann
+des Nachts, heimlich, und auf bloßen Füßen bis zu ihm hingelaufen.</p>
+
+<p>Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und
+mit scheuem Gesicht, in die Thürspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit
+empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham,
+— Scham darüber, daß etwas Zartes, ihr Zugehöriges, vor fremden Augen
+herumgezeigt und besprochen wurde.</p>
+
+<p>»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend,
+»kannst du nicht näher kommen?«</p>
+
+<p>Da that sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände vor die Augen, und
+so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind,
+das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den
+geschnitzten, runden Sofatisch, um den sie saßen.</p>
+
+<p>Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte
+strafend: »Ein so großes Mädchen!«</p>
+
+<p>Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte
+sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er
+die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich
+heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie.</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu
+Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so
+dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz
+anders — hier, an dieser Stelle, — es klang wie die Anrede, die man
+einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> dasteht.
+Ja, sie stand ihm und den andern <em class="gesperrt">gegenüber</em>, und sie verhandelten da
+über sie, als wäre sie verraten und verkauft, — als handle es sich gar
+nicht um ihre — <em class="gesperrt">ihre</em> eigene, <em class="gesperrt">eigenste</em> Angelegenheit.</p>
+
+<p>Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft.</p>
+
+<p>»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte
+der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es
+aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab'
+ich dich noch nie gesehen.«</p>
+
+<p>Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr
+abzulenken.</p>
+
+<p>»Wir wollen schon mit einander zurechtkommen,« sagte er mit warmer
+Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und
+Stunde des geplanten Unterrichts.</p>
+
+<p>Ruth stand teilnahmlos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu
+beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte
+einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie
+blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster des
+Parkettfußbodens.</p>
+
+<p>Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie ihren
+Onkel sagen: »Also, wenn es Ihnen wirklich kein zu großes Opfer ist,
+erwarten wir Sie jedesmal hier, am Nachmittag, nach Ihren Schulstunden!«</p>
+
+<p>»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie
+aufwachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum
+andern; »<em class="gesperrt">hierher</em> das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinauskommen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p>
+
+<p>Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine
+Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch.</p>
+
+<p>»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich
+bei, »und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns
+verbringen will, so wäre es in der That während dieser Sommertage
+vorzuziehen.«</p>
+
+<p>Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie
+vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so
+peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch
+auf ihn überzugehen, als ahne oder begriffe er plötzlich ihre zornige
+Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen,
+fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit
+einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen,
+als in seinem eigenen, stillen Zimmer, — dort, wo sie zu ihm gekommen
+war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall
+zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie
+sich ersehnt und erträumt hatte.</p>
+
+<p>Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante
+hinausging, blieb Ruth regungslos stehen, die Hände auf dem Rücken,
+den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im
+Flur hörte sie die Hausthür gehen, dann einen raschen Schritt auf der
+steinernen Treppe. Darauf wurde es ganz still.</p>
+
+<p>Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von
+blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und
+Palmengruppen in beiden Fensterecken<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> hindurchschimmerte und an den
+vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen
+Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten.</p>
+
+<p>Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, auf dem Erik vorhin gesessen hatte.
+Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf darauf.</p>
+
+<p>Und dann fing sie an bitterlich zu weinen. —</p>
+
+<p>Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte
+ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in
+ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht
+wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch
+nicht. Er war doch kein Hellseher.</p>
+
+<p>»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis
+plötzlich ärgerlich.</p>
+
+<p>»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick.</p>
+
+<p>»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das thut ja jeder Mensch.
+Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?«</p>
+
+<p>»Jetzt eben dachte ich an Großpapa,« sagte Ruth.</p>
+
+<p>Darüber freute sich ihr Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte
+seinen Vater unendlich lieb gehabt.</p>
+
+<p>»Du warst erst fünf Jahre, als deine Eltern starben, und du damals
+hierher kamst; erinnerst du dich denn seiner noch?«</p>
+
+<p>Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und
+deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein
+schneeweißer, großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen
+— Kinderaugen eigentlich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
+
+<p>»Einmal hob er mich aus dem Bett — er sah so schön aus, mit Bändern
+und Sternen, und blitzte über und über, — und da kam seine brennende
+Cigarette an meinen bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm
+Thränen in die Augen — aber wirkliche, große Thränen, so daß die
+Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und
+küßte mich, — auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den
+ganzen Körper. — So war Großpapa. — Jetzt würde ich mir gern den Arm
+abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte
+sie wild hinzu.</p>
+
+<p>Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie
+vergessen können.</p>
+
+<p>»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte
+darüber nach, was er ihr schenken könnte.</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom
+Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten
+goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider
+von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da habe
+ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich habe es noch. — Und so
+sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.«</p>
+
+<p>Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so
+sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider
+aus Seidenpapier — das waren doch sicherlich normale und harmlose
+Phantasien eines Kinderkopfes. —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p>
+
+<p>Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde
+fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr
+zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehme ich dich in Schutz!«
+—</p>
+
+<p>Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr
+nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht
+mehr so lange einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging
+geradeaus — nicht hinten die Terrasse hinauf und in das Haus, sondern
+weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt
+hatte.</p>
+
+<p>Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen
+zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar
+keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen.</p>
+
+<p>Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf
+und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er
+die Jacke abgeworfen.</p>
+
+<p>»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach
+seiner Jacke, die auf dem Rasen lag.</p>
+
+<p>»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den
+dicken Stamm einer alten Ulme.</p>
+
+<p>Daraus wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige
+Augenblicke.</p>
+
+<p>»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken,
+und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Aesten
+empor, die über ihr rauschten.</p>
+
+<p>Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p>
+
+<p>»Wo ist das schöne?« fragte er verwundert.</p>
+
+<p>»Diese kleinen, drolligen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon
+viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den
+Knospen — und alle miteinander an den Zweigspitzen, — als getrauten
+sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den braunen,
+klebrigen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht
+aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut?
+Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie
+wieder wegfliegen.«</p>
+
+<p>»Sie fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder
+seinen vermeintlichen Raupen zu.</p>
+
+<p>»Nein. Nur diese hier thun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand
+gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung
+die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten.</p>
+
+<p>»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von den roten,
+durchsichtigen,« meinte Jonas, »denn die esse ich am liebsten. Sonst
+haben wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen.«</p>
+
+<p>»Sie sehen ebenso schön aus,« entgegnete Ruth; »wenn man am Gitter
+steht, sieht es aus wie ein Märchen. Aber später werden sie so grün und
+natürlich wie die andern Bäume. Nur kleiner.«</p>
+
+<p>»Das muß so sein,« erklärte Jonas gleichmütig, »sonst würde der
+Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen. Und der ist das Beste
+vom Sommer. Denn gerade hier, am Springbrunnen unter den Obstbäumen,
+liegt meine Mutter im Ruhestuhl. Und sie kann die viele Sonne nicht
+vertragen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
+
+<p>Ruth sah ihn mit Interesse an. Es kam ihr als etwas Besonderes vor, daß
+er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten
+freute und die grünen Blätter besser fand, als all die wunderschönen
+weißen Blüten. Die Schulmädchen, die sie kannte, besaßen zwar
+meistenteils auch Mütter, aber die pflegten gesund zu sein, und nie
+hatte sie gehört, daß sie sich derentwegen auf den Sommer freuten,
+sondern immer nur wegen der Ferien. Und dann waren es Mädchen. Dies
+hier aber war ein Junge.</p>
+
+<p>Sie betrachtete Jonas genauer, und er gefiel ihr sehr gut. Und auch er
+sah jeden Augenblick zu ihr hinüber, und auch sie gefiel ihm über die
+Maßen.</p>
+
+<p>»Ist sie sehr krank?« fragte sie nach einer Weile zaghaft.</p>
+
+<p>»Nicht sehr. Sie kann nur nicht aufstehen, — schon viele Jahre nicht;«
+belehrte er sie, »wenn sie das thun will, dann nimmt Papa sie in die
+Arme und trägt sie. Das kann er so prachtvoll. Manchmal hat sie auch
+Schmerzen, und weint. Und dann muß Papa immer bei ihr sein, und das
+hilft ihr.«</p>
+
+<p>Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu, wo die kranke Frau
+lag, und wo er war, der sie trug, und der ihr half, wenn sie Schmerzen
+hatte.</p>
+
+<p>»Hinter diesem Fenster,« sagte Jonas und wies mit der Hand über die
+Terrasse nach dem Wohnzimmer; »da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen
+hineingetragen worden.«</p>
+
+<p>Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu
+sehen, der ihnen den Rücken zukehrte. Und nun wandte er sich langsam
+um.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p>
+
+<p>Ruth löste sich ein wenig hastig vom Stamm, an dem sie lehnte. »Jetzt
+will ich hineingehen,« sagte sie.</p>
+
+<p>Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten
+sehen, war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und
+hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt, wo sie
+mit Jonas stand und plauderte.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag neben dem Fenster, mit einer mühsamen und kunstvollen
+Handarbeit beschäftigt, die darin bestand, an einer schadhaft
+gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen. Man nannte diese
+Arbeit in Holland »Maazen«. Und wer es ernst damit nahm, der wollte das
+»Maazen« bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt
+wissen.</p>
+
+<p>»Kommt Ruth noch immer nicht herein?« fragte sie nach einer langen
+Pause.</p>
+
+<p>Er zog die Uhr.</p>
+
+<p>»Nein. Noch fehlen einige Minuten an der Zeit,« bemerkte er einsilbig.</p>
+
+<p>»Das ist doch eigentlich kein Grund, nicht hereinzukommen, wenn sie
+einmal da ist. Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und
+plaudert mit Jonas, als daß sie im Zimmer sitzt und lernt, Erik. Das
+ist am Ende auch ganz natürlich.«</p>
+
+<p>Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre
+Handarbeit nieder. Erik konnte das »Maazen« nicht leiden. Er
+behauptete, es verdürbe die Augen, und sogar den Charakter.</p>
+
+<p>»Bitte, hör' jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf,« sagte er und
+nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand, »ich weiß nicht, — das Zeug
+macht nervös.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span></p>
+
+<p>Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr.</p>
+
+<p>Ihm war die Ahnung gekommen, daß es doch nicht so ganz von selbst
+gelingen werde, bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen, wie er
+es sich an jenem wundersamen Maiabend gedacht. Sie wollte durch
+keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung seinerseits in ihrem
+selbständigen Traumleben gestört werden, und erhob sie ihn auch zum
+Helden ihrer »allerschönsten Märchengeschichte«, so mußte er sich dabei
+doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen, —
+sonst entglitt sie ihm leise wieder, so leise und traumhaft, wie sie in
+sein Leben gekommen war.</p>
+
+<p>Das durfte nicht sein; der Erzieher in ihm litt es nicht, daß ihm
+mißlinge, was er sich mit Ruth vorgenommen hatte. Er wußte: er würde
+nicht eher ruhen, als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte. Aber
+welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben!</p>
+
+<p>Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige
+Freude. Freude über den Kampf, der ihm mit Ruth bevorstand. Erik,
+der andre weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte
+gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein
+jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte.</p>
+
+<p>Er wandte sich dem Garten zu.</p>
+
+<p>»Jetzt kommt sie!« sagte er, und wirklich, es klang wie ein Seufzer der
+Erleichterung.</p>
+
+<p>Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf.
+»Nun, viel Erfolg, Erik! Vergiß nur nicht, daß wir um neun Uhr den Thee
+nehmen. Du wirst sie hungrig und durstig machen, denke ich mir.«</p>
+
+<p>Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> und öffnete schon
+von innen her die Thür, als Ruth kam und anklopfen wollte.</p>
+
+<p>»Endlich!« bemerkte er, während sie eintrat, »weißt du, Ruth, was meine
+Frau soeben meinte? Sie meinte, du seiest gewiß viel lieber mit Jonas
+draußen im Garten, als bei mir hier in der Stube. Was sagst du dazu?«</p>
+
+<p>Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in
+den Ledersessel, der am Fenster stand. Dann erwiderte sie mit
+niedergeschlagenen Augen: »Ich bin doch gekommen, weil ich wollte, —
+nur weil ich's wollte. Daß Jonas auch hier ist, wußte ich doch gar
+nicht. Das ist ja nur Zufall. Den fand ich hier.«</p>
+
+<p>Er wußte nicht gleich, was ihn an der Antwort, die keine war,
+überraschte. Sie betonte ausschließlich, daß sie ganz aus freien
+Stücken hier sei. Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar
+nicht ein.</p>
+
+<p>»Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt, mein liebes Kind,«
+sagte er, an seinen Schreibtisch tretend, und legte einige Hefte und
+Bücher zurecht, »denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehen
+wirst du ja in der Folge nur, wenn du ›willst‹, das heißt, wenn
+Stimmung und Laune dir zufällig danach stehen. Hier hingegen, wo du
+freiwillig hergekommen bist, kann es doch nicht ganz so bleiben. Hier
+wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten, das vom
+Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist. Also auch etwas, wovon
+du manchmal denken wirst: ›ganz so möchte ich's nicht, — ganz so
+meinte ich's nicht, — dies da soll anders sein, — das da soll heute
+nicht da sein‹. Ist es nicht so?«</p>
+
+<p>Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> Gesicht. Es war
+ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen, was er da sagte.
+Aber daß er das wissen konnte, kam ihr sehr unangenehm vor.</p>
+
+<p>Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze, die sie aufbehalten
+hatte, vom Haar.</p>
+
+<p>»Nun, Ruth, gestern hast du mich nicht ansehen wollen, und heute willst
+du mich nicht anreden. Hältst du so unsern Vertrag? Und ich hoffte
+bestimmt, daß du mir viel erzählen würdest. Viel — alles. Alle deine
+schönsten Geschichten.«</p>
+
+<p>»Nein,« erklärte Ruth, »nie und nimmer. Ich will nichts erzählen. Ich
+will alles für mich allein behalten.«</p>
+
+<p>»Du Geizhals!« sagte er und lachte, »das ist sehr schlimm. Ist es nicht
+schlimm, wenn man einen zu Gaste geladen hat und dann die Hausthüre
+vor ihm zuschlägt? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr, Ruth.
+Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt? Hast du das vergessen?
+Nun sind sie mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will.
+Ich kann sie dir aus dem Kopf herausnehmen und für mich ganz allein
+behalten.«</p>
+
+<p>»Ach nein!« fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach
+ihrem Kopf, »das geht ja gar nicht. Es geht nicht, wenn ich nicht will.«</p>
+
+<p>»Du spricht so viel von deinem Willen, Ruth. Und daß du nur hier bist,
+weil du gerade willst. Aber weißt du denn eigentlich auch, <em class="gesperrt">wozu</em> du es
+willst?«</p>
+
+<p>Sie stutzte und blickte auf. Als sie nicht gleich eine Antwort fand,
+fügte er hinzu: »Ich weiß es für dich: du wolltest eben diesen Willen
+klären und erziehen lassen von jemand, der dich lieb genug dazu hat.
+Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p>
+
+<p>Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels, und ihr Gesicht
+wurde noch ablehnender. »Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte!«
+dachte Erik, sie betrachtend. Aber hinter diesem Visier arbeitete eine
+steigende Erregung in ihr. Die passive Stimmung, in der sie heute
+hergekommen war, hielt unter Eriks Andrängen nicht stand, aber noch
+weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten
+Abends wieder zu erhaschen. Sie verschloß und verbarg sich daher
+instinktiv vor ihm, wie vor einer Macht, die man sich erst genau
+ansehen muß, ehe man sich mit ihr einläßt.</p>
+
+<p>»Alles ist heute anders!« murmelte sie.</p>
+
+<p>»Es wird immer anders sein, als du es dir willkürlich ausmalst,«
+entgegnete er in ruhigem Ton, »und das soll es auch, Ruth! Es soll zu
+ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie. Siehst du, auch ich habe
+mir etwas Schönes ersonnen und geträumt, das ich in dir verwirklicht
+sehen möchte. Ich versprach dir doch: für die Geschichten, die du
+mir <em class="gesperrt">erzählen</em> wolltest, solltest du eine durch mich <em class="gesperrt">erleben</em>. Die
+Allerschönste — sagtest du nicht so? Mit dem Erzählen mußt du es nun
+halten, wie du willst, aber mit dem Erleben wirst du es halten, wie
+ich will. Es war mein Geschenk für dich. Und wenn du heute auch nichts
+davon wissen willst, so wirst du es doch trotzdem annehmen müssen.«</p>
+
+<p>Ruth wurde unruhig. Sie kannte nur zwei Sorten Menschen, und daß sie
+Erik in keiner von beiden unterbringen konnte, ängstigte sie. Die eine
+Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung, die ihr meistens
+störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt; die
+andre bestand aus den fremden Menschen,<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> die sie, wie Schattenbilder,
+aus der Ferne betrachtete, und denen sie die äußere Anregung zu ihren
+Phantastereien entnahm. Zu denen konnte Erik nicht gehören, denn die
+thaten nur, was sie wollte, — sie <em class="gesperrt">waren</em> ja nur, was sie wollte. Er
+hingegen war eine Wirklichkeit, die auf sie eindrang. Sie konnte ihn
+aber auch nicht abwehren, wie sie die Ihrigen von sich abwehrte, denn
+es war etwas da, was sie mächtiger reizte und anregte, als es alle
+Schattenbilder zusammen gethan.</p>
+
+<p>Sie sah ihn scheu an.</p>
+
+<p>»Ich will lieber ein andres Mal kommen,« bat sie leise, »ich kann heute
+nicht lernen. Ich kann's nicht.«</p>
+
+<p>»Doch! doch!« entgegnete er beschwichtigend, »du kannst es. Und im
+Grunde willst du es auch. Aber wir können nicht in jedem Augenblick den
+Kampf darum von neuem aufnehmen. Der muß ein für allemal entschieden
+werden. Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.«</p>
+
+<p>Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich: »Dann kann ich auch
+fortbleiben.«</p>
+
+<p>Es war ihr ganz spontan, wider alle Ueberlegung, entfahren. Aber nun
+half es nichts. Nun war es heraus.</p>
+
+<p>Erik sah, wie sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand,
+und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn. Ihm kam es vor, als habe
+er sie mißhandelt, und sein Blick wurde sehr weich.</p>
+
+<p>Aber er dachte nicht daran, dieser weichen Regung nachzugeben. Er
+wünschte, die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag
+zu bringen. Am Gelingen zweifelte er nicht. Und voll Freude fühlte er:
+war es erst überstanden, so konnte er alle Strenge in die<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Rumpelkammer
+werfen. Dann war er Ruths für alle — alle Zeit sicher.</p>
+
+<p>»Gewiß kannst du fortbleiben,« bestätigte er ruhig, »wenn es sich
+für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat, als um einen solchen
+Zeitvertreib, wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt. Weißt du
+noch, was du von dem Fremden sagtest, den ihr in euer kindisches Spiel
+hereingezogen habt? ›Wenn er mir nicht gepaßt hätte, wenn er aus der
+Rolle gefallen wäre, die ich ihm zugewiesen, dann hätte ich mir einfach
+einen andern suchen müssen, — ich hätte die Augen zugemacht und wäre
+fortgelaufen.‹ Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so, — —
+dann laufe nur fort.«</p>
+
+<p>Während er sprach, fühlte er beständig das große Mitleid. Sie sah nur
+ein einziges Mal auf, und wie sie seinem weichen Blick begegnete, da
+war es, als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über, —
+als suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem
+Leiden befreien, ihm weh thun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die
+Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben,
+und da nahm ich ihn mir!«</p>
+
+<p>Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und
+drückte sie zwecklos in den Händen zusammen.</p>
+
+<p>»Ich will nach Hause gehen!« wiederholte sie, und zitterte am ganzen
+Leibe.</p>
+
+<p>»Wie du willst.«</p>
+
+<p>»Also adieu,« sagte sie, und ging langsam, wie gelähmt, der Thüre zu.</p>
+
+<p>»Adieu, mein Kind.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
+
+<p>Sie hatte Mühe, den Thürgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände
+waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Thür offen stand, und
+sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Thür mit
+brennenden Augen ins Zimmer zurück.</p>
+
+<p>Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster. Er hatte
+den rechten Arm auf die Lehne desselben gestützt und die Hand über die
+Augen gelegt.</p>
+
+<p>Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein
+Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich
+überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, — um sie leide, die ihn
+verletzt hatte.</p>
+
+<p>Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dieses Gefühl war seltsam und
+berauschend; es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein
+Glück anfühlte.</p>
+
+<p>Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst
+der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht,
+sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen.</p>
+
+<p>Wer Ruth über den Flur gehen sah, der konnte meinen, sie sei trunken. —</p>
+
+<p>Um neun Uhr — Gonne hatte bereits den Thee und die gerösteten
+Brotschnittchen auf den Tisch gebracht — kam Erik endlich in das
+Wohnzimmer herüber.</p>
+
+<p>»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in
+sein Gesicht, »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte
+doch, daß sie mit uns bleiben sollte?«</p>
+
+<p>»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht
+weiter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+
+<p>Aber Jonas that es statt ihrer.</p>
+
+<p>»Ruth habe ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald
+wieder her, Papa?«</p>
+
+<p>»Bald!« sagte dieser.</p>
+
+<p>»Denke dir nur, sie wollte es mir nicht sagen,« plauderte Jonas weiter,
+»ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da
+sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so,
+— sie sah aus, als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte.«</p>
+
+<p>»Was geschenkt?« wiederholte Erik, und setzte das Theeglas, das er zum
+Munde führen wollte, hart auf das Tischtuch nieder.</p>
+
+<p>»Ja, ganz gewiß, gerade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht,
+und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.«</p>
+
+<p>»Es ist ihr doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt.</p>
+
+<p>»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser habe ich ihr vom
+Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. — Ich habe ihr aber
+noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu.</p>
+
+<p>»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnte
+es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.«</p>
+
+<p>»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas
+geschenkt bekommen hätte.«</p>
+
+<p>Er sprach in leichtem Ton, doch beschämte ihn, was Jonas erzählt
+hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich
+zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte und selbst, daß sie weglief,
+begriff er ganz<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er
+nicht. War es denn möglich, daß sie gern, — mit Freude, fortging? —
+— Und daß sie nicht wiederkam? — —</p>
+
+<p>Während sie noch beim Thee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter
+heraus. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die
+dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah. Ein Sturmwind
+fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein,
+den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand
+unvermittelt. Und gleich darauf prasselte, unter grellzuckenden Blitzen
+und gewaltigen Donnerschlägen, ein heftiger Platzregen nieder.</p>
+
+<p>»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! bitte, Jonas, iß nicht mehr!
+Ach, Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen
+schloß.</p>
+
+<p>Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in
+den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück.
+Die Gewitterangst war etwas, das sie überkommen hatte, seitdem sie
+hilflos dalag. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik
+würde es an ihr auch wohl nicht geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld
+damit.</p>
+
+<p>»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf
+einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!«</p>
+
+<p>»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und
+legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?«</p>
+
+<p>Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände.</p>
+
+<p>Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> sich Blitz und Schlag.
+Auf Augenblicke sah der Garten aus wie unter bengalischer Beleuchtung,
+und im bläulichen Scheine konnte man die vom Sturm losgerissenen
+Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinander fliegen sehen.</p>
+
+<p>Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal
+zusammen.</p>
+
+<p>»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, ehe es losging?« fragte sie.</p>
+
+<p>»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,«
+beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei
+diesem Unwetter nicht zu holen braucht.«</p>
+
+<p>Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig
+nachließen, und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach
+niedertrommelte.</p>
+
+<p>»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von
+ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte
+Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte.</p>
+
+<p>Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und
+blickte, über deren Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus.
+Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte
+hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen.</p>
+
+<p>»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen
+Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so wie Ruth es gesagt hat! wie leid
+wird es ihr thun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon
+wieder blau, Papa.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel, »solche Aufregung<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> und Verwirrung
+draußen ist schrecklich. Man wird förmlich mit hingerissen.«</p>
+
+<p>»Ja, das ist nichts mehr für dich, meine Arme,« sagte Erik, »es gab
+aber Zeiten, wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des
+Meeren aushalten mußtest, ohne daß ich bei dir war.«</p>
+
+<p>»Das war auch entsetzlich, Erik, ganz entsetzlich war es,« versicherte
+sie zusammenschaudernd, »damals, als du mit den Leuten hinausfuhrst,
+wenn ein Schiff in Gefahr war. Und das eine Mal, weißt du, wo du ganz
+allein es warst, der den Niels und die andern dazu beredete. Denn die
+hatten ja auch Frau und Kind. Aber das hast du immer so gut gekonnt:
+die Leute bereden. ›Es wird gehen!‹ sagtest du ihnen, und da glaubten
+sie dir.«</p>
+
+<p>»Du glaubtest mir ja auch, Bel, wenn du allein Zurückbleiben mußtest,
+und wenn es dir schien, als ginge das nicht.«</p>
+
+<p>»Ja, Erik. Manchmal dachte ich, der Schreck würde mich töten. Aber dann
+sagtest du so zuversichtlich: ›Wenn ich nach Hause komme, naß und müde,
+Bel, dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen, und
+beide vergnügt und gesund.‹ Nun, und da mußte es wohl so sein.«</p>
+
+<p>Er schwieg. Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht, in welcher er, aus
+wirklicher Lebensgefahr heimkehrend, seine Frau gefunden hatte, wie
+sie, das Kind neben sich, mitten in der kleinen Stube auf den Knieen
+lag und laut betete.</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen
+geblieben, denn noch nie hatte er sie beten sehen. Als sie heirateten,
+waren ihm unter ihren<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände
+gefallen, und wie sie ihn darin blättern sah, fragte sie ihn: »Glaubst
+du an das, was darin steht?« Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt
+und geantwortet: »Nein, Bel.« Seitdem war dieser Gegenstand nur noch
+ein einziges Mal, nach Jahren, im Gespräche wieder berührt worden,
+und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen, daß seine Frau,
+ohne es auch nur selbst recht zu merken, ihren Glauben gar nicht mehr
+besaß. Auf seine Frage, wie denn das geschehen sei, hatte sie mit ihrem
+freundlichen Gleichmut verwundert erwidert: »Ja, Erik, wenn es doch gar
+nicht so <em class="gesperrt">ist</em>, — was kann es dann noch nützen, daran zu glauben?«</p>
+
+<p>Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln
+und seinem nassen Wollwams hereintrat, da hörte sie auf zu beten und
+streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen. Er hob sie
+von den Knieen auf und küßte sie. »Thust du <em class="gesperrt">das</em>, Bel, wenn ich nicht
+bei dir bin?« fragte er sie leise.</p>
+
+<p>»Wenn du nicht bei mir bist, Erik!« sagte sie weinend, »denn dann,
+scheint mir immer, muß ich es thun!«</p>
+
+<p>Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde. Kurz darauf that sie den
+gefährlichen Sturz, der ihr die Gesundheit kostete, und das Kindchen
+wurde tot geboren.</p>
+
+<p>Als Gonne mit einer brennenden Lampe hereinkam, fuhr Erik aus seinen
+Gedanken auf.</p>
+
+<p>»Ich möchte jetzt zu mir hinübergehen,« bemerkte er und küßte seine
+Frau auf die Stirn, »ich habe noch Schularbeiten für morgen. Sobald du
+müde wirst, mußt du mich rufen lassen.«</p>
+
+<p>Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel. Nur<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> von ein paar
+rosenroten Wölkchen, die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden
+hatten und nun mit heiterm Leuchten selbständig auf einem breiten
+Stück Himmelsblau herumschwammen, fiel ein schwacher Schein durch die
+Fenster. Man konnte in ihm den Schreibtisch, den Bücherschrank, das
+alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen.</p>
+
+<p>Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen.</p>
+
+<p>Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt, daß auf dem
+Ledersessel am Fenster Ruth säße. An Halluzinationen konnte er doch
+nicht leiden.</p>
+
+<p>Mit einem Gefühl des Aergers über sich selbst schloß er hinter sich
+die Thür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter, um Licht zu
+machen.</p>
+
+<p>Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin. Auf dem Sessel
+saß wirklich jemand.</p>
+
+<p>»Ich bin es!« sagte eine klägliche Stimme.</p>
+
+<p>»Ruth!« rief er laut.</p>
+
+<p>Sie war es. Durchnäßt bis auf die Haut, in Kleidern, von denen das
+Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte, und die an einer Seite
+zerrissen niederhingen. Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander.</p>
+
+<p>Erik hatte sie in seine Arme gerissen und betastete sie besorgt und
+erregt, mit liebkosenden Händen, — Brust und Arme und das verworrene
+Haar, das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte.</p>
+
+<p>»Wann — wann, — von wo bist du gekommen? Warst du denn nicht zu
+Hause?«</p>
+
+<p>»Ich war nicht zu Hause,« sagte sie zaghaft und schmiegte sich
+frostbebend an ihn; »ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren.
+Und hergelaufen. Gerade<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> als es losging. Ich will nicht nach Hause,«
+fügte sie flehend hinzu, »mich friert so!«</p>
+
+<p>»Mein Liebling, du sollst nicht nach Hause! Du sollst hier bleiben!
+Aber wie lange mußt du hier schon sitzen? Wie konntest du das nur thun?
+Und es hat dich doch niemand an der Thür auf der Terrasse läuten hören?«</p>
+
+<p>»Ich habe nicht geläutet. Ich schämte mich. Ich bin hier in das Fenster
+geklettert. Aber es ging schwer,« gestand sie, und Mund und Augen
+lachten übermütig zu ihm auf.</p>
+
+<p>»Und dann? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingetreten wäre?«</p>
+
+<p>»Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen!« erklärte sie
+schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene
+Katze. Und dann sagte sie ganz leise: »Denn vor den andern konnte ich
+es nicht sagen. Und doch mußte ich es sagen. Deshalb kam ich ja zurück!
+Ich mußte sagen: Ich will alles thun, was ich soll.«</p>
+
+<p>Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof geschickt worden,
+um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben, daß sie draußen übernachten
+müsse. Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt, welches
+Gonne eilig für sie hergerichtet hatte. Dann bekam sie heißen Thee zu
+trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer.</p>
+
+<p>Jonas fühlte sich sehr stolz, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß
+er Ruth das wichtigste Möbel, das der Mensch besitzt, sein Bett,
+abgetreten habe. Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend
+in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus, dessen Polsterwerk<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span>
+an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch
+war Jonas zu aufgeregt, um bald einzuschlafen, und alle Augenblicke
+guckte er durch die Thürritze und fragte, was denn Ruth jetzt wohl
+mache.</p>
+
+<p>Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr durcheinander.</p>
+
+<p>»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt
+mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich.
+Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so
+wunderschön zum Kneten!«</p>
+
+<p>Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg.</p>
+
+<p>Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie
+mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es
+keine eigentlichen Fieber-Phantasien, sondern sie enthielten einen
+deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht
+oft so mit sich selbst spräche, ohne daß ein Mensch es hörte, und daß
+jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es
+unbewußt vor Menschenohren zu thun.</p>
+
+<p>Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem
+Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise,
+als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen
+ihren Willen des Weges geschoben worden, — mit Gewalt hinausgetrieben
+in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen,
+dunkeln Weg dahingehen, während Hagel und Wind ihr entgegentosten, und
+ihre Füße im tiefen, durchweichten Lehmboden stecken blieben.</p>
+
+<p>Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild:<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> der Versuch vor
+etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht.</p>
+
+<p>»Ich laufe und laufe, und bleibe immer am Fleck!« klagte sie unruhig,
+und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, zu seinem Schulgang
+fertig angekleidet, zu ihr hereintrat, saß sie aufrecht im Bett, in
+einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und
+blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen.</p>
+
+<p>Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe
+hereingeschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von
+seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung
+abgerissen.</p>
+
+<p>»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich.</p>
+
+<p>»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen,
+sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich.
+Wollten wir nicht zusammen arbeiten?«</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehen,
+so daß die Blumen von der Decke glitten.</p>
+
+<p>»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!«</p>
+
+<p>»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die
+Augen schloß.</p>
+
+<p>Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls.</p>
+
+<p>»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er
+dazwischen, »dann finde ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz
+gesund. Nicht wahr?«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen.<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Aber auf ihrem
+Gesicht war ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte.</p>
+
+<p>Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn.</p>
+
+<p>»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh!
+Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich
+nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn
+nicht mehr gern bei mir? Thut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?«</p>
+
+<p>Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an.</p>
+
+<p>»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie. —</p>
+
+<p>Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden
+bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten
+Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch,
+etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo die Tante, im
+Morgenhäubchen, sich noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich
+ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im
+Begriff, wie allmorgendlich, ins Ministerium hinunterzugehen, saß in
+Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten
+Glase Thee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften besorgten Fragen
+nach Ruth entgegen. Erik erzählte, wie sie auf dem Heimweg umgekehrt,
+ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei.</p>
+
+<p>»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf
+sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe,
+»wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn
+Ruth einmal unerwartet vom Warmen ins Kalte gerät, da<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> schaudert ihr
+die ganze Haut und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz
+entsetzlich fürchten.«</p>
+
+<p>Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten
+Augen Thee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben.</p>
+
+<p>»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal
+eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.«</p>
+
+<p>Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf.</p>
+
+<p>»Hat sie <em class="gesperrt">dazu</em> Anlage gezeigt?« fragte er langsam.</p>
+
+<p>»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist
+schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in
+der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid mit bloßem Halse. Es
+war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest
+lieber davon still sein.«</p>
+
+<p>»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum
+saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie
+ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern.
+Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe
+auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein.
+Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.«</p>
+
+<p>»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, — »das, was
+die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war
+nämlich als Kind fest überzeugt davon, daß in den Raupen, Schlangen und
+allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer
+voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In
+solchen Dingen ist<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen, und auch
+geblieben. Sie hat dasselbe Grauen unvermindert noch heute.«</p>
+
+<p>»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie
+daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik.</p>
+
+<p>»Das hätte es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein
+Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht
+behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen, wenn
+man ihr nützen will.«</p>
+
+<p>Er erhob sich, um Abschied zu nehmen.</p>
+
+<p>Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen
+Cigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich
+zu Erik: »Wissen Sie, — ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die
+Ruth bei Ihnen ist.«</p>
+
+<p>»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik
+einfach.</p>
+
+<p>»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn herantrat,
+»ich glaube, gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor
+die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die
+rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: <em class="gesperrt">nach Hause</em>.«</p>
+
+<p>»Aber, ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach
+deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.«</p>
+
+<p>»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich. »Nein, gut
+behandelt, natürlich, wie sollte es denn anders sein? Aber wozu sollen
+wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es
+verstehen. Neulich<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> fühlte ich's schon, heute weiß ich's ganz deutlich.
+Ich <em class="gesperrt">freu'</em> mich ja auch an ihr, — ja, das thu' ich, weiß Gott, —
+aber im übrigen: das Kind <em class="gesperrt">hat</em> nichts davon. Das ist es nur, was ich
+meine.«</p>
+
+<p>»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar
+sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als
+ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und
+wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege
+sie.«</p>
+
+<p>Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebsten nie
+wiedergegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan,
+für den er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren beinahe Freunde geworden.
+—</p>
+
+<p>Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen
+Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück
+gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht
+hatte, schützte sie vor der Morgensonne.</p>
+
+<p>Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber
+entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die
+letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch
+den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die
+frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die
+inmitten derselben ruhte.</p>
+
+<p>»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte
+liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du
+weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die
+Nacht krank<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß
+du nun zu mir kommen kannst.«</p>
+
+<p>Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansehen konnte, wie
+rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen sein
+mochte. Und, einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und
+küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an,
+wie den kostbarsten Gegenstand hier im Hause.</p>
+
+<p>»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt
+ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?«</p>
+
+<p>Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom
+Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum
+ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt.</p>
+
+<p>»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit
+emporgezogenen Knieen auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens,
+aus dessen geborstener Wasserurne über ihr ein langes, dünnes
+Schlinggewächs sich schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es
+am allerschönsten in der ganzen Welt!«</p>
+
+<p>»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend,
+fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer
+ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher
+gewohnt haben, — auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon
+einmal am Meer gewesen?«</p>
+
+<p>»Ja, mehreremale,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wäre ich gerade da
+gewesen, wo Sie gewohnt haben, — auf der kleinen Insel. Aber ich wußte
+damals nichts davon. Nein, ich wußte es nicht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p>
+
+<p>Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor,
+daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie
+spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so
+ernsten und bewegten Gesicht.</p>
+
+<p>»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck
+hinzu, »alles, ganz so wie es war. War es wunderschön?«</p>
+
+<p>Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik
+viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten.</p>
+
+<p>»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an.</p>
+
+<p>»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier,
+trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das
+Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.«</p>
+
+<p>Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nachdem
+sie beschrieben, wie dörflich-klein und doch wie wunderbehaglich es
+gewesen sei, trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen
+Fensterscheiben, die von der Salzluft immer beschlagen waren, —
+kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus- und eingingen.
+Viele Menschen waren das, — ein ganzes Volk schien es Ruth, — und
+immer scharte Klare-Bels Erzählung sie um den einen, den sie in den
+Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles
+that, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen
+Lächeln grüßten.</p>
+
+<p>Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie
+wahrzunehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> ergänzte unbewußt das Bild
+bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben
+übermalte, die Klare-Bel selbst ihr auf die Palette rieb. Und um dieses
+ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und schäumen.</p>
+
+<p>Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen
+knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie
+den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie
+idealisierte, was sie Ruth beschrieb.</p>
+
+<p>Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten
+Wangen.</p>
+
+<p>»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar; »ich möchte nichts
+andres thun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das
+möchte ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!«</p>
+
+<p>»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch
+nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eigenen Erzählung.
+Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen, nur von
+Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die
+sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer,
+Ruth. Denn es ist schwer, mit so vielen teilen zu müssen, die alle
+von demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in
+Anspruch nehmen, — ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß
+bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Das?</em>« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möchte ich lieber nicht. Das
+hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen
+stehen und alles<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> können, als ob man ein Hexenmeister wär' — das muß
+herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf
+einmal wäre — und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.«</p>
+
+<p>Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische
+Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie
+dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu
+wollen, sich einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte.</p>
+
+<p>Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich
+ausgemalt. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch
+nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Ringsherum Wasser, so daß
+da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können,
+nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen darauf. Ich weiß
+nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, — und dann etwas
+Gewaltiges thun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.«</p>
+
+<p>Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das
+sei es vielleicht so ungefähr gewesen, was ihr Mann einst gewünscht und
+erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung
+war.</p>
+
+<p>»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah
+Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher
+so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das
+Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Aerzte, die Reisen, die
+Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus.
+Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p>
+
+<p>Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig
+sagen konnte.</p>
+
+<p>»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt wider Willen hervor.</p>
+
+<p>»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie
+du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen.
+Sogar in das Schwerste: stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen
+sorgen zu dürfen für das Behagen derjenigen, die man liebt. Denn das
+ist das Allerschwerste, Ruth.«</p>
+
+<p>Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes
+Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte
+es nur, den andern nicht mehr dienen zu können.</p>
+
+<p>Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen
+Fall den andern noch dienen konnte. Was sie so entsetzte, war die
+Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß
+ein Andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, <em class="gesperrt">seiner</em> Sache zu dienen.</p>
+
+<p>Es verwirrte sie ganz, daß die sanfte kranke Frau ihr gar nicht leid
+that. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid thun, wenn sie
+nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik
+denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum
+Weinen.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen
+Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie
+sie es hätte behalten mögen, — so klar und blau und ruhig, wie der.</p>
+
+<p>»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> verstummt war,
+»einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb
+hast. <em class="gesperrt">Dazu</em> gesund zu sein, und schön und gut und klug obendrein!
+Gleichviel, ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, —
+daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere.
+Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als derjenige zu sein,
+dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.«</p>
+
+<p>»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß
+es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätte Gott
+es ja schlechter als die Menschen!«</p>
+
+<p>Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, —
+einen tadelnden Blick. Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern
+sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth.
+Klare-Bel fühlte sich nur sicher, so lange Ruth zuhörte. Sie hörte
+so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und
+eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als
+für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine
+Spezialität.</p>
+
+<p>Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in
+den Garten getreten, und man sah ihn, den Schulranzen auf dem Rücken,
+zwischen den Bäumen im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein
+kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges
+Butterbrot, in das er hineinbiß.</p>
+
+<p>Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und
+sagte: »Du, — Sie — haben —,« stockte und wurde rot.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span></p>
+
+<p>»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn.</p>
+
+<p>»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr aus dem Rande
+des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen.
+Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie
+alt bist du denn?«</p>
+
+<p>»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth.</p>
+
+<p>»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich
+sein Gesicht auf, — »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht
+mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir
+essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,«
+fügte er hinzu und brach, im lebhaften Drang sein Brot mit ihr zu
+teilen, es in zwei Hälften.</p>
+
+<p>»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer.</p>
+
+<p>»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er, »aber das war auch
+ein rechtes Glück, weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns
+geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen.
+Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben
+können.«</p>
+
+<p>»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wäre ich auch fortgegangen,«
+bemerkte Ruth tiefsinnig.</p>
+
+<p>Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte
+er schnell. »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar
+nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten hindurch fließt ein kleiner
+Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern; der
+Zaun ist nur niedrig.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p>
+
+<p>»Nein,« erwiderte sie, »gehe nur hinter das Gehölz. Ich muß jetzt hier
+bleiben.«</p>
+
+<p>»Was willst du denn hier thun?«</p>
+
+<p>»Ich muß nachdenken.«</p>
+
+<p>»Nachdenken?«</p>
+
+<p>Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine
+Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf
+und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich daran
+beteiligen könnte.</p>
+
+<p>Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knieen
+sitzen, die Arme auf die Kniee, und das runde Kinn auf die geballten
+Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor
+sich auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand,
+und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie
+wußte ganz genau, wo sie stehen geblieben war, als Jonas kam und sie
+aufhören mußte.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne
+strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende
+Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die
+Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig
+ihr Lied.</p>
+
+<p>Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in
+goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels
+Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen,
+halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so
+lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, — in einem<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> warmen
+Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte
+Ruth nicht.</p>
+
+<p>Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die
+sie sonst kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher,
+— fast als ob es nur lauter Leiber wären, in denen so gut wie nichts
+drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich
+nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie
+wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, — die sahen viel
+schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden, und
+so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von
+Gedanken.</p>
+
+<p>Ruth durchwanderte ihre ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage,
+fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten darin den einzigen, wenn
+er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und
+Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stände er ihr ganz allein
+gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, —
+der <em class="gesperrt">erste Mensch</em> am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und
+ein Wunder. Mit innerm Staunen stand sie still vor ihm, als müsse
+sie fragen. »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier
+herrschen?« Er beschädigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so
+stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken
+verlor und nur ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas
+Besonderes, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei,
+wenn sie ihn da dulden sollte.</p>
+
+<p>Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz,
+Licht auf Licht auf ihn zu häufen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p>
+
+<p>Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich
+aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die
+Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die
+Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald. Sein erster
+Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf
+haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber
+der leidende Ausdruck von heute morgen war völlig aus ihren Kinderzügen
+verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik
+wohlgefiel, lag in ihren Augen.</p>
+
+<p>Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur
+Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel
+sie auf sich zukommen.</p>
+
+<p>»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen,
+meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen
+Augenblick länger daliegen.«</p>
+
+<p>Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und
+nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein
+Kind an der Brust bettet.</p>
+
+<p>»Du allzuleichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus.</p>
+
+<p>Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen
+Nacken geschlungen.</p>
+
+<p>Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die
+Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst
+Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu thun, was Erik that. Das Mitleid,
+das sie<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in
+nichts verflogen, — und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen.
+Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß die kranke Frau sich nicht als
+Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß
+sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang.</p>
+
+<p>Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es heute
+zum erstenmal geschah, und daß sie erst gestern hatte weglaufen wollen.
+Sie fühlte sich als ein längst hierher gehöriger Hausgenosse, —
+zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen.</p>
+
+<p>»Von deinem Onkel bring' ich dir was mit,« sagte Erik, der sie zu
+Mittag neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier
+zu bleiben, als du willst. Ich denke, wir antworten ihn vorläufig: den
+ganzen Sommer. Was meinst du?«</p>
+
+<p>Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf
+sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen
+Bissen gegessen haben.</p>
+
+<p>Als sie beim Kaffee waren, und die Kinder hinausliefen, blickte Erik
+seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?«</p>
+
+<p>»O Erik! mir gefällt sie gut für dich! Denn sie hat etwas so
+Unverständliches, finde ich. Das ist gerade was für dich. Was zum
+Raten.«</p>
+
+<p>»Sie ist ein scheuer Vogel,« sagte er mit einem Lächeln, »und es ist
+noch nicht gewiß, ob ich sie eingefangen habe. Eine falsche Bewegung,
+— und sie fliegt mir fort.«</p>
+
+<p>»Ja, Erik, das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend. Es macht
+doch unsicher. Förmlich schwindlich<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> würde es mich machen. Wie ein
+konfuses Stickmuster.«</p>
+
+<p>»Unsicher? Nein, Bel, im Gegenteil. Man wird sich wieder dessen bewußt,
+was man vermag — <em class="gesperrt">ob</em> man's vermag. Man sammelt die Kraft, — die
+vergessene, eingerostete. Und so kommt man endlich wieder zur großen
+Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst.«</p>
+
+<p>»Ja, ja, Erik. Wenn nur alles gut geht.«</p>
+
+<p>Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern:
+»Sorgenmütterchen! nur ein einziges Mal: laß die Sorgen, die grauen!
+Mir ist froh. Du sollst es noch sehen: an dem Mädel wächst mir mein
+Meisterstück!«</p>
+
+<p>Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht. Daß er Ruth zu
+sich nahm, das war ungefähr so, wie wenn ein Gelehrter eine recht
+unentzifferbare Handschrift irgendwo ausgräbt, — meinte sie; an der
+liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch.
+Es war nun einmal nicht anders: darin steckte sein Talent und sein
+Beruf.</p>
+
+<p>Erik ging fort; er wollte noch nach dem Bahnhof, um zu veranlassen, daß
+Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herübergeschafft würden; der
+Onkel hatte sie bereits herausgeschickt.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag und dachte nach. Sie zwang sich dazu, an die Zeit zu
+denken, die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob. Es war
+doch schön, daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von
+sanguinischen Hoffnungen. Das war doch besser und natürlicher für ihn,
+als diese langen, langen Leidensjahre, in denen nur der<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> <em class="gesperrt">eine</em> Gedanke
+ihn erfüllte: wie seine Frau wieder gesund zu machen sei.</p>
+
+<p>Ein einziger jahrelanger Kampf, — ein schmerzensreicher, gräßlicher.</p>
+
+<p>Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner
+Hoffnungszähigkeit willen, die nicht nachließ, nichts unversucht ließ,
+die noch ans Unmögliche anrannte, und mit unermüdlichem Trotz den alten
+Kampf immer wieder aufnahm. Es war nicht leicht, denn wegen einer
+geringen Herzschwäche durfte bei Klare-Bel die Narkose nicht angewendet
+werden. Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis, neuer Qual zu
+überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen. Er war in
+diesem Kampfe zum Arzt geworden; was er früher aus Lust und natürlicher
+Begabung nebenher betrieben, wurde ihm Beruf. Seine ganze, ungeteilte
+Kraft warf er hinein: er wollte es nicht glauben, nicht dulden, daß ein
+einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten
+könne.</p>
+
+<p>Und nun, da er's glauben und dulden mußte, war es doch hart, alles das
+umsonst geopfert zu haben, woran noch seine Hoffnungen gehangen hatten.
+Und wenn Ruth ihm nur eine davon zurückgab, wollte Klare-Bel sie
+lieben. Es war ja nicht mehr als eine kleine, späte und unscheinbare
+Blume für einen ganzen Strauß, den das Leben ihm schuldig geblieben.</p>
+
+<p>Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden, wie heute, seit dem
+Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten.</p>
+
+<p>Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts. Er
+griff nach einem Bund Garn, das<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte,
+und hielt es ihr auf den Fingern.</p>
+
+<p>»Wird Ruth nun bei uns bleiben, Mama?« fragte er.</p>
+
+<p>»Jawohl. Du hörtest es doch. Freut es dich nicht?«</p>
+
+<p>»Ueber alles freut es mich. Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst
+anstrengen.«</p>
+
+<p>»Wie meinst du das, mein Kind?«</p>
+
+<p>»Ich meine: Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich. Ganz
+gewiß. Sie ist sehr klug, — meinst du nicht?«</p>
+
+<p>»Das kann ich unmöglich wissen. Aber was ist das für ein Unsinn, Jonas.
+Weil Papa dich lieb hat, will er ja, daß du dich mehr anstrengst und
+besser vorwärts kommst.«</p>
+
+<p>»Ach, Mama, ich strenge mich schon an so sehr, wie ich kann. Ich komme
+ja auch vorwärts. Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen. Er
+ist der strengste Lehrer bei uns. Sie fürchten ihn alle. Aber ich am
+meisten. Von mir verlangt er am meisten.«</p>
+
+<p>»Darüber solltest du froh sein. — Mach nur jetzt keine
+Eifersüchteleien, Jonas; hörst du?«</p>
+
+<p>Da lachte er über das ganze Gesicht, scheinbar völlig unmotiviert, so
+daß er wirklich einfältig aussah.</p>
+
+<p>»Nein, Mama, das thue ich gewiß nicht. Wenigstens nicht so, wie du es
+meinst. Aber wenn es Ruth einfallen sollte, — Papa lieber zu haben als
+mich — —«</p>
+
+<p>»Aber Jonas!«</p>
+
+<p>Er ließ das Garn vom Finger gleiten, so daß es fast in Verwirrung
+geriet.</p>
+
+<p>»Verzeih, Mama. Ich bringe es gleich wieder in Ordnung. — Weißt du, du
+hattest eben ganz recht, als<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> du sagtest, ich solle nur froh sein, daß
+Papa so viel verlangt. Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer, als es
+ist. Sie wird das noch merken. Und ich werde nie etwas Unangenehmes von
+ihr verlangen.«</p>
+
+<p>»Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge!« sagte Klare-Bel
+ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an. Er machte ein ganz
+treuherziges Gesicht. Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen
+verkrochen. »Wenn Papa so was hörte. Und da wunderst du dich noch, wenn
+Papa Ruth dir vorziehen sollte.«</p>
+
+<p>»Ich wundere mich ja gar nicht, Mama. Das kann ich ihm doch nie im
+Leben übelnehmen. Wie sollte Ruth ihm denn nicht besser gefallen als
+ich?«</p>
+
+<p>»Wo steckt Ruth nur eigentlich?«</p>
+
+<p>»Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen, wo Gonne noch
+herumwirtschaftet. Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten, sagt sie.«</p>
+
+<p>Als Erik vom Bahnhof zurückkam, und Ruths Kopf oben aus dem offenen
+Fenster herausschaute, stieg er zu ihr hinauf. Das kleine, nach
+hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung. Außer dem heute
+beschafften Bett und einer großen Holzkiste, die durch zierlich
+gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer
+wirklichen Waschtoilette bekommen hatte, gab es jedoch hier noch
+nicht viel zu sehen. Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem
+Oelanstrich machte sich bemerklich.</p>
+
+<p>Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett, zu dessen Seiten schon
+kleine weiße Gardinen niederhingen; die Leiter lehnte noch daneben.
+Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der
+Terrasse, so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast
+Ruths Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> berührten. Man sah von hier oben nur in die Wipfel der
+Bäume, und das, fand Ruth, sah lustig aus: wie ein grünes rauschendes
+Gewoge, von dem man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne
+Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer darin nisten! Und
+unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei
+vorjährige Schwalbennester.</p>
+
+<p>Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers
+bemerkte, fing er an zu lachen.</p>
+
+<p>»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder,
+die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Thür
+stehen, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß.
+Meinst du nicht, Ruth?«</p>
+
+<p>»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast
+übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht
+fertig, und das ist das schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst
+fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich es haben will.«</p>
+
+<p>»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er
+lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster; »als wir zuerst aus dem
+Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unsrer Stadtwohnung
+auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte
+so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen.«</p>
+
+<p>Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an.</p>
+
+<p>»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer
+gewesen sein, — da von der kleinen Insel weg — und hierher; weg vom
+Meer und von all den vielen Leuten?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p>
+
+<p>Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang
+sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich
+Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten.</p>
+
+<p>»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt
+es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, — schlimme kleine
+Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.«</p>
+
+<p>»Ach, — die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den
+Achseln, »die sind's nicht wert.«</p>
+
+<p>»Auch du?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an.</p>
+
+<p>»Ja, auch ich,« meinte sie treuherzig.</p>
+
+<p>»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig,
+Ruth. Das ist nicht gut.«</p>
+
+<p>»Warum ist nun das auch wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut.</p>
+
+<p>»Weil es nicht aus dir selbst herauskommt, Mädel. Nicht aus deiner
+Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die
+er sich verrenken muß. Das sollst du nicht thun.«</p>
+
+<p>Sie erwiderte nichts darauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre
+Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, das sie nicht anzubringen
+wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh
+aus. In den Augen — und überhaupt. Warum?«</p>
+
+<p>»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst.</p>
+
+<p>»Mich! aber all die andern?«</p>
+
+<p>»Wen denn, Ruth?«</p>
+
+<p>Nun hielt sie es nicht länger aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p>
+
+<p>»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht
+wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres thun zu dürfen,
+etwas viel, viel Größeres, — so groß wie ein Meer mit allen Schiffen
+darauf,« versuchte sie es auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne
+es zu merken, erregt an seiner Uhrkette.</p>
+
+<p>Er sah erstaunt auf sie nieder.</p>
+
+<p>»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er
+eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es
+klar sagen können. Nun?«</p>
+
+<p>»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine
+Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber, — am Vormittag.«</p>
+
+<p>»Mit meiner Frau?«</p>
+
+<p>Ruth nickte.</p>
+
+<p>»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so
+wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.«</p>
+
+<p>»So. Thut sie das? Ader was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und
+sein Blick war forschend und gespannt.</p>
+
+<p>»Alles. Und da, — ja, da schien es mir so ganz entsetzlich, — so
+ganz unmöglich schien es mir, daß nichts daraus geworden ist. Aus all
+den großen Plänen nichts geworden,« sagte sie leidenschaftlich, und
+ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas
+zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben
+soll. Es kann ja nicht so bleiben.«</p>
+
+<p>Sie sprach beinahe zornig, und in ihren Augen standen große Thränen.</p>
+
+<p>Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft
+hin über ihr loses weiches Haar, und<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> als Ruth aufblicken wollte, da
+glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen.
+Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel,
+und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zu Mute. Er wußte,
+daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam; weder die
+leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des
+Bedauerten war seiner Frau möglich. Noch nie, seit er sich verheiratet,
+hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den
+Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn
+seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Thränen und härmte sich um
+diese Enttäuschungen, als seien es ihre eigenen.</p>
+
+<p>Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf
+tiefer, und ihre Hand sank von seiner Uhrkette.</p>
+
+<p>»Ich will es gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend.</p>
+
+<p>Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen.</p>
+
+<p>»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,«
+versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft,
+»niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen,
+— und nun gar Kümmernisse, mein Kind, — solche kindischen und
+phantastischen Kümmernisse.«</p>
+
+<p>Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das
+Gesicht im Schatten.</p>
+
+<p>»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?«</p>
+
+<p>Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte
+sehen, daß ihr an dieser Geschichte<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> nicht allzuviel lag, und daß sie
+sich als Kind behandelt fühlte.</p>
+
+<p>»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein
+großes, weites Feld zu bebauen, — ein Feld, wohl so groß wie ein
+Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es
+noch wenige, — viel zu wenige. Aber es kam anders, als er es sich
+gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht
+mitarbeiten. Nur ganz fern, in einem äußersten Winkel desselben, wies
+man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und
+Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.«</p>
+
+<p>Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm
+aufgeschlagen. Groß, ungeduldig hingen sie an seinen Lippen. Ihre ganze
+Seele war in diesen Augen.</p>
+
+<p>»Und da —?« fragte sie atemlos.</p>
+
+<p>»Und da,« fuhr er fort, »fand er eines Tages unter seinen Kohl- und
+Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze. Von irgendwoher
+mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein. Es war nur
+ein unscheinbarer, zarter Trieb, dem man noch nicht ansehen konnte,
+was darin steckte. Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen
+auswachsen. Und wenn das gelang, — wenn ein guter Gärtner an diesem
+Bäumchen unablässig seine Dienste that, und wenn das Bäumchen sich
+willig behandeln und biegen, pfropfen und beschneiden ließ, — dann, —
+ja, dann konnte es am Ende seltnere Früchte tragen, als irgend etwas,
+was sonst auf dem Feldwinkel wuchs.«</p>
+
+<p>»Bin ich das Bäumchen?« fragte sie naiv und glitt leise vom
+Fensterbrett.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p>
+
+<p>Er antwortete nicht, aber er zog sie näher an sich, so daß ihr Haar
+seine Schultern berührte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der kein
+Lächeln war und kein Ernst, und doch wie ein gesteigerter Abglanz von
+beiden, der einer Ekstase glich. Er erinnerte Erik plötzlich an jenen
+Aufsatz mit der Ueberschrift: »Seligkeit!« Zum erstenmal erinnerte
+ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den
+geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft.</p>
+
+<p>»Möchtest du ein solches Bäumchen für den Gärtner werden, Ruth?« fragte
+er sie mit gesenkter Stimme.</p>
+
+<p>Sie atmete tief auf.</p>
+
+<p>»Noch lieber möchte ich der Gärtner werden,« sagte sie unerwartet,
+»aber es ist vielleicht fast dasselbe.«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span>
+
+<h2>III.</h2>
+</div>
+
+<p>Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach wurde, fanden Erik und
+Ruth sich im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden
+zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit
+ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ.</p>
+
+<p>Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da, und stand, ihn
+erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen
+Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur
+käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so
+übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, — als Lehrer
+fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur
+vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und
+die alte Schüchternheit.</p>
+
+<p>Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat
+Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann
+schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie
+eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur
+eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> und
+Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte.
+Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie
+sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in
+die Morgenarbeit über.</p>
+
+<p>Als Erik heute morgen die Thür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen
+Augenblick überrascht stehen. Vor den Fenstern waren die weißlackierten
+Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur
+durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit
+trübem Schein auf dem Schreibtisch. Vor demselben saß Ruth, umgeben von
+Heften und Büchern, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken.</p>
+
+<p>Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das
+Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam
+er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt
+emporfuhr.</p>
+
+<p>Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und
+blickte sie aufmerksam an.</p>
+
+<p>»Du hast geweint. Worüber?«</p>
+
+<p>Sie errötete und zauderte einen Augenblick.</p>
+
+<p>»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden
+Augen.</p>
+
+<p>Er lachte.</p>
+
+<p>»Du bist nicht dumm. Habe ich das gesagt? Wenigstens nicht
+hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst du es auch nicht
+zu thun.«</p>
+
+<p>Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand.</p>
+
+<p>»Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten. Nie ohne mein
+Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> abends deine Arbeiten durchgesehen
+habe, dann sollst du aufhören.«</p>
+
+<p>»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die
+ganze Nacht durch. Im Gehölz rief ein Kuckuck; die Drosseln vor meinem
+Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.«</p>
+
+<p>Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, in dem sie geschrieben
+hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihr
+ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt.</p>
+
+<p>»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft.</p>
+
+<p>Schweigend las er darin eine Zeit lang, während Ruth mit gefurchter
+Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß.</p>
+
+<p>Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin.</p>
+
+<p>»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und
+Ueberwindung gekostet?«</p>
+
+<p>»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es
+schadet nichts.«</p>
+
+<p>»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte
+nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch
+das, was deinen kleinen phantastischen Kopf am härtesten anmutet, durch
+das, was ihm am schwersten fällt, gerade da muß er hindurch.«</p>
+
+<p>Er löste ihre im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den
+seinen.</p>
+
+<p>»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du
+dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest; es that weh, nicht wahr? Aber
+es mußte sein. Und nun, — nun bekomme ich dich allmählich<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> gerade so,
+wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?«</p>
+
+<p>»Wunderschön ist es!« rief sie, mit leuchtenden Augen sich nach ihm
+zurückwendend, »das denke ich ja immer dabei, wenn es mir schwer fällt!
+Ich such's zu vergessen und denke mich nur hinein: wie wunderschön muß
+es sein, jemand, der ganz anders ist, gerade so zurecht zu kriegen, wie
+man ihn haben will!«</p>
+
+<p>Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen.</p>
+
+<p>»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst solle es
+glücklich machen.«</p>
+
+<p>»Das thut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf.</p>
+
+<p>»Was willst du nun heute morgen thun? Wir wollen in den Garten gehen.
+Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?«</p>
+
+<p>Sie schüttelte lachend den Kopf.</p>
+
+<p>»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung
+und Morgenfrische,« sagte Erik; »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht
+solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die
+Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist
+Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich
+ermüdet, desto besser.« —</p>
+
+<p>Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel
+lag schon neben demselben in ihrem Stuhl, als Erik, Ruth und Jonas,
+erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz
+erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand
+trug er einen hohen Eimer, den er von<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> Gonne erbeutet hatte und jetzt
+auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei
+Fuß lange, stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.</p>
+
+<p>»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so
+greuliches Tier herbringen! Könnte sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«</p>
+
+<p>»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.</p>
+
+<p>»Aber eine prachtvolle, Mama! ich fand sie hinter dem Gehölz, da
+wo der kleine Bach sich im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll
+Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund that, war ihm ein
+ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen
+gerechnet, und höchstens auf eine Blindschleiche.</p>
+
+<p>Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange,
+die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee
+tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet
+waren, verhielt Ruth sich ganz still. Sie hatte heimlich gehofft,
+Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte
+sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das
+war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.</p>
+
+<p>Jetzt gelang es der Ringelnatter, nach mehreren vergeblichen Versuchen,
+sich auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren
+Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die
+Anwesenden an.</p>
+
+<p>Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern
+durchlief, und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span></p>
+
+<p>»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch,
+»siehst du denn nicht, daß Ruth sich ängstigt?«</p>
+
+<p>»Nein, lasse sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze
+Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen
+werden.«</p>
+
+<p>Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß
+du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie
+Lügen.«</p>
+
+<p>»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt.
+»Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas fürchterliches, — kalt und
+grausig, — was so gewaltsam von außen kam, — so, wie wenn man einen
+umbringt.«</p>
+
+<p>»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen
+sein?«</p>
+
+<p>»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.</p>
+
+<p>Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber
+sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es
+nur eine Raupe gewesen war.</p>
+
+<p>»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen;
+Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den
+Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon
+etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst
+du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und — und bewunderst
+mich.«</p>
+
+<p>Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar.</p>
+
+<p>»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> er, »denn schon ist
+die Zeit ganz nah, wo Ruth sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle
+begnügen wird. Wo sie selbst, freiwillig, aus eigenem Antriebe, an die
+Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper
+hinaufkriechen läßt.«</p>
+
+<p>Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.</p>
+
+<p>»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.</p>
+
+<p>»Wann? vermutlich schon bald.«</p>
+
+<p>»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen
+Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«</p>
+
+<p>»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor,
+daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«</p>
+
+<p>»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.</p>
+
+<p>Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen
+konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß
+Erik ihr etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte
+unwillkürlich zusammen.</p>
+
+<p>»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall
+verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg: — thu's eben
+nicht! Einfach! denke nur: du brauchst es ja einfach nicht zu thun!«</p>
+
+<p>Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch
+wandte sich andern Dingen zu.</p>
+
+<p>Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt,
+mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen,
+der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als
+schaue<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> er nur gerade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz
+allein mit der Schlange.</p>
+
+<p>Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu
+erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, in dem alles Unheimliche
+sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle,
+schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die
+Schlange lauerte schon auf sie.</p>
+
+<p>Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken
+konnte.</p>
+
+<p>Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.</p>
+
+<p>Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.</p>
+
+<p>Da, als Erik sich vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den
+Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild. »Dann
+lieber gleich!«</p>
+
+<p>Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt
+im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Ueberraschung.</p>
+
+<p>»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut
+noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Uebertreibung wie das mit dem
+Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir jetzt nicht fest genug
+dazu.«</p>
+
+<p>»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich
+nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen
+sehen, — Tag für Tag, — immer näher, — immer gewisser; — mit einer
+Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, — und die mit der
+ganzen Familie immer intimer wird, — —<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> und nur auf mich lauert, —
+nein, das kann ich wirklich nicht!«</p>
+
+<p>Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht.</p>
+
+<p>»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und
+Haar aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten
+in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich
+geschieht. Ueberlege es dir! Denn, wenn du darauf bestehst, gibt es
+kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würde ich
+nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«</p>
+
+<p>»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.</p>
+
+<p>»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«</p>
+
+<p>Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich
+von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen
+mußte, wenn sie etwa »umfiel«.</p>
+
+<p>Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes,
+beinahe finsteres Gesicht. Als er sich aber nach dem Eimer bückte,
+und sie, dicht vor sich, die Schlange in seiner Hand sich winden sah,
+überfiel sie ein Schwindel.</p>
+
+<p>Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen
+sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte
+zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.</p>
+
+<p>Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«</p>
+
+<p>Sie nickte fast unmerklich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p>
+
+<p>»Dann wollen wir es lassen, mein Kind.«</p>
+
+<p>Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.</p>
+
+<p>»Für immer?« fragte sie schnell.</p>
+
+<p>Er mußte lächeln.</p>
+
+<p>»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt
+nicht.«</p>
+
+<p>Sie nahm sich zusammen.</p>
+
+<p>»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.</p>
+
+<p>Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand.
+Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie
+ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich
+hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen,
+glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die
+erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie
+die Ringelnatter sich an ihrem Arm hochstreckte, sich um denselben
+herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur
+Seite niederhängen ließ.</p>
+
+<p>Der Arm blieb ausgestreckt, als wäre er erstarrt. Und Ruth machte ein
+Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.</p>
+
+<p>»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie
+gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«</p>
+
+<p>Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in
+den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.</p>
+
+<p>»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch
+›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr
+einen Stuhl zu.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p>
+
+<p>Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehen, mit
+unsicheren Schritten an Erik vorbei, quer über die Terrasse und in den
+Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie
+sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in
+den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.</p>
+
+<p>Erik sah ihr verwundert zu.</p>
+
+<p>»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du
+froh sein, und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«</p>
+
+<p>Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll
+an.</p>
+
+<p>»Ich thue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.</p>
+
+<p>Jonas, der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden, aber auf einen
+Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten
+hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll
+an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.</p>
+
+<p>Eine Stunde später fuhr Ruth aber dennoch mit ihm und Erik zur Stadt.</p>
+
+<p>Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch.
+Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im
+Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei
+Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine
+kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die
+Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher
+fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt
+wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den
+Ferien,<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der
+Fleißigsten.</p>
+
+<p>So gab es doch eine gewaltige Freude, als heute, in der Freistunde,
+Ruth wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm,
+unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie,
+und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den
+Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe, und warum die
+Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.</p>
+
+<p>Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen
+stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer
+Weltferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern.
+All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene
+begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und
+es blieb nichts, als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück,
+der an ihrer Statt erzählte.</p>
+
+<p>Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo das
+überragende Dach sie vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie
+damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand
+Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.</p>
+
+<p>Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten,
+wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter
+ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß
+sie nicht sprach, entging ihnen vollständig; der in ihnen selbst
+aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und, anstatt
+dessen, was sie von ihr erfahren wollten,<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> erfuhr Ruth binnen weniger
+Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis heute,
+nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.</p>
+
+<p>Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut.
+Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes, blondes Mädchen von
+frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als
+Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine
+Inschrift triumphierend vorgezeigt, — der glatte goldene Traureif fiel
+Ruth in den Schoß.</p>
+
+<p>Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt
+zu werden. Sie war begreiflicherweise mit ihren Gedanken längst aus der
+Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das
+unendliche Interesse verbunden, welches ihr, ihrem Liebsten, und ihrem
+Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete
+sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann gebracht.</p>
+
+<p>»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die
+besonders zärtlich an Ruth hing, »ach, Ruth, ein solcher, wirklicher
+Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denke dir nur, was man als
+Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie
+spricht von <em class="gesperrt">ihm</em> und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint
+man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren
+mit ihrem Kram.«</p>
+
+<p>»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«</p>
+
+<p>Gretchen schwieg etwas betroffen.</p>
+
+<p>»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!«<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> fiel eine andre
+ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht
+wunderschön?«</p>
+
+<p>»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif
+in ihrer Hand; »vielleicht ist es wunderschön.« Dann gab sie ihn
+der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das
+Wunderschöne daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«</p>
+
+<p>Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich
+zum erstenmal zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein
+besaß, als Braut, — was sie mit den andern nicht gemein haben konnte.
+»Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich
+mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich, mit Scham und
+Stolz. Und während sie den Ring überstreifte und Ruth anblickte, konnte
+sie dem Gedanken nicht wehren: »Diese hier ist gewiß die nächste Braut.«</p>
+
+<p>»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen
+ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer
+zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das
+Uebergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte, »was hattest du
+immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und
+jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin die einzige, die noch dem
+›Edlen, Unglücklichen‹ nachsteigt.«</p>
+
+<p>»Ist der noch da?« fragte Ruth.</p>
+
+<p>»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht
+förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«</p>
+
+<p>»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte
+sie, »es ist ja alles deine Schuld<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> und dein Vermächtnis! Warum bist du
+auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«</p>
+
+<p>Ruth hatte ihren Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in
+den verregneten Hof. Gerade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein,
+dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß
+auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe
+Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte
+es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.</p>
+
+<p>»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den
+Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«</p>
+
+<p>»Wieso ein Notbehelf?«</p>
+
+<p>»Würdest du uns keine mehr erzählen?«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor
+einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es
+hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter
+Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr
+wolltet es ja so.«</p>
+
+<p>»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«</p>
+
+<p>»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«</p>
+
+<p>»O!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten
+alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse,
+»dahinter gibt es das Leben.«</p>
+
+<p>In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die
+Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den
+meisten selbst der<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden
+erschien. In den Gesichtern prägte es sich deutlich aus, daß ein neuer
+Hunger sich geltend machte.</p>
+
+<p>»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.</p>
+
+<p>Ruth lachte.</p>
+
+<p>»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann
+geht man geradeaus, und noch rechts und nach links, ringsherum und nach
+allen Seiten. Bis man alt ist.«</p>
+
+<p>»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend,
+»seht ihr denn nicht, wie sie euch foppt? Gerade so machte sie es immer
+mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil
+wir's ernst nehmen.«</p>
+
+<p>»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den
+Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.</p>
+
+<p>»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch
+über die Mauer zu helfen?«</p>
+
+<p>»Das könnt ihr ja thun.«</p>
+
+<p>»Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu!«</p>
+
+<p>»Die hat er gewiß,« versicherte Ruth; »und Lust hat er auch. Er hat
+alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«</p>
+
+<p>Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an.
+Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.</p>
+
+<p>Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu
+sein.</p>
+
+<p>»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> ist? Hast du da
+auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen
+vorsichtig.</p>
+
+<p>»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr
+beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit gestern noch nicht trocken
+geworden waren.</p>
+
+<p>Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen
+verließen den Platz am Brunnen.</p>
+
+<p>»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche
+Wjera, »das kostet nichts.«</p>
+
+<p>»Warum?« entgegnete Ruth; »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was
+kosten.«</p>
+
+<p>In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber
+blieb es unbeachtet, daß Ruth ihnen nicht folgte. Ueber der Spannung,
+die sie hervorgerufen, war sie selbst vergessen worden. Als die Mädchen
+sich dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden,
+war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war
+ein Gelächter.</p>
+
+<p>Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben
+wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So
+kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo Ruth ihn erwarten
+sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es
+hier noch zu thun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform
+zu entrinnen. Als Ruth sich dann immer noch nicht melden wollte,
+öffnete er etwas beunruhigt die Thür zum Wohnzimmer und schaute hinein.</p>
+
+<p>Da lag sie und schlief.</p>
+
+<p>Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl
+gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Füßen, auf dem
+weißen Leinwandbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das
+Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie, mit ernstem Gesicht und
+schlafgeröteten Wangen, fest und eifrig, wie ein Kind.</p>
+
+<p>Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben.</p>
+
+<p>Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassenen
+Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, in denen der Staub in breiten
+Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein
+leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen über dasselbe hin und blieb
+auf den Lippen stehen, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher
+wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie
+heftig niesen.</p>
+
+<p>Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie
+auf und hörte Erik lachen.</p>
+
+<p>»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf.</p>
+
+<p>»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch
+weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er.</p>
+
+<p>Ruth rieb sich die Augen.</p>
+
+<p>»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie; »ja, mit
+den Mädchen ist es nichts. Glaub's nicht. Aber mir ist eingefallen:
+wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, — dann gäb's am
+Ende auch noch ein andres Mittel.«</p>
+
+<p>»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?«</p>
+
+<p>»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> mit den Füßen vom
+Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und
+drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich habe es mir nämlich
+so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, — in sie
+hineinwirken, — an ihnen was Großes schaffen, — und man findet nicht
+recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß
+man es <em class="gesperrt">so</em> machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor
+Augen stellt, — so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie
+Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom
+Allerschönsten reden und nicht müde werden, — bis sie Lust kriegen.«</p>
+
+<p>Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich
+bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, das sie da, wie einen Traum,
+mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien.</p>
+
+<p>»Wer soll das thun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie
+gebannt, und trat heran an den Tisch.</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Sie</em> sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir
+immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben
+ist schön und weit. Ich glaub's ja! Ader nun weiß ich, wozu die
+Phantasiegeschichten gut sind, — denn zu etwas sind die auch gut.
+Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es
+hinzuthun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?«</p>
+
+<p>Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als
+lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich
+in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit
+Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> ihm durch
+den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung
+verlangt. Und er, durch die Verhältnisse enttäuscht, hatte versucht,
+sie von sich abzuschieben, — zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte
+er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu
+vergessen.</p>
+
+<p>Ruth saß und folgte ihm mit den Augen.</p>
+
+<p>»Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie.</p>
+
+<p>Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Beide merkten nichts davon,
+daß die Luft im Zimmer dick und staubig war, und ungezählte Mücken
+umherschwirrten.</p>
+
+<p>Dann blieb Erik stehen, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke
+dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest,
+was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen
+Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.«</p>
+
+<p>Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm.</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen
+und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges
+hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein
+Eigentum, und ich kann mit ihnen machen, was ich will.‹ Und nun werden
+Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.«</p>
+
+<p>Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und
+Erwartung, und dann fügte sie bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören
+dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie es
+mir erzählen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<p>Erik blickte auf sie nieder. So kindhaft kam sie ihm vor, als sie so
+in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur
+Schulter.</p>
+
+<p>Wie heute morgen am Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr
+Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche,
+bittende Kinderaugen.</p>
+
+<p>»Wir werden es uns zusammen ausdenken!« sagte er. —</p>
+
+<p>Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause
+kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete
+den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich
+langsam, im Schritt, abkühlen.</p>
+
+<p>Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem, behaglichem
+Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen
+Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen.</p>
+
+<p>Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken
+Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde: Sie
+empfand es wohlthuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag
+eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder
+etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft
+zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben
+zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den
+ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig
+im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so
+einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu
+Hause.</p>
+
+<p>Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es
+auch andern Bekannten gegenüber<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> nicht geschah. Sie wußte: dies hier
+war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte, als
+mit ihrem Mann.</p>
+
+<p>Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte
+sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins
+Zimmer trat, war sie enttäuscht.</p>
+
+<p>Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet.</p>
+
+<p>Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm,
+vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich
+schüchtern zurückzog, — jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht
+ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon
+geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied,
+als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene, Formsichere und
+Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber.</p>
+
+<p>Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz
+als eine von vielen und gab auch sich selbst so, wie eine unter den
+vielen, aus denen die Gesellschaft besteht.</p>
+
+<p>Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen
+worden sei.</p>
+
+<p>»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich
+noch nicht.«</p>
+
+<p>Man wußte nicht, war es bescheiden oder übermütig gemeint?</p>
+
+<p>»Wenn die nicht durchtrieben ist!« dachte Warwara bei sich und musterte
+sie schärfer.</p>
+
+<p>Bald trat Erik dazu, eine heitere Unterhaltung in Gang bringend.
+Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst
+kürzlich auch hier eingelaufen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> war. Ein sensationeller Rückgang, denn
+die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in
+einen andern verliebt.</p>
+
+<p>Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser
+Sachlage unbeachtet zu lassen, lachte laut.</p>
+
+<p>Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen.</p>
+
+<p>»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht
+hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so
+kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?«</p>
+
+<p>Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst
+geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden,
+haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute
+Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in
+der That im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, — in der
+eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge
+festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.«</p>
+
+<p>»Sie meinen, der Mann bedarf eines solchen Gebetes nicht,« bemerkte
+Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen.</p>
+
+<p>Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er; »ich glaube, der Mann
+ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur
+besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den
+Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen
+desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, — nein: <em class="gesperrt">das er an sich
+gebunden</em> hat. Das ist's!«</p>
+
+<p>»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> eine Kraft des
+Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den <em class="gesperrt">wir</em>, — die
+Frauen, — nicht —«</p>
+
+<p>»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein: nur ein
+Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut:
+nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der
+für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem
+Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine
+Hand bewußt auf dieses ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu:
+›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen,
+— verantworten wollen, — herrschen dürfen.«</p>
+
+<p>Warwara schüttelte sich.</p>
+
+<p>»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie; »mir jedoch ist wahrlich
+die Vorstellung lieber, nach welcher die Frau des Mannes Königin ist.«</p>
+
+<p>»Sie sehen, — ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er
+lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es
+eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, — was alles ganz
+heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann
+hingegen wäre untreues Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was
+ihm wider die Scham geht.«</p>
+
+<p>Warwara lachte ihm ins Gesicht.</p>
+
+<p>»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwickelungskämpfe,
+und auch für die der Frauen, so gern eintritt!« rief sie; »es ist eine
+schauderhafte Inkonsequenz und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn
+Sie sich nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die
+nicht mehr so mittelalterlich denkt, und sie <em class="gesperrt">nicht unterkriegten</em>?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p>
+
+<p>»Das würde ich doch!« sagte Erik. »Sonst würde ich mich vielleicht
+für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen
+achten, — aber lieben, — wie sollte ich das? So wenig, als wenn
+ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir
+vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer
+Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe — nie! Und ein
+Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt, — wirkt nicht als Weib.«</p>
+
+<p>»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur
+in eurem jahrhundertelang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara
+entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem
+solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen,
+wenn wir lieben?«</p>
+
+<p>Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das thun wir, nicht
+weil wir unter ihm stehen. Sondern weil wir glücklich sein wollen.«</p>
+
+<p>Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu
+fahren.</p>
+
+<p>»Nun sollt' ich hiervon eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut
+gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule
+erfuhr ich, daß diesmal Sie bei dem feierlichen Schulschluß die übliche
+große Rede halten werden. Da komme ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine
+sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich
+habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.«</p>
+
+<p>Erik mußte lachen.</p>
+
+<p>»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre
+schönsten Reden für Toaste genommen werden,«<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> versetzte er, »und
+daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den
+Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer
+oberflächlichen Gesellschaft sind.«</p>
+
+<p>»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte
+Warwara gekränkt zu Klare-Bel; »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht
+weh thäte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dieser
+Barbar würde dann <em class="gesperrt">Sie</em> auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft
+unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.«</p>
+
+<p>»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt.</p>
+
+<p>»Doch! doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt,
+auf Grund einer Konsultation mit dem Professor, eine Behandlung meiner
+Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und
+geleitete sie an ihren Wagen.</p>
+
+<p>Jonas war später nach Hause gekommen, als Erik mit Ruth, und kam
+seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war, und
+man sich schon zu Tisch setzte.</p>
+
+<p>Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den
+tropfenden Bäumen verbracht, im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine
+Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als
+wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch
+einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt
+und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze
+geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.</p>
+
+<p>Um es zu thun, mußte er sich Mut einsprechen und<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> sein Herz verhärten.
+Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die
+Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus,
+der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht
+recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer;
+Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit seinen schwarzen
+Aeuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.</p>
+
+<p>Da ging ihm ein altes Märchen tröstend durch den Sinn, von einer
+Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem
+verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht
+mehr, ob es sich genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine
+Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.</p>
+
+<p>Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem
+Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheures Opfer, fand er, was sie da
+beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange
+blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut, wie über
+ein Reitpferd.</p>
+
+<p>Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen,
+die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die
+Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen
+Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.</p>
+
+<p>Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und ein Telegramm für
+Erik überbrachte.</p>
+
+<p>Erik erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller
+zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine
+freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span></p>
+
+<p>»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er; »denke
+dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs.
+Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals
+waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner?«</p>
+
+<p>»O ja, Erik! Wie sollte ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß
+du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am
+liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist
+Römer denn eigentlich geworden?«</p>
+
+<p>»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb
+mir noch manchmal in frühern Jahren.«</p>
+
+<p>Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber.
+Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es
+Ruth, als stiege plötzlich eine ganze, fremde und ferne Vergangenheit
+zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, bei der sie nicht zugegen
+gewesen war. Ueberhaupt noch nicht auf der Welt! Es schien ihr ganz
+unmöglich.</p>
+
+<p>»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.</p>
+
+<p>»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau.
+Dort ist irgend eine Aerzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werde
+ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«</p>
+
+<p>»Zu einer Aerzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.</p>
+
+<p>»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng
+verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze
+Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den
+Charakter.«</p>
+
+<p>»Haben sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders
+zu interessieren pflegte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p>
+
+<p>»Ich glaube nicht.«</p>
+
+<p>»Keine Kinder?« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war
+ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht
+wieder Mutter werden konnte; »das ist doch eine traurige Ehe, so zu
+zweien.«</p>
+
+<p>»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie
+hatten wiederholt ein junges Mädchen bei sich, das an der Universität
+studierte.«</p>
+
+<p>»An der Universität studierte? Können junge Mädchen das?« erkundigte
+sich Ruth erstaunt.</p>
+
+<p>Erik blickte sie mit einem Lächeln an.</p>
+
+<p>»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja
+nichts im Wege, daß du eines der nächsten Hauskinder bei Römers wirst.
+Hast du Lust dazu?«</p>
+
+<p>Er sagte es scherzend, aber der Blick, mit dem sie ihm antwortete, war
+so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.</p>
+
+<p>Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von
+alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen, aber sie
+blieb sitzen und hörte zu.</p>
+
+<p>Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen; Jonas lehnte in der
+Hausthür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich
+vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir
+doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das
+paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, thust du es doch
+nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen
+nun einmal nicht haben kannst.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
+
+<p>»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der
+schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das
+haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«</p>
+
+<p>»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein, ohne einen
+wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so
+viel lieber dein Mann sein, als der Mann in all den Räubergeschichten,
+bei denen ich mich immer so anstrengen muß.«</p>
+
+<p>»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und
+saß und schaukelte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel
+anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du bei alledem jedesmal die
+Hauptperson und der Held bist.«</p>
+
+<p>»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.</p>
+
+<p>»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein.
+Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich —«</p>
+
+<p>»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt; »aber wenn du mir alles
+immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es
+ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«</p>
+
+<p>»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«</p>
+
+<p>Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; — wenn
+sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine
+Ueberlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten
+und Schmeicheln zu bewegen! Denn, hätten sie »Schlangenbändiger«
+gespielt, da wäre er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm,
+ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p>
+
+<p>Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er
+fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die
+Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.</p>
+
+<p>»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er;
+»warst du es etwa?«</p>
+
+<p>»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest
+du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du
+dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«</p>
+
+<p>»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei
+meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.</p>
+
+<p>Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich ans niedrige
+Flurfenster, an dem der Regen herunter rieselte, und drückte ihr
+Gesicht platt gegen das Scheibenglas, so daß es sich satyrhaft verzog.
+Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme:
+sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth
+immer zum Lachen.</p>
+
+<p>Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.</p>
+
+<p>»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein
+Junge!«</p>
+
+<p>Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte.
+Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch
+alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie thun, es würde ihr gar
+nicht einfallen, — davon war er fest überzeugt.</p>
+
+<p>Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster
+des Wohnzimmers und fragte, ob er<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> noch bis zum Abendthee einen
+Kameraden aufsuchen dürfe.</p>
+
+<p>Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in Lenneps Novellen
+las, blickte bei seinen Worten verwundert aus.</p>
+
+<p>»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein
+Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht
+nur noch an das Mädchen, Erik.«</p>
+
+<p>»Strohfeuer!« versetzte dieser.</p>
+
+<p>Er stand und schaute verträumt hinaus. Seine Gedanken weilten noch
+in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine
+willkommene Zerstreuung, und darüber freute sie sich für ihn. Ihm war
+es mehr als das.</p>
+
+<p>»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt: »aber du
+meintest doch selbst, Jonas sei flüchtig und zerstreut im Lernen
+geworden.«</p>
+
+<p>»Das ist er wohl ein wenig, aber was ihm an Schulweisheit vielleicht
+dadurch abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung,
+die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm
+keine Schule.«</p>
+
+<p>»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er
+nun sein Herz so ganz an sie hängt —?«</p>
+
+<p>»Dann laß ihm diese Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an
+nichts Besseres hängen, Bel.«</p>
+
+<p>Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren
+Händen. Sie faltete sie im Schoß.</p>
+
+<p>»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p>
+
+<p>Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam.
+Wie ausgestorben schien das Haus, weil man seinen Schritt und seine
+Stimme darin nicht hörte.</p>
+
+<p>Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel.
+Nachts ließ er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.</p>
+
+<p>Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit
+fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst
+darauf folgendem unzertrennlichen Beisammensein. Aber dafür war Ruth
+heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle
+seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur
+ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«</p>
+
+<p>Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.</p>
+
+<p>Ruth dachte immerfort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie
+folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm
+den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen
+hineinzuversetzen.</p>
+
+<p>Als Klare-Bel ihm am Morgen beim Weggehen zurief: »Adieu, Erik,
+amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam
+ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst
+sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter
+allem, was er in gewohnter Weise sprach oder that, fühlte Ruth es
+heraus, wie eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich
+in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die <em class="gesperrt">amüsieren</em>, —
+sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von
+der die Gegenwart verdunkelt wird.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p>
+
+<p>Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl
+war auf die Terrasse geschoben worden; unten konnte sie nicht bleiben,
+weil Erik fehlte, um sie wieder heraufzutragen. Ein warmer Sommerduft
+stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und
+auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche
+drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub
+und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen
+Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie
+ein großer grüner Farbenklecks.</p>
+
+<p>Als der Abendthee auf der Terrasse getrunken wurde, fiel es Klare-Bel
+doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.</p>
+
+<p>»Es ist doch, als könnte sie es gar nicht mehr ertragen, daß Erik sich
+mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm
+keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie
+und fragte laut: »Aber, Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für
+wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du mit Erik dort?«</p>
+
+<p>Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie
+schüchtern an.</p>
+
+<p>»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen
+Erstaunen Klare-Bels.</p>
+
+<p>Diese zog sich nach dem Abendthee bald in ihr kleines Gemach zurück,
+um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig
+leidend. Vielleicht griff die neue Behandlung sie an, die Erik seit
+kurzer Zeit mit ihr vornahm, und die er ihr auf viele Monate hinaus
+in Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> gestellt hatte. Er fing wirklich schon an, wieder neue
+Hoffnung zu schöpfen.</p>
+
+<p>Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet, und
+Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den
+zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen liebte.</p>
+
+<p>Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob
+auch sie, ganz leise — leise, heimlich, die neue Hoffnung hätschele?
+Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu
+werden, Erik entgegengehen zu können auf ihren zwei gesunden Füßen.</p>
+
+<p>Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann
+würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen
+frühern Enttäuschungen auch. Denn das hatte er gethan, — nicht gerade
+mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen
+Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und
+manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so,
+denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen
+Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein,
+durch die er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So
+oft konnte sie es mit Verwunderung beobachten im täglichen Leben unter
+den Menschen seiner frühern Umgebung, wie belebend es auf ihn wirkte,
+daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug
+Erik wirklich schlecht.</p>
+
+<p>Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit
+offenen Augen. Durch das geöffnete<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Fenster strich weich und feucht die
+Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; von fernher
+verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher
+Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer
+herein.</p>
+
+<p>Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie
+über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie,
+»wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein
+schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen
+wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen
+konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik
+also nicht sie, wie sie ihn?</p>
+
+<p>Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig
+streckte ihre Sehnsucht sich ihm entgegen. —</p>
+
+<p>Wie sie es vorausgesehen, befand sich Erik erst Stunden später auf dem
+Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum
+Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen,
+— ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen
+der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich
+nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden; er
+erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.</p>
+
+<p>Der lange Gang von der Station aus that ihm nach den verflossenen
+Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein
+Lufthauch bewegte sich; am fast taglichten Himmel stand blaß und
+glanzlos<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> der Vollmond; einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und
+von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.</p>
+
+<p>Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der
+Nachthelle dalag, wich langsam die noch erregte Stimmung einem Gefühl
+ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei <em class="gesperrt">den</em>
+Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.</p>
+
+<p>Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf
+die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast
+geräuschlos die Hausthür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale
+Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß.
+Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien
+Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.</p>
+
+<p>»Aber, Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins
+Bett!« sagte er.</p>
+
+<p>Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes
+Gesicht wie einen Willkommgruß.</p>
+
+<p>»War es schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen
+überwachen Augen an, »sollte ich denn dabei schlafen? Nein, das konnte
+ich nicht! denn ich war auch da, — immer mit da. War es schön?«</p>
+
+<p>Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest.
+Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die von ihnen aufgewühlt
+worden, verflogen; er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich
+gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.</p>
+
+<p>Was bedeutete ihm alle Anregung, ja, was aller so ersehnte Beifall oder
+Erfolg, nach dem er im Leben gegeizt und gerungen, gegenüber dem zarten
+Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete?<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span>
+Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge
+ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden für
+so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.</p>
+
+<p>Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf und darüber vergaß er zu
+antworten.</p>
+
+<p>Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose
+umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so
+einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze
+Welt um sie her im Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt
+mit Leben; und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen,
+— verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, — ein Lebenverlangendes,
+Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und
+ergriffen hatte, als er Ruth zuerst im Schulhof sah, mit dem Uebermut
+in den Augen und den erhobenen Armen.</p>
+
+<p>Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle,
+in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.</p>
+
+<p>»Hätte ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und
+blickte sie mit einem Lächeln an.</p>
+
+<p>»Doch! aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme
+verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, in der sie den
+Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die
+nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als Ruth sie meinte,
+aber Blick, Ton und Haltung drückten es so kindlich aus, daß sie sich
+in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe
+Rührung über ihn kam.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p>
+
+<p>Ihm schien, Ruth sah wie verzaubert aus, — anders, lieblicher als
+sonst.</p>
+
+<p>Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme.
+Nur durch die offen gebliebene Hausthür zog es ganz leise wie ein
+geheimnisvolles Raunen und Rauschen, — ein Flüstern, das draußen durch
+das niedrige Gebüsch ging, — die erste Ankündigung des neuen Tages.</p>
+
+<p>»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute
+Nacht! Guten Morgen. Liebling!«</p>
+
+<p>Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich, — fest, so daß sie
+an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.</p>
+
+<p>Als er sie ebenso rasch wieder losließ, hatte Ruth seine Hand ergriffen
+und drückte ihre warmen Lippen darauf.</p>
+
+<p>Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf.</p>
+
+<p>Erik öffnete die Mittelthür im Flur, die in das Zimmer von Jonas
+führte. Er mußte hindurchgehen, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer
+zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.</p>
+
+<p>»Na, Papa, war es schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken
+auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«</p>
+
+<p>Damit schlief er weiter.</p>
+
+<p>Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein
+farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus,
+und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.</p>
+
+<p>Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> flüsternd am
+Boden hin, es hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der
+wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und dann schwoll
+es machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel
+durchklang, die vorhin lautlos gegen den hellen Nachthimmel starrten.</p>
+
+<p>Wie ein Morgenchoral klang es, und — ganz leise, — versuchend, wie im
+Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und
+bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein lang gezogener unermüdlicher
+Buchfinkentriller.</p>
+
+<p>Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden
+Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine
+geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen.
+Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung, eine
+Morgentraumstimmung, so schien ihm.</p>
+
+<p>Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie heute, daß sie ja
+unwiderruflich zu einander gehörten, daß sie im Grunde gleichgeartet,
+gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen:
+»Mich mitnehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm
+erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte
+stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem,
+unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß,
+Verstand und Wille gewesen. Und daß in ihr mit reiner Flamme brannte,
+was in ihm die Berührung mit dem Leben mit Schlacken und Asche vermengt
+hatte.</p>
+
+<p>Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p>
+
+<p>Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind
+schwieg still. Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den
+Himmel, durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen. In einem
+breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.</p>
+
+<p>Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben.
+Im Sonnenschein war er eingeschlafen.</p>
+
+<p>Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich, weder
+auf den gestrigen Tag, noch auf die Nachtstunde. Irgend ein Traum, ein
+wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt
+ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm
+zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht; ich
+glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie — Ruth. Es ist ja Ruth.«</p>
+
+<p>Und ihm schien, es könne nur <em class="gesperrt">eine</em> solche geben.</p>
+
+<p>Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.</p>
+
+<p>Und blitzähnlich wurde er vollständig wach.</p>
+
+<p>Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner
+Liebe.</p>
+
+<p>Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht,
+weil es überhaupt wenig seiner Natur entsprach, über sich nachzudenken.
+Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen
+Interesse am Menschen, nicht am Weibe, entsprungen war.</p>
+
+<p>Plötzlich war das alles anders geworden. —</p>
+
+<p>Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch
+auf Erik, als er endlich zu ihnen heraustrat. Klare-Bel bemerkte
+augenblicklich etwas Verändertes,<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> Verschlossenes in seinem Gesicht,
+und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von
+Gleichgültigem zu reden begann.</p>
+
+<p>Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches vom Zusammensein mit
+dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine
+Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.</p>
+
+<p>Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch,
+— ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.</p>
+
+<p>Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar
+beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung
+reichlich überwacht und angegriffen aussähe.</p>
+
+<p>Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der
+Morgensonne,« dachte Erik, während sein Seitenblick sie streifte.
+Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber
+unterdrückte, daß er verschlafen habe. Sie hatte nicht verschlafen. Sie
+hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.</p>
+
+<p>Mit der gemeinsamen Arbeit wurde es heute nun nichts. Hastiger als
+sonst stand Erik auf, um zu gehen. Die Zeit drängte, und Jonas war
+schon fort.</p>
+
+<p>Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm lag, und er
+wieder mit sich selbst allein blieb. Aber dennoch war ihm weder zum
+Träumen noch zum Grübeln zu Mute. Nur nach <em class="gesperrt">einem</em> verlangte es ihn
+dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar
+ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor
+ihm stand. Nur nach <em class="gesperrt">einem</em> verlangte ihn: davor stillzustehen und
+den Blick<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> darauf ruhen zu lassen, fest und forschend, wie auf einem
+fremden Antlitz.</p>
+
+<p>Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und
+beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was
+bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt
+hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah
+er vorbei, — ganz gerade, ganz unverwandt auf den <em class="gesperrt">einen</em> Punkt, ohne
+nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick,
+kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über
+<em class="gesperrt">Hindernisse</em>, und wären es Menschen, geht's hinweg. —</p>
+
+<p>Ehe Erik sich mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm einmal eine
+Photographie geschenkt, auf der sie sich im Kreise ihrer ganzen
+Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen
+Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in das er eine nur Bels Gestalt
+entsprechende Oeffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein.
+Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.</p>
+
+<p>Erik war es sich nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso machte: mit
+feiner eigenen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen
+Umgebung, ja, mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken
+weglöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite,
+eine Welteinsamkeit, in der nur Ruths Bild vor ihm stand.</p>
+
+<p>Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.</p>
+
+<p>Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick.
+Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an
+sein Bewußtsein heranbringen<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> konnten, das ging von dem fröhlichen
+Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in
+ihm wurde still.</p>
+
+<p>Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindhafte, in
+dem noch, geheimnisvoll und verheißungsvoll, die ganze Fülle der
+Möglichkeiten ruhte, — dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, das
+noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, — den zarten,
+kostbaren Stoff, nach dem seine Hand sich nur herrisch ausgestreckt,
+weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?</p>
+
+<p>Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er
+Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt
+seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine
+Gärtnerhoffnungen.</p>
+
+<p>Je länger Erik sich aber so in das ihm vorschwebende Bild vertiefte,
+um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl. Er sprach zu sich
+selbst nur noch mit geringer Ehrlichkeit. Unwiderstehlich erhob
+sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren.
+Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer
+Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.</p>
+
+<p>Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm,
+der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte,
+damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der
+Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt. —</p>
+
+<p>Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die
+diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<p>Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für
+sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht.
+Am besten hätte es ihr gepaßt, jetzt Jonas da zu haben, aber der saß
+in der Schule und lernte, der Aermste. So entschloß sie sich denn, zu
+Gonne in die Küche hinunterzugehen. Denn lieber noch wollte sie mit
+den Händen thätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und irgendwie
+lebhaft sich bethätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so
+vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und zum »Nachdenken«. Und
+dann war es auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu
+plantschen.</p>
+
+<p>Gonne litt es glücklicherweise gut, wenn Ruth ihr so unerbeten mitten
+in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der hierzulande üblichen
+Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth,
+daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm es auch nicht
+anders, und zum entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer weichen
+ungeschulten Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte
+tiefernst zu.</p>
+
+<p>Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und
+zurückgestreiften Aermeln singend und seelenvergnügt am Brunnen.
+Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste
+von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die
+verklärte Gestalt seiner Phantasie, um derentwillen er die wirkliche
+Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische
+Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen,
+die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die
+lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Haar und den feinen
+von der Sonne schwach gebräunten Hals.</p>
+
+<p>Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen, machte Erik
+plötzlich Halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.</p>
+
+<p>Dort, auf dem Schreibtisch, lagen noch, unordentlich, Ruths Hefte und
+Bücher umher, die heute morgen umsonst auf ihn gewartet hatten. Erik
+setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut
+hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander.
+— — —</p>
+
+<p>Mußte Ruth fort?</p>
+
+<p>Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich
+eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken
+umschleierte.</p>
+
+<p>Halb mechanisch blickte er über die Hefte hin, die aufgeschlagen
+dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als
+enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den
+Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen.
+Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger
+Schnörkel.</p>
+
+<p>Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine
+fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, — ihrem Ueberströmen. Etwas
+merkwürdig Logisches.</p>
+
+<p>Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.</p>
+
+<p>Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die
+noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?</p>
+
+<p>Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Kopf erschien zwischen
+den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz
+emporkletterte.</p>
+
+<p>»Soll ich arbeiten?« fragte sie.</p>
+
+<p>»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er
+und stand auf, »weißt du, was es für eine Ueberraschung gab, — in der
+letzten Stunde vor den Ferien, in der Mädchenschule? Sie erhoben sich
+alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht
+leicht herausbringen. Sie wußten es selbst nicht genau. Sie wollten
+dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten es nur nicht zu
+bewerkstelligen.«</p>
+
+<p>Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule um
+sich zu hören geglaubt. Ganz deutlich empfand er aus dem unerwarteten
+»Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber
+gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit
+gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen
+Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden
+Mädchenköpfe, schaute ihm, wie aus einem Vexierspiegel, Ruths
+Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch
+mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben
+zwischen den Hopfenranken dastand.</p>
+
+<p>»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich ans
+Fenster; »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht
+in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht bei
+Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn voll Interesse an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p>
+
+<p>»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser.
+Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder
+fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas
+fort.«</p>
+
+<p>»Die Braut?«</p>
+
+<p>»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie es jetzt bald alle
+kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr,
+meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste.
+Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«</p>
+
+<p>Er blickte auf sie.</p>
+
+<p>»So. Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es
+das Allerhöchste sei, und daß dann all das andre keinen rechten Zweck
+mehr hat?«</p>
+
+<p>»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie es
+dann ist? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich
+kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.</p>
+
+<p>Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so
+betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er:
+»Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen
+Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie
+sein zukünftiges Leben sich gestalten mag. Und deine Phantasie soll
+nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er
+mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen
+bist.«</p>
+
+<p>»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit
+gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man
+einen lieb haben.<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in
+der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Wie</em> lieb, Ruth?«</p>
+
+<p>Seine Stimme klang gedämpft und heiser.</p>
+
+<p>Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick. Nie noch, meinte
+er, eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick
+gesehen zu haben.</p>
+
+<p>»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.</p>
+
+<p>Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die
+Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten.
+Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich
+zur Faust.</p>
+
+<p>Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck,
+der über sein Gesicht ging.</p>
+
+<p>Da, wie Erik, fast furchtsam, aufschaute und die fragenden Augen vor
+sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine
+Blick und Augenblick über ihn entscheide.</p>
+
+<p>Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine
+Augen.</p>
+
+<p>»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, — denn jetzt
+bist du doch nur erst ein kleines Mädel, — aber wenn du längst eigene
+und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge, und viele
+andre noch, — dann — <em class="gesperrt">dann</em> sollst du noch einmal zu mir kommen und
+mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir
+— <em class="gesperrt">von mir</em> dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwickelung.
+Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der
+Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer
+ich dann bin, das weiß<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter
+Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du
+ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste
+Hoffnung.«</p>
+
+<p>Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.</p>
+
+<p>Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und
+blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.</p>
+
+<p>An einem der nächsten Tage, um die Mittagsstunde, füllte eine bunte
+Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der
+Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten
+und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause
+so viel erzählten.</p>
+
+<p>Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen
+und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den seine Klasse ihm
+gemacht, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule
+hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken
+von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwickelung für die
+Frau, als die Gegenwart sie ihr außerhalb der Schuljahre gewähre.
+Ueber die Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft
+heraufzuführen, sprach er ihnen, und über die Zukunft der Frau, die,
+erst geahnt und nur halbenthüllt, noch vor ihr liege, von der sie aber
+Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung
+und Vollendung näher bringe.</p>
+
+<p>Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte,
+mitzukommen; denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der
+er redete. Sie war<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> es ja, die in ihm die Lust wiedererweckt hatte,
+zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man
+für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er
+seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr
+erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem
+Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen
+Formen.</p>
+
+<p>Es war, wie wenn er eine überlebensgroße Gestalt vor den gebannten
+Menschenaugen aufrichtete, in der durch diese Größe die individuellen
+Züge unerkennbar wurden. Zu groß sicherlich, für das wirkliche Leben,
+aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit
+fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig
+einprägte.</p>
+
+<p>So stand Erik und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe,
+und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner
+Worte eine eigentümliche Wucht.</p>
+
+<p>Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie es
+ihm vorhergesagt. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als
+sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie, mit ihrem
+feinen Instinkt, immer schon dunkel und undeutlich geahnt, wenn sie mit
+Erik zusammen gewesen: daß er Gewalt über Menschenleben besaß, und daß
+er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie
+zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, — das,
+was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Scene in
+seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht.
+Aber selbst damals<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und
+sehnend und ungeduldig er aus das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn
+enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.</p>
+
+<p>Als sie damals aus seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr
+fortwährend ein ganz abscheulicher Vergleich aufgedrängt. Sie konnte
+denselben nicht verscheuchen. Immer sah sie ein Weib vor sich, das
+falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des
+Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte ihre Koketterie
+nicht ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische
+Entblößung. Und die Arbeit an sich selbst.</p>
+
+<p>Es war aber wirklich ein abscheulicher Vergleich. Und zum größten
+Erstaunen ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.</p>
+
+<p>Nach dem Schluß desselben, im Treppenhause, wo Warwara beiseite trat,
+um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, bemerkte Erik sie und
+kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten so. Warwara war blaß.</p>
+
+<p>»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr
+gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor ihren Augen? Vielleicht war es
+wirklich einer.«</p>
+
+<p>»Wenn es einer war, so könnte ich wohl auf <em class="gesperrt">die</em> eifersüchtig — nein,
+aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte
+sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht
+blieb ernst; »<em class="gesperrt">unser</em> Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie
+anderswohin gehören wollen, als unter uns Gesellschaftsgelichter.«</p>
+
+<p>»Aber, Warwara Michailowna!« sagte er, von<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> ihrem Ausdruck frappiert,
+»warum nehmen Sie sich nicht aus?«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Aus Selbsterkenntnis. Ich hab' Sie heut verloren,« entgegnete sie und
+gab ihm die Hand, »also adieu, — nicht nur für heute. Ich verzichte
+auf Sie. Ich entlasse Sie. — Aber nun hören Sie: es ist doch der
+Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«</p>
+
+<p>Er sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber
+als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was
+ihm, durch den Scherz hindurch, heute an ihrem Wesen so aufgefallen war.</p>
+
+<p>Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten,
+über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen
+mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen
+Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.</p>
+
+<p>Ja, nun begannen die Ferien, und die langen, nicht enden wollenden
+Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern, in
+die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn,
+— einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein
+Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die
+Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich wurden, gleich
+denen, die da noch wachsen.</p>
+
+<p>Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.</p>
+
+<p>Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am
+kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß
+darauf, und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span>
+ausgedacht«. Zusammen wollten sie's sich ja ausdenken, hatte er ihr
+versprochen.</p>
+
+<p>Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen,
+aus denen seine unbefriedigte Thatkraft ruhelos und vergeblich in die
+Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit
+und Aufgabe, — daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken,
+Träumen und Schaffen in <em class="gesperrt">eins</em> zusammen. In Ruth war etwas, das machte
+sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte,
+so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehört.</p>
+
+<p>Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den
+Bäumen, ums Gehölz herum, eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas — und
+noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem
+dunkeln Vollbart und Brille. Der jagte sich mit Ruth, und haschte
+vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.</p>
+
+<p>Es war Bernhard Römer.</p>
+
+<p>Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.</p>
+
+<p>»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig
+außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorene
+dichte braune Haar; »— und die Ruth nehme ich gleich mit fort, —
+das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir
+ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten,
+»das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind.
+Vierzehnjährig.«</p>
+
+<p>»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.</p>
+
+<p>»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. — Es<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> ist ungerecht, daß
+du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«</p>
+
+<p>»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau?« fragte Erik,
+ihn unterbrechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der
+Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.</p>
+
+<p>»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück.
+Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß Bel
+dir nicht fortlaufen kann. — Meine Frau, die reist also herum und
+besichtigt Suppenanstalten.«</p>
+
+<p>»Suppenanstalten?«</p>
+
+<p>»Na ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana.
+Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte
+ich wohl meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer
+Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann
+bin ich nun doch nicht.«</p>
+
+<p>»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel staunend, »da Sie Ihrer Frau
+alles das erlauben.«</p>
+
+<p>»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr.
+»Meine liebe gnädige Frau, ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe
+gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundere nämlich ein
+wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie
+Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, — sagen
+wir lieber: im winzigen. — Aber nun will ich dir etwas sagen, mein
+lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche
+Pläne gemacht von Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, — aber
+meine Frau, die führt sie im kleinwinzigen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> aus. Nur sie. Das ist die
+Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich
+wohlbestallter und — wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur
+so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das Leben ist Frauenhand und
+Frauenarbeit — mutige. Wir sind Stümper dagegen.«</p>
+
+<p>»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh,
+sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu
+sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?«</p>
+
+<p>»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren?
+Ja, — doch in der Arbeitszeit, da behelfe ich mich schon mit der
+Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei:
+'s ist Arbeitzeit, Wochentag. Aber in den Ferien, — <em class="gesperrt">meinen Ferien</em>,
+— da muß ich Sonntag haben. Da muß ich — muß ich meine Frau um mich
+haben.«</p>
+
+<p>Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen
+Worte. Freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß
+er selbst es war: der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf,
+— sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem
+kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel.</p>
+
+<p>Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die
+alten Erinnerungen, wie sie es schon heute morgen miteinander gethan.
+Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden
+beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit war.</p>
+
+<p>Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p>
+
+<p>Ruth mit Römer, — nicht mit ihm: er konnte das Bild nicht loswerden.</p>
+
+<p>Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes
+Heim, — das seltenste: eine vollglückliche Ehe. Neben dem Mann die
+gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht
+sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen
+in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine
+ewigfrische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offene
+Herz und die offene Hand.</p>
+
+<p>Dort würde Ruth haben, was ihr not that: in körperlicher, geistiger,
+praktischer Beziehung. Und indem sie <em class="gesperrt">ihn</em> verlor, eine mütterliche
+Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte.</p>
+
+<p>Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere
+Liebe. Schütze sie vor dir selbst.«</p>
+
+<p>Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte
+Linie.</p>
+
+<p>Nun ja, er gestand es sich ein: daß er selbstlos Ruth dienen wollte,
+das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu
+verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das
+Letzte, — das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst.</p>
+
+<p>Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes
+führe manchen zur wahren, menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaft
+thatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken.</p>
+
+<p>Gewiß gab es solche milden Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm?
+Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein!</p>
+
+<p>Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> nicht trennen.
+Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er,
+um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu
+sich zwingen in irgend einer Form, — und um jeden Preis.</p>
+
+<p>Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen konnte, einst selbst die
+Axt an die Wurzel zu legen?</p>
+
+<p>Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück.</p>
+
+<p>Er versuchte, gewaltsam, den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an
+den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen,
+die er sich unterwegs für seine Winterpläne entworfen. Er versuchte,
+sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der
+Treppe, im Vorbeigehen, studiert, und in denen er den Ausdruck der
+Freude und der Anregung gelesen hatte.</p>
+
+<p>Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah
+nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, — ohne
+Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick.</p>
+
+<p>Unschöne, an denen sein Auge vorüberglitt, — hübsche, aus denen es
+teilnahmslos haften blieb.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p>
+
+<h2 >IV.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Kurz und glühend, wie immer, war der russische Hochsommer
+vorübergeflogen, und früh, mitten im August, nistete sich leise der
+Herbst im Garten ein und verlöschte mit seinen langen dunkeln Abenden
+die Sonne. Der Rasen sah fahl und versengt aus, und längs den Kieswegen
+sammelten sich die ersten dürren Blätter.</p>
+
+<p>Gerade da, wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes
+lag, konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten
+goldgelben Fleck hineinschauen, der täglich ein wenig zunahm. Und von
+Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter, drehte sich in der Luft
+ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder.</p>
+
+<p>Gleich daneben stand ein Tisch, roh aus ungeschälten Baumästen
+gezimmert, und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk
+von Weidenzweigen. Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und
+arbeiteten.</p>
+
+<p>Klare-Bel konnte nicht begreifen, wie sie das nur so ununterbrochen
+aushielten; manchmal schienen es ihr allerdings nur Unterhaltungen
+und Gespräche zu sein, die sie führten, aber sie wußte, wie ernst sie
+es damit nahmen, und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb, um seinen
+Unterricht vorzubereiten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p>
+
+<p>Gern lag sie so und lauschte darauf; nicht auf die Worte, aber auf die
+Stimmen. Denn darüber täuschte sie sich nicht: nur in solchen Stunden
+noch klang Eriks Stimme gerade so froh wie früher. Und da war es
+wirklich gut, daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer
+in ihrer Nähe saß, wo sie ihn hören konnte.</p>
+
+<p>Oft dachte sie dabei mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten
+Tag im Juni zurück, den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in
+der Stadt verbracht hatte. Seit dem darauffolgenden Morgen blieb er
+verändert. Und mit diesem Tage mußte es zusammenhängen. Aber den wahren
+Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit: namentlich seitdem sie
+den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen.</p>
+
+<p>Denn seitdem begriff sie ganz gut, daß Erik vielleicht noch im
+stillen den alten Erinnerungen nachgehen mochte. Kehrten doch sogar
+ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück, wohin es keine
+Rückkehr gibt.</p>
+
+<p>Die Jugend ersteht nicht wieder auf.</p>
+
+<p>Wenn es doch eine Freude gäbe, — dachte sie ganz heimlich bei sich, —
+eine große, gewaltige Freude, die sie einmal über Eriks Leben bringen
+könnte, so daß er alles darüber vergäße! Aber sie besaß nichts, — sie
+hatte immer nur so dagelegen, mit leeren Händen, und Opfer gekostet.</p>
+
+<p>Vor wenigen Tagen brachte Erik unerwartet den Professor heraus, den er
+manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog. Sie war auf ihr Bett gelegt
+worden, und dann hatte Erik die in Angst und Schmerz Zitternde ganz
+fest in seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> überstanden
+waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen.</p>
+
+<p>»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend.</p>
+
+<p>»Es muß sein. Eine Aenderung ist da,« antwortete er ausweichend.</p>
+
+<p>Aenderung! vielleicht Genesung!</p>
+
+<p>Ja, nur <em class="gesperrt">eine</em> große, gewaltige Freude konnte es noch geben: wenn sie
+selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat aus eigenen Füßen, —
+da mußte er wohl wieder froh werden.</p>
+
+<p>Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen
+Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken
+verträumten sich.</p>
+
+<p>Als die Strahlen der Nachmittagssonne schräger fielen, und die Schatten
+der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die
+beiden am Tisch, und Ruth stand auf.</p>
+
+<p>Da erschien Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich bei diesem
+Unterricht, daß immer Ruth es war, die seinen Schluß angeben sollte.
+Erik wollte es so; nur diese selbst konnte genau wissen, wann ihre
+volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur
+seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, —
+und das that er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und des Geistes
+und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein
+Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt.</p>
+
+<p>Er blickte sie an, wie sie, sonnengebräunt und mit vornübergewehtem
+Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von
+grobem, ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken
+und Oberärmeln,<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> — fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein
+Fürstenkind war sie doch.</p>
+
+<p>Er hatte ein Heft herangezogen, ohne Absicht es durchzusehen; nur
+mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb
+neben ihm stehen, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken.
+Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich, wegen eines
+geringfügigen Versehens, das er fand, herrschte er sie so heftig an,
+daß Klare-Bel erschrocken aufsah.</p>
+
+<p>Ruth zog Schultern und Augbrauen hoch und schüttelte entrüstet den Kopf.</p>
+
+<p>»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, — nicht
+wahr? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit
+unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort.</p>
+
+<p>Erik war verblüfft und mußte über sie lachen.</p>
+
+<p>Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte
+etwas derartiges sie scheu gemacht, — sie <em class="gesperrt">ver</em>scheucht. Jetzt
+weinte sie nicht mehr darüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie
+lachte. Lachte sich aus. — Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen
+verspottete sie eigentlich? Sich selbst, — daran war kein Zweifel.
+Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von
+Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus
+seinem Wesen heraus.</p>
+
+<p>Was war diese Selbstentrückung, dieses Uebermaß von Selbstvergessen
+im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, halbbewußt und wider
+seinen Willen, — wartete?</p>
+
+<p>Klare-Bel hatte mitgelacht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p>
+
+<p>»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du mit dem
+Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles
+teilen mußt. Wirst du nicht eifersüchtig sein, wenn nun eines von den
+Mädchen mehr kann als du?«</p>
+
+<p>»Warum nicht?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann
+wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da.
+Je mehr es sind, desto besser.«</p>
+
+<p>Erik blickte auf. Am Ende würde sie wirklich eine dritte im Bunde mit
+Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte
+niemand wissen, was sie bei sich dachte.</p>
+
+<p>Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie
+vor Sonnenuntergang hereinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den
+ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen
+herumgetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er
+Ruth in Beschlag nehmen konnte.</p>
+
+<p>Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den
+Birken auf und ab gehen. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen
+sich gegenseitig an den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst
+das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes
+Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln.</p>
+
+<p>Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von
+Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr mit ihrer Hand
+liebkosend über seine eigene Wange.</p>
+
+<p>»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p>
+
+<p>Der schrak auf bei dem Ton.</p>
+
+<p>»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher.</p>
+
+<p>»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik, und schämte sich vor
+sich selbst.</p>
+
+<p>Ruth folgte Jonas ins Haus.</p>
+
+<p>Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach.</p>
+
+<p>Da war es wieder, — dies Kindhafte, Kindische, dieses Unausgewachsene
+und sonderbar Unreife, über das er in Ruths Wesen nicht hinwegkam. Es
+nahm nicht ab, es nahm zu, — es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne
+ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie
+junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle
+kindlichen Elemente sich entwickelten und zu immer vollerer Auslebung
+drängten, — und daneben andere, beinahe männliche, die er in
+ihr bis dahin nur geahnt. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre
+Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische
+Richtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik
+der Träume gelebt. Sichtlich hatte das Unentwirrbare, Unklare und
+Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst
+zusammengehangen und fiel mit diesen von ihr ab.</p>
+
+<p>Erik ging langsam in das Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit
+resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber
+im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten
+abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war
+ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten
+wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span>
+Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf
+sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel, und daß der Vater sich gerade
+die Wochentage genommen hatte.</p>
+
+<p>Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube
+hinauf gegangen sein.</p>
+
+<p>Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts
+rege.</p>
+
+<p>Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen
+Holztreppe.</p>
+
+<p>Wie ein Dieb erschien er sich selbst, als er da, in der Halbdämmerung,
+auf dem untersten Treppenabsatz zögerte.</p>
+
+<p>Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten.</p>
+
+<p>Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, — ganz allein.
+— —</p>
+
+<p>Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme.
+Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, in dem sich ihre Sachen
+befanden, und kramte darin.</p>
+
+<p>Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht
+viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen
+gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie die Straßenhändler sie
+auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen, am Boden,
+Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war bedeckt mit
+Bleistiftzeichnungen, die einen breiten Tintenrand als Rahmen empfangen
+hatten. Sie rührten alle von Jonas Hand her und stellten alle irgend
+einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span></p>
+
+<p>Erik sah auf den Tisch nieder, auf dem Nähzeug und Papiere unordentlich
+durcheinander lagen.</p>
+
+<p>Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber
+in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach
+einem Wort und zog eines der Papiere unter dem Nähzeug hervor.</p>
+
+<p>»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht.</p>
+
+<p>Sie wurde dunkelrot.</p>
+
+<p>»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja
+auch gar nicht! Aber manchmal, wenn — manchmal muß ich es noch thun.«</p>
+
+<p>»So Verborgenes thun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß
+kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf
+geht.«</p>
+
+<p>Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten.</p>
+
+<p>»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken.
+Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen
+sich, und dann muß man Verse schreiben.«</p>
+
+<p>Erik lachte.</p>
+
+<p>»O weh, die armen Verse!« bemerkte er, »also einen solchen stillen
+Winkel hast du dir noch in deinem Kopf referiert, während es aussieht,
+als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den
+Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt eine wunderschöne,
+unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?«</p>
+
+<p>Sie sah ihn ganz ernsthaft an.</p>
+
+<p>»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig.</p>
+
+<p>»Würdest du denn fraglos thun, was ich will? Auch<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> im geheimsten, was
+du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?«</p>
+
+<p>»Immer.«</p>
+
+<p>Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.</p>
+
+<p>»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? und wenn es zufällig
+gerade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgend wann einmal,
+vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches
+geistiges Zu Hause? würdest du dann auch noch ebenso antworten: ›Was
+Sie wollen‹?«</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie einfach.</p>
+
+<p>Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte,
+dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben welchem,
+an der Seitenwand, ein kleiner Bücherbort hing.</p>
+
+<p>Ein paar Minuten vergingen.</p>
+
+<p>Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die
+sich in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr erkennen ließen.
+Aber Erik wußte ungefähr, was alles sich hier auf das sonderbarste
+einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus
+Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht,
+eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Uebersetzung und ein
+zerrissener Band alter russischem Volkserzählungen, Ueberwegs »System
+der Logik« und die französische Uebersetzung des Don Quixote mit den
+Illustrationen von Doré, und so fort.</p>
+
+<p>»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom
+Fenster her.</p>
+
+<p>»Weil ich es nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben verstehe ich nicht,
+Ruth. Und mir schien wohl auch immer:<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> Bücher sind tot, nur das
+gesprochene Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können,
+nie verstehen, mein armes Mädel.«</p>
+
+<p>»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte etwas andres.«</p>
+
+<p>»Was möchtest du denn?«</p>
+
+<p>»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eines, in dem alles drin ist. Aber
+nicht mit Worten.«</p>
+
+<p>»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, malen oder meißeln
+müssen, wenn du es mitteilen willst.«</p>
+
+<p>»Es muß noch auf bessere Weise gehen,« meinte Ruth.</p>
+
+<p>»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem
+lieben Menschen an den Augen ablesen.«</p>
+
+<p>»Das ist schon besser,« sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen das
+Fensterkreuz zurück.</p>
+
+<p>Kurze Zeit schwiegen beide.</p>
+
+<p>Die Dämmerung sank tiefer. Ueber den Steinfliesen der Terrasse unter
+ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet.</p>
+
+<p>Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse.
+Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter
+Ruths Rücken hin und her im Zickzack.</p>
+
+<p>Erik stand mit einemmal im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände
+und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen,
+lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern
+liegen, und er beugte sich tief über Ruth.</p>
+
+<p>»Sage mir das nicht mehr, — was du vorhin sagtest: daß du immer und
+fraglos thun würdest, was ich will,«<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> bemerkte er mit gesenkter Stimme,
+»du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. — Ich könnte ja
+auch ein Unrecht von dir wollen. — Hast du daran nicht gedacht?«</p>
+
+<p>Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>Er umfaßte sie fester.</p>
+
+<p>»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du
+thun?«</p>
+
+<p>Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien
+sich den Fall ernsthaft zu überlegen.</p>
+
+<p>»Unrecht thun!« sagte sie dann laut.</p>
+
+<p>Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie
+lachte aber über das ganze Gesicht.</p>
+
+<p>»Für mich ist immer <em class="gesperrt">das</em> das Rechte, was Sie wollen, — niemals ein
+Unrechtes. Besser weiß ich es nicht. Ich brauche es aber auch nicht
+besser zu wissen.«</p>
+
+<p>»Mein armes Kind,« sagte er leise.</p>
+
+<p>Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in
+ihr Gesicht.</p>
+
+<p>»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und
+machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles?
+Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja <em class="gesperrt">Ihr</em> Kind!«</p>
+
+<p>Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden
+Armen und schüttelte dieselben mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich
+es denn nicht?« fragte sie wild. »Worum soll ich nicht mehr thun, was
+Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann wäre es
+besser, tot zu sein.«</p>
+
+<p>»Ruth!« rief er erschüttert.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p>
+
+<p>Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und
+schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf.</p>
+
+<p>»Ich will alles thun, — alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, —
+alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die
+Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, — Ihr Kind sein dürfen, —
+zu Ihnen sagen dürfen: ich will thun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das
+muß ich — muß ich dürfen. — — Darf ich?«</p>
+
+<p>Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde
+unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und
+ihre Stimme klang wie Metall. Und nun ein ganz weicher, kindlicher Ton:
+»— Darf ich?«</p>
+
+<p>Erik wurde zu Mute, als schaue er plötzlich, erst in diesen
+vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte
+Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum
+erstenmal hinein in das Geheimnis ihres Wesens, — hinein in die
+stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit
+rückhaltloser Gewalt die langgehemmte, lang aufgestaute Inbrunst
+hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das
+hieß: endlich — endlich <em class="gesperrt">Kind sein dürfen</em>, gehorchen, sich hingeben,
+sich weggeben, auf den Knieen noch. Es hieß sammeln und ausstürzen
+dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch
+keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen — nur dessen
+bedurfte.</p>
+
+<p>Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an.</p>
+
+<p>»Bin ich noch immer arm, — ein armes Kind?« schienen sie ihn
+unverwandt zu fragen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span></p>
+
+<p>»Du bist nicht arm, — mein Kind bist du, — und darfst gehorchen, —
+mir folgen, — du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser.</p>
+
+<p>Und er öffnete die Thür nach der Treppe, über der hell das Lampenlicht
+aus dem Flurraum heraufschien. —</p>
+
+<p>Diesen Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Thee in sein
+Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die
+halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht
+ausfiel.</p>
+
+<p>Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die
+Stadt mitzunehmen seien.</p>
+
+<p>»Willst du zur Stadt fahren? gerade heute? am Sonntag?« fragte seine
+Frau erstaunt.</p>
+
+<p>»Ja. Ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen
+notwendigen Besuch machen,« versetzte er.</p>
+
+<p>Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an
+Römer nach Heidelberg, der andere an dessen Frau nach Moskau. Beide
+doppelt frankiert.</p>
+
+<p>Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu
+schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschlossenes Gesicht.
+Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag
+traurig und besorgt diesem Gesicht nach.</p>
+
+<p>Dies Wortkarge, Verschlossene kannte sie als ein schlimmes Zeichen.
+Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so
+litt er. Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm
+geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht
+ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr
+immer Leiden und Kummer als die geeignetsten<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Zugänge, die wohl auch
+sie zu Eriks Innerem hätte finden müssen, — um ihm nahe zu kommen,
+um ihm notwendig zu werden. Aber gerade wenn er litt, wurde er am
+unzugänglichsten, — wurde er stets abweisend, bis zur Schroffheit. Nur
+in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr.</p>
+
+<p>So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm
+so gern bringen wollte, — noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm
+getragen hätte. —</p>
+
+<p>Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz
+gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von
+Wiesbaden zurückgekehrt war, um, nach kurzem Aufenthalt, zu den Ihrigen
+nach Livland zu reisen, wohin ihr Mann sie begleiten sollte.</p>
+
+<p>»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte
+der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst
+nach längeren, zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu
+seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben,
+eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denke ich mir. Wenn Sie Ihre
+Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der
+Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?«</p>
+
+<p>»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war
+eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für
+Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn
+das ihre Abreise unberechenbar beeilen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen
+damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen
+Sie mich noch einmal<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals,
+als ich sie Ihnen fortnahm.«</p>
+
+<p>»Ich weiß keinen Menschen aus der weiten Welt, zu dem ich mehr
+Vertrauen fassen könnte, als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei
+Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was
+Ruth betrifft, so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als
+ob selbst so nahe Verwandte wie wir, Ihnen ein Recht auf die Kleine
+abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr
+gehandelt ist, handeln Sie so! Ich meinerseits will, — wenn ich sie
+nicht wiedersehe, — ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen
+und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.«</p>
+
+<p>»Aber ich bitte dich! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim
+ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes
+unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren?
+Ich meine, mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier
+geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein undenkbar.«</p>
+
+<p>»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das
+Weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der
+»Zeit« überlassen? Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er
+für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz sicherlich ein
+Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen.</p>
+
+<p>»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,«
+bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich zu verabschieden, »aber
+um so mehr muß<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> ich ein Wort hinzufügen. Du sprichst so ruhig von
+Recht abtreten, Louis! Aber <em class="gesperrt">ein</em> Recht kannst du doch nie und nimmer
+abtreten. Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit. Das
+mag ja eine altmodische Ansicht sein. Aber ich möchte doch wissen, wie
+Herr Matthieux darüber denkt.«</p>
+
+<p>Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten
+Augen. Zum erstenmal gefiel sie ihm. Eben die Kampflust gefiel ihm.
+Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte, war sie doch ein besserer Wächter als
+er.</p>
+
+<p>»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so fürchten Sie, daß ich mit
+meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber
+übernehmen würde. Wenn es etwas gibt, was Sie von dieser Furcht
+befreien kann, so nennen Sie es nur.«</p>
+
+<p>Der Onkel sah fast verlegen aus, aber sie beachtete es nicht.</p>
+
+<p>»Ich antworte Ihnen als gläubige Frau,« entgegnete sie, die stolz
+war auf baltische Ueberzeugungstreue, »mir bedeutet moralische
+Verantwortlichkeit: schuld sein wollen an einem Menschen, — schuld
+an dem, was an seinem innern Menschen geschieht. Nicht zulassen, daß
+er Schaden daran nimmt. Wie sollte man das ohne Gott, ohne religiösen
+Glauben auf sich nehmen können? Wenn Sie nun Ruth fortgeben, — können
+Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen?«</p>
+
+<p>Ueber Eriks Züge ging ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wußte, der
+sie aber wider ihren Willen ergriff.</p>
+
+<p>»Nun verstehen wir uns,« sagte er mit unterdrückter Bewegung, »denn
+eben das soll mein Recht sein: ich will schuld sein an diesem Kinde!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>Sie fand, es klang arroganter als je. Es war nichts, das ihre
+religiösen Bedenken beruhigen konnte. Aber ihr war dennoch, als habe er
+»Gott« gesagt. —</p>
+
+<p>Erik ging dem Bahnhof zu. Fast kein Mensch außer ihm in den leeren
+Straßen; auch die letzten, die den Sommer in der heißen, ungesunden
+Sumpfluft der Stadt zubringen mußten, entrannen ihr am Sonntag. Nur
+hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Thür einer
+Kellerschenke, oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über
+das schadhafte Holzpflaster, das stellenweise noch weit aufgerissen
+dalag und darauf wartete, daß seine alljährlichen Löcher in schöner
+Mosaikarbeit zugestopft würden.</p>
+
+<p>Verlorene Glockenklänge, die letzten von einer der zahllosen Kirchen,
+zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin, wie Grabgeläute über
+einer Totenstadt.</p>
+
+<p>Erik ging langsam, müden Schrittes heimwärts.</p>
+
+<p>»Nicht zulassen, daß sie Schaden nimmt,« wiederholte er die eben
+gehörten Worte. Ja, genau das wollte er doch. Noch war die Umpflanzung
+in einen neuen Boden möglich, wenn er seinen kleinen Baum behutsam,
+mit allen feinsten Würzelchen, dort eingrub. Nur so konnte er jetzt
+seine Gärtnerdienste an ihm thun, damit derselbe nicht Schaden nehme an
+seiner Entwickelung, die noch in hart und fest geschlossenen Knospen
+vor sich ging, — undurchsichtig von allen Seiten.</p>
+
+<p>Denn manchmal, da wachte etwas Gewaltthätiges in ihm auf, — im
+pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben, der sich am
+Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte, um zu sehen, ob
+eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p>
+
+<p>Aber er fiel sich selbst in die gewaltthätige Hand; er selbst riß Ruth
+sich aus der Hand.</p>
+
+<p>Verdirbt denn ein Vater sein Kind, ein Mann sein Weib, ein Künstler
+sein Werk?</p>
+
+<p>Und ihm schien: seine Liebe zu Ruth sei alles dieses.</p>
+
+<p>Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet; als er kam, wurde
+es einsilbig eingenommen. Klare-Bels Hoffnung, Erik werde erzählen, bei
+wem er den Besuch gemacht, erfüllte sich nicht.</p>
+
+<p>Er wußte wohl, daß er nun davon sprechen mußte. Mit ihr und mit Ruth.
+Es war ihm das Schwerste.</p>
+
+<p>Das dachte er, als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers
+stand und wartend in den Hintergarten hinausblickte, wo Ruth sich mit
+Jonas erging: »Nur nicht sprechen, — nur nicht grübeln, — handeln!
+Sie aus den Arm setzen und forttragen. Handeln! Wer es wortlos dürfte!«</p>
+
+<p>Und nun ging Jonas ins Haus.</p>
+
+<p>Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter.</p>
+
+<p>Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steinrand des Springbrunnens.
+Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast
+im Grase.</p>
+
+<p>Wie sie ihn kommen sah, warf sie ihren Zweig fort und lief ihm
+entgegen. Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch, zum verspäteten Essen,
+und nun schlich sich ihre Hand in die seine.</p>
+
+<p>Ohne recht zu bemerken, was er that, steckte er sie mitsamt der seinen
+in die Seitentasche seiner Joppe.</p>
+
+<p>Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf, aber als sie den ernsten,
+beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah, verstummte sie ebenso
+plötzlich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span></p>
+
+<p>Sie gingen einige Schritte dem kleinen Gehölz zu.</p>
+
+<p>»Heute war ich bei deinen Verwandten, Ruth,« sagte Erik, »sie waren
+beide da. Ich wollte sie einmal etwas auf das hin ausfragen, was wir in
+den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben. Weißt
+du nicht? Ich meine daraufhin, ob du nicht einmal im Auslande tüchtig
+weiterlernen könntest.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn erwartungsvoll an. Dies da interessierte sie sehr und ein
+wenig beunruhigte es sie auch. Denn es handelte sich doch eigentlich
+erst um ein ganz allgemein gehaltenes, unbestimmtes Zukunftsbild, —
+nicht um etwas, was schon erwogen und besprochen werden mußte.</p>
+
+<p>»Nun? und was meinten sie darauf?« fragte Ruth gespannt, als er schwieg.</p>
+
+<p>»Sie haben nichts dagegen einzuwenden, Ruth. Nichts Ernstliches. Da ist
+es denn Bernhard Römer gewesen, an den wir dabei gedacht haben. Dort
+wüßte ich dich im richtigen Hause geborgen. Es wäre fast so, als wenn
+ich selbst bei dir bleiben konnte.«</p>
+
+<p>Ihre Hand, die er noch umfaßt hielt, erkaltete in der seinen.</p>
+
+<p>»Ja, — aber — das ist ja noch so lange hin!« meinte Ruth ganz
+langsam, und dann immer schneller, in wachsender Unruhe: »Es ist doch
+noch lange hin? Sehr lange? Ich soll doch nicht — bald fortgehen? <em class="gesperrt">Von
+hier</em> — — fortgehen!«</p>
+
+<p>Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu, die unter den
+Birkenbäumen standen.</p>
+
+<p>»Komm zu mir,« sagte er sanft, »setze dich zu mir her, mein Liebling,
+und laß uns ruhig darüber sprechen. Ganz ruhig, — hörst du?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p>
+
+<p>Sie folgte ihm schweigend, aber ihre Augen hingen unverwandt, mit
+tausend aufgestörten bangen Fragen, an seinem ernsten Gesicht.</p>
+
+<p>»Sieh, Kind,« fuhr Erik fort, »wenn wir hier, während unsrer
+gemeinsamen Arbeit, an deine Zukunft dachten, dann schwebte sie dir wie
+ein erwünschtes, lockendes Bild vor. Ich wollte, daß du dich später
+weiter entwickelst, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir,
+wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich selbst einst erstrebt,
+könntest, in andrer Form, du einst verwirklichen. Aber was so, als
+Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näher rücken müssen,
+bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich
+wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.«</p>
+
+<p>»— — Wie nahe — — ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum
+war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre
+beiden Hände flach gegen die Ohren preßte.</p>
+
+<p>»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will es nicht wissen! bitte,
+nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.«</p>
+
+<p>Einen Augenblick schloß er die Augen.</p>
+
+<p>Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang dieselben zu sich
+nieder.</p>
+
+<p>»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich
+vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Gerade hiervon werden
+wir weitersprechen. Denn, je mehr du noch davor zurückscheust, desto
+dringender, desto eher muß es geschehen.«</p>
+
+<p>Ruth war sehr blaß geworden.</p>
+
+<p>Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie
+noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> konnte, was aber vor
+ihr empordämmerte, — unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, —
+schattenhaft, gleich einem Riesengespenst.</p>
+
+<p>»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will
+nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!«</p>
+
+<p>Er beugte sich zu ihr und suchte ihren Blick.</p>
+
+<p>»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will
+es? Auch nicht, wenn ich selbst es bin, der dich bei der Hand nimmt,
+dich vor etwas hinstellt, das dir schwer fällt, damit du lernst, es
+herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?«</p>
+
+<p>Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter.</p>
+
+<p>»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln, »— irgend
+etwas Schreckliches ist da, — seit gestern ist es da, — und
+kommt heran, immer näher, — ganz dicht heran, — ganz nahe. Wie
+ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. — Ist es etwas
+Schreckliches — —?«</p>
+
+<p>»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »— nur das,
+was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was
+du mir versprachst? die Probe stellen. Wenn ich es nun thue, Ruth, —
+ziehst du dein Versprechen zurück?«</p>
+
+<p>»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es
+keine Auflehnung. Nur Gehorsam.</p>
+
+<p>»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich thun?«</p>
+
+<p>Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> zusammengezogen, und
+seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen Schmerz.</p>
+
+<p>Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend bei einander.</p>
+
+<p>Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ein rundliches
+gelbes Birkenblatt nach dem andern ihnen in den Schoß. Mühsam schien
+die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den
+Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner, satter Ton
+die Stille um sie.</p>
+
+<p>Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst
+dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal
+in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst thun, was du schon einmal
+thatest, als dir das langsame Herankommen, — Näherkommen von etwas
+Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als Jonas uns die Schlange ins
+Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht
+mehr, was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein
+Mittel?«</p>
+
+<p>»Du sagtest: ›Dann lieber — gleich!‹«</p>
+
+<p>Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen
+ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte.</p>
+
+<p>Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Kniee,
+in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag.</p>
+
+<p>»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein
+Kind! mein Liebling! hörst du mich?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das
+Bewußtsein verloren.</p>
+
+<p>Inzwischen kam Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus
+beobachtet hatte, wie der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz
+hineingegangen war.</p>
+
+<p>Wie versteinert stand er still, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen
+hervortreten sah und Ruth mit geschlossenen Augen regungslos in seinen
+Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die
+linke hing schlaff herunter.</p>
+
+<p>»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halte mir die Thüren
+offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.«</p>
+
+<p>Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus,
+nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzuschauen, und ins Haus
+hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die
+Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen
+oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Thür, durch
+welche man das schmale weiße Bett mit den zurückgeschlagenen Decken
+sehen konnte.</p>
+
+<p>Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht; er wäre so gern
+mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend
+an ihm vorbei und zog die Thür hinter sich zu.</p>
+
+<p>Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der
+Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während <em class="gesperrt">er</em>
+zurückbleiben mußte.</p>
+
+<p>Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches,
+einen starren, wortlosen Ernst, — so, wie wenn Ruth schon so gut wie
+tot sei.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p>
+
+<p>Jonas überlief es kalt.</p>
+
+<p>Er klammerte sich an den Thürgriff und lauschte mit zurückgehaltenem
+Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme,
+halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine
+Pause, — und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber
+so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte.</p>
+
+<p>Was that man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was that der Vater ihr
+an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im
+kleinen Gehölz vor sich gegangen sein.</p>
+
+<p>Und er durfte die Thür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine
+rasche, wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in
+ihm auf: daß er ein Knabe war, und der Vater ein Mann! Daß er nicht
+eindringen durfte mit gleichem Recht, — mit Gewalt!</p>
+
+<p>Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehen,
+wenn sie bei seinem Vater war.</p>
+
+<p>Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben
+der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein.</p>
+
+<p>Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und
+brach in Thränen aus.</p>
+
+<p>»Ruth ist halbtot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt!
+Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, — ich weiß nicht, was
+Papa thut, aber ganz bestimmt thut er ihr weh. Sie darf aber nicht
+sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch
+die Blätter im Garten!«</p>
+
+<p>Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> erschrocken als er
+selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob Erik nicht
+bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam.</p>
+
+<p>»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in
+großer Unruhe entgegen.</p>
+
+<p>»Sei nur ruhig; es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas
+einen Wink, hinauszugehen. Dann trat er an seine Frau heran und sagte:
+»Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend
+vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in
+diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.«</p>
+
+<p>Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen
+Staunens an.</p>
+
+<p>»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du
+denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?«</p>
+
+<p>»Das muß ich doch können, Bel.«</p>
+
+<p>Im beginnenden Zwielicht vermochte sie nicht seine Züge genau zu
+erforschen. Aber dieselben kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und
+diesen Ausdruck kannte sie.</p>
+
+<p>»Erik!« sagte sie ängstlich, »thu nur nichts so gewaltsam. Du siehst
+ja, daß es sie krank macht. — Warum siehst du so hart aus, Erik?«</p>
+
+<p>»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen
+kann ich nicht. Aber ängstige dich um nichts. Ruth wird morgen gesund
+sein, und auch gefaßt. Für ihre Haltung stehe ich ein. Aber sei gut und
+freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.«</p>
+
+<p>»Verreisen? Du reisest fort, Erik? Wohin?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p>
+
+<p>»Nach Moskau.«</p>
+
+<p>»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft.</p>
+
+<p>»Ja. Ihr soll Ruth sich anschließen. Und sie wird sich wahrscheinlich
+hier nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und
+besprechen. Mündlich.«</p>
+
+<p>Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum
+hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen.</p>
+
+<p>Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt.</p>
+
+<p>»Erik!« flüsterte sie, »— laß mich dich bitten: lasse sie noch ein
+Weilchen bei uns. — — — Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!«</p>
+
+<p>»Du — — — Bel?«</p>
+
+<p>»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.«</p>
+
+<p>Er zog ihre Hand an sich, und an den Mund und küßte sie voll Scham und
+Ehrfurcht.</p>
+
+<p>»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht
+sein.« —</p>
+
+<p>Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung
+mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war
+er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau ab.</p>
+
+<p>In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik.
+Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth werde bis zum Spätherbst bei ihnen
+im Haus und dann, vom Hause ihres Onkels aus, nach wie vor in engster
+Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob
+sie dann, später, mit Jonas zusammen auf die Universität abgehen solle?
+Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span>
+an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus.</p>
+
+<p>Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise
+zu üben. Da er es so wollte, mußte es so wohl gut sein. Gut für Ruth.
+Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben.
+Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam.</p>
+
+<p>Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hatte sie
+geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu
+thun. Zum erstenmal fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für
+Ruth, — nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurchging
+und alles auf ihn bezog. —</p>
+
+<p>Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von
+den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer
+einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß
+und ernst, aber gesund, wie Erik es gesagt hatte, und ganz gefaßt und
+still.</p>
+
+<p>Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte Klare-Bel ihr die Arme
+entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denke
+nicht an die Abreise. Noch bist du hier!«</p>
+
+<p>Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht
+verändert hätte, und schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Ich bin schon fort!« entgegnete sie.</p>
+
+<p>Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es lag etwas
+Schmerzlicheres darin, als in Klagen und Thränen, — etwas, das die
+bloße Ankündigung der Trennung schon mit ganzer Wucht als Trennung
+empfand und nicht mehr davon los konnte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span></p>
+
+<p>Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam Erik ihr
+doch hart vor. Wie konnte er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus,
+von Hand zu Hand ging. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die
+wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit
+griff sie nach dem Höchsten, das sie gekannt hatte.</p>
+
+<p>»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,«
+sagte sie zögernd, »wir wissen es nie. Es steht in Gottes Hand.
+Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehen. Gott ist
+allgegenwärtig.«</p>
+
+<p>Ruth lächelte flüchtig.</p>
+
+<p>»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott
+allgegenwärtig ist, wenn die Menschen es doch nicht sind? die Menschen,
+von denen wir fortgehen.«</p>
+
+<p>Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu
+wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen
+zugleich. Wer mochte darauf antworten?</p>
+
+<p>Ueber Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht
+davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht darüber, ihn nicht
+zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in Auflösung begriffen.</p>
+
+<p>Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es
+ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er
+nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war
+seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt.</p>
+
+<p>Gern hätte er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei,
+aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem, fremdem Blick an
+ihm vorbei, daß er es nicht<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> herausbrachte. So begnügte er sich damit,
+so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne
+gelegt, und von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu
+streicheln. Manchmal duckte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß
+Ruth es beachtete.</p>
+
+<p>Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung,
+daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten
+hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt, aus Todesgefahr errettet,
+— wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem.</p>
+
+<p>Spät abends, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war,
+patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf
+und ab, und es that ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte.
+Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett,
+aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder.</p>
+
+<p>Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf
+einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen
+Morgengrauen, noch Licht brennen.</p>
+
+<p>War sie krank? unglücklich?</p>
+
+<p>Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und
+kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte
+Ulme; sie besaß einen bequemen Sattel, von dem aus zwei mächtige Aeste
+sich gabelten. Wie eine Katze glitt Jonas am bemoosten, von den starken
+Niederschlägen der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf.</p>
+
+<p>Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der
+Giebelstube fiel.</p>
+
+<p>Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie
+hinaufgestiegen war, saß sie noch da; die Arme<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> vor sich hingestreckt,
+die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr
+Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über
+die dunkeln Wipfel des Gartens.</p>
+
+<p>Sie schaute so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne.
+Und um die festgeschlossenen Lippen lag ein stiller Ausdruck, — lag
+Ergebung.</p>
+
+<p>Jonas starrte auf sie hin mit weitgeöffneten Augen. Er war so im Bann
+des <em class="gesperrt">einen</em> Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das
+flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht,
+daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, —
+nicht, daß auf ihnen ein offener, halbgefüllter Koffer stand, und daß
+die Wände, ohne den Schmuck seiner Bleistiftsskizzen, kahl und leer auf
+Ruth niederblickten.</p>
+
+<p>Er sah nur sie, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden
+Heiligen, und alles, was in dem gestrigen Erlebnis seine schwerfällige
+Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute
+Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde zu etwas Geheimnisvollem und
+Leidendem für ihn; aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen,
+das seine Schwärmerei wachrief.</p>
+
+<p>In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut von gestern; er sah
+sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, — und sein Herz
+schlug beklommen. Er vermochte die Augen nicht vom Fenster abzuwenden.</p>
+
+<p>Die Nacht war kalt; vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und
+blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz
+klang verschlafen ein Rabenkrächzen.</p>
+
+<p>Jonas fror; er schob die Hände unter seine dünne<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Sommerjacke und
+drückte sich dichter gegen die breiten Aeste, deren Feuchtigkeit ihn
+allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffeln
+klatschend aus die Terrasse nieder.</p>
+
+<p>Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er
+hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte Ruth
+sich. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit
+geweckt.</p>
+
+<p>Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern.</p>
+
+<p>Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten
+Hemde, die zarte Wölbung der Brust.</p>
+
+<p>Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die
+entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Kniee
+und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper
+langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen.</p>
+
+<p>Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh,
+er hatte die Kälte vergessen.</p>
+
+<p>Vor seinen Augen flimmerte es.</p>
+
+<p>Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um
+nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett.</p>
+
+<p>Ueber ihm glomm langsam der Morgen herauf. —</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Als Gonne früh morgens, beim Fegen der Terrasse, den Pantoffel auflas,
+war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos
+vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein
+starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum
+sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber.<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Auf Klare-Bels besorgtes
+Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben.</p>
+
+<p>Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett.</p>
+
+<p>Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn
+erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug
+benutzt.</p>
+
+<p>Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte
+unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun
+seines, — was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften
+von seiner Hand, — der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den
+Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben
+von ihrer Hand.</p>
+
+<p>Da vernahm sie unerwartet im Flur einen raschen, festen Schritt.</p>
+
+<p>Die Thür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine Brust.</p>
+
+<p>Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der
+einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv
+hin.</p>
+
+<p>Um so mächtiger jedoch wirkte der plötzliche Anblick Eriks jetzt auf
+sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, — in diesem einen
+Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der
+bevorstand, — leugnete ihn, vernichtete ihn, — in diesem Augenblick
+wurde alles, — alles gut.</p>
+
+<p>Sie vermochte nichts zu denken, als daß er da war. Und daß sie bei ihm
+war.</p>
+
+<p>Fest, — fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, fest barg sich
+an seiner Schulter ihr Gesicht.</p>
+
+<p>So stehen bleiben, — für immer so stehen bleiben,<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> festgewurzelt für
+immer an dieser Stelle, hineingeschmiegt in die weiten, weichen Falten
+des geöffneten Reisemantels, — nichts fühlen, nichts vernehmen, als
+den starken, dumpfen Herzschlag, der ihr entgegenpochte, — für das
+ganze Leben nichts — nichts mehr.</p>
+
+<p>Sie wechselten kein Wort.</p>
+
+<p>Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten; stumm hielt
+er Ruth an der Brust, schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr
+Haar.</p>
+
+<p>Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern, um ihre
+Hüften, und umschlossen sie mit so gewaltthätigem Griff, daß es wie
+Schmerz und Ersticken über sie kam, — als müsse er sie nun zerbrechen.
+Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust, — sterben, —
+nicht fortgehen, — dachte sie, und es überflutete sie mit einem
+jauchzenden Glücksgefühl, wie sie es nie gekannt.</p>
+
+<p>Erik sah sie lächeln.</p>
+
+<p>Er verlor die Besinnung.</p>
+
+<p>»Wahnsinn!« schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf, »Wahnsinn! Wahnsinn,
+sich zu lassen, wenn man sich liebt.«</p>
+
+<p>Eine Sekunde lang, — dann ließ er sie so jäh los, daß sie
+zurücktaumelte. —</p>
+
+<p>»Erik!« rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer, »Erik, bist du
+wieder da?«</p>
+
+<p>Er hing den Mantel an den Ständer, dann öffnete er die Thür zu der
+Wohnstube, in der sie lag.</p>
+
+<p>»Denke nur, Erik, Jonas ist inzwischen krank geworden, — so schwer
+erkältet, — hoffentlich ist es nicht schlimm. Er hat — — aber was
+ist dir?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p>
+
+<p>Er stand da wie ein Betäubter, das Blut in den Augen.</p>
+
+<p>»Nichts. Ein Schwindel,« murmelte er, setzte sich an den Tisch und
+stützte den Kopf auf die Handflächen.</p>
+
+<p>»Das ist diese übertriebene Eile!« klagte sie besorgt, »— daß es mit
+solcher Windeseile vor sich gehen soll. Wann ist es denn nun, daß sie
+reist, Erik?«</p>
+
+<p>»Morgen, — um Mittag,« sagte er leise.</p>
+
+<p>»Mein Gott, so schnell ist es aber doch rein unmöglich! Denke doch nur,
+was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt.
+Ruth braucht doch gewiß noch manches, was für sie beschafft werden muß.«</p>
+
+<p>»Es kann alles in Heidelberg beschafft werden.«</p>
+
+<p>»Nun ja, Erik. Aber wenn du wüßtest, wie tief es ihr geht. Wie blaß und
+elend sie ausgesehen hat, gestern und heute. Sie ist doch nur zart.«</p>
+
+<p>»Hör auf!« sagte er zwischen den Zähnen.</p>
+
+<p>»Ach, Erik, ich widerspreche dir ja nicht! Das thue ich ja niemals! Sie
+thut mir nur so leid. So allein ist sie, und so liebebedürftig. Und
+nun: von Haus zu Haus, von Hand zu Hand. Und wenn sie nun erkrankt, —«</p>
+
+<p>»Hör auf!« unterbrach er sie außer sich und sprang auf, und warf den
+Stuhl zurück, daß er zu Boden schmetterte, »hör auf, Bel! Es ist genug!
+Ich will es so!«</p>
+
+<p>Damit verließ er das Zimmer.</p>
+
+<p>Mit erschrockenen Augen sah sie ihm nach. Erik war fast immer sanft
+gegen sie, obschon — oder vielleicht weil — ihr Wille gegen den
+seinen nie recht in Betracht kam. In so heftigem Ausbruch hatte sie ihn
+lange nicht mehr gesehen, — wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr.
+Kranke sind gute Lehrmeister!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p>
+
+<p>Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe. Da war ihm der rasche Zorn noch
+nicht verraucht, da ward er leicht heftig, wenn seine Frau nicht ganz
+dem entsprach, was er erwartet, was er mit ihr gewollt hatte.</p>
+
+<p>Seltsam: damals erschreckte es sie nicht, — nein, mehr noch, so
+wunderlich es auch sein mochte: sie liebte diesen Zorn. So deutlich
+fühlte sie, daß Eriks Liebe damit verknüpft war. Gegen einen ihm
+gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden. Mit dem Interesse
+an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen, ihn
+zu formen, zu gestalten, nach seinem Willen umzuprägen. Liebe und Härte
+fielen zusammen.</p>
+
+<p>Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen, da befanden
+sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen: die eine,
+im roten Sarafan, auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel
+dreinschlug, lachte über das ganze Gesicht; die zweite, im blauen
+Sarafan, saß daneben am Weg auf einem Stein, sah neidisch zu und weinte
+sich die Augen aus, indes ihr Liebster mit einer andern spazieren ging.</p>
+
+<p>Das war gewiß eine dumme Geschichte. Aber diese beiden Bauersfrauen
+konnte Klare-Bel gut verstehen.</p>
+
+<p>Niemals sollte sein Zorn sie schrecken: nur, daß er mit seinem Zorn
+seiner Liebe vergäße. —</p>
+
+<p>Der Tag schlich langsam zu Ende. Es war so still im Hause, als ob
+keiner darin anwesend sei. Erik hatte lange bei Jonas gesessen,
+ihn genau angesehen, alles Notwendige veranlaßt und den heftig
+Widerstrebenden gezwungen, sich ganz zu Bett zu legen. Es handelte sich
+um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
+
+<p>Ruth stand auf dem Flur, gegen das Treppengeländer gelehnt. Sie wußte
+selbst nicht, warum sie dort stand. Wahrscheinlich weil alle Thüren
+sich in den Flur öffneten. Und aus einer der Thüren mußte doch endlich
+Erik kommen. Und wenn er kam, mußte er doch zu ihr treten. Sich nach
+ihr umwenden. Er mußte doch einsehen, daß es unmöglich war, so fremd
+aneinander vorüberzugehen, wie er es heute abend that.</p>
+
+<p>Sie wollte so wenig: nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte
+sie, — nur seine Hand fühlen, einen Augenblick lang.</p>
+
+<p>Seitdem Erik sie an sich gerissen, und von sich gestoßen hatte, war
+eine ratlose Verzweiflung über Ruth gekommen. Die äußere Trennung,
+die nahm sie ja hin, wie etwas Furchtbares, aber Unabwendbares, weil
+er es so forderte. Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von
+sich losriß, das konnte sie nicht ertragen. Ihn den Blick absichtlich
+fortwenden zu sehen, — ohne ein Wort der Liebe für sie, ihn wie einen
+Fremden dastehen zu sehen, — das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen.</p>
+
+<p>Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus. Als er Ruth an
+der Treppe bemerkte, sagte er ihr gute Nacht. Sie machte eine Bewegung
+auf ihn zu, ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf.
+Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er gab ihr nur flüchtig die Hand.
+Dann ging er an ihr vorüber, zu Jonas hinein.</p>
+
+<p>Bald darauf siegte die Uebermüdung über ihn; wider Erwarten fiel er in
+einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten
+seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß
+bedeckten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p>
+
+<p>Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und
+gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere
+Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer
+Theaterposse, als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der
+unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick. Und da,
+als er in der Angst des Traumes gewaltsam seine Augen von der Fratze
+wandte, — fort, einem andern Ruthbilde zu, — da wandelte es sich vor
+ihm — zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth, — und
+schamlos, fremden Männern preisgegeben, — einen weißen Körper, der
+nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, —
+und doch wußte er: es sei Ruth.</p>
+
+<p>Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus
+hörte er küssen und lachen.</p>
+
+<p>Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den
+Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an
+Eriks Ohr.</p>
+
+<p>Er richtete sich auf und lauschte.</p>
+
+<p>Das Weinen kam aus Jonas' Bett, welches neben der offenen
+Verbindungsthür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, wie er
+es in den Kissen zu ersticken suchte.</p>
+
+<p>Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas'
+Bett. Als dieser ihn kommen hörte, verkroch er sich nur tiefer in seine
+Decken.</p>
+
+<p>»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker
+geworden?«</p>
+
+<p>»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt
+im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat
+nichts genützt,<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht
+wußte, habe ich gehört! Ich habe gehorcht und habe es gehört!«</p>
+
+<p>Erik schwieg einen Augenblick betroffen.</p>
+
+<p>»Du sprichst im Fieber,« sagte er dann, »was weißt du denn, was hast du
+gehört?«</p>
+
+<p>»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!«</p>
+
+<p>Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen.</p>
+
+<p>Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm die Hand besorgt an die
+trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß seine Hand zurück.</p>
+
+<p>»Nein!« sagte er fast keuchend, — »du willst es ja, — du bist
+es ja — schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth,
+— schützen, denn was weißt du, — wie ihr zu Mute ist. Du weißt
+nicht, hast nicht gesehen, — wie sie daliegt die Nächte, — halb
+ausgekleidet, an ihrem Bett, — wie gestern.«</p>
+
+<p>Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so
+daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß, um den Schmerz zu
+beherrschen.</p>
+
+<p>»Was hast du — gestern — gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme.</p>
+
+<p>Jonas setzte sich auf.</p>
+
+<p>»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie,
+— oder betete, — so geheimnisvolle Augen hatte sie, — und ich habe
+mit ihr gewacht, — ganze Nacht, heimlich, oben, in der alten Ulme vor
+der Terrasse.«</p>
+
+<p>Erik sprach kein Wort.</p>
+
+<p>Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas
+über Stirn und Haar hin.<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen.
+Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten
+liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehen und Mitfühlen, das
+ihn um die letzte Fassung brachte.</p>
+
+<p>Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein
+unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halbverständlich, brachen die Worte
+aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln:
+»Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann es nicht aushalten, daß sie
+fortgeht! Ich war böse auf dich, — nimm's nicht übel, — hilf mir!
+halte sie, Papa! sie bleibt da, wenn du es willst. Früher war ich mal
+eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebst als mich.
+Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich
+liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf
+der Welt!«</p>
+
+<p>Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest.</p>
+
+<p>»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen
+Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst nicht
+hier liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber.
+Nimm dich zusammen.«</p>
+
+<p>Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam.</p>
+
+<p>Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände los
+zu lassen.</p>
+
+<p>»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein
+Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du
+mir folgst, aber anders<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt
+trennen. Wir alle müssen es. Denn morgen schon reist sie fort, und bis
+dahin wirst du nicht aufstehen dürfen.«</p>
+
+<p>Jonas fuhr empor.</p>
+
+<p>»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht!
+Ich muß Ruth küssen, — ich muß sie küssen, — wenn sie geht!«</p>
+
+<p>»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht
+küssen wollen, hoffe ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede
+Widerrede abschnitt; »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern
+auch alles thun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen,
+wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit,
+keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung
+mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du thun. Ich muß mich
+unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen
+soll. — Kann ich es?«</p>
+
+<p>»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er
+konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt.</p>
+
+<p>»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen
+ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas
+war, als spräche er mit den Lauten seiner Mutter zu ihm, »wenn Ruth von
+dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein
+Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran,
+daß du bald ein ganzer Mann wirst, — damit du ihr einst ein ganzer
+Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du, in allem was
+du thust, zu ihr zurück, — ihr nahe. Dulde es<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> nicht, daß sie dich so
+ganz überflügelt und dich einst weit — weit hinter sich zurückläßt!
+Jetzt kannst du zeigen, was du wert bist, — und ob du's wert warst,
+Ruth gehabt zu haben.«</p>
+
+<p>Jonas lag ganz still und lauschte.</p>
+
+<p>»Ja!« sagte er begeistert, »das will ich! ach, Papa, das will ich!«</p>
+
+<p>Und er hob den Kopf und küßte den Vater. Erik hielt seinen Kopf einen
+Augenblick lang an sich.</p>
+
+<p>»Wir werden <em class="gesperrt">nie mehr</em> hiervon miteinander sprechen,« sagte er leise,
+— »nie mehr. Aber vergiß es nicht. Zwinge deine Gedanken auf die
+Arbeit, auf das, was vor dir liegt. Suche dich mit mehr Festigkeit zu
+beherrschen. Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen.
+Streng mit dir sein müssen, mein Junge. Mache es mir nicht schwer.«</p>
+
+<p>»Papa,« versetzte Jonas so zutraulich, wie er sonst nur mit Klare-Bel
+zu sprechen verstand, »ich will mich nie wieder vor dir fürchten. Sei
+so streng du willst gegen mich. Du hilfst mir ja damit, nicht wahr?
+Tüchtig zu werden. So fest und tüchtig wie kein andrer. Ausstechen muß
+ich jeden andern! Hilf mir schnell, ein ganzer Mann zu werden! — Ein
+Mann für — für — ich meine: ein Freund für Ruth.«</p>
+
+<p>Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert; Erik mußte
+ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen. Nun schwieg er; er
+lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft.</p>
+
+<p>Erik war außer stande, sich wieder schlafen zu legen; er kleidete sich
+vollständig an. Er fühlte sich frei; wie erfrischt von einem langen,
+gesunden Schlaf, wie gekühlt<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> und gestählt durch ein erquickendes Bad.
+Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend, die noch auf
+seinen Träumen gelastet hatte, war verflogen. In der Einwirkung auf
+einen andern, dessen Unruhe er bezwang, dessen innerste, widerstrebende
+Gedanken er bestimmte, — im kurzen Kampf mit dem Knaben, der zugleich
+sich gegen ihn auflehnte und ihm vertraute, hatte er sich selbst
+zurückgefunden. Seine Kraft geweckt und gesammelt. Er wußte recht
+wohl, wie es damit stand: wenn er sich am schwächsten fühlte, dann
+erstarkte er an der Kunst, andre in überlegener Behandlung zur Stärke
+zu veranlassen; an der gehobenen und mutigen Stimmung, die er von ihnen
+forderte und in ihnen hervorrief, — an seinen eigenen überzeugten,
+überredenden Worten kletterte er selbst zu neuem Mute, neuer Zuversicht
+empor, wie an einer langen Leiter, die sich manchmal mitten aus seiner
+eigenen Verzagtheit erhob, aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien,
+— bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen.</p>
+
+<p>Viele tausend solcher Leitern, festgehalten von den Händen einer
+Menschenmenge, die ihn umdrängte, die an ihn glaubte, die auf ihn
+angewiesen war, — und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen.</p>
+
+<p>Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen! denn Stützen
+waren es, — wie sehr auch er selbst als der Stützende dabei erschien.
+Niemand ist absolut stark.</p>
+
+<p>Erik wußte recht wohl, wo seine Gefahr lag, wo auch in ihm der
+Schwächling steckte: da, wo er sich allein überlassen blieb.</p>
+
+<p>Draußen herrschte noch dunkle Nacht. Es schlug drei Uhr.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p>
+
+<p>Erik litt es nicht im engen, warmen Zimmer. Er öffnete leise die
+Hausthür und trat hinaus.</p>
+
+<p>Die Finsternis war so dicht, daß er nur langsam der Tiefe des Gartens
+zugehen konnte. Er empfand den aufsteigenden Nebel, ohne ihn zu sehen.
+Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des
+kleinen Gehölzes. Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein
+verlorener Stern. Das letzte Mondviertel, der schmale, blasse Vorläufer
+der Morgenröte, war noch nicht sichtbar.</p>
+
+<p>Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen. Er vernahm
+absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter. Aber er fühlte, daß
+er nicht allein sei.</p>
+
+<p>»Ruth!« murmelte er unwillkürlich.</p>
+
+<p>»Ja! was soll ich?« fragte sie schüchtern.</p>
+
+<p>Mit einem Schritt stand er neben der Bank; er tastete nach ihr.</p>
+
+<p>»Was du sollst?! Im Bett sein!«</p>
+
+<p>Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um.</p>
+
+<p>»Was thust du hier mitten in der Nacht? Weißt du nicht, daß Jonas sich
+in dieser gefährlichen, kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat?«</p>
+
+<p>»Ja, ich weiß es. Aber mir schadet das nichts,« versetzte sie zaghaft,
+»das Fieber thut so gut; ich kenne es gut: da liegt man im Traum und
+hört auf zu denken. Und da dachte ich, ich könnte es auch so gut haben.«</p>
+
+<p>Jetzt fühlte sie seine Hand, die sich fest um ihr Handgelenk legte.</p>
+
+<p>»Was sagst du da?« fragte er ganz langsam, »du <em class="gesperrt">suchtest</em> das Fieber?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<p>»Nein! nein!« rief sie flehentlich, »ich will es ja nur ein wenig, —
+ein klein wenig nur, — nicht so, daß es die Abreise hindern sollte!
+Ganz gewiß nicht!«</p>
+
+<p>Ein Laut brach von seinen Lippen, wie wenn er verwundet würde. Sie
+konnte hören, wie seine Zähne leise übereinanderknirschten.</p>
+
+<p>Er beugte sich über sie.</p>
+
+<p>»Und das — das glaubtest du zu dürfen,« sagte er matt.</p>
+
+<p>»Ja, ich durfte es; denn ich will ja thun, was ich versprochen habe.
+Bin nicht ungehorsam. Nur so ganz allein bin ich. Niemand, der nur ein
+bißchen hilft. Da sollte das Fieber mir helfen. Ich darf thun, was ich
+will, — wenn es nichts aufschiebt,« versetzte sie finster.</p>
+
+<p>»So. Und wenn du nur rechtzeitig fortgekommen bist, meinst du, —
+dann könntest du thun, was du willst? Auch vielleicht dich irgendwo
+hinsetzen und krank werden, wenn dir das ›hilft‹? Du irrst dich, mein
+Kind. Ich lasse dich nicht los, indem ich dich fortlasse. Und aus der
+Ferne sollst du mir doppelt gehorchen. Dein Versprechen geht auf dein
+ganzes Leben. Du bist mein. — Bist du es?«</p>
+
+<p>»Ja!« rief sie inbrünstig.</p>
+
+<p>»Steh auf und geh hinauf.«</p>
+
+<p>»Ich kann es nicht so, — ich muß erst wissen, — wann reise ich?«</p>
+
+<p>»Ich werde es dir morgen sagen. Heute nacht nicht. Du sollst dich
+hinlegen und zu schlafen versuchen. An nichts denken als daran, daß du
+schlafen sollst. Wirst du es?«</p>
+
+<p>Sie war schon aufgestanden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span></p>
+
+<p>»Ja!« murmelte sie, »morgen! Ich muß morgen fragen, was ich will.«</p>
+
+<p>»Das sollst du.«</p>
+
+<p>Er gab ihr die Hand.</p>
+
+<p>»Geh voraus. Gehe nur. Ich folge schon. Warte im Hause nicht auf mich.«</p>
+
+<p>»Gute Nacht!« sagte sie gehorsam und ging.</p>
+
+<p>»Mein Liebling! gute Nacht!« rief er ihr nach.</p>
+
+<p>Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen, nach denen sie
+den ganzen Tag, die ganze Nacht gehungert hatte.</p>
+
+<p>»Verzeih mir! Liebling,« sagte er reuig vor sich hin, während er ihr
+langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in
+dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer
+bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute, — aus
+Furcht vor seinen Sinnen, — und vor diesem unwissenden Kindersinn, der
+ihm mit einem Lächeln entgegenkam.</p>
+
+<p>Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in
+letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und
+gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie
+die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das,
+was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, — mit
+einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das
+nie geliebkoste Kind kennt.</p>
+
+<p>Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie
+umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutterliebe, — aus
+einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller
+Bedenken entschlagen konnte, — daß er sein Liebstes nur noch wie<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> auf
+starken Armen hob und trug, — es einem schlummernden Kinde gleich in
+einem letzten Traum hinübertrug in die fremde, die kältere Welt. —</p>
+
+<p>Der Hausflur war schwach erhellt von dem Licht, das an der offenen Thür
+zu Eriks Zimmer stand. Ruth hing die Joppe über den Thürgriff, und ohne
+sich nach Erik umzusehen stieg sie hinauf.</p>
+
+<p>Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich
+ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des
+Dunkels, der Einsamkeit.</p>
+
+<p>Seit der Stunde seiner Rückkunft gestern verlangte ihn unbewußt nach
+dieser Stille und Einsamkeit.</p>
+
+<p>In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau
+hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag, und Bels
+Stimme ihn rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief:
+»Erik, bist du wieder da?« — Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst
+du fort von mir?«</p>
+
+<p>Und als er sie wiedersah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut
+kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine
+lange, lange — jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau
+nicht gesehen, nicht mit sich genommen, — ja, vergessen hatte. Es war
+fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen.</p>
+
+<p>Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine
+Selbstbesinnung zu.</p>
+
+<p>Aber jetzt — jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die nämliche
+Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete
+er ihr: »Es ist eine lange,<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> lange Reise gewesen. Ich <em class="gesperrt">habe</em> dich nicht
+wiedergesehen all diese Zeit hindurch, — dahin nicht mehr gesehen, wo
+du bist: dich vergessen.</p>
+
+<p>Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks.
+Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollte ich nur
+<em class="gesperrt">einen</em> Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, — in
+eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was
+hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen
+hat, und dasteht wie ein Bettler oder wie ein König, wollte ich meine
+Hände aufheben zu meinem Glück.</p>
+
+<p>Dann — einst — ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und
+Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, um sich
+mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren. Zum Kampf. Zum
+Kampf um mein Glück.«</p>
+
+<p>Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf — — —
+Glück.«</p>
+
+<p>Er öffnete, wie erwachend, die Augen.</p>
+
+<p>Es war hell um ihn. Die Nacht vorbei. Glutrot stand der Himmel, wie in
+Flammen.</p>
+
+<p>Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein
+ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner
+Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden.</p>
+
+<p>Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten
+vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob
+Gonne ihnen wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar
+Krumen zuwerfen werde?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p>
+
+<p>Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit.</p>
+
+<p>Er hatte Bel geliebt, — so sehr, wie, nach seiner Meinung, der Mann
+bisher das Weib überhaupt lieben kann: nicht nur mit der Habgier der
+Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe«
+hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein
+Priester, das nur der eigene, bewußte Wille besiegelt. Es war gewesen,
+wie er damals, im scherzenden Gespräche über die Ehe, zu Warwara
+gesagt: kein Pflichtbewußtsein, sondern das dauernde Glücksbewußtsein,
+seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in
+allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder
+Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu
+ändern vermocht.</p>
+
+<p>Wenn er ihr je untreu geworden in einer heißen Aufwallung des
+begehrlichen Blutes, — oder auch in einem bittern Rückblick auf die
+zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte
+er sich gegen sich selbst auf mit Kraft und Härte. Niemals hätte er es
+doch zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne
+als sein Wille, seine Bürgschaft.</p>
+
+<p>Und nun, wenn er alles sammelte, was er an Scham und Selbstvertrauen,
+an Stolz und Herzensgüte besaß, — wenn er das alles sammelte und
+zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen
+Kampf mit ihm zu schützen? Oder, wenn es denn in der Zukunft zu einem
+solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was
+stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten
+und gegen ihn selbst zu siegen?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p>
+
+<p>Erik schaute geradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er
+wollte, — er mußte ehrlich sein.</p>
+
+<p>Und er sagte sich: »Nein.« — — —</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch
+blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Thee auf sein Zimmer
+bestellt, dann ging er zu Jonas hinein, um nach ihm zu sehen.</p>
+
+<p>Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten.</p>
+
+<p>Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus.</p>
+
+<p>»Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.«</p>
+
+<p>Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster.</p>
+
+<p>Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber
+sie blickten sicher, — fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe
+kalt.</p>
+
+<p>Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück.</p>
+
+<p>»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl.
+Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im
+Garten und — bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen
+gehört uns allein. Uns zusammen. Und den wolltest du krank zubringen.«</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht.</p>
+
+<p>Ganz leise nur beugte sie gegen ihn den Kopf vor, so daß seine Hand
+durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still.</p>
+
+<p>»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich
+etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still thun. Niemals
+in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span>
+schwerer. Aber niemals sollst du es dir erleichtern. Durch nichts. Nur
+war ich dieses Mal selbst nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie
+krank, — nicht wie ich sein sollte. Siehst du, nun beichte ich es dir
+auch. — — — Ist es nun gut?«</p>
+
+<p>Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf.</p>
+
+<p>»Eins fehlt noch,« sagte sie.</p>
+
+<p>Ihm kam ein Lächeln.</p>
+
+<p>»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvolles Fürstenkind?«</p>
+
+<p>»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?«</p>
+
+<p>»Das darfst du. Halte deine Hände offen, Liebling, und laß dich
+beschenken.«</p>
+
+<p>Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knieen,
+und hob ihr Gesicht auf zu ihm, — Trotz in den Augen.</p>
+
+<p>»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.«</p>
+
+<p>Erik stutzte.</p>
+
+<p>Er schaute forschend in ihre Augen, mit dem fest auf ihn gerichteten
+rätselhaften Blick.</p>
+
+<p>»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach.</p>
+
+<p>Sie flüsterte kaum hörbar: »Daß ich erfahre, <em class="gesperrt">warum</em>. Das plötzliche
+Fortmüssen, — — — <em class="gesperrt">warum</em>?«</p>
+
+<p>Er legte ihr die Hand über die Augen.</p>
+
+<p>Eine lange Pause entstand.</p>
+
+<p>»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann,
+»zwischen uns fehlt <em class="gesperrt">eins</em>. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und
+mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, — daß wir im Alter so
+weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> du, das
+gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es
+bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, — mitzuteilen. Aber
+nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen
+dir und mir, — <em class="gesperrt">sie</em> eint uns gerade. Nur sie macht, daß ich dich
+leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll
+knieen kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir
+aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich
+habe den halben Weg schon zurückgelegt. — Oder könntest du das missen?
+möchtest du lieber, ich stände neben dir, von gleichem Wuchs wie du?
+noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.«</p>
+
+<p>»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.«</p>
+
+<p>Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie ihr Herz wild zu schlagen
+begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. — Sie war
+gestern irre geworden. —</p>
+
+<p>Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, —
+sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen:
+Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre
+Gefühle in Gärung gekommen sein, — mochte eine Welt von unverstandenen
+Empfindungen in ihr ringen.</p>
+
+<p>Die feine, ruhige, gerade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so
+kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig,
+— sie schien sich zu biegen, — eine Wendung zu machen: eine Wendung
+zu ihm hin — oder von ihm fort.</p>
+
+<p>Ueber Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> Fähigkeiten
+aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte, und
+jegliche sinnliche Erregung vollkommen niederhielt.</p>
+
+<p>Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück.
+Ihre Lippen zitterten.</p>
+
+<p>»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in
+dir geregt? Brich den letzten Trotz, — denn es war einer. Laß mich
+ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib
+nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich rechtlos.
+Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu
+gehen, ohne ein Warum.«</p>
+
+<p>»Wann — gehen?« fragte sie undeutlich.</p>
+
+<p>Er drückte ihren Kopf an sich.</p>
+
+<p>»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein,
+nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch
+diese Stunde, Ruth. Dann bringe ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der
+ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.«</p>
+
+<p>Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als
+solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte
+nicht länger. Sie gab nach, willenlos.</p>
+
+<p>Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor,
+der sie überfiel. Gestern war sie doch irre geworden an ihm, — und
+morgen? — — da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr,
+was in ihr vorging.</p>
+
+<p>Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh thun will,
+sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh thun <em class="gesperrt">kann</em>.
+Gib dich dieser Liebe,<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> Ruth, — ohne Rückhalt, ohne Zweifel, — gib
+dich ganz. Denke täglich, daß ich es zu dir sage, — des Morgens mit
+deinem Erwachen, des Abends mit deinem Einschlummern: <em class="gesperrt">Ich hab' dich
+lieb.</em>«</p>
+
+<p>Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, — mit grenzenlosem Dank in den
+Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund,
+— ein wenig zaghaft noch.</p>
+
+<p>»Da gehe ich ja nicht fort, — da nehme ich Sie ja mit,« sagte sie,
+fast schelmisch.</p>
+
+<p>Das Glück brach aus ihren Augen, — ja, der Schalk.</p>
+
+<p>Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im
+Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden
+berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie
+sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem
+Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, nicht
+stärker sich aneignen als in diesem Augenblick, wo er sie von sich
+löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war.</p>
+
+<p>Einigung und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges
+Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen
+verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in
+einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens.</p>
+
+<p>»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß
+wir <em class="gesperrt">nicht</em> sind wie ›zwei Kinder im Wald‹, die sich verlaufen? Für
+die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren,
+— verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> von der Hand.
+Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehen siehst, und
+doch um dich weißt — über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie
+jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, — der
+aber doch alles weiß, was dir not thut und gut thut wie —«</p>
+
+<p>»Wie Gott,« sagte Ruth keck.</p>
+
+<p>Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin.</p>
+
+<p>Aus Gespensterfurcht?</p>
+
+<p>Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst
+aufwachen mochte, an unbewußtem, ungeheurem Fordern und Bewundern und
+Erwarten.</p>
+
+<p>Sie sagte es, gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie
+ein Kind einen Kuß gibt.</p>
+
+<p>Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so
+nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, — dem vermessensten.</p>
+
+<p>Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts.</p>
+
+<p>Und er küßte sie aufs Haar.</p>
+
+<p>»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch für dich: wie dein Gott.« —</p>
+
+<p>Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu
+schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das
+Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein
+leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, welche das Gepäck
+aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen.</p>
+
+<p>Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem
+Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte erstaunt auf. Weder er noch
+Ruth machten ein trauriges<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt,
+dort im Zimmer, hatte er es Ruth mitgeteilt.</p>
+
+<p>»Wie er das nur zu stande gebracht hat? Er kann doch alles, was er
+will!« dachte sie bewundernd.</p>
+
+<p>Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in
+beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik
+scherzte darüber, und Ruth harte ihre Schelmengrübchen in den Wangen.</p>
+
+<p>Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln
+Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden
+Perlen überblitzt.</p>
+
+<p>Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen,
+verschämten Gesicht.</p>
+
+<p>Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen.
+Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus.</p>
+
+<p>Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehen, — den
+letzten, grüßenden Zuruf seiner Mutter, — die Thüren gingen, — —
+dann eine Minute der Pause, — — und nun fiel, mit einem schwachen
+Knarren, die Gartenpforte ins Schloß. — — —</p>
+
+<p>Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am
+frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück.</p>
+
+<p>Aber es blieb so still wie zuvor.</p>
+
+<p>Jonas hielt es nicht länger im Bett aus; er stand auf, und seinen
+kalten Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden,
+stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters.</p>
+
+<p>Der Vater war nicht da.</p>
+
+<p>Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> mußte machen, daß er
+fertig wurde, ehe der Vater ihn hier überraschte.</p>
+
+<p>Und seine Feder kratzte über das Papier.</p>
+
+<p>Er schrieb an Ruth:</p>
+
+
+<div class="blockquot">
+
+
+<p>
+<span style="margin-left: 5em;">»Süße, liebe Ruth!</span><br>
+</p>
+
+<p>Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem du
+arbeitetest.</p>
+
+<p>So ungeheuer gern wär' ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollte ich
+aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff
+(vielleicht war es gar nicht dein Zug), da habe ich trotzdem ein
+bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort.</p>
+
+<p>Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will dir noch nicht
+sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange
+ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich dir
+nicht schreiben. Aber dann schreibe ich dir, daß du meine Frau werden
+mußt. Im Spiel hast du es niemals sein wollen, und das hat mich
+manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß
+ich ein ganzer Mann für dich geworden sein.</p>
+
+<p>Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt.</p>
+
+<p>Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es dir gleich schreiben, damit
+du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn du dort einen andern Jungen
+findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja
+hier so ganz umsonst anstrengen.</p>
+
+<p>Aber vielleicht findest du keinen.</p>
+
+<p>Ich küsse dich mit tausend Küssen.</p>
+
+<p class="mright3">Dein Freund,</p>
+<p class="right">(dein zukünftiger Mann,)</p>
+<p class="mright5">Jonas.</p><br>
+
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
+
+<p><i>Pst. Scr.</i>: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf.
+Sonst würde er dich sicher grüßen lassen.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube.</p>
+
+<p>Er stand am Fenster und weinte.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span></p>
+
+<h2>V.</h2>
+</div>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,</div>
+ <div class="verse indent0">Wo's flatternd eine Zuflucht fände,</div>
+ <div class="verse indent0">So bin ich, flüchtend nur, gelangt,</div>
+ <div class="verse indent0">Ein armes Kind, in deine Hände.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, —</div>
+ <div class="verse indent0">Doch nur von Einsamkeit getrieben,</div>
+ <div class="verse indent0">und kniete schweigend bei dir hin,</div>
+ <div class="verse indent0">und wollte nichts, als Etwas lieben.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Und wollte nichts, als, kurze Zeit,</div>
+ <div class="verse indent0">Gleich einem Kind mich wieder wissen,</div>
+ <div class="verse indent0">Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit</div>
+ <div class="verse indent0">Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Nichts, als von kindlich tiefer Qual</div>
+ <div class="verse indent0">Auf einen Augenblick nur rasten,</div>
+ <div class="verse indent0">Nichts, als die junge Brust einmal</div>
+ <div class="verse indent0">In heißer Hingebung entlasten.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Wie ward mir wohl, da ich dich fand,</div>
+ <div class="verse indent0">Als müßte jeder Wunsch sich stillen,</div>
+ <div class="verse indent0">Seitdem du mich, mit sanfter Hand,</div>
+ <div class="verse indent0">Geborgen ganz in deinem Willen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Als würde plötzlich alles klar,</div>
+ <div class="verse indent0">Als müßten alle Wirren weichen,</div>
+ <div class="verse indent0">Seit über das verwehte Haar</div>
+ <div class="verse indent0">Mir deine lieben Hände streichen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Bis daß ein jeder Schmerz hinfort</div>
+ <div class="verse indent0">Versank vor zaubermächt'gem Troste,</div>
+ <div class="verse indent0">Seit, mit dem ersten Liebeswort,</div>
+ <div class="verse indent0">Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;</div><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Bis ganz die Welt um uns versank, —</div>
+ <div class="verse indent0">Und nichts von allem mehr geblieben,</div>
+ <div class="verse indent0">Als nur ein grenzenloser Dank, —</div>
+ <div class="verse indent0">Und nur ein grenzenloses Lieben.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth
+hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten
+Versen.</p>
+
+<p>Er wußte es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen
+Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissene Blatt mit den
+gestammelten Versen gelegen.</p>
+
+<p>Und seitdem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete
+an ihnen.</p>
+
+<p>Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es gethan.</p>
+
+<p>Aber so, — so in jedem Worte würde sie sie gedichtet haben, — ein
+wenig später, — im Rückblick.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Sie saßen alle zusammen.</p>
+
+<p>Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube, in einem großen, bequemen
+Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch: er hatte die Lampe dicht herangerückt,
+um besser sehen zu können, was er in sein Schulheft schrieb. Erik am
+Kamin, in welchem mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte
+er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter, der mit
+Tannenzapfen gefüllt war, ein paar von den braunen, herzigen Zapfen in
+die Glut.</p>
+
+<p>Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der
+leichten Sommergardinen schwere, schützende Fenstervorhänge, am Kamin
+zwei Sessel aus<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine
+Tatzen vorstreckte.</p>
+
+<p>Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging,
+war dieses Jahr die Uebersiedelung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen.
+Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur
+Genesung führte.</p>
+
+<p>In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen
+Stöcken mußte sie täglich einige Schritte thun. »Laufen lernen,« wie
+Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese
+Schritte sollte sie in frischer Luft thun.</p>
+
+<p>Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in
+halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die
+sie vorgehabt, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren
+wenigen Schritten.</p>
+
+<p>Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen
+Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen, blonden Flaum an Kinn
+und Lippe, bückte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte
+er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.</p>
+
+<p>Und Erik blickte in die Glut — —</p>
+
+<p>»Bis ganz die Welt um uns versank —«</p>
+
+<p>Gonne war es, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den
+Abendthee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre
+täglich neu genossene Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen
+wieder Hausfrau zu sein.</p>
+
+<p>»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,«
+bemerkte sie dabei, »man muß sagen:<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> sie schreibt treulich, —
+regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manchmal ein Buch!«</p>
+
+<p>»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?«
+fragte der Vater, »sie will oft von dir wissen.«</p>
+
+<p>Jonas wurde sehr rot.</p>
+
+<p>»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu thun,« murmelte
+er über seinem Theeglas.</p>
+
+<p>»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte
+Klare-Bel, »Ruth ist doch sicherlich begabt, nicht wahr? Und sind ihre
+Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«</p>
+
+<p>»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«</p>
+
+<p>»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es
+ist, — ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang
+erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst.«</p>
+
+<p>Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung,
+selbst des geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie
+umgab, und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, — das alles lag
+neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war
+nicht Verschlossenheit, — es war Haß gegen das Wort, das ungenügende.
+Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, — ehe
+er das nicht wiedergesehen, nicht wiedergehört, war Ruth für ihn wie
+begraben.</p>
+
+<p>Und wieder schwiegen sie.</p>
+
+<p>Der Theetisch wurde abgeräumt. Nur eine Fruchtschale mit Aepfeln blieb
+darauf stehen. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder
+auszubreiten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p>
+
+<p>Erik hinderte ihn daran.</p>
+
+<p>»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen
+Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«</p>
+
+<p>»Ich bin es ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch
+treiben. Einer von den Jungens hilft mir in der Freistunde darin.«</p>
+
+<p>»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins
+Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«</p>
+
+<p>»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit
+russischen Stunden Geld verdienen.«</p>
+
+<p>Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Ueberlaß mir das
+doch.«</p>
+
+<p>»Erlaube es mir, bitte. Thue ich nicht genug für die Schule?«</p>
+
+<p>»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas!
+Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine
+Kraft in den Knochen. Nicht genug.«</p>
+
+<p>»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem
+Ernst, der ihm drollig genug stand.</p>
+
+<p>»Aber der Uebel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,«
+ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters
+mit solchen Citaten kommst, dann werde ich dich noch ganz von den
+leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre.«</p>
+
+<p>Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.</p>
+
+<p>Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei
+andres, das drängte.</p>
+
+<p>Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.</p>
+
+<p>Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten;<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> sie schickte sie
+ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war
+immer noch nicht »Ruth«.</p>
+
+<p>Er nahm eine Mappe vom Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus
+Heidelberg lagen, vom vorigen August bis zum heutigen April.</p>
+
+<p>Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben,
+sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war
+zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine
+Ankunft.</p>
+
+<p>Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein
+kurzer Brief von Frau Römer:</p>
+
+<p>»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch
+einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen
+Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt,
+ich meine es aber auch — als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind;
+wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so entfernen
+Sie auf immer aus Ihren Briefen alles, — auch das Geringste, was
+Sehnsucht wecken könnte.«</p>
+
+<p>Nach einer Woche schrieb Frau Römer:</p>
+
+<p>»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr
+erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder
+bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und
+sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹</p>
+
+<p>Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer, ihrem Bett
+gegenüber, gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hereintrat, um nach
+ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht
+im Bett, —<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den
+Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.</p>
+
+<p>Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, — nun
+ist er fort!‹ sagte sie traurig. Sie war in einer halben Ohnmacht, am
+ganzen Körper kalt.</p>
+
+<p>Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den
+andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.</p>
+
+<p>In aufrichtiger Freundschaft</p>
+
+<p>Irene Römer.«</p>
+
+<p>Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte
+Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:</p>
+
+<p>»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«</p>
+
+<p>In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von
+Eriks Hand, — ein vollständiges Briefkonzept, welches anfing:</p>
+
+<p>»Mein Herzenskind!</p>
+
+<p>Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für
+Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹</p>
+
+<p>In ururalten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche
+einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu fremden und bösen
+Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln beschwören
+ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen gethan haben: aus
+Kleinmut oder Hochmut; aus dem mangelnden Glauben, daß im Willen ihrer
+Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen waltet, — oder
+aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
+
+<p>Du machst es doch nicht ebenso, — gleichviel aus welchem dieser
+beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus
+eigener Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst
+doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen
+Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu
+entführen, die keine ist?</p>
+
+<p>Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich an die Wirklichkeit hingeben, die
+um Dich ist, — ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu
+Hause bist —«</p>
+
+<p>Hier brach das Briefkonzept ab; die nächsten Zeilen waren
+ausgestrichen, — wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm
+sichtlich schwer von der Hand gegangen.</p>
+
+<p>Aber die Konzepte mehrten sich; hinter jedem Briefe Ruths folgte eines;
+Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: <em class="gesperrt">daß</em> sie da lagen, das besagte
+genug.</p>
+
+<p>Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine,
+charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte das Gefühl
+nie ganz los werden, als ob er mit ihr — oder sie mit ihm? — in
+einem geheimen, unbewußten Kampf stände; und doch erquickten ihn diese
+Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein
+herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu
+messen.</p>
+
+<p>Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, — man mußte sich wohl
+darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen,
+was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu
+vernehmen: eine heitere, entschlossene Stimme.</p>
+
+<p>Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> frühern Platz
+legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen
+Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als
+die übrigen, — auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern
+Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich
+verschrieben: da stand einmal »Du«, anstatt »Sie«.</p>
+
+<p>Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm
+beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's
+treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹ sagen.«</p>
+
+<p>Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu
+bleiben, — und er schaute oft hinein.</p>
+
+<p>Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich
+würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen
+nicht. Sie <em class="gesperrt">hatte</em> »Du« zu ihm gesagt, an jedem Tage, in jeder
+Stunde fast, mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum
+verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose
+Nähe.</p>
+
+<p>Erik schob die Briefe von sich; er wollte arbeiten. Arbeiten, — nur
+nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen
+und Gedanken, — dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit
+dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die
+Trennungszeit für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis
+zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für
+Ruth.</p>
+
+<p>Nun der Rückschlag. Nachlassen, — gehen lassen. Es machte ihn fast
+krank.</p>
+
+<p>Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> blauen Schulhefte
+nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war.</p>
+
+<p>Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las
+er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«. —</p>
+
+<p>Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung.
+Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen. Noch zog
+sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte
+Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die
+saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen,
+geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund
+hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel
+und Sonne wieder; vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin
+umher.</p>
+
+<p>Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu thun;
+neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er,
+mit sich daran anschließenden Vorträgen, in diesem Winter durchführte:
+teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener, teils in
+einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.</p>
+
+<p>Diejenigen, die sich hier einfanden, gehörten ebenfalls der Schule
+nicht mehr an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen
+entnehmen, mit denen sie ihn meistens erwarteten. Es wurde nicht
+mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und
+Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen
+Einbildung existierten. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht
+etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines
+Mädchen beim Frühgebet im großen Schulsaal umgefallen<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> und liegen
+geblieben war, — ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen
+wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt,
+auf die Zuckende hingestarrt, welche, Schaum an den Lippen, vor ihnen
+lag.</p>
+
+<p>Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem
+unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen.
+Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden.</p>
+
+<p>»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an, »ich
+möchte wissen, wozu? Ob es dir wohl angenehm ist, daß er immer nur
+Spott für dich hat?«</p>
+
+<p>»Und Lob für dich; da ziehe ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit
+Ueberzeugung; »laß ihn nur spotten, das thut ihm gut, er ist bei
+schlechter Laune. Glaubst du, daß dein Fleiß ihn beglückt, mein
+geliebtes Gänschen?«</p>
+
+<p>»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung
+des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.</p>
+
+<p>Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich
+vermissen, — zum Beispiel Verstand. — — Lieber Gott, was kann es
+nützen, sich so anzustrengen?«</p>
+
+<p>»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte,
+— du am meisten.«</p>
+
+<p>Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne
+ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel,
+den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer
+umstanden war.</p>
+
+<p>»Ich glaube nicht daran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte
+sie; »es wäre der reine Betrug.<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Entweder hat Ruth uns gefoppt, — oder
+wir sind — dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte <em class="gesperrt">das</em>, als sie so außer
+sich vor Entzücken sagten ›O — — dahinter gibt es das ganze Leben?‹
+Wir stehen noch <em class="gesperrt">vor</em> der Mauer, — wie eine Hammelherde.«</p>
+
+<p>»Na, so geh doch hinüber.«</p>
+
+<p>»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, — »noch heute. Wollt ihr? Mit
+<em class="gesperrt">einem</em> Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«</p>
+
+<p>Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.</p>
+
+<p>»Was wirst du thun?!«</p>
+
+<p>Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und
+spitzte den Mund ein wenig.</p>
+
+<p>»Ein Kuß?!«</p>
+
+<p>Sie schrieen jetzt schon.</p>
+
+<p>Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete
+es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie
+eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie
+liebte; er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeregt, fortwährend
+seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe
+seiner selbst stehen, um niemals fehlzugreifen.</p>
+
+<p>Das war hier unnütz.</p>
+
+<p>Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Rapier in der
+Hand, auf Erik zu.</p>
+
+<p>»Sollte es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie
+wolle ihm eine Arbeit vorlegen, »es wäre das erste Mal.«</p>
+
+<p>Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> beugte sich zu
+ihm, — so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes
+berührten sich fast die beiden Gesichter.</p>
+
+<p>Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht
+aushalten können.</p>
+
+<p>Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war,
+kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.</p>
+
+<p>Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste
+Schrei vorherging, ob er folgte, — ob sie sich niedergebeugt, weil
+sie im Stürzen war. — Er hatte auch vom Fall im Schulsaal gehört, und
+jetzt ergriff die Erinnerung daran die Mädchen mit kopflosem Entsetzen.</p>
+
+<p>Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf
+die Bänke, — auf das Fensterbrett.</p>
+
+<p>Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme
+gehoben und trug sie hinaus.</p>
+
+<p>Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer
+zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte
+sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem
+flog; wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und
+jetzt — jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.</p>
+
+<p>Blitzschnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine
+Lippen gedrückt.</p>
+
+<p>Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt
+— hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine
+sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick,
+wo er Ruth,<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett
+getragen.</p>
+
+<p>Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk
+und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügelthür, die den
+Hallengang gegen das Treppenhaus hin abschloß. Er stieß die Thür auf.</p>
+
+<p>»Hinaus. Ohne Wiederkehr,« sagte er kurz.</p>
+
+<p>Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für
+Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse
+wohl denken, wenn sie nie wieder kam? Daß er ihr über die Mauer
+geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.</p>
+
+<p>Und das Schlimmste: sie hatte eine gehörige Beule weg, gerade vorn an
+der Stirn. —</p>
+
+<p>Erik gab sich Mühe, bei der Rückkehr in seine Klasse, der Stimmung
+Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich
+jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher
+Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen, und dennoch fest
+entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut.
+Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte
+jetzt, von was für einer Art von Phantasie.</p>
+
+<p>Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen
+jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse
+auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er
+hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber
+nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein
+mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und
+Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> sich auch noch
+in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er
+bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen
+als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen
+Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu
+geben, so mißlang ihm alles. —</p>
+
+<p>Am Thorweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren
+zusammen nach Hause aufs Land.</p>
+
+<p>Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie
+bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen?«</p>
+
+<p>»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In
+Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur,
+daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du
+dann thun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«</p>
+
+<p>»Wenn ich Medizin studieren werde,« bemerkte Jonas nach einer Pause,
+»dann wird es mir immer vor Augen stehen, das Wunderbare, daß es mit
+Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt zu sein, und ein einziger
+solcher Fall, — das muß auf alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen
+machen.«</p>
+
+<p>»Du bist ein guter Kerl, Jonas. — Ich hätte übrigens nicht
+gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte:
+Naturwissenschaften.«</p>
+
+<p>»Ja, ich selbst auch, — früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine
+so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet überall sein Brot.«</p>
+
+<p>»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht
+sein. Es kam immer noch auf die Stärke<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> der besondern Neigung und
+Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre war dann meine Sache.«</p>
+
+<p>»Ich möchte aber so früh als es geht unabhängig werden, Papa.
+Selbständig.«</p>
+
+<p>»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge?
+Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine
+Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«</p>
+
+<p>Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen
+Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.</p>
+
+<p>Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer
+blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete
+auf sie.</p>
+
+<p>Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf
+den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.</p>
+
+<p>»Aber, Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude
+errötete, »etwas so Kostbares und Ueberflüssiges! Im russischen April!«</p>
+
+<p>»Ueberflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem
+geschliffenen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und
+ich meinte: in einem Landhause müßte er wenigstens drinnen sein, wenn
+er schon nicht draußen ist.«</p>
+
+<p>Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen; sie schlug sie nieder,
+damit er es nicht sähe. Der Frühling <em class="gesperrt">war</em> ja drinnen eingekehrt, <em class="gesperrt">ihr</em>
+Frühling, auf den sie gewartet hatte, wie auf eine Lebenserneuerung
+gerade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig
+geblieben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung
+dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber <em class="gesperrt">das</em> mußte
+sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, — die Trennung von
+Ruth. Solange Bel ihn glücklich gesehen, war sie arglos und sorglos
+geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr, bei Tag und bei Nacht.</p>
+
+<p>»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach
+einer Pause.</p>
+
+<p>»Ja. Noch nicht völlig beendet,« erwiderte er.</p>
+
+<p>Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den
+duftenden Dolden.</p>
+
+<p>»Da war doch, — ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern
+haben?«</p>
+
+<p>»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub' ich,
+eine kurze Zeit bei ihnen wohnen, — draußen am Schloßberg. Sie wollten
+allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«</p>
+
+<p>Eine kleine Pause entstand.</p>
+
+<p>»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«</p>
+
+<p>»Ungefähr zweiundzwanzig Jahre, glaub' ich.«</p>
+
+<p>»Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um
+ein Brotstudium?«</p>
+
+<p>»Nein.«</p>
+
+<p>Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen
+Russen eifersüchtig, — nein, das war er unter keinen Umständen.</p>
+
+<p>»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz
+und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut
+geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd.
+Er<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> kennt ihren Onkel hier. Hat einmal früher mit seinen Eltern dort
+verkehrt, — mit ihr gespielt, als sie acht und dreizehn Jahre alt
+waren.«</p>
+
+<p>Sie lehnte den Kopf zurück.</p>
+
+<p>»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte —
+<em class="gesperrt">müßte</em> er eifersüchtig sein. Trotz seinem starken Selbstvertrauen.
+Jugend sucht Jugend.«</p>
+
+<p>Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein.
+Ich habe einen so großen Wunsch.«</p>
+
+<p>»Einen so schlimmen, Bel? Nun, heraus mit ihm.«</p>
+
+<p>»Ich wünsche so sehnlich, — ich möchte so sehr gern, nur ein einziges
+Mal, — lesen, was du an Ruth schreibst.«</p>
+
+<p>Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich
+darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.</p>
+
+<p>»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«</p>
+
+<p>Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick
+nicht aushielt. Er sah hinweg.</p>
+
+<p>Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, — lesen zu sehen. Am
+liebsten wäre er hinausgegangen.</p>
+
+<p>Er trat an das Fenster und schaute in die Dunkelheit.</p>
+
+<p>Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was es wiedergab, war noch einmal das
+Zimmer, mit der Lampe auf dem Tisch, den zarten Fliederzweigen und der
+lesenden Frau im Lehnstuhl.</p>
+
+<p>Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.</p>
+
+<p>»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »— ich kann mir gar nicht vorstellen,
+daß du so an Ruth schreibst.«</p>
+
+<p>»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen
+habe,« entgegnete er.</p>
+
+<p>»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> hinzu, was nur im
+Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und
+frisch im Wesen, Erik.«</p>
+
+<p>»Nun, — und?«</p>
+
+<p>Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich
+nüchtern,« wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte
+nicht ihr Inneres aussprechen, — und er durfte nicht.</p>
+
+<p>»Ja, — nun, — ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, Erik. Aber
+in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann, mit langem
+weißem Bart und Haar, — ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben
+Gott vorstehen.«</p>
+
+<p>Es durchzuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«</p>
+
+<p>Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was
+für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, — im
+lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, — das mochten wohl zwei
+ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.</p>
+
+<p>Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit,
+ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen
+vermochte. Für <em class="gesperrt">sie</em> war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen
+Persönlichkeit, eine <em class="gesperrt">Verklärung</em> derselben: er hatte ihr ja auch
+mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und gerade das
+idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten,
+— »ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben Gott vorstellen.«</p>
+
+<p>Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an
+seinen Briefen ebensoviel auszusetzen<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> haben, wie er an den ihren. Denn
+er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging an
+derselben vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam — froh. Denn sie litt
+doch nicht? Nein, das that sie gewiß nicht.</p>
+
+<p>Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt
+anregen, bereichern, entwickeln mußte, — sie beglücken und sie
+erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten
+in diesem Leben, — wie mit weit ausgebreiteten Armen.</p>
+
+<p>Nein, sie — sie litt nicht.</p>
+
+<p>Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken
+nach, und wieder wurde es heute ein schweigsames Abendessen. Wie sie
+da zu dreien bei einander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung
+verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner
+von ihnen teil hatte an der stummen Welt des andern.</p>
+
+<p>Als nach dem Essen Erik sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte Jonas,
+ohne Schularbeiten, sich zur Mutter.</p>
+
+<p>»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann
+ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf
+größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand.
+Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.</p>
+
+<p>»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald — viel sein. Wirst du es
+auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel
+— viel Freude machen, Jonas.«</p>
+
+<p>»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen,<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> Mama,« erklärte er
+treuherzig, »das werde ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz
+Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«</p>
+
+<p>»Freust du dich sehr auf das ungebundene, neue Leben draußen?«</p>
+
+<p>»Auf draußen, — ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar
+nicht so schön. Ich finde es viel schöner so, wie Papa es gehabt hat.«</p>
+
+<p>»Wie denn, mein Kind?«</p>
+
+<p>»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir
+nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob —. Eine Studentenstube,
+— ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den
+Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In
+der Ecke ein schönes Skelett und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die
+Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitze ich, — ich meine:
+sitzt Papa.«</p>
+
+<p>»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen
+und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war,
+dann mußte er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In
+einer kleinen Wiege.«</p>
+
+<p>»Eine kleine Wiege?«</p>
+
+<p>Jonas wurde ziemlich rot. An dieses Stück der Zimmereinrichtung hatte
+er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber
+wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch <em class="gesperrt">das</em>, was ihn
+fleißig machte. Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren,
+wenn man's für jemand thut, den man so über alles lieb hat.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p>
+
+<p>»Das sage du Papa lieber nicht. Das würde ihm vielleicht mißfallen. So
+hat er es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so
+ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er.
+Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte,
+da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich
+hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, — mag es noch
+so viel Plage geben, — frisch für meine Ziele: das Mittel bist du,
+Bel‹. Ja, so sagte er.«</p>
+
+<p>Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor seiner Mutter herabsetzen,
+aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.</p>
+
+<p>»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.</p>
+
+<p>Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in
+die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe
+sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr
+Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen
+Arbeiten saß, und sie ihn leise, — ganz leise mußte es sein, —
+umsorgte. Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich
+wie vor Thränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, — saß Jonas; — und
+immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich
+allein, — allein mit dem Sohn.</p>
+
+<p>Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern
+wollte, schreckte der Gedanke sie auf, als müsse sie über irgend etwas
+angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln.</p>
+
+<p>Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus;<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> irgend einer der
+zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte
+sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo,
+in der Nähe des Kaminfeuers, ein Schreibtisch für ihn improvisiert
+worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar
+finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne
+neckend bereits wieder hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das
+Zimmer hin.</p>
+
+<p>Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden.
+Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie
+hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn ihr verraten?
+Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht
+offen sprechen. Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr
+verbarg er sich — befangen und mühsam.</p>
+
+<p>»Wo steckt Jonas eigentlich?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen
+gebeugt.</p>
+
+<p>»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen
+Freund besuchen.«</p>
+
+<p>»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten, — mit dem Freunde?«</p>
+
+<p>»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«</p>
+
+<p>»Ja. Höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das
+muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine
+Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit
+übertroffen.«</p>
+
+<p>»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein
+Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p>
+
+<p>»Ja. Gerade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht
+eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«</p>
+
+<p>»Ach, Erik, wenn er nur brav wird.«</p>
+
+<p>»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus!
+Heidelberg wird ihm gut thun, denke ich, und Römers Einfluß. Man muß
+sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm
+knapp zugemessen werden.«</p>
+
+<p>»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel, »ja, in solchen Dingen ist er immer
+unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der
+lernen kann, zu genießen.«</p>
+
+<p>Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus,
+dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abging. Allerspätestens
+dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon
+früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie mit Beginn der
+Sommerferien in Deutschland abholen konnte.</p>
+
+<p>»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.</p>
+
+<p>Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch — ohne ihre
+stützenden beiden Stöcke. Sie hatte sich selbständig erhoben und war
+durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen, — allein.</p>
+
+<p>Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.</p>
+
+<p>Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er
+blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen
+sollte.</p>
+
+<p>Er bemerkte es nicht.</p>
+
+<p>Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.</p>
+
+<p>»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer
+gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span></p>
+
+<p>Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt
+dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.</p>
+
+<p>Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt.
+Jetzt war er ganz bei ihr.</p>
+
+<p>»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen
+Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir
+schlecht, meine arme Bel.«</p>
+
+<p>Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.</p>
+
+<p>»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.</p>
+
+<p>Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit
+geschlossenen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise
+streichelte, sagte sie: »Siehst du, — ach, Erik, es war ja gewiß recht
+kindisch. Aber siehst du, — hierauf hab' ich mich ja schon so lange
+gefreut. Auf deine Freude, — wenn ich einmal so zu dir käme, — ohne
+Stütze, auf eigenen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller
+Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«</p>
+
+<p>»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme,
+gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.</p>
+
+<p>»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest, und mich in die
+Arme schlössest, — nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich
+stand, aufrecht neben dir stand, — dann wollte ich dich fragen, —
+ganz leise wollte ich dich fragen, — ach, Erik! ich kann es nicht
+mehr.«</p>
+
+<p>Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend,
+mit gespanntester Aufmerksamkeit in das<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> erblaßte Gesicht mit den fest
+geschlossenen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.</p>
+
+<p>»Ich will es dir sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr
+zu lassen, »wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den
+Mut, es zu hören? Willst du es?«</p>
+
+<p>Sie schlug ihre Augen auf, — hilflos, thränengeblendet, — hilflos wie
+ein gestelltes Wild vor dem Schuß.</p>
+
+<p>»Erik!« stieß sie flüsternd heraus, und das Entsetzen vor seiner
+Antwort vergrößerte ihre Augen, »— Erik, liebst du sie?«</p>
+
+<p>Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.</p>
+
+<p>»Ja, Bel,« sagte er laut.</p>
+
+<p>In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom
+das ganze Zimmer, daß Klare-Bels Lider sich unwillkürlich davor
+schlossen, in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel
+selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab,
+und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch
+zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die
+hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er
+draußen vom Strauch geschnitten.</p>
+
+<p>»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »— ich möchte auf mein Bett, — mach's
+dunkel.«</p>
+
+<p>Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem anstoßenden kleinen
+Gemach auf ihr Bett, hinter welchem er die Fenstervorhänge aus den
+Klammern löste und zuzog.</p>
+
+<p>Sie suchte nach seiner Hand.</p>
+
+<p>»Die Briefe, Erik, — wie du ihr geschrieben hast, —<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> war es lauter
+Verstellung? Oder hast du ihr — hast du nicht auch anders geschrieben?
+Niemals?«</p>
+
+<p>»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige
+Mal, daß ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich
+allein. Sie hat's nie gelesen.«</p>
+
+<p>»Du hast es nicht abgeschickt? — Hast du diese Briefe noch, Erik?«</p>
+
+<p>»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren, vernichtet.«</p>
+
+<p>»Wozu hast du es dann nur gethan, Erik?«</p>
+
+<p>»Es half mir.«</p>
+
+<p>Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich
+mußte zu ihr sprechen.«</p>
+
+<p>Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und
+ich hatte keine Ahnung, — nein, keine Ahnung hatte ich, daß du sie um
+deswillen von dir gabst. Nun erst weiß ich es.«</p>
+
+<p>Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte
+sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu
+werden seiner Liebe?</p>
+
+<p>Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an
+dich habe ich dabei gedacht.«</p>
+
+<p>Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute?
+Litt sie nicht genug, — maßlos?</p>
+
+<p>Er vermochte es nicht.</p>
+
+<p>Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück,
+an die offene Thür des Wohnzimmers.</p>
+
+<p>Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das
+Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> mitleidsloser Macht, — mit
+einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.</p>
+
+<p>Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel
+hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner
+Schneeschauer um das Fenster, — dasselbe Aprilspiel wie zuvor.</p>
+
+<p>Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut,
+und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, — ein Duft
+nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich
+dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen
+geputzten Christbaum in der Zimmerecke.</p>
+
+<p>Weihnachten, — — — auch in diesem Winter hatten sie den Baum
+geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum erstenmal hatten sie sich
+wie drei arme Erwachsene gefühlt, die am Fest der Kinder leer ausgehen.
+Erik, der zu beschenken wußte, wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu
+freuen, wie nur ein Kind, war karg, — war wortkarg geblieben.</p>
+
+<p>Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche
+kleinen, kleinlichen Rückerinnerungen heftete.</p>
+
+<p>Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen.</p>
+
+<p>Nicht daß sie jetzt dalag und litt, — aber daß sie so lange — lange
+umsonst auf seine Freude gewartet hatte, in seinen Zügen nach Freude
+gespäht, all diese Monate hindurch, — das erschütterte ihn so tief.
+Genesen war sie, — wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten
+unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit
+tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie
+frohe Kinder darum geschart — —.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
+
+<p>Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr
+hineingehen, er mochte nicht fortgehen. Noch immer ging er auf und ab,
+wie ein Verurteilter.</p>
+
+<p>Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt
+schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das
+Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.</p>
+
+<p>»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht in der Stadtwohnung im Briefkasten.
+Zwei an dich.«</p>
+
+<p>»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«</p>
+
+<p>Während Jonas ans Bett trat, leise, auf den Fußspitzen, griff Erik nach
+den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu
+wissen, warum, erbrach er Warwaras kurzes Billet zuerst: die Bitte,
+morgen bei ihr zu speisen; sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges
+Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen; in etwa einer
+Woche verreise sie bereits ins Ausland.</p>
+
+<p>Erik setzte sich an das Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein
+längerer als sonst. Acht Seiten.</p>
+
+<p>»Lieber Freund!</p>
+
+<p>Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth
+betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum
+Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern
+vorläufig nur eine Möglichkeit.</p>
+
+<p>Sie erraten wohl, daß es sich um Jurii handelt. Ich wußte wohl von
+seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu
+beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen
+Menschen. Jetzt aber<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt, und
+daß er im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem
+Interesse für Sie, es sei denn, daß Ruth ihn wiederliebt. Dafür habe
+ich keinerlei stichhaltigen Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man
+nie ganz ergründen kann, was in Ruth vergeht, und wie sie in ihrem
+innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offener,
+nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt;
+verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie, noch hinter allem
+andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, von dem
+sie selbst nicht recht weiß, aus dem aber dennoch alle entscheidenden
+Gefühle und Gedanken bei ihr kommen. So könnte sie recht gut einmal
+sich selbst zur Ueberraschung handeln, — ihrer ganzen klaren,
+frischen, heitern Unbefangenheit zur Ueberraschung, — und gerade damit
+ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. —</p>
+
+<p>Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vortreffliches
+mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter,
+— mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt,
+ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich
+unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel
+auf einmal. Ueber Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das
+Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da Ruth denselben
+mit ihm teilt, und da die Zeit ihn so gründlich heilt.</p>
+
+<p>Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth
+vorauslaufen, — auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie
+rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache
+stellen wollen. Denn<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> gegen Ihren Willen, — nein, auch nur ohne Ihren
+vollen Willen, — würde ja wohl Ruth nie etwas thun —«</p>
+
+<p>Erik las nicht weiter.</p>
+
+<p>Er überflog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.</p>
+
+<p>Ruths Schweigsamkeit, — war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm,
+eine stille Wandlung?</p>
+
+<p>Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen
+wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine
+Gedanken hin, wie draußen.</p>
+
+<p>»Aprilwetter, — in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über
+sich; »in Angst um eine Aprillaune, — in Angst, in den April geschickt
+worden zu sein!«</p>
+
+<p>Er war so zornig, so ungerecht als möglich, gegen sie, gegen sich
+selbst.</p>
+
+<p>Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über
+die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen.</p>
+
+<p>Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein.</p>
+
+<p>So schlich er sich in seine Stube.</p>
+
+<p>Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen
+ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.</p>
+
+<p>Erik ging zu ihr.</p>
+
+<p>Sie saß aufrecht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher.
+Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem, wie zur Nacht, glatt
+zurückgestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angstvoll
+entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.</p>
+
+<p>Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren
+Händen, und küßte diese.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p>
+
+<p>»Bel, — Bel, — verzeihe mir.«</p>
+
+<p>Sie gab sich Mühe zu lächeln; es war ein merkwürdiges, schwaches,
+kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.</p>
+
+<p>»Ach, Erik, — nicht so. Es ist mir zu — es ist mir so ungewohnt.
+Schrecklich ist es mir. Sprich nicht so zu mir.«</p>
+
+<p>Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.</p>
+
+<p>»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.</p>
+
+<p>»Ja, Erik. Du mußt nicht böse darüber sein. Es sind so alte Bücher, —
+die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte
+mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu
+lesen, Erik.«</p>
+
+<p>Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.</p>
+
+<p>Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen.
+Und das andere. P. A. de Génestets »Laiengedichte«, — diese echt
+holländischen Lieder, in denen Trotz und Glaube, Trost und Zweifel sich
+seltsam genug mischen.</p>
+
+<p>»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht,
+wie nur. — Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt.
+Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. —
+Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen
+liegt drin.«</p>
+
+<p>Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei
+heraus.</p>
+
+<p>»Höre nur, — Erik, — nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es
+schön finden. Es heißt ›<i>Peinzensmoede</i>‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich
+glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p>
+
+<p>Und sie las mit ihrer sanften Stimme:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">»Wo — wo sind die Priester,</div>
+ <div class="verse indent0">Die dich erklärten?</div>
+ <div class="verse indent0">In Rätseln wandelt</div>
+ <div class="verse indent0">Der Mensch auf Erden.</div>
+ <div class="verse indent0">Geheimnis — das Leben,</div>
+ <div class="verse indent0">Geheimnis — der Tod,</div>
+ <div class="verse indent0">Die Schöpfung, sie predigt</div>
+ <div class="verse indent0">Keinen liebreichen Gott.</div>
+ <div class="verse indent0">Natur nur umgibt dich,</div>
+ <div class="verse indent0">Die nicht auf dich hört,</div>
+ <div class="verse indent0">Gleichviel ob sie wohlthut</div>
+ <div class="verse indent0">Oder ob sie zerstört.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Und doch, — nisten Zweifel</div>
+ <div class="verse indent0">Mir auch in der Brust, —</div>
+ <div class="verse indent0">An dich, meinen Vater,</div>
+ <div class="verse indent0">Glaub' ich unbewußt.</div>
+ <div class="verse indent0">Nicht weil deine Schöpfung</div>
+ <div class="verse indent0">Dein Lieben enthüllt, —</div>
+ <div class="verse indent0">Nein! nein! nur trotz allem,</div>
+ <div class="verse indent0">Dem Zweifel entquillt!</div>
+ <div class="verse indent0">Trotz jeglichem Rätsel,</div>
+ <div class="verse indent0">Trotz jeglicher Not,</div>
+ <div class="verse indent0">Trotz Angst und Verderben,</div>
+ <div class="verse indent0">Trotz Schmerzen und Tod!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ich schmachte, vom Schicksal</div>
+ <div class="verse indent0">Zu Tode getroffen,</div>
+ <div class="verse indent0">Meine Hoffnung ist Wehmut,</div>
+ <div class="verse indent0">Meine Wehmut ist Hoffen.</div>
+ <div class="verse indent0">Ich <em class="gesperrt">will's</em> — <em class="gesperrt">will</em> es glauben,</div>
+ <div class="verse indent0">Daß ich deine Hand</div>
+ <div class="verse indent0">Im Leben wohl spürte,</div>
+ <div class="verse indent0">Nur sie nicht erkannt; —</div>
+ <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Will's</em> glauben, was Kirche</div>
+ <div class="verse indent0">und Priester mich lehrten:</div>
+ <div class="verse indent0">Daß niemand umsonst dich</div>
+ <div class="verse indent0">Gesucht hat auf Erden.«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a></div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<div class="footnote">
+<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> Frei nach dem Holländischen.</p><br>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p>
+
+<p>Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig
+gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der
+Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht;
+rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter
+ein Gebet nachspricht.</p>
+
+<p>Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele — in all ihrer
+Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin, — ohne jeden
+falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.</p>
+
+<p>Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es
+geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein
+verirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbouquet.</p>
+
+<p>Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken zu
+Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand.
+Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch: »Dieser
+Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel,
+Bel; ›<i>Peinzensmoede</i>‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde.
+Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung lässig dir
+übergeworfenes Kleid, — ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von
+dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«</p>
+
+<p>Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch
+glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Von wo einen Halt nehmen?
+Du warst mein Halt. Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner
+Hand hinweg, und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid
+anthun? Dich ermorden? <em class="gesperrt">Sie</em> vergiften? Ich<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> bin keiner von den
+Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen.
+Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt
+Hilflosigkeit; — das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer
+Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«</p>
+
+<p>»Weil ich diese Stütze hasse, — diesen Halt, der mich ersetzen soll.
+Nein, weil ich mich dessen schäme, — daß er mich ersetzen muß. Weil
+ich kein Mitleid mehr mit dir habe, — nur noch Zorn und Haß und Scham
+vor mir selbst.« — — — — — — — — — — —</p>
+
+<p>Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein
+Schweigen.</p>
+
+<p>»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, beinahe bittend, »—
+mich macht es glücklich.«</p>
+
+<p>»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. —</p>
+
+<p>Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich
+mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, — als er seine
+Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler
+nehmen ließ, als er war, — und jetzt wieder, wo seine Lippen anders
+redeten, als seine beschämten, zornigen Gedanken, — hatte er gegen
+seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehen
+lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, — aus gerechter
+Ueberzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht
+in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden
+mußte.</p>
+
+<p>Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste
+Natur handeln zu müssen.</p>
+
+<p>Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um
+seine Gedanken von allem loszureißen,<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> was ihn quälte, und auf seine
+Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth
+als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In beiden Fällen war er
+der entthronte König.</p>
+
+<p>»Einen neuen Gott die eine, — einen neuen Mann die andre, — es ist
+fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit
+seiner Gedanken.</p>
+
+<p>In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während welcher
+er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus
+seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, — nur
+durchflogen, — und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl thun, diese
+Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was
+in einem Menschen aufgewühlt werden kann.</p>
+
+<p>Und er las weiter.</p>
+
+<p>»Es ist ja nicht notwendig, daß Ruth sich schon so jung bindet.
+Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, — vielleicht
+nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie
+Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für
+die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wäre ich wohl ein
+nichtsnutziges Ding geblieben, — mit etwas Interesse für Tand und
+einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert
+auf Ruths geistige Entwickelung. Ich auch. Aber dazu verhält sich
+ein frühes gleiches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die
+einzige gesunde, natürliche Grundlage auch des Geistesstrebens im
+Weibe. Nicht nur damit Sie Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja
+gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, — desto besser. Von meinem Mann
+glaube ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> eines jeden Berufes
+unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden
+war. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht
+selbstlos. Wohl aber, um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und
+Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung
+ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten bei einander stehen
+wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe ‹ —.«</p>
+
+<p>Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch. Etwas ganz andres,
+als er gesucht, hatte er darin gefunden, — etwas ganz Unerwartetes:
+einen unbewußten Vorwurf.</p>
+
+<p>Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die
+zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen,
+der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war.</p>
+
+<p>So würde es wohl Frau Römer ausdrücken.</p>
+
+<p>Römers standen eben von vornherein anders zu einander. Sie bewunderten
+sich gegenseitig, — eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht
+darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten.</p>
+
+<p>Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie
+fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbethörend schön, bereits fertig
+mit ihrer kurzen Entwickelung, — ein in gewisser Weise viel fertigerer
+Mensch als er, — was hätte er da wohl andres thun können, als dürstend
+in sich aufzusaugen, was, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, sich ihm
+darbot?</p>
+
+<p>Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in seinen Besitz
+nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung: ihn nicht wieder
+von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf
+hinein zwischen<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Scham und Mitleid, bei jedem leisesten Versuch, sich
+dieser Verpflichtung zu entziehen.</p>
+
+<p>Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. — Auch — Ruths
+Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich,
+stündlich auf sie wirkte, sie beeinflussen mußte, mächtiger als alle
+Worte, alle Grübeleien, — das war Frau Römers Ehe. Eine heilig
+gehaltene, glückliche Ehe.</p>
+
+<p>Sobald sein Unterricht ihn freiließ, ging Erik zu Warwara. Mehr, als er
+es sich selbst gestehen wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach
+Hause zu fahren.</p>
+
+<p>Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange, hagere Engländerin,
+Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer.</p>
+
+<p>»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu
+Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?«</p>
+
+<p>Sie mußte hell auflachen.</p>
+
+<p>»Etwas passiert, — ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.«</p>
+
+<p>»— Verlobt?! — war das die Mitteilung?! — Mit wem?«</p>
+
+<p>Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleichviel, mit wem. Ein Ihnen
+ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen
+Verlobungskarte lesen.«</p>
+
+<p>»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?«</p>
+
+<p>»Wie meinen Sie das?«</p>
+
+<p>»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den Sie
+heiraten wollen.«</p>
+
+<p>»Daran zweifeln Sie?«</p>
+
+<p>Er schwieg.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p>
+
+<p>»Ich will es Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern.
+Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.«</p>
+
+<p>»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.«</p>
+
+<p>»So will ich Ihnen noch mehr eingestehen. Was ich in der Ehe suche, —
+das Glück, das ich suche, — ist nicht der Mann.«</p>
+
+<p>»Sondern?«</p>
+
+<p>Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie
+sich zu schaffen machte.</p>
+
+<p>»Das Kind.«</p>
+
+<p>Erik schwieg überrascht.</p>
+
+<p>Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes
+Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, — mehr, als Sie
+wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat
+gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter,
+als wir gethan, ernste Dinge miteinander teilen sollen.«</p>
+
+<p>»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da
+sagen, macht mich froh. Ich bedurfte gerade dessen.«</p>
+
+<p>»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß
+ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand
+und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen,
+— dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen
+geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und
+Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen
+kann, — das Beste, was in mir ist.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span></p>
+
+<p>»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?«</p>
+
+<p>»Von der Mutterschaft — ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der
+Mutterpflicht. — Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgend
+wann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann gebe ich
+mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen
+heranziehen helfen, Sie Menschenlehrer.«</p>
+
+<p>»Hätten Sie <em class="gesperrt">das</em> Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen
+Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.«</p>
+
+<p>»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen
+Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.«</p>
+
+<p>»Mit andern Worten, keine Kraft zur Pflichttreue.«</p>
+
+<p>»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur, trotz allem, daß Sie im Grunde
+Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können, —
+Menschen oder Ideen, — und da, wo man sehr liebt, sich rückhaltlos
+verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit
+solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, — all die Sicherheit und
+Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, —
+nein, — daran glaub' ich auch für Sie nicht.«</p>
+
+<p>»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut.</p>
+
+<p>»Wie? Sie geben's mir zu?« fragte sie überrascht, »welch ein fremder,
+guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es
+ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig
+wir alle vom Glück sind, — wir armen Weltkinder alle? Vom fruchtbaren
+Erdfleckchen, auf dem auch für<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> uns noch ein ganzes Glück, eine ganze
+Liebe, — und dadurch allein! — auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit
+wachsen kann.«</p>
+
+<p>»Und wenn wir dies Erdfleckchen, gerade dies, nicht bebauen dürfen?«</p>
+
+<p>»Dann verdorren wir, — oder verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie
+auch.«</p>
+
+<p>Ein Diener erschien in der Portierenthür und bat zur Tafel.</p>
+
+<p>Warwara stand auf.</p>
+
+<p>»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?«</p>
+
+<p>»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie einmal vor langer —
+sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹
+Es erkennen, heißt hart werden, — gegen alles, was uns hindert, uns
+fruchtbar auszuleben.« —</p>
+
+<p>Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas
+fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß,
+dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste.
+Er war bemüht, sie zu unterhalten.</p>
+
+<p>Klare-Bel hörte nicht recht hin; ihre Blicke hingen an einem Brief,
+den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der
+Stadtwohnung dort eingelaufen.</p>
+
+<p>Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache,
+thörichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses
+Geplauder hineinredete.</p>
+
+<p>Als Erik, bald nach dem Abendthee, zu Hause eintraf, bemerkte er sofort
+den Brief, der für ihn bereit lag.<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> Sein Blick streifte Jonas, —
+flüchtig nur, — aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehen. Der
+Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, — aber er sollte
+ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an
+Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, —
+auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn
+ja doch den Weg zu Ruth.</p>
+
+<p>Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik, während
+er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, — die Seite umgerissen, —
+eine zweite, blitzschnell, — und er ballte das Papier in der Hand.</p>
+
+<p>Er war grau im Gesicht.</p>
+
+<p>»Erik! was ist es? — etwas Schlimmes, — für dich Schlimmes, — Erik!«</p>
+
+<p>Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen.</p>
+
+<p>Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen
+Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb«, und, am Schluß,
+etwas wie »den Kuß gab ich ihm«, — mehr hatte er nicht gelesen. Er biß
+die Zähne aufeinander.</p>
+
+<p>Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau.</p>
+
+<p>Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe.</p>
+
+<p>»Am Schloßberg. Dienstag.</p>
+
+<p>Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb
+habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen
+ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es.
+Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen, weil ich mit Husten zu<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span>
+Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine
+Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause.
+Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es
+war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich mit
+den Galoschen nicht ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich
+liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das
+sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir
+sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie
+mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt.
+Sterben möcht' ich.‹ Darüber, daß er sterben wollte, wurde ich ganz
+traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm
+und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in
+den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte
+mich ins Bett und kochte heißen Thee auf. Ich lag und weinte, denn ich
+wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein
+könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und
+da lag jemand und that dasselbe. Frau Römer kam herein, und horchte,
+ob nebenan auch jemand weinte und lächelte etwas und sagte, wir wären
+rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein
+Haar zurück (das thut sie gerade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii
+denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja.‹ Da sagte sie: ›Ich
+meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen
+Welt ist? gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste
+auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie:<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span>
+›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es
+später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu
+sein?‹ Das konnte ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie
+küßte mich und ging fort.</p>
+
+<p>Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich
+stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich
+im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die
+aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte.
+Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß.
+Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß
+gab ich ihm auch.</p>
+
+<p>So ist es gewesen.</p>
+
+<p>Ruth.«</p>
+
+<p>Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewendet. Sein Gesicht
+verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein
+Schreck umsonst gewesen war.</p>
+
+<p>Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth that oder
+unterließ, — das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen.</p>
+
+<p>Sie hatte gemeint, das Schwerste sei über sie gekommen: gestern. Aber
+nicht, es zu wissen, war das Schwerste, — nein, es mit wissenden Augen
+zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen
+kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, — das
+war schwerer. Nicht nur schwerer, — unmöglich war es.</p>
+
+<p>Und dann, — wenn Ruth einen andern abwies, — dann liebte wohl auch
+sie Erik. Und wenn sie ihn liebte — dann erst war er für Bel verloren.
+Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten — für Bel; auf Ruths
+Glück<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe
+blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch
+um das Glück des andern.</p>
+
+<p>So empfand Klare-Bel.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr
+auf ihr Zimmer bringen müssen.</p>
+
+<p>Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden
+und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben. Aber
+diesmal gelang es ihm schlecht, — ein gequälter Ton klang durch.</p>
+
+<p>Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine
+Felldecke über den Knieen. Sie sah nicht krank aus. Vielmehr klar und
+gesammelt.</p>
+
+<p>»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge.</p>
+
+<p>»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein
+— ganz allein, — ohne Jonas.«</p>
+
+<p>Und sie umfaßte seine Hand mit ihren beiden Händen.</p>
+
+<p>»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja
+doch bald sein. Laß es jetzt sein!«</p>
+
+<p>Er schwieg einen Augenblick. Diese Bitte war beredt.</p>
+
+<p>»Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will
+alle Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich
+hinbringen.«</p>
+
+<p>»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt.
+Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so
+feine Augen. Vor ihm will ich nicht —«</p>
+
+<p>Sie brach ab; aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz,
+schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen,
+in meinem Elend!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p>
+
+<p>»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen.
+Darauf bestehe ich, Bel.«</p>
+
+<p>»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«</p>
+
+<p>»Was denn?«</p>
+
+<p>Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans
+Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine
+Bel vollkommen, — jede leiseste Regung in ihr kannte er, — und
+beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm
+Entrücktes aus, — etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne es sich noch
+erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames
+Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.</p>
+
+<p>»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist,
+daß auch du verreisen sollst, — so bald als möglich. Nicht erst zum
+Sommer, um mich abzuholen. Bald, — eher, — in den Ostertagen. Wo du
+zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob
+wohl auch sie — —. Ganz gewiß, das mußt du thun. Denn sonst bist du
+zeitlebens unglücklich, Erik. Und das — siehst du — das könnt' ich ja
+nicht aushalten.«</p>
+
+<p>Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die
+Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen das Fensterglas.</p>
+
+<p>Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehen und
+handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!</p>
+
+<p>Wie hatte er nur an Kampf denken können — mit Bel! Kampf? Nein,
+ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie
+beschenkte ihren Räuber,<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> — freiwillig, überreich beschenkte sie ihn:
+»Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, — ich kann's entbehren, bin die
+Stärkere, — ich kann entsagen, — du — nicht.«</p>
+
+<p>Und glühend brannte in ihm die Scham empor, — glühende Scham, — und
+Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein
+Beschenkter!«</p>
+
+<p>Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen
+und benommen war sie von dem Schweren, das sie vorhatte, daß ihre
+Blicke ihn nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.</p>
+
+<p>»Heut nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre!
+Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören,
+an sie zu denken, und ich, — wie sollte ich, — wie sollte ich nicht
+anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik.
+Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es
+kann traurig werden, — sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll
+es nicht. Ich ertrüg's nicht.«</p>
+
+<p>Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, — was wußte sie wohl von »Haß«. Von
+Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen
+Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und
+ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele.
+Sie dachte nichts Häßliches.</p>
+
+<p>»Und nun hab' ich auch verstanden, — heut nacht, — warum ich gesund
+geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum
+wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf
+meinen Füßen stehen und gehen konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«</p>
+
+<p>»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> Exaltation war ihm
+entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik.
+Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt
+du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«</p>
+
+<p>Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie
+von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr
+mein, — dies mehr dein.«</p>
+
+<p>Er trat an ihr Bett.</p>
+
+<p>»Höre mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß — über nichts,
+— ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offener als bisher.
+Denn du weißt nicht alles.«</p>
+
+<p>»Ach, Erik, — sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! — Nichts,
+— nein! Nur eines — hätt' ich von dir erbeten!«</p>
+
+<p>Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie
+sanft fest.</p>
+
+<p>»Es <em class="gesperrt">muß</em> sein, Bel. Du mußt mich hören.«</p>
+
+<p>»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, — sage mir nur erst: — hast du —
+ihr schon geschrieben?«</p>
+
+<p>»Ja,« versetzte er erstaunt.</p>
+
+<p>»Ich meine — den <em class="gesperrt">andern</em> Brief?«</p>
+
+<p>»Ja, — auch den andern.«</p>
+
+<p>»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, — das hast du doch?«</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er
+an die Tasche seiner Joppe. Es knisterte leise unter seinen Fingern.</p>
+
+<p>»Erik! — das ist das Einzige, — was ich von dir erbitten wollte.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p>
+
+<p>Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne, zerknitterte Papier,
+— wieder stieg eine Blutwelle ihm ins Gesicht, — wieder die Röte der
+Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, — nur das nicht! Das
+konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, —
+sein Heiligstes und sein Unheiligstes, — den Aufruhr der wildesten
+Stunde, — die Andacht der stillsten —.</p>
+
+<p>Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, —
+tausendmal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war,
+was sie erfahren mußte, — sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr
+war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, — wenn er selbst es
+war, mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, mit allem
+Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, — dann war es gut so.</p>
+
+<p>Vor seinen Worten scheute sie sich, — vor der endgültigen Klarheit:
+und in dieses Dunkel griff sie verlangend, — vermessen. Wer ergründet
+wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier!</p>
+
+<p>Er reichte ihr das zerdrückte Blatt, — zusammengeballt war es zu einer
+Kugel.</p>
+
+<p>»Du hast es gewollt.«</p>
+
+<p>Dann verließ er sie.</p>
+
+<p>Nebenan im Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas
+hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen.</p>
+
+<p>Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere.</p>
+
+<p>»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht
+entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleids, — nicht in der
+schlimmern: der Versuchung der Scham.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span></p>
+
+<p>Ihm war, als handle es sich gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch
+weniger um ein Weib, — nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch
+sein konnte, — um alles, was er überhaupt berühren konnte, schaffend,
+wirkend, liebend, — um sein eigenes Menschsein.</p>
+
+<p>Es konzentrierte sich alles in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen,
+die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.</p>
+
+<p>Entsagen hieß: in die Wüste gehen, — nicht nur mit seiner Liebe,
+— auch mit seiner Thatkraft, — mit seiner Kraft überhaupt, — ins
+Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.</p>
+
+<p>Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit
+standhielt? Ja, in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines
+andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, — keiner Augen, die da
+glaubten, und warteten, und an sie appellierten?</p>
+
+<p>Ja vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die
+Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln, — spottend oder
+genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eigenen Erregungen
+sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, — auch sie ihr
+eigenes Publikum!</p>
+
+<p>Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher
+auch hilflos in sich selber, — wenn sie sich nicht dadurch helfen
+können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken, — und sich selbst
+erkennen, wiedergespiegelt im Auge eines andern.</p>
+
+<p>Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch
+in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und schüchtern war und
+keineswegs ihr eigenes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen
+suggerierten Zuschauer, — mit dem da oben, der alles sah.<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Auch sie
+hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, — das
+Gottesauge, den blauen Himmelsspiegel!</p>
+
+<p>Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels
+kleinem Nebengemach. Es war, als wolle sie Erik in seinen bittern
+Gedanken unterbrechen, — widerlegen.</p>
+
+<p>Er trat zur offenen Thür.</p>
+
+<p>Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den unteren Rand
+der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot, in den Händen vergraben.</p>
+
+<p>»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel
+bist, und in die Herzen der Menschen hineinsiehst, nimm mir meine Liebe
+aus meinem Herzen!« —</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der
+Straße traf und von der bereits jetzt bevorstehenden Abreise seiner
+Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige
+Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu
+lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie
+der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen
+mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer
+Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß
+die Gatten sich nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.</p>
+
+<p>Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete Erik sich nur kurz und hastig von
+ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.</p>
+
+<p>Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn
+eigentlich als Mann in seinem eigenen<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> Heim befriedigt, aber als
+Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend
+oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit
+gelegentliche Versuche, die hungernde Thatkraft durch Näschereien und
+Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so
+völlig zurückgezogen lebte, — schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus
+der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war,
+die ihn einst fesselte, und die er gefesselt hatte? War eine Frau im
+Spiel? —</p>
+
+<p>Wenige Tage später, an einem Sonntag vormittag, wollte Warwara eine
+notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik
+vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der
+Grenze heimgekommen sei.</p>
+
+<p>Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte
+sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß
+eine ganz junge Dame und blickte mit großen, erwartungsvollen Augen zum
+Fenster hinaus.</p>
+
+<p>Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr
+zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Aeußerlichkeiten auf.</p>
+
+<p>Ein zarter, geschmeidiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue
+Tuchkleid mit offenem Jackenteil, auf tiefrotem englischen
+Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen
+weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte, in ungeduldiger
+Bewegung, unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken
+Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und
+Schläfen in seinem Gelock aus einem weichen Barett von dunkelblauem
+Sammet hervor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p>
+
+<p>In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht,
+an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr
+Gegenüber, daß dasselbe sich ein wenig befremdet nach ihr umwandte.</p>
+
+<p>Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend
+ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.</p>
+
+<p>Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.</p>
+
+<p>»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend:
+»Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte
+und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben: Ihr
+Vorname.«</p>
+
+<p>»Es genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben Einen
+Weg?«</p>
+
+<p>»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte
+nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines
+reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten
+Sie?«</p>
+
+<p>Ruth errötete und schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Nein; ich bin sehr — ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,«
+entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.</p>
+
+<p>Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, — die
+›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals
+hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«</p>
+
+<p>»Da wird es Ihnen leid thun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut,
+»denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen?
+Sie ist schon abgereist.«</p>
+
+<p>»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnte ich ja noch nicht wissen! Es
+hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das thut mir leid!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p>
+
+<p>Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß
+Warwara sich schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon; es war nicht
+verabredet; was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie sich,
+und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth: »Nein, kein schlimmer
+Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man es nie hat erwarten dürfen,
+und nun geht es stetig bergauf. Im Anfang des Winters hat sie freilich
+noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz:
+›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Eine
+Operation hat er selbst gemacht, weil die Aerzte es nicht wollten —
+ohne Betäubung. <em class="gesperrt">Der</em> Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig
+geschüttelt. Ich hab' ihn ein paarmal gesehen: blaß wie ein Tuch.«</p>
+
+<p>Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die
+Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als
+Warwara schwieg, atmete sie tief auf.</p>
+
+<p>»Das schrieb er nicht, daß er selbst, — — daß er ihr eigentlich
+selbst die Gesundheit wiedergegeben hat. Aber so mußte es sein! Er
+kann alles, was er will! Und das wollte er <em class="gesperrt">so</em> aus voller Seele, daß
+sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie
+grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten
+geleitet hat! Nun, wo es ist, wie <em class="gesperrt">er</em> will: <em class="gesperrt">wo sie glücklich</em> ist.«</p>
+
+<p>Sie sprach hingerissen; ihre Augen blitzten.</p>
+
+<p>Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie
+damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil
+wie ein Wesen, an dem alles Beseelung und nichts mehr Form<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> ist. Eine
+Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, — — und
+Liebe? Dann konnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und
+Freude sprechen. Keine Liebe? Dann konnte sie nicht mit diesem Blick
+und diesem Ton sprechen.</p>
+
+<p>Der Zug hielt. Sie stiegen aus.</p>
+
+<p>Warwara bequemte sich dazu, eines der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu
+benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen, und deren Kutscher sie
+sofort umschrieen. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.</p>
+
+<p>Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.</p>
+
+<p>»Es ist etwas an ihr, das nicht in das Leben gehört, — Poesie. Poesie
+im Konflikt mit dem Leben, — was ergibt das wohl?« dachte sie; — »es
+ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte: —
+o pfui, nein! — oder: die letzte eines Märchens.«</p>
+
+<p>Ruth ging langsam hin, zwischen den kahlen Birken am Wegrande; nicht
+in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden
+Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein, als ob er in
+tausend Blüten um sie stände. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht,
+— und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer
+Gegenwart. Man hörte ihn; in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang
+er von den blattlosen Zweigen.</p>
+
+<p>Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in
+verhaltenem Glanze nieder, — Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft,
+verhüllt, und wie eine Verheißung.</p>
+
+<p>Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte.
+Sie öffnete, durchschritt den<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> Garten und stieg, zaudernd, leise, ein
+paar Stufen zur Terrasse hinauf.</p>
+
+<p>Vorsichtig vornübergebeugt spähte sie von der Seite her in das breite
+Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.</p>
+
+<p>Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt; hinter den Tellern mit
+kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.</p>
+
+<p>Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand,
+an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ dasselbe an der
+roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die
+Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu
+fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark
+an Erik.</p>
+
+<p>Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen; es glitt plötzlich von der
+Gabel und fiel hinein.</p>
+
+<p>Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um, und spießte ein neues auf;
+diesmal gelang es besser.</p>
+
+<p>Dann spülte er einen Theetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und
+machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter
+den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte
+ihm die Hand.</p>
+
+<p>Jonas machte den Mund weit auf und fing an auf einem Bein im Zimmer zu
+tanzen.</p>
+
+<p>Vom Fenster erklang helles Gelächter.</p>
+
+<p>Er blieb stehen, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm
+niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck, als trauten sie
+sich selbst nicht, richteten sich seine Augen nach dem Fenster.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p>
+
+<p>Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschlossenen
+Scheibe, das ihn auslachte, und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob
+er Ruth träumte, oder ob er Ruth sah.</p>
+
+<p>Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, daß
+es dabei fast in Splitter schlug, und heraus streckten sich die Hände
+nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.</p>
+
+<p>»Aber, Jonas! laß mich nur erst zur Thür hineinkommen!«</p>
+
+<p>»Nein, — nicht!« murmelte er, als könne sie ihm doch noch wieder wie
+ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich laß dich
+nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehen. Setz den Fuß auf die Rampe, —
+ganz fest, — hörst du? Ich hebe dich.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.</p>
+
+<p>Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im
+Zimmer.</p>
+
+<p>Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie da vor ihm stand, nicht
+mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine
+grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.</p>
+
+<p>»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, — von wo bist du nur
+gekommen?« Er starrte sie an, als sei er überzeugt, daß sie vom Himmel
+gefallen sei.</p>
+
+<p>»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. — Und — dein Papa?«</p>
+
+<p>»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge
+macht er, allein, — seit Mamas Abreise.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p>
+
+<p>»O Jonas, — daß Mama gesund geworden ist, — nicht wahr? Ist es nicht
+wie ein Wunder, — immer noch?«</p>
+
+<p>»Ja. Und jetzt werde ich auch Arzt. Weißt du es? Für den Fall, daß du
+später einmal krank wirst.«</p>
+
+<p>Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen,
+übermütigen Augen.</p>
+
+<p>»Hoffentlich werde ich später einmal krank. — — Wie ist es dir nur
+ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«</p>
+
+<p>Er sah rot und verwirrt aus.</p>
+
+<p>»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, — ich dachte ja, — — Du! willst du
+nicht eine Tasse Thee haben?«</p>
+
+<p>»Nein, danke,« sagte sie lachend; »aber die Hauptsache ist: bald kommst
+du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas. Da studieren wir
+zusammen.«</p>
+
+<p>»Ja,« versetzte er tiefatmend, »— endlich: — bald! endlich! endlich
+zusammen! Ja, — siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. —
+— Hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender
+Heftigkeit fort, »— muß in deiner Nähe sein, Ruth. — Bei dir. Ja,
+— du! — ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, — — nimm mir's
+nicht übel, — aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab'
+nichts, bin nichts, — muß mich eben erst durchbeißen, — aber bei dir
+sein will ich wenigstens, — jedem die Faust zeigen, der's auch will,
+— der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen
+jeden — —«</p>
+
+<p>»Jonas! Du rasest!«</p>
+
+<p>Sie war aufgesprungen, blaß vor Schreck.</p>
+
+<p>Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, — und plötzlich
+stürzte er vor ihr in die Kniee, das Gesicht in den Falten ihres
+Kleides.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p>
+
+<p>»Ach, Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, — es war ja so schrecklich
+für mich, — all die Zeit, — so stumm in mich hineingewürgt, alles.
+Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, — es kommt nie wieder,
+bis —: Ich weiß, — ich darf noch nicht. Aber einmal, — <em class="gesperrt">einmal</em>
+mußt' ich, — ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so
+grenzenlos unglücklich, bis — bis du mein — mein — geworden bist!«</p>
+
+<p>»Jonas!« flüsterte sie, »— Jonas, ich bitte dich, — steh auf, — laß
+mich los, — du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht —«</p>
+
+<p>Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern
+losen wollte, — er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte.</p>
+
+<p>»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer
+unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine
+Zähne in ihren Handrücken.</p>
+
+<p>Dunkel drang das Blut vor.</p>
+
+<p>Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg.</p>
+
+<p>Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand.</p>
+
+<p>»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Thränen aus, »Ruth
+— hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was —
+was sind wir uns denn? was — in Zukunft?«</p>
+
+<p>Sie faßte ihn an beide Schultern; — angstvoll und liebevoll sah sie
+ihm ins verstörte Gesicht.</p>
+
+<p>»Jonas! Jetzt, — und in Zukunft, — und immer, — <em class="gesperrt">Geschwister</em>!«</p>
+
+<p>Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen
+Schritte bis zur Thür, öffnete sie, —<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> und stürzte hinaus, über die
+Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten.</p>
+
+<p>Totenstill wurde es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und
+lohten hell auf im Kamin.</p>
+
+<p>Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer
+Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in
+Flammen stand.</p>
+
+<p>Was that sie hier, — allein, — im Hause, — ein Eindringling, — der
+Jonas hinausgetrieben?</p>
+
+<p>Die Thür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!«</p>
+
+<p>Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr
+großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, — leer. — — —</p>
+
+<p>Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe
+des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf
+der Bank unter den überhängenden Birken.</p>
+
+<p>Erik blieb stehen, blickte schärfer hin, und kam langsam näher. Sie
+bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht, in den
+grauen Frühling hinein, so daß sie <em class="gesperrt">da</em>, — in unsicheren Umrissen,
+— dann immer lebenswärmer, — immer beseelter vor seinen Augen, kein
+blasses Gedankenbild mehr: Wirklichkeit. Weich hob der blonde Kopf sich
+ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die
+Sonne matt durchdrang, in einem Schattenspiel von rosigvioletten Farben.</p>
+
+<p>Ruth überfiel es wie eine Schwäche, lähmend, je näher Erik ihr kam, je
+näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause!
+jetzt erst zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben
+sich ihm entgegen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p>
+
+<p>Dieses seltsam Stille, dieses Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder
+lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, — als fürchte er zu
+verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und
+überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde.</p>
+
+<p>Ueber Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf
+schwankendem Zweig und sang hell.</p>
+
+<p>Wie Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog
+davon.</p>
+
+<p>Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog
+ihre Hände fest an sich.</p>
+
+<p>»Lieb' — Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht.</p>
+
+<p>»Ich, — — der Brief, — er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas
+Fremdes, — Zweifel war darin. Ich mußte fort.«</p>
+
+<p>Er hörte nur ihre Stimme; er mußte sie wieder hören.</p>
+
+<p>»Mit dem Rotkehlchen — hergeflogen?« fragte er.</p>
+
+<p>Sie sah ihn an, — etwas zaghaft, etwas schelmisch; »Durchgebrannt,«
+sagte sie.</p>
+
+<p>Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen.</p>
+
+<p>»Von Römers?!«</p>
+
+<p>»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie —
+sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹
+sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, — heimlich.
+Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. — Durfte ich?«</p>
+
+<p>Sie fragte es schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie
+ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knieen gelegen, —
+aber das sagte sie nicht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p>
+
+<p>Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem
+Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie.</p>
+
+<p>»Ob du durftest? — <em class="gesperrt">Heimkommen</em>, — ja! Bei Tag und bei Nacht;
+heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wäre ich gekommen
+— zu dir. Vergiß den Brief, — alle Briefe, — das Fremde, den
+Zweifel, — vergiß alles — alles. Sei nur bei mir.«</p>
+
+<p>Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend,
+Heimatsgefühl, — nein, mehr als nur das, noch etwas andres, — dieses
+Unbedingte und Ausschließliche, das keine Macht im Himmel und auf Erden
+ihr gab: nur er ganz allein.</p>
+
+<p>»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und
+wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Thut es so weh?«</p>
+
+<p>»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt
+über ihr Glück.</p>
+
+<p>Erik stand auf.</p>
+
+<p>»Komm hinein. Komm, Liebling. <em class="gesperrt">Zu Hause</em> bist du erst in meinem Zimmer,
+— im alten Ledersessel, — nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt
+für dich, zu windig.«</p>
+
+<p>Während sie dem Hause zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch
+einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm,
+daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir thut es so
+leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig — —«</p>
+
+<p>»Laß das,« unterbrach er sie halblaut, »— ich werde dir später alles
+erzählen, — später.«</p>
+
+<p>Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm. Etwas, das sie fremd
+berührte, klang aus seinem Ton. Es war<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> nur ein einzelner
+durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr
+in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, — wie vorhin,
+— bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher.</p>
+
+<p>Erik ließ sie unbemerkt einen Schritt vorausgehen.</p>
+
+<p>Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen
+aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark
+gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper kräftiger,
+weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen,
+weichen Formen ab.</p>
+
+<p>Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn.</p>
+
+<p>»Der Knoten nimmt dich mir fort, — den duld' ich nicht,« sagte er
+beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit
+geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In
+dichten lockigen Wellen fiel es nieder bis zum Gürtel, wie einst.</p>
+
+<p>»Ach nein, — nicht, — wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt
+und griff nach dem Rücken.</p>
+
+<p>»In meiner Joppentasche. — Aber wiederhole das noch einmal. Nun?
+›Sie?‹ oder ›Du?‹. Im Brief stand einmal ›Du‹. Nur einmal? Oder
+eigentlich — immer?« fragte er leise.</p>
+
+<p>Sie errötete verwirrt.</p>
+
+<p>»Sie — — du — — ich —«</p>
+
+<p>Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich ihren Kopf
+nach vorwärts, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm
+aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und
+gab seiner Hand nach.</p>
+
+<p>Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p>
+
+<p>»Mein. Mein Fürstenkind, meine Königin,« flüsterte er.</p>
+
+<p>Und er beugte sich, und seine Lippen küßten den leise bebenden Mund.</p>
+
+<p>Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei, und öffnete die Thür zu
+seinem Arbeitszimmer.</p>
+
+<p>»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging dem Fenster
+zu. Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb
+sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln
+gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie
+hinauf zur Zimmerdecke mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht.</p>
+
+<p>»Was ist dir?« fragte er unruhig, »— Ruth! — was ist dir?«</p>
+
+<p>Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, — sie wachzuküssen: »Du
+liebst mich, — du liebst mich ja, du weißt es noch nicht, aber ich
+weiß es für dich! Weiß es gewiß, — fühle es, sehe es, daß sie da ist,
+— daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!«</p>
+
+<p>Aber er schwieg.</p>
+
+<p>Ja, sie war da, — und doch konnte er so nicht handeln, so nicht
+sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, — wie das Rotkehlchen
+auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da,
+— aber greifen konnte er sie nicht.</p>
+
+<p>Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann
+setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster.</p>
+
+<p>»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz
+zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, —
+will mich nicht<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner
+Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.«</p>
+
+<p>Da löste sie sich vom Ofen, sie flog zu ihm, sie glitt nieder zu seinen
+Knieen, — ganz blaß.</p>
+
+<p>»Ja!« sagte sie außer sich, »— fremd, — etwas Fremdes, — ich kann es
+nicht verstehn und quäle mich.«</p>
+
+<p>»Was ist es? Sage es mir.«</p>
+
+<p>»Ich kann nicht,« murmelte sie.</p>
+
+<p>»Doch, doch! Du kannst. Mußt es wieder lernen, — zu sprechen, oder
+auch nur zu stammeln, aus dem Innersten heraus, — noch aus dem
+Unklarsten, Unverstandensten —. Es ist nur Scheu. Ueberwinde sie.«</p>
+
+<p>»Es ist, — im Kuß war es,« sagte sie leise.</p>
+
+<p>»Hat es dich verletzt, — daß ich dich geküßt habe?«</p>
+
+<p>»Mich?! verletzt? mich?! nein! — was liegt an mir?«</p>
+
+<p>»— Für mich — alles, Ruth. — Aber warum quält es dich dann?«</p>
+
+<p>Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.</p>
+
+<p>»— Weil, — es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen,
+— als ob er gar nicht von Ihnen kam, — und dann: wie ich von Ihrer
+Frau sprach, im Garten, — und dann: im Kuß, — da fühlte ich es ganz
+deutlich, das Fremde darin, und daß es — —«</p>
+
+<p>»Daß es —?«</p>
+
+<p>»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob <em class="gesperrt">Sie</em> es
+nicht sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.«</p>
+
+<p>Er antwortete nicht.</p>
+
+<p>Wie sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen
+geschlossen.</p>
+
+<p>Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme:<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> »Du täuschest dich.
+Es ist nichts Fremdes, — nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, —
+und in dir selbst ist es, du erkennst es nur nicht, — mit deinen
+Kinderaugen.«</p>
+
+<p>Er strich ihr über das Haar hin, und sah hinweg über sie, die, den Kopf
+unter seiner Hand gebeugt, erwartungsvoll lauschte.</p>
+
+<p>»Weißt du noch, — als du das erste Mal hier warst, — was wir da an
+dieser Stelle miteinander sprachen, und was ich dir versprach? Ich
+wollte dich aus der Welt der Phantasie, in der du träumtest, in die
+Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und
+du bist nicht das Kind mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender
+Mensch, der lebt, — lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt
+du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe
+bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab,
+wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen,
+alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser
+Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht
+auf die Wirklichkeit, sondern, über jede Wirklichkeit weit hinaus,
+auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest
+und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem über alle
+Menschen emporgehobenen Bilde, — in deinem Innern. Aber diese ganze
+Traumschönheit, Ruth, in der dein Verhältnis zu mir noch steht, —
+sie ist dennoch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche
+Umhüllung, — nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem
+Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> wartet
+darauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie
+dein ganzes übriges Wesen.«</p>
+
+<p>Er brach ab.</p>
+
+<p>Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu
+folgen.</p>
+
+<p>»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause
+fort, »habe ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben
+aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem
+Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem
+ganzen Herzen verwachsen ist, — und dir Schmerz damit zufüge, — wirst
+du dein Vertrauen behalten, Ruth, deine Liebe — zu mir?«</p>
+
+<p>Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich.
+Er hielt sie zurück.</p>
+
+<p>»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir
+fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst
+war; — daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und
+mein Glück langer nicht entbehren kann; — daß ich es nicht ertrug,
+dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil — ich keine Frau
+mehr habe, — weil sie sich von mir trennen wird.«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht
+glauben, auch wenn Sie es mir — — Nie und nimmer kann das sein. Kann
+nicht. Denn sie — sie war ja so glücklich — bei Ihnen.«</p>
+
+<p>»Sie?« antwortete er schwer, »— ja, Ruth, — sie war es wohl, —
+früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.«</p>
+
+<p>Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> prägte sich ein
+grenzenloses Befremden aus, — Zweifel, Unglaube, ja, Entsetzen prägte
+sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, — nach
+Erik rufen, — ihn zu ihrer Hilfe rufen, vor einem Unverstandenen,
+Unbekannten. Aber er — er war es ja gerade, der da vor ihr stand —.</p>
+
+<p>Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ
+ihn. Er fühlte nur noch Angst, — die Angst, sie zu verlieren.</p>
+
+<p>»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es
+thun, vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, — du bist kein
+Kind mehr, — ein Weib, — mein Weib!«</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wurde die Thür vom Flur aus aufgerissen. Jonas
+erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Thür wieder
+ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen.</p>
+
+<p>»Jonas!« murmelte Ruth, halb bewußtlos, »— wir müssen, — er hat
+gehört, — wir müssen nach Jonas sehen.«</p>
+
+<p>Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth
+war schon bei der Thür. Sie öffnete sie.</p>
+
+<p>Im Flur lag Jonas am Boden, — lang hingestreckt. Mit dem Kopf war er
+im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Ueber seine linke Schläfe
+träufelte Blut.</p>
+
+<p>Ruth stieß die Mittelthür auf. Sie half Erik, ihn hineinzubringen in
+das anstoßende Zimmer, auf sein Bett. In den nächsten Minuten sprachen
+sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt.</p>
+
+<p>»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Weile halblaut,
+— und dann, über ihn gebeugt: »Er kommt zu sich.«</p>
+
+<p>Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück; ihre Augen richteten sich
+auf Jonas mit einem Ausdruck des Grauens, daß er sie erkennen, — daß
+er sie sehen würde.</p>
+
+<p>Sie machte Erik ein stummes Zeichen, und ging leise in sein
+Arbeitszimmer zurück.</p>
+
+<p>Dort blieb sie verwirrt stehen.</p>
+
+<p>Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte
+sie bleiben, — nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort.
+Fort, ehe Erik kam. Fort, ehe Jonas kam.</p>
+
+<p>Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Thür zu, durch die sie
+soeben aus dem Schlafzimmer eingetreten war.</p>
+
+<p>Nein, — wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschiednehmen? von wem? Ohne
+Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. — Für immer?</p>
+
+<p>Sie trat in den Flur hinaus, — wie hinausgetrieben von ihren eigenen
+verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn.</p>
+
+<p>Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein
+paar kleine hellrote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel.</p>
+
+<p>Der weite, dunkle Reisemantel, den er damals trug, — als sie fort
+sollte, — und er heimkehrte, — und als sie ihm an die Brust fiel. —
+—</p>
+
+<p>Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und
+verhaltenem Atem.</p>
+
+<p>Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> ihre Gedanken mit
+sich fort, — wild, glühend, unerträglich, — das Trennungsweh.</p>
+
+<p>Mit den Händen faßte sie den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seine
+losen, weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen
+Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte
+sie den Saum.</p>
+
+<p>Damals, — wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei,
+wozu es sei, — bis in den Tod, bis in das Verbrechen hinein, — hätte
+sie es nicht blind gethan?</p>
+
+<p>Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie
+gleich laut schreien.</p>
+
+<p>O Gott, auch jetzt, — wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin
+es sei, wozu es sei, — sie hätte es blind gethan! Blind gehorchend,
+— gegen allen Augenschein, gegen alles eigene Wissen und Verstehen!
+Mit ihr durfte er thun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen
+mochte, — was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo
+sie ihn gesehen, — sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie
+gewesen, — an ihm lag Alles!</p>
+
+<p>War er sonst noch <em class="gesperrt">Erik</em>?</p>
+
+<p>Sie sah ihn vor sich, wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai
+im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in
+seinen starken Armen. So hatte Ruth ihn zuerst mit ihr gesehen, — so
+ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du
+allzuleichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang
+vertrauend die Hände um seinen Nacken.</p>
+
+<p>Aber nun — nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glücklich
+vertrauende Lachen verstummte, — und<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> sie, die sich an ihm
+festgehalten, ließ er fallen, — er öffnete die Arme und ließ sie,
+die Hilflose, zu Boden fallen, — denn eine Last war sie, eine
+allzuschwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die
+sich ausbreiteten nach Ruth.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Ruth richtete sich auf; sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und
+schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag
+ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und
+fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehen!« schrie es in ihr. Aber Eriks
+Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe
+nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.«</p>
+
+<p>Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine
+fremde Schrift. Das wollte sie also thun? Ja, das wollte sie. Er
+hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen,
+in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, — so
+ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden.
+Wenn sie es selbst verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben
+verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit
+ihr gewollt, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von
+ihm. Sie hatte ja alles von ihm, — nur von ihm allein. Sie kannte alle
+seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht
+nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn.</p>
+
+<p>Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl.</p>
+
+<p>Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> kühn zu Mut,
+sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen:
+sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen.</p>
+
+<p>Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, — seinen
+eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eigenen Willen festhalten!
+Haltung! Sich selbst gehorchen, — hörst du?«</p>
+
+<p>Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er
+ihr bei: Erik gegen Erik.</p>
+
+<p>Leise schlich sie sich aus dem Hause.</p>
+
+<p>Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück.</p>
+
+<p>Nein, dafür konnte er nichts, — Erik konnte nichts dafür, daß er
+anders war, und daß das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht
+hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal ihre Phantasiegeschichten
+gar nicht. Die mußte man erst hinzuthun.</p>
+
+<p>Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, — das ganze verflossene
+Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelsang, da mochte es
+ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo
+sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in
+den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der
+ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein
+Märchen, das »allerschönste von allen«.</p>
+
+<p>Ja, das allerschönste von allen.</p>
+
+<p>So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals.</p>
+
+<p>So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das
+Leben bot. Niemals.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p>
+
+<p>So schön, daß es nichts mehr geben konnte, — im ganzen Leben nichts,
+— was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen, — und zu
+gering befinden würde.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne
+es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend
+über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem
+Buschwerk umwuchsen.</p>
+
+<p>Dann ging sie, ohne sich noch umzuwenden, mit gesenktem Kopf den
+Landweg zwischen den Birken zurück zur Station, und ihr langes loses
+Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde. —</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen,
+den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem
+die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen.</p>
+
+<p>Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm
+wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen, wenn er Gedanken dafür
+übrig behalten hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach
+Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, — dieser Anstrich von
+Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und
+Thorheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament,
+an Jugendfeuer war das gewesen, — sondern eiserne Ausdauer,
+Selbstbeherrschung.</p>
+
+<p>Kinderei oder nicht, — es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p>
+
+<p>Aber der — — achtete ihn nicht.</p>
+
+<p>Jetzt, in dieser Stunde nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem
+Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete Erik jetzt, und er mußte nun seine
+volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen.</p>
+
+<p>Ein leises Knaben der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken. Bei
+dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck.</p>
+
+<p>Er öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er
+ging über den Flur in das Wohnzimmer. Ruth war nicht da.</p>
+
+<p>Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte
+ihm die Brust zusammen.</p>
+
+<p>»Ruth!« rief er laut, und erkannte seine eigene Stimme nicht.</p>
+
+<p>Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an
+die Bank vor dem Gehölz.</p>
+
+<p>Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang.</p>
+
+<p>Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken; ganz
+regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, —
+und sang und sang in den grauen Frühling hinein —.</p>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p class="s3 center"><b>Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart.</b></p><br>
+</div>
+
+<table>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Andreas-Salomé, Lou</b>, Ruth. Erzählung. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Bobertag, Bianca</b>, Moderne Jugend. Roman.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
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+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl"><b>Bourget, Paul</b>, Das gelobte Land. Roman.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Boy-Ed, Ida</b>, Die Lampe der Psyche. Roman.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
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+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Boŭna. Erzählung. 3. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Eckstein, Ernst</b>, Nero. Roman. 5. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td>
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+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl"><b>Fulda, L.</b>, Lebensfragmente. 2 Novellen. 2. Auflage</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl"><b>Heyse, Paul</b>, Neue Novellen. 7. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl"><b>Hopfen, Hans</b>, Der letzte Hieb.3. Auflage. </td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.50</td>
+</tr>
+<tr>
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+<td class="tdl"><b>Junghans, S.</b>, Schwertlilie. Roman. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Kirchbach, W.</b>, Miniaturen. Fünf Novellen.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Lenbach, Ernst</b>, Abseits. Erzählungen.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Lindau, Rudolf</b>, Martha. Roman.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 6.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Loti, Pierre</b>, Japanische Herbsteindrücke.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Mauthner, Fritz</b>, Hypatia. Roman. 2. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Petri, Julius</b>, Pater peccavi! Roman.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Proelß, J.</b>, Bilderstürmer! Roman. 2. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Schunsui, Tamenaga</b>, Treu bis in den Tod.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Sudermann, H.</b>, Frau Sorge. Roman. 34. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Geschwister. Zwei Novellen. 15. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Der Katzensteg. Roman. 28. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Im Zwielicht. 19. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 18. Aufl. </td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Es war. Roman. 21. Auflage.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 6.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Telmann, K.</b>, Trinacria. Sizilische Geschichten</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Wereschagin, W</b>., Der Kriegskorrespondent.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Widmann, J. V.</b>, Touristennovellen.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Wilbrandt, A.</b>, Der Dornenweg. Roman.3. Aufl. </td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Novellen aus der Heimat. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Hermann Ifinger. Roman. 4. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Meister Amor. Roman. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-˱- Die Osterinsel. Roman. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Die Rothenburger. Roman. 3. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl">--"-- Vater und Sohn u. andere Geschichten. 2. Aufl.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdl"><b>Wildenbruch, E. v.</b>, Schwester-Seele.</td>
+<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td>
+<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td>
+</tr>
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+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***</div>
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