diff options
| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-01-30 12:21:13 -0800 |
|---|---|---|
| committer | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-01-30 12:21:13 -0800 |
| commit | 86eaed403eda58d6923556571b219807ea925b0d (patch) | |
| tree | 3162500048b264dac47ac2dc24b023ff71538b5f | |
| -rw-r--r-- | .gitattributes | 4 | ||||
| -rw-r--r-- | 75251-0.txt | 9801 | ||||
| -rw-r--r-- | 75251-h/75251-h.htm | 10337 | ||||
| -rw-r--r-- | 75251-h/images/cover.jpg | bin | 0 -> 1012474 bytes | |||
| -rw-r--r-- | 75251-h/images/signet.jpg | bin | 0 -> 3736 bytes | |||
| -rw-r--r-- | LICENSE.txt | 11 | ||||
| -rw-r--r-- | README.md | 2 |
7 files changed, 20155 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..d7b82bc --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,4 @@ +*.txt text eol=lf +*.htm text eol=lf +*.html text eol=lf +*.md text eol=lf diff --git a/75251-0.txt b/75251-0.txt new file mode 100644 index 0000000..a4a1b03 --- /dev/null +++ b/75251-0.txt @@ -0,0 +1,9801 @@ + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 *** + + + +======================================================================= + +Anmerkungen zur Transkription: + +Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler +korrigiert. Die Verlagswerbung wurde an das Ende des Textes verschoben. + +Für die verschiedenen Schriftformen sind folgende Zeichen benutzt +worden: + + ~gesperrt gedruckter Text~ +antiqua gedruckter Text+ + +======================================================================= + + + Ruth. + + + Erzählung + + von + + Lou Andreas-Salomé. + + + Zweite Auflage. + + + [Illustration] + + + Stuttgart 1897. + + Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger. + + + + + Alle Rechte vorbehalten. + + + Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. + + + + + Muschka + + gewidmet. + + + + + I. + + +In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene +Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite, +ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen +Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache +Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein +Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges; +der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von +den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen +hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den +Vogelgesang hineinklang. + +Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein +Holzbau, mit geflossenen Fensterläden und bretterverschlagener +Balkonthür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig +beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für +den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen +Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig. + +Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt +von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas +feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber +den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden, +breiteten einen zarten, bräunlichen Schleier darüber, und rings über +den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen +Blattknospen. + +»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in +gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein +halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der +Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur +offenen Terrasse mit der Eingangsthür emporführten. + +Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf, +wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen +Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten +Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Thür zu +einem kleinem Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu +sein schien. Von den Sachen, die man, beim Auszug aus der Stadtwohnung, +im gemieteten Landhause vorrätig gefunden hatte, war offenbar alles +Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und +Gemütlichkeit zu schaffen. + +An der Thür, auf einem deckenumhangenen Ruhebett, lag eine bleiche, +nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren +ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter halbgesenkten +Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und +Gehenden. + +Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln +durch die großen blauen Augen ging. + +»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.« + +Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in +deren Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf +den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging über den Flur in das +Zimmer. + +Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr +trat. + +»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die +Sonne durch den Nebel, und dann trage ich dich in den Garten hinaus. +Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen +aufgestellt.« + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher +Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik? +Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt +du, das ist das Schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht +ordentlich werden. Alles wird herumliegen.« + +»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätte es auch sonst, +aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!« + +Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern +sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du +dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich +bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter +der blitzendsten aller Theemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt +dessen, jahraus, jahrein, daliegen und es unthätig mit ansehen, wie +deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben. +Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken. +Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.« + +»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur +wolltest.« + +»Daß er wie eine Tochter ist? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie +kannst du nur solchen Unsinn sagen, Bel.« + +»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist +er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber +mir zu dienen macht ihm Freude, -- auch in den häuslichen Dingen. +Kannst du mir diese Freude nicht lassen?« + +»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht, +daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen --« + +Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann +ablohnen. + +Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der +Stube gesetzt worden war. + +»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf +herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.« + +Als sie hinausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln +in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber. + +»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns +auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?« + +»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben +wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht. Ich habe ja nichts +dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen +drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das +viele Geld zu verdienen.« + +»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade +ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so +schön, daß ich's sogar umsonst thäte! Es dürfte dann freilich nicht +bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. -- Nein, du, in diesem +heiligen Lande vergesse ich bald, daß ich überhaupt Kraft anzuwenden +~habe~. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn +-- ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr +hierher gepilgert?« + +Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus. + +»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu +wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische. +Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch +mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?« + +Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern +kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers. +Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehen +und blickte hinaus. + +Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der +Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren +Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde +schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch +die Kätzchen niederhingen, die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten +ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach. + +Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des +Jahres entgegen. Einen Augenblick lauschten sie stumm. + +Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren, +fiel die Aehnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker +dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf, +breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, dieselbe ein wenig stumpf +abschließende Nase und derselbe große, im Sprechen und Lachen sehr +ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften +sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken. +Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und +Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend +von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das +in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen +ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen +Blauaugen der Mutter finden, und deren blendende Haut, die nur das +Krankenlager an ihr entfärbt hatte. + +Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In +ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen +Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen, so +wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es +war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals +von Jonas' Alter unterschied -- einundzwanzig Jahre zählte Erik erst, +als sein Knabe ihm geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine +Regung von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll +genug in sie verliebt, um sie, mitten in seiner leichtlebigen Pariser +Studentenzeit, frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte, +ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann band sich an sie, das +einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen +Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die +vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden +Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gelugt, in dem +er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach +England und lebten ein paar Jahre von dem ganz geringen Vermögen, das +schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen, +sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen, +aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem +Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine +kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im +Meer, auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde, +daß ihre verrückte, glückliche Studentenehe in so stille, geordnete +Verhältnisse mündete, aber für Erik that es ihr leid. Denn erstens +war er sicherlich zu viel Größerem berufen, als zu diesem abhängigen +Stillleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar +nicht anders vorstellen, als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und +im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die +ihn fortriß, und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen +Menschen des Volkes dastehen sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter +Prinz. Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch +schon die Leute verzaubern, bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen +besser entsprächen. + +Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand +seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn +ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen, wie in seiner frühern +Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu +echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung +beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet, Grübeleien über +seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war er +eine zu aktive Natur dazu. + +Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu +bethätigen, und an die Zukunft, -- an die glaubte er so fest, wie ein +Kind an Gott. + +Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte +den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals. + +Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte. +Die kunstvoll geordneten Locken, die, statt jeder festen Frisur, +dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe +wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn +geworden, ja, dort hatte sich sogar eine ganz kleine, verheimlichte +Glatze gebildet. + +»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und +wandte sich vom Fenster. + +»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert. + +»Ja. Aber deshalb brauchst du mich nicht wieder am Thorweg der +Mädchenschule abzuwarten und dort herumzulungern,« versetzte Erik +mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu +erwidern, trollte dieser sich aus der Stube. + +»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel +lächelnd, und als stände es mit ihren Worten in irgend einer +Gedankenverbindung, griff sie zwischen allerlei Sachen, die auf einem +niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten +Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen +willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich +vor?« + +Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es +war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik +kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch. + +»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.« + +»Ja, Bel?« + +»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen +Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?« + +Er fing an zu lachen. + +»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.« + +»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?« + +»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten +Frau.« + +»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würde ich es nicht +denken. Glaubst du das von ihr?« + +Er sah seine Frau verwundert an. + +»Ja, natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch ist ihr nicht der +geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die +Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. -- Und es ist gut, +-- vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden +anstiftet. Adieu, Bel: es ist Zeit für uns zum Bahnhof.« + +Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr +niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn +einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest. + +Er hielt geduldig still. + +»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los. + +Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und +geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte +Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen +angelegt; alles andre eher. Aber wenn man ewig so stillliegen mußte, +immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so +geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An +sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt. +Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche +Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas, und die gefürchtete +Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den +dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte +meinen können, es seien tausend. + +Erik hatte vorhin also gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern +Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr +empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund herumging, +beunruhigte es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber +sie war blond, und ihr schien es, als ob die Braunen ihn ebenfalls +interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber +nur ein einziges Mal erschrak sie, -- schrak förmlich auf aus aller +bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er +an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm +nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich -- +ja endlich that sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging +ihm heimlich nach. + +An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos, +und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem +kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in +Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste +Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen, wegen +ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen +Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung, +aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn ein feiner, liebevoller +Menschenkenner sie zum Sprechen brachte. + +Es war Frau Larsen, eine lahme, sechzigjährige Frau. + +Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem +Mann. -- + +Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium; +gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die +ziemlich entfernt lag. + +Er war in eine vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer +der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah +erhitzt aus, behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und +fächelte sich mit dem Taschentuch. + +»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in +der Stadt ist der Mai schon unerträglich, -- wirklich, -- wenigstens im +Gehen. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden +Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß. +Ohne Uebergänge, ohne Normaltemperatur. Ein möderisches Klima.« + +Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den +Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wieder abkühlen. Erik +betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden, ungefähr +gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes +Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah. + +»Ob das meine Zukunft hier ist? -- der Mai unerträglich!« dachte er, +und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen +russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und +gefährlicher wie jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert +so lange und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön, +daß man seinen Augen nicht traut.« + +»Ja, ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß +immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen +Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk, -- immer in +den Ferien in Deutschland. ~Das~ ist meine Erholung. Da bleibt für den +Sommer wenig übrig. So geht es uns eben allen -- allen, die wir uns +geistig überarbeiten müssen.« + +Erik schwieg einen Moment, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen +Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als +›Geistesarbeiter‹.« + +»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, -- weil Sie etwas +lange in ländlichen Verhältnissen --? aber ich bitte Sie, bei Ihrem +Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk +schreiben?« + +Erik lachte. + +»Nein, so meinte ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein +wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn +wir -- der Lehrer vor allen Dingen, arbeitet doch vorwiegend mit +Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der +Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.« + +»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man +doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die +Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie +vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen haben eröffnen wollen? +Was war es damit?« + +Eriks Augen verdunkelten sich. + +»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal +verweigert.« + +»Sehen Sie, -- sehen Sie! das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung +des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie +ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit +gebundenen Händen, -- Sie wissen's doch! Aber mit Einem sollten Sie +sich wirklich trösten: es ~gibt~ hier ja gar keine Menschen, unter +denen irgend etwas zünden und wirken kann. Es gibt nur das Volk, zu +dem wir weder sprechen dürfen noch können, -- und ein Publikum, das +sich amüsieren will.« + +Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die +Pferdebahn hielt und beide stiegen aus. + +»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen!« +nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam +einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte, +sah er ebenso schwerfällig und versonnen aus, wie vorhin hastig und +zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie +hatten diese Klasse ja erst im Herbst anzutreten.« + +»Es war aber Not am Mann. Auch wollte ich die Mädchen kennen lernen, +Fühlung gewinnen, ehe ich sie im Herbst ganz übernehme.« + +»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist +entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen. +Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.« + +»Gott sei Dank!« sagte Erik. + +»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man +das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?« + +»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast +bekümmerte Miene seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch +rechtzeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung. +Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte. +Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich +ließ sie mir nur geben, um mich zu orientieren. Auch habe ich eine +wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.« + +»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der +Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein +beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen +Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Alpdrücken verursachten.« + +»Das war nur gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen +hohen Thorbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten, +»warum gab er auch Aufsatzthemata, wie zum Beispiel das letzte hier: +›Ueber das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben +sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.« + +Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen, das von der +Flurhalle zu den Klassen emporführte. + +»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls daran, und das +ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte +Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an +kein Glück gedacht, zu dem man die Schule verlassen haben muß. -- Aber +hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.« + +»Also auf Wiedersehen!« + +»Wünsche beste ›Anregung‹.« + +Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang, an welchem +die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines derselben und blickte auf +seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten +Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt; +man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise herumgehen +und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte, +stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe +halberwachsener Mädchen bequem, -- das Kichern und Schwatzen drang +deutlich bis zu Erik herauf. + +In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten +nur klappte eine Thür oder wurde ein Ruf laut. Aus den zur Hälfte +niedergelassenen Fensterrouleaux brütete die Sonne und einzelne +Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen aus den staubigen Pulten. + +Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei +er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren +dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist +interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch +interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den +Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich +ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste +Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender? + +Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende +Mädchengruppe am Brunnen. Diejenigen, welche er von seinem Standort +sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also +die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen, +während er sie so anblickte, -- diese frischen Geschöpfe, die noch das +Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren ganz bestimmte +Typen unter ihnen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen +Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander. +Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr +weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, -- sowohl dieser +schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig +gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam +stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich +kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr +vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Urtypisches im ganzen, +wenig Individuelles, -- man konnte sie schon klassifizieren, sie waren +schon fest geprägt durch ihre Umgebung, in der sie erzogen wurden, in +der es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks +Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen. + +Unwillkürlich suchte seine Hand zwischen den Heften, als wünsche er +sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter +den Aufsätzen, -- etwas höchst Individuelles jedenfalls. + +Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Ueber das Glück« trug er die +Ueberschrift »Seligkeit!« -- und wie ein Sehnen und Jauchzen klang dem +Lesenden etwas von dieser Ueberschrift aus jeder Zeile entgegen. Er +war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa +geschrieben, sondern in Versen, -- in gänzlich unkorrigierbaren und +wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem +wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder +vielmehr: hingeträumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren +Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort +und Logik, aber es steckte eine mit sich fortreißende Gefühlsmacht +darin. Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber +man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem, +der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß +er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige +Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen aus Gott bezog, +dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein? + +Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und rissen ihn aus +dem Lesen auf. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie +sagen: »Er ~muß~ unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie +nur möglich. Sonst thue ich es nicht.« + +»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton. + +»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es +nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.« + +»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht +daran! Er ist und bleibt unglücklich, sage ich euch. Ein für allemal. +Aber heiraten werde ich ihn nicht.« + +Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett +und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame +Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen +wollte und ihn nicht einmal heiratete. + +Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern +so umstellt, daß Erik sich nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von +unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit +vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen. + +Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand. + +Dann sagte ein bildhübscher, dunkelhaariger Backfisch, während er +herzhaft in einen Apfel hineinbiß: »Ich finde es wirklich komisch +von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern +Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch +das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll, +so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können, -- meint ihr nicht?« + +»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder +etwas Neues vor, -- vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines, +blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie +nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.« + +»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrieen sie erwartungsvoll. + +»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste +Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt +ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu +deklamieren: + + + »In Liebesarmen ruht ihr trunken, + Des Lebens Früchte winken euch; + Ein Blick nur ist auf mich gesunken, + Doch bin ich vor euch allen reich. + + Das Glück der Erbe miss' ich gerne, + Und blick', ein Märtyrer, hinan, + Denn über mir, in goldner Ferne, + Hat sich der Himmel aufgethan.« + + +Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte, +gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht, verklangen. + +»Huh!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine +zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich --« + +Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen +heraus, so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle, daß +Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte, mitzulachen, +und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen +begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es. + +»Du hast gar keinen Lebensernst!« sagte die Erste der Klasse strafend, +eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre +eigene Sache, und uns mit.« + +Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende +zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den +›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg +thun?« + +»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so +glücklich, als ihr wollt.« + +»Also denkst du an einen andern?« + +Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in +diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich +ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt +in der Sonne. + +»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit +ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen +gemacht. + +Und er sah sie. + +Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die +Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten +Regenfaß, das, in diesem beliebten Brunnenwinkel, gelegentlich als +Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde, glanzlose +Haar offen, so daß es, weich und lockig, in einiger Verwirrung, ihr +über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, welches es +wohl am Hinterkopf zusammenhalten sollte, war hinabgeglitten und +bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und +Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem +losen, graublauen Gewande, das keinerlei Aehnlichkeit mit den hübsch +gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern +aufwies. Ueber den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel +kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum +den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas +sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges +Gesichtchen, das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Uebermut +wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgezogen, die ziemlich +dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen, wie in beginnendem +Gelächter oder wie in verlangendem Durst, halb geöffnet, so daß unter +der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne +hervorschauten, -- da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf +in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über +alle Stränge zu schlagen, -- fast unwillkürlich dachte man sich einen +Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, -- und der +Bacchusknabe war fertig. + +Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang, +erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte +hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat, +kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit. Zwei Lämmer in +seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt +an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und +Taugenichts. + +Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken +lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort +durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann +schwächte der Lärm sich ab, die Klassenthüren fielen ins Schloß; +hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne +Lehrer, sämtlich in ihrem dunkelblauen Frack, der an diesen Schulen +vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder +blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehen. In Eriks Klasse +war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen, +als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick +lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden +und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und +aufmerksamen Augen zu ihm ausschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal +aus diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand, +fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die +ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie +seinem eigenen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das +thatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, -- den +Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen +wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte, +einen wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht als eine leblose +Pflichtmaschine zu absolvieren. + +Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte, +sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind +zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die +Fortsetzung viel besser. In Bezug auf einen Aufsatz darin möchte ich +aber eine Erkundigung einziehen.« + +Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen +ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?« + +Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben; sie hatte sich +bereits erhoben, ehe ihr Name von seinen Lippen fiel. + +Er richtete einen bestürtzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe +aus dem Schulhof. + +Jetzt freilich machte sie den kuriosen Eindruck nicht mehr so ganz. +Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« aus +ihrem Gesicht störte ihn, -- vielleicht auch, daß sie die Augen +niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre Erik ihr mit der Hand über das +Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter +die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige, +lachende Junge von vorhin gewesen, -- und das deckte sich so wenig +mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche +Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein. + +»Unmöglich!« entfuhr es ihm. + +Sie sah verwundert auf. + +»Doch!« sagte sie. + +»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man +konnte es ihnen anhören, wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren, +und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden. + +»Verse, -- das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie +keineswegs schön. Ganz im Gegenteil. Aber ein Schulmädchen --« + +Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch +gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und ~eine~ von ihnen +mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm ein Gedanke: vielleicht +ist es gar kein selbständiger Aufsatz? + +Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz darin. +Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam +nachgezogene Linien -- und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei +den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das +nicht die Lösung des Rätsels sein?« + +Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte, +und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten +werde, ihr habe niemand geholfen. + +Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft +niemand.« + +Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Gerade so, als +habe sie unter Thränen gesagt: »Ich bin ja so mutterseelenallein!« +Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, -- etwas so ganz Neues, +Unerwartetes, das er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen +konnte. + +Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen +Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam +seinen Ausdruck darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die +Bank, in die Mitte der übrigen. + +Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Uebereilung bewußt und +kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück. + +»In der Aenderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine +auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine +Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er. + +»Er zog sie vor! sie durfte thun, was sie wollte!« schrieen einige. + +»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!« +riefen andre. + +»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth. + +»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn. + +Sie hob die Augen. + +»Nein. Nur aus den Stunden.« + +Wie beider Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht +nur die Augen thaten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen, wie ein +Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren +Zügen wie ein vorgehaltener Schleier. + +Er gab ihr einen Wink, daß sie sich setzen möge. + +»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und ab gehend, +und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob +für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für beide. Doch setzte er +rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz +nicht.« + +Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts, keine Bemerkung +mehr an sie, vermied es auch während der Stunde ihren Namen aufzurufen, +obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehen wollte. Aber er +begriff, daß dieses lebhafte Interesse an einem merkwürdigen Kinde, +wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst +erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig +geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihr vor einigen Dutzend +neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen +Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch +er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch +möglichst daran fest, daß sein eigenes Benehmen ihn nicht verriete, +wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, -- was doch +unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut. + +Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen +mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin, +und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er +vortrug, sondern merkte sich nur die Art, ~wie~ er vortrug, und die ihm +eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände +von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei +einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie, +-- und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die +breite, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein, wie +ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen, +kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen +Ruck zurückwarf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb. Es +war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie +förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, -- nur +ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen; die sahen +aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte +sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber +stützte sie den Mund auf die Hände. + +Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen +mit solchen Aeußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie +angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach. +So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von +ihm unbemerkt. + +Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als +nach Beendigung des Unterrichts ein ganzer Schwarm von Mädchen sich zum +Heimgehen um sie drängte. Sie hatte diesen Augenblick kaum erwarten +können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der +aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den +Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab +und bogen in den Newsky Prospekt ein, Ruth voraus und ohne auf sie zu +achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge, +auf den Wegen, die Ruth sie führen sollte; aber die Straße war ziemlich +menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den +Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen +sah man Erik herankommen. + +»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera +zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche Geschichten treiben kann. Ich +glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum. Ja, es ist ganz +anders, wenn man noch Eltern hat.« + +»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging, +und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein +schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme +Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, -- +in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.« + +»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose +Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und +gerade da möchte ich so gern hin.« + +»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von +ihnen etwas unsicher. + +Ein schallendes Gelächter erhob sich. + +»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre +nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit.« + +»Da kommt er!« sagte Ruth mit einemmal. + +Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im +ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie +sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die +Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot. + +»Hier, der Blonde.« + +»Nein! Der Herr im Cylinderhut.« + +Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft geradeaus, und einem +Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger, brünetter Mann, +im hellen Sommerüberzieher, mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen +Schnurrbart und mandelförmigen Augen. + +Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, -- darüber waren +alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten, wie ein Meerwunder, +passierte vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch +nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn; ganz ernsthaft grüßte +sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten +Bekannten. + +Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert, +jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder. +Ziemlich vertraulich that er das. + +Die hübsche Wjera schrie fast aus vor Ueberraschung und Vergnügen; sie +war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden, +mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein +paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt, +sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf +dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der +heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen, +die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz +verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln +zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein +paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht +müde, zurückzusehen. + +»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem +Straßendamm los, »es ist geradezu sündhaft!« + +»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen +haben. Ruth hat es gethan. ~Sie~ hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch +so gleichgültig drauf los geht, als ginge es ~sie~ nichts an.« + +»Ja, was schadet es denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas +betreten. + +»Gewiß schadet es, -- abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete +die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn +man ein Verhältnis gehabt hat?« + +»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine +zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja +nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie +schlagend hinzu. + +Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln. + +»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß +doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen +weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle +Gefahr ist vorbei.« + +»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn +uns nicht zeigen sollen, Ruth.« + +Diese zuckte ungeduldig die Achseln. + +»Das kann ich nicht ~so~ trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja +auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut. + +»Nein, erst mußt du es weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr +lustig. Gerade als ob man zweimal lebt: einmal zu Hause und in der +Schule -- und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles gerade so ist, +wie man es sich ausdenkt. -- Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht +wieder gehen.« + +»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis +jetzt am Streit nicht beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem +»Unglücklichen« zu thun gemacht, der irgendwo an einer Straßenecke +stehen geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal +interessanter, als all die Phantastereien drum herum. Was hat man denn +von denen? Sie amüsieren uns nur, weil man uns eingesperrt hält!« + +Ueber ihrem Hin- und Herreden beachteten sie es gar nicht, daß sie +an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren, das heißt, daß die +meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim +entfernt hatten. Sie liefen gewohnheitsmäßig mit, wie eine Hammelherde, +Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen. Jetzt blieb sie +zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust, nach einer Seitenstraße +umzubiegen, und der Nötigung, zur gewöhnlichen Stunde bei ihren +Verwandten einzutreten. Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit, einen +Vorwurf zog sie sich nicht zu, und was ihr jetzt vorschwebte, war süß +und lockend gleich einem Frühlingsmärchen. + +Aber es gab da etwas andres, das sie zurückhielt: wenn sie jetzt +hineinging, so blieb sie, wie immer, gänzlich unbemerkt und unbeachtet +im ganzen Hauswesen; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen +fortblieb, so wurde sie vielleicht bemerkt, befragt, belästigt. Und das +entschied. + +Wie eines jener kleinen Insekten, welche zum Schutz vor feindlichen +Mächten die Farbe des Holzes oder des Laubes annehmen, auf dem sie +sitzen, so verhielt sich, halb unbewußt, auch Ruth gegenüber ihrer +Umgebung. Es war ihre Art sich zu wehren. + +Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand +hinter den hohen Thürflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes, +vor dem ein Soldat Wache stand. Eine Abteilung des Kriegsministeriums +lag darin, nebst mehreren großen Kronswohnungen, von denen Ruths Onkel, +der Staatsrat war, eine inne hatte. + +Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Jetzt erst +erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend +eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den +Droschkenkutschern, welche sofort, laut schreiend und sich gegenseitig +nach Möglichkeit unterbietend, sie umringten. + +Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr; sie hatten sich ausgezeichnet +unterhalten, sich ordentlich echauffiert! Morgen, wenn sie nach neuer +Nahrung begierig wurden, kam sie wieder. + + * * * * * + +Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt, denn er +hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden +zu geben. Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf, die geräumig +und freundlich, aber vier Treppen hoch lag: dafür konnte man aus den +Fenstern die Newa überschauen, durch deren blaue, mächtige Wogen +noch der Ladogasee seine letzten Eisschollen trieb. Sie schimmerten +durchsichtig im blendenden Maisonnenschein. Ueber seine Aussicht freute +Erik sich täglich von neuem. + +Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen, allerlei zu erledigen +und eingelaufene Briefe mitzunehmen, denn die Landpost galt als +unzuverlässig. Heute war er kaum eingetreten, als es klingelte. + +Er öffnete die Thüre und blieb mit einem Lächeln neben derselben +stehen. + +»Warwara Michailowna!« sagte er. + +»Was ist denn das?« fragte sie, rasch um sich blickend, »schon auf dem +Lande? umgezogen? allein hier? Ich wußte es nicht! Dann haben Sie also +meinen Brief -- --?« + +»Ich habe ihn gestern hier vorgefunden,« versetzte er, sie in die +angrenzende Wohnstube führend, wo die Polstermöbel schon ihre +Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen +gleich Gespenstern herumstanden. Unter dem runden Sofatisch war der +Teppich entfernt worden, und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte +in der Luft. + +»Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen -- oder +bei Ihrer Frau!« sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der +weißbezogenen Sessel sinken, »trotz Staub und Sonne bin ich also da. +Ich muß wissen, weshalb Sie nicht kommen wollen.« + +Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer +Frühjahrskleidung, mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie +in den tiefdunkeln Augen, die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem +munteren Wesen bildete. + +»Ich danke Ihnen!« erwiderte Erik und blickte sie an, »aber Sie nehmen +mir in der That die Antwort schon von den Lippen: ich wollte wirklich +nicht kommen. Mich eine Zeit lang ganz auf dem Lande vergraben. -- +Dort können wir ja, wenn Sie erst hinausgezogen sind, so poetisch +Fangball spielen und Croquet. -- Ich bin diesen Winter gar zu stark ins +Gesellschaftstreiben geraten.« + +»Und was schadet das? Fragen Sie nur Klare-Bel, ob sie Sie nicht auch +im Gesellschaftsrock am liebsten sieht? Der Salon ist Ihr natürliches ++milieu+. Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister, +wie sie mitunter mit goldenen Brillen und blonden Vollbärten zu uns +kommen! Erst seit einigen Generationen hat sich Ihre Familie dort +niedergelassen -- an der friesischen Grenze irgendwo, -- französische +Emigranten, -- weiß ich's nicht gut?« + +»So weit wollen Sie den Beweis herholen, daß ich in Gesellschaft gehen +soll?« + +Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms +gegen die Tischplatte. + +»Sie sind ein Spötter. Ich wollte nur sagen: bilden Sie sich nicht ein, +daß Sie zum Schulmeister geboren sind. Trotz der blauen Uniform da, die +Sie noch anbehalten haben, -- die Ihnen übrigens gut steht, weil es ein +Frack ist. Sie sind zum Weltmann geboren. Wenn Sie uns -- +mondains+ -- +meiden, thun Sie sich selbst weh. -- -- Ich weiß es. Lachen Sie nicht.« + +»Ich lache ja nicht. Sie sind sehr scharfsichtig, Warwara Michailowna. +-- Vielleicht zu sehr.« + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Sie würden unsrer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen, wenn +Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden. Habe ich nicht +recht?« + +»Nun, nehmen wir also an, ich will nicht berauscht werden,« sagte Erik +und kreuzte die Arme; »daß gerade Sie als Versucherin kommen, ist +freilich schlimm für mich. Ein Glück, daß die Saison zu Ende geht.« + +Sie machte einen schmollenden Mund. + +»Ich weiß schon. Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher +Oberflächlichkeit.« + +Er widersprach nicht. + +Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide, und zwischen ihnen lag, +unmöglich zu überhören, Warwaras stumme Frage: »Bin ich es, die dich +berauscht?« + +»Sie sind ein Egoist,« sagte sie dann aufblickend, »sonst hätten +Sie bemerken müssen, daß Sie sich irren. Wissen Sie nicht, weshalb +ich Sie so gern da habe, mitten unter den Menschen? Weil ich gerade +ebensogut fühle wie Sie, daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl +ist, -- inhaltsleer, -- und es mich dennoch berauscht -- wie Sie. Ihre +Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich. Hand aufs +Herz! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen? Wir haben eine +gemeinsame Versuchung.« + +Er blickte sie fest an. Sie sprach rasch, ein wenig erregt, mit dem +weichen, klingenden Tonfall, den er an den Slaven so einschmeichelnd +fand. Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar, ob sie +mit ihm kokettierte, oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm +sprach, als je mit sich allein. Es schien ihr wirklich manchmal -- und +besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins, -- als triebe ein +verwandter Zug sie zu einander. Und dann war ihr Erik interessant: als +Mensch. So, wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist. +Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie +einer, der ungeduldig auf Beute ausgeht, und, weil er die ihm gemäße +dort nicht findet, seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht. + +»Also: Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung!« sagte Erik +wegblickend -- »vielleicht ein Wettkampf, wer ihr besser erliegt?« + +Sie erhob sich, um zu gehen. + +»Sie haben vielleicht recht zu spotten, und es würde nur sentimental +klingen, wenn ich antworten wollte: nein! mehr als das, -- eine +gemeinsame Sehnsucht,« entgegnete sie, dicht neben ihm, der ebenfalls +aufgestanden war, »Sie haben tausendmal recht. Wir haben ja nie ein +ernstes Wort miteinander gesprochen. Und ein Mann braucht keinen +Bundesgenossen. Er kann's allein.« + +Sie sprach ganz ernst, es klang beinahe echt, und was sie sprach, +stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunkeln Augen. Eine +Minute, -- eine verschwindende Minute lang, fühlte Erik, wie seine +Phantasie ihm etwas vorgaukelte. Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf, +über die der Verstand lachte, -- und ein wilder, herrischer Wunsch, +den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen +Selbstbetrug wahr zu machen. + +Ohne genau zu wissen, was er that, hatte er die Hand ausgestreut; es +war eine fast befehlende Bewegung, wie ein: »Bleib!« Er sah nichts mehr +deutlich, er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt, dieser +Augen, von denen Sehnsucht ausging. + +Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die +Wange. Nicht tändelnd, versuchend. Rasch, heftig, fast gewaltthätig. + +Er murmelte halb unverständlich: »Mach es wahr! mach es wahr! laß mich +nicht aufwachen! Suchtest du mich?« + +Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck. +Sie war selbst berauscht gewesen, einen Augenblick lang, aber die +Wucht, mit welcher er darauf einging, ernüchterte sie ebenso rasch. +Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas +von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm, an die sie +unvorsichtig gerührt hatte. Nicht wie eine Dreistigkeit die erstaunt +oder verletzt, empfand sie seinen Kuß, sondern wie eine lähmende Gefahr +für Leib und Seele, die zu verschlingen droht, was ihr zu nahe gekommen +ist. + +Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht. + +Ihr Blick lief über ihn hin. Eigentlich sollte er ihr wie ein Kind +vorkommen, das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger +Erwartung, daß es nicht mehr zu spielen vermag. Es zerbricht gewaltsam +das dargebotene Spielzeug, um zu sehen, was dahinter ist, und bleibt +mit enttäuschtem Gesicht stehen. + +Das wollte sie nicht. Lieber noch gespielt haben, als zu ernst genommen +werden, -- so ernst, daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen +Illusionen gemessen würde. Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten +Gesicht. + +Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung. Aber sie weckte auch +ihn. Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen, daß sie spielte. -- +Seine Erregung verflog sofort. Nur etwas Spott blieb in den Augen und +um den Mund zurück. Spott über sich selbst. + +Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül. Fast ungehindert schien +die Sonne durch die dünnen, weißen Fenstervorhänge, und mißtönend +klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf. + +Warwara war langsam in den Vorflur gegangen, und Erik geleitete sie an +die Hausthür. Sie wechselten kein Wort miteinander. + +Erst an der Thür wandte sie sich um zu ihm und maß ihn mit einem +sonderbaren Blick, den er nicht verstand. Bedauern lag darin, aber auch +Ablehnung, eine kleine Ueberlegenheit über ihn, den Mann, und dann noch +etwas, wie ein ganz leises Eingeständnis: »Ich möchte wohl die sein, +die du brauchst, und die dich sättigen könnte, du Wilder. Aber ich +bin's nicht.« + +»Ich nehme an: Sie kommen nicht,« bemerkte sie dabei zerstreut. + +»Mit Ihrer Erlaubnis: nein!« entgegnete er, und sann dem Blick nach. + +Die Thür fiel ins Schloß. -- + + * * * * * + +Ruth war pünktlich um vier Uhr, zur festgesetzten Mittagsstunde, im +Speisesaal erschienen, der, hoch und groß, mit dunkeln Mahagonimöbeln +ausgestattet, in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag. Sie hatte +ihren äußern Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt, wie der +Onkel, die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten, und saß +schweigsam auf ihrem Platz am Tisch, den ein Diener in weißbaumwollenen +Handschuhen geräuschlos bediente. Während des Essens, das die +Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte, blieb die Unterhaltung +recht einsilbig. Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche, und +seine Frau hatte genug damit zu thun, ihn mit den richtigen Stücken zu +versorgen. + +Erst als die Mundspüler von grünem Glas, die kein Mensch benutzte, vor +jeden einzelnen niedergesetzt waren, und vor der Tante die silberne +Kaffeemaschine stand, auf der sie den Kaffee immer eigenhändig +bereitete, wurde es ein wenig lebhafter bei Tisch. Darauf schien Ruth +nur gewartet zu haben. Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte +verschwinden. + +»Gehst du schon auf dein Zimmer, mein Kind?« fragte die Tante, »dann +sieh dich mal darin um. So unordentlich, so wenig zierlich sollte es +bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen.« + +Ruth machte eine Armesündermiene. »Ich will wunderschön aufräumen,« +sagte sie eilig; »darf ich dann bis zum Thee noch einmal fortgehn?« + +»Bis zum Thee? Ist es denn etwas so Dringendes?« + +»Es ist etwas Dringendes,« sagte Ruth. Der Onkel sah auf. + +»Zu wem willst du denn gehn? Es ist wohl jemand aus der Schule?« + +»Ja,« erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Thürgriff, den sie schon in +der Hand hielt. + +»Sage dem Diener, daß er dich begleitet und dort auf dich wartet.« + +Der Onkel blickte ihr nach, wie sie leise die Thür hinter sich schloß. + +»Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch,« meinte er dann, seine +Cigarette anzündend, »ich kenne niemand, der weniger verlangt und sich +weniger bemerkbar macht als sie.« + +»Weil man ihr alles gewährt,« ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen +Stimme, die den baltischen Accent noch unangenehmer hervortreten ließ. +Sie war eine Baronesse aus Livland. + +»Alles? nun weißt du, ein andres Kind würde nicht so zurückhaltend +sein. Sie weiß zum Beispiel: dies ist die Stunde des intimsten, +ungestörtesten Beisammenseins, -- und immer geht sie fort. Aber mit +knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.« + +»Nein, das thut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt +uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal +denke ich: sie ist vielleicht herzlos.« + +»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses +nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in +der Pension loben und zurückverlangen.« + +»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär. +Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin +es gerade, die deswegen für Ruths Uebersiedlung zu uns gewesen ist. Wir +sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht +und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von +vlämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und die +Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.« + +Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für +seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen +»diese Leute« waren, -- während für ihn, gerade umgekehrt, die +Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur +die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich +vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem +französischen Namen und den sowohl deutschen wie slavischen Elementen +in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie +eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte. +Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten +seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt. + +»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen, Mama,« bemerkte +die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man +doch so gut in die Welt geführt werden wie hier.« + +»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel +lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften +begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn und +macht sich nichts daraus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht +noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit +dir, Liuba.« + +»Nun bist du wahrhaftig im stande und setzest dein eigenes Kind +für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen +scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien +reisen!« + +»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch +ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein. Als eine der +unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre +unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, gegen die es niemals einen +Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser +gänzliche Mangel an Humor. + +Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich +verdorben. -- + +Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch +den unschuldigen Störenfried spielte, ja, sie hatte im Augenblick +vielleicht fast vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien +oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo sie sich befinde. Die +Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging +sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den +Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank +während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet, +und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mir ihren +Gedanken nicht recht ins reine kommen. + +Nach einer Weile blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn +und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit +ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag, +wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies +gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend +wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift +der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches +kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und +sogar einer Nippesetagère, auf der ein gläserner Mops stand. Aber +es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut +eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten +etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und +träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich auch zu dieser +Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.« + +Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen +Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine +Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube +neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer +putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer +im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als +Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, singen und schlafen waren +seine liebsten Beschäftigungen. Wie er Ruth rufen hörte, schlüpfte er +eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Hausthür. + +Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort +entließ sie ihn. + +»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm, +als er mit gezogenem Hut an der Waggonthür stand, »aber um neun Uhr +mußt du mich hier wieder erwarten.« + +Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine +kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine +kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten« +gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite +Welt hinauffahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele +Betrunkene auf den Straßen gab. + +»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und +kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig aus sein Vergnügen zu +verzichten. + +Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast +treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf. + +»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehen!« sagte sie feierlich. + +Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh +ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang +vor, als führe sie wirklich weit -- weit, in eine ganz andre Welt. +Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach +dem richtigen Wege durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zu Mut. +Was ihr vorgeschwebt hatte, -- zwingend, unwiderstehlich, -- war +ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran +herummalte, schien alles sich ihr von selbst zu verwirklichen. Das +Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den +Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen, +wenn alles sich auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie +man es sich eben träumen läßt. + +Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, wie sie endlich dem +Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich +und befinde sich todesallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche +Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit und wie gelähmt blieb sie +am Gartengitter stehen. + +Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn +die Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und +daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie +sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt. + +»Die Augen zumachen -- fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das +durfte sie nicht. Ihren eigenen Willen durfte sie ganz gewiß nicht +hinterdrein im Stich lassen. + +Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun. + +Und leise -- leise, mit werbendem Klang, lockte aus der Tiefe des +Gartens die zweite. + +Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben +entzückt darauf haften. + +»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut. + +Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie +sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Wege vom Bahnhof, +unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße +Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig +Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten, +unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier +mußte er kommen; und nun stand sie dicht am Gitter, hinter welchem er +blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er +mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie +ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war +fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskam. + +Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand +stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei. + +»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend. -- + +Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im +Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau +lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages. Voll +Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in +der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig. + +Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt. »Papa! da ist jemand, der +dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer +geführt.« + +»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur thun! Da drin +muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik! +bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!« + +Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort. + +Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth +mitten in demselben, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die +Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wieder der des +Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt +hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehen sah und sie ihm mit +großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr +an den ausgelassenen Jungen im Schulhof. + +Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines +unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas +Freundliches sagt. All dies Gethue kam ihm wie zu einer andern +Welt gehörig vor, -- jedes konventionelle Wort vergaß er dieser +schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt +gegenüber. Es war, als stände sie auf einer einsamen Insel, am weiten +Meeresstrande, ganz allein vor ihm -- ein Kind aus dem Volke -- und +ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen. + +Ganz unwillkürlich, aus diesem Eindruck heraus, fand er nur das Wort +der Freude: »Kommst du zu mir?« + +Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser +Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende +Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, -- sie umwandelte zur +traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte. + +Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr +ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren +Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!« + +Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte +ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel +ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck +übermütiger Lebenslust, den er an ihr gesehen, darüber wegtäuschte. + +»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte aus dem schmalen +Gesichtchen. + +Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie +ein Vogel, auf den eine fremde Hand sich legt. + +»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kamst? Sage mir, +weshalb du kamst.« + +Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief +sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten +Schuleindruck an, -- aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren +wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen. Sie versuchte, die +Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein +unmöglich. + +Und plötzlich brach Ruth in Thränen aus. + +»Mein liebes Kind!« sagte er sanft, und strich ihr das lose, lockige +Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann +nahm er ihre Hände wieder in die seinen. + +»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er. + +»Ja!« sagte sie leise. + +»Unbedingtes?« + +»Ja!« sagte sie wieder. + +»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal +ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.« + +Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper +ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr +gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun +sage mir, weshalb du kamst. Sage es, so gut du kannst. Versuche es nur. +Ich werde dir helfen.« + +Sie seufzte und begann unsicher. »Ich komme nun bald nicht mehr in die +Schule --« + +»Nein. Ich weiß. Und --?« + +»Und da mußte ich hierher.« + +Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern +hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!« + +Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Nie noch meinte er eine so +tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben, wie diesem Kinde +gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen, +wie auf etwas, das ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß +er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten +ließ. + +»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er. + +»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!« + +Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus +und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagte +»Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem +Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen. + +Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen +Plan. + +»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei +Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend, +»wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei +mir nehmen?« + +Sie nickte eifrig. + +»Gut. Wir würden also miteinander arbeiten,« -- und in leichtem Tone +setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen? +In dem Aufsatz da, -- der hat uns ja zu einander geführt, nicht wahr? +-- nun, da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen +so ungeordneten kleinen Kopf, mit so krausen, wilden, unfertigen +Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du +das wohl?« + +Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du +wirst es schon ordnen und entwirren!« + +Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein +scheuer, kleiner, mattgeflogener Vogel, der sich hilflos verflattert +hat, und sich mit einemmal in einemn weichen Neste findet. + +Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und durch den feinen Nebel +hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg, +fielen ihre Strahlen beinahe rot, wie flüssiger Purpur. Die beiden noch +vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus. + +Ein herber, frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen +Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der +Nachtigallen. + +Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung. + +»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann +war, den du auf der Straße grüßtest?« + +Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte +es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen +verräterisch zwei Schelmengrübchen. + +»Ich -- -- -- ach, der! Den kenne ich ja gar nicht.« + +»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie +kam denn das?« + +»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer, und überlegte, »-- es +ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich habe ihn mir ausgesucht, +aber er weiß ja nichts davon.« + +»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehen,« +sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich +deutlicher. -- Nun?« + +»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es +war eine bloße Geschichte, -- die wir untereinander spielten, -- im +Schulhof, in der Frühstückspause, -- und da mußte jemand vorkommen, der +ungefähr so aussah. Und da -- habe ich mir diesen ausgesucht, weil es +schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.« + +»Aber was sollte er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du +ihn zuerst grüßtest?« + +»Das mußte ich ja thun! Wie sollte er sonst wissen, was er zu thun +hatte? Ob er grüßen durfte?« + +»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn +das nicht überlegt?« + +Sie sah erstaunt auf. + +»Das durfte er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt. +Er mußte edel und unglücklich sein.« + +Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt +auf sie. + +»In eurem kindischen Spiel -- ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er +langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst +du das nicht auseinander halten? Das mußt du können, Ruth! Und nun +sage mir, was du gethan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle +gefallen wäre?« + +Sie dachte nach. + +»Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.« + +»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zumachst?« + +»Ich? Nein! aber doch er. Denn dann hätte ich ja einen andern suchen +müssen.« + +»Einen andern?!« + +Sie nickte. + +»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig. + +»Und das hättest du wirklich gethan? Besinne dich mal! Wäre es dir +wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist +dein Benehmen war?« + +Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf. +Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht +begreifen, was dieser fremde Mann, außerhalb seiner Rolle, sie kümmern +sollte? + +»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir!« rief sie mit kläglichem +Gesicht. + +Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor +Ruth stehen, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte. + +»Sage mir, gibt es mehr solcher fremder Menschen, die du auf der Straße +grüßest?« + +»Ja. Alle Straßen sind voll davon.« + +»-- Männer --?« fragte er zögernd. + +»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen, +Kinder, alte Leute.« + +»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?« + +»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am +liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre +Geschichten, -- viel, viel schönere, -- wunderschöne,« fügte sie +lebhaft hinzu, -- »und die mit Kindern sind nur die liebsten.« + +»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?« + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Sie finden sie nicht schön!« sagte Ruth traurig. + +Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und +neigte sich ein wenig vor. + +»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst, »aber +alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht +hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen +phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen +Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur +mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören. +-- Wirst du es bedingungslos und gehorsam thun?« + +Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte +es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach +Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch +einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm +so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt +dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes +wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und +kniete bei Erik hin, -- wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz, +erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten. + +Sie fühlte sich so glücklich. Zu Hause. Geborgen. Von hier aus mußte +alles Gute kommen. + +Er strich ihr leise über das Haar. »Also höre unsern Vertrag zu Ende,« +sagte er in dem ruhigen Tone, unter dem sie ganz still wurde und +lauschte, »wenn du mir deine Geschichten schenkst, dann schenke ich dir +auch etwas. Du sollst, soweit es an mir liegt, nicht in deiner eigenen +Phantasie stecken bleiben, sondern mit klarem Blick so weit schweifen +lernen, wie das Leben -- das wirkliche, herrliche Leben -- reicht. Und, +wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte, meinst du +nicht, daß ich dich damit etwas Schöneres lehren werde, als du bisher +dir geträumt und zusammengedichtet hast?« + +»Ach ja!« rief sie sehnsüchtig, als strebe sie verlangend beide +Hände nach etwas Erwartetem aus, -- »das ist sie ja: von allen die +allerschönste Märchengeschichte!« + +Ihm fiel der Ausdruck auf, weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen +gegenüber gebraucht hatte. + +»Gerade das sagtest du ja, als du heute morgen den Mädchen erklärtest, +daß du etwas Neues vorhabest. Was war es denn?« + +Zu seinem Erstaunen fuhr Ruth zusammen, und senkte den Kopf. + +Erik sah betroffen aus. + +»Was war es?« fragte er streng. + +»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.« + +Er faßte ihre Hand hart im Gelenk, so daß es sie schmerzte. + +»Wenn es etwas ist, was dir so schwer fällt, auszusprechen, dann ist es +um so notwendiger, daß du es sagst. Ich muß es wissen, -- jetzt gleich, +Ruth.« + +Sie versuchte, die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen, und als +es ihr nicht gelang, senkte sie das Gesicht noch tiefer, so daß es sich +an seinem Rockärmel fast versteckte. + +Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht. Es war über und +über in Glut getaucht. + +»Es hilft nichts, sich zu verstecken,« sagte er unerwartet sanft, »du +wirst mir immer nachgeben müssen, mein Kind. Mach es kurz!« + +Ihre Hände schlangen sich nervös auf seinen Knieen ineinander, dann hob +sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf. + +»Es war nur, -- ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt; +alles stockte auf einmal, -- nichts mochte ich mir weiter ausdenken. So +schön ich es mir auch ausdachte, mit so vielen Menschen drin ich es nur +auch ausdachte, -- ich blieb immer allein. Die Menschen grüßten, und +gingen vorüber. Und da -- da kam eine solche Sehnsucht, -- seit vier +Tagen solche Sehnsucht. Ich konnte nicht mehr spielen. Nie mehr.« + +»Sehnsucht -- wohin?« fragte er halblaut. + +»Hierher!« sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg. + +Er ließ ihn frei, ließ zu, daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel +versteckte. + +Beide Arme hatte er um sie geschlungen. + + + + + II. + + +Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und +Handschuhe auf den Knieen und blickte nachdenklich darauf nieder, +während er dem Gespräch der beiden zuhörte. + +»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte +der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist +Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohnedies nicht, was +die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die +meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.« + +Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde +stark durch dieselbe beeinflußt. Der Onkel, mit seinem aschblonden, +schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen +Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und mit seinen frauenhaft +feinen Händen, gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte +er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine +ausgesprochene Antipathie. + +»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären jetzt +auch durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte +er aufblickend; »sie muß zu thun haben, -- wirkliche Arbeit +und Anstrengung muß sie haben. Selbst körperliche oder geistige +Ueberanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In +diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am +meisten.« + +»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem +Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man läßt sie viel zu viel gewähren. +Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.« + +»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen +Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie +doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?« + +»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du mir wirklich nicht +vorzuhalten, -- es ist ja gerade, als ob ich Ruth Dinge verrichten +ließe, die sich nur für den niedersten Dienstboten schicken!« sagte +seine Frau, die scherzende Uebertreibung unerbittlich ernst nehmend, +»aber ein wenig sich im Häuslichen umsehen, -- das hätte Ruth ganz wohl +können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der +Beruf der Frau.« + +Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große, +stattliche Erscheinung der Tante, an der es ihm charakteristisch für +ihr ganzes Wesen vorkam, daß die ihr gewohnten guten Formen des äußeren +Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht verdecken +konnten. + +»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie +sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von +allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹, +bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall +eine gleichgültige Spielerei, -- im schlimmern Fall weckt sie die +Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätte ich gegen das +Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.« + +Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau +gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muß bekennen, +daß ich gar nicht begreife, warum sie alle beide so versessen darauf +sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich habe ich nicht das Geringste +gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen, +-- im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie +doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch +auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht +zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer +Faulheit vergnügt zu sein.« + +»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton, +»Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem +selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch +zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem +Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung +gesehen. Wenn dieselbe nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft +Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.« + +Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf. + +»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst +praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie +eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt +und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur +wissen, wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst +ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann +Liuba gar nicht mitkommen.« + +Seine Frau sah ihn verletzt an. + +»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt, »Liuba würde +nicht umhergehen, wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es +so am bequemsten ist. Und überhaupt, -- denken Sie nur, neulich höre +ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›paß nur auf; wenn du ein Jahr +älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und häßlich ist, und +wirst am Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ -- -- Mein Gott, Sie +wissen ja, wie junge Mädchen so untereinander reden! Aber was antwortet +Ruth darauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht +lieber: wie gefällt er mir?‹« + +In diesem Augenblick ging die Thür auf, und Ruth trat ein. + +Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, daß sie Besuch vorfinden +würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde +glühend rot. Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der +Ihrigen, die ihr so fern standen, -- die unerwünschte Vermischung +eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und +floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie +wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben +niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; -- etwa so, wie wenn +man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des +Pöbels übersetzt findet. + +Daß Erik herkommen, daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten +auseinandersetzen mußte, das fiel ihr nicht im geringsten ein. Er +hätte das schon so einrichten müssen, daß es eine Angelegenheit aus +einer andern Welt -- aus ~ihrer~ Welt blieb. Lieber noch wäre sie dann +des Nachts, heimlich, und auf bloßen Füßen bis zu ihm hingelaufen. + +Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und +mit scheuem Gesicht, in die Thürspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit +empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham, +-- Scham darüber, daß etwas Zartes, ihr Zugehöriges, vor fremden Augen +herumgezeigt und besprochen wurde. + +»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend, +»kannst du nicht näher kommen?« + +Da that sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände vor die Augen, und +so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind, +das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den +geschnitzten, runden Sofatisch, um den sie saßen. + +Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte +strafend: »Ein so großes Mädchen!« + +Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte +sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er +die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich +heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie. + +Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu +Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so +dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz +anders -- hier, an dieser Stelle, -- es klang wie die Anrede, die man +einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen dasteht. +Ja, sie stand ihm und den andern ~gegenüber~, und sie verhandelten da +über sie, als wäre sie verraten und verkauft, -- als handle es sich gar +nicht um ihre -- ~ihre~ eigene, ~eigenste~ Angelegenheit. + +Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft. + +»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte +der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es +aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab' +ich dich noch nie gesehen.« + +Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr +abzulenken. + +»Wir wollen schon mit einander zurechtkommen,« sagte er mit warmer +Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und +Stunde des geplanten Unterrichts. + +Ruth stand teilnahmlos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu +beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte +einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie +blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster +des Parkettfußbodens. + +Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie +ihren Onkel sagen: »Also, wenn es Ihnen wirklich kein zu großes Opfer +ist, erwarten wir Sie jedesmal hier, am Nachmittag, nach Ihren +Schulstunden!« + +»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie +aufwachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum +andern; »~hierher?~ das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinauskommen.« + +Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine +Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch. + +»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich +bei, »und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns +verbringen will, so wäre es in der That während dieser Sommertage +vorzuziehen.« + +Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie +vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so +peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch +auf ihn überzugehen, als ahne oder begriffe er plötzlich ihre zornige +Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen, +fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit +einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen, +als in seinem eigenen, stillen Zimmer, -- dort, wo sie zu ihm gekommen +war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall +zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie +sich ersehnt und erträumt hatte. + +Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante +hinausging, blieb Ruth regungslos stehen, die Hände auf dem Rücken, +den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im +Flur hörte sie die Hausthür gehen, dann einen raschen Schritt auf der +steinernen Treppe. Darauf wurde es ganz still. + +Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von +blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und +Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den +vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen +Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten. + +Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, auf dem Erik vorhin gesessen hatte. +Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf +darauf. + +Und dann fing sie an bitterlich zu weinen. -- + +Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte +ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in +ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht +wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch +nicht. Er war doch kein Hellseher. + +»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis +plötzlich ärgerlich. + +»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick. + +»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das thut ja jeder Mensch. +Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?« + +»Jetzt eben dachte ich an Großpapa,« sagte Ruth. + +Darüber freute sich ihr Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte +seinen Vater unendlich lieb gehabt. + +»Du warst erst fünf Jahre, als deine Eltern starben, und du damals +hierher kamst; erinnerst du dich denn seiner noch?« + +Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und +deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein +schneeweißer, großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen +-- Kinderaugen eigentlich. + +»Einmal hob er mich aus dem Bett -- er sah so schön aus, mit Bändern +und Sternen, und blitzte über und über, -- und da kam seine brennende +Cigarette an meinen bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm +Thränen in die Augen -- aber wirkliche, große Thränen, so daß die +Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und +küßte mich, -- auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den +ganzen Körper. -- So war Großpapa. -- Jetzt würde ich mir gern den Arm +abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte +sie wild hinzu. + +Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie +vergessen können. + +»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte +darüber nach, was er ihr schenken könnte. + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom +Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten +goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider +von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da habe +ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich habe es noch. -- Und so +sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.« + +Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so +sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider +aus Seidenpapier -- das waren doch sicherlich normale und harmlose +Phantasien eines Kinderkopfes. -- + +Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde +fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr +zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehme ich dich in Schutz!« +-- + +Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr +nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht +mehr so lange einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging +geradeaus -- nicht hinten die Terrasse hinauf und in das Haus, sondern +weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt +hatte. + +Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen +zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar +keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen. + +Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf +und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er +die Jacke abgeworfen. + +»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach +seiner Jacke, die auf dem Rasen lag. + +»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den +dicken Stamm einer alten Ulme. + +Daraus wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige +Augenblicke. + +»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken, +und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Aesten +empor, die über ihr rauschten. + +Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts. + +»Wo ist das schöne?« fragte er verwundert. + +»Diese kleinen, drolligen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon +viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den +Knospen -- und alle miteinander an den Zweigspitzen, -- als getrauten +sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den braunen, +klebrigen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht +aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut? +Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie +wieder wegfliegen.« + +»Sie fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder +seinen vermeintlichen Raupen zu. + +»Nein. Nur diese hier thun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand +gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung +die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten. + +»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von den roten, +durchsichtigen,« meinte Jonas, »denn die esse ich am liebsten. Sonst +haben wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen.« + +»Sie sehen ebenso schön aus,« entgegnete Ruth; »wenn man am Gitter +steht, sieht es aus wie ein Märchen. Aber später werden sie so grün und +natürlich wie die andern Bäume. Nur kleiner.« + +»Das muß so sein,« erklärte Jonas gleichmütig, »sonst würde der +Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen. Und der ist das Beste +vom Sommer. Denn gerade hier, am Springbrunnen unter den Obstbäumen, +liegt meine Mutter im Ruhestuhl. Und sie kann die viele Sonne nicht +vertragen.« + +Ruth sah ihn mit Interesse an. Es kam ihr als etwas Besonderes vor, daß +er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten +freute und die grünen Blätter besser fand, als all die wunderschönen +weißen Blüten. Die Schulmädchen, die sie kannte, besaßen zwar +meistenteils auch Mütter, aber die pflegten gesund zu sein, und nie +hatte sie gehört, daß sie sich derentwegen auf den Sommer freuten, +sondern immer nur wegen der Ferien. Und dann waren es Mädchen. Dies +hier aber war ein Junge. + +Sie betrachtete Jonas genauer, und er gefiel ihr sehr gut. Und auch er +sah jeden Augenblick zu ihr hinüber, und auch sie gefiel ihm über die +Maßen. + +»Ist sie sehr krank?« fragte sie nach einer Weile zaghaft. + +»Nicht sehr. Sie kann nur nicht aufstehen, -- schon viele Jahre nicht;« +belehrte er sie, »wenn sie das thun will, dann nimmt Papa sie in die +Arme und trägt sie. Das kann er so prachtvoll. Manchmal hat sie auch +Schmerzen, und weint. Und dann muß Papa immer bei ihr sein, und das +hilft ihr.« + +Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu, wo die kranke Frau +lag, und wo er war, der sie trug, und der ihr half, wenn sie Schmerzen +hatte. + +»Hinter diesem Fenster,« sagte Jonas und wies mit der Hand über die +Terrasse nach dem Wohnzimmer; »da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen +hineingetragen worden.« + +Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu +sehen, der ihnen den Rücken zukehrte. Und nun wandte er sich langsam +um. + +Ruth löste sich ein wenig hastig vom Stamm, an dem sie lehnte. »Jetzt +will ich hineingehen,« sagte sie. + +Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten +sehen, war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und +hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt, wo sie +mit Jonas stand und plauderte. + +Klare-Bel lag neben dem Fenster, mit einer mühsamen und kunstvollen +Handarbeit beschäftigt, die darin bestand, an einer schadhaft +gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen. Man nannte diese +Arbeit in Holland »Maazen«. Und wer es ernst damit nahm, der wollte das +»Maazen« bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt +wissen. + +»Kommt Ruth noch immer nicht herein?« fragte sie nach einer langen +Pause. + +Er zog die Uhr. + +»Nein. Noch fehlen einige Minuten an der Zeit,« bemerkte er einsilbig. + +»Das ist doch eigentlich kein Grund, nicht hereinzukommen, wenn sie +einmal da ist. Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und +plaudert mit Jonas, als daß sie im Zimmer sitzt und lernt, Erik. Das +ist am Ende auch ganz natürlich.« + +Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre +Handarbeit nieder. Erik konnte das »Maazen« nicht leiden. Er +behauptete, es verdürbe die Augen, und sogar den Charakter. + +»Bitte, hör' jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf,« sagte er und +nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand, »ich weiß nicht, -- das Zeug +macht nervös.« + +Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr. + +Ihm war die Ahnung gekommen, daß es doch nicht so ganz von selbst +gelingen werde, bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen, wie er +es sich an jenem wundersamen Maiabend gedacht. Sie wollte durch +keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung seinerseits in ihrem +selbständigen Traumleben gestört werden, und erhob sie ihn auch zum +Helden ihrer »allerschönsten Märchengeschichte«, so mußte er sich dabei +doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen, -- +sonst entglitt sie ihm leise wieder, so leise und traumhaft, wie sie in +sein Leben gekommen war. + +Das durfte nicht sein; der Erzieher in ihm litt es nicht, daß ihm +mißlinge, was er sich mit Ruth vorgenommen hatte. Er wußte: er würde +nicht eher ruhen, als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte. Aber +welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben! + +Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige +Freude. Freude über den Kampf, der ihm mit Ruth bevorstand. Erik, +der andre weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte +gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein +jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte. + +Er wandte sich dem Garten zu. + +»Jetzt kommt sie!« sagte er, und wirklich, es klang wie ein Seufzer der +Erleichterung. + +Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf. +»Nun, viel Erfolg, Erik! Vergiß nur nicht, daß wir um neun Uhr den Thee +nehmen. Du wirst sie hungrig und durstig machen, denke ich mir.« + +Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen und öffnete schon +von innen her die Thür, als Ruth kam und anklopfen wollte. + +»Endlich!« bemerkte er, während sie eintrat, »weißt du, Ruth, was meine +Frau soeben meinte? Sie meinte, du seiest gewiß viel lieber mit Jonas +draußen im Garten, als bei mir hier in der Stube. Was sagst du dazu?« + +Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in +den Ledersessel, der am Fenster stand. Dann erwiderte sie mit +niedergeschlagenen Augen: »Ich bin doch gekommen, weil ich wollte, -- +nur weil ich's wollte. Daß Jonas auch hier ist, wußte ich doch gar +nicht. Das ist ja nur Zufall. Den fand ich hier.« + +Er wußte nicht gleich, was ihn an der Antwort, die keine war, +überraschte. Sie betonte ausschließlich, daß sie ganz aus freien +Stücken hier sei. Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar +nicht ein. + +»Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt, mein liebes Kind,« +sagte er, an seinen Schreibtisch tretend, und legte einige Hefte und +Bücher zurecht, »denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehen +wirst du ja in der Folge nur, wenn du ›willst‹, das heißt, wenn +Stimmung und Laune dir zufällig danach stehen. Hier hingegen, wo du +freiwillig hergekommen bist, kann es doch nicht ganz so bleiben. Hier +wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten, das vom +Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist. Also auch etwas, wovon +du manchmal denken wirst: ›ganz so möchte ich's nicht, -- ganz so +meinte ich's nicht, -- dies da soll anders sein, -- das da soll heute +nicht da sein‹. Ist es nicht so?« + +Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes Gesicht. Es war +ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen, was er da sagte. +Aber daß er das wissen konnte, kam ihr sehr unangenehm vor. + +Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze, die sie aufbehalten +hatte, vom Haar. + +»Nun, Ruth, gestern hast du mich nicht ansehen wollen, und heute willst +du mich nicht anreden. Hältst du so unsern Vertrag? Und ich hoffte +bestimmt, daß du mir viel erzählen würdest. Viel -- alles. Alle deine +schönsten Geschichten.« + +»Nein,« erklärte Ruth, »nie und nimmer. Ich will nichts erzählen. Ich +will alles für mich allein behalten.« + +»Du Geizhals!« sagte er und lachte, »das ist sehr schlimm. Ist es nicht +schlimm, wenn man einen zu Gaste geladen hat und dann die Hausthüre +vor ihm zuschlägt? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr, Ruth. +Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt? Hast du das vergessen? +Nun sind sie mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will. +Ich kann sie dir aus dem Kopf herausnehmen und für mich ganz allein +behalten.« + +»Ach nein!« fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach +ihrem Kopf, »das geht ja gar nicht. Es geht nicht, wenn ich nicht +will.« + +»Du spricht so viel von deinem Willen, Ruth. Und daß du nur hier bist, +weil du gerade willst. Aber weißt du denn eigentlich auch, ~wozu~ du es +willst?« + +Sie stutzte und blickte auf. Als sie nicht gleich eine Antwort fand, +fügte er hinzu: »Ich weiß es für dich: du wolltest eben diesen Willen +klären und erziehen lassen von jemand, der dich lieb genug dazu hat. +Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu.« + +Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels, und ihr Gesicht +wurde noch ablehnender. »Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte!« +dachte Erik, sie betrachtend. Aber hinter diesem Visier arbeitete eine +steigende Erregung in ihr. Die passive Stimmung, in der sie heute +hergekommen war, hielt unter Eriks Andrängen nicht stand, aber noch +weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten +Abends wieder zu erhaschen. Sie verschloß und verbarg sich daher +instinktiv vor ihm, wie vor einer Macht, die man sich erst genau +ansehen muß, ehe man sich mit ihr einläßt. + +»Alles ist heute anders!« murmelte sie. + +»Es wird immer anders sein, als du es dir willkürlich ausmalst,« +entgegnete er in ruhigem Ton, »und das soll es auch, Ruth! Es soll zu +ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie. Siehst du, auch ich habe +mir etwas Schönes ersonnen und geträumt, das ich in dir verwirklicht +sehen möchte. Ich versprach dir doch: für die Geschichten, die du +mir ~erzählen~ wolltest, solltest du eine durch mich ~erleben~. Die +Allerschönste -- sagtest du nicht so? Mit dem Erzählen mußt du es nun +halten, wie du willst, aber mit dem Erleben wirst du es halten, wie +ich will. Es war mein Geschenk für dich. Und wenn du heute auch nichts +davon wissen willst, so wirst du es doch trotzdem annehmen müssen.« + +Ruth wurde unruhig. Sie kannte nur zwei Sorten Menschen, und daß sie +Erik in keiner von beiden unterbringen konnte, ängstigte sie. Die eine +Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung, die ihr meistens +störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt; die +andre bestand aus den fremden Menschen, die sie, wie Schattenbilder, +aus der Ferne betrachtete, und denen sie die äußere Anregung zu ihren +Phantastereien entnahm. Zu denen konnte Erik nicht gehören, denn die +thaten nur, was sie wollte, -- sie ~waren~ ja nur, was sie wollte. Er +hingegen war eine Wirklichkeit, die auf sie eindrang. Sie konnte ihn +aber auch nicht abwehren, wie sie die Ihrigen von sich abwehrte, denn +es war etwas da, was sie mächtiger reizte und anregte, als es alle +Schattenbilder zusammen gethan. + +Sie sah ihn scheu an. + +»Ich will lieber ein andres Mal kommen,« bat sie leise, »ich kann heute +nicht lernen. Ich kann's nicht.« + +»Doch! doch!« entgegnete er beschwichtigend, »du kannst es. Und im +Grunde willst du es auch. Aber wir können nicht in jedem Augenblick den +Kampf darum von neuem aufnehmen. Der muß ein für allemal entschieden +werden. Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.« + +Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich: »Dann kann ich auch +fortbleiben.« + +Es war ihr ganz spontan, wider alle Ueberlegung, entfahren. Aber nun +half es nichts. Nun war es heraus. + +Erik sah, wie sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand, +und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn. Ihm kam es vor, als habe +er sie mißhandelt, und sein Blick wurde sehr weich. + +Aber er dachte nicht daran, dieser weichen Regung nachzugeben. Er +wünschte, die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag +zu bringen. Am Gelingen zweifelte er nicht. Und voll Freude fühlte er: +war es erst überstanden, so konnte er alle Strenge in die Rumpelkammer +werfen. Dann war er Ruths für alle -- alle Zeit sicher. + +»Gewiß kannst du fortbleiben,« bestätigte er ruhig, »wenn es sich +für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat, als um einen solchen +Zeitvertreib, wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt. Weißt du +noch, was du von dem Fremden sagtest, den ihr in euer kindisches Spiel +hereingezogen habt? ›Wenn er mir nicht gepaßt hätte, wenn er aus der +Rolle gefallen wäre, die ich ihm zugewiesen, dann hätte ich mir einfach +einen andern suchen müssen, -- ich hätte die Augen zugemacht und wäre +fortgelaufen.‹ Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so, -- -- +dann laufe nur fort.« + +Während er sprach, fühlte er beständig das große Mitleid. Sie sah nur +ein einziges Mal auf, und wie sie seinem weichen Blick begegnete, da +war es, als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über, -- +als suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem +Leiden befreien, ihm weh thun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die +Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben, +und da nahm ich ihn mir!« + +Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und +drückte sie zwecklos in den Händen zusammen. + +»Ich will nach Hause gehen!« wiederholte sie, und zitterte am ganzen +Leibe. + +»Wie du willst.« + +»Also adieu,« sagte sie, und ging langsam, wie gelähmt, der Thüre zu. + +»Adieu, mein Kind.« + +Sie hatte Mühe, den Thürgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände +waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Thür offen stand, und +sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Thür mit +brennenden Augen ins Zimmer zurück. + +Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster. Er hatte +den rechten Arm auf die Lehne desselben gestützt und die Hand über die +Augen gelegt. + +Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein +Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich +überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, -- um sie leide, die ihn +verletzt hatte. + +Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dieses Gefühl war seltsam und +berauschend; es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein +Glück anfühlte. + +Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst +der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht, +sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen. + +Wer Ruth über den Flur gehen sah, der konnte meinen, sie sei +trunken. -- + +Um neun Uhr -- Gonne hatte bereits den Thee und die gerösteten +Brotschnittchen auf den Tisch gebracht -- kam Erik endlich in das +Wohnzimmer herüber. + +»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in +sein Gesicht, »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte +doch, daß sie mit uns bleiben sollte?« + +»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht +weiter. + +Aber Jonas that es statt ihrer. + +»Ruth habe ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald +wieder her, Papa?« + +»Bald!« sagte dieser. + +»Denke dir nur, sie wollte es mir nicht sagen,« plauderte Jonas weiter, +»ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da +sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so, +-- sie sah aus, als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte.« + +»Was geschenkt?« wiederholte Erik, und setzte das Theeglas, das er zum +Munde führen wollte, hart auf das Tischtuch nieder. + +»Ja, ganz gewiß, gerade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht, +und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.« + +»Es ist ihr doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt. + +»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser habe ich ihr vom +Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. -- Ich habe ihr aber +noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu. + +»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnte +es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.« + +»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas +geschenkt bekommen hätte.« + +Er sprach in leichtem Ton, doch beschämte ihn, was Jonas erzählt +hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich +zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte und selbst, daß sie weglief, +begriff er ganz gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er +nicht. War es denn möglich, daß sie gern, -- mit Freude, fortging? -- +-- Und daß sie nicht wiederkam? -- -- + +Während sie noch beim Thee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter +heraus. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die +dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah. Ein Sturmwind +fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein, +den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand +unvermittelt. Und gleich darauf prasselte, unter grellzuckenden Blitzen +und gewaltigen Donnerschlägen, ein heftiger Platzregen nieder. + +»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! bitte, Jonas, iß nicht mehr! +Ach, Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen +schloß. + +Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in +den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück. +Die Gewitterangst war etwas, das sie überkommen hatte, seitdem sie +hilflos dalag. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik +würde es an ihr auch wohl nicht geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld +damit. + +»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf +einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!« + +»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und +legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?« + +Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände. + +Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag. +Auf Augenblicke sah der Garten aus wie unter bengalischer Beleuchtung, +und im bläulichen Scheine konnte man die vom Sturm losgerissenen +Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinander fliegen sehen. + +Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal +zusammen. + +»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, ehe es losging?« fragte sie. + +»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,« +beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei +diesem Unwetter nicht zu holen braucht.« + +Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig +nachließen, und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach +niedertrommelte. + +»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von +ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte +Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte. + +Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und +blickte, über deren Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus. +Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte +hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen. + +»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen +Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so wie Ruth es gesagt hat! wie leid +wird es ihr thun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon +wieder blau, Papa.« + +»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel, »solche Aufregung und Verwirrung +draußen ist schrecklich. Man wird förmlich mit hingerissen.« + +»Ja, das ist nichts mehr für dich, meine Arme,« sagte Erik, »es gab +aber Zeiten, wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des +Meeren aushalten mußtest, ohne daß ich bei dir war.« + +»Das war auch entsetzlich, Erik, ganz entsetzlich war es,« versicherte +sie zusammenschaudernd, »damals, als du mit den Leuten hinausfuhrst, +wenn ein Schiff in Gefahr war. Und das eine Mal, weißt du, wo du ganz +allein es warst, der den Niels und die andern dazu beredete. Denn die +hatten ja auch Frau und Kind. Aber das hast du immer so gut gekonnt: +die Leute bereden. ›Es wird gehen!‹ sagtest du ihnen, und da glaubten +sie dir.« + +»Du glaubtest mir ja auch, Bel, wenn du allein Zurückbleiben mußtest, +und wenn es dir schien, als ginge das nicht.« + +»Ja, Erik. Manchmal dachte ich, der Schreck würde mich töten. Aber dann +sagtest du so zuversichtlich: ›Wenn ich nach Hause komme, naß und müde, +Bel, dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen, und +beide vergnügt und gesund.‹ Nun, und da mußte es wohl so sein.« + +Er schwieg. Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht, in welcher er, aus +wirklicher Lebensgefahr heimkehrend, seine Frau gefunden hatte, wie +sie, das Kind neben sich, mitten in der kleinen Stube auf den Knieen +lag und laut betete. + +Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen +geblieben, denn noch nie hatte er sie beten sehen. Als sie heirateten, +waren ihm unter ihren Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände +gefallen, und wie sie ihn darin blättern sah, fragte sie ihn: »Glaubst +du an das, was darin steht?« Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt +und geantwortet: »Nein, Bel.« Seitdem war dieser Gegenstand nur noch +ein einziges Mal, nach Jahren, im Gespräche wieder berührt worden, +und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen, daß seine Frau, +ohne es auch nur selbst recht zu merken, ihren Glauben gar nicht mehr +besaß. Auf seine Frage, wie denn das geschehen sei, hatte sie mit ihrem +freundlichen Gleichmut verwundert erwidert: »Ja, Erik, wenn es doch gar +nicht so ~ist~, -- was kann es dann noch nützen, daran zu glauben?« + +Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln +und seinem nassen Wollwams hereintrat, da hörte sie auf zu beten und +streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen. Er hob sie +von den Knieen auf und küßte sie. »Thust du ~das~, Bel, wenn ich nicht +bei dir bin?« fragte er sie leise. + +»Wenn du nicht bei mir bist, Erik!« sagte sie weinend, »denn dann, +scheint mir immer, muß ich es thun!« + +Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde. Kurz darauf that sie den +gefährlichen Sturz, der ihr die Gesundheit kostete, und das Kindchen +wurde tot geboren. + +Als Gonne mit einer brennenden Lampe hereinkam, fuhr Erik aus seinen +Gedanken auf. + +»Ich möchte jetzt zu mir hinübergehen,« bemerkte er und küßte seine +Frau auf die Stirn, »ich habe noch Schularbeiten für morgen. Sobald du +müde wirst, mußt du mich rufen lassen.« + +Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel. Nur von ein paar +rosenroten Wölkchen, die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden +hatten und nun mit heiterm Leuchten selbständig auf einem breiten +Stück Himmelsblau herumschwammen, fiel ein schwacher Schein durch die +Fenster. Man konnte in ihm den Schreibtisch, den Bücherschrank, das +alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen. + +Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen. + +Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt, daß auf dem +Ledersessel am Fenster Ruth säße. An Halluzinationen konnte er doch +nicht leiden. + +Mit einem Gefühl des Aergers über sich selbst schloß er hinter sich +die Thür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter, um Licht zu +machen. + +Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin. Auf dem Sessel +saß wirklich jemand. + +»Ich bin es!« sagte eine klägliche Stimme. + +»Ruth!« rief er laut. + +Sie war es. Durchnäßt bis auf die Haut, in Kleidern, von denen das +Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte, und die an einer Seite +zerrissen niederhingen. Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander. + +Erik hatte sie in seine Arme gerissen und betastete sie besorgt und +erregt, mit liebkosenden Händen, -- Brust und Arme und das verworrene +Haar, das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte. + +»Wann -- wann, -- von wo bist du gekommen? Warst du denn nicht zu +Hause?« + +»Ich war nicht zu Hause,« sagte sie zaghaft und schmiegte sich +frostbebend an ihn; »ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren. +Und hergelaufen. Gerade als es losging. Ich will nicht nach Hause,« +fügte sie flehend hinzu, »mich friert so!« + +»Mein Liebling, du sollst nicht nach Hause! Du sollst hier bleiben! +Aber wie lange mußt du hier schon sitzen? Wie konntest du das nur thun? +Und es hat dich doch niemand an der Thür auf der Terrasse läuten +hören?« + +»Ich habe nicht geläutet. Ich schämte mich. Ich bin hier in das Fenster +geklettert. Aber es ging schwer,« gestand sie, und Mund und Augen +lachten übermütig zu ihm auf. + +»Und dann? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingetreten wäre?« + +»Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen!« erklärte sie +schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene +Katze. Und dann sagte sie ganz leise: »Denn vor den andern konnte ich +es nicht sagen. Und doch mußte ich es sagen. Deshalb kam ich ja zurück! +Ich mußte sagen: Ich will alles thun, was ich soll.« + +Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof geschickt worden, +um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben, daß sie draußen übernachten +müsse. Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt, welches +Gonne eilig für sie hergerichtet hatte. Dann bekam sie heißen Thee zu +trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer. + +Jonas fühlte sich sehr stolz, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß +er Ruth das wichtigste Möbel, das der Mensch besitzt, sein Bett, +abgetreten habe. Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend +in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus, dessen Polsterwerk +an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch +war Jonas zu aufgeregt, um bald einzuschlafen, und alle Augenblicke +guckte er durch die Thürritze und fragte, was denn Ruth jetzt wohl +mache. + +Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr +durcheinander. + +»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt +mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich. +Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so +wunderschön zum Kneten!« + +Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg. + +Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie +mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es +keine eigentlichen Fieber-Phantasien, sondern sie enthielten einen +deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht +oft so mit sich selbst spräche, ohne daß ein Mensch es hörte, und daß +jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es +unbewußt vor Menschenohren zu thun. + +Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem +Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise, +als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen +ihren Willen des Weges geschoben worden, -- mit Gewalt hinausgetrieben +in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen, +dunkeln Weg dahingehen, während Hagel und Wind ihr entgegentosten, und +ihre Füße im tiefen, durchweichten Lehmboden stecken blieben. + +Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild: der Versuch vor +etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht. + +»Ich laufe und laufe, und bleibe immer am Fleck!« klagte sie unruhig, +und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte. + +Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, zu seinem Schulgang +fertig angekleidet, zu ihr hereintrat, saß sie aufrecht im Bett, in +einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und +blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen. + +Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe +hereingeschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von +seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung +abgerissen. + +»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich. + +»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen, +sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich. +Wollten wir nicht zusammen arbeiten?« + +»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehen, +so daß die Blumen von der Decke glitten. + +»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!« + +»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die +Augen schloß. + +Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls. + +»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er +dazwischen, »dann finde ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz +gesund. Nicht wahr?« + +»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen. Aber auf ihrem +Gesicht war ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte. + +Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn. + +»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh! +Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich +nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn +nicht mehr gern bei mir? Thut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?« + +Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an. + +»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie. -- + +Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden +bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten +Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch, +etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo die Tante, im +Morgenhäubchen, sich noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich +ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im +Begriff, wie allmorgendlich, ins Ministerium hinunterzugehen, saß in +Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten +Glase Thee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften besorgten Fragen +nach Ruth entgegen. Erik erzählte, wie sie auf dem Heimweg umgekehrt, +ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei. + +»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf +sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe, +»wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn +Ruth einmal unerwartet vom Warmen ins Kalte gerät, da schaudert ihr +die ganze Haut und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz +entsetzlich fürchten.« + +Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten +Augen Thee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben. + +»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal +eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.« + +Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf. + +»Hat sie ~dazu~ Anlage gezeigt?« fragte er langsam. + +»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist +schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in +der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid mit bloßem Halse. Es +war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest +lieber davon still sein.« + +»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum +saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie +ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern. +Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe +auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein. +Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.« + +»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, -- »das, was +die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war +nämlich als Kind fest überzeugt davon, daß in den Raupen, Schlangen und +allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer +voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In +solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen, und auch +geblieben. Sie hat dasselbe Grauen unvermindert noch heute.« + +»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie +daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik. + +»Das hätte es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein +Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht +behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen, wenn +man ihr nützen will.« + +Er erhob sich, um Abschied zu nehmen. + +Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen +Cigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich +zu Erik: »Wissen Sie, -- ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die +Ruth bei Ihnen ist.« + +»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik +einfach. + +»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn herantrat, +»ich glaube, gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor +die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die +rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: ~nach Hause~.« + +»Aber, ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach +deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.« + +»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich. »Nein, gut +behandelt, natürlich, wie sollte es denn anders sein? Aber wozu sollen +wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es +verstehen. Neulich fühlte ich's schon, heute weiß ich's ganz deutlich. +Ich ~freu'~ mich ja auch an ihr, -- ja, das thu' ich, weiß Gott, -- +aber im übrigen: das Kind ~hat~ nichts davon. Das ist es nur, was ich +meine.« + +»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar +sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als +ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und +wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege +sie.« + +Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebsten nie +wiedergegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan, +für den er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren beinahe Freunde geworden. +-- + +Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen +Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück +gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht +hatte, schützte sie vor der Morgensonne. + +Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber +entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die +letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch +den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die +frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die +inmitten derselben ruhte. + +»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte +liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du +weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die +Nacht krank dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß +du nun zu mir kommen kannst.« + +Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansehen konnte, wie +rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen sein +mochte. Und, einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und +küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an, +wie den kostbarsten Gegenstand hier im Hause. + +»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt +ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?« + +Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom +Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum +ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt. + +»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit +emporgezogenen Knieen auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens, +aus dessen geborstener Wasserurne über ihr ein langes, dünnes +Schlinggewächs sich schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es +am allerschönsten in der ganzen Welt!« + +»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend, +fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer +ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher +gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon +einmal am Meer gewesen?« + +»Ja, mehreremale,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wäre ich gerade da +gewesen, wo Sie gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel. Aber ich wußte +damals nichts davon. Nein, ich wußte es nicht.« + +Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor, +daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie +spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so +ernsten und bewegten Gesicht. + +»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck +hinzu, »alles, ganz so wie es war. War es wunderschön?« + +Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik +viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten. + +»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an. + +»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier, +trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das +Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.« + +Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nachdem +sie beschrieben, wie dörflich-klein und doch wie wunderbehaglich es +gewesen sei, trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen +Fensterscheiben, die von der Salzluft immer beschlagen waren, -- +kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus- und eingingen. +Viele Menschen waren das, -- ein ganzes Volk schien es Ruth, -- und +immer scharte Klare-Bels Erzählung sie um den einen, den sie in den +Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles +that, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen +Lächeln grüßten. + +Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie +wahrzunehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie ergänzte unbewußt das Bild +bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben +übermalte, die Klare-Bel selbst ihr auf die Palette rieb. Und um dieses +ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und +schäumen. + +Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen +knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie +den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie +idealisierte, was sie Ruth beschrieb. + +Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten +Wangen. + +»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar; »ich möchte nichts +andres thun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das +möchte ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!« + +»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch +nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eigenen Erzählung. +Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen, nur von +Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die +sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer, +Ruth. Denn es ist schwer, mit so vielen teilen zu müssen, die alle +von demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in +Anspruch nehmen, -- ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß +bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.« + +»~Das?~« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möchte ich lieber nicht. Das +hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen +stehen und alles können, als ob man ein Hexenmeister wär' -- das muß +herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf +einmal wäre -- und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.« + +Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische +Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie +dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu +wollen, sich einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte. + +Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich +ausgemalt. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch +nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Ringsherum Wasser, so daß +da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können, +nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen darauf. Ich weiß +nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, -- und dann etwas +Gewaltiges thun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.« + +Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das +sei es vielleicht so ungefähr gewesen, was ihr Mann einst gewünscht und +erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung +war. + +»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah +Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher +so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das +Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Aerzte, die Reisen, die +Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus. +Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.« + +Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig +sagen konnte. + +»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt wider Willen hervor. + +»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie +du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen. +Sogar in das Schwerste: stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen +sorgen zu dürfen für das Behagen derjenigen, die man liebt. Denn das +ist das Allerschwerste, Ruth.« + +Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes +Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte +es nur, den andern nicht mehr dienen zu können. + +Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen +Fall den andern noch dienen konnte. Was sie so entsetzte, war die +Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß +ein Andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, ~seiner~ Sache zu dienen. + +Es verwirrte sie ganz, daß die sanfte kranke Frau ihr gar nicht leid +that. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid thun, wenn sie +nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik +denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum +Weinen. + +Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen +Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie +sie es hätte behalten mögen, -- so klar und blau und ruhig, wie der. + +»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz verstummt war, +»einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb +hast. ~Dazu~ gesund zu sein, und schön und gut und klug obendrein! +Gleichviel, ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, -- +daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere. +Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als derjenige zu sein, +dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.« + +»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß +es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätte Gott +es ja schlechter als die Menschen!« + +Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, -- +einen tadelnden Blick. Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern +sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth. +Klare-Bel fühlte sich nur sicher, so lange Ruth zuhörte. Sie hörte +so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und +eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als +für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine +Spezialität. + +Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in +den Garten getreten, und man sah ihn, den Schulranzen auf dem Rücken, +zwischen den Bäumen im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein +kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges +Butterbrot, in das er hineinbiß. + +Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und +sagte: »Du, -- Sie -- haben --,« stockte und wurde rot. + +»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn. + +»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr aus dem Rande +des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen. +Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie +alt bist du denn?« + +»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth. + +»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich +sein Gesicht auf, -- »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht +mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir +essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,« +fügte er hinzu und brach, im lebhaften Drang sein Brot mit ihr zu +teilen, es in zwei Hälften. + +»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer. + +»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er, »aber das war auch +ein rechtes Glück, weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns +geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen. +Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben +können.« + +»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wäre ich auch fortgegangen,« +bemerkte Ruth tiefsinnig. + +Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte +er schnell. »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar +nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten hindurch fließt ein kleiner +Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern; der +Zaun ist nur niedrig.« + +»Nein,« erwiderte sie, »gehe nur hinter das Gehölz. Ich muß jetzt hier +bleiben.« + +»Was willst du denn hier thun?« + +»Ich muß nachdenken.« + +»Nachdenken?« + +Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine +Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf +und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich daran +beteiligen könnte. + +Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knieen +sitzen, die Arme auf die Kniee, und das runde Kinn auf die geballten +Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor +sich auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand, +und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie +wußte ganz genau, wo sie stehen geblieben war, als Jonas kam und sie +aufhören mußte. + +Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne +strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende +Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die +Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig +ihr Lied. + +Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in +goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels +Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen, +halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so +lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, -- in einem warmen +Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte +Ruth nicht. + +Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die +sie sonst kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher, +-- fast als ob es nur lauter Leiber wären, in denen so gut wie nichts +drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich +nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie +wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, -- die sahen viel +schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden, und +so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von +Gedanken. + +Ruth durchwanderte ihre ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage, +fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten darin den einzigen, wenn +er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und +Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stände er ihr ganz allein +gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, -- +der ~erste Mensch~ am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und +ein Wunder. Mit innerm Staunen stand sie still vor ihm, als müsse +sie fragen. »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier +herrschen?« Er beschädigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so +stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken +verlor und nur ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas +Besonderes, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei, +wenn sie ihn da dulden sollte. + +Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz, +Licht auf Licht auf ihn zu häufen. + +Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich +aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die +Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die +Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald. Sein erster +Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf +haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber +der leidende Ausdruck von heute morgen war völlig aus ihren Kinderzügen +verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik +wohlgefiel, lag in ihren Augen. + +Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur +Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel +sie auf sich zukommen. + +»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen, +meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen +Augenblick länger daliegen.« + +Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und +nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein +Kind an der Brust bettet. + +»Du allzuleichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus. + +Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen +Nacken geschlungen. + +Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die +Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst +Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu thun, was Erik that. Das Mitleid, +das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in +nichts verflogen, -- und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen. +Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß die kranke Frau sich nicht als +Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß +sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang. + +Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es heute +zum erstenmal geschah, und daß sie erst gestern hatte weglaufen wollen. +Sie fühlte sich als ein längst hierher gehöriger Hausgenosse, -- +zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen. + +»Von deinem Onkel bring' ich dir was mit,« sagte Erik, der sie zu +Mittag neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier +zu bleiben, als du willst. Ich denke, wir antworten ihn vorläufig: den +ganzen Sommer. Was meinst du?« + +Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf +sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen +Bissen gegessen haben. + +Als sie beim Kaffee waren, und die Kinder hinausliefen, blickte Erik +seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?« + +»O Erik! mir gefällt sie gut für dich! Denn sie hat etwas so +Unverständliches, finde ich. Das ist gerade was für dich. Was zum +Raten.« + +»Sie ist ein scheuer Vogel,« sagte er mit einem Lächeln, »und es ist +noch nicht gewiß, ob ich sie eingefangen habe. Eine falsche Bewegung, +-- und sie fliegt mir fort.« + +»Ja, Erik, das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend. Es macht +doch unsicher. Förmlich schwindlich würde es mich machen. Wie ein +konfuses Stickmuster.« + +»Unsicher? Nein, Bel, im Gegenteil. Man wird sich wieder dessen bewußt, +was man vermag -- ~ob~ man's vermag. Man sammelt die Kraft, -- die +vergessene, eingerostete. Und so kommt man endlich wieder zur großen +Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst.« + +»Ja, ja, Erik. Wenn nur alles gut geht.« + +Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern: +»Sorgenmütterchen! nur ein einziges Mal: laß die Sorgen, die grauen! +Mir ist froh. Du sollst es noch sehen: an dem Mädel wächst mir mein +Meisterstück!« + +Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht. Daß er Ruth zu +sich nahm, das war ungefähr so, wie wenn ein Gelehrter eine recht +unentzifferbare Handschrift irgendwo ausgräbt, -- meinte sie; an der +liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch. +Es war nun einmal nicht anders: darin steckte sein Talent und sein +Beruf. + +Erik ging fort; er wollte noch nach dem Bahnhof, um zu veranlassen, daß +Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herübergeschafft würden; der +Onkel hatte sie bereits herausgeschickt. + +Klare-Bel lag und dachte nach. Sie zwang sich dazu, an die Zeit zu +denken, die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob. Es war +doch schön, daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von +sanguinischen Hoffnungen. Das war doch besser und natürlicher für ihn, +als diese langen, langen Leidensjahre, in denen nur der ~eine~ Gedanke +ihn erfüllte: wie seine Frau wieder gesund zu machen sei. + +Ein einziger jahrelanger Kampf, -- ein schmerzensreicher, gräßlicher. + +Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner +Hoffnungszähigkeit willen, die nicht nachließ, nichts unversucht ließ, +die noch ans Unmögliche anrannte, und mit unermüdlichem Trotz den alten +Kampf immer wieder aufnahm. Es war nicht leicht, denn wegen einer +geringen Herzschwäche durfte bei Klare-Bel die Narkose nicht angewendet +werden. Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis, neuer Qual zu +überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen. Er war in +diesem Kampfe zum Arzt geworden; was er früher aus Lust und natürlicher +Begabung nebenher betrieben, wurde ihm Beruf. Seine ganze, ungeteilte +Kraft warf er hinein: er wollte es nicht glauben, nicht dulden, daß ein +einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten +könne. + +Und nun, da er's glauben und dulden mußte, war es doch hart, alles das +umsonst geopfert zu haben, woran noch seine Hoffnungen gehangen hatten. +Und wenn Ruth ihm nur eine davon zurückgab, wollte Klare-Bel sie +lieben. Es war ja nicht mehr als eine kleine, späte und unscheinbare +Blume für einen ganzen Strauß, den das Leben ihm schuldig geblieben. + +Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden, wie heute, seit dem +Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten. + +Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts. Er +griff nach einem Bund Garn, das Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte, +und hielt es ihr auf den Fingern. + +»Wird Ruth nun bei uns bleiben, Mama?« fragte er. + +»Jawohl. Du hörtest es doch. Freut es dich nicht?« + +»Ueber alles freut es mich. Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst +anstrengen.« + +»Wie meinst du das, mein Kind?« + +»Ich meine: Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich. Ganz +gewiß. Sie ist sehr klug, -- meinst du nicht?« + +»Das kann ich unmöglich wissen. Aber was ist das für ein Unsinn, Jonas. +Weil Papa dich lieb hat, will er ja, daß du dich mehr anstrengst und +besser vorwärts kommst.« + +»Ach, Mama, ich strenge mich schon an so sehr, wie ich kann. Ich komme +ja auch vorwärts. Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen. Er +ist der strengste Lehrer bei uns. Sie fürchten ihn alle. Aber ich am +meisten. Von mir verlangt er am meisten.« + +»Darüber solltest du froh sein. -- Mach nur jetzt keine +Eifersüchteleien, Jonas; hörst du?« + +Da lachte er über das ganze Gesicht, scheinbar völlig unmotiviert, so +daß er wirklich einfältig aussah. + +»Nein, Mama, das thue ich gewiß nicht. Wenigstens nicht so, wie du es +meinst. Aber wenn es Ruth einfallen sollte, -- Papa lieber zu haben als +mich -- --« + +»Aber Jonas!« + +Er ließ das Garn vom Finger gleiten, so daß es fast in Verwirrung +geriet. + +»Verzeih, Mama. Ich bringe es gleich wieder in Ordnung. -- Weißt du, du +hattest eben ganz recht, als du sagtest, ich solle nur froh sein, daß +Papa so viel verlangt. Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer, als es +ist. Sie wird das noch merken. Und ich werde nie etwas Unangenehmes von +ihr verlangen.« + +»Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge!« sagte Klare-Bel +ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an. Er machte ein ganz +treuherziges Gesicht. Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen +verkrochen. »Wenn Papa so was hörte. Und da wunderst du dich noch, wenn +Papa Ruth dir vorziehen sollte.« + +»Ich wundere mich ja gar nicht, Mama. Das kann ich ihm doch nie im +Leben übelnehmen. Wie sollte Ruth ihm denn nicht besser gefallen als +ich?« + +»Wo steckt Ruth nur eigentlich?« + +»Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen, wo Gonne noch +herumwirtschaftet. Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten, sagt sie.« + +Als Erik vom Bahnhof zurückkam, und Ruths Kopf oben aus dem offenen +Fenster herausschaute, stieg er zu ihr hinauf. Das kleine, nach +hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung. Außer dem heute +beschafften Bett und einer großen Holzkiste, die durch zierlich +gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer +wirklichen Waschtoilette bekommen hatte, gab es jedoch hier noch +nicht viel zu sehen. Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem +Oelanstrich machte sich bemerklich. + +Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett, zu dessen Seiten schon +kleine weiße Gardinen niederhingen; die Leiter lehnte noch daneben. +Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der +Terrasse, so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast +Ruths Gesicht berührten. Man sah von hier oben nur in die Wipfel der +Bäume, und das, fand Ruth, sah lustig aus: wie ein grünes rauschendes +Gewoge, von dem man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne +Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer darin nisten! Und +unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei +vorjährige Schwalbennester. + +Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers +bemerkte, fing er an zu lachen. + +»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder, +die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Thür +stehen, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß. +Meinst du nicht, Ruth?« + +»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast +übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht +fertig, und das ist das schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst +fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich es haben will.« + +»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er +lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster; »als wir zuerst aus dem +Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unsrer Stadtwohnung +auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte +so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen.« + +Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an. + +»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer +gewesen sein, -- da von der kleinen Insel weg -- und hierher; weg vom +Meer und von all den vielen Leuten?« + +Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang +sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich +Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten. + +»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt +es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, -- schlimme kleine +Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.« + +»Ach, -- die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den +Achseln, »die sind's nicht wert.« + +»Auch du?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an. + +»Ja, auch ich,« meinte sie treuherzig. + +»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig, +Ruth. Das ist nicht gut.« + +»Warum ist nun das auch wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut. + +»Weil es nicht aus dir selbst herauskommt, Mädel. Nicht aus deiner +Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die +er sich verrenken muß. Das sollst du nicht thun.« + +Sie erwiderte nichts darauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre +Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, das sie nicht anzubringen +wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh +aus. In den Augen -- und überhaupt. Warum?« + +»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst. + +»Mich! aber all die andern?« + +»Wen denn, Ruth?« + +Nun hielt sie es nicht länger aus. + +»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht +wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres thun zu dürfen, +etwas viel, viel Größeres, -- so groß wie ein Meer mit allen Schiffen +darauf,« versuchte sie es auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne +es zu merken, erregt an seiner Uhrkette. + +Er sah erstaunt auf sie nieder. + +»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er +eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es +klar sagen können. Nun?« + +»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine +Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber, -- am Vormittag.« + +»Mit meiner Frau?« + +Ruth nickte. + +»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so +wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.« + +»So. Thut sie das? Ader was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und +sein Blick war forschend und gespannt. + +»Alles. Und da, -- ja, da schien es mir so ganz entsetzlich, -- so +ganz unmöglich schien es mir, daß nichts daraus geworden ist. Aus all +den großen Plänen nichts geworden,« sagte sie leidenschaftlich, und +ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas +zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben +soll. Es kann ja nicht so bleiben.« + +Sie sprach beinahe zornig, und in ihren Augen standen große Thränen. + +Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft +hin über ihr loses weiches Haar, und als Ruth aufblicken wollte, da +glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen. +Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel, +und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zu Mute. Er wußte, +daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam; weder die +leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des +Bedauerten war seiner Frau möglich. Noch nie, seit er sich verheiratet, +hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den +Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn +seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Thränen und härmte sich um +diese Enttäuschungen, als seien es ihre eigenen. + +Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf +tiefer, und ihre Hand sank von seiner Uhrkette. + +»Ich will es gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend. + +Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen. + +»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,« +versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft, +»niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen, +-- und nun gar Kümmernisse, mein Kind, -- solche kindischen und +phantastischen Kümmernisse.« + +Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das +Gesicht im Schatten. + +»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?« + +Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte +sehen, daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag, und daß sie +sich als Kind behandelt fühlte. + +»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein +großes, weites Feld zu bebauen, -- ein Feld, wohl so groß wie ein +Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es +noch wenige, -- viel zu wenige. Aber es kam anders, als er es sich +gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht +mitarbeiten. Nur ganz fern, in einem äußersten Winkel desselben, wies +man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und +Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.« + +Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm +aufgeschlagen. Groß, ungeduldig hingen sie an seinen Lippen. Ihre ganze +Seele war in diesen Augen. + +»Und da --?« fragte sie atemlos. + +»Und da,« fuhr er fort, »fand er eines Tages unter seinen Kohl- und +Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze. Von irgendwoher +mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein. Es war nur +ein unscheinbarer, zarter Trieb, dem man noch nicht ansehen konnte, +was darin steckte. Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen +auswachsen. Und wenn das gelang, -- wenn ein guter Gärtner an diesem +Bäumchen unablässig seine Dienste that, und wenn das Bäumchen sich +willig behandeln und biegen, pfropfen und beschneiden ließ, -- dann, -- +ja, dann konnte es am Ende seltnere Früchte tragen, als irgend etwas, +was sonst auf dem Feldwinkel wuchs.« + +»Bin ich das Bäumchen?« fragte sie naiv und glitt leise vom +Fensterbrett. + +Er antwortete nicht, aber er zog sie näher an sich, so daß ihr Haar +seine Schultern berührte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der kein +Lächeln war und kein Ernst, und doch wie ein gesteigerter Abglanz von +beiden, der einer Ekstase glich. Er erinnerte Erik plötzlich an jenen +Aufsatz mit der Ueberschrift: »Seligkeit!« Zum erstenmal erinnerte +ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den +geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft. + +»Möchtest du ein solches Bäumchen für den Gärtner werden, Ruth?« fragte +er sie mit gesenkter Stimme. + +Sie atmete tief auf. + +»Noch lieber möchte ich der Gärtner werden,« sagte sie unerwartet, +»aber es ist vielleicht fast dasselbe.« + + + + + III. + + +Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach wurde, fanden Erik und +Ruth sich im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden +zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit +ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ. + +Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da, und stand, ihn +erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen +Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur +käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so +übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, -- als Lehrer +fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur +vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und +die alte Schüchternheit. + +Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat +Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann +schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie +eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur +eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und +Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte. +Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie +sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in +die Morgenarbeit über. + +Als Erik heute morgen die Thür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen +Augenblick überrascht stehen. Vor den Fenstern waren die weißlackierten +Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur +durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit +trübem Schein auf dem Schreibtisch. Vor demselben saß Ruth, umgeben von +Heften und Büchern, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken. + +Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das +Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam +er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt +emporfuhr. + +Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und +blickte sie aufmerksam an. + +»Du hast geweint. Worüber?« + +Sie errötete und zauderte einen Augenblick. + +»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden +Augen. + +Er lachte. + +»Du bist nicht dumm. Habe ich das gesagt? Wenigstens nicht +hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst du es auch nicht +zu thun.« + +Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand. + +»Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten. Nie ohne mein +Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen +habe, dann sollst du aufhören.« + +»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die +ganze Nacht durch. Im Gehölz rief ein Kuckuck; die Drosseln vor meinem +Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.« + +Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, in dem sie geschrieben +hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihr +ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt. + +»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft. + +Schweigend las er darin eine Zeit lang, während Ruth mit gefurchter +Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß. + +Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin. + +»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und +Ueberwindung gekostet?« + +»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es +schadet nichts.« + +»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte +nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch +das, was deinen kleinen phantastischen Kopf am härtesten anmutet, durch +das, was ihm am schwersten fällt, gerade da muß er hindurch.« + +Er löste ihre im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den +seinen. + +»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du +dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest; es that weh, nicht wahr? Aber +es mußte sein. Und nun, -- nun bekomme ich dich allmählich gerade so, +wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?« + +»Wunderschön ist es!« rief sie, mit leuchtenden Augen sich nach ihm +zurückwendend, »das denke ich ja immer dabei, wenn es mir schwer fällt! +Ich such's zu vergessen und denke mich nur hinein: wie wunderschön muß +es sein, jemand, der ganz anders ist, gerade so zurecht zu kriegen, wie +man ihn haben will!« + +Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen. + +»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst solle es +glücklich machen.« + +»Das thut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf. + +»Was willst du nun heute morgen thun? Wir wollen in den Garten gehen. +Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?« + +Sie schüttelte lachend den Kopf. + +»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung +und Morgenfrische,« sagte Erik; »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht +solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die +Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist +Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich +ermüdet, desto besser.« -- + +Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel +lag schon neben demselben in ihrem Stuhl, als Erik, Ruth und Jonas, +erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz +erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand +trug er einen hohen Eimer, den er von Gonne erbeutet hatte und jetzt +auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei +Fuß lange, stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin. + +»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so +greuliches Tier herbringen! Könnte sie uns nicht alle totbeißen, Erik?« + +»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd. + +»Aber eine prachtvolle, Mama! ich fand sie hinter dem Gehölz, da +wo der kleine Bach sich im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll +Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund that, war ihm ein +ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen +gerechnet, und höchstens auf eine Blindschleiche. + +Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange, +die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee +tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet +waren, verhielt Ruth sich ganz still. Sie hatte heimlich gehofft, +Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte +sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das +war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth. + +Jetzt gelang es der Ringelnatter, nach mehreren vergeblichen Versuchen, +sich auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren +Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die +Anwesenden an. + +Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern +durchlief, und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte. + +»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch, +»siehst du denn nicht, daß Ruth sich ängstigt?« + +»Nein, lasse sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze +Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen +werden.« + +Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß +du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie +Lügen.« + +»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt. +»Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas fürchterliches, -- kalt und +grausig, -- was so gewaltsam von außen kam, -- so, wie wenn man einen +umbringt.« + +»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen +sein?« + +»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend. + +Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber +sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es +nur eine Raupe gewesen war. + +»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen; +Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den +Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon +etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst +du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und -- und bewunderst +mich.« + +Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar. + +»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte er, »denn schon ist +die Zeit ganz nah, wo Ruth sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle +begnügen wird. Wo sie selbst, freiwillig, aus eigenem Antriebe, an die +Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper +hinaufkriechen läßt.« + +Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen. + +»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen. + +»Wann? vermutlich schon bald.« + +»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen +Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.« + +»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor, +daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.« + +»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut. + +Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen +konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß +Erik ihr etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte +unwillkürlich zusammen. + +»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall +verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg: -- thu's eben +nicht! Einfach! denke nur: du brauchst es ja einfach nicht zu thun!« + +Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch +wandte sich andern Dingen zu. + +Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt, +mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen, +der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als +schaue er nur gerade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz +allein mit der Schlange. + +Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu +erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, in dem alles Unheimliche +sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle, +schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die +Schlange lauerte schon auf sie. + +Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken +konnte. + +Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken. + +Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen. + +Da, als Erik sich vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den +Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild. »Dann +lieber gleich!« + +Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt +im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Ueberraschung. + +»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut +noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Uebertreibung wie das mit dem +Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir jetzt nicht fest genug +dazu.« + +»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich +nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen +sehen, -- Tag für Tag, -- immer näher, -- immer gewisser; -- mit einer +Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, -- und die mit der +ganzen Familie immer intimer wird, -- -- und nur auf mich lauert, -- +nein, das kann ich wirklich nicht!« + +Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht. + +»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und +Haar aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten +in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich +geschieht. Ueberlege es dir! Denn, wenn du darauf bestehst, gibt es +kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würde ich +nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.« + +»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht. + +»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.« + +Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich +von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen +mußte, wenn sie etwa »umfiel«. + +Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes, +beinahe finsteres Gesicht. Als er sich aber nach dem Eimer bückte, +und sie, dicht vor sich, die Schlange in seiner Hand sich winden sah, +überfiel sie ein Schwindel. + +Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen +sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte +zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen. + +Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?« + +Sie nickte fast unmerklich. + +»Dann wollen wir es lassen, mein Kind.« + +Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen. + +»Für immer?« fragte sie schnell. + +Er mußte lächeln. + +»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt +nicht.« + +Sie nahm sich zusammen. + +»Dann jetzt gleich!« murmelte sie. + +Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand. +Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie +ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich +hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen, +glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die +erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie +die Ringelnatter sich an ihrem Arm hochstreckte, sich um denselben +herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur +Seite niederhängen ließ. + +Der Arm blieb ausgestreckt, als wäre er erstarrt. Und Ruth machte ein +Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde. + +»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie +gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.« + +Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in +den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth. + +»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch +›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr +einen Stuhl zu. + +Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehen, mit +unsicheren Schritten an Erik vorbei, quer über die Terrasse und in den +Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie +sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in +den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen. + +Erik sah ihr verwundert zu. + +»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du +froh sein, und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?« + +Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll +an. + +»Ich thue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter. + +Jonas, der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden, aber auf einen +Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten +hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll +an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten. + +Eine Stunde später fuhr Ruth aber dennoch mit ihm und Erik zur Stadt. + +Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch. +Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im +Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei +Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine +kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die +Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher +fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt +wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den +Ferien, zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der +Fleißigsten. + +So gab es doch eine gewaltige Freude, als heute, in der Freistunde, +Ruth wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm, +unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie, +und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den +Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe, und warum die +Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst. + +Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen +stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer +Weltferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern. +All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene +begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und +es blieb nichts, als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück, +der an ihrer Statt erzählte. + +Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo das +überragende Dach sie vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie +damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand +Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß. + +Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten, +wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter +ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß +sie nicht sprach, entging ihnen vollständig; der in ihnen selbst +aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und, anstatt +dessen, was sie von ihr erfahren wollten, erfuhr Ruth binnen weniger +Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis heute, +nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten. + +Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut. +Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes, blondes Mädchen von +frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als +Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine +Inschrift triumphierend vorgezeigt, -- der glatte goldene Traureif fiel +Ruth in den Schoß. + +Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt +zu werden. Sie war begreiflicherweise mit ihren Gedanken längst aus der +Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das +unendliche Interesse verbunden, welches ihr, ihrem Liebsten, und ihrem +Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete +sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann +gebracht. + +»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die +besonders zärtlich an Ruth hing, »ach, Ruth, ein solcher, wirklicher +Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denke dir nur, was man als +Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie +spricht von ~ihm~ und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint +man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren +mit ihrem Kram.« + +»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.« + +Gretchen schwieg etwas betroffen. + +»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!« fiel eine andre +ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht +wunderschön?« + +»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif +in ihrer Hand; »vielleicht ist es wunderschön.« Dann gab sie ihn +der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das +Wunderschöne daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?« + +Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich +zum erstenmal zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein +besaß, als Braut, -- was sie mit den andern nicht gemein haben konnte. +»Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich +mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich, mit Scham und +Stolz. Und während sie den Ring überstreifte und Ruth anblickte, konnte +sie dem Gedanken nicht wehren: »Diese hier ist gewiß die nächste +Braut.« + +»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen +ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer +zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das +Uebergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte, »was hattest du +immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und +jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin die einzige, die noch dem +›Edlen, Unglücklichen‹ nachsteigt.« + +»Ist der noch da?« fragte Ruth. + +»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht +förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.« + +»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte +sie, »es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis! Warum bist du +auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?« + +Ruth hatte ihren Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in +den verregneten Hof. Gerade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein, +dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß +auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe +Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte +es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt. + +»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den +Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.« + +»Wieso ein Notbehelf?« + +»Würdest du uns keine mehr erzählen?« + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor +einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es +hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter +Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr +wolltet es ja so.« + +»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?« + +»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?« + +»O!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten +alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse, +»dahinter gibt es das Leben.« + +In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die +Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den +meisten selbst der »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden +erschien. In den Gesichtern prägte es sich deutlich aus, daß ein neuer +Hunger sich geltend machte. + +»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera. + +Ruth lachte. + +»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann +geht man geradeaus, und noch rechts und nach links, ringsherum und nach +allen Seiten. Bis man alt ist.« + +»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend, +»seht ihr denn nicht, wie sie euch foppt? Gerade so machte sie es immer +mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil +wir's ernst nehmen.« + +»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den +Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß. + +»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch +über die Mauer zu helfen?« + +»Das könnt ihr ja thun.« + +»Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu!« + +»Die hat er gewiß,« versicherte Ruth; »und Lust hat er auch. Er hat +alles, außer den Menschen, die dazu gehören.« + +Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an. +Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen. + +Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu +sein. + +»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm ist? Hast du da +auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen +vorsichtig. + +»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr +beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit gestern noch nicht trocken +geworden waren. + +Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen +verließen den Platz am Brunnen. + +»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche +Wjera, »das kostet nichts.« + +»Warum?« entgegnete Ruth; »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was +kosten.« + +In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber +blieb es unbeachtet, daß Ruth ihnen nicht folgte. Ueber der Spannung, +die sie hervorgerufen, war sie selbst vergessen worden. Als die Mädchen +sich dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden, +war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war +ein Gelächter. + +Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben +wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So +kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo Ruth ihn erwarten +sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es +hier noch zu thun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform +zu entrinnen. Als Ruth sich dann immer noch nicht melden wollte, +öffnete er etwas beunruhigt die Thür zum Wohnzimmer und schaute hinein. + +Da lag sie und schlief. + +Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl +gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen Füßen, auf dem +weißen Leinwandbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das +Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie, mit ernstem Gesicht und +schlafgeröteten Wangen, fest und eifrig, wie ein Kind. + +Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben. + +Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassenen +Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, in denen der Staub in breiten +Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein +leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen über dasselbe hin und blieb +auf den Lippen stehen, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher +wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie +heftig niesen. + +Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie +auf und hörte Erik lachen. + +»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf. + +»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch +weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er. + +Ruth rieb sich die Augen. + +»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie; »ja, mit +den Mädchen ist es nichts. Glaub's nicht. Aber mir ist eingefallen: +wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, -- dann gäb's am +Ende auch noch ein andres Mittel.« + +»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?« + +»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt mit den Füßen vom +Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und +drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich habe es mir nämlich +so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, -- in sie +hineinwirken, -- an ihnen was Großes schaffen, -- und man findet nicht +recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß +man es ~so~ machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor +Augen stellt, -- so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie +Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom +Allerschönsten reden und nicht müde werden, -- bis sie Lust kriegen.« + +Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich +bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, das sie da, wie einen Traum, +mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien. + +»Wer soll das thun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie +gebannt, und trat heran an den Tisch. + +»~Sie~ sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir +immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben +ist schön und weit. Ich glaub's ja! Ader nun weiß ich, wozu die +Phantasiegeschichten gut sind, -- denn zu etwas sind die auch gut. +Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es +hinzuthun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?« + +Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als +lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich +in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit +Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch +den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung +verlangt. Und er, durch die Verhältnisse enttäuscht, hatte versucht, +sie von sich abzuschieben, -- zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte +er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu +vergessen. + +Ruth saß und folgte ihm mit den Augen. + +»Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie. + +Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Beide merkten nichts davon, +daß die Luft im Zimmer dick und staubig war, und ungezählte Mücken +umherschwirrten. + +Dann blieb Erik stehen, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke +dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest, +was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen +Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.« + +Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm. + +»Ja!« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen +und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges +hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein +Eigentum, und ich kann mit ihnen machen, was ich will.‹ Und nun werden +Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.« + +Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und +Erwartung, und dann fügte sie bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören +dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie es +mir erzählen?« + +Erik blickte auf sie nieder. So kindhaft kam sie ihm vor, als sie so +in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur +Schulter. + +Wie heute morgen am Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr +Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche, +bittende Kinderaugen. + +»Wir werden es uns zusammen ausdenken!« sagte er. -- + +Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause +kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete +den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich +langsam, im Schritt, abkühlen. + +Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem, behaglichem +Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen +Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen. + +Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken +Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde: Sie +empfand es wohlthuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag +eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder +etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft +zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben +zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den +ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig +im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so +einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu +Hause. + +Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es +auch andern Bekannten gegenüber nicht geschah. Sie wußte: dies hier +war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte, als +mit ihrem Mann. + +Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte +sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins +Zimmer trat, war sie enttäuscht. + +Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet. + +Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm, +vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich +schüchtern zurückzog, -- jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht +ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon +geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied, +als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene, Formsichere und +Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber. + +Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz +als eine von vielen und gab auch sich selbst so, wie eine unter den +vielen, aus denen die Gesellschaft besteht. + +Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen +worden sei. + +»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich +noch nicht.« + +Man wußte nicht, war es bescheiden oder übermütig gemeint? + +»Wenn die nicht durchtrieben ist!« dachte Warwara bei sich und musterte +sie schärfer. + +Bald trat Erik dazu, eine heitere Unterhaltung in Gang bringend. +Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst +kürzlich auch hier eingelaufen war. Ein sensationeller Rückgang, denn +die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in +einen andern verliebt. + +Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser +Sachlage unbeachtet zu lassen, lachte laut. + +Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen. + +»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht +hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so +kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?« + +Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst +geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden, +haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute +Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in +der That im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, -- in der +eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge +festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.« + +»Sie meinen, der Mann bedarf eines solchen Gebetes nicht,« bemerkte +Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen. + +Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er; »ich glaube, der Mann +ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur +besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den +Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen +desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, -- nein: ~das er an sich +gebunden~ hat. Das ist's!« + +»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des +Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den ~wir~, -- die +Frauen, -- nicht --« + +»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein: nur ein +Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut: +nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der +für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem +Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine +Hand bewußt auf dieses ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu: +›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen, +-- verantworten wollen, -- herrschen dürfen.« + +Warwara schüttelte sich. + +»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie; »mir jedoch ist wahrlich +die Vorstellung lieber, nach welcher die Frau des Mannes Königin ist.« + +»Sie sehen, -- ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er +lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es +eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, -- was alles ganz +heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann +hingegen wäre untreues Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was +ihm wider die Scham geht.« + +Warwara lachte ihm ins Gesicht. + +»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwickelungskämpfe, +und auch für die der Frauen, so gern eintritt!« rief sie; »es ist eine +schauderhafte Inkonsequenz und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn +Sie sich nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die +nicht mehr so mittelalterlich denkt, und sie ~nicht unterkriegten~?« + +»Das würde ich doch!« sagte Erik. »Sonst würde ich mich vielleicht +für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen +achten, -- aber lieben, -- wie sollte ich das? So wenig, als wenn +ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir +vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer +Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe -- nie! Und ein +Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt, -- wirkt nicht als +Weib.« + +»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur +in eurem jahrhundertelang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara +entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem +solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen, +wenn wir lieben?« + +Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das thun wir, nicht +weil wir unter ihm stehen. Sondern weil wir glücklich sein wollen.« + +Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu +fahren. + +»Nun sollt' ich hiervon eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut +gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule +erfuhr ich, daß diesmal Sie bei dem feierlichen Schulschluß die übliche +große Rede halten werden. Da komme ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine +sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich +habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.« + +Erik mußte lachen. + +»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre +schönsten Reden für Toaste genommen werden,« versetzte er, »und +daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den +Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer +oberflächlichen Gesellschaft sind.« + +»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte +Warwara gekränkt zu Klare-Bel; »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht +weh thäte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dieser +Barbar würde dann ~Sie~ auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft +unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.« + +»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt. + +»Doch! doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt, +auf Grund einer Konsultation mit dem Professor, eine Behandlung meiner +Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und +geleitete sie an ihren Wagen. + +Jonas war später nach Hause gekommen, als Erik mit Ruth, und kam +seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war, und +man sich schon zu Tisch setzte. + +Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den +tropfenden Bäumen verbracht, im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine +Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als +wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch +einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt +und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze +geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen. + +Um es zu thun, mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten. +Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die +Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus, +der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht +recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer; +Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit seinen schwarzen +Aeuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb. + +Da ging ihm ein altes Märchen tröstend durch den Sinn, von einer +Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem +verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht +mehr, ob es sich genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine +Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf. + +Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem +Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheures Opfer, fand er, was sie da +beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange +blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut, wie über +ein Reitpferd. + +Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen, +die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die +Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen +Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß. + +Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und ein Telegramm für +Erik überbrachte. + +Erik erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller +zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine +freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten. + +»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er; »denke +dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs. +Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals +waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner?« + +»O ja, Erik! Wie sollte ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß +du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am +liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist +Römer denn eigentlich geworden?« + +»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb +mir noch manchmal in frühern Jahren.« + +Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber. +Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es +Ruth, als stiege plötzlich eine ganze, fremde und ferne Vergangenheit +zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, bei der sie nicht zugegen +gewesen war. Ueberhaupt noch nicht auf der Welt! Es schien ihr ganz +unmöglich. + +»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise. + +»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau. +Dort ist irgend eine Aerzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werde +ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?« + +»Zu einer Aerzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel. + +»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng +verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze +Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den +Charakter.« + +»Haben sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders +zu interessieren pflegte. + +»Ich glaube nicht.« + +»Keine Kinder?« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war +ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht +wieder Mutter werden konnte; »das ist doch eine traurige Ehe, so zu +zweien.« + +»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie +hatten wiederholt ein junges Mädchen bei sich, das an der Universität +studierte.« + +»An der Universität studierte? Können junge Mädchen das?« erkundigte +sich Ruth erstaunt. + +Erik blickte sie mit einem Lächeln an. + +»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja +nichts im Wege, daß du eines der nächsten Hauskinder bei Römers wirst. +Hast du Lust dazu?« + +Er sagte es scherzend, aber der Blick, mit dem sie ihm antwortete, war +so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb. + +Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von +alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen, aber sie +blieb sitzen und hörte zu. + +Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen; Jonas lehnte in der +Hausthür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich +vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir +doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das +paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, thust du es doch +nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen +nun einmal nicht haben kannst.« + +»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der +schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das +haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.« + +»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein, ohne einen +wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so +viel lieber dein Mann sein, als der Mann in all den Räubergeschichten, +bei denen ich mich immer so anstrengen muß.« + +»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und +saß und schaukelte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel +anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du bei alledem jedesmal die +Hauptperson und der Held bist.« + +»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor. + +»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein. +Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich --« + +»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt; »aber wenn du mir alles +immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es +ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.« + +»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.« + +Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; -- wenn +sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine +Ueberlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten +und Schmeicheln zu bewegen! Denn, hätten sie »Schlangenbändiger« +gespielt, da wäre er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm, +ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft. + +Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er +fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die +Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde. + +»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er; +»warst du es etwa?« + +»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest +du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du +dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.« + +»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei +meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf. + +Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich ans niedrige +Flurfenster, an dem der Regen herunter rieselte, und drückte ihr +Gesicht platt gegen das Scheibenglas, so daß es sich satyrhaft verzog. +Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme: +sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth +immer zum Lachen. + +Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus. + +»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein +Junge!« + +Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte. +Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch +alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie thun, es würde ihr gar +nicht einfallen, -- davon war er fest überzeugt. + +Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster +des Wohnzimmers und fragte, ob er noch bis zum Abendthee einen +Kameraden aufsuchen dürfe. + +Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in Lenneps Novellen +las, blickte bei seinen Worten verwundert aus. + +»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein +Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht +nur noch an das Mädchen, Erik.« + +»Strohfeuer!« versetzte dieser. + +Er stand und schaute verträumt hinaus. Seine Gedanken weilten noch +in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine +willkommene Zerstreuung, und darüber freute sie sich für ihn. Ihm war +es mehr als das. + +»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt: »aber du +meintest doch selbst, Jonas sei flüchtig und zerstreut im Lernen +geworden.« + +»Das ist er wohl ein wenig, aber was ihm an Schulweisheit vielleicht +dadurch abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung, +die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm +keine Schule.« + +»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er +nun sein Herz so ganz an sie hängt --?« + +»Dann laß ihm diese Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an +nichts Besseres hängen, Bel.« + +Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren +Händen. Sie faltete sie im Schoß. + +»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken. + +Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam. +Wie ausgestorben schien das Haus, weil man seinen Schritt und seine +Stimme darin nicht hörte. + +Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel. +Nachts ließ er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein. + +Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit +fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst +darauf folgendem unzertrennlichen Beisammensein. Aber dafür war Ruth +heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle +seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur +ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.« + +Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war. + +Ruth dachte immerfort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie +folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm +den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen +hineinzuversetzen. + +Als Klare-Bel ihm am Morgen beim Weggehen zurief: »Adieu, Erik, +amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam +ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst +sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter +allem, was er in gewohnter Weise sprach oder that, fühlte Ruth es +heraus, wie eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich +in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die ~amüsieren~, -- +sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von +der die Gegenwart verdunkelt wird. + +Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl +war auf die Terrasse geschoben worden; unten konnte sie nicht bleiben, +weil Erik fehlte, um sie wieder heraufzutragen. Ein warmer Sommerduft +stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und +auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche +drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub +und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen +Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie +ein großer grüner Farbenklecks. + +Als der Abendthee auf der Terrasse getrunken wurde, fiel es Klare-Bel +doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß. + +»Es ist doch, als könnte sie es gar nicht mehr ertragen, daß Erik sich +mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm +keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie +und fragte laut: »Aber, Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für +wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du mit Erik dort?« + +Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie +schüchtern an. + +»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen +Erstaunen Klare-Bels. + +Diese zog sich nach dem Abendthee bald in ihr kleines Gemach zurück, +um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig +leidend. Vielleicht griff die neue Behandlung sie an, die Erik seit +kurzer Zeit mit ihr vornahm, und die er ihr auf viele Monate hinaus +in Aussicht gestellt hatte. Er fing wirklich schon an, wieder neue +Hoffnung zu schöpfen. + +Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet, und +Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den +zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen +liebte. + +Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob +auch sie, ganz leise -- leise, heimlich, die neue Hoffnung hätschele? +Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu +werden, Erik entgegengehen zu können auf ihren zwei gesunden Füßen. + +Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann +würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen +frühern Enttäuschungen auch. Denn das hatte er gethan, -- nicht gerade +mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen +Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und +manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so, +denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen +Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein, +durch die er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So +oft konnte sie es mit Verwunderung beobachten im täglichen Leben unter +den Menschen seiner frühern Umgebung, wie belebend es auf ihn wirkte, +daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug +Erik wirklich schlecht. + +Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit +offenen Augen. Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die +Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; von fernher +verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher +Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer +herein. + +Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie +über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie, +»wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein +schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen +wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen +konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik +also nicht sie, wie sie ihn? + +Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig +streckte ihre Sehnsucht sich ihm entgegen. -- + +Wie sie es vorausgesehen, befand sich Erik erst Stunden später auf dem +Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum +Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen, +-- ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen +der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich +nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden; er +erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus. + +Der lange Gang von der Station aus that ihm nach den verflossenen +Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein +Lufthauch bewegte sich; am fast taglichten Himmel stand blaß und +glanzlos der Vollmond; einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und +von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder. + +Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der +Nachthelle dalag, wich langsam die noch erregte Stimmung einem Gefühl +ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei ~den~ +Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu. + +Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf +die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast +geräuschlos die Hausthür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale +Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß. +Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien +Ruth auf dem untersten Treppenabsatz. + +»Aber, Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins +Bett!« sagte er. + +Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes +Gesicht wie einen Willkommgruß. + +»War es schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen +überwachen Augen an, »sollte ich denn dabei schlafen? Nein, das konnte +ich nicht! denn ich war auch da, -- immer mit da. War es schön?« + +Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest. +Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die von ihnen aufgewühlt +worden, verflogen; er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich +gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr. + +Was bedeutete ihm alle Anregung, ja, was aller so ersehnte Beifall oder +Erfolg, nach dem er im Leben gegeizt und gerungen, gegenüber dem zarten +Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete? +Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge +ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden für +so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen. + +Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf und darüber vergaß er zu +antworten. + +Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose +umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so +einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze +Welt um sie her im Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt +mit Leben; und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen, +-- verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, -- ein Lebenverlangendes, +Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und +ergriffen hatte, als er Ruth zuerst im Schulhof sah, mit dem Uebermut +in den Augen und den erhobenen Armen. + +Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle, +in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen. + +»Hätte ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und +blickte sie mit einem Lächeln an. + +»Doch! aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme +verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, in der sie den +Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die +nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als Ruth sie meinte, +aber Blick, Ton und Haltung drückten es so kindlich aus, daß sie sich +in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe +Rührung über ihn kam. + +Ihm schien, Ruth sah wie verzaubert aus, -- anders, lieblicher als +sonst. + +Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme. +Nur durch die offen gebliebene Hausthür zog es ganz leise wie ein +geheimnisvolles Raunen und Rauschen, -- ein Flüstern, das draußen durch +das niedrige Gebüsch ging, -- die erste Ankündigung des neuen Tages. + +»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute +Nacht! Guten Morgen. Liebling!« + +Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich, -- fest, so daß sie +an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund. + +Als er sie ebenso rasch wieder losließ, hatte Ruth seine Hand ergriffen +und drückte ihre warmen Lippen darauf. + +Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube +hinauf. + +Erik öffnete die Mittelthür im Flur, die in das Zimmer von Jonas +führte. Er mußte hindurchgehen, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer +zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf. + +»Na, Papa, war es schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken +auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?« + +Damit schlief er weiter. + +Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein +farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus, +und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen. + +Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am +Boden hin, es hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der +wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und dann schwoll +es machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel +durchklang, die vorhin lautlos gegen den hellen Nachthimmel starrten. + +Wie ein Morgenchoral klang es, und -- ganz leise, -- versuchend, wie im +Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und +bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein lang gezogener unermüdlicher +Buchfinkentriller. + +Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden +Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine +geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen. +Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung, eine +Morgentraumstimmung, so schien ihm. + +Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie heute, daß sie ja +unwiderruflich zu einander gehörten, daß sie im Grunde gleichgeartet, +gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen: +»Mich mitnehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm +erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte +stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem, +unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß, +Verstand und Wille gewesen. Und daß in ihr mit reiner Flamme brannte, +was in ihm die Berührung mit dem Leben mit Schlacken und Asche vermengt +hatte. + +Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen. + +Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind +schwieg still. Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den +Himmel, durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen. In einem +breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach. + +Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben. +Im Sonnenschein war er eingeschlafen. + +Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich, weder +auf den gestrigen Tag, noch auf die Nachtstunde. Irgend ein Traum, ein +wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt +ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm +zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht; ich +glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie -- Ruth. Es ist ja Ruth.« + +Und ihm schien, es könne nur ~eine~ solche geben. + +Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit. + +Und blitzähnlich wurde er vollständig wach. + +Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner +Liebe. + +Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht, +weil es überhaupt wenig seiner Natur entsprach, über sich nachzudenken. +Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen +Interesse am Menschen, nicht am Weibe, entsprungen war. + +Plötzlich war das alles anders geworden. -- + +Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch +auf Erik, als er endlich zu ihnen heraustrat. Klare-Bel bemerkte +augenblicklich etwas Verändertes, Verschlossenes in seinem Gesicht, +und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von +Gleichgültigem zu reden begann. + +Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches vom Zusammensein mit +dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine +Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau. + +Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch, +-- ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr. + +Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar +beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung +reichlich überwacht und angegriffen aussähe. + +Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der +Morgensonne,« dachte Erik, während sein Seitenblick sie streifte. +Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber +unterdrückte, daß er verschlafen habe. Sie hatte nicht verschlafen. Sie +hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt. + +Mit der gemeinsamen Arbeit wurde es heute nun nichts. Hastiger als +sonst stand Erik auf, um zu gehen. Die Zeit drängte, und Jonas war +schon fort. + +Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm lag, und er +wieder mit sich selbst allein blieb. Aber dennoch war ihm weder zum +Träumen noch zum Grübeln zu Mute. Nur nach ~einem~ verlangte es ihn +dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar +ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor +ihm stand. Nur nach ~einem~ verlangte ihn: davor stillzustehen und +den Blick darauf ruhen zu lassen, fest und forschend, wie auf einem +fremden Antlitz. + +Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und +beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was +bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt +hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah +er vorbei, -- ganz gerade, ganz unverwandt auf den ~einen~ Punkt, ohne +nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick, +kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über +~Hindernisse~, und wären es Menschen, geht's hinweg. -- + +Ehe Erik sich mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm einmal eine +Photographie geschenkt, auf der sie sich im Kreise ihrer ganzen +Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen +Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in das er eine nur Bels Gestalt +entsprechende Oeffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein. +Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel. + +Erik war es sich nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso machte: mit +feiner eigenen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen +Umgebung, ja, mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken +weglöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite, +eine Welteinsamkeit, in der nur Ruths Bild vor ihm stand. + +Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge. + +Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick. +Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an +sein Bewußtsein heranbringen konnten, das ging von dem fröhlichen +Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in +ihm wurde still. + +Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindhafte, in +dem noch, geheimnisvoll und verheißungsvoll, die ganze Fülle der +Möglichkeiten ruhte, -- dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, das +noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, -- den zarten, +kostbaren Stoff, nach dem seine Hand sich nur herrisch ausgestreckt, +weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte? + +Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er +Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt +seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine +Gärtnerhoffnungen. + +Je länger Erik sich aber so in das ihm vorschwebende Bild vertiefte, +um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl. Er sprach zu sich +selbst nur noch mit geringer Ehrlichkeit. Unwiderstehlich erhob +sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren. +Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer +Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken. + +Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm, +der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte, +damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der +Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt. -- + +Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die +diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach. + +Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für +sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht. +Am besten hätte es ihr gepaßt, jetzt Jonas da zu haben, aber der saß +in der Schule und lernte, der Aermste. So entschloß sie sich denn, zu +Gonne in die Küche hinunterzugehen. Denn lieber noch wollte sie mit +den Händen thätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und irgendwie +lebhaft sich bethätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so +vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und zum »Nachdenken«. Und +dann war es auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu +plantschen. + +Gonne litt es glücklicherweise gut, wenn Ruth ihr so unerbeten mitten +in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der hierzulande üblichen +Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth, +daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm es auch nicht +anders, und zum entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer weichen +ungeschulten Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte +tiefernst zu. + +Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und +zurückgestreiften Aermeln singend und seelenvergnügt am Brunnen. +Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste +von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die +verklärte Gestalt seiner Phantasie, um derentwillen er die wirkliche +Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische +Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen, +die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die +lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen +von der Sonne schwach gebräunten Hals. + +Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen, machte Erik +plötzlich Halt, kehrte um und ging in sein Zimmer. + +Dort, auf dem Schreibtisch, lagen noch, unordentlich, Ruths Hefte und +Bücher umher, die heute morgen umsonst auf ihn gewartet hatten. Erik +setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut +hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander. +-- -- -- + +Mußte Ruth fort? + +Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich +eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken +umschleierte. + +Halb mechanisch blickte er über die Hefte hin, die aufgeschlagen +dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als +enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den +Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen. +Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger +Schnörkel. + +Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine +fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, -- ihrem Ueberströmen. Etwas +merkwürdig Logisches. + +Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften. + +Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die +noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte? + +Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths Kopf erschien zwischen +den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz +emporkletterte. + +»Soll ich arbeiten?« fragte sie. + +»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er +und stand auf, »weißt du, was es für eine Ueberraschung gab, -- in der +letzten Stunde vor den Ferien, in der Mädchenschule? Sie erhoben sich +alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht +leicht herausbringen. Sie wußten es selbst nicht genau. Sie wollten +dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten es nur nicht zu +bewerkstelligen.« + +Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule um +sich zu hören geglaubt. Ganz deutlich empfand er aus dem unerwarteten +»Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber +gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit +gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen +Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden +Mädchenköpfe, schaute ihm, wie aus einem Vexierspiegel, Ruths +Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch +mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben +zwischen den Hopfenranken dastand. + +»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich ans +Fenster; »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht +in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht bei +Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.« + +Sie sah ihn voll Interesse an. + +»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser. +Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder +fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas +fort.« + +»Die Braut?« + +»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie es jetzt bald alle +kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr, +meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste. +Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.« + +Er blickte auf sie. + +»So. Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es +das Allerhöchste sei, und daß dann all das andre keinen rechten Zweck +mehr hat?« + +»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie es +dann ist? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich +kann niemals Braut werden,« sagte Ruth. + +Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so +betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er: +»Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen +Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie +sein zukünftiges Leben sich gestalten mag. Und deine Phantasie soll +nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er +mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen +bist.« + +»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit +gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man +einen lieb haben. Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in +der ganzen Welt nie mehr jemand haben.« + +»~Wie~ lieb, Ruth?« + +Seine Stimme klang gedämpft und heiser. + +Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick. Nie noch, meinte +er, eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick +gesehen zu haben. + +»So lieb wie Sie,« sagte Ruth. + +Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die +Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten. +Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich +zur Faust. + +Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck, +der über sein Gesicht ging. + +Da, wie Erik, fast furchtsam, aufschaute und die fragenden Augen vor +sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine +Blick und Augenblick über ihn entscheide. + +Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine +Augen. + +»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, -- denn jetzt +bist du doch nur erst ein kleines Mädel, -- aber wenn du längst eigene +und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge, und viele +andre noch, -- dann -- ~dann~ sollst du noch einmal zu mir kommen und +mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir +-- ~von mir~ dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwickelung. +Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der +Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer +ich dann bin, das weiß ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter +Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du +ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste +Hoffnung.« + +Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer. + +Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und +blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach. + +An einem der nächsten Tage, um die Mittagsstunde, füllte eine bunte +Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der +Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten +und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause +so viel erzählten. + +Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen +und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den seine Klasse ihm +gemacht, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule +hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken +von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwickelung für die +Frau, als die Gegenwart sie ihr außerhalb der Schuljahre gewähre. +Ueber die Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft +heraufzuführen, sprach er ihnen, und über die Zukunft der Frau, die, +erst geahnt und nur halbenthüllt, noch vor ihr liege, von der sie aber +Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung +und Vollendung näher bringe. + +Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte, +mitzukommen; denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der +er redete. Sie war es ja, die in ihm die Lust wiedererweckt hatte, +zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man +für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er +seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr +erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem +Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen +Formen. + +Es war, wie wenn er eine überlebensgroße Gestalt vor den gebannten +Menschenaugen aufrichtete, in der durch diese Größe die individuellen +Züge unerkennbar wurden. Zu groß sicherlich, für das wirkliche Leben, +aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit +fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig +einprägte. + +So stand Erik und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe, +und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner +Worte eine eigentümliche Wucht. + +Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie es +ihm vorhergesagt. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als +sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie, mit ihrem +feinen Instinkt, immer schon dunkel und undeutlich geahnt, wenn sie mit +Erik zusammen gewesen: daß er Gewalt über Menschenleben besaß, und daß +er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie +zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, -- das, +was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Scene in +seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht. +Aber selbst damals hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und +sehnend und ungeduldig er aus das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn +enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu. + +Als sie damals aus seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr +fortwährend ein ganz abscheulicher Vergleich aufgedrängt. Sie konnte +denselben nicht verscheuchen. Immer sah sie ein Weib vor sich, das +falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des +Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte ihre Koketterie +nicht ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische +Entblößung. Und die Arbeit an sich selbst. + +Es war aber wirklich ein abscheulicher Vergleich. Und zum größten +Erstaunen ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag. + +Nach dem Schluß desselben, im Treppenhause, wo Warwara beiseite trat, +um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, bemerkte Erik sie und +kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten so. Warwara war blaß. + +»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr +gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor ihren Augen? Vielleicht war es +wirklich einer.« + +»Wenn es einer war, so könnte ich wohl auf ~die~ eifersüchtig -- nein, +aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte +sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht +blieb ernst; »~unser~ Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie +anderswohin gehören wollen, als unter uns Gesellschaftsgelichter.« + +»Aber, Warwara Michailowna!« sagte er, von ihrem Ausdruck frappiert, +»warum nehmen Sie sich nicht aus?« + +Sie schüttelte den Kopf. + +»Aus Selbsterkenntnis. Ich hab' Sie heut verloren,« entgegnete sie und +gab ihm die Hand, »also adieu, -- nicht nur für heute. Ich verzichte +auf Sie. Ich entlasse Sie. -- Aber nun hören Sie: es ist doch der +Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.« + +Er sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber +als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was +ihm, durch den Scherz hindurch, heute an ihrem Wesen so aufgefallen +war. + +Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten, +über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen +mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen +Menschengesichtern stets in ihm hervorrief. + +Ja, nun begannen die Ferien, und die langen, nicht enden wollenden +Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern, in +die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn, +-- einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein +Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die +Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich wurden, gleich +denen, die da noch wachsen. + +Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude. + +Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am +kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß +darauf, und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich +ausgedacht«. Zusammen wollten sie's sich ja ausdenken, hatte er ihr +versprochen. + +Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen, +aus denen seine unbefriedigte Thatkraft ruhelos und vergeblich in die +Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit +und Aufgabe, -- daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken, +Träumen und Schaffen in ~eins~ zusammen. In Ruth war etwas, das machte +sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte, +so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehört. + +Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den +Bäumen, ums Gehölz herum, eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas -- und +noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem +dunkeln Vollbart und Brille. Der jagte sich mit Ruth, und haschte +vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber. + +Es war Bernhard Römer. + +Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran. + +»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig +außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorene +dichte braune Haar; »-- und die Ruth nehme ich gleich mit fort, -- +das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir +ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten, +»das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind. +Vierzehnjährig.« + +»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf. + +»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. -- Es ist ungerecht, daß +du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.« + +»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau?« fragte Erik, +ihn unterbrechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der +Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte. + +»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück. +Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß Bel +dir nicht fortlaufen kann. -- Meine Frau, die reist also herum und +besichtigt Suppenanstalten.« + +»Suppenanstalten?« + +»Na ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana. +Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte +ich wohl meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer +Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann +bin ich nun doch nicht.« + +»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel staunend, »da Sie Ihrer Frau +alles das erlauben.« + +»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr. +»Meine liebe gnädige Frau, ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe +gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundere nämlich ein +wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie +Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, -- sagen +wir lieber: im winzigen. -- Aber nun will ich dir etwas sagen, mein +lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche +Pläne gemacht von Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, -- aber +meine Frau, die führt sie im kleinwinzigen aus. Nur sie. Das ist die +Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich +wohlbestallter und -- wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur +so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das Leben ist Frauenhand und +Frauenarbeit -- mutige. Wir sind Stümper dagegen.« + +»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh, +sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu +sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?« + +»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren? +Ja, -- doch in der Arbeitszeit, da behelfe ich mich schon mit der +Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei: +'s ist Arbeitzeit, Wochentag. Aber in den Ferien, -- ~meinen Ferien~, +-- da muß ich Sonntag haben. Da muß ich -- muß ich meine Frau um mich +haben.« + +Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen +Worte. Freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß +er selbst es war: der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf, +-- sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem +kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel. + +Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die +alten Erinnerungen, wie sie es schon heute morgen miteinander gethan. +Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden +beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit war. + +Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung. + +Ruth mit Römer, -- nicht mit ihm: er konnte das Bild nicht loswerden. + +Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes +Heim, -- das seltenste: eine vollglückliche Ehe. Neben dem Mann die +gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht +sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen +in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine +ewigfrische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offene +Herz und die offene Hand. + +Dort würde Ruth haben, was ihr not that: in körperlicher, geistiger, +praktischer Beziehung. Und indem sie ~ihn~ verlor, eine mütterliche +Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte. + +Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere +Liebe. Schütze sie vor dir selbst.« + +Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte +Linie. + +Nun ja, er gestand es sich ein: daß er selbstlos Ruth dienen wollte, +das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu +verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das +Letzte, -- das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst. + +Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes +führe manchen zur wahren, menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaft +thatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken. + +Gewiß gab es solche milden Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm? +Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein! + +Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen. +Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er, +um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu +sich zwingen in irgend einer Form, -- und um jeden Preis. + +Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen konnte, einst selbst die +Axt an die Wurzel zu legen? + +Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück. + +Er versuchte, gewaltsam, den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an +den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen, +die er sich unterwegs für seine Winterpläne entworfen. Er versuchte, +sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der +Treppe, im Vorbeigehen, studiert, und in denen er den Ausdruck der +Freude und der Anregung gelesen hatte. + +Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah +nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, -- ohne +Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick. + +Unschöne, an denen sein Auge vorüberglitt, -- hübsche, aus denen es +teilnahmslos haften blieb. + + + + + IV. + + +Kurz und glühend, wie immer, war der russische Hochsommer +vorübergeflogen, und früh, mitten im August, nistete sich leise der +Herbst im Garten ein und verlöschte mit seinen langen dunkeln Abenden +die Sonne. Der Rasen sah fahl und versengt aus, und längs den Kieswegen +sammelten sich die ersten dürren Blätter. + +Gerade da, wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes +lag, konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten +goldgelben Fleck hineinschauen, der täglich ein wenig zunahm. Und von +Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter, drehte sich in der Luft +ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder. + +Gleich daneben stand ein Tisch, roh aus ungeschälten Baumästen +gezimmert, und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk +von Weidenzweigen. Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und +arbeiteten. + +Klare-Bel konnte nicht begreifen, wie sie das nur so ununterbrochen +aushielten; manchmal schienen es ihr allerdings nur Unterhaltungen +und Gespräche zu sein, die sie führten, aber sie wußte, wie ernst sie +es damit nahmen, und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb, um seinen +Unterricht vorzubereiten. + +Gern lag sie so und lauschte darauf; nicht auf die Worte, aber auf die +Stimmen. Denn darüber täuschte sie sich nicht: nur in solchen Stunden +noch klang Eriks Stimme gerade so froh wie früher. Und da war es +wirklich gut, daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer +in ihrer Nähe saß, wo sie ihn hören konnte. + +Oft dachte sie dabei mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten +Tag im Juni zurück, den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in +der Stadt verbracht hatte. Seit dem darauffolgenden Morgen blieb er +verändert. Und mit diesem Tage mußte es zusammenhängen. Aber den wahren +Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit: namentlich seitdem sie +den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen. + +Denn seitdem begriff sie ganz gut, daß Erik vielleicht noch im +stillen den alten Erinnerungen nachgehen mochte. Kehrten doch sogar +ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück, wohin es keine +Rückkehr gibt. + +Die Jugend ersteht nicht wieder auf. + +Wenn es doch eine Freude gäbe, -- dachte sie ganz heimlich bei sich, -- +eine große, gewaltige Freude, die sie einmal über Eriks Leben bringen +könnte, so daß er alles darüber vergäße! Aber sie besaß nichts, -- sie +hatte immer nur so dagelegen, mit leeren Händen, und Opfer gekostet. + +Vor wenigen Tagen brachte Erik unerwartet den Professor heraus, den er +manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog. Sie war auf ihr Bett gelegt +worden, und dann hatte Erik die in Angst und Schmerz Zitternde ganz +fest in seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten überstanden +waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen. + +»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend. + +»Es muß sein. Eine Aenderung ist da,« antwortete er ausweichend. + +Aenderung! vielleicht Genesung! + +Ja, nur ~eine~ große, gewaltige Freude konnte es noch geben: wenn sie +selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat aus eigenen Füßen, -- +da mußte er wohl wieder froh werden. + +Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen +Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken +verträumten sich. + +Als die Strahlen der Nachmittagssonne schräger fielen, und die Schatten +der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die +beiden am Tisch, und Ruth stand auf. + +Da erschien Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich bei diesem +Unterricht, daß immer Ruth es war, die seinen Schluß angeben sollte. +Erik wollte es so; nur diese selbst konnte genau wissen, wann ihre +volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur +seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, -- +und das that er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und des Geistes +und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein +Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt. + +Er blickte sie an, wie sie, sonnengebräunt und mit vornübergewehtem +Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von +grobem, ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken +und Oberärmeln, -- fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein +Fürstenkind war sie doch. + +Er hatte ein Heft herangezogen, ohne Absicht es durchzusehen; nur +mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb +neben ihm stehen, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken. +Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich, wegen eines +geringfügigen Versehens, das er fand, herrschte er sie so heftig an, +daß Klare-Bel erschrocken aufsah. + +Ruth zog Schultern und Augbrauen hoch und schüttelte entrüstet den +Kopf. + +»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, -- nicht +wahr? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit +unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort. + +Erik war verblüfft und mußte über sie lachen. + +Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte +etwas derartiges sie scheu gemacht, -- sie ~ver~scheucht. Jetzt +weinte sie nicht mehr darüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie +lachte. Lachte sich aus. -- Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen +verspottete sie eigentlich? Sich selbst, -- daran war kein Zweifel. +Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von +Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus +seinem Wesen heraus. + +Was war diese Selbstentrückung, dieses Uebermaß von Selbstvergessen +im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, halbbewußt und wider +seinen Willen, -- wartete? + +Klare-Bel hatte mitgelacht. + +»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du mit dem +Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles +teilen mußt. Wirst du nicht eifersüchtig sein, wenn nun eines von den +Mädchen mehr kann als du?« + +»Warum nicht?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann +wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da. +Je mehr es sind, desto besser.« + +Erik blickte auf. Am Ende würde sie wirklich eine dritte im Bunde mit +Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte +niemand wissen, was sie bei sich dachte. + +Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie +vor Sonnenuntergang hereinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den +ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen +herumgetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er +Ruth in Beschlag nehmen konnte. + +Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den +Birken auf und ab gehen. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen +sich gegenseitig an den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst +das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes +Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln. + +Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von +Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr mit ihrer Hand +liebkosend über seine eigene Wange. + +»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an. + +Der schrak auf bei dem Ton. + +»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher. + +»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik, und schämte sich vor +sich selbst. + +Ruth folgte Jonas ins Haus. + +Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach. + +Da war es wieder, -- dies Kindhafte, Kindische, dieses Unausgewachsene +und sonderbar Unreife, über das er in Ruths Wesen nicht hinwegkam. Es +nahm nicht ab, es nahm zu, -- es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne +ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie +junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle +kindlichen Elemente sich entwickelten und zu immer vollerer Auslebung +drängten, -- und daneben andere, beinahe männliche, die er in +ihr bis dahin nur geahnt. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre +Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische +Richtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik +der Träume gelebt. Sichtlich hatte das Unentwirrbare, Unklare und +Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst +zusammengehangen und fiel mit diesen von ihr ab. + +Erik ging langsam in das Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit +resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber +im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten +abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war +ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten +wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen +Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf +sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel, und daß der Vater sich gerade +die Wochentage genommen hatte. + +Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube +hinauf gegangen sein. + +Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts +rege. + +Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen +Holztreppe. + +Wie ein Dieb erschien er sich selbst, als er da, in der Halbdämmerung, +auf dem untersten Treppenabsatz zögerte. + +Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten. + +Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, -- ganz allein. +-- -- + +Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme. +Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, in dem sich ihre Sachen +befanden, und kramte darin. + +Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht +viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen +gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie die Straßenhändler sie +auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen, am Boden, +Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war bedeckt mit +Bleistiftzeichnungen, die einen breiten Tintenrand als Rahmen empfangen +hatten. Sie rührten alle von Jonas Hand her und stellten alle irgend +einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar. + +Erik sah auf den Tisch nieder, auf dem Nähzeug und Papiere unordentlich +durcheinander lagen. + +Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber +in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach +einem Wort und zog eines der Papiere unter dem Nähzeug hervor. + +»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht. + +Sie wurde dunkelrot. + +»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja +auch gar nicht! Aber manchmal, wenn -- manchmal muß ich es noch thun.« + +»So Verborgenes thun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß +kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf +geht.« + +Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten. + +»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken. +Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen +sich, und dann muß man Verse schreiben.« + +Erik lachte. + +»O weh, die armen Verse!« bemerkte er, »also einen solchen stillen +Winkel hast du dir noch in deinem Kopf referiert, während es aussieht, +als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den +Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt eine wunderschöne, +unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?« + +Sie sah ihn ganz ernsthaft an. + +»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig. + +»Würdest du denn fraglos thun, was ich will? Auch im geheimsten, was +du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?« + +»Immer.« + +Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. + +»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? und wenn es zufällig +gerade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgend wann einmal, +vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches +geistiges Zu Hause? würdest du dann auch noch ebenso antworten: ›Was +Sie wollen‹?« + +»Ja!« sagte sie einfach. + +Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte, +dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben welchem, +an der Seitenwand, ein kleiner Bücherbort hing. + +Ein paar Minuten vergingen. + +Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die +sich in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr erkennen ließen. +Aber Erik wußte ungefähr, was alles sich hier auf das sonderbarste +einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus +Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht, +eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Uebersetzung und ein +zerrissener Band alter russischem Volkserzählungen, Ueberwegs »System +der Logik« und die französische Uebersetzung des Don Quixote mit den +Illustrationen von Doré, und so fort. + +»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom +Fenster her. + +»Weil ich es nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben verstehe ich nicht, +Ruth. Und mir schien wohl auch immer: Bücher sind tot, nur das +gesprochene Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können, +nie verstehen, mein armes Mädel.« + +»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte etwas andres.« + +»Was möchtest du denn?« + +»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eines, in dem alles drin ist. Aber +nicht mit Worten.« + +»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, malen oder meißeln +müssen, wenn du es mitteilen willst.« + +»Es muß noch auf bessere Weise gehen,« meinte Ruth. + +»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem +lieben Menschen an den Augen ablesen.« + +»Das ist schon besser,« sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen das +Fensterkreuz zurück. + +Kurze Zeit schwiegen beide. + +Die Dämmerung sank tiefer. Ueber den Steinfliesen der Terrasse unter +ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet. + +Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse. +Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter +Ruths Rücken hin und her im Zickzack. + +Erik stand mit einemmal im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände +und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen, +lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern +liegen, und er beugte sich tief über Ruth. + +»Sage mir das nicht mehr, -- was du vorhin sagtest: daß du immer und +fraglos thun würdest, was ich will,« bemerkte er mit gesenkter Stimme, +»du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. -- Ich könnte ja +auch ein Unrecht von dir wollen. -- Hast du daran nicht gedacht?« + +Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf. + +Er umfaßte sie fester. + +»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du +thun?« + +Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien +sich den Fall ernsthaft zu überlegen. + +»Unrecht thun!« sagte sie dann laut. + +Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie +lachte aber über das ganze Gesicht. + +»Für mich ist immer ~das~ das Rechte, was Sie wollen, -- niemals ein +Unrechtes. Besser weiß ich es nicht. Ich brauche es aber auch nicht +besser zu wissen.« + +»Mein armes Kind,« sagte er leise. + +Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in +ihr Gesicht. + +»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und +machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles? +Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja ~Ihr~ Kind!« + +Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden +Armen und schüttelte dieselben mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich +es denn nicht?« fragte sie wild. »Worum soll ich nicht mehr thun, was +Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann wäre es +besser, tot zu sein.« + +»Ruth!« rief er erschüttert. + +Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und +schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf. + +»Ich will alles thun, -- alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, -- +alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die +Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, -- Ihr Kind sein dürfen, -- +zu Ihnen sagen dürfen: ich will thun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das +muß ich -- muß ich dürfen. -- -- Darf ich?« + +Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde +unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und +ihre Stimme klang wie Metall. Und nun ein ganz weicher, kindlicher Ton: +»-- Darf ich?« + +Erik wurde zu Mute, als schaue er plötzlich, erst in diesen +vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte +Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum +erstenmal hinein in das Geheimnis ihres Wesens, -- hinein in die +stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit +rückhaltloser Gewalt die langgehemmte, lang aufgestaute Inbrunst +hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das +hieß: endlich -- endlich ~Kind sein dürfen~, gehorchen, sich hingeben, +sich weggeben, auf den Knieen noch. Es hieß sammeln und ausstürzen +dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch +keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen -- nur dessen +bedurfte. + +Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an. + +»Bin ich noch immer arm, -- ein armes Kind?« schienen sie ihn +unverwandt zu fragen. + +»Du bist nicht arm, -- mein Kind bist du, -- und darfst gehorchen, -- +mir folgen, -- du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser. + +Und er öffnete die Thür nach der Treppe, über der hell das Lampenlicht +aus dem Flurraum heraufschien. -- + +Diesen Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Thee in sein +Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die +halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht +ausfiel. + +Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die +Stadt mitzunehmen seien. + +»Willst du zur Stadt fahren? gerade heute? am Sonntag?« fragte seine +Frau erstaunt. + +»Ja. Ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen +notwendigen Besuch machen,« versetzte er. + +Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an +Römer nach Heidelberg, der andere an dessen Frau nach Moskau. Beide +doppelt frankiert. + +Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu +schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschlossenes Gesicht. +Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag +traurig und besorgt diesem Gesicht nach. + +Dies Wortkarge, Verschlossene kannte sie als ein schlimmes Zeichen. +Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so +litt er. Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm +geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht +ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr +immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge, die wohl auch +sie zu Eriks Innerem hätte finden müssen, -- um ihm nahe zu kommen, +um ihm notwendig zu werden. Aber gerade wenn er litt, wurde er am +unzugänglichsten, -- wurde er stets abweisend, bis zur Schroffheit. Nur +in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr. + +So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm +so gern bringen wollte, -- noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm +getragen hätte. -- + +Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz +gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von +Wiesbaden zurückgekehrt war, um, nach kurzem Aufenthalt, zu den Ihrigen +nach Livland zu reisen, wohin ihr Mann sie begleiten sollte. + +»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte +der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst +nach längeren, zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu +seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben, +eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denke ich mir. Wenn Sie Ihre +Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der +Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?« + +»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war +eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für +Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn +das ihre Abreise unberechenbar beeilen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen +damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen +Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals, +als ich sie Ihnen fortnahm.« + +»Ich weiß keinen Menschen aus der weiten Welt, zu dem ich mehr +Vertrauen fassen könnte, als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei +Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was +Ruth betrifft, so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als +ob selbst so nahe Verwandte wie wir, Ihnen ein Recht auf die Kleine +abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr +gehandelt ist, handeln Sie so! Ich meinerseits will, -- wenn ich sie +nicht wiedersehe, -- ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen +und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.« + +»Aber ich bitte dich! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim +ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes +unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren? +Ich meine, mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier +geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein +undenkbar.« + +»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das +Weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.« + +Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der +»Zeit« überlassen? Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er +für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz sicherlich ein +Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen. + +»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,« +bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich zu verabschieden, »aber +um so mehr muß ich ein Wort hinzufügen. Du sprichst so ruhig von +Recht abtreten, Louis! Aber ~ein~ Recht kannst du doch nie und nimmer +abtreten. Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit. Das +mag ja eine altmodische Ansicht sein. Aber ich möchte doch wissen, wie +Herr Matthieux darüber denkt.« + +Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten +Augen. Zum erstenmal gefiel sie ihm. Eben die Kampflust gefiel ihm. +Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte, war sie doch ein besserer Wächter als +er. + +»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so fürchten Sie, daß ich mit +meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber +übernehmen würde. Wenn es etwas gibt, was Sie von dieser Furcht +befreien kann, so nennen Sie es nur.« + +Der Onkel sah fast verlegen aus, aber sie beachtete es nicht. + +»Ich antworte Ihnen als gläubige Frau,« entgegnete sie, die stolz +war auf baltische Ueberzeugungstreue, »mir bedeutet moralische +Verantwortlichkeit: schuld sein wollen an einem Menschen, -- schuld +an dem, was an seinem innern Menschen geschieht. Nicht zulassen, daß +er Schaden daran nimmt. Wie sollte man das ohne Gott, ohne religiösen +Glauben auf sich nehmen können? Wenn Sie nun Ruth fortgeben, -- können +Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen?« + +Ueber Eriks Züge ging ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wußte, der +sie aber wider ihren Willen ergriff. + +»Nun verstehen wir uns,« sagte er mit unterdrückter Bewegung, »denn +eben das soll mein Recht sein: ich will schuld sein an diesem Kinde!« + +Sie fand, es klang arroganter als je. Es war nichts, das ihre +religiösen Bedenken beruhigen konnte. Aber ihr war dennoch, als habe er +»Gott« gesagt. -- + +Erik ging dem Bahnhof zu. Fast kein Mensch außer ihm in den leeren +Straßen; auch die letzten, die den Sommer in der heißen, ungesunden +Sumpfluft der Stadt zubringen mußten, entrannen ihr am Sonntag. Nur +hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Thür einer +Kellerschenke, oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über +das schadhafte Holzpflaster, das stellenweise noch weit aufgerissen +dalag und darauf wartete, daß seine alljährlichen Löcher in schöner +Mosaikarbeit zugestopft würden. + +Verlorene Glockenklänge, die letzten von einer der zahllosen Kirchen, +zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin, wie Grabgeläute über +einer Totenstadt. + +Erik ging langsam, müden Schrittes heimwärts. + +»Nicht zulassen, daß sie Schaden nimmt,« wiederholte er die eben +gehörten Worte. Ja, genau das wollte er doch. Noch war die Umpflanzung +in einen neuen Boden möglich, wenn er seinen kleinen Baum behutsam, +mit allen feinsten Würzelchen, dort eingrub. Nur so konnte er jetzt +seine Gärtnerdienste an ihm thun, damit derselbe nicht Schaden nehme an +seiner Entwickelung, die noch in hart und fest geschlossenen Knospen +vor sich ging, -- undurchsichtig von allen Seiten. + +Denn manchmal, da wachte etwas Gewaltthätiges in ihm auf, -- im +pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben, der sich am +Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte, um zu sehen, ob +eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft. + +Aber er fiel sich selbst in die gewaltthätige Hand; er selbst riß Ruth +sich aus der Hand. + +Verdirbt denn ein Vater sein Kind, ein Mann sein Weib, ein Künstler +sein Werk? + +Und ihm schien: seine Liebe zu Ruth sei alles dieses. + +Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet; als er kam, wurde +es einsilbig eingenommen. Klare-Bels Hoffnung, Erik werde erzählen, bei +wem er den Besuch gemacht, erfüllte sich nicht. + +Er wußte wohl, daß er nun davon sprechen mußte. Mit ihr und mit Ruth. +Es war ihm das Schwerste. + +Das dachte er, als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers +stand und wartend in den Hintergarten hinausblickte, wo Ruth sich mit +Jonas erging: »Nur nicht sprechen, -- nur nicht grübeln, -- handeln! +Sie aus den Arm setzen und forttragen. Handeln! Wer es wortlos dürfte!« + +Und nun ging Jonas ins Haus. + +Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter. + +Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steinrand des Springbrunnens. +Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast +im Grase. + +Wie sie ihn kommen sah, warf sie ihren Zweig fort und lief ihm +entgegen. Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch, zum verspäteten Essen, +und nun schlich sich ihre Hand in die seine. + +Ohne recht zu bemerken, was er that, steckte er sie mitsamt der seinen +in die Seitentasche seiner Joppe. + +Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf, aber als sie den ernsten, +beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah, verstummte sie ebenso +plötzlich. + +Sie gingen einige Schritte dem kleinen Gehölz zu. + +»Heute war ich bei deinen Verwandten, Ruth,« sagte Erik, »sie waren +beide da. Ich wollte sie einmal etwas auf das hin ausfragen, was wir in +den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben. Weißt +du nicht? Ich meine daraufhin, ob du nicht einmal im Auslande tüchtig +weiterlernen könntest.« + +Sie sah ihn erwartungsvoll an. Dies da interessierte sie sehr und ein +wenig beunruhigte es sie auch. Denn es handelte sich doch eigentlich +erst um ein ganz allgemein gehaltenes, unbestimmtes Zukunftsbild, -- +nicht um etwas, was schon erwogen und besprochen werden mußte. + +»Nun? und was meinten sie darauf?« fragte Ruth gespannt, als er +schwieg. + +»Sie haben nichts dagegen einzuwenden, Ruth. Nichts Ernstliches. Da ist +es denn Bernhard Römer gewesen, an den wir dabei gedacht haben. Dort +wüßte ich dich im richtigen Hause geborgen. Es wäre fast so, als wenn +ich selbst bei dir bleiben konnte.« + +Ihre Hand, die er noch umfaßt hielt, erkaltete in der seinen. + +»Ja, -- aber -- das ist ja noch so lange hin!« meinte Ruth ganz +langsam, und dann immer schneller, in wachsender Unruhe: »Es ist doch +noch lange hin? Sehr lange? Ich soll doch nicht -- bald fortgehen? ~Von +hier~ -- -- fortgehen!« + +Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu, die unter den +Birkenbäumen standen. + +»Komm zu mir,« sagte er sanft, »setze dich zu mir her, mein Liebling, +und laß uns ruhig darüber sprechen. Ganz ruhig, -- hörst du?« + +Sie folgte ihm schweigend, aber ihre Augen hingen unverwandt, mit +tausend aufgestörten bangen Fragen, an seinem ernsten Gesicht. + +»Sieh, Kind,« fuhr Erik fort, »wenn wir hier, während unsrer +gemeinsamen Arbeit, an deine Zukunft dachten, dann schwebte sie dir wie +ein erwünschtes, lockendes Bild vor. Ich wollte, daß du dich später +weiter entwickelst, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir, +wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich selbst einst erstrebt, +könntest, in andrer Form, du einst verwirklichen. Aber was so, als +Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näher rücken müssen, +bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich +wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.« + +»-- -- Wie nahe -- -- ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum +war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre +beiden Hände flach gegen die Ohren preßte. + +»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will es nicht wissen! bitte, +nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.« + +Einen Augenblick schloß er die Augen. + +Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang dieselben zu sich +nieder. + +»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich +vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Gerade hiervon werden +wir weitersprechen. Denn, je mehr du noch davor zurückscheust, desto +dringender, desto eher muß es geschehen.« + +Ruth war sehr blaß geworden. + +Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie +noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen konnte, was aber vor +ihr empordämmerte, -- unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, -- +schattenhaft, gleich einem Riesengespenst. + +»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will +nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!« + +Er beugte sich zu ihr und suchte ihren Blick. + +»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will +es? Auch nicht, wenn ich selbst es bin, der dich bei der Hand nimmt, +dich vor etwas hinstellt, das dir schwer fällt, damit du lernst, es +herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?« + +Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter. + +»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln, »-- irgend +etwas Schreckliches ist da, -- seit gestern ist es da, -- und +kommt heran, immer näher, -- ganz dicht heran, -- ganz nahe. Wie +ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. -- Ist es etwas +Schreckliches -- --?« + +»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »-- nur das, +was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was +du mir versprachst? die Probe stellen. Wenn ich es nun thue, Ruth, -- +ziehst du dein Versprechen zurück?« + +»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es +keine Auflehnung. Nur Gehorsam. + +»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich +thun?« + +Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen zusammengezogen, und +seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen +Schmerz. + +Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend bei einander. + +Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ein rundliches +gelbes Birkenblatt nach dem andern ihnen in den Schoß. Mühsam schien +die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den +Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner, satter Ton +die Stille um sie. + +Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst +dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal +in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst thun, was du schon einmal +thatest, als dir das langsame Herankommen, -- Näherkommen von etwas +Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als Jonas uns die Schlange ins +Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht +mehr, was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand?« + +»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein +Mittel?« + +»Du sagtest: ›Dann lieber -- gleich!‹« + +Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen +ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte. + +Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Kniee, +in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag. + +»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein +Kind! mein Liebling! hörst du mich?« + +Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das +Bewußtsein verloren. + +Inzwischen kam Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus +beobachtet hatte, wie der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz +hineingegangen war. + +Wie versteinert stand er still, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen +hervortreten sah und Ruth mit geschlossenen Augen regungslos in seinen +Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die +linke hing schlaff herunter. + +»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halte mir die Thüren +offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.« + +Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus, +nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzuschauen, und ins Haus +hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die +Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen +oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Thür, durch +welche man das schmale weiße Bett mit den zurückgeschlagenen Decken +sehen konnte. + +Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht; er wäre so gern +mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend +an ihm vorbei und zog die Thür hinter sich zu. + +Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der +Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während ~er~ +zurückbleiben mußte. + +Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches, +einen starren, wortlosen Ernst, -- so, wie wenn Ruth schon so gut wie +tot sei. + +Jonas überlief es kalt. + +Er klammerte sich an den Thürgriff und lauschte mit zurückgehaltenem +Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme, +halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine +Pause, -- und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber +so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte. + +Was that man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was that der Vater ihr +an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im +kleinen Gehölz vor sich gegangen sein. + +Und er durfte die Thür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine +rasche, wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in +ihm auf: daß er ein Knabe war, und der Vater ein Mann! Daß er nicht +eindringen durfte mit gleichem Recht, -- mit Gewalt! + +Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehen, +wenn sie bei seinem Vater war. + +Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben +der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein. + +Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und +brach in Thränen aus. + +»Ruth ist halbtot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt! +Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, -- ich weiß nicht, was +Papa thut, aber ganz bestimmt thut er ihr weh. Sie darf aber nicht +sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch +die Blätter im Garten!« + +Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er +selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob Erik nicht +bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam. + +»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in +großer Unruhe entgegen. + +»Sei nur ruhig; es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas +einen Wink, hinauszugehen. Dann trat er an seine Frau heran und sagte: +»Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend +vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in +diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.« + +Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen +Staunens an. + +»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du +denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?« + +»Das muß ich doch können, Bel.« + +Im beginnenden Zwielicht vermochte sie nicht seine Züge genau zu +erforschen. Aber dieselben kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und +diesen Ausdruck kannte sie. + +»Erik!« sagte sie ängstlich, »thu nur nichts so gewaltsam. Du siehst +ja, daß es sie krank macht. -- Warum siehst du so hart aus, Erik?« + +»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen +kann ich nicht. Aber ängstige dich um nichts. Ruth wird morgen gesund +sein, und auch gefaßt. Für ihre Haltung stehe ich ein. Aber sei gut und +freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.« + +»Verreisen? Du reisest fort, Erik? Wohin?« + +»Nach Moskau.« + +»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft. + +»Ja. Ihr soll Ruth sich anschließen. Und sie wird sich wahrscheinlich +hier nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und +besprechen. Mündlich.« + +Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum +hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen. + +Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt. + +»Erik!« flüsterte sie, »-- laß mich dich bitten: lasse sie noch ein +Weilchen bei uns. -- -- -- Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!« + +»Du -- -- -- Bel?« + +»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.« + +Er zog ihre Hand an sich, und an den Mund und küßte sie voll Scham und +Ehrfurcht. + +»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht +sein.« -- + +Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung +mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war +er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau ab. + +In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik. +Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth werde bis zum Spätherbst bei ihnen +im Haus und dann, vom Hause ihres Onkels aus, nach wie vor in engster +Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob +sie dann, später, mit Jonas zusammen auf die Universität abgehen solle? +Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang +an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus. + +Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise +zu üben. Da er es so wollte, mußte es so wohl gut sein. Gut für Ruth. +Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben. +Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam. + +Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hatte sie +geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu +thun. Zum erstenmal fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für +Ruth, -- nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurchging +und alles auf ihn bezog. -- + +Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von +den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer +einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß +und ernst, aber gesund, wie Erik es gesagt hatte, und ganz gefaßt und +still. + +Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte Klare-Bel ihr die Arme +entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denke +nicht an die Abreise. Noch bist du hier!« + +Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht +verändert hätte, und schüttelte den Kopf. + +»Ich bin schon fort!« entgegnete sie. + +Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es lag etwas +Schmerzlicheres darin, als in Klagen und Thränen, -- etwas, das die +bloße Ankündigung der Trennung schon mit ganzer Wucht als Trennung +empfand und nicht mehr davon los konnte. + +Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam Erik ihr +doch hart vor. Wie konnte er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus, +von Hand zu Hand ging. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die +wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit +griff sie nach dem Höchsten, das sie gekannt hatte. + +»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,« +sagte sie zögernd, »wir wissen es nie. Es steht in Gottes Hand. +Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehen. Gott ist +allgegenwärtig.« + +Ruth lächelte flüchtig. + +»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott +allgegenwärtig ist, wenn die Menschen es doch nicht sind? die Menschen, +von denen wir fortgehen.« + +Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu +wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen +zugleich. Wer mochte darauf antworten? + +Ueber Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht +davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht darüber, ihn nicht +zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in Auflösung begriffen. + +Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es +ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er +nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war +seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt. + +Gern hätte er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei, +aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem, fremdem Blick an +ihm vorbei, daß er es nicht herausbrachte. So begnügte er sich damit, +so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne +gelegt, und von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu +streicheln. Manchmal duckte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß +Ruth es beachtete. + +Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung, +daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten +hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt, aus Todesgefahr errettet, +-- wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem. + +Spät abends, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war, +patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf +und ab, und es that ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte. +Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett, +aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder. + +Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf +einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen +Morgengrauen, noch Licht brennen. + +War sie krank? unglücklich? + +Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und +kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte +Ulme; sie besaß einen bequemen Sattel, von dem aus zwei mächtige Aeste +sich gabelten. Wie eine Katze glitt Jonas am bemoosten, von den starken +Niederschlägen der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf. + +Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der +Giebelstube fiel. + +Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie +hinaufgestiegen war, saß sie noch da; die Arme vor sich hingestreckt, +die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr +Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über +die dunkeln Wipfel des Gartens. + +Sie schaute so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne. +Und um die festgeschlossenen Lippen lag ein stiller Ausdruck, -- lag +Ergebung. + +Jonas starrte auf sie hin mit weitgeöffneten Augen. Er war so im Bann +des ~einen~ Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das +flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht, +daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, -- +nicht, daß auf ihnen ein offener, halbgefüllter Koffer stand, und daß +die Wände, ohne den Schmuck seiner Bleistiftsskizzen, kahl und leer auf +Ruth niederblickten. + +Er sah nur sie, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden +Heiligen, und alles, was in dem gestrigen Erlebnis seine schwerfällige +Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute +Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde zu etwas Geheimnisvollem und +Leidendem für ihn; aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen, +das seine Schwärmerei wachrief. + +In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut von gestern; er sah +sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, -- und sein Herz +schlug beklommen. Er vermochte die Augen nicht vom Fenster abzuwenden. + +Die Nacht war kalt; vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und +blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz +klang verschlafen ein Rabenkrächzen. + +Jonas fror; er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und +drückte sich dichter gegen die breiten Aeste, deren Feuchtigkeit ihn +allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffeln +klatschend aus die Terrasse nieder. + +Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er +hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte Ruth +sich. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit +geweckt. + +Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern. + +Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten +Hemde, die zarte Wölbung der Brust. + +Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die +entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Kniee +und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper +langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen. + +Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh, +er hatte die Kälte vergessen. + +Vor seinen Augen flimmerte es. + +Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um +nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett. + +Ueber ihm glomm langsam der Morgen herauf. -- + + * * * * * + +Als Gonne früh morgens, beim Fegen der Terrasse, den Pantoffel auflas, +war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos +vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein +starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum +sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber. Auf Klare-Bels besorgtes +Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben. + +Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett. + +Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn +erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug +benutzt. + +Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte +unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun +seines, -- was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften +von seiner Hand, -- der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den +Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben +von ihrer Hand. + +Da vernahm sie unerwartet im Flur einen raschen, festen Schritt. + +Die Thür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine +Brust. + +Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der +einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv +hin. + +Um so mächtiger jedoch wirkte der plötzliche Anblick Eriks jetzt auf +sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, -- in diesem einen +Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der +bevorstand, -- leugnete ihn, vernichtete ihn, -- in diesem Augenblick +wurde alles, -- alles gut. + +Sie vermochte nichts zu denken, als daß er da war. Und daß sie bei ihm +war. + +Fest, -- fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, fest barg sich +an seiner Schulter ihr Gesicht. + +So stehen bleiben, -- für immer so stehen bleiben, festgewurzelt für +immer an dieser Stelle, hineingeschmiegt in die weiten, weichen Falten +des geöffneten Reisemantels, -- nichts fühlen, nichts vernehmen, als +den starken, dumpfen Herzschlag, der ihr entgegenpochte, -- für das +ganze Leben nichts -- nichts mehr. + +Sie wechselten kein Wort. + +Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten; stumm hielt +er Ruth an der Brust, schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr +Haar. + +Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern, um ihre +Hüften, und umschlossen sie mit so gewaltthätigem Griff, daß es wie +Schmerz und Ersticken über sie kam, -- als müsse er sie nun zerbrechen. +Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust, -- sterben, -- +nicht fortgehen, -- dachte sie, und es überflutete sie mit einem +jauchzenden Glücksgefühl, wie sie es nie gekannt. + +Erik sah sie lächeln. + +Er verlor die Besinnung. + +»Wahnsinn!« schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf, »Wahnsinn! Wahnsinn, +sich zu lassen, wenn man sich liebt.« + +Eine Sekunde lang, -- dann ließ er sie so jäh los, daß sie +zurücktaumelte. -- + +»Erik!« rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer, »Erik, bist du +wieder da?« + +Er hing den Mantel an den Ständer, dann öffnete er die Thür zu der +Wohnstube, in der sie lag. + +»Denke nur, Erik, Jonas ist inzwischen krank geworden, -- so schwer +erkältet, -- hoffentlich ist es nicht schlimm. Er hat -- -- aber was +ist dir?« + +Er stand da wie ein Betäubter, das Blut in den Augen. + +»Nichts. Ein Schwindel,« murmelte er, setzte sich an den Tisch und +stützte den Kopf auf die Handflächen. + +»Das ist diese übertriebene Eile!« klagte sie besorgt, »-- daß es mit +solcher Windeseile vor sich gehen soll. Wann ist es denn nun, daß sie +reist, Erik?« + +»Morgen, -- um Mittag,« sagte er leise. + +»Mein Gott, so schnell ist es aber doch rein unmöglich! Denke doch nur, +was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt. +Ruth braucht doch gewiß noch manches, was für sie beschafft werden +muß.« + +»Es kann alles in Heidelberg beschafft werden.« + +»Nun ja, Erik. Aber wenn du wüßtest, wie tief es ihr geht. Wie blaß und +elend sie ausgesehen hat, gestern und heute. Sie ist doch nur zart.« + +»Hör auf!« sagte er zwischen den Zähnen. + +»Ach, Erik, ich widerspreche dir ja nicht! Das thue ich ja niemals! Sie +thut mir nur so leid. So allein ist sie, und so liebebedürftig. Und +nun: von Haus zu Haus, von Hand zu Hand. Und wenn sie nun erkrankt, --« + +»Hör auf!« unterbrach er sie außer sich und sprang auf, und warf den +Stuhl zurück, daß er zu Boden schmetterte, »hör auf, Bel! Es ist genug! +Ich will es so!« + +Damit verließ er das Zimmer. + +Mit erschrockenen Augen sah sie ihm nach. Erik war fast immer sanft +gegen sie, obschon -- oder vielleicht weil -- ihr Wille gegen den +seinen nie recht in Betracht kam. In so heftigem Ausbruch hatte sie ihn +lange nicht mehr gesehen, -- wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr. +Kranke sind gute Lehrmeister! + +Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe. Da war ihm der rasche Zorn noch +nicht verraucht, da ward er leicht heftig, wenn seine Frau nicht ganz +dem entsprach, was er erwartet, was er mit ihr gewollt hatte. + +Seltsam: damals erschreckte es sie nicht, -- nein, mehr noch, so +wunderlich es auch sein mochte: sie liebte diesen Zorn. So deutlich +fühlte sie, daß Eriks Liebe damit verknüpft war. Gegen einen ihm +gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden. Mit dem Interesse +an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen, ihn +zu formen, zu gestalten, nach seinem Willen umzuprägen. Liebe und Härte +fielen zusammen. + +Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen, da befanden +sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen: die eine, +im roten Sarafan, auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel +dreinschlug, lachte über das ganze Gesicht; die zweite, im blauen +Sarafan, saß daneben am Weg auf einem Stein, sah neidisch zu und weinte +sich die Augen aus, indes ihr Liebster mit einer andern spazieren ging. + +Das war gewiß eine dumme Geschichte. Aber diese beiden Bauersfrauen +konnte Klare-Bel gut verstehen. + +Niemals sollte sein Zorn sie schrecken: nur, daß er mit seinem Zorn +seiner Liebe vergäße. -- + +Der Tag schlich langsam zu Ende. Es war so still im Hause, als ob +keiner darin anwesend sei. Erik hatte lange bei Jonas gesessen, +ihn genau angesehen, alles Notwendige veranlaßt und den heftig +Widerstrebenden gezwungen, sich ganz zu Bett zu legen. Es handelte sich +um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber. + +Ruth stand auf dem Flur, gegen das Treppengeländer gelehnt. Sie wußte +selbst nicht, warum sie dort stand. Wahrscheinlich weil alle Thüren +sich in den Flur öffneten. Und aus einer der Thüren mußte doch endlich +Erik kommen. Und wenn er kam, mußte er doch zu ihr treten. Sich nach +ihr umwenden. Er mußte doch einsehen, daß es unmöglich war, so fremd +aneinander vorüberzugehen, wie er es heute abend that. + +Sie wollte so wenig: nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte +sie, -- nur seine Hand fühlen, einen Augenblick lang. + +Seitdem Erik sie an sich gerissen, und von sich gestoßen hatte, war +eine ratlose Verzweiflung über Ruth gekommen. Die äußere Trennung, +die nahm sie ja hin, wie etwas Furchtbares, aber Unabwendbares, weil +er es so forderte. Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von +sich losriß, das konnte sie nicht ertragen. Ihn den Blick absichtlich +fortwenden zu sehen, -- ohne ein Wort der Liebe für sie, ihn wie einen +Fremden dastehen zu sehen, -- das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen. + +Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus. Als er Ruth an +der Treppe bemerkte, sagte er ihr gute Nacht. Sie machte eine Bewegung +auf ihn zu, ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf. +Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er gab ihr nur flüchtig die Hand. +Dann ging er an ihr vorüber, zu Jonas hinein. + +Bald darauf siegte die Uebermüdung über ihn; wider Erwarten fiel er in +einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten +seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß +bedeckten. + +Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und +gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere +Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer +Theaterposse, als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der +unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick. Und da, +als er in der Angst des Traumes gewaltsam seine Augen von der Fratze +wandte, -- fort, einem andern Ruthbilde zu, -- da wandelte es sich vor +ihm -- zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth, -- und +schamlos, fremden Männern preisgegeben, -- einen weißen Körper, der +nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, -- +und doch wußte er: es sei Ruth. + +Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus +hörte er küssen und lachen. + +Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den +Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an +Eriks Ohr. + +Er richtete sich auf und lauschte. + +Das Weinen kam aus Jonas' Bett, welches neben der offenen +Verbindungsthür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, wie er +es in den Kissen zu ersticken suchte. + +Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas' +Bett. Als dieser ihn kommen hörte, verkroch er sich nur tiefer in seine +Decken. + +»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker +geworden?« + +»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt +im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat +nichts genützt, es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht +wußte, habe ich gehört! Ich habe gehorcht und habe es gehört!« + +Erik schwieg einen Augenblick betroffen. + +»Du sprichst im Fieber,« sagte er dann, »was weißt du denn, was hast du +gehört?« + +»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!« + +Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen. + +Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm die Hand besorgt an die +trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß seine Hand zurück. + +»Nein!« sagte er fast keuchend, -- »du willst es ja, -- du bist +es ja -- schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth, +-- schützen, denn was weißt du, -- wie ihr zu Mute ist. Du weißt +nicht, hast nicht gesehen, -- wie sie daliegt die Nächte, -- halb +ausgekleidet, an ihrem Bett, -- wie gestern.« + +Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so +daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß, um den Schmerz zu +beherrschen. + +»Was hast du -- gestern -- gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme. + +Jonas setzte sich auf. + +»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie, +-- oder betete, -- so geheimnisvolle Augen hatte sie, -- und ich habe +mit ihr gewacht, -- ganze Nacht, heimlich, oben, in der alten Ulme vor +der Terrasse.« + +Erik sprach kein Wort. + +Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas +über Stirn und Haar hin. Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen. +Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten +liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehen und Mitfühlen, das +ihn um die letzte Fassung brachte. + +Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein +unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halbverständlich, brachen die Worte +aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln: +»Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann es nicht aushalten, daß sie +fortgeht! Ich war böse auf dich, -- nimm's nicht übel, -- hilf mir! +halte sie, Papa! sie bleibt da, wenn du es willst. Früher war ich mal +eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebst als mich. +Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich +liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf +der Welt!« + +Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest. + +»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen +Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst nicht +hier liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber. +Nimm dich zusammen.« + +Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam. + +Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände los +zu lassen. + +»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein +Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du +mir folgst, aber anders als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt +trennen. Wir alle müssen es. Denn morgen schon reist sie fort, und bis +dahin wirst du nicht aufstehen dürfen.« + +Jonas fuhr empor. + +»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht! +Ich muß Ruth küssen, -- ich muß sie küssen, -- wenn sie geht!« + +»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht +küssen wollen, hoffe ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede +Widerrede abschnitt; »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern +auch alles thun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen, +wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit, +keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung +mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du thun. Ich muß mich +unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen +soll. -- Kann ich es?« + +»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er +konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt. + +»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen +ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas +war, als spräche er mit den Lauten seiner Mutter zu ihm, »wenn Ruth von +dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein +Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran, +daß du bald ein ganzer Mann wirst, -- damit du ihr einst ein ganzer +Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du, in allem was +du thust, zu ihr zurück, -- ihr nahe. Dulde es nicht, daß sie dich so +ganz überflügelt und dich einst weit -- weit hinter sich zurückläßt! +Jetzt kannst du zeigen, was du wert bist, -- und ob du's wert warst, +Ruth gehabt zu haben.« + +Jonas lag ganz still und lauschte. + +»Ja!« sagte er begeistert, »das will ich! ach, Papa, das will ich!« + +Und er hob den Kopf und küßte den Vater. Erik hielt seinen Kopf einen +Augenblick lang an sich. + +»Wir werden ~nie mehr~ hiervon miteinander sprechen,« sagte er leise, +-- »nie mehr. Aber vergiß es nicht. Zwinge deine Gedanken auf die +Arbeit, auf das, was vor dir liegt. Suche dich mit mehr Festigkeit zu +beherrschen. Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen. +Streng mit dir sein müssen, mein Junge. Mache es mir nicht schwer.« + +»Papa,« versetzte Jonas so zutraulich, wie er sonst nur mit Klare-Bel +zu sprechen verstand, »ich will mich nie wieder vor dir fürchten. Sei +so streng du willst gegen mich. Du hilfst mir ja damit, nicht wahr? +Tüchtig zu werden. So fest und tüchtig wie kein andrer. Ausstechen muß +ich jeden andern! Hilf mir schnell, ein ganzer Mann zu werden! -- Ein +Mann für -- für -- ich meine: ein Freund für Ruth.« + +Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert; Erik mußte +ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen. Nun schwieg er; er +lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft. + +Erik war außer stande, sich wieder schlafen zu legen; er kleidete sich +vollständig an. Er fühlte sich frei; wie erfrischt von einem langen, +gesunden Schlaf, wie gekühlt und gestählt durch ein erquickendes Bad. +Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend, die noch auf +seinen Träumen gelastet hatte, war verflogen. In der Einwirkung auf +einen andern, dessen Unruhe er bezwang, dessen innerste, widerstrebende +Gedanken er bestimmte, -- im kurzen Kampf mit dem Knaben, der zugleich +sich gegen ihn auflehnte und ihm vertraute, hatte er sich selbst +zurückgefunden. Seine Kraft geweckt und gesammelt. Er wußte recht +wohl, wie es damit stand: wenn er sich am schwächsten fühlte, dann +erstarkte er an der Kunst, andre in überlegener Behandlung zur Stärke +zu veranlassen; an der gehobenen und mutigen Stimmung, die er von ihnen +forderte und in ihnen hervorrief, -- an seinen eigenen überzeugten, +überredenden Worten kletterte er selbst zu neuem Mute, neuer Zuversicht +empor, wie an einer langen Leiter, die sich manchmal mitten aus seiner +eigenen Verzagtheit erhob, aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien, +-- bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen. + +Viele tausend solcher Leitern, festgehalten von den Händen einer +Menschenmenge, die ihn umdrängte, die an ihn glaubte, die auf ihn +angewiesen war, -- und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen. + +Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen! denn Stützen +waren es, -- wie sehr auch er selbst als der Stützende dabei erschien. +Niemand ist absolut stark. + +Erik wußte recht wohl, wo seine Gefahr lag, wo auch in ihm der +Schwächling steckte: da, wo er sich allein überlassen blieb. + +Draußen herrschte noch dunkle Nacht. Es schlug drei Uhr. + +Erik litt es nicht im engen, warmen Zimmer. Er öffnete leise die +Hausthür und trat hinaus. + +Die Finsternis war so dicht, daß er nur langsam der Tiefe des Gartens +zugehen konnte. Er empfand den aufsteigenden Nebel, ohne ihn zu sehen. +Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des +kleinen Gehölzes. Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein +verlorener Stern. Das letzte Mondviertel, der schmale, blasse Vorläufer +der Morgenröte, war noch nicht sichtbar. + +Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen. Er vernahm +absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter. Aber er fühlte, daß +er nicht allein sei. + +»Ruth!« murmelte er unwillkürlich. + +»Ja! was soll ich?« fragte sie schüchtern. + +Mit einem Schritt stand er neben der Bank; er tastete nach ihr. + +»Was du sollst?! Im Bett sein!« + +Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um. + +»Was thust du hier mitten in der Nacht? Weißt du nicht, daß Jonas sich +in dieser gefährlichen, kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat?« + +»Ja, ich weiß es. Aber mir schadet das nichts,« versetzte sie zaghaft, +»das Fieber thut so gut; ich kenne es gut: da liegt man im Traum und +hört auf zu denken. Und da dachte ich, ich könnte es auch so gut +haben.« + +Jetzt fühlte sie seine Hand, die sich fest um ihr Handgelenk legte. + +»Was sagst du da?« fragte er ganz langsam, »du ~suchtest~ das Fieber?« + +»Nein! nein!« rief sie flehentlich, »ich will es ja nur ein wenig, -- +ein klein wenig nur, -- nicht so, daß es die Abreise hindern sollte! +Ganz gewiß nicht!« + +Ein Laut brach von seinen Lippen, wie wenn er verwundet würde. Sie +konnte hören, wie seine Zähne leise übereinanderknirschten. + +Er beugte sich über sie. + +»Und das -- das glaubtest du zu dürfen,« sagte er matt. + +»Ja, ich durfte es; denn ich will ja thun, was ich versprochen habe. +Bin nicht ungehorsam. Nur so ganz allein bin ich. Niemand, der nur ein +bißchen hilft. Da sollte das Fieber mir helfen. Ich darf thun, was ich +will, -- wenn es nichts aufschiebt,« versetzte sie finster. + +»So. Und wenn du nur rechtzeitig fortgekommen bist, meinst du, -- +dann könntest du thun, was du willst? Auch vielleicht dich irgendwo +hinsetzen und krank werden, wenn dir das ›hilft‹? Du irrst dich, mein +Kind. Ich lasse dich nicht los, indem ich dich fortlasse. Und aus der +Ferne sollst du mir doppelt gehorchen. Dein Versprechen geht auf dein +ganzes Leben. Du bist mein. -- Bist du es?« + +»Ja!« rief sie inbrünstig. + +»Steh auf und geh hinauf.« + +»Ich kann es nicht so, -- ich muß erst wissen, -- wann reise ich?« + +»Ich werde es dir morgen sagen. Heute nacht nicht. Du sollst dich +hinlegen und zu schlafen versuchen. An nichts denken als daran, daß du +schlafen sollst. Wirst du es?« + +Sie war schon aufgestanden. + +»Ja!« murmelte sie, »morgen! Ich muß morgen fragen, was ich will.« + +»Das sollst du.« + +Er gab ihr die Hand. + +»Geh voraus. Gehe nur. Ich folge schon. Warte im Hause nicht auf mich.« + +»Gute Nacht!« sagte sie gehorsam und ging. + +»Mein Liebling! gute Nacht!« rief er ihr nach. + +Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen, nach denen sie +den ganzen Tag, die ganze Nacht gehungert hatte. + +»Verzeih mir! Liebling,« sagte er reuig vor sich hin, während er ihr +langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in +dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer +bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute, -- aus +Furcht vor seinen Sinnen, -- und vor diesem unwissenden Kindersinn, der +ihm mit einem Lächeln entgegenkam. + +Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in +letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und +gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie +die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das, +was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, -- mit +einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das +nie geliebkoste Kind kennt. + +Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie +umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutterliebe, -- aus +einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller +Bedenken entschlagen konnte, -- daß er sein Liebstes nur noch wie auf +starken Armen hob und trug, -- es einem schlummernden Kinde gleich in +einem letzten Traum hinübertrug in die fremde, die kältere Welt. -- + +Der Hausflur war schwach erhellt von dem Licht, das an der offenen Thür +zu Eriks Zimmer stand. Ruth hing die Joppe über den Thürgriff, und ohne +sich nach Erik umzusehen stieg sie hinauf. + +Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich +ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des +Dunkels, der Einsamkeit. + +Seit der Stunde seiner Rückkunft gestern verlangte ihn unbewußt nach +dieser Stille und Einsamkeit. + +In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau +hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag, und Bels +Stimme ihn rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief: +»Erik, bist du wieder da?« -- Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst +du fort von mir?« + +Und als er sie wiedersah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut +kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine +lange, lange -- jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau +nicht gesehen, nicht mit sich genommen, -- ja, vergessen hatte. Es war +fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen. + +Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine +Selbstbesinnung zu. + +Aber jetzt -- jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die nämliche +Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete +er ihr: »Es ist eine lange, lange Reise gewesen. Ich ~habe~ dich nicht +wiedergesehen all diese Zeit hindurch, -- dahin nicht mehr gesehen, wo +du bist: dich vergessen. + +Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks. +Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollte ich nur +~einen~ Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, -- in +eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was +hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen +hat, und dasteht wie ein Bettler oder wie ein König, wollte ich meine +Hände aufheben zu meinem Glück. + +Dann -- einst -- ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und +Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, um sich +mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren. Zum Kampf. Zum +Kampf um mein Glück.« + +Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf -- -- -- +Glück.« + +Er öffnete, wie erwachend, die Augen. + +Es war hell um ihn. Die Nacht vorbei. Glutrot stand der Himmel, wie in +Flammen. + +Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein +ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner +Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden. + +Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten +vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob +Gonne ihnen wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar +Krumen zuwerfen werde? + +Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit. + +Er hatte Bel geliebt, -- so sehr, wie, nach seiner Meinung, der Mann +bisher das Weib überhaupt lieben kann: nicht nur mit der Habgier der +Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe« +hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein +Priester, das nur der eigene, bewußte Wille besiegelt. Es war gewesen, +wie er damals, im scherzenden Gespräche über die Ehe, zu Warwara +gesagt: kein Pflichtbewußtsein, sondern das dauernde Glücksbewußtsein, +seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in +allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder +Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu +ändern vermocht. + +Wenn er ihr je untreu geworden in einer heißen Aufwallung des +begehrlichen Blutes, -- oder auch in einem bittern Rückblick auf die +zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte +er sich gegen sich selbst auf mit Kraft und Härte. Niemals hätte er es +doch zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne +als sein Wille, seine Bürgschaft. + +Und nun, wenn er alles sammelte, was er an Scham und Selbstvertrauen, +an Stolz und Herzensgüte besaß, -- wenn er das alles sammelte und +zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen +Kampf mit ihm zu schützen? Oder, wenn es denn in der Zukunft zu einem +solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was +stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten +und gegen ihn selbst zu siegen? + +Erik schaute geradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er +wollte, -- er mußte ehrlich sein. + +Und er sagte sich: »Nein.« -- -- -- + + * * * * * + +Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch +blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Thee auf sein Zimmer +bestellt, dann ging er zu Jonas hinein, um nach ihm zu sehen. + +Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten. + +Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus. + +»Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.« + +Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster. + +Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber +sie blickten sicher, -- fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe +kalt. + +Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück. + +»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl. +Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im +Garten und -- bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen +gehört uns allein. Uns zusammen. Und den wolltest du krank zubringen.« + +Sie antwortete nicht. + +Ganz leise nur beugte sie gegen ihn den Kopf vor, so daß seine Hand +durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still. + +»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich +etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still thun. Niemals +in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal +schwerer. Aber niemals sollst du es dir erleichtern. Durch nichts. Nur +war ich dieses Mal selbst nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie +krank, -- nicht wie ich sein sollte. Siehst du, nun beichte ich es dir +auch. -- -- -- Ist es nun gut?« + +Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf. + +»Eins fehlt noch,« sagte sie. + +Ihm kam ein Lächeln. + +»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvolles Fürstenkind?« + +»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?« + +»Das darfst du. Halte deine Hände offen, Liebling, und laß dich +beschenken.« + +Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knieen, +und hob ihr Gesicht auf zu ihm, -- Trotz in den Augen. + +»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.« + +Erik stutzte. + +Er schaute forschend in ihre Augen, mit dem fest auf ihn gerichteten +rätselhaften Blick. + +»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach. + +Sie flüsterte kaum hörbar: »Daß ich erfahre, ~warum~. Das plötzliche +Fortmüssen, -- -- -- ~warum~?« + +Er legte ihr die Hand über die Augen. + +Eine lange Pause entstand. + +»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann, +»zwischen uns fehlt ~eins~. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und +mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, -- daß wir im Alter so +weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal du, das +gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es +bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, -- mitzuteilen. Aber +nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen +dir und mir, -- ~sie~ eint uns gerade. Nur sie macht, daß ich dich +leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll +knieen kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir +aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich +habe den halben Weg schon zurückgelegt. -- Oder könntest du das missen? +möchtest du lieber, ich stände neben dir, von gleichem Wuchs wie du? +noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?« + +»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.« + +»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.« + +Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie ihr Herz wild zu schlagen +begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. -- Sie war +gestern irre geworden. -- + +Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, -- +sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen: +Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre +Gefühle in Gärung gekommen sein, -- mochte eine Welt von unverstandenen +Empfindungen in ihr ringen. + +Die feine, ruhige, gerade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so +kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig, +-- sie schien sich zu biegen, -- eine Wendung zu machen: eine Wendung +zu ihm hin -- oder von ihm fort. + +Ueber Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen Fähigkeiten +aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte, und +jegliche sinnliche Erregung vollkommen niederhielt. + +Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück. +Ihre Lippen zitterten. + +»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in +dir geregt? Brich den letzten Trotz, -- denn es war einer. Laß mich +ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib +nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich rechtlos. +Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu +gehen, ohne ein Warum.« + +»Wann -- gehen?« fragte sie undeutlich. + +Er drückte ihren Kopf an sich. + +»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein, +nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch +diese Stunde, Ruth. Dann bringe ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der +ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.« + +Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als +solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte +nicht länger. Sie gab nach, willenlos. + +Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor, +der sie überfiel. Gestern war sie doch irre geworden an ihm, -- und +morgen? -- -- da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr, +was in ihr vorging. + +Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh thun will, +sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh thun ~kann~. +Gib dich dieser Liebe, Ruth, -- ohne Rückhalt, ohne Zweifel, -- gib +dich ganz. Denke täglich, daß ich es zu dir sage, -- des Morgens mit +deinem Erwachen, des Abends mit deinem Einschlummern: ~Ich hab' dich +lieb.~« + +Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, -- mit grenzenlosem Dank in den +Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund, +-- ein wenig zaghaft noch. + +»Da gehe ich ja nicht fort, -- da nehme ich Sie ja mit,« sagte sie, +fast schelmisch. + +Das Glück brach aus ihren Augen, -- ja, der Schalk. + +Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im +Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden +berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie +sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem +Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, nicht +stärker sich aneignen als in diesem Augenblick, wo er sie von sich +löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war. + +Einigung und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges +Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen +verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in +einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens. + +»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß +wir ~nicht~ sind wie ›zwei Kinder im Wald‹, die sich verlaufen? Für +die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren, +-- verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie von der Hand. +Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehen siehst, und +doch um dich weißt -- über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie +jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, -- der +aber doch alles weiß, was dir not thut und gut thut wie --« + +»Wie Gott,« sagte Ruth keck. + +Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin. + +Aus Gespensterfurcht? + +Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst +aufwachen mochte, an unbewußtem, ungeheurem Fordern und Bewundern und +Erwarten. + +Sie sagte es, gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie +ein Kind einen Kuß gibt. + +Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so +nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, -- dem vermessensten. + +Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts. + +Und er küßte sie aufs Haar. + +»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch für dich: wie dein Gott.« -- + +Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu +schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das +Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein +leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, welche das Gepäck +aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen. + +Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem +Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte erstaunt auf. Weder er noch +Ruth machten ein trauriges Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt, +dort im Zimmer, hatte er es Ruth mitgeteilt. + +»Wie er das nur zu stande gebracht hat? Er kann doch alles, was er +will!« dachte sie bewundernd. + +Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in +beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik +scherzte darüber, und Ruth harte ihre Schelmengrübchen in den Wangen. + +Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln +Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden +Perlen überblitzt. + +Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen, +verschämten Gesicht. + +Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen. +Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus. + +Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehen, -- den +letzten, grüßenden Zuruf seiner Mutter, -- die Thüren gingen, -- -- +dann eine Minute der Pause, -- -- und nun fiel, mit einem schwachen +Knarren, die Gartenpforte ins Schloß. -- -- -- + +Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am +frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück. + +Aber es blieb so still wie zuvor. + +Jonas hielt es nicht länger im Bett aus; er stand auf, und seinen +kalten Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden, +stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters. + +Der Vater war nicht da. + +Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er mußte machen, daß er +fertig wurde, ehe der Vater ihn hier überraschte. + +Und seine Feder kratzte über das Papier. + +Er schrieb an Ruth: + +»Süße, liebe Ruth! + +Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem du +arbeitetest. + +So ungeheuer gern wär' ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollte ich +aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff +(vielleicht war es gar nicht dein Zug), da habe ich trotzdem ein +bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort. + +Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will dir noch nicht +sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange +ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich dir +nicht schreiben. Aber dann schreibe ich dir, daß du meine Frau werden +mußt. Im Spiel hast du es niemals sein wollen, und das hat mich +manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß +ich ein ganzer Mann für dich geworden sein. + +Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt. + +Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es dir gleich schreiben, damit +du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn du dort einen andern Jungen +findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja +hier so ganz umsonst anstrengen. + +Aber vielleicht findest du keinen. + +Ich küsse dich mit tausend Küssen. + +Dein Freund, (dein zukünftiger Mann,) Jonas. + ++Pst. Scr.+: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf. +Sonst würde er dich sicher grüßen lassen.« + + * * * * * + +Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube. + +Er stand am Fenster und weinte. + + + + + V. + + + Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt, + Wo's flatternd eine Zuflucht fände, + So bin ich, flüchtend nur, gelangt, + Ein armes Kind, in deine Hände. + + Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, -- + Doch nur von Einsamkeit getrieben, + und kniete schweigend bei dir hin, + und wollte nichts, als Etwas lieben. + + Und wollte nichts, als, kurze Zeit, + Gleich einem Kind mich wieder wissen, + Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit + Ganz scheu, von ferne, mitgenießen. + + Nichts, als von kindlich tiefer Qual + Auf einen Augenblick nur rasten, + Nichts, als die junge Brust einmal + In heißer Hingebung entlasten. + + Wie ward mir wohl, da ich dich fand, + Als müßte jeder Wunsch sich stillen, + Seitdem du mich, mit sanfter Hand, + Geborgen ganz in deinem Willen. + + Als würde plötzlich alles klar, + Als müßten alle Wirren weichen, + Seit über das verwehte Haar + Mir deine lieben Hände streichen. + + Bis daß ein jeder Schmerz hinfort + Versank vor zaubermächt'gem Troste, + Seit, mit dem ersten Liebeswort, + Dein Blick mich zwang und mich liebkoste; + + Bis ganz die Welt um uns versank, -- + Und nichts von allem mehr geblieben, + Als nur ein grenzenloser Dank, -- + Und nur ein grenzenloses Lieben. + + +Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth +hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten +Versen. + +Er wußte es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen +Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissene Blatt mit den +gestammelten Versen gelegen. + +Und seitdem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete +an ihnen. + +Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es gethan. + +Aber so, -- so in jedem Worte würde sie sie gedichtet haben, -- ein +wenig später, -- im Rückblick. + + * * * * * + +Sie saßen alle zusammen. + +Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube, in einem großen, bequemen +Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch: er hatte die Lampe dicht herangerückt, +um besser sehen zu können, was er in sein Schulheft schrieb. Erik am +Kamin, in welchem mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte +er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter, der mit +Tannenzapfen gefüllt war, ein paar von den braunen, herzigen Zapfen in +die Glut. + +Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der +leichten Sommergardinen schwere, schützende Fenstervorhänge, am Kamin +zwei Sessel aus der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine +Tatzen vorstreckte. + +Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging, +war dieses Jahr die Uebersiedelung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen. +Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur +Genesung führte. + +In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen +Stöcken mußte sie täglich einige Schritte thun. »Laufen lernen,« wie +Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese +Schritte sollte sie in frischer Luft thun. + +Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in +halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die +sie vorgehabt, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren +wenigen Schritten. + +Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen +Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen, blonden Flaum an Kinn +und Lippe, bückte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte +er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig. + +Und Erik blickte in die Glut -- -- + +»Bis ganz die Welt um uns versank --« + +Gonne war es, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den +Abendthee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre +täglich neu genossene Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen +wieder Hausfrau zu sein. + +»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,« +bemerkte sie dabei, »man muß sagen: sie schreibt treulich, -- +regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manchmal ein Buch!« + +»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?« +fragte der Vater, »sie will oft von dir wissen.« + +Jonas wurde sehr rot. + +»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu thun,« murmelte +er über seinem Theeglas. + +»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte +Klare-Bel, »Ruth ist doch sicherlich begabt, nicht wahr? Und sind ihre +Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?« + +»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.« + +»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es +ist, -- ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang +erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr +selbst.« + +Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung, +selbst des geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie +umgab, und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, -- das alles lag +neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war +nicht Verschlossenheit, -- es war Haß gegen das Wort, das ungenügende. +Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, -- ehe +er das nicht wiedergesehen, nicht wiedergehört, war Ruth für ihn wie +begraben. + +Und wieder schwiegen sie. + +Der Theetisch wurde abgeräumt. Nur eine Fruchtschale mit Aepfeln blieb +darauf stehen. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder +auszubreiten. + +Erik hinderte ihn daran. + +»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen +Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.« + +»Ich bin es ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch +treiben. Einer von den Jungens hilft mir in der Freistunde darin.« + +»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins +Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?« + +»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit +russischen Stunden Geld verdienen.« + +Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Ueberlaß mir das +doch.« + +»Erlaube es mir, bitte. Thue ich nicht genug für die Schule?« + +»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas! +Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine +Kraft in den Knochen. Nicht genug.« + +»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem +Ernst, der ihm drollig genug stand. + +»Aber der Uebel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,« +ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters +mit solchen Citaten kommst, dann werde ich dich noch ganz von den +leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre.« + +Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer. + +Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei +andres, das drängte. + +Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück. + +Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten; sie schickte sie +ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war +immer noch nicht »Ruth«. + +Er nahm eine Mappe vom Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus +Heidelberg lagen, vom vorigen August bis zum heutigen April. + +Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben, +sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war +zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine +Ankunft. + +Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein +kurzer Brief von Frau Römer: + +»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch +einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen +Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt, +ich meine es aber auch -- als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind; +wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so entfernen +Sie auf immer aus Ihren Briefen alles, -- auch das Geringste, was +Sehnsucht wecken könnte.« + +Nach einer Woche schrieb Frau Römer: + +»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr +erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder +bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und +sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹ + +Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer, ihrem Bett +gegenüber, gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hereintrat, um nach +ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht +im Bett, -- den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den +Sessel geheftet, das Gesicht verzückt. + +Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, -- nun +ist er fort!‹ sagte sie traurig. Sie war in einer halben Ohnmacht, am +ganzen Körper kalt. + +Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den +andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie. + +In aufrichtiger Freundschaft + +Irene Römer.« + +Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte +Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum: + +»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.« + +In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von +Eriks Hand, -- ein vollständiges Briefkonzept, welches anfing: + +»Mein Herzenskind! + +Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für +Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹ + +In ururalten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche +einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu fremden und bösen +Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln beschwören +ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen gethan haben: aus +Kleinmut oder Hochmut; aus dem mangelnden Glauben, daß im Willen ihrer +Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen waltet, -- oder +aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen. + +Du machst es doch nicht ebenso, -- gleichviel aus welchem dieser +beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus +eigener Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst +doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen +Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu +entführen, die keine ist? + +Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich an die Wirklichkeit hingeben, die +um Dich ist, -- ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu +Hause bist --« + +Hier brach das Briefkonzept ab; die nächsten Zeilen waren +ausgestrichen, -- wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm +sichtlich schwer von der Hand gegangen. + +Aber die Konzepte mehrten sich; hinter jedem Briefe Ruths folgte eines; +Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: ~daß~ sie da lagen, das besagte +genug. + +Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine, +charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte das Gefühl +nie ganz los werden, als ob er mit ihr -- oder sie mit ihm? -- in +einem geheimen, unbewußten Kampf stände; und doch erquickten ihn diese +Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein +herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu +messen. + +Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, -- man mußte sich wohl +darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen, +was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu +vernehmen: eine heitere, entschlossene Stimme. + +Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren frühern Platz +legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen +Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als +die übrigen, -- auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern +Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich +verschrieben: da stand einmal »Du«, anstatt »Sie«. + +Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm +beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's +treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹ +sagen.« + +Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu +bleiben, -- und er schaute oft hinein. + +Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich +würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen +nicht. Sie ~hatte~ »Du« zu ihm gesagt, an jedem Tage, in jeder +Stunde fast, mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum +verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose +Nähe. + +Erik schob die Briefe von sich; er wollte arbeiten. Arbeiten, -- nur +nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen +und Gedanken, -- dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit +dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die +Trennungszeit für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis +zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für +Ruth. + +Nun der Rückschlag. Nachlassen, -- gehen lassen. Es machte ihn fast +krank. + +Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der blauen Schulhefte +nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt +war. + +Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las +er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«. -- + +Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung. +Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen. Noch zog +sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte +Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die +saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen, +geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund +hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel +und Sonne wieder; vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin +umher. + +Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu thun; +neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er, +mit sich daran anschließenden Vorträgen, in diesem Winter durchführte: +teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener, teils in +einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule. + +Diejenigen, die sich hier einfanden, gehörten ebenfalls der Schule +nicht mehr an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen +entnehmen, mit denen sie ihn meistens erwarteten. Es wurde nicht +mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und +Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen +Einbildung existierten. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht +etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines +Mädchen beim Frühgebet im großen Schulsaal umgefallen und liegen +geblieben war, -- ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen +wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt, +auf die Zuckende hingestarrt, welche, Schaum an den Lippen, vor ihnen +lag. + +Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem +unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen. +Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden. + +»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an, »ich +möchte wissen, wozu? Ob es dir wohl angenehm ist, daß er immer nur +Spott für dich hat?« + +»Und Lob für dich; da ziehe ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit +Ueberzeugung; »laß ihn nur spotten, das thut ihm gut, er ist bei +schlechter Laune. Glaubst du, daß dein Fleiß ihn beglückt, mein +geliebtes Gänschen?« + +»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung +des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte. + +Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich +vermissen, -- zum Beispiel Verstand. -- -- Lieber Gott, was kann es +nützen, sich so anzustrengen?« + +»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte, +-- du am meisten.« + +Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne +ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel, +den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer +umstanden war. + +»Ich glaube nicht daran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte +sie; »es wäre der reine Betrug. Entweder hat Ruth uns gefoppt, -- oder +wir sind -- dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte ~das~, als sie so außer +sich vor Entzücken sagten ›O -- -- dahinter gibt es das ganze Leben?‹ +Wir stehen noch ~vor~ der Mauer, -- wie eine Hammelherde.« + +»Na, so geh doch hinüber.« + +»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, -- »noch heute. Wollt ihr? Mit +~einem~ Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.« + +Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier. + +»Was wirst du thun?!« + +Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und +spitzte den Mund ein wenig. + +»Ein Kuß?!« + +Sie schrieen jetzt schon. + +Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete +es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie +eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie +liebte; er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeregt, fortwährend +seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe +seiner selbst stehen, um niemals fehlzugreifen. + +Das war hier unnütz. + +Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Rapier in der +Hand, auf Erik zu. + +»Sollte es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie +wolle ihm eine Arbeit vorlegen, »es wäre das erste Mal.« + +Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich zu +ihm, -- so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes +berührten sich fast die beiden Gesichter. + +Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht +aushalten können. + +Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war, +kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt. + +Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste +Schrei vorherging, ob er folgte, -- ob sie sich niedergebeugt, weil +sie im Stürzen war. -- Er hatte auch vom Fall im Schulsaal gehört, und +jetzt ergriff die Erinnerung daran die Mädchen mit kopflosem Entsetzen. + +Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf +die Bänke, -- auf das Fensterbrett. + +Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme +gehoben und trug sie hinaus. + +Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer +zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte +sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem +flog; wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und +jetzt -- jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief. + +Blitzschnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine +Lippen gedrückt. + +Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt +-- hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine +sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick, +wo er Ruth, wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett +getragen. + +Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk +und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügelthür, die den +Hallengang gegen das Treppenhaus hin abschloß. Er stieß die Thür auf. + +»Hinaus. Ohne Wiederkehr,« sagte er kurz. + +Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für +Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse +wohl denken, wenn sie nie wieder kam? Daß er ihr über die Mauer +geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz. + +Und das Schlimmste: sie hatte eine gehörige Beule weg, gerade vorn an +der Stirn. -- + +Erik gab sich Mühe, bei der Rückkehr in seine Klasse, der Stimmung +Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich +jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher +Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen, und dennoch fest +entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut. +Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte +jetzt, von was für einer Art von Phantasie. + +Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen +jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse +auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er +hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber +nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein +mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und +Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse sich auch noch +in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er +bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen +als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen +Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu +geben, so mißlang ihm alles. -- + +Am Thorweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren +zusammen nach Hause aufs Land. + +Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie +bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad +reisen?« + +»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In +Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur, +daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du +dann thun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.« + +»Wenn ich Medizin studieren werde,« bemerkte Jonas nach einer Pause, +»dann wird es mir immer vor Augen stehen, das Wunderbare, daß es mit +Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt zu sein, und ein einziger +solcher Fall, -- das muß auf alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen +machen.« + +»Du bist ein guter Kerl, Jonas. -- Ich hätte übrigens nicht +gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte: +Naturwissenschaften.« + +»Ja, ich selbst auch, -- früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine +so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet überall sein Brot.« + +»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht +sein. Es kam immer noch auf die Stärke der besondern Neigung und +Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre war dann meine Sache.« + +»Ich möchte aber so früh als es geht unabhängig werden, Papa. +Selbständig.« + +»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge? +Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine +Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.« + +Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen +Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus. + +Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer +blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete +auf sie. + +Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf +den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht. + +»Aber, Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude +errötete, »etwas so Kostbares und Ueberflüssiges! Im russischen April!« + +»Ueberflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem +geschliffenen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und +ich meinte: in einem Landhause müßte er wenigstens drinnen sein, wenn +er schon nicht draußen ist.« + +Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen; sie schlug sie nieder, +damit er es nicht sähe. Der Frühling ~war~ ja drinnen eingekehrt, ~ihr~ +Frühling, auf den sie gewartet hatte, wie auf eine Lebenserneuerung +gerade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig +geblieben. + +Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung +dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber ~das~ mußte +sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, -- die Trennung von +Ruth. Solange Bel ihn glücklich gesehen, war sie arglos und sorglos +geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr, bei Tag und bei Nacht. + +»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach +einer Pause. + +»Ja. Noch nicht völlig beendet,« erwiderte er. + +Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den +duftenden Dolden. + +»Da war doch, -- ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern +haben?« + +»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub' ich, +eine kurze Zeit bei ihnen wohnen, -- draußen am Schloßberg. Sie wollten +allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.« + +Eine kleine Pause entstand. + +»Wie alt ist er eigentlich, Erik?« + +»Ungefähr zweiundzwanzig Jahre, glaub' ich.« + +»Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um +ein Brotstudium?« + +»Nein.« + +Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen +Russen eifersüchtig, -- nein, das war er unter keinen Umständen. + +»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz +und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut +geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd. +Er kennt ihren Onkel hier. Hat einmal früher mit seinen Eltern dort +verkehrt, -- mit ihr gespielt, als sie acht und dreizehn Jahre alt +waren.« + +Sie lehnte den Kopf zurück. + +»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte -- +~müßte~ er eifersüchtig sein. Trotz seinem starken Selbstvertrauen. +Jugend sucht Jugend.« + +Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein. +Ich habe einen so großen Wunsch.« + +»Einen so schlimmen, Bel? Nun, heraus mit ihm.« + +»Ich wünsche so sehnlich, -- ich möchte so sehr gern, nur ein einziges +Mal, -- lesen, was du an Ruth schreibst.« + +Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich +darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand. + +»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.« + +Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick +nicht aushielt. Er sah hinweg. + +Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, -- lesen zu sehen. Am +liebsten wäre er hinausgegangen. + +Er trat an das Fenster und schaute in die Dunkelheit. + +Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was es wiedergab, war noch einmal das +Zimmer, mit der Lampe auf dem Tisch, den zarten Fliederzweigen und der +lesenden Frau im Lehnstuhl. + +Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus. + +»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »-- ich kann mir gar nicht vorstellen, +daß du so an Ruth schreibst.« + +»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen +habe,« entgegnete er. + +»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu, was nur im +Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und +frisch im Wesen, Erik.« + +»Nun, -- und?« + +Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich +nüchtern,« wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte +nicht ihr Inneres aussprechen, -- und er durfte nicht. + +»Ja, -- nun, -- ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, Erik. Aber +in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann, mit langem +weißem Bart und Haar, -- ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben +Gott vorstehen.« + +Es durchzuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.« + +Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was +für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, -- im +lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, -- das mochten wohl zwei +ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein. + +Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit, +ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen +vermochte. Für ~sie~ war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen +Persönlichkeit, eine ~Verklärung~ derselben: er hatte ihr ja auch +mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und gerade das +idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten, +-- »ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben Gott vorstellen.« + +Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an +seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben, wie er an den ihren. Denn +er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging an +derselben vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam -- froh. Denn sie litt +doch nicht? Nein, das that sie gewiß nicht. + +Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt +anregen, bereichern, entwickeln mußte, -- sie beglücken und sie +erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten +in diesem Leben, -- wie mit weit ausgebreiteten Armen. + +Nein, sie -- sie litt nicht. + +Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken +nach, und wieder wurde es heute ein schweigsames Abendessen. Wie sie +da zu dreien bei einander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung +verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner +von ihnen teil hatte an der stummen Welt des andern. + +Als nach dem Essen Erik sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte Jonas, +ohne Schularbeiten, sich zur Mutter. + +»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann +ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf +größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.« + +Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand. +Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin. + +»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald -- viel sein. Wirst du es +auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel +-- viel Freude machen, Jonas.« + +»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen, Mama,« erklärte er +treuherzig, »das werde ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz +Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.« + +»Freust du dich sehr auf das ungebundene, neue Leben draußen?« + +»Auf draußen, -- ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar +nicht so schön. Ich finde es viel schöner so, wie Papa es gehabt hat.« + +»Wie denn, mein Kind?« + +»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir +nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob --. Eine Studentenstube, +-- ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den +Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In +der Ecke ein schönes Skelett und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die +Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitze ich, -- ich meine: +sitzt Papa.« + +»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen +und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war, +dann mußte er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In +einer kleinen Wiege.« + +»Eine kleine Wiege?« + +Jonas wurde ziemlich rot. An dieses Stück der Zimmereinrichtung hatte +er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber +wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch ~das~, was ihn +fleißig machte. Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren, +wenn man's für jemand thut, den man so über alles lieb hat.« + +»Das sage du Papa lieber nicht. Das würde ihm vielleicht mißfallen. So +hat er es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so +ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er. +Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte, +da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich +hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, -- mag es noch +so viel Plage geben, -- frisch für meine Ziele: das Mittel bist du, +Bel‹. Ja, so sagte er.« + +Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor seiner Mutter herabsetzen, +aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen. + +»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen. + +Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in +die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe +sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr +Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen +Arbeiten saß, und sie ihn leise, -- ganz leise mußte es sein, -- +umsorgte. Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich +wie vor Thränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, -- saß Jonas; -- und +immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich +allein, -- allein mit dem Sohn. + +Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern +wollte, schreckte der Gedanke sie auf, als müsse sie über irgend etwas +angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln. + +Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus; irgend einer der +zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte +sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo, +in der Nähe des Kaminfeuers, ein Schreibtisch für ihn improvisiert +worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar +finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne +neckend bereits wieder hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das +Zimmer hin. + +Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden. +Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie +hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn ihr verraten? +Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht +offen sprechen. Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr +verbarg er sich -- befangen und mühsam. + +»Wo steckt Jonas eigentlich?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen +gebeugt. + +»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen +Freund besuchen.« + +»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten, -- mit dem Freunde?« + +»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?« + +»Ja. Höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das +muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine +Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit +übertroffen.« + +»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein +Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.« + +»Ja. Gerade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht +eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.« + +»Ach, Erik, wenn er nur brav wird.« + +»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus! +Heidelberg wird ihm gut thun, denke ich, und Römers Einfluß. Man muß +sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm +knapp zugemessen werden.« + +»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel, »ja, in solchen Dingen ist er immer +unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der +lernen kann, zu genießen.« + +Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus, +dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abging. Allerspätestens +dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon +früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie mit Beginn der +Sommerferien in Deutschland abholen konnte. + +»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm. + +Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch -- ohne ihre +stützenden beiden Stöcke. Sie hatte sich selbständig erhoben und war +durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen, -- allein. + +Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage. + +Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er +blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen +sollte. + +Er bemerkte es nicht. + +Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln. + +»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer +gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen. + +Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt +dem erschrocken Aufspringenden in den Arm. + +Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt. +Jetzt war er ganz bei ihr. + +»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen +Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir +schlecht, meine arme Bel.« + +Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an. + +»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig. + +Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit +geschlossenen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise +streichelte, sagte sie: »Siehst du, -- ach, Erik, es war ja gewiß recht +kindisch. Aber siehst du, -- hierauf hab' ich mich ja schon so lange +gefreut. Auf deine Freude, -- wenn ich einmal so zu dir käme, -- ohne +Stütze, auf eigenen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller +Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.« + +»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme, +gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt. + +»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest, und mich in die +Arme schlössest, -- nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich +stand, aufrecht neben dir stand, -- dann wollte ich dich fragen, -- +ganz leise wollte ich dich fragen, -- ach, Erik! ich kann es nicht +mehr.« + +Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend, +mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den fest +geschlossenen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust. + +»Ich will es dir sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr +zu lassen, »wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den +Mut, es zu hören? Willst du es?« + +Sie schlug ihre Augen auf, -- hilflos, thränengeblendet, -- hilflos wie +ein gestelltes Wild vor dem Schuß. + +»Erik!« stieß sie flüsternd heraus, und das Entsetzen vor seiner +Antwort vergrößerte ihre Augen, »-- Erik, liebst du sie?« + +Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände. + +»Ja, Bel,« sagte er laut. + +In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom +das ganze Zimmer, daß Klare-Bels Lider sich unwillkürlich davor +schlossen, in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel +selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab, +und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch +zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die +hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er +draußen vom Strauch geschnitten. + +»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »-- ich möchte auf mein Bett, -- mach's +dunkel.« + +Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem anstoßenden kleinen +Gemach auf ihr Bett, hinter welchem er die Fenstervorhänge aus den +Klammern löste und zuzog. + +Sie suchte nach seiner Hand. + +»Die Briefe, Erik, -- wie du ihr geschrieben hast, -- war es lauter +Verstellung? Oder hast du ihr -- hast du nicht auch anders geschrieben? +Niemals?« + +»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige +Mal, daß ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich +allein. Sie hat's nie gelesen.« + +»Du hast es nicht abgeschickt? -- Hast du diese Briefe noch, Erik?« + +»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren, +vernichtet.« + +»Wozu hast du es dann nur gethan, Erik?« + +»Es half mir.« + +Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich +mußte zu ihr sprechen.« + +Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und +ich hatte keine Ahnung, -- nein, keine Ahnung hatte ich, daß du sie um +deswillen von dir gabst. Nun erst weiß ich es.« + +Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte +sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu +werden seiner Liebe? + +Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an +dich habe ich dabei gedacht.« + +Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute? +Litt sie nicht genug, -- maßlos? + +Er vermochte es nicht. + +Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück, +an die offene Thür des Wohnzimmers. + +Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das +Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht, -- mit +einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn. + +Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel +hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner +Schneeschauer um das Fenster, -- dasselbe Aprilspiel wie zuvor. + +Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut, +und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, -- ein Duft +nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich +dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen +geputzten Christbaum in der Zimmerecke. + +Weihnachten, -- -- -- auch in diesem Winter hatten sie den Baum +geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum erstenmal hatten sie sich +wie drei arme Erwachsene gefühlt, die am Fest der Kinder leer ausgehen. +Erik, der zu beschenken wußte, wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu +freuen, wie nur ein Kind, war karg, -- war wortkarg geblieben. + +Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche +kleinen, kleinlichen Rückerinnerungen heftete. + +Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. + +Nicht daß sie jetzt dalag und litt, -- aber daß sie so lange -- lange +umsonst auf seine Freude gewartet hatte, in seinen Zügen nach Freude +gespäht, all diese Monate hindurch, -- das erschütterte ihn so tief. +Genesen war sie, -- wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten +unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit +tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie +frohe Kinder darum geschart -- --. + +Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr +hineingehen, er mochte nicht fortgehen. Noch immer ging er auf und ab, +wie ein Verurteilter. + +Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt +schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das +Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch. + +»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht in der Stadtwohnung im Briefkasten. +Zwei an dich.« + +»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.« + +Während Jonas ans Bett trat, leise, auf den Fußspitzen, griff Erik nach +den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu +wissen, warum, erbrach er Warwaras kurzes Billet zuerst: die Bitte, +morgen bei ihr zu speisen; sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges +Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen; in etwa einer +Woche verreise sie bereits ins Ausland. + +Erik setzte sich an das Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein +längerer als sonst. Acht Seiten. + +»Lieber Freund! + +Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth +betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum +Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern +vorläufig nur eine Möglichkeit. + +Sie erraten wohl, daß es sich um Jurii handelt. Ich wußte wohl von +seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu +beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen +Menschen. Jetzt aber glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt, und +daß er im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem +Interesse für Sie, es sei denn, daß Ruth ihn wiederliebt. Dafür habe +ich keinerlei stichhaltigen Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man +nie ganz ergründen kann, was in Ruth vergeht, und wie sie in ihrem +innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offener, +nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt; +verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie, noch hinter allem +andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, von dem +sie selbst nicht recht weiß, aus dem aber dennoch alle entscheidenden +Gefühle und Gedanken bei ihr kommen. So könnte sie recht gut einmal +sich selbst zur Ueberraschung handeln, -- ihrer ganzen klaren, +frischen, heitern Unbefangenheit zur Ueberraschung, -- und gerade damit +ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. -- + +Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vortreffliches +mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter, +-- mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt, +ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich +unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel +auf einmal. Ueber Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das +Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da Ruth denselben +mit ihm teilt, und da die Zeit ihn so gründlich heilt. + +Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth +vorauslaufen, -- auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie +rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache +stellen wollen. Denn gegen Ihren Willen, -- nein, auch nur ohne Ihren +vollen Willen, -- würde ja wohl Ruth nie etwas thun --« + +Erik las nicht weiter. + +Er überflog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon. + +Ruths Schweigsamkeit, -- war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm, +eine stille Wandlung? + +Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen +wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine +Gedanken hin, wie draußen. + +»Aprilwetter, -- in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über +sich; »in Angst um eine Aprillaune, -- in Angst, in den April geschickt +worden zu sein!« + +Er war so zornig, so ungerecht als möglich, gegen sie, gegen sich +selbst. + +Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über +die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen. + +Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein. + +So schlich er sich in seine Stube. + +Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen +ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank. + +Erik ging zu ihr. + +Sie saß aufrecht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher. +Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem, wie zur Nacht, glatt +zurückgestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angstvoll +entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm. + +Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren +Händen, und küßte diese. + +»Bel, -- Bel, -- verzeihe mir.« + +Sie gab sich Mühe zu lächeln; es war ein merkwürdiges, schwaches, +kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot. + +»Ach, Erik, -- nicht so. Es ist mir zu -- es ist mir so ungewohnt. +Schrecklich ist es mir. Sprich nicht so zu mir.« + +Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett. + +»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt. + +»Ja, Erik. Du mußt nicht böse darüber sein. Es sind so alte Bücher, -- +die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte +mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu +lesen, Erik.« + +Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen. + +Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen. +Und das andere. P. A. de Génestets »Laiengedichte«, -- diese echt +holländischen Lieder, in denen Trotz und Glaube, Trost und Zweifel sich +seltsam genug mischen. + +»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht, +wie nur. -- Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt. +Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. -- +Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen +liegt drin.« + +Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei +heraus. + +»Höre nur, -- Erik, -- nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es +schön finden. Es heißt ›+Peinzensmoede+‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich +glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.« + +Und sie las mit ihrer sanften Stimme: + + + »Wo -- wo sind die Priester, + Die dich erklärten? + In Rätseln wandelt + Der Mensch auf Erden. + Geheimnis -- das Leben, + Geheimnis -- der Tod, + Die Schöpfung, sie predigt + Keinen liebreichen Gott. + Natur nur umgibt dich, + Die nicht auf dich hört, + Gleichviel ob sie wohlthut + Oder ob sie zerstört. + + Und doch, -- nisten Zweifel + Mir auch in der Brust, -- + An dich, meinen Vater, + Glaub' ich unbewußt. + Nicht weil deine Schöpfung + Dein Lieben enthüllt, -- + Nein! nein! nur trotz allem, + Dem Zweifel entquillt! + Trotz jeglichem Rätsel, + Trotz jeglicher Not, + Trotz Angst und Verderben, + Trotz Schmerzen und Tod! + + Ich schmachte, vom Schicksal + Zu Tode getroffen, + Meine Hoffnung ist Wehmut, + Meine Wehmut ist Hoffen. + Ich ~will's~ -- ~will~ es glauben, + Daß ich deine Hand + Im Leben wohl spürte, + Nur sie nicht erkannt; -- + ~Will's~ glauben, was Kirche + und Priester mich lehrten: + Daß niemand umsonst dich + Gesucht hat auf Erden.«[1] + + + [1] Frei nach dem Holländischen. + +Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig +gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der +Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht; +rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter +ein Gebet nachspricht. + +Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele -- in all ihrer +Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin, -- ohne jeden +falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders. + +Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es +geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein +verirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbouquet. + +Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken zu +Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand. +Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch: »Dieser +Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel, +Bel; ›+Peinzensmoede+‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde. +Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung lässig dir +übergeworfenes Kleid, -- ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von +dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.« + +Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch +glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Von wo einen Halt nehmen? +Du warst mein Halt. Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner +Hand hinweg, und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid +anthun? Dich ermorden? ~Sie~ vergiften? Ich bin keiner von den +Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen. +Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt +Hilflosigkeit; -- das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer +Gedanke. Warum verwehrst du es mir?« + +»Weil ich diese Stütze hasse, -- diesen Halt, der mich ersetzen soll. +Nein, weil ich mich dessen schäme, -- daß er mich ersetzen muß. Weil +ich kein Mitleid mehr mit dir habe, -- nur noch Zorn und Haß und Scham +vor mir selbst.« -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + +Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein +Schweigen. + +»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, beinahe bittend, »-- +mich macht es glücklich.« + +»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. -- + +Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich +mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, -- als er seine +Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler +nehmen ließ, als er war, -- und jetzt wieder, wo seine Lippen anders +redeten, als seine beschämten, zornigen Gedanken, -- hatte er gegen +seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehen +lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, -- aus gerechter +Ueberzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht +in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden +mußte. + +Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste +Natur handeln zu müssen. + +Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um +seine Gedanken von allem loszureißen, was ihn quälte, und auf seine +Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth +als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In beiden Fällen war er +der entthronte König. + +»Einen neuen Gott die eine, -- einen neuen Mann die andre, -- es ist +fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit +seiner Gedanken. + +In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während welcher +er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus +seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, -- nur +durchflogen, -- und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl thun, diese +Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was +in einem Menschen aufgewühlt werden kann. + +Und er las weiter. + +»Es ist ja nicht notwendig, daß Ruth sich schon so jung bindet. +Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, -- vielleicht +nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie +Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für +die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wäre ich wohl ein +nichtsnutziges Ding geblieben, -- mit etwas Interesse für Tand und +einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert +auf Ruths geistige Entwickelung. Ich auch. Aber dazu verhält sich +ein frühes gleiches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die +einzige gesunde, natürliche Grundlage auch des Geistesstrebens im +Weibe. Nicht nur damit Sie Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja +gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, -- desto besser. Von meinem Mann +glaube ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes +unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden +war. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht +selbstlos. Wohl aber, um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und +Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung +ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten bei einander stehen +wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe ‹ --.« + +Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch. Etwas ganz andres, +als er gesucht, hatte er darin gefunden, -- etwas ganz Unerwartetes: +einen unbewußten Vorwurf. + +Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die +zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen, +der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war. + +So würde es wohl Frau Römer ausdrücken. + +Römers standen eben von vornherein anders zu einander. Sie bewunderten +sich gegenseitig, -- eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht +darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten. + +Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie +fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbethörend schön, bereits fertig +mit ihrer kurzen Entwickelung, -- ein in gewisser Weise viel fertigerer +Mensch als er, -- was hätte er da wohl andres thun können, als dürstend +in sich aufzusaugen, was, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, sich ihm +darbot? + +Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in seinen Besitz +nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung: ihn nicht wieder +von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf +hinein zwischen Scham und Mitleid, bei jedem leisesten Versuch, sich +dieser Verpflichtung zu entziehen. + +Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. -- Auch -- Ruths +Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich, +stündlich auf sie wirkte, sie beeinflussen mußte, mächtiger als alle +Worte, alle Grübeleien, -- das war Frau Römers Ehe. Eine heilig +gehaltene, glückliche Ehe. + +Sobald sein Unterricht ihn freiließ, ging Erik zu Warwara. Mehr, als er +es sich selbst gestehen wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach +Hause zu fahren. + +Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange, hagere Engländerin, +Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer. + +»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu +Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?« + +Sie mußte hell auflachen. + +»Etwas passiert, -- ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.« + +»-- Verlobt?! -- war das die Mitteilung?! -- Mit wem?« + +Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleichviel, mit wem. Ein Ihnen +ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen +Verlobungskarte lesen.« + +»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?« + +»Wie meinen Sie das?« + +»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den Sie +heiraten wollen.« + +»Daran zweifeln Sie?« + +Er schwieg. + +»Ich will es Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern. +Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.« + +»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.« + +»So will ich Ihnen noch mehr eingestehen. Was ich in der Ehe suche, -- +das Glück, das ich suche, -- ist nicht der Mann.« + +»Sondern?« + +Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie +sich zu schaffen machte. + +»Das Kind.« + +Erik schwieg überrascht. + +Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes +Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, -- mehr, als Sie +wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat +gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter, +als wir gethan, ernste Dinge miteinander teilen sollen.« + +»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da +sagen, macht mich froh. Ich bedurfte gerade dessen.« + +»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß +ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand +und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen, +-- dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen +geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und +Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen +kann, -- das Beste, was in mir ist.« + +»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?« + +»Von der Mutterschaft -- ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der +Mutterpflicht. -- Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgend +wann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann gebe ich +mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen +heranziehen helfen, Sie Menschenlehrer.« + +»Hätten Sie ~das~ Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen +Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.« + +»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen +Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.« + +»Mit andern Worten, keine Kraft zur Pflichttreue.« + +»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur, trotz allem, daß Sie im Grunde +Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können, -- +Menschen oder Ideen, -- und da, wo man sehr liebt, sich rückhaltlos +verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit +solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, -- all die Sicherheit und +Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, -- +nein, -- daran glaub' ich auch für Sie nicht.« + +»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut. + +»Wie? Sie geben's mir zu?« fragte sie überrascht, »welch ein fremder, +guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es +ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig +wir alle vom Glück sind, -- wir armen Weltkinder alle? Vom fruchtbaren +Erdfleckchen, auf dem auch für uns noch ein ganzes Glück, eine ganze +Liebe, -- und dadurch allein! -- auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit +wachsen kann.« + +»Und wenn wir dies Erdfleckchen, gerade dies, nicht bebauen dürfen?« + +»Dann verdorren wir, -- oder verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie +auch.« + +Ein Diener erschien in der Portierenthür und bat zur Tafel. + +Warwara stand auf. + +»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?« + +»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie einmal vor langer -- +sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹ +Es erkennen, heißt hart werden, -- gegen alles, was uns hindert, uns +fruchtbar auszuleben.« -- + +Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas +fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß, +dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste. +Er war bemüht, sie zu unterhalten. + +Klare-Bel hörte nicht recht hin; ihre Blicke hingen an einem Brief, +den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der +Stadtwohnung dort eingelaufen. + +Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache, +thörichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses +Geplauder hineinredete. + +Als Erik, bald nach dem Abendthee, zu Hause eintraf, bemerkte er sofort +den Brief, der für ihn bereit lag. Sein Blick streifte Jonas, -- +flüchtig nur, -- aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehen. Der +Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, -- aber er sollte +ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an +Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, -- +auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn +ja doch den Weg zu Ruth. + +Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik, während +er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, -- die Seite umgerissen, -- +eine zweite, blitzschnell, -- und er ballte das Papier in der Hand. + +Er war grau im Gesicht. + +»Erik! was ist es? -- etwas Schlimmes, -- für dich Schlimmes, -- Erik!« + +Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen. + +Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen +Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb«, und, am Schluß, +etwas wie »den Kuß gab ich ihm«, -- mehr hatte er nicht gelesen. Er biß +die Zähne aufeinander. + +Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau. + +Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe. + +»Am Schloßberg. Dienstag. + +Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb +habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen +ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es. +Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen, weil ich mit Husten zu +Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine +Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause. +Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es +war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich mit +den Galoschen nicht ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich +liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das +sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir +sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie +mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt. +Sterben möcht' ich.‹ Darüber, daß er sterben wollte, wurde ich ganz +traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm +und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in +den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte +mich ins Bett und kochte heißen Thee auf. Ich lag und weinte, denn ich +wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein +könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und +da lag jemand und that dasselbe. Frau Römer kam herein, und horchte, +ob nebenan auch jemand weinte und lächelte etwas und sagte, wir wären +rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein +Haar zurück (das thut sie gerade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii +denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja.‹ Da sagte sie: ›Ich +meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen +Welt ist? gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste +auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie: +›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es +später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu +sein?‹ Das konnte ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie +küßte mich und ging fort. + +Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich +stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich +im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die +aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte. +Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß. +Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß +gab ich ihm auch. + +So ist es gewesen. + +Ruth.« + +Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewendet. Sein Gesicht +verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein +Schreck umsonst gewesen war. + +Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth that oder +unterließ, -- das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen. + +Sie hatte gemeint, das Schwerste sei über sie gekommen: gestern. Aber +nicht, es zu wissen, war das Schwerste, -- nein, es mit wissenden Augen +zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen +kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, -- das +war schwerer. Nicht nur schwerer, -- unmöglich war es. + +Und dann, -- wenn Ruth einen andern abwies, -- dann liebte wohl auch +sie Erik. Und wenn sie ihn liebte -- dann erst war er für Bel verloren. +Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten -- für Bel; auf Ruths +Glück nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe +blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch +um das Glück des andern. + +So empfand Klare-Bel. + +Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr +auf ihr Zimmer bringen müssen. + +Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden +und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben. Aber +diesmal gelang es ihm schlecht, -- ein gequälter Ton klang durch. + +Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine +Felldecke über den Knieen. Sie sah nicht krank aus. Vielmehr klar und +gesammelt. + +»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge. + +»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein +-- ganz allein, -- ohne Jonas.« + +Und sie umfaßte seine Hand mit ihren beiden Händen. + +»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja +doch bald sein. Laß es jetzt sein!« + +Er schwieg einen Augenblick. Diese Bitte war beredt. + +»Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will +alle Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich +hinbringen.« + +»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt. +Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so +feine Augen. Vor ihm will ich nicht --« + +Sie brach ab; aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz, +schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen, +in meinem Elend!« + +»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen. +Darauf bestehe ich, Bel.« + +»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.« + +»Was denn?« + +Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans +Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine +Bel vollkommen, -- jede leiseste Regung in ihr kannte er, -- und +beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm +Entrücktes aus, -- etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne es sich noch +erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames +Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer. + +»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist, +daß auch du verreisen sollst, -- so bald als möglich. Nicht erst zum +Sommer, um mich abzuholen. Bald, -- eher, -- in den Ostertagen. Wo du +zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob +wohl auch sie -- --. Ganz gewiß, das mußt du thun. Denn sonst bist du +zeitlebens unglücklich, Erik. Und das -- siehst du -- das könnt' ich ja +nicht aushalten.« + +Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die +Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen das Fensterglas. + +Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehen und +handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß! + +Wie hatte er nur an Kampf denken können -- mit Bel! Kampf? Nein, +ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie +beschenkte ihren Räuber, -- freiwillig, überreich beschenkte sie ihn: +»Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, -- ich kann's entbehren, bin die +Stärkere, -- ich kann entsagen, -- du -- nicht.« + +Und glühend brannte in ihm die Scham empor, -- glühende Scham, -- und +Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein +Beschenkter!« + +Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen +und benommen war sie von dem Schweren, das sie vorhatte, daß ihre +Blicke ihn nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl. + +»Heut nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre! +Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören, +an sie zu denken, und ich, -- wie sollte ich, -- wie sollte ich nicht +anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik. +Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es +kann traurig werden, -- sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll +es nicht. Ich ertrüg's nicht.« + +Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, -- was wußte sie wohl von »Haß«. Von +Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen +Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und +ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele. +Sie dachte nichts Häßliches. + +»Und nun hab' ich auch verstanden, -- heut nacht, -- warum ich gesund +geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum +wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf +meinen Füßen stehen und gehen konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹« + +»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse Exaltation war ihm +entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik. +Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt +du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.« + +Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie +von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr +mein, -- dies mehr dein.« + +Er trat an ihr Bett. + +»Höre mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß -- über nichts, +-- ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offener als bisher. +Denn du weißt nicht alles.« + +»Ach, Erik, -- sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! -- Nichts, +-- nein! Nur eines -- hätt' ich von dir erbeten!« + +Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie +sanft fest. + +»Es ~muß~ sein, Bel. Du mußt mich hören.« + +»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, -- sage mir nur erst: -- hast du -- +ihr schon geschrieben?« + +»Ja,« versetzte er erstaunt. + +»Ich meine -- den ~andern~ Brief?« + +»Ja, -- auch den andern.« + +»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, -- das hast du doch?« + +In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er +an die Tasche seiner Joppe. Es knisterte leise unter seinen Fingern. + +»Erik! -- das ist das Einzige, -- was ich von dir erbitten wollte.« + +Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne, zerknitterte Papier, +-- wieder stieg eine Blutwelle ihm ins Gesicht, -- wieder die Röte der +Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, -- nur das nicht! Das +konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, -- +sein Heiligstes und sein Unheiligstes, -- den Aufruhr der wildesten +Stunde, -- die Andacht der stillsten --. + +Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, -- +tausendmal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war, +was sie erfahren mußte, -- sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr +war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, -- wenn er selbst es +war, mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, mit allem +Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, -- dann war es gut so. + +Vor seinen Worten scheute sie sich, -- vor der endgültigen Klarheit: +und in dieses Dunkel griff sie verlangend, -- vermessen. Wer ergründet +wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier! + +Er reichte ihr das zerdrückte Blatt, -- zusammengeballt war es zu einer +Kugel. + +»Du hast es gewollt.« + +Dann verließ er sie. + +Nebenan im Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas +hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen. + +Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere. + +»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht +entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleids, -- nicht in der +schlimmern: der Versuchung der Scham.« + +Ihm war, als handle es sich gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch +weniger um ein Weib, -- nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch +sein konnte, -- um alles, was er überhaupt berühren konnte, schaffend, +wirkend, liebend, -- um sein eigenes Menschsein. + +Es konzentrierte sich alles in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen, +die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten. + +Entsagen hieß: in die Wüste gehen, -- nicht nur mit seiner Liebe, +-- auch mit seiner Thatkraft, -- mit seiner Kraft überhaupt, -- ins +Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit. + +Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit +standhielt? Ja, in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines +andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, -- keiner Augen, die da +glaubten, und warteten, und an sie appellierten? + +Ja vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die +Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln, -- spottend oder +genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eigenen Erregungen +sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, -- auch sie ihr +eigenes Publikum! + +Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher +auch hilflos in sich selber, -- wenn sie sich nicht dadurch helfen +können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken, -- und sich selbst +erkennen, wiedergespiegelt im Auge eines andern. + +Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch +in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und schüchtern war und +keineswegs ihr eigenes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen +suggerierten Zuschauer, -- mit dem da oben, der alles sah. Auch sie +hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, -- das +Gottesauge, den blauen Himmelsspiegel! + +Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels +kleinem Nebengemach. Es war, als wolle sie Erik in seinen bittern +Gedanken unterbrechen, -- widerlegen. + +Er trat zur offenen Thür. + +Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den unteren Rand +der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot, in den Händen +vergraben. + +»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel +bist, und in die Herzen der Menschen hineinsiehst, nimm mir meine Liebe +aus meinem Herzen!« -- + + * * * * * + +Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der +Straße traf und von der bereits jetzt bevorstehenden Abreise seiner +Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige +Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu +lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie +der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen +mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer +Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß +die Gatten sich nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten. + +Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete Erik sich nur kurz und hastig von +ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause. + +Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn +eigentlich als Mann in seinem eigenen Heim befriedigt, aber als +Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend +oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit +gelegentliche Versuche, die hungernde Thatkraft durch Näschereien und +Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so +völlig zurückgezogen lebte, -- schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus +der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war, +die ihn einst fesselte, und die er gefesselt hatte? War eine Frau im +Spiel? -- + +Wenige Tage später, an einem Sonntag vormittag, wollte Warwara eine +notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik +vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der +Grenze heimgekommen sei. + +Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte +sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß +eine ganz junge Dame und blickte mit großen, erwartungsvollen Augen zum +Fenster hinaus. + +Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr +zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Aeußerlichkeiten auf. + +Ein zarter, geschmeidiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue +Tuchkleid mit offenem Jackenteil, auf tiefrotem englischen +Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen +weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte, in ungeduldiger +Bewegung, unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken +Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und +Schläfen in seinem Gelock aus einem weichen Barett von dunkelblauem +Sammet hervor. + +In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht, +an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr +Gegenüber, daß dasselbe sich ein wenig befremdet nach ihr umwandte. + +Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend +ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln. + +Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur. + +»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend: +»Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte +und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben: Ihr +Vorname.« + +»Es genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben Einen +Weg?« + +»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte +nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines +reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten +Sie?« + +Ruth errötete und schüttelte den Kopf. + +»Nein; ich bin sehr -- ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,« +entgegnete sie mit auffallender Befangenheit. + +Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, -- die +›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals +hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.« + +»Da wird es Ihnen leid thun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut, +»denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen? +Sie ist schon abgereist.« + +»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnte ich ja noch nicht wissen! Es +hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das thut mir leid!« + +Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß +Warwara sich schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon; es war nicht +verabredet; was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie sich, +und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth: »Nein, kein schlimmer +Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man es nie hat erwarten dürfen, +und nun geht es stetig bergauf. Im Anfang des Winters hat sie freilich +noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz: +›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Eine +Operation hat er selbst gemacht, weil die Aerzte es nicht wollten -- +ohne Betäubung. ~Der~ Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig +geschüttelt. Ich hab' ihn ein paarmal gesehen: blaß wie ein Tuch.« + +Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die +Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als +Warwara schwieg, atmete sie tief auf. + +»Das schrieb er nicht, daß er selbst, -- -- daß er ihr eigentlich +selbst die Gesundheit wiedergegeben hat. Aber so mußte es sein! Er +kann alles, was er will! Und das wollte er ~so~ aus voller Seele, daß +sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie +grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten +geleitet hat! Nun, wo es ist, wie ~er~ will: ~wo sie glücklich~ ist.« + +Sie sprach hingerissen; ihre Augen blitzten. + +Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie +damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil +wie ein Wesen, an dem alles Beseelung und nichts mehr Form ist. Eine +Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, -- -- und +Liebe? Dann konnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und +Freude sprechen. Keine Liebe? Dann konnte sie nicht mit diesem Blick +und diesem Ton sprechen. + +Der Zug hielt. Sie stiegen aus. + +Warwara bequemte sich dazu, eines der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu +benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen, und deren Kutscher sie +sofort umschrieen. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich. + +Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um. + +»Es ist etwas an ihr, das nicht in das Leben gehört, -- Poesie. Poesie +im Konflikt mit dem Leben, -- was ergibt das wohl?« dachte sie; -- »es +ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte: -- +o pfui, nein! -- oder: die letzte eines Märchens.« + +Ruth ging langsam hin, zwischen den kahlen Birken am Wegrande; nicht +in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden +Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein, als ob er in +tausend Blüten um sie stände. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht, +-- und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer +Gegenwart. Man hörte ihn; in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang +er von den blattlosen Zweigen. + +Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in +verhaltenem Glanze nieder, -- Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft, +verhüllt, und wie eine Verheißung. + +Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte. +Sie öffnete, durchschritt den Garten und stieg, zaudernd, leise, ein +paar Stufen zur Terrasse hinauf. + +Vorsichtig vornübergebeugt spähte sie von der Seite her in das breite +Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei. + +Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt; hinter den Tellern mit +kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar. + +Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand, +an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ dasselbe an der +roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die +Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu +fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark +an Erik. + +Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen; es glitt plötzlich von der +Gabel und fiel hinein. + +Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um, und spießte ein neues auf; +diesmal gelang es besser. + +Dann spülte er einen Theetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und +machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter +den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte +ihm die Hand. + +Jonas machte den Mund weit auf und fing an auf einem Bein im Zimmer zu +tanzen. + +Vom Fenster erklang helles Gelächter. + +Er blieb stehen, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm +niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck, als trauten sie +sich selbst nicht, richteten sich seine Augen nach dem Fenster. + +Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschlossenen +Scheibe, das ihn auslachte, und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob +er Ruth träumte, oder ob er Ruth sah. + +Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, daß +es dabei fast in Splitter schlug, und heraus streckten sich die Hände +nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest. + +»Aber, Jonas! laß mich nur erst zur Thür hineinkommen!« + +»Nein, -- nicht!« murmelte er, als könne sie ihm doch noch wieder wie +ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich laß dich +nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehen. Setz den Fuß auf die Rampe, -- +ganz fest, -- hörst du? Ich hebe dich.« + +Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik. + +Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im +Zimmer. + +Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie da vor ihm stand, nicht +mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine +grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich. + +»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, -- von wo bist du nur +gekommen?« Er starrte sie an, als sei er überzeugt, daß sie vom Himmel +gefallen sei. + +»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. -- Und -- dein Papa?« + +»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge +macht er, allein, -- seit Mamas Abreise.« + +»O Jonas, -- daß Mama gesund geworden ist, -- nicht wahr? Ist es nicht +wie ein Wunder, -- immer noch?« + +»Ja. Und jetzt werde ich auch Arzt. Weißt du es? Für den Fall, daß du +später einmal krank wirst.« + +Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen, +übermütigen Augen. + +»Hoffentlich werde ich später einmal krank. -- -- Wie ist es dir nur +ergangen, Jonas? Du schriebst nie.« + +Er sah rot und verwirrt aus. + +»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, -- ich dachte ja, -- -- Du! willst du +nicht eine Tasse Thee haben?« + +»Nein, danke,« sagte sie lachend; »aber die Hauptsache ist: bald kommst +du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas. Da studieren wir +zusammen.« + +»Ja,« versetzte er tiefatmend, »-- endlich: -- bald! endlich! endlich +zusammen! Ja, -- siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. -- +-- Hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender +Heftigkeit fort, »-- muß in deiner Nähe sein, Ruth. -- Bei dir. Ja, +-- du! -- ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, -- -- nimm mir's +nicht übel, -- aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab' +nichts, bin nichts, -- muß mich eben erst durchbeißen, -- aber bei dir +sein will ich wenigstens, -- jedem die Faust zeigen, der's auch will, +-- der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen +jeden -- --« + +»Jonas! Du rasest!« + +Sie war aufgesprungen, blaß vor Schreck. + +Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, -- und plötzlich +stürzte er vor ihr in die Kniee, das Gesicht in den Falten ihres +Kleides. + +»Ach, Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, -- es war ja so schrecklich +für mich, -- all die Zeit, -- so stumm in mich hineingewürgt, alles. +Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, -- es kommt nie wieder, +bis --: Ich weiß, -- ich darf noch nicht. Aber einmal, -- ~einmal~ +mußt' ich, -- ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so +grenzenlos unglücklich, bis -- bis du mein -- mein -- geworden bist!« + +»Jonas!« flüsterte sie, »-- Jonas, ich bitte dich, -- steh auf, -- laß +mich los, -- du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht --« + +Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern +losen wollte, -- er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte. + +»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer +unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine +Zähne in ihren Handrücken. + +Dunkel drang das Blut vor. + +Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg. + +Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand. + +»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Thränen aus, »Ruth +-- hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was -- +was sind wir uns denn? was -- in Zukunft?« + +Sie faßte ihn an beide Schultern; -- angstvoll und liebevoll sah sie +ihm ins verstörte Gesicht. + +»Jonas! Jetzt, -- und in Zukunft, -- und immer, -- ~Geschwister~!« + +Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen +Schritte bis zur Thür, öffnete sie, -- und stürzte hinaus, über die +Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten. + +Totenstill wurde es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und +lohten hell auf im Kamin. + +Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer +Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in +Flammen stand. + +Was that sie hier, -- allein, -- im Hause, -- ein Eindringling, -- der +Jonas hinausgetrieben? + +Die Thür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!« + +Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr +großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, -- leer. -- -- -- + +Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe +des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf +der Bank unter den überhängenden Birken. + +Erik blieb stehen, blickte schärfer hin, und kam langsam näher. Sie +bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht, in den +grauen Frühling hinein, so daß sie ~da~, -- in unsicheren Umrissen, +-- dann immer lebenswärmer, -- immer beseelter vor seinen Augen, kein +blasses Gedankenbild mehr: Wirklichkeit. Weich hob der blonde Kopf sich +ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die +Sonne matt durchdrang, in einem Schattenspiel von rosigvioletten +Farben. + +Ruth überfiel es wie eine Schwäche, lähmend, je näher Erik ihr kam, je +näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause! +jetzt erst zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben +sich ihm entgegen. + +Dieses seltsam Stille, dieses Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder +lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, -- als fürchte er zu +verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und +überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde. + +Ueber Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf +schwankendem Zweig und sang hell. + +Wie Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog +davon. + +Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog +ihre Hände fest an sich. + +»Lieb' -- Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht. + +»Ich, -- -- der Brief, -- er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas +Fremdes, -- Zweifel war darin. Ich mußte fort.« + +Er hörte nur ihre Stimme; er mußte sie wieder hören. + +»Mit dem Rotkehlchen -- hergeflogen?« fragte er. + +Sie sah ihn an, -- etwas zaghaft, etwas schelmisch; »Durchgebrannt,« +sagte sie. + +Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen. + +»Von Römers?!« + +»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie -- +sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹ +sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, -- heimlich. +Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. -- Durfte ich?« + +Sie fragte es schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie +ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knieen gelegen, -- +aber das sagte sie nicht. + +Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem +Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie. + +»Ob du durftest? -- ~Heimkommen~, -- ja! Bei Tag und bei Nacht; +heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wäre ich gekommen +-- zu dir. Vergiß den Brief, -- alle Briefe, -- das Fremde, den +Zweifel, -- vergiß alles -- alles. Sei nur bei mir.« + +Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend, +Heimatsgefühl, -- nein, mehr als nur das, noch etwas andres, -- dieses +Unbedingte und Ausschließliche, das keine Macht im Himmel und auf Erden +ihr gab: nur er ganz allein. + +»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und +wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Thut es so weh?« + +»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt +über ihr Glück. + +Erik stand auf. + +»Komm hinein. Komm, Liebling. ~Zu Hause~ bist du erst in meinem Zimmer, +-- im alten Ledersessel, -- nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt +für dich, zu windig.« + +Während sie dem Hause zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch +einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm, +daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir thut es so +leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig -- --« + +»Laß das,« unterbrach er sie halblaut, »-- ich werde dir später alles +erzählen, -- später.« + +Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm. Etwas, das sie fremd +berührte, klang aus seinem Ton. Es war nur ein einzelner +durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr +in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, -- wie vorhin, +-- bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher. + +Erik ließ sie unbemerkt einen Schritt vorausgehen. + +Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen +aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark +gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper kräftiger, +weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen, +weichen Formen ab. + +Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn. + +»Der Knoten nimmt dich mir fort, -- den duld' ich nicht,« sagte er +beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit +geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In +dichten lockigen Wellen fiel es nieder bis zum Gürtel, wie einst. + +»Ach nein, -- nicht, -- wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt +und griff nach dem Rücken. + +»In meiner Joppentasche. -- Aber wiederhole das noch einmal. Nun? +›Sie?‹ oder ›Du?‹. Im Brief stand einmal ›Du‹. Nur einmal? Oder +eigentlich -- immer?« fragte er leise. + +Sie errötete verwirrt. + +»Sie -- -- du -- -- ich --« + +Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich ihren Kopf +nach vorwärts, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm +aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und +gab seiner Hand nach. + +Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen. + +»Mein. Mein Fürstenkind, meine Königin,« flüsterte er. + +Und er beugte sich, und seine Lippen küßten den leise bebenden Mund. + +Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei, und öffnete die Thür zu +seinem Arbeitszimmer. + +»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging dem Fenster +zu. Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb +sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln +gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie +hinauf zur Zimmerdecke mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht. + +»Was ist dir?« fragte er unruhig, »-- Ruth! -- was ist dir?« + +Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, -- sie wachzuküssen: »Du +liebst mich, -- du liebst mich ja, du weißt es noch nicht, aber ich +weiß es für dich! Weiß es gewiß, -- fühle es, sehe es, daß sie da ist, +-- daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!« + +Aber er schwieg. + +Ja, sie war da, -- und doch konnte er so nicht handeln, so nicht +sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, -- wie das Rotkehlchen +auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da, +-- aber greifen konnte er sie nicht. + +Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann +setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster. + +»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz +zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, -- +will mich nicht einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner +Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.« + +Da löste sie sich vom Ofen, sie flog zu ihm, sie glitt nieder zu seinen +Knieen, -- ganz blaß. + +»Ja!« sagte sie außer sich, »-- fremd, -- etwas Fremdes, -- ich kann es +nicht verstehn und quäle mich.« + +»Was ist es? Sage es mir.« + +»Ich kann nicht,« murmelte sie. + +»Doch, doch! Du kannst. Mußt es wieder lernen, -- zu sprechen, oder +auch nur zu stammeln, aus dem Innersten heraus, -- noch aus dem +Unklarsten, Unverstandensten --. Es ist nur Scheu. Ueberwinde sie.« + +»Es ist, -- im Kuß war es,« sagte sie leise. + +»Hat es dich verletzt, -- daß ich dich geküßt habe?« + +»Mich?! verletzt? mich?! nein! -- was liegt an mir?« + +»-- Für mich -- alles, Ruth. -- Aber warum quält es dich dann?« + +Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. + +»-- Weil, -- es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen, +-- als ob er gar nicht von Ihnen kam, -- und dann: wie ich von Ihrer +Frau sprach, im Garten, -- und dann: im Kuß, -- da fühlte ich es ganz +deutlich, das Fremde darin, und daß es -- --« + +»Daß es --?« + +»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob ~Sie~ es +nicht sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.« + +Er antwortete nicht. + +Wie sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen +geschlossen. + +Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme: »Du täuschest dich. +Es ist nichts Fremdes, -- nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, -- +und in dir selbst ist es, du erkennst es nur nicht, -- mit deinen +Kinderaugen.« + +Er strich ihr über das Haar hin, und sah hinweg über sie, die, den Kopf +unter seiner Hand gebeugt, erwartungsvoll lauschte. + +»Weißt du noch, -- als du das erste Mal hier warst, -- was wir da an +dieser Stelle miteinander sprachen, und was ich dir versprach? Ich +wollte dich aus der Welt der Phantasie, in der du träumtest, in die +Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und +du bist nicht das Kind mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender +Mensch, der lebt, -- lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt +du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe +bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab, +wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen, +alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser +Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht +auf die Wirklichkeit, sondern, über jede Wirklichkeit weit hinaus, +auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest +und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem über alle +Menschen emporgehobenen Bilde, -- in deinem Innern. Aber diese ganze +Traumschönheit, Ruth, in der dein Verhältnis zu mir noch steht, -- +sie ist dennoch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche +Umhüllung, -- nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem +Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet +darauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie +dein ganzes übriges Wesen.« + +Er brach ab. + +Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu +folgen. + +»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause +fort, »habe ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben +aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem +Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem +ganzen Herzen verwachsen ist, -- und dir Schmerz damit zufüge, -- wirst +du dein Vertrauen behalten, Ruth, deine Liebe -- zu mir?« + +Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich. +Er hielt sie zurück. + +»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir +fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst +war; -- daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und +mein Glück langer nicht entbehren kann; -- daß ich es nicht ertrug, +dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil -- ich keine Frau +mehr habe, -- weil sie sich von mir trennen wird.« + +»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht +glauben, auch wenn Sie es mir -- -- Nie und nimmer kann das sein. Kann +nicht. Denn sie -- sie war ja so glücklich -- bei Ihnen.« + +»Sie?« antwortete er schwer, »-- ja, Ruth, -- sie war es wohl, -- +früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.« + +Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht prägte sich ein +grenzenloses Befremden aus, -- Zweifel, Unglaube, ja, Entsetzen prägte +sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, -- nach +Erik rufen, -- ihn zu ihrer Hilfe rufen, vor einem Unverstandenen, +Unbekannten. Aber er -- er war es ja gerade, der da vor ihr stand --. + +Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ +ihn. Er fühlte nur noch Angst, -- die Angst, sie zu verlieren. + +»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es +thun, vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, -- du bist kein +Kind mehr, -- ein Weib, -- mein Weib!« + +In diesem Augenblick wurde die Thür vom Flur aus aufgerissen. Jonas +erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Thür wieder +ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen. + +»Jonas!« murmelte Ruth, halb bewußtlos, »-- wir müssen, -- er hat +gehört, -- wir müssen nach Jonas sehen.« + +Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth +war schon bei der Thür. Sie öffnete sie. + +Im Flur lag Jonas am Boden, -- lang hingestreckt. Mit dem Kopf war er +im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Ueber seine linke Schläfe +träufelte Blut. + +Ruth stieß die Mittelthür auf. Sie half Erik, ihn hineinzubringen in +das anstoßende Zimmer, auf sein Bett. In den nächsten Minuten sprachen +sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt. + +»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut, +-- und dann, über ihn gebeugt: »Er kommt zu sich.« + +Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück; ihre Augen richteten sich +auf Jonas mit einem Ausdruck des Grauens, daß er sie erkennen, -- daß +er sie sehen würde. + +Sie machte Erik ein stummes Zeichen, und ging leise in sein +Arbeitszimmer zurück. + +Dort blieb sie verwirrt stehen. + +Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte +sie bleiben, -- nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort. +Fort, ehe Erik kam. Fort, ehe Jonas kam. + +Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Thür zu, durch die sie +soeben aus dem Schlafzimmer eingetreten war. + +Nein, -- wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschiednehmen? von wem? Ohne +Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. -- Für immer? + +Sie trat in den Flur hinaus, -- wie hinausgetrieben von ihren eigenen +verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn. + +Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein +paar kleine hellrote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel. + +Der weite, dunkle Reisemantel, den er damals trug, -- als sie fort +sollte, -- und er heimkehrte, -- und als sie ihm an die Brust fiel. -- +-- + +Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und +verhaltenem Atem. + +Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit +sich fort, -- wild, glühend, unerträglich, -- das Trennungsweh. + +Mit den Händen faßte sie den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seine +losen, weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen +Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte +sie den Saum. + +Damals, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei, +wozu es sei, -- bis in den Tod, bis in das Verbrechen hinein, -- hätte +sie es nicht blind gethan? + +Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie +gleich laut schreien. + +O Gott, auch jetzt, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin +es sei, wozu es sei, -- sie hätte es blind gethan! Blind gehorchend, +-- gegen allen Augenschein, gegen alles eigene Wissen und Verstehen! +Mit ihr durfte er thun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen +mochte, -- was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo +sie ihn gesehen, -- sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie +gewesen, -- an ihm lag Alles! + +War er sonst noch ~Erik~? + +Sie sah ihn vor sich, wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai +im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in +seinen starken Armen. So hatte Ruth ihn zuerst mit ihr gesehen, -- so +ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du +allzuleichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang +vertrauend die Hände um seinen Nacken. + +Aber nun -- nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glücklich +vertrauende Lachen verstummte, -- und sie, die sich an ihm +festgehalten, ließ er fallen, -- er öffnete die Arme und ließ sie, +die Hilflose, zu Boden fallen, -- denn eine Last war sie, eine +allzuschwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die +sich ausbreiteten nach Ruth. + + * * * * * + +Ruth richtete sich auf; sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und +schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag +ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und +fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehen!« schrie es in ihr. Aber Eriks +Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe +nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.« + +Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine +fremde Schrift. Das wollte sie also thun? Ja, das wollte sie. Er +hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen, +in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, -- so +ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden. +Wenn sie es selbst verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben +verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit +ihr gewollt, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von +ihm. Sie hatte ja alles von ihm, -- nur von ihm allein. Sie kannte alle +seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht +nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn. + +Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl. + +Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zu Mut, +sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen: +sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen. + +Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, -- seinen +eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eigenen Willen festhalten! +Haltung! Sich selbst gehorchen, -- hörst du?« + +Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er +ihr bei: Erik gegen Erik. + +Leise schlich sie sich aus dem Hause. + +Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück. + +Nein, dafür konnte er nichts, -- Erik konnte nichts dafür, daß er +anders war, und daß das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht +hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal ihre Phantasiegeschichten +gar nicht. Die mußte man erst hinzuthun. + +Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, -- das ganze verflossene +Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelsang, da mochte es +ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo +sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in +den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der +ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein +Märchen, das »allerschönste von allen«. + +Ja, das allerschönste von allen. + +So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals. + +So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das +Leben bot. Niemals. + +So schön, daß es nichts mehr geben konnte, -- im ganzen Leben nichts, +-- was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen, -- und zu +gering befinden würde. + + * * * * * + +Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne +es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend +über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem +Buschwerk umwuchsen. + +Dann ging sie, ohne sich noch umzuwenden, mit gesenktem Kopf den +Landweg zwischen den Birken zurück zur Station, und ihr langes loses +Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde. -- + + * * * * * + +Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen, +den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem +die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen. + +Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm +wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen, wenn er Gedanken dafür +übrig behalten hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach +Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, -- dieser Anstrich von +Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und +Thorheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament, +an Jugendfeuer war das gewesen, -- sondern eiserne Ausdauer, +Selbstbeherrschung. + +Kinderei oder nicht, -- es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen. + +Aber der -- -- achtete ihn nicht. + +Jetzt, in dieser Stunde nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem +Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete Erik jetzt, und er mußte nun seine +volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen. + +Ein leises Knaben der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken. Bei +dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck. + +Er öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er +ging über den Flur in das Wohnzimmer. Ruth war nicht da. + +Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte +ihm die Brust zusammen. + +»Ruth!« rief er laut, und erkannte seine eigene Stimme nicht. + +Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an +die Bank vor dem Gehölz. + +Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang. + +Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken; ganz +regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, -- +und sang und sang in den grauen Frühling hinein --. + + + + +Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart. + + + Andreas-Salomé, Lou, Ruth. Erzählung. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 2. Aufl + --"-- Aus fremder Seele. Eine Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + Spätherbstgeschichte. + Bobertag, Bianca, Moderne Jugend. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + Bourget, Paul, Das gelobte Land. Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Boy-Ed, Ida, Die Lampe der Psyche. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + Ebner-Eschenbach, M. v., Erzählungen. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + 3. Aufl. + --"-- Boŭna. Erzählung. 3. Aufl. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + --"-- Margarete. 3. Auflage. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + Eckstein, Ernst, Nero. Roman. 5. Auflage. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.-- + Fulda, L., Lebensfragmente. 2 Novellen. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + 2. Aufl. + Heyse, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + Hopfen, Hans, Der letzte Hieb. Geh. M. 2.50 Geb. M. 3.50 + 3. Auflage. + Junghans, S., Schwertlilie. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + 2. Aufl. + Kirchbach, W., Miniaturen. Fünf Novellen. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + Lenbach, Ernst, Abseits. Erzählungen. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Lindau, Rudolf, Martha. Roman. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.-- + Loti, Pierre, Japanische Herbsteindrücke. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Mauthner, Fritz, Hypatia. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 2. Auflage. + Petri, Julius, Pater peccavi! Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Proelß, J., Bilderstürmer! Roman. Geh. M. 3.-- Geb. M. 5.-- + 2. Auflage. + Schunsui, Tamenaga, Treu bis in den Tod. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Sudermann, H., Frau Sorge. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 34. Aufl. + --"-- Geschwister. Zwei Novellen. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 15. Auflage. + --"-- Der Katzensteg. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 28. Auflage. + --"-- Im Zwielicht. 19. Auflage. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + --"-- Jolanthes Hochzeit. Erzählung. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + 18. Aufl. + --"-- Es war. Roman. 21. Auflage. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.-- + Telmann, K., Trinacria. Sizilische Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + Geschichten. + Wereschagin, W., Der Kriegskorrespondent. Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.-- + Widmann, J. V., Touristennovellen. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + Wilbrandt, A., Der Dornenweg. Roman. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + 3. Aufl. + --"-- Novellen aus der Heimat. 2. Aufl. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + --"-- Hermann Ifinger. Roman. 4. Aufl. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + --"-- Meister Amor. Roman. 2. Aufl. Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50 + --"-- Die Osterinsel. Roman. 2. Aufl. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + --"-- Die Rothenburger. Roman. 3. Aufl. Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + --"-- Vater und Sohn u. andere Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.-- + Geschichten. 2. Aufl. + Wildenbruch, E. v., Schwester-Seele. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.-- + + + Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen. + + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 *** diff --git a/75251-h/75251-h.htm b/75251-h/75251-h.htm new file mode 100644 index 0000000..6377340 --- /dev/null +++ b/75251-h/75251-h.htm @@ -0,0 +1,10337 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Ruth | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%;} + + h1,h2 { + text-align: center; + clear: both;} + +h1 { + font-size: 220%; page-break-before: always;} + +h2, .s2 { + font-size: 170%} + + .s3 { + font-size: 120%} + +h2 { + padding-top: 0; + page-break-before: avoid;} + + +p { text-indent: 1em; + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em; +} + +.p0 {text-indent: 0;} +.p4 {margin-top: 4em;} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +hr.k {width: 20%; margin-left: 40.0%; margin-right: 40.0%;} +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +div.chapter {page-break-before: always;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto; + border-collapse: collapse; + width: 80% } + +.tdl {text-align: left;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0;} + +.blockquot { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%;} + + .mright3 { + text-align: right; + margin-right: 3em;} + + .mright5 { + text-align: right; + margin-right: 5em;} + +.center {text-align: center;} + +.right {text-align: right;} + + +.gesperrt +{ + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +em.gesperrt + { font-style: normal;} + +.antiqua { font-style: italic;} + +img { + max-width: 100%; + height: auto; + margin-bottom: 3.0em;} + +img.w100 {width: 100%;} + + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + +.footnote + {margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + font-size: 0.9em;} + +.footnote .label { + position: absolute; + right: 84%; + text-align: right;} + +.fnanchor { + vertical-align: super; + font-size: .8em; + text-decoration: none;} + +/* Poetry */ +/* uncomment the next line for centered poetry */ +/* .poetry-container {display: flex; justify-content: center;} */ +.poetry-container {text-align: center;} +.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;} +.poetry .stanza {margin: 1em auto;} +.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:smaller; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif;} + +/* Poetry indents */ +.poetry .indent0 {text-indent: -3em;} +.poetry .indent2 {text-indent: -2em;} + +/* Illustration classes */ +.illowe5_3125 {width: 5.3125em;} +.illowp46 {width: 46%;} +.x-ebookmaker .illowp46 {width: 100%;} + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***</div> + + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler korrigiert. +Die Verlagswerbung wurde an das Ende des Textes verschoben.</p> + +<p class="p0"> Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +</div> + +<figure class="figcenter illowp46" id="cover" style="max-width: 100em;"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="cover"> +</figure> + + +<h1>Ruth.</h1><br> + +<p class="s3 center">Erzählung</p><br> +<p class="center">von</p><br> +<p class="s2 center"><b>Lou Andreas-Salomé.</b></p> +<hr class="k"> +<p class="p4 center">Zweite Auflage.</p><br> + +<figure class="figcenter illowe5_3125" id="signet"> + <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="signet"> +</figure> + +<p class="p4 center">Stuttgart 1897.</p> +<p class="center">Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger.</p> + +<div class="chapter"> +<p class="p4 center">Alle Rechte vorbehalten.</p> +</div> +<p class="center">Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p> +<span style="margin-left: 15em;"><b>Muschka</b></span><br> +<span style="margin-left: 25em;">gewidmet.</span><br> +</p> +</div> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p> + +<h2>I.</h2> +</div> + +<p>In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene +Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite, +ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen +Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache +Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein +Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges; +der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von +den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen +hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den +Vogelgesang hineinklang.</p> + +<p>Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein +Holzbau, mit geflossenen Fensterläden und bretterverschlagener +Balkonthür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig +beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für +den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen +Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.</p> + +<p>Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt +von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas +feuchtem Wiesengrund<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber +den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden, +breiteten einen zarten, bräunlichen Schleier darüber, und rings über +den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen +Blattknospen.</p> + +<p>»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in +gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein +halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der +Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur +offenen Terrasse mit der Eingangsthür emporführten.</p> + +<p>Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf, +wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen +Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten +Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Thür zu +einem kleinem Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu +sein schien. Von den Sachen, die man, beim Auszug aus der Stadtwohnung, +im gemieteten Landhause vorrätig gefunden hatte, war offenbar alles +Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und +Gemütlichkeit zu schaffen.</p> + +<p>An der Thür, auf einem deckenumhangenen Ruhebett, lag eine bleiche, +nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren +ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter halbgesenkten +Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und +Gehenden.</p> + +<p>Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln +durch die großen blauen Augen ging.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p> + +<p>»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«</p> + +<p>Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in +deren Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf +den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging über den Flur in das +Zimmer.</p> + +<p>Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr +trat.</p> + +<p>»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die +Sonne durch den Nebel, und dann trage ich dich in den Garten hinaus. +Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen +aufgestellt.«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher +Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik? +Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt +du, das ist das Schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht +ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«</p> + +<p>»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätte es auch sonst, +aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«</p> + +<p>Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern +sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du +dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich +bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter +der blitzendsten aller Theemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt +dessen, jahraus, jahrein, daliegen<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> und es unthätig mit ansehen, wie +deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben. +Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken. +Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«</p> + +<p>»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur +wolltest.«</p> + +<p>»Daß er wie eine Tochter ist? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie +kannst du nur solchen Unsinn sagen, Bel.«</p> + +<p>»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist +er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber +mir zu dienen macht ihm Freude, — auch in den häuslichen Dingen. +Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«</p> + +<p>»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht, +daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen —«</p> + +<p>Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann ablohnen.</p> + +<p>Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der +Stube gesetzt worden war.</p> + +<p>»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf +herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«</p> + +<p>Als sie hinausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln +in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.</p> + +<p>»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns +auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«</p> + +<p>»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben +wir uns eins der teuersten Landhäuser<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> ausgesucht. Ich habe ja nichts +dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen +drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das +viele Geld zu verdienen.«</p> + +<p>»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade +ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so +schön, daß ich's sogar umsonst thäte! Es dürfte dann freilich nicht +bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. — Nein, du, in diesem +heiligen Lande vergesse ich bald, daß ich überhaupt Kraft anzuwenden +<em class="gesperrt">habe</em>. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn +— ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr +hierher gepilgert?«</p> + +<p>Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.</p> + +<p>»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu +wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische. +Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch +mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?«</p> + +<p>Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern +kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers. +Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehen +und blickte hinaus.</p> + +<p>Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der +Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren +Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde +schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch +die Kätzchen niederhingen,<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten +ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach.</p> + +<p>Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des +Jahres entgegen. Einen Augenblick lauschten sie stumm.</p> + +<p>Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren, +fiel die Aehnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker +dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf, +breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, dieselbe ein wenig stumpf +abschließende Nase und derselbe große, im Sprechen und Lachen sehr +ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften +sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken. +Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und +Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend +von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das +in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen +ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen +Blauaugen der Mutter finden, und deren blendende Haut, die nur das +Krankenlager an ihr entfärbt hatte.</p> + +<p>Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In +ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen +Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen, so +wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es +war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals +von Jonas' Alter unterschied — einundzwanzig Jahre zählte Erik erst, +als sein Knabe ihm geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine +Regung<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll +genug in sie verliebt, um sie, mitten in seiner leichtlebigen Pariser +Studentenzeit, frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte, +ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann band sich an sie, das +einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen +Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die +vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden +Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gelugt, in dem +er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach +England und lebten ein paar Jahre von dem ganz geringen Vermögen, das +schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen, +sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen, +aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem +Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine +kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im +Meer, auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde, +daß ihre verrückte, glückliche Studentenehe in so stille, geordnete +Verhältnisse mündete, aber für Erik that es ihr leid. Denn erstens +war er sicherlich zu viel Größerem berufen, als zu diesem abhängigen +Stillleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar +nicht anders vorstellen, als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und +im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die +ihn fortriß, und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen +Menschen des Volkes dastehen sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter +Prinz. Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch +schon die Leute verzaubern,<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen +besser entsprächen.</p> + +<p>Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand +seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn +ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen, wie in seiner frühern +Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu +echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung +beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet, Grübeleien über +seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war er +eine zu aktive Natur dazu.</p> + +<p>Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu +bethätigen, und an die Zukunft, — an die glaubte er so fest, wie ein +Kind an Gott.</p> + +<p>Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte +den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals.</p> + +<p>Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte. +Die kunstvoll geordneten Locken, die, statt jeder festen Frisur, +dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe +wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn +geworden, ja, dort hatte sich sogar eine ganz kleine, verheimlichte +Glatze gebildet.</p> + +<p>»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und +wandte sich vom Fenster.</p> + +<p>»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert.</p> + +<p>»Ja. Aber deshalb brauchst du mich nicht wieder am Thorweg der +Mädchenschule abzuwarten und dort<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> herumzulungern,« versetzte Erik +mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu +erwidern, trollte dieser sich aus der Stube.</p> + +<p>»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel +lächelnd, und als stände es mit ihren Worten in irgend einer +Gedankenverbindung, griff sie zwischen allerlei Sachen, die auf einem +niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten +Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen +willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich +vor?«</p> + +<p>Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es +war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik +kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch.</p> + +<p>»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.«</p> + +<p>»Ja, Bel?«</p> + +<p>»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen +Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?«</p> + +<p>Er fing an zu lachen.</p> + +<p>»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.«</p> + +<p>»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?«</p> + +<p>»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten +Frau.«</p> + +<p>»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würde ich es nicht +denken. Glaubst du das von ihr?«</p> + +<p>Er sah seine Frau verwundert an.</p> + +<p>»Ja, natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> ist ihr nicht der +geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die +Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. — Und es ist gut, +— vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden +anstiftet. Adieu, Bel: es ist Zeit für uns zum Bahnhof.«</p> + +<p>Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr +niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn +einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest.</p> + +<p>Er hielt geduldig still.</p> + +<p>»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los.</p> + +<p>Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und +geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte +Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen +angelegt; alles andre eher. Aber wenn man ewig so stillliegen mußte, +immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so +geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An +sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt. +Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche +Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas, und die gefürchtete +Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den +dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte +meinen können, es seien tausend.</p> + +<p>Erik hatte vorhin also gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern +Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr +empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund herumging, +beunruhigte<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber +sie war blond, und ihr schien es, als ob die Braunen ihn ebenfalls +interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber +nur ein einziges Mal erschrak sie, — schrak förmlich auf aus aller +bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er +an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm +nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich — +ja endlich that sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging +ihm heimlich nach.</p> + +<p>An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos, +und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem +kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in +Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste +Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen, wegen +ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen +Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung, +aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn ein feiner, liebevoller +Menschenkenner sie zum Sprechen brachte.</p> + +<p>Es war Frau Larsen, eine lahme, sechzigjährige Frau.</p> + +<p>Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem +Mann. —</p> + +<p>Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium; +gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die +ziemlich entfernt lag.</p> + +<p>Er war in eine vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer +der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah +erhitzt aus, behielt nach der<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Begrüßung den Hut in den Händen und +fächelte sich mit dem Taschentuch.</p> + +<p>»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in +der Stadt ist der Mai schon unerträglich, — wirklich, — wenigstens im +Gehen. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden +Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß. +Ohne Uebergänge, ohne Normaltemperatur. Ein möderisches Klima.«</p> + +<p>Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den +Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wieder abkühlen. Erik +betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden, ungefähr +gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes +Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah.</p> + +<p>»Ob das meine Zukunft hier ist? — der Mai unerträglich!« dachte er, +und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen +russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und +gefährlicher wie jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert +so lange und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön, +daß man seinen Augen nicht traut.«</p> + +<p>»Ja, ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß +immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen +Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk, — immer in +den Ferien in Deutschland. <em class="gesperrt">Das</em> ist meine Erholung. Da bleibt für den +Sommer wenig übrig. So geht es uns eben allen — allen, die wir uns +geistig überarbeiten müssen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p> + +<p>Erik schwieg einen Moment, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen +Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als +›Geistesarbeiter‹.«</p> + +<p>»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, — weil Sie etwas +lange in ländlichen Verhältnissen —? aber ich bitte Sie, bei Ihrem +Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk +schreiben?«</p> + +<p>Erik lachte.</p> + +<p>»Nein, so meinte ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein +wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn +wir — der Lehrer vor allen Dingen, arbeitet doch vorwiegend mit +Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der +Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.«</p> + +<p>»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man +doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die +Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie +vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen haben eröffnen wollen? +Was war es damit?«</p> + +<p>Eriks Augen verdunkelten sich.</p> + +<p>»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal verweigert.«</p> + +<p>»Sehen Sie, — sehen Sie! das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung +des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie +ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit +gebundenen Händen, — Sie wissen's doch! Aber mit Einem sollten Sie +sich wirklich trösten: es <em class="gesperrt">gibt</em> hier ja gar keine Menschen, unter +denen irgend etwas zünden und wirken<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> kann. Es gibt nur das Volk, zu +dem wir weder sprechen dürfen noch können, — und ein Publikum, das +sich amüsieren will.«</p> + +<p>Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die +Pferdebahn hielt und beide stiegen aus.</p> + +<p>»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen!« +nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam +einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte, +sah er ebenso schwerfällig und versonnen aus, wie vorhin hastig und +zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie +hatten diese Klasse ja erst im Herbst anzutreten.«</p> + +<p>»Es war aber Not am Mann. Auch wollte ich die Mädchen kennen lernen, +Fühlung gewinnen, ehe ich sie im Herbst ganz übernehme.«</p> + +<p>»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist +entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen. +Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.«</p> + +<p>»Gott sei Dank!« sagte Erik.</p> + +<p>»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man +das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?«</p> + +<p>»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast +bekümmerte Miene seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch +rechtzeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung. +Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte. +Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich +ließ sie mir nur geben, um mich zu<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> orientieren. Auch habe ich eine +wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.«</p> + +<p>»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der +Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein +beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen +Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Alpdrücken verursachten.«</p> + +<p>»Das war nur gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen +hohen Thorbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten, +»warum gab er auch Aufsatzthemata, wie zum Beispiel das letzte hier: +›Ueber das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben +sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.«</p> + +<p>Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen, das von der +Flurhalle zu den Klassen emporführte.</p> + +<p>»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls daran, und das +ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte +Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an +kein Glück gedacht, zu dem man die Schule verlassen haben muß. — Aber +hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.«</p> + +<p>»Also auf Wiedersehen!«</p> + +<p>»Wünsche beste ›Anregung‹.«</p> + +<p>Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang, an welchem +die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines derselben und blickte auf +seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten +Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt; +man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise herumgehen<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> +und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte, +stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe +halberwachsener Mädchen bequem, — das Kichern und Schwatzen drang +deutlich bis zu Erik herauf.</p> + +<p>In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten +nur klappte eine Thür oder wurde ein Ruf laut. Aus den zur Hälfte +niedergelassenen Fensterrouleaux brütete die Sonne und einzelne +Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen aus den staubigen Pulten.</p> + +<p>Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei +er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren +dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist +interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch +interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den +Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich +ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste +Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender?</p> + +<p>Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende +Mädchengruppe am Brunnen. Diejenigen, welche er von seinem Standort +sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also +die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen, +während er sie so anblickte, — diese frischen Geschöpfe, die noch das +Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren ganz bestimmte +Typen unter ihnen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen +Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander. +Er<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr +weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, — sowohl dieser +schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig +gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam +stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich +kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr +vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Urtypisches im ganzen, +wenig Individuelles, — man konnte sie schon klassifizieren, sie waren +schon fest geprägt durch ihre Umgebung, in der sie erzogen wurden, in +der es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks +Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen.</p> + +<p>Unwillkürlich suchte seine Hand zwischen den Heften, als wünsche er +sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter +den Aufsätzen, — etwas höchst Individuelles jedenfalls.</p> + +<p>Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Ueber das Glück« trug er die +Ueberschrift »Seligkeit!« — und wie ein Sehnen und Jauchzen klang dem +Lesenden etwas von dieser Ueberschrift aus jeder Zeile entgegen. Er +war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa +geschrieben, sondern in Versen, — in gänzlich unkorrigierbaren und +wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem +wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder +vielmehr: hingeträumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren +Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort +und Logik, aber es steckte eine mit sich fortreißende Gefühlsmacht +darin. Man wurde im höchsten<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber +man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem, +der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß +er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige +Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen aus Gott bezog, +dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein?</p> + +<p>Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und rissen ihn aus +dem Lesen auf. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie +sagen: »Er <em class="gesperrt">muß</em> unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie +nur möglich. Sonst thue ich es nicht.«</p> + +<p>»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton.</p> + +<p>»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es +nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.«</p> + +<p>»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht +daran! Er ist und bleibt unglücklich, sage ich euch. Ein für allemal. +Aber heiraten werde ich ihn nicht.«</p> + +<p>Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett +und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame +Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen +wollte und ihn nicht einmal heiratete.</p> + +<p>Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern +so umstellt, daß Erik sich nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von +unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit +vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span></p> + +<p>Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand.</p> + +<p>Dann sagte ein bildhübscher, dunkelhaariger Backfisch, während er +herzhaft in einen Apfel hineinbiß: »Ich finde es wirklich komisch +von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern +Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch +das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll, +so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können, — meint ihr nicht?«</p> + +<p>»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder +etwas Neues vor, — vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines, +blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie +nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.«</p> + +<p>»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrieen sie erwartungsvoll.</p> + +<p>»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste +Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt +ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu +deklamieren:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»In Liebesarmen ruht ihr trunken,</div> + <div class="verse indent0">Des Lebens Früchte winken euch;</div> + <div class="verse indent0">Ein Blick nur ist auf mich gesunken,</div> + <div class="verse indent0">Doch bin ich vor euch allen reich.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Das Glück der Erbe miss' ich gerne,</div> + <div class="verse indent0">Und blick', ein Märtyrer, hinan,</div> + <div class="verse indent0">Denn über mir, in goldner Ferne,</div> + <div class="verse indent0">Hat sich der Himmel aufgethan.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte, +gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht, verklangen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p> + +<p>»Huh!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine +zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich —«</p> + +<p>Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen +heraus, so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle, daß +Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte, mitzulachen, +und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen +begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es.</p> + +<p>»Du hast gar keinen Lebensernst!« sagte die Erste der Klasse strafend, +eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre +eigene Sache, und uns mit.«</p> + +<p>Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende +zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den +›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg +thun?«</p> + +<p>»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so +glücklich, als ihr wollt.«</p> + +<p>»Also denkst du an einen andern?«</p> + +<p>Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in +diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich +ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt +in der Sonne.</p> + +<p>»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit +ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen +gemacht.</p> + +<p>Und er sah sie.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p> + +<p>Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die +Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten +Regenfaß, das, in diesem beliebten Brunnenwinkel, gelegentlich als +Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde, glanzlose +Haar offen, so daß es, weich und lockig, in einiger Verwirrung, ihr +über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, welches es +wohl am Hinterkopf zusammenhalten sollte, war hinabgeglitten und +bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und +Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem +losen, graublauen Gewande, das keinerlei Aehnlichkeit mit den hübsch +gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern +aufwies. Ueber den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel +kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum +den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas +sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges +Gesichtchen, das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Uebermut +wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgezogen, die ziemlich +dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen, wie in beginnendem +Gelächter oder wie in verlangendem Durst, halb geöffnet, so daß unter +der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne +hervorschauten, — da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf +in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über +alle Stränge zu schlagen, — fast unwillkürlich dachte man sich einen +Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, — und der +Bacchusknabe war fertig.</p> + +<p>Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> ins Haus sprang, +erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte +hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat, +kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit. Zwei Lämmer in +seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt +an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und Taugenichts.</p> + +<p>Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken +lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort +durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann +schwächte der Lärm sich ab, die Klassenthüren fielen ins Schloß; +hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne +Lehrer, sämtlich in ihrem dunkelblauen Frack, der an diesen Schulen +vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder +blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehen. In Eriks Klasse +war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen, +als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick +lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden +und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und +aufmerksamen Augen zu ihm ausschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal +aus diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand, +fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die +ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie +seinem eigenen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das +thatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, — den +Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen +wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte, +einen<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht als eine leblose +Pflichtmaschine zu absolvieren.</p> + +<p>Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte, +sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind +zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die +Fortsetzung viel besser. In Bezug auf einen Aufsatz darin möchte ich +aber eine Erkundigung einziehen.«</p> + +<p>Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen +ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?«</p> + +<p>Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben; sie hatte sich +bereits erhoben, ehe ihr Name von seinen Lippen fiel.</p> + +<p>Er richtete einen bestürtzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe +aus dem Schulhof.</p> + +<p>Jetzt freilich machte sie den kuriosen Eindruck nicht mehr so ganz. +Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« aus +ihrem Gesicht störte ihn, — vielleicht auch, daß sie die Augen +niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre Erik ihr mit der Hand über das +Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter +die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige, +lachende Junge von vorhin gewesen, — und das deckte sich so wenig +mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche +Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein.</p> + +<p>»Unmöglich!« entfuhr es ihm.</p> + +<p>Sie sah verwundert auf.</p> + +<p>»Doch!« sagte sie.</p> + +<p>»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man +konnte es ihnen anhören, wie stolz sie<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> auf diese Schwarzkunst waren, +und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden.</p> + +<p>»Verse, — das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie +keineswegs schön. Ganz im Gegenteil. Aber ein Schulmädchen —«</p> + +<p>Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch +gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und <em class="gesperrt">eine</em> von ihnen +mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm ein Gedanke: vielleicht +ist es gar kein selbständiger Aufsatz?</p> + +<p>Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz darin. +Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam +nachgezogene Linien — und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei +den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das +nicht die Lösung des Rätsels sein?«</p> + +<p>Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte, +und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten +werde, ihr habe niemand geholfen.</p> + +<p>Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft +niemand.«</p> + +<p>Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Gerade so, als +habe sie unter Thränen gesagt: »Ich bin ja so mutterseelenallein!« +Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, — etwas so ganz Neues, +Unerwartetes, das er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen konnte.</p> + +<p>Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen +Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam +seinen Ausdruck<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die +Bank, in die Mitte der übrigen.</p> + +<p>Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Uebereilung bewußt und +kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück.</p> + +<p>»In der Aenderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine +auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine +Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er.</p> + +<p>»Er zog sie vor! sie durfte thun, was sie wollte!« schrieen einige.</p> + +<p>»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!« +riefen andre.</p> + +<p>»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth.</p> + +<p>»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn.</p> + +<p>Sie hob die Augen.</p> + +<p>»Nein. Nur aus den Stunden.«</p> + +<p>Wie beider Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht +nur die Augen thaten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen, wie ein +Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren +Zügen wie ein vorgehaltener Schleier.</p> + +<p>Er gab ihr einen Wink, daß sie sich setzen möge.</p> + +<p>»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und ab gehend, +und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob +für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für beide. Doch setzte er +rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz +nicht.«</p> + +<p>Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts,<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> keine Bemerkung +mehr an sie, vermied es auch während der Stunde ihren Namen aufzurufen, +obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehen wollte. Aber er +begriff, daß dieses lebhafte Interesse an einem merkwürdigen Kinde, +wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst +erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig +geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihr vor einigen Dutzend +neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen +Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch +er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch +möglichst daran fest, daß sein eigenes Benehmen ihn nicht verriete, +wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, — was doch +unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut.</p> + +<p>Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen +mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin, +und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er +vortrug, sondern merkte sich nur die Art, <em class="gesperrt">wie</em> er vortrug, und die ihm +eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände +von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei +einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie, +— und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die +breite, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein, wie +ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen, +kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen +Ruck zurückwarf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> blieb. Es +war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie +förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, — nur +ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen; die sahen +aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte +sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber +stützte sie den Mund auf die Hände.</p> + +<p>Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen +mit solchen Aeußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie +angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach. +So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von +ihm unbemerkt.</p> + +<p>Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als +nach Beendigung des Unterrichts ein ganzer Schwarm von Mädchen sich zum +Heimgehen um sie drängte. Sie hatte diesen Augenblick kaum erwarten +können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der +aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den +Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab +und bogen in den Newsky Prospekt ein, Ruth voraus und ohne auf sie zu +achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge, +auf den Wegen, die Ruth sie führen sollte; aber die Straße war ziemlich +menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den +Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen +sah man Erik herankommen.</p> + +<p>»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera +zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> Geschichten treiben kann. Ich +glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum. Ja, es ist ganz +anders, wenn man noch Eltern hat.«</p> + +<p>»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging, +und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein +schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme +Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, — +in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«</p> + +<p>»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose +Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und +gerade da möchte ich so gern hin.«</p> + +<p>»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von +ihnen etwas unsicher.</p> + +<p>Ein schallendes Gelächter erhob sich.</p> + +<p>»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre +nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit.«</p> + +<p>»Da kommt er!« sagte Ruth mit einemmal.</p> + +<p>Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im +ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie +sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die +Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.</p> + +<p>»Hier, der Blonde.«</p> + +<p>»Nein! Der Herr im Cylinderhut.«</p> + +<p>Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft geradeaus, und einem +Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger, brünetter Mann, +im hellen Sommerüberzieher,<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen +Schnurrbart und mandelförmigen Augen.</p> + +<p>Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, — darüber waren +alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten, wie ein Meerwunder, +passierte vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch +nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn; ganz ernsthaft grüßte +sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten +Bekannten.</p> + +<p>Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert, +jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder. +Ziemlich vertraulich that er das.</p> + +<p>Die hübsche Wjera schrie fast aus vor Ueberraschung und Vergnügen; sie +war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden, +mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein +paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt, +sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf +dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der +heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen, +die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz +verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln +zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein +paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht +müde, zurückzusehen.</p> + +<p>»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem +Straßendamm los, »es ist geradezu sündhaft!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p> + +<p>»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen +haben. Ruth hat es gethan. <em class="gesperrt">Sie</em> hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch +so gleichgültig drauf los geht, als ginge es <em class="gesperrt">sie</em> nichts an.«</p> + +<p>»Ja, was schadet es denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas +betreten.</p> + +<p>»Gewiß schadet es, — abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete +die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn +man ein Verhältnis gehabt hat?«</p> + +<p>»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine +zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja +nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie +schlagend hinzu.</p> + +<p>Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.</p> + +<p>»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß +doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen +weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle +Gefahr ist vorbei.«</p> + +<p>»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn +uns nicht zeigen sollen, Ruth.«</p> + +<p>Diese zuckte ungeduldig die Achseln.</p> + +<p>»Das kann ich nicht <em class="gesperrt">so</em> trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja +auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.</p> + +<p>»Nein, erst mußt du es weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr +lustig. Gerade als ob man zweimal lebt: einmal zu Hause und in der +Schule — und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles gerade so ist, +wie man<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> es sich ausdenkt. — Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht +wieder gehen.«</p> + +<p>»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis +jetzt am Streit nicht beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem +»Unglücklichen« zu thun gemacht, der irgendwo an einer Straßenecke +stehen geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal +interessanter, als all die Phantastereien drum herum. Was hat man denn +von denen? Sie amüsieren uns nur, weil man uns eingesperrt hält!«</p> + +<p>Ueber ihrem Hin- und Herreden beachteten sie es gar nicht, daß sie +an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren, das heißt, daß die +meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim +entfernt hatten. Sie liefen gewohnheitsmäßig mit, wie eine Hammelherde, +Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen. Jetzt blieb sie +zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust, nach einer Seitenstraße +umzubiegen, und der Nötigung, zur gewöhnlichen Stunde bei ihren +Verwandten einzutreten. Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit, einen +Vorwurf zog sie sich nicht zu, und was ihr jetzt vorschwebte, war süß +und lockend gleich einem Frühlingsmärchen.</p> + +<p>Aber es gab da etwas andres, das sie zurückhielt: wenn sie jetzt +hineinging, so blieb sie, wie immer, gänzlich unbemerkt und unbeachtet +im ganzen Hauswesen; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen +fortblieb, so wurde sie vielleicht bemerkt, befragt, belästigt. Und das +entschied.</p> + +<p>Wie eines jener kleinen Insekten, welche zum Schutz vor feindlichen +Mächten die Farbe des Holzes oder des<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Laubes annehmen, auf dem sie +sitzen, so verhielt sich, halb unbewußt, auch Ruth gegenüber ihrer +Umgebung. Es war ihre Art sich zu wehren.</p> + +<p>Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand +hinter den hohen Thürflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes, +vor dem ein Soldat Wache stand. Eine Abteilung des Kriegsministeriums +lag darin, nebst mehreren großen Kronswohnungen, von denen Ruths Onkel, +der Staatsrat war, eine inne hatte.</p> + +<p>Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Jetzt erst +erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend +eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den +Droschkenkutschern, welche sofort, laut schreiend und sich gegenseitig +nach Möglichkeit unterbietend, sie umringten.</p> + +<p>Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr; sie hatten sich ausgezeichnet +unterhalten, sich ordentlich echauffiert! Morgen, wenn sie nach neuer +Nahrung begierig wurden, kam sie wieder.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt, denn er +hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden +zu geben. Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf, die geräumig +und freundlich, aber vier Treppen hoch lag: dafür konnte man aus den +Fenstern die Newa überschauen, durch deren blaue, mächtige Wogen +noch der Ladogasee seine letzten Eisschollen trieb. Sie schimmerten +durchsichtig im blendenden Maisonnenschein. Ueber seine Aussicht freute +Erik sich täglich von neuem.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p> + +<p>Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen, allerlei zu erledigen +und eingelaufene Briefe mitzunehmen, denn die Landpost galt als +unzuverlässig. Heute war er kaum eingetreten, als es klingelte.</p> + +<p>Er öffnete die Thüre und blieb mit einem Lächeln neben derselben stehen.</p> + +<p>»Warwara Michailowna!« sagte er.</p> + +<p>»Was ist denn das?« fragte sie, rasch um sich blickend, »schon auf dem +Lande? umgezogen? allein hier? Ich wußte es nicht! Dann haben Sie also +meinen Brief — —?«</p> + +<p>»Ich habe ihn gestern hier vorgefunden,« versetzte er, sie in die +angrenzende Wohnstube führend, wo die Polstermöbel schon ihre +Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen +gleich Gespenstern herumstanden. Unter dem runden Sofatisch war der +Teppich entfernt worden, und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte +in der Luft.</p> + +<p>»Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen — oder +bei Ihrer Frau!« sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der +weißbezogenen Sessel sinken, »trotz Staub und Sonne bin ich also da. +Ich muß wissen, weshalb Sie nicht kommen wollen.«</p> + +<p>Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer +Frühjahrskleidung, mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie +in den tiefdunkeln Augen, die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem +munteren Wesen bildete.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen!« erwiderte Erik und blickte sie an, »aber Sie nehmen +mir in der That die Antwort schon von den Lippen: ich wollte wirklich +nicht kommen.<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Mich eine Zeit lang ganz auf dem Lande vergraben. — +Dort können wir ja, wenn Sie erst hinausgezogen sind, so poetisch +Fangball spielen und Croquet. — Ich bin diesen Winter gar zu stark ins +Gesellschaftstreiben geraten.«</p> + +<p>»Und was schadet das? Fragen Sie nur Klare-Bel, ob sie Sie nicht auch +im Gesellschaftsrock am liebsten sieht? Der Salon ist Ihr natürliches +<em class="antiqua">milieu</em>.. Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister, +wie sie mitunter mit goldenen Brillen und blonden Vollbärten zu uns +kommen! Erst seit einigen Generationen hat sich Ihre Familie dort +niedergelassen — an der friesischen Grenze irgendwo, — französische +Emigranten, — weiß ich's nicht gut?«</p> + +<p>»So weit wollen Sie den Beweis herholen, daß ich in Gesellschaft gehen +soll?«</p> + +<p>Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms +gegen die Tischplatte.</p> + +<p>»Sie sind ein Spötter. Ich wollte nur sagen: bilden Sie sich nicht ein, +daß Sie zum Schulmeister geboren sind. Trotz der blauen Uniform da, die +Sie noch anbehalten haben, — die Ihnen übrigens gut steht, weil es ein +Frack ist. Sie sind zum Weltmann geboren. Wenn Sie uns — <i>mondains</i> — +meiden, thun Sie sich selbst weh. — — Ich weiß es. Lachen Sie nicht.«</p> + +<p>»Ich lache ja nicht. Sie sind sehr scharfsichtig, Warwara Michailowna. +— Vielleicht zu sehr.«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Sie würden unsrer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen, wenn +Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden. Habe ich nicht +recht?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p> + +<p>»Nun, nehmen wir also an, ich will nicht berauscht werden,« sagte Erik +und kreuzte die Arme; »daß gerade Sie als Versucherin kommen, ist +freilich schlimm für mich. Ein Glück, daß die Saison zu Ende geht.«</p> + +<p>Sie machte einen schmollenden Mund.</p> + +<p>»Ich weiß schon. Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher +Oberflächlichkeit.«</p> + +<p>Er widersprach nicht.</p> + +<p>Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide, und zwischen ihnen lag, +unmöglich zu überhören, Warwaras stumme Frage: »Bin ich es, die dich +berauscht?«</p> + +<p>»Sie sind ein Egoist,« sagte sie dann aufblickend, »sonst hätten +Sie bemerken müssen, daß Sie sich irren. Wissen Sie nicht, weshalb +ich Sie so gern da habe, mitten unter den Menschen? Weil ich gerade +ebensogut fühle wie Sie, daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl +ist, — inhaltsleer, — und es mich dennoch berauscht — wie Sie. Ihre +Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich. Hand aufs +Herz! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen? Wir haben eine +gemeinsame Versuchung.«</p> + +<p>Er blickte sie fest an. Sie sprach rasch, ein wenig erregt, mit dem +weichen, klingenden Tonfall, den er an den Slaven so einschmeichelnd +fand. Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar, ob sie +mit ihm kokettierte, oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm +sprach, als je mit sich allein. Es schien ihr wirklich manchmal — und +besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins, — als triebe ein +verwandter Zug sie zu einander. Und dann war ihr Erik interessant: als +Mensch. So, wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist.<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> +Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie +einer, der ungeduldig auf Beute ausgeht, und, weil er die ihm gemäße +dort nicht findet, seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht.</p> + +<p>»Also: Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung!« sagte Erik +wegblickend — »vielleicht ein Wettkampf, wer ihr besser erliegt?«</p> + +<p>Sie erhob sich, um zu gehen.</p> + +<p>»Sie haben vielleicht recht zu spotten, und es würde nur sentimental +klingen, wenn ich antworten wollte: nein! mehr als das, — eine +gemeinsame Sehnsucht,« entgegnete sie, dicht neben ihm, der ebenfalls +aufgestanden war, »Sie haben tausendmal recht. Wir haben ja nie ein +ernstes Wort miteinander gesprochen. Und ein Mann braucht keinen +Bundesgenossen. Er kann's allein.«</p> + +<p>Sie sprach ganz ernst, es klang beinahe echt, und was sie sprach, +stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunkeln Augen. Eine +Minute, — eine verschwindende Minute lang, fühlte Erik, wie seine +Phantasie ihm etwas vorgaukelte. Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf, +über die der Verstand lachte, — und ein wilder, herrischer Wunsch, +den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen +Selbstbetrug wahr zu machen.</p> + +<p>Ohne genau zu wissen, was er that, hatte er die Hand ausgestreut; es +war eine fast befehlende Bewegung, wie ein: »Bleib!« Er sah nichts mehr +deutlich, er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt, dieser +Augen, von denen Sehnsucht ausging.</p> + +<p>Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die +Wange. Nicht tändelnd, versuchend. Rasch, heftig, fast gewaltthätig.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p> + +<p>Er murmelte halb unverständlich: »Mach es wahr! mach es wahr! laß mich +nicht aufwachen! Suchtest du mich?«</p> + +<p>Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck. +Sie war selbst berauscht gewesen, einen Augenblick lang, aber die +Wucht, mit welcher er darauf einging, ernüchterte sie ebenso rasch. +Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas +von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm, an die sie +unvorsichtig gerührt hatte. Nicht wie eine Dreistigkeit die erstaunt +oder verletzt, empfand sie seinen Kuß, sondern wie eine lähmende Gefahr +für Leib und Seele, die zu verschlingen droht, was ihr zu nahe gekommen +ist.</p> + +<p>Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht.</p> + +<p>Ihr Blick lief über ihn hin. Eigentlich sollte er ihr wie ein Kind +vorkommen, das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger +Erwartung, daß es nicht mehr zu spielen vermag. Es zerbricht gewaltsam +das dargebotene Spielzeug, um zu sehen, was dahinter ist, und bleibt +mit enttäuschtem Gesicht stehen.</p> + +<p>Das wollte sie nicht. Lieber noch gespielt haben, als zu ernst genommen +werden, — so ernst, daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen +Illusionen gemessen würde. Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten +Gesicht.</p> + +<p>Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung. Aber sie weckte auch +ihn. Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen, daß sie spielte. — +Seine Erregung verflog sofort. Nur etwas Spott blieb in den Augen und +um den Mund zurück. Spott über sich selbst.</p> + +<p>Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül. Fast ungehindert schien +die Sonne durch die dünnen, weißen<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> Fenstervorhänge, und mißtönend +klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf.</p> + +<p>Warwara war langsam in den Vorflur gegangen, und Erik geleitete sie an +die Hausthür. Sie wechselten kein Wort miteinander.</p> + +<p>Erst an der Thür wandte sie sich um zu ihm und maß ihn mit einem +sonderbaren Blick, den er nicht verstand. Bedauern lag darin, aber auch +Ablehnung, eine kleine Ueberlegenheit über ihn, den Mann, und dann noch +etwas, wie ein ganz leises Eingeständnis: »Ich möchte wohl die sein, +die du brauchst, und die dich sättigen könnte, du Wilder. Aber ich +bin's nicht.«</p> + +<p>»Ich nehme an: Sie kommen nicht,« bemerkte sie dabei zerstreut.</p> + +<p>»Mit Ihrer Erlaubnis: nein!« entgegnete er, und sann dem Blick nach.</p> + +<p>Die Thür fiel ins Schloß. —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Ruth war pünktlich um vier Uhr, zur festgesetzten Mittagsstunde, im +Speisesaal erschienen, der, hoch und groß, mit dunkeln Mahagonimöbeln +ausgestattet, in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag. Sie hatte +ihren äußern Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt, wie der +Onkel, die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten, und saß +schweigsam auf ihrem Platz am Tisch, den ein Diener in weißbaumwollenen +Handschuhen geräuschlos bediente. Während des Essens, das die +Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte, blieb die Unterhaltung +recht einsilbig. Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche, und +seine Frau hatte genug damit zu thun, ihn mit den richtigen Stücken zu +versorgen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span></p> + +<p>Erst als die Mundspüler von grünem Glas, die kein Mensch benutzte, vor +jeden einzelnen niedergesetzt waren, und vor der Tante die silberne +Kaffeemaschine stand, auf der sie den Kaffee immer eigenhändig +bereitete, wurde es ein wenig lebhafter bei Tisch. Darauf schien Ruth +nur gewartet zu haben. Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte +verschwinden.</p> + +<p>»Gehst du schon auf dein Zimmer, mein Kind?« fragte die Tante, »dann +sieh dich mal darin um. So unordentlich, so wenig zierlich sollte es +bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen.«</p> + +<p>Ruth machte eine Armesündermiene. »Ich will wunderschön aufräumen,« +sagte sie eilig; »darf ich dann bis zum Thee noch einmal fortgehn?«</p> + +<p>»Bis zum Thee? Ist es denn etwas so Dringendes?«</p> + +<p>»Es ist etwas Dringendes,« sagte Ruth. Der Onkel sah auf.</p> + +<p>»Zu wem willst du denn gehn? Es ist wohl jemand aus der Schule?«</p> + +<p>»Ja,« erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Thürgriff, den sie schon in +der Hand hielt.</p> + +<p>»Sage dem Diener, daß er dich begleitet und dort auf dich wartet.«</p> + +<p>Der Onkel blickte ihr nach, wie sie leise die Thür hinter sich schloß.</p> + +<p>»Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch,« meinte er dann, seine +Cigarette anzündend, »ich kenne niemand, der weniger verlangt und sich +weniger bemerkbar macht als sie.«</p> + +<p>»Weil man ihr alles gewährt,« ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen +Stimme, die den baltischen Accent<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> noch unangenehmer hervortreten ließ. +Sie war eine Baronesse aus Livland.</p> + +<p>»Alles? nun weißt du, ein andres Kind würde nicht so zurückhaltend +sein. Sie weiß zum Beispiel: dies ist die Stunde des intimsten, +ungestörtesten Beisammenseins, — und immer geht sie fort. Aber mit +knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.«</p> + +<p>»Nein, das thut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt +uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal +denke ich: sie ist vielleicht herzlos.«</p> + +<p>»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses +nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in +der Pension loben und zurückverlangen.«</p> + +<p>»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär. +Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin +es gerade, die deswegen für Ruths Uebersiedlung zu uns gewesen ist. Wir +sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht +und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von +vlämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und die +Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.«</p> + +<p>Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für +seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen +»diese Leute« waren, — während für ihn, gerade umgekehrt, die +Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur +die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> +vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem +französischen Namen und den sowohl deutschen wie slavischen Elementen +in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie +eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte. +Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten +seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt.</p> + +<p>»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen, Mama,« bemerkte +die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man +doch so gut in die Welt geführt werden wie hier.«</p> + +<p>»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel +lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften +begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn und +macht sich nichts daraus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht +noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit +dir, Liuba.«</p> + +<p>»Nun bist du wahrhaftig im stande und setzest dein eigenes Kind +für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen +scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien +reisen!«</p> + +<p>»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch +ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein. Als eine der +unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre +unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, gegen die es niemals einen +Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser +gänzliche Mangel an Humor.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p> + +<p>Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich +verdorben. —</p> + +<p>Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch +den unschuldigen Störenfried spielte, ja, sie hatte im Augenblick +vielleicht fast vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien +oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo sie sich befinde. Die +Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging +sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den +Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank +während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet, +und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mir ihren +Gedanken nicht recht ins reine kommen.</p> + +<p>Nach einer Weile blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn +und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit +ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag, +wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies +gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend +wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift +der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches +kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und +sogar einer Nippesetagère, auf der ein gläserner Mops stand. Aber +es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut +eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten +etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und +träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> auch zu dieser +Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.«</p> + +<p>Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen +Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine +Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube +neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer +putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer +im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als +Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, singen und schlafen waren +seine liebsten Beschäftigungen. Wie er Ruth rufen hörte, schlüpfte er +eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Hausthür.</p> + +<p>Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort +entließ sie ihn.</p> + +<p>»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm, +als er mit gezogenem Hut an der Waggonthür stand, »aber um neun Uhr +mußt du mich hier wieder erwarten.«</p> + +<p>Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine +kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine +kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten« +gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite +Welt hinauffahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele +Betrunkene auf den Straßen gab.</p> + +<p>»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und +kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig aus sein Vergnügen zu +verzichten.</p> + +<p>Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast +treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> + +<p>»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehen!« sagte sie feierlich.</p> + +<p>Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh +ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang +vor, als führe sie wirklich weit — weit, in eine ganz andre Welt. +Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach +dem richtigen Wege durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zu Mut. +Was ihr vorgeschwebt hatte, — zwingend, unwiderstehlich, — war +ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran +herummalte, schien alles sich ihr von selbst zu verwirklichen. Das +Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den +Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen, +wenn alles sich auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie +man es sich eben träumen läßt.</p> + +<p>Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, wie sie endlich dem +Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich +und befinde sich todesallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche +Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit und wie gelähmt blieb sie +am Gartengitter stehen.</p> + +<p>Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn +die Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und +daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie +sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt.</p> + +<p>»Die Augen zumachen — fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das +durfte sie nicht. Ihren eigenen<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> Willen durfte sie ganz gewiß nicht +hinterdrein im Stich lassen.</p> + +<p>Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun.</p> + +<p>Und leise — leise, mit werbendem Klang, lockte aus der Tiefe des +Gartens die zweite.</p> + +<p>Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben +entzückt darauf haften.</p> + +<p>»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut.</p> + +<p>Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie +sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Wege vom Bahnhof, +unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße +Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig +Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten, +unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier +mußte er kommen; und nun stand sie dicht am Gitter, hinter welchem er +blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er +mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie +ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war +fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskam.</p> + +<p>Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand +stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei.</p> + +<p>»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend. —</p> + +<p>Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im +Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau +lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages.<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Voll +Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in +der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig.</p> + +<p>Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt. »Papa! da ist jemand, der +dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer +geführt.«</p> + +<p>»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur thun! Da drin +muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik! +bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!«</p> + +<p>Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort.</p> + +<p>Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth +mitten in demselben, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die +Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wieder der des +Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt +hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehen sah und sie ihm mit +großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr +an den ausgelassenen Jungen im Schulhof.</p> + +<p>Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines +unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas +Freundliches sagt. All dies Gethue kam ihm wie zu einer andern +Welt gehörig vor, — jedes konventionelle Wort vergaß er dieser +schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt +gegenüber. Es war, als stände sie auf einer einsamen Insel, am weiten +Meeresstrande, ganz allein vor ihm — ein Kind aus dem Volke — und +ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p> + +<p>Ganz unwillkürlich, aus diesem Eindruck heraus, fand er nur das Wort +der Freude: »Kommst du zu mir?«</p> + +<p>Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser +Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende +Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, — sie umwandelte zur +traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte.</p> + +<p>Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr +ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren +Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!«</p> + +<p>Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte +ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel +ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck +übermütiger Lebenslust, den er an ihr gesehen, darüber wegtäuschte.</p> + +<p>»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte aus dem schmalen +Gesichtchen.</p> + +<p>Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie +ein Vogel, auf den eine fremde Hand sich legt.</p> + +<p>»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kamst? Sage mir, +weshalb du kamst.«</p> + +<p>Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief +sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten +Schuleindruck an, — aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren +wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen. Sie versuchte, die +Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein +unmöglich.</p> + +<p>Und plötzlich brach Ruth in Thränen aus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p> + +<p>»Mein liebes Kind!« sagte er sanft, und strich ihr das lose, lockige +Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann +nahm er ihre Hände wieder in die seinen.</p> + +<p>»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er.</p> + +<p>»Ja!« sagte sie leise.</p> + +<p>»Unbedingtes?«</p> + +<p>»Ja!« sagte sie wieder.</p> + +<p>»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal +ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.«</p> + +<p>Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper +ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr +gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun +sage mir, weshalb du kamst. Sage es, so gut du kannst. Versuche es nur. +Ich werde dir helfen.«</p> + +<p>Sie seufzte und begann unsicher. »Ich komme nun bald nicht mehr in die +Schule —«</p> + +<p>»Nein. Ich weiß. Und —?«</p> + +<p>»Und da mußte ich hierher.«</p> + +<p>Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern +hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!«</p> + +<p>Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Nie noch meinte er eine so +tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben, wie diesem Kinde +gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen, +wie auf etwas, das ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß +er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten +ließ.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p> + +<p>»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er.</p> + +<p>»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!«</p> + +<p>Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus +und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagte +»Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem +Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen.</p> + +<p>Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen +Plan.</p> + +<p>»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei +Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend, +»wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei +mir nehmen?«</p> + +<p>Sie nickte eifrig.</p> + +<p>»Gut. Wir würden also miteinander arbeiten,« — und in leichtem Tone +setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen? +In dem Aufsatz da, — der hat uns ja zu einander geführt, nicht wahr? +— nun, da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen +so ungeordneten kleinen Kopf, mit so krausen, wilden, unfertigen +Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du +das wohl?«</p> + +<p>Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du +wirst es schon ordnen und entwirren!«</p> + +<p>Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein +scheuer, kleiner, mattgeflogener Vogel, der sich hilflos verflattert +hat, und sich mit einemmal in einemn weichen Neste findet.</p> + +<p>Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> durch den feinen Nebel +hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg, +fielen ihre Strahlen beinahe rot, wie flüssiger Purpur. Die beiden noch +vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus.</p> + +<p>Ein herber, frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen +Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der +Nachtigallen.</p> + +<p>Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung.</p> + +<p>»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann +war, den du auf der Straße grüßtest?«</p> + +<p>Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte +es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen +verräterisch zwei Schelmengrübchen.</p> + +<p>»Ich — — — ach, der! Den kenne ich ja gar nicht.«</p> + +<p>»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie +kam denn das?«</p> + +<p>»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer, und überlegte, »— es +ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich habe ihn mir ausgesucht, +aber er weiß ja nichts davon.«</p> + +<p>»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehen,« +sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich +deutlicher. — Nun?«</p> + +<p>»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es +war eine bloße Geschichte, — die wir untereinander spielten, — im +Schulhof, in der Frühstückspause, — und da mußte jemand vorkommen, der +ungefähr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> so aussah. Und da — habe ich mir diesen ausgesucht, weil es +schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.«</p> + +<p>»Aber was sollte er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du +ihn zuerst grüßtest?«</p> + +<p>»Das mußte ich ja thun! Wie sollte er sonst wissen, was er zu thun +hatte? Ob er grüßen durfte?«</p> + +<p>»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn +das nicht überlegt?«</p> + +<p>Sie sah erstaunt auf.</p> + +<p>»Das durfte er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt. +Er mußte edel und unglücklich sein.«</p> + +<p>Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt +auf sie.</p> + +<p>»In eurem kindischen Spiel — ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er +langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst +du das nicht auseinander halten? Das mußt du können, Ruth! Und nun +sage mir, was du gethan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle +gefallen wäre?«</p> + +<p>Sie dachte nach.</p> + +<p>»Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.«</p> + +<p>»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zumachst?«</p> + +<p>»Ich? Nein! aber doch er. Denn dann hätte ich ja einen andern suchen +müssen.«</p> + +<p>»Einen andern?!«</p> + +<p>Sie nickte.</p> + +<p>»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p> + +<p>»Und das hättest du wirklich gethan? Besinne dich mal! Wäre es dir +wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist +dein Benehmen war?«</p> + +<p>Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf. +Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht +begreifen, was dieser fremde Mann, außerhalb seiner Rolle, sie kümmern +sollte?</p> + +<p>»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir!« rief sie mit kläglichem +Gesicht.</p> + +<p>Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor +Ruth stehen, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte.</p> + +<p>»Sage mir, gibt es mehr solcher fremder Menschen, die du auf der Straße +grüßest?«</p> + +<p>»Ja. Alle Straßen sind voll davon.«</p> + +<p>»— Männer —?« fragte er zögernd.</p> + +<p>»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen, +Kinder, alte Leute.«</p> + +<p>»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«</p> + +<p>»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am +liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre +Geschichten, — viel, viel schönere, — wunderschöne,« fügte sie +lebhaft hinzu, — »und die mit Kindern sind nur die liebsten.«</p> + +<p>»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Sie finden sie nicht schön!« sagte Ruth traurig.</p> + +<p>Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und +neigte sich ein wenig vor.</p> + +<p>»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst,<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> »aber +alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht +hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen +phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen +Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur +mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören. +— Wirst du es bedingungslos und gehorsam thun?«</p> + +<p>Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte +es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach +Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch +einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm +so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt +dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes +wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und +kniete bei Erik hin, — wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz, +erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.</p> + +<p>Sie fühlte sich so glücklich. Zu Hause. Geborgen. Von hier aus mußte +alles Gute kommen.</p> + +<p>Er strich ihr leise über das Haar. »Also höre unsern Vertrag zu Ende,« +sagte er in dem ruhigen Tone, unter dem sie ganz still wurde und +lauschte, »wenn du mir deine Geschichten schenkst, dann schenke ich dir +auch etwas. Du sollst, soweit es an mir liegt, nicht in deiner eigenen +Phantasie stecken bleiben, sondern mit klarem Blick so weit schweifen +lernen, wie das Leben — das wirkliche, herrliche Leben — reicht. Und, +wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte, meinst du +nicht, daß ich dich<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> damit etwas Schöneres lehren werde, als du bisher +dir geträumt und zusammengedichtet hast?«</p> + +<p>»Ach ja!« rief sie sehnsüchtig, als strebe sie verlangend beide +Hände nach etwas Erwartetem aus, — »das ist sie ja: von allen die +allerschönste Märchengeschichte!«</p> + +<p>Ihm fiel der Ausdruck auf, weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen +gegenüber gebraucht hatte.</p> + +<p>»Gerade das sagtest du ja, als du heute morgen den Mädchen erklärtest, +daß du etwas Neues vorhabest. Was war es denn?«</p> + +<p>Zu seinem Erstaunen fuhr Ruth zusammen, und senkte den Kopf.</p> + +<p>Erik sah betroffen aus.</p> + +<p>»Was war es?« fragte er streng.</p> + +<p>»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.«</p> + +<p>Er faßte ihre Hand hart im Gelenk, so daß es sie schmerzte.</p> + +<p>»Wenn es etwas ist, was dir so schwer fällt, auszusprechen, dann ist es +um so notwendiger, daß du es sagst. Ich muß es wissen, — jetzt gleich, +Ruth.«</p> + +<p>Sie versuchte, die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen, und als +es ihr nicht gelang, senkte sie das Gesicht noch tiefer, so daß es sich +an seinem Rockärmel fast versteckte.</p> + +<p>Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht. Es war über und +über in Glut getaucht.</p> + +<p>»Es hilft nichts, sich zu verstecken,« sagte er unerwartet sanft, »du +wirst mir immer nachgeben müssen, mein Kind. Mach es kurz!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p> + +<p>Ihre Hände schlangen sich nervös auf seinen Knieen ineinander, dann hob +sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf.</p> + +<p>»Es war nur, — ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt; +alles stockte auf einmal, — nichts mochte ich mir weiter ausdenken. So +schön ich es mir auch ausdachte, mit so vielen Menschen drin ich es nur +auch ausdachte, — ich blieb immer allein. Die Menschen grüßten, und +gingen vorüber. Und da — da kam eine solche Sehnsucht, — seit vier +Tagen solche Sehnsucht. Ich konnte nicht mehr spielen. Nie mehr.«</p> + +<p>»Sehnsucht — wohin?« fragte er halblaut.</p> + +<p>»Hierher!« sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg.</p> + +<p>Er ließ ihn frei, ließ zu, daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel +versteckte.</p> + +<p>Beide Arme hatte er um sie geschlungen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p> + + +<h2>II.</h2> +</div> + +<p>Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und +Handschuhe auf den Knieen und blickte nachdenklich darauf nieder, +während er dem Gespräch der beiden zuhörte.</p> + +<p>»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte +der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist +Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohnedies nicht, was +die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die +meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.«</p> + +<p>Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde +stark durch dieselbe beeinflußt. Der Onkel, mit seinem aschblonden, +schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen +Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und mit seinen frauenhaft +feinen Händen, gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte +er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine +ausgesprochene Antipathie.</p> + +<p>»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären jetzt +auch durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte +er aufblickend; »sie muß<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> zu thun haben, — wirkliche Arbeit +und Anstrengung muß sie haben. Selbst körperliche oder geistige +Ueberanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In +diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am +meisten.«</p> + +<p>»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem +Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man läßt sie viel zu viel gewähren. +Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.«</p> + +<p>»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen +Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie +doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?«</p> + +<p>»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du mir wirklich nicht +vorzuhalten, — es ist ja gerade, als ob ich Ruth Dinge verrichten +ließe, die sich nur für den niedersten Dienstboten schicken!« sagte +seine Frau, die scherzende Uebertreibung unerbittlich ernst nehmend, +»aber ein wenig sich im Häuslichen umsehen, — das hätte Ruth ganz wohl +können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der +Beruf der Frau.«</p> + +<p>Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große, +stattliche Erscheinung der Tante, an der es ihm charakteristisch für +ihr ganzes Wesen vorkam, daß die ihr gewohnten guten Formen des äußeren +Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht verdecken +konnten.</p> + +<p>»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie +sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von +allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹, +bestehe sie<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall +eine gleichgültige Spielerei, — im schlimmern Fall weckt sie die +Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätte ich gegen das +Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.«</p> + +<p>Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau +gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muß bekennen, +daß ich gar nicht begreife, warum sie alle beide so versessen darauf +sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich habe ich nicht das Geringste +gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen, +— im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie +doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch +auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht +zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer +Faulheit vergnügt zu sein.«</p> + +<p>»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton, +»Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem +selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch +zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem +Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung +gesehen. Wenn dieselbe nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft +Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.«</p> + +<p>Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf.</p> + +<p>»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst +praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie +eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt +und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur +wissen,<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst +ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann +Liuba gar nicht mitkommen.«</p> + +<p>Seine Frau sah ihn verletzt an.</p> + +<p>»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt, »Liuba würde +nicht umhergehen, wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es +so am bequemsten ist. Und überhaupt, — denken Sie nur, neulich höre +ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›paß nur auf; wenn du ein Jahr +älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und häßlich ist, und +wirst am Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ — — Mein Gott, Sie +wissen ja, wie junge Mädchen so untereinander reden! Aber was antwortet +Ruth darauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht +lieber: wie gefällt er mir?‹«</p> + +<p>In diesem Augenblick ging die Thür auf, und Ruth trat ein.</p> + +<p>Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, daß sie Besuch vorfinden +würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde +glühend rot. Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der +Ihrigen, die ihr so fern standen, — die unerwünschte Vermischung +eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und +floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie +wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben +niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; — etwa so, wie wenn +man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des +Pöbels übersetzt findet.</p> + +<p>Daß Erik herkommen, daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten +auseinandersetzen mußte, das fiel ihr<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> nicht im geringsten ein. Er +hätte das schon so einrichten müssen, daß es eine Angelegenheit aus +einer andern Welt — aus <em class="gesperrt">ihrer</em> Welt blieb. Lieber noch wäre sie dann +des Nachts, heimlich, und auf bloßen Füßen bis zu ihm hingelaufen.</p> + +<p>Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und +mit scheuem Gesicht, in die Thürspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit +empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham, +— Scham darüber, daß etwas Zartes, ihr Zugehöriges, vor fremden Augen +herumgezeigt und besprochen wurde.</p> + +<p>»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend, +»kannst du nicht näher kommen?«</p> + +<p>Da that sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände vor die Augen, und +so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind, +das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den +geschnitzten, runden Sofatisch, um den sie saßen.</p> + +<p>Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte +strafend: »Ein so großes Mädchen!«</p> + +<p>Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte +sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er +die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich +heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie.</p> + +<p>Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu +Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so +dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz +anders — hier, an dieser Stelle, — es klang wie die Anrede, die man +einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> dasteht. +Ja, sie stand ihm und den andern <em class="gesperrt">gegenüber</em>, und sie verhandelten da +über sie, als wäre sie verraten und verkauft, — als handle es sich gar +nicht um ihre — <em class="gesperrt">ihre</em> eigene, <em class="gesperrt">eigenste</em> Angelegenheit.</p> + +<p>Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft.</p> + +<p>»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte +der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es +aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab' +ich dich noch nie gesehen.«</p> + +<p>Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr +abzulenken.</p> + +<p>»Wir wollen schon mit einander zurechtkommen,« sagte er mit warmer +Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und +Stunde des geplanten Unterrichts.</p> + +<p>Ruth stand teilnahmlos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu +beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte +einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie +blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster des +Parkettfußbodens.</p> + +<p>Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie ihren +Onkel sagen: »Also, wenn es Ihnen wirklich kein zu großes Opfer ist, +erwarten wir Sie jedesmal hier, am Nachmittag, nach Ihren Schulstunden!«</p> + +<p>»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie +aufwachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum +andern; »<em class="gesperrt">hierher</em> das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinauskommen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p> + +<p>Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine +Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch.</p> + +<p>»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich +bei, »und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns +verbringen will, so wäre es in der That während dieser Sommertage +vorzuziehen.«</p> + +<p>Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie +vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so +peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch +auf ihn überzugehen, als ahne oder begriffe er plötzlich ihre zornige +Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen, +fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit +einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen, +als in seinem eigenen, stillen Zimmer, — dort, wo sie zu ihm gekommen +war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall +zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie +sich ersehnt und erträumt hatte.</p> + +<p>Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante +hinausging, blieb Ruth regungslos stehen, die Hände auf dem Rücken, +den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im +Flur hörte sie die Hausthür gehen, dann einen raschen Schritt auf der +steinernen Treppe. Darauf wurde es ganz still.</p> + +<p>Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von +blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und +Palmengruppen in beiden Fensterecken<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> hindurchschimmerte und an den +vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen +Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten.</p> + +<p>Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, auf dem Erik vorhin gesessen hatte. +Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf darauf.</p> + +<p>Und dann fing sie an bitterlich zu weinen. —</p> + +<p>Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte +ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in +ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht +wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch +nicht. Er war doch kein Hellseher.</p> + +<p>»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis +plötzlich ärgerlich.</p> + +<p>»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick.</p> + +<p>»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das thut ja jeder Mensch. +Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?«</p> + +<p>»Jetzt eben dachte ich an Großpapa,« sagte Ruth.</p> + +<p>Darüber freute sich ihr Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte +seinen Vater unendlich lieb gehabt.</p> + +<p>»Du warst erst fünf Jahre, als deine Eltern starben, und du damals +hierher kamst; erinnerst du dich denn seiner noch?«</p> + +<p>Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und +deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein +schneeweißer, großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen +— Kinderaugen eigentlich.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> + +<p>»Einmal hob er mich aus dem Bett — er sah so schön aus, mit Bändern +und Sternen, und blitzte über und über, — und da kam seine brennende +Cigarette an meinen bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm +Thränen in die Augen — aber wirkliche, große Thränen, so daß die +Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und +küßte mich, — auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den +ganzen Körper. — So war Großpapa. — Jetzt würde ich mir gern den Arm +abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte +sie wild hinzu.</p> + +<p>Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie +vergessen können.</p> + +<p>»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte +darüber nach, was er ihr schenken könnte.</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom +Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten +goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider +von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da habe +ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich habe es noch. — Und so +sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.«</p> + +<p>Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so +sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider +aus Seidenpapier — das waren doch sicherlich normale und harmlose +Phantasien eines Kinderkopfes. —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p> + +<p>Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde +fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr +zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehme ich dich in Schutz!« +—</p> + +<p>Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr +nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht +mehr so lange einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging +geradeaus — nicht hinten die Terrasse hinauf und in das Haus, sondern +weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt +hatte.</p> + +<p>Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen +zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar +keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen.</p> + +<p>Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf +und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er +die Jacke abgeworfen.</p> + +<p>»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach +seiner Jacke, die auf dem Rasen lag.</p> + +<p>»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den +dicken Stamm einer alten Ulme.</p> + +<p>Daraus wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige +Augenblicke.</p> + +<p>»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken, +und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Aesten +empor, die über ihr rauschten.</p> + +<p>Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p> + +<p>»Wo ist das schöne?« fragte er verwundert.</p> + +<p>»Diese kleinen, drolligen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon +viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den +Knospen — und alle miteinander an den Zweigspitzen, — als getrauten +sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den braunen, +klebrigen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht +aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut? +Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie +wieder wegfliegen.«</p> + +<p>»Sie fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder +seinen vermeintlichen Raupen zu.</p> + +<p>»Nein. Nur diese hier thun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand +gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung +die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten.</p> + +<p>»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von den roten, +durchsichtigen,« meinte Jonas, »denn die esse ich am liebsten. Sonst +haben wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen.«</p> + +<p>»Sie sehen ebenso schön aus,« entgegnete Ruth; »wenn man am Gitter +steht, sieht es aus wie ein Märchen. Aber später werden sie so grün und +natürlich wie die andern Bäume. Nur kleiner.«</p> + +<p>»Das muß so sein,« erklärte Jonas gleichmütig, »sonst würde der +Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen. Und der ist das Beste +vom Sommer. Denn gerade hier, am Springbrunnen unter den Obstbäumen, +liegt meine Mutter im Ruhestuhl. Und sie kann die viele Sonne nicht +vertragen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p> + +<p>Ruth sah ihn mit Interesse an. Es kam ihr als etwas Besonderes vor, daß +er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten +freute und die grünen Blätter besser fand, als all die wunderschönen +weißen Blüten. Die Schulmädchen, die sie kannte, besaßen zwar +meistenteils auch Mütter, aber die pflegten gesund zu sein, und nie +hatte sie gehört, daß sie sich derentwegen auf den Sommer freuten, +sondern immer nur wegen der Ferien. Und dann waren es Mädchen. Dies +hier aber war ein Junge.</p> + +<p>Sie betrachtete Jonas genauer, und er gefiel ihr sehr gut. Und auch er +sah jeden Augenblick zu ihr hinüber, und auch sie gefiel ihm über die +Maßen.</p> + +<p>»Ist sie sehr krank?« fragte sie nach einer Weile zaghaft.</p> + +<p>»Nicht sehr. Sie kann nur nicht aufstehen, — schon viele Jahre nicht;« +belehrte er sie, »wenn sie das thun will, dann nimmt Papa sie in die +Arme und trägt sie. Das kann er so prachtvoll. Manchmal hat sie auch +Schmerzen, und weint. Und dann muß Papa immer bei ihr sein, und das +hilft ihr.«</p> + +<p>Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu, wo die kranke Frau +lag, und wo er war, der sie trug, und der ihr half, wenn sie Schmerzen +hatte.</p> + +<p>»Hinter diesem Fenster,« sagte Jonas und wies mit der Hand über die +Terrasse nach dem Wohnzimmer; »da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen +hineingetragen worden.«</p> + +<p>Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu +sehen, der ihnen den Rücken zukehrte. Und nun wandte er sich langsam +um.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p> + +<p>Ruth löste sich ein wenig hastig vom Stamm, an dem sie lehnte. »Jetzt +will ich hineingehen,« sagte sie.</p> + +<p>Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten +sehen, war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und +hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt, wo sie +mit Jonas stand und plauderte.</p> + +<p>Klare-Bel lag neben dem Fenster, mit einer mühsamen und kunstvollen +Handarbeit beschäftigt, die darin bestand, an einer schadhaft +gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen. Man nannte diese +Arbeit in Holland »Maazen«. Und wer es ernst damit nahm, der wollte das +»Maazen« bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt +wissen.</p> + +<p>»Kommt Ruth noch immer nicht herein?« fragte sie nach einer langen +Pause.</p> + +<p>Er zog die Uhr.</p> + +<p>»Nein. Noch fehlen einige Minuten an der Zeit,« bemerkte er einsilbig.</p> + +<p>»Das ist doch eigentlich kein Grund, nicht hereinzukommen, wenn sie +einmal da ist. Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und +plaudert mit Jonas, als daß sie im Zimmer sitzt und lernt, Erik. Das +ist am Ende auch ganz natürlich.«</p> + +<p>Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre +Handarbeit nieder. Erik konnte das »Maazen« nicht leiden. Er +behauptete, es verdürbe die Augen, und sogar den Charakter.</p> + +<p>»Bitte, hör' jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf,« sagte er und +nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand, »ich weiß nicht, — das Zeug +macht nervös.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span></p> + +<p>Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr.</p> + +<p>Ihm war die Ahnung gekommen, daß es doch nicht so ganz von selbst +gelingen werde, bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen, wie er +es sich an jenem wundersamen Maiabend gedacht. Sie wollte durch +keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung seinerseits in ihrem +selbständigen Traumleben gestört werden, und erhob sie ihn auch zum +Helden ihrer »allerschönsten Märchengeschichte«, so mußte er sich dabei +doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen, — +sonst entglitt sie ihm leise wieder, so leise und traumhaft, wie sie in +sein Leben gekommen war.</p> + +<p>Das durfte nicht sein; der Erzieher in ihm litt es nicht, daß ihm +mißlinge, was er sich mit Ruth vorgenommen hatte. Er wußte: er würde +nicht eher ruhen, als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte. Aber +welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben!</p> + +<p>Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige +Freude. Freude über den Kampf, der ihm mit Ruth bevorstand. Erik, +der andre weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte +gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein +jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte.</p> + +<p>Er wandte sich dem Garten zu.</p> + +<p>»Jetzt kommt sie!« sagte er, und wirklich, es klang wie ein Seufzer der +Erleichterung.</p> + +<p>Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf. +»Nun, viel Erfolg, Erik! Vergiß nur nicht, daß wir um neun Uhr den Thee +nehmen. Du wirst sie hungrig und durstig machen, denke ich mir.«</p> + +<p>Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> und öffnete schon +von innen her die Thür, als Ruth kam und anklopfen wollte.</p> + +<p>»Endlich!« bemerkte er, während sie eintrat, »weißt du, Ruth, was meine +Frau soeben meinte? Sie meinte, du seiest gewiß viel lieber mit Jonas +draußen im Garten, als bei mir hier in der Stube. Was sagst du dazu?«</p> + +<p>Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in +den Ledersessel, der am Fenster stand. Dann erwiderte sie mit +niedergeschlagenen Augen: »Ich bin doch gekommen, weil ich wollte, — +nur weil ich's wollte. Daß Jonas auch hier ist, wußte ich doch gar +nicht. Das ist ja nur Zufall. Den fand ich hier.«</p> + +<p>Er wußte nicht gleich, was ihn an der Antwort, die keine war, +überraschte. Sie betonte ausschließlich, daß sie ganz aus freien +Stücken hier sei. Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar +nicht ein.</p> + +<p>»Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt, mein liebes Kind,« +sagte er, an seinen Schreibtisch tretend, und legte einige Hefte und +Bücher zurecht, »denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehen +wirst du ja in der Folge nur, wenn du ›willst‹, das heißt, wenn +Stimmung und Laune dir zufällig danach stehen. Hier hingegen, wo du +freiwillig hergekommen bist, kann es doch nicht ganz so bleiben. Hier +wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten, das vom +Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist. Also auch etwas, wovon +du manchmal denken wirst: ›ganz so möchte ich's nicht, — ganz so +meinte ich's nicht, — dies da soll anders sein, — das da soll heute +nicht da sein‹. Ist es nicht so?«</p> + +<p>Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> Gesicht. Es war +ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen, was er da sagte. +Aber daß er das wissen konnte, kam ihr sehr unangenehm vor.</p> + +<p>Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze, die sie aufbehalten +hatte, vom Haar.</p> + +<p>»Nun, Ruth, gestern hast du mich nicht ansehen wollen, und heute willst +du mich nicht anreden. Hältst du so unsern Vertrag? Und ich hoffte +bestimmt, daß du mir viel erzählen würdest. Viel — alles. Alle deine +schönsten Geschichten.«</p> + +<p>»Nein,« erklärte Ruth, »nie und nimmer. Ich will nichts erzählen. Ich +will alles für mich allein behalten.«</p> + +<p>»Du Geizhals!« sagte er und lachte, »das ist sehr schlimm. Ist es nicht +schlimm, wenn man einen zu Gaste geladen hat und dann die Hausthüre +vor ihm zuschlägt? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr, Ruth. +Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt? Hast du das vergessen? +Nun sind sie mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will. +Ich kann sie dir aus dem Kopf herausnehmen und für mich ganz allein +behalten.«</p> + +<p>»Ach nein!« fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach +ihrem Kopf, »das geht ja gar nicht. Es geht nicht, wenn ich nicht will.«</p> + +<p>»Du spricht so viel von deinem Willen, Ruth. Und daß du nur hier bist, +weil du gerade willst. Aber weißt du denn eigentlich auch, <em class="gesperrt">wozu</em> du es +willst?«</p> + +<p>Sie stutzte und blickte auf. Als sie nicht gleich eine Antwort fand, +fügte er hinzu: »Ich weiß es für dich: du wolltest eben diesen Willen +klären und erziehen lassen von jemand, der dich lieb genug dazu hat. +Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p> + +<p>Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels, und ihr Gesicht +wurde noch ablehnender. »Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte!« +dachte Erik, sie betrachtend. Aber hinter diesem Visier arbeitete eine +steigende Erregung in ihr. Die passive Stimmung, in der sie heute +hergekommen war, hielt unter Eriks Andrängen nicht stand, aber noch +weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten +Abends wieder zu erhaschen. Sie verschloß und verbarg sich daher +instinktiv vor ihm, wie vor einer Macht, die man sich erst genau +ansehen muß, ehe man sich mit ihr einläßt.</p> + +<p>»Alles ist heute anders!« murmelte sie.</p> + +<p>»Es wird immer anders sein, als du es dir willkürlich ausmalst,« +entgegnete er in ruhigem Ton, »und das soll es auch, Ruth! Es soll zu +ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie. Siehst du, auch ich habe +mir etwas Schönes ersonnen und geträumt, das ich in dir verwirklicht +sehen möchte. Ich versprach dir doch: für die Geschichten, die du +mir <em class="gesperrt">erzählen</em> wolltest, solltest du eine durch mich <em class="gesperrt">erleben</em>. Die +Allerschönste — sagtest du nicht so? Mit dem Erzählen mußt du es nun +halten, wie du willst, aber mit dem Erleben wirst du es halten, wie +ich will. Es war mein Geschenk für dich. Und wenn du heute auch nichts +davon wissen willst, so wirst du es doch trotzdem annehmen müssen.«</p> + +<p>Ruth wurde unruhig. Sie kannte nur zwei Sorten Menschen, und daß sie +Erik in keiner von beiden unterbringen konnte, ängstigte sie. Die eine +Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung, die ihr meistens +störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt; die +andre bestand aus den fremden Menschen,<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> die sie, wie Schattenbilder, +aus der Ferne betrachtete, und denen sie die äußere Anregung zu ihren +Phantastereien entnahm. Zu denen konnte Erik nicht gehören, denn die +thaten nur, was sie wollte, — sie <em class="gesperrt">waren</em> ja nur, was sie wollte. Er +hingegen war eine Wirklichkeit, die auf sie eindrang. Sie konnte ihn +aber auch nicht abwehren, wie sie die Ihrigen von sich abwehrte, denn +es war etwas da, was sie mächtiger reizte und anregte, als es alle +Schattenbilder zusammen gethan.</p> + +<p>Sie sah ihn scheu an.</p> + +<p>»Ich will lieber ein andres Mal kommen,« bat sie leise, »ich kann heute +nicht lernen. Ich kann's nicht.«</p> + +<p>»Doch! doch!« entgegnete er beschwichtigend, »du kannst es. Und im +Grunde willst du es auch. Aber wir können nicht in jedem Augenblick den +Kampf darum von neuem aufnehmen. Der muß ein für allemal entschieden +werden. Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.«</p> + +<p>Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich: »Dann kann ich auch +fortbleiben.«</p> + +<p>Es war ihr ganz spontan, wider alle Ueberlegung, entfahren. Aber nun +half es nichts. Nun war es heraus.</p> + +<p>Erik sah, wie sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand, +und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn. Ihm kam es vor, als habe +er sie mißhandelt, und sein Blick wurde sehr weich.</p> + +<p>Aber er dachte nicht daran, dieser weichen Regung nachzugeben. Er +wünschte, die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag +zu bringen. Am Gelingen zweifelte er nicht. Und voll Freude fühlte er: +war es erst überstanden, so konnte er alle Strenge in die<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Rumpelkammer +werfen. Dann war er Ruths für alle — alle Zeit sicher.</p> + +<p>»Gewiß kannst du fortbleiben,« bestätigte er ruhig, »wenn es sich +für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat, als um einen solchen +Zeitvertreib, wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt. Weißt du +noch, was du von dem Fremden sagtest, den ihr in euer kindisches Spiel +hereingezogen habt? ›Wenn er mir nicht gepaßt hätte, wenn er aus der +Rolle gefallen wäre, die ich ihm zugewiesen, dann hätte ich mir einfach +einen andern suchen müssen, — ich hätte die Augen zugemacht und wäre +fortgelaufen.‹ Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so, — — +dann laufe nur fort.«</p> + +<p>Während er sprach, fühlte er beständig das große Mitleid. Sie sah nur +ein einziges Mal auf, und wie sie seinem weichen Blick begegnete, da +war es, als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über, — +als suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem +Leiden befreien, ihm weh thun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die +Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben, +und da nahm ich ihn mir!«</p> + +<p>Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und +drückte sie zwecklos in den Händen zusammen.</p> + +<p>»Ich will nach Hause gehen!« wiederholte sie, und zitterte am ganzen +Leibe.</p> + +<p>»Wie du willst.«</p> + +<p>»Also adieu,« sagte sie, und ging langsam, wie gelähmt, der Thüre zu.</p> + +<p>»Adieu, mein Kind.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> + +<p>Sie hatte Mühe, den Thürgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände +waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Thür offen stand, und +sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Thür mit +brennenden Augen ins Zimmer zurück.</p> + +<p>Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster. Er hatte +den rechten Arm auf die Lehne desselben gestützt und die Hand über die +Augen gelegt.</p> + +<p>Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein +Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich +überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, — um sie leide, die ihn +verletzt hatte.</p> + +<p>Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dieses Gefühl war seltsam und +berauschend; es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein +Glück anfühlte.</p> + +<p>Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst +der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht, +sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen.</p> + +<p>Wer Ruth über den Flur gehen sah, der konnte meinen, sie sei trunken. —</p> + +<p>Um neun Uhr — Gonne hatte bereits den Thee und die gerösteten +Brotschnittchen auf den Tisch gebracht — kam Erik endlich in das +Wohnzimmer herüber.</p> + +<p>»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in +sein Gesicht, »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte +doch, daß sie mit uns bleiben sollte?«</p> + +<p>»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht +weiter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> + +<p>Aber Jonas that es statt ihrer.</p> + +<p>»Ruth habe ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald +wieder her, Papa?«</p> + +<p>»Bald!« sagte dieser.</p> + +<p>»Denke dir nur, sie wollte es mir nicht sagen,« plauderte Jonas weiter, +»ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da +sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so, +— sie sah aus, als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte.«</p> + +<p>»Was geschenkt?« wiederholte Erik, und setzte das Theeglas, das er zum +Munde führen wollte, hart auf das Tischtuch nieder.</p> + +<p>»Ja, ganz gewiß, gerade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht, +und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.«</p> + +<p>»Es ist ihr doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt.</p> + +<p>»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser habe ich ihr vom +Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. — Ich habe ihr aber +noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu.</p> + +<p>»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnte +es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.«</p> + +<p>»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas +geschenkt bekommen hätte.«</p> + +<p>Er sprach in leichtem Ton, doch beschämte ihn, was Jonas erzählt +hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich +zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte und selbst, daß sie weglief, +begriff er ganz<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er +nicht. War es denn möglich, daß sie gern, — mit Freude, fortging? — +— Und daß sie nicht wiederkam? — —</p> + +<p>Während sie noch beim Thee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter +heraus. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die +dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah. Ein Sturmwind +fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein, +den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand +unvermittelt. Und gleich darauf prasselte, unter grellzuckenden Blitzen +und gewaltigen Donnerschlägen, ein heftiger Platzregen nieder.</p> + +<p>»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! bitte, Jonas, iß nicht mehr! +Ach, Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen +schloß.</p> + +<p>Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in +den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück. +Die Gewitterangst war etwas, das sie überkommen hatte, seitdem sie +hilflos dalag. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik +würde es an ihr auch wohl nicht geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld +damit.</p> + +<p>»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf +einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!«</p> + +<p>»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und +legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?«</p> + +<p>Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände.</p> + +<p>Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> sich Blitz und Schlag. +Auf Augenblicke sah der Garten aus wie unter bengalischer Beleuchtung, +und im bläulichen Scheine konnte man die vom Sturm losgerissenen +Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinander fliegen sehen.</p> + +<p>Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal +zusammen.</p> + +<p>»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, ehe es losging?« fragte sie.</p> + +<p>»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,« +beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei +diesem Unwetter nicht zu holen braucht.«</p> + +<p>Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig +nachließen, und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach +niedertrommelte.</p> + +<p>»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von +ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte +Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte.</p> + +<p>Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und +blickte, über deren Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus. +Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte +hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen.</p> + +<p>»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen +Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so wie Ruth es gesagt hat! wie leid +wird es ihr thun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon +wieder blau, Papa.«</p> + +<p>»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel, »solche Aufregung<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> und Verwirrung +draußen ist schrecklich. Man wird förmlich mit hingerissen.«</p> + +<p>»Ja, das ist nichts mehr für dich, meine Arme,« sagte Erik, »es gab +aber Zeiten, wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des +Meeren aushalten mußtest, ohne daß ich bei dir war.«</p> + +<p>»Das war auch entsetzlich, Erik, ganz entsetzlich war es,« versicherte +sie zusammenschaudernd, »damals, als du mit den Leuten hinausfuhrst, +wenn ein Schiff in Gefahr war. Und das eine Mal, weißt du, wo du ganz +allein es warst, der den Niels und die andern dazu beredete. Denn die +hatten ja auch Frau und Kind. Aber das hast du immer so gut gekonnt: +die Leute bereden. ›Es wird gehen!‹ sagtest du ihnen, und da glaubten +sie dir.«</p> + +<p>»Du glaubtest mir ja auch, Bel, wenn du allein Zurückbleiben mußtest, +und wenn es dir schien, als ginge das nicht.«</p> + +<p>»Ja, Erik. Manchmal dachte ich, der Schreck würde mich töten. Aber dann +sagtest du so zuversichtlich: ›Wenn ich nach Hause komme, naß und müde, +Bel, dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen, und +beide vergnügt und gesund.‹ Nun, und da mußte es wohl so sein.«</p> + +<p>Er schwieg. Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht, in welcher er, aus +wirklicher Lebensgefahr heimkehrend, seine Frau gefunden hatte, wie +sie, das Kind neben sich, mitten in der kleinen Stube auf den Knieen +lag und laut betete.</p> + +<p>Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen +geblieben, denn noch nie hatte er sie beten sehen. Als sie heirateten, +waren ihm unter ihren<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände +gefallen, und wie sie ihn darin blättern sah, fragte sie ihn: »Glaubst +du an das, was darin steht?« Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt +und geantwortet: »Nein, Bel.« Seitdem war dieser Gegenstand nur noch +ein einziges Mal, nach Jahren, im Gespräche wieder berührt worden, +und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen, daß seine Frau, +ohne es auch nur selbst recht zu merken, ihren Glauben gar nicht mehr +besaß. Auf seine Frage, wie denn das geschehen sei, hatte sie mit ihrem +freundlichen Gleichmut verwundert erwidert: »Ja, Erik, wenn es doch gar +nicht so <em class="gesperrt">ist</em>, — was kann es dann noch nützen, daran zu glauben?«</p> + +<p>Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln +und seinem nassen Wollwams hereintrat, da hörte sie auf zu beten und +streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen. Er hob sie +von den Knieen auf und küßte sie. »Thust du <em class="gesperrt">das</em>, Bel, wenn ich nicht +bei dir bin?« fragte er sie leise.</p> + +<p>»Wenn du nicht bei mir bist, Erik!« sagte sie weinend, »denn dann, +scheint mir immer, muß ich es thun!«</p> + +<p>Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde. Kurz darauf that sie den +gefährlichen Sturz, der ihr die Gesundheit kostete, und das Kindchen +wurde tot geboren.</p> + +<p>Als Gonne mit einer brennenden Lampe hereinkam, fuhr Erik aus seinen +Gedanken auf.</p> + +<p>»Ich möchte jetzt zu mir hinübergehen,« bemerkte er und küßte seine +Frau auf die Stirn, »ich habe noch Schularbeiten für morgen. Sobald du +müde wirst, mußt du mich rufen lassen.«</p> + +<p>Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel. Nur<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> von ein paar +rosenroten Wölkchen, die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden +hatten und nun mit heiterm Leuchten selbständig auf einem breiten +Stück Himmelsblau herumschwammen, fiel ein schwacher Schein durch die +Fenster. Man konnte in ihm den Schreibtisch, den Bücherschrank, das +alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen.</p> + +<p>Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen.</p> + +<p>Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt, daß auf dem +Ledersessel am Fenster Ruth säße. An Halluzinationen konnte er doch +nicht leiden.</p> + +<p>Mit einem Gefühl des Aergers über sich selbst schloß er hinter sich +die Thür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter, um Licht zu +machen.</p> + +<p>Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin. Auf dem Sessel +saß wirklich jemand.</p> + +<p>»Ich bin es!« sagte eine klägliche Stimme.</p> + +<p>»Ruth!« rief er laut.</p> + +<p>Sie war es. Durchnäßt bis auf die Haut, in Kleidern, von denen das +Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte, und die an einer Seite +zerrissen niederhingen. Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander.</p> + +<p>Erik hatte sie in seine Arme gerissen und betastete sie besorgt und +erregt, mit liebkosenden Händen, — Brust und Arme und das verworrene +Haar, das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte.</p> + +<p>»Wann — wann, — von wo bist du gekommen? Warst du denn nicht zu +Hause?«</p> + +<p>»Ich war nicht zu Hause,« sagte sie zaghaft und schmiegte sich +frostbebend an ihn; »ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren. +Und hergelaufen. Gerade<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> als es losging. Ich will nicht nach Hause,« +fügte sie flehend hinzu, »mich friert so!«</p> + +<p>»Mein Liebling, du sollst nicht nach Hause! Du sollst hier bleiben! +Aber wie lange mußt du hier schon sitzen? Wie konntest du das nur thun? +Und es hat dich doch niemand an der Thür auf der Terrasse läuten hören?«</p> + +<p>»Ich habe nicht geläutet. Ich schämte mich. Ich bin hier in das Fenster +geklettert. Aber es ging schwer,« gestand sie, und Mund und Augen +lachten übermütig zu ihm auf.</p> + +<p>»Und dann? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingetreten wäre?«</p> + +<p>»Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen!« erklärte sie +schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene +Katze. Und dann sagte sie ganz leise: »Denn vor den andern konnte ich +es nicht sagen. Und doch mußte ich es sagen. Deshalb kam ich ja zurück! +Ich mußte sagen: Ich will alles thun, was ich soll.«</p> + +<p>Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof geschickt worden, +um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben, daß sie draußen übernachten +müsse. Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt, welches +Gonne eilig für sie hergerichtet hatte. Dann bekam sie heißen Thee zu +trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer.</p> + +<p>Jonas fühlte sich sehr stolz, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß +er Ruth das wichtigste Möbel, das der Mensch besitzt, sein Bett, +abgetreten habe. Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend +in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus, dessen Polsterwerk<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> +an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch +war Jonas zu aufgeregt, um bald einzuschlafen, und alle Augenblicke +guckte er durch die Thürritze und fragte, was denn Ruth jetzt wohl +mache.</p> + +<p>Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr durcheinander.</p> + +<p>»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt +mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich. +Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so +wunderschön zum Kneten!«</p> + +<p>Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg.</p> + +<p>Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie +mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es +keine eigentlichen Fieber-Phantasien, sondern sie enthielten einen +deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht +oft so mit sich selbst spräche, ohne daß ein Mensch es hörte, und daß +jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es +unbewußt vor Menschenohren zu thun.</p> + +<p>Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem +Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise, +als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen +ihren Willen des Weges geschoben worden, — mit Gewalt hinausgetrieben +in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen, +dunkeln Weg dahingehen, während Hagel und Wind ihr entgegentosten, und +ihre Füße im tiefen, durchweichten Lehmboden stecken blieben.</p> + +<p>Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild:<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> der Versuch vor +etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht.</p> + +<p>»Ich laufe und laufe, und bleibe immer am Fleck!« klagte sie unruhig, +und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte.</p> + +<p>Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, zu seinem Schulgang +fertig angekleidet, zu ihr hereintrat, saß sie aufrecht im Bett, in +einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und +blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen.</p> + +<p>Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe +hereingeschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von +seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung +abgerissen.</p> + +<p>»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich.</p> + +<p>»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen, +sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich. +Wollten wir nicht zusammen arbeiten?«</p> + +<p>»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehen, +so daß die Blumen von der Decke glitten.</p> + +<p>»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!«</p> + +<p>»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die +Augen schloß.</p> + +<p>Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls.</p> + +<p>»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er +dazwischen, »dann finde ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz +gesund. Nicht wahr?«</p> + +<p>»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen.<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Aber auf ihrem +Gesicht war ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte.</p> + +<p>Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn.</p> + +<p>»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh! +Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich +nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn +nicht mehr gern bei mir? Thut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?«</p> + +<p>Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an.</p> + +<p>»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie. —</p> + +<p>Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden +bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten +Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch, +etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo die Tante, im +Morgenhäubchen, sich noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich +ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im +Begriff, wie allmorgendlich, ins Ministerium hinunterzugehen, saß in +Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten +Glase Thee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften besorgten Fragen +nach Ruth entgegen. Erik erzählte, wie sie auf dem Heimweg umgekehrt, +ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei.</p> + +<p>»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf +sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe, +»wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn +Ruth einmal unerwartet vom Warmen ins Kalte gerät, da<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> schaudert ihr +die ganze Haut und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz +entsetzlich fürchten.«</p> + +<p>Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten +Augen Thee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben.</p> + +<p>»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal +eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.«</p> + +<p>Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf.</p> + +<p>»Hat sie <em class="gesperrt">dazu</em> Anlage gezeigt?« fragte er langsam.</p> + +<p>»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist +schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in +der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid mit bloßem Halse. Es +war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest +lieber davon still sein.«</p> + +<p>»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum +saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie +ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern. +Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe +auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein. +Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.«</p> + +<p>»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, — »das, was +die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war +nämlich als Kind fest überzeugt davon, daß in den Raupen, Schlangen und +allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer +voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In +solchen Dingen ist<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen, und auch +geblieben. Sie hat dasselbe Grauen unvermindert noch heute.«</p> + +<p>»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie +daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik.</p> + +<p>»Das hätte es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein +Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht +behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen, wenn +man ihr nützen will.«</p> + +<p>Er erhob sich, um Abschied zu nehmen.</p> + +<p>Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen +Cigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich +zu Erik: »Wissen Sie, — ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die +Ruth bei Ihnen ist.«</p> + +<p>»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik +einfach.</p> + +<p>»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn herantrat, +»ich glaube, gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor +die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die +rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: <em class="gesperrt">nach Hause</em>.«</p> + +<p>»Aber, ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach +deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.«</p> + +<p>»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich. »Nein, gut +behandelt, natürlich, wie sollte es denn anders sein? Aber wozu sollen +wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es +verstehen. Neulich<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> fühlte ich's schon, heute weiß ich's ganz deutlich. +Ich <em class="gesperrt">freu'</em> mich ja auch an ihr, — ja, das thu' ich, weiß Gott, — +aber im übrigen: das Kind <em class="gesperrt">hat</em> nichts davon. Das ist es nur, was ich +meine.«</p> + +<p>»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar +sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als +ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und +wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege +sie.«</p> + +<p>Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebsten nie +wiedergegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan, +für den er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren beinahe Freunde geworden. +—</p> + +<p>Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen +Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück +gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht +hatte, schützte sie vor der Morgensonne.</p> + +<p>Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber +entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die +letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch +den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die +frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die +inmitten derselben ruhte.</p> + +<p>»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte +liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du +weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die +Nacht krank<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß +du nun zu mir kommen kannst.«</p> + +<p>Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansehen konnte, wie +rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen sein +mochte. Und, einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und +küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an, +wie den kostbarsten Gegenstand hier im Hause.</p> + +<p>»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt +ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?«</p> + +<p>Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom +Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum +ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt.</p> + +<p>»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit +emporgezogenen Knieen auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens, +aus dessen geborstener Wasserurne über ihr ein langes, dünnes +Schlinggewächs sich schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es +am allerschönsten in der ganzen Welt!«</p> + +<p>»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend, +fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer +ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher +gewohnt haben, — auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon +einmal am Meer gewesen?«</p> + +<p>»Ja, mehreremale,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wäre ich gerade da +gewesen, wo Sie gewohnt haben, — auf der kleinen Insel. Aber ich wußte +damals nichts davon. Nein, ich wußte es nicht.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p> + +<p>Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor, +daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie +spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so +ernsten und bewegten Gesicht.</p> + +<p>»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck +hinzu, »alles, ganz so wie es war. War es wunderschön?«</p> + +<p>Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik +viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten.</p> + +<p>»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an.</p> + +<p>»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier, +trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das +Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.«</p> + +<p>Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nachdem +sie beschrieben, wie dörflich-klein und doch wie wunderbehaglich es +gewesen sei, trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen +Fensterscheiben, die von der Salzluft immer beschlagen waren, — +kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus- und eingingen. +Viele Menschen waren das, — ein ganzes Volk schien es Ruth, — und +immer scharte Klare-Bels Erzählung sie um den einen, den sie in den +Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles +that, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen +Lächeln grüßten.</p> + +<p>Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie +wahrzunehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> ergänzte unbewußt das Bild +bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben +übermalte, die Klare-Bel selbst ihr auf die Palette rieb. Und um dieses +ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und schäumen.</p> + +<p>Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen +knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie +den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie +idealisierte, was sie Ruth beschrieb.</p> + +<p>Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten +Wangen.</p> + +<p>»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar; »ich möchte nichts +andres thun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das +möchte ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!«</p> + +<p>»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch +nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eigenen Erzählung. +Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen, nur von +Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die +sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer, +Ruth. Denn es ist schwer, mit so vielen teilen zu müssen, die alle +von demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in +Anspruch nehmen, — ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß +bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.«</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Das?</em>« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möchte ich lieber nicht. Das +hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen +stehen und alles<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> können, als ob man ein Hexenmeister wär' — das muß +herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf +einmal wäre — und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.«</p> + +<p>Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische +Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie +dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu +wollen, sich einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte.</p> + +<p>Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich +ausgemalt. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch +nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Ringsherum Wasser, so daß +da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können, +nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen darauf. Ich weiß +nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, — und dann etwas +Gewaltiges thun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.«</p> + +<p>Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das +sei es vielleicht so ungefähr gewesen, was ihr Mann einst gewünscht und +erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung +war.</p> + +<p>»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah +Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher +so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das +Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Aerzte, die Reisen, die +Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus. +Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p> + +<p>Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig +sagen konnte.</p> + +<p>»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt wider Willen hervor.</p> + +<p>»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie +du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen. +Sogar in das Schwerste: stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen +sorgen zu dürfen für das Behagen derjenigen, die man liebt. Denn das +ist das Allerschwerste, Ruth.«</p> + +<p>Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes +Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte +es nur, den andern nicht mehr dienen zu können.</p> + +<p>Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen +Fall den andern noch dienen konnte. Was sie so entsetzte, war die +Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß +ein Andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, <em class="gesperrt">seiner</em> Sache zu dienen.</p> + +<p>Es verwirrte sie ganz, daß die sanfte kranke Frau ihr gar nicht leid +that. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid thun, wenn sie +nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik +denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum +Weinen.</p> + +<p>Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen +Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie +sie es hätte behalten mögen, — so klar und blau und ruhig, wie der.</p> + +<p>»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> verstummt war, +»einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb +hast. <em class="gesperrt">Dazu</em> gesund zu sein, und schön und gut und klug obendrein! +Gleichviel, ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, — +daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere. +Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als derjenige zu sein, +dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.«</p> + +<p>»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß +es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätte Gott +es ja schlechter als die Menschen!«</p> + +<p>Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, — +einen tadelnden Blick. Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern +sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth. +Klare-Bel fühlte sich nur sicher, so lange Ruth zuhörte. Sie hörte +so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und +eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als +für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine +Spezialität.</p> + +<p>Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in +den Garten getreten, und man sah ihn, den Schulranzen auf dem Rücken, +zwischen den Bäumen im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein +kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges +Butterbrot, in das er hineinbiß.</p> + +<p>Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und +sagte: »Du, — Sie — haben —,« stockte und wurde rot.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span></p> + +<p>»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn.</p> + +<p>»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr aus dem Rande +des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen. +Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie +alt bist du denn?«</p> + +<p>»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth.</p> + +<p>»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich +sein Gesicht auf, — »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht +mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir +essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,« +fügte er hinzu und brach, im lebhaften Drang sein Brot mit ihr zu +teilen, es in zwei Hälften.</p> + +<p>»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer.</p> + +<p>»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er, »aber das war auch +ein rechtes Glück, weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns +geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen. +Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben +können.«</p> + +<p>»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wäre ich auch fortgegangen,« +bemerkte Ruth tiefsinnig.</p> + +<p>Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte +er schnell. »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar +nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten hindurch fließt ein kleiner +Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern; der +Zaun ist nur niedrig.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p> + +<p>»Nein,« erwiderte sie, »gehe nur hinter das Gehölz. Ich muß jetzt hier +bleiben.«</p> + +<p>»Was willst du denn hier thun?«</p> + +<p>»Ich muß nachdenken.«</p> + +<p>»Nachdenken?«</p> + +<p>Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine +Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf +und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich daran +beteiligen könnte.</p> + +<p>Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knieen +sitzen, die Arme auf die Kniee, und das runde Kinn auf die geballten +Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor +sich auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand, +und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie +wußte ganz genau, wo sie stehen geblieben war, als Jonas kam und sie +aufhören mußte.</p> + +<p>Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne +strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende +Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die +Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig +ihr Lied.</p> + +<p>Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in +goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels +Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen, +halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so +lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, — in einem<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> warmen +Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte +Ruth nicht.</p> + +<p>Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die +sie sonst kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher, +— fast als ob es nur lauter Leiber wären, in denen so gut wie nichts +drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich +nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie +wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, — die sahen viel +schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden, und +so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von +Gedanken.</p> + +<p>Ruth durchwanderte ihre ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage, +fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten darin den einzigen, wenn +er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und +Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stände er ihr ganz allein +gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, — +der <em class="gesperrt">erste Mensch</em> am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und +ein Wunder. Mit innerm Staunen stand sie still vor ihm, als müsse +sie fragen. »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier +herrschen?« Er beschädigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so +stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken +verlor und nur ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas +Besonderes, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei, +wenn sie ihn da dulden sollte.</p> + +<p>Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz, +Licht auf Licht auf ihn zu häufen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p> + +<p>Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich +aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die +Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die +Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald. Sein erster +Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf +haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber +der leidende Ausdruck von heute morgen war völlig aus ihren Kinderzügen +verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik +wohlgefiel, lag in ihren Augen.</p> + +<p>Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur +Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel +sie auf sich zukommen.</p> + +<p>»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen, +meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen +Augenblick länger daliegen.«</p> + +<p>Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und +nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein +Kind an der Brust bettet.</p> + +<p>»Du allzuleichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus.</p> + +<p>Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen +Nacken geschlungen.</p> + +<p>Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die +Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst +Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu thun, was Erik that. Das Mitleid, +das sie<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in +nichts verflogen, — und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen. +Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß die kranke Frau sich nicht als +Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß +sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang.</p> + +<p>Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es heute +zum erstenmal geschah, und daß sie erst gestern hatte weglaufen wollen. +Sie fühlte sich als ein längst hierher gehöriger Hausgenosse, — +zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen.</p> + +<p>»Von deinem Onkel bring' ich dir was mit,« sagte Erik, der sie zu +Mittag neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier +zu bleiben, als du willst. Ich denke, wir antworten ihn vorläufig: den +ganzen Sommer. Was meinst du?«</p> + +<p>Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf +sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen +Bissen gegessen haben.</p> + +<p>Als sie beim Kaffee waren, und die Kinder hinausliefen, blickte Erik +seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?«</p> + +<p>»O Erik! mir gefällt sie gut für dich! Denn sie hat etwas so +Unverständliches, finde ich. Das ist gerade was für dich. Was zum +Raten.«</p> + +<p>»Sie ist ein scheuer Vogel,« sagte er mit einem Lächeln, »und es ist +noch nicht gewiß, ob ich sie eingefangen habe. Eine falsche Bewegung, +— und sie fliegt mir fort.«</p> + +<p>»Ja, Erik, das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend. Es macht +doch unsicher. Förmlich schwindlich<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> würde es mich machen. Wie ein +konfuses Stickmuster.«</p> + +<p>»Unsicher? Nein, Bel, im Gegenteil. Man wird sich wieder dessen bewußt, +was man vermag — <em class="gesperrt">ob</em> man's vermag. Man sammelt die Kraft, — die +vergessene, eingerostete. Und so kommt man endlich wieder zur großen +Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst.«</p> + +<p>»Ja, ja, Erik. Wenn nur alles gut geht.«</p> + +<p>Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern: +»Sorgenmütterchen! nur ein einziges Mal: laß die Sorgen, die grauen! +Mir ist froh. Du sollst es noch sehen: an dem Mädel wächst mir mein +Meisterstück!«</p> + +<p>Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht. Daß er Ruth zu +sich nahm, das war ungefähr so, wie wenn ein Gelehrter eine recht +unentzifferbare Handschrift irgendwo ausgräbt, — meinte sie; an der +liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch. +Es war nun einmal nicht anders: darin steckte sein Talent und sein +Beruf.</p> + +<p>Erik ging fort; er wollte noch nach dem Bahnhof, um zu veranlassen, daß +Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herübergeschafft würden; der +Onkel hatte sie bereits herausgeschickt.</p> + +<p>Klare-Bel lag und dachte nach. Sie zwang sich dazu, an die Zeit zu +denken, die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob. Es war +doch schön, daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von +sanguinischen Hoffnungen. Das war doch besser und natürlicher für ihn, +als diese langen, langen Leidensjahre, in denen nur der<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> <em class="gesperrt">eine</em> Gedanke +ihn erfüllte: wie seine Frau wieder gesund zu machen sei.</p> + +<p>Ein einziger jahrelanger Kampf, — ein schmerzensreicher, gräßlicher.</p> + +<p>Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner +Hoffnungszähigkeit willen, die nicht nachließ, nichts unversucht ließ, +die noch ans Unmögliche anrannte, und mit unermüdlichem Trotz den alten +Kampf immer wieder aufnahm. Es war nicht leicht, denn wegen einer +geringen Herzschwäche durfte bei Klare-Bel die Narkose nicht angewendet +werden. Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis, neuer Qual zu +überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen. Er war in +diesem Kampfe zum Arzt geworden; was er früher aus Lust und natürlicher +Begabung nebenher betrieben, wurde ihm Beruf. Seine ganze, ungeteilte +Kraft warf er hinein: er wollte es nicht glauben, nicht dulden, daß ein +einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten +könne.</p> + +<p>Und nun, da er's glauben und dulden mußte, war es doch hart, alles das +umsonst geopfert zu haben, woran noch seine Hoffnungen gehangen hatten. +Und wenn Ruth ihm nur eine davon zurückgab, wollte Klare-Bel sie +lieben. Es war ja nicht mehr als eine kleine, späte und unscheinbare +Blume für einen ganzen Strauß, den das Leben ihm schuldig geblieben.</p> + +<p>Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden, wie heute, seit dem +Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten.</p> + +<p>Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts. Er +griff nach einem Bund Garn, das<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte, +und hielt es ihr auf den Fingern.</p> + +<p>»Wird Ruth nun bei uns bleiben, Mama?« fragte er.</p> + +<p>»Jawohl. Du hörtest es doch. Freut es dich nicht?«</p> + +<p>»Ueber alles freut es mich. Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst +anstrengen.«</p> + +<p>»Wie meinst du das, mein Kind?«</p> + +<p>»Ich meine: Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich. Ganz +gewiß. Sie ist sehr klug, — meinst du nicht?«</p> + +<p>»Das kann ich unmöglich wissen. Aber was ist das für ein Unsinn, Jonas. +Weil Papa dich lieb hat, will er ja, daß du dich mehr anstrengst und +besser vorwärts kommst.«</p> + +<p>»Ach, Mama, ich strenge mich schon an so sehr, wie ich kann. Ich komme +ja auch vorwärts. Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen. Er +ist der strengste Lehrer bei uns. Sie fürchten ihn alle. Aber ich am +meisten. Von mir verlangt er am meisten.«</p> + +<p>»Darüber solltest du froh sein. — Mach nur jetzt keine +Eifersüchteleien, Jonas; hörst du?«</p> + +<p>Da lachte er über das ganze Gesicht, scheinbar völlig unmotiviert, so +daß er wirklich einfältig aussah.</p> + +<p>»Nein, Mama, das thue ich gewiß nicht. Wenigstens nicht so, wie du es +meinst. Aber wenn es Ruth einfallen sollte, — Papa lieber zu haben als +mich — —«</p> + +<p>»Aber Jonas!«</p> + +<p>Er ließ das Garn vom Finger gleiten, so daß es fast in Verwirrung +geriet.</p> + +<p>»Verzeih, Mama. Ich bringe es gleich wieder in Ordnung. — Weißt du, du +hattest eben ganz recht, als<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> du sagtest, ich solle nur froh sein, daß +Papa so viel verlangt. Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer, als es +ist. Sie wird das noch merken. Und ich werde nie etwas Unangenehmes von +ihr verlangen.«</p> + +<p>»Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge!« sagte Klare-Bel +ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an. Er machte ein ganz +treuherziges Gesicht. Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen +verkrochen. »Wenn Papa so was hörte. Und da wunderst du dich noch, wenn +Papa Ruth dir vorziehen sollte.«</p> + +<p>»Ich wundere mich ja gar nicht, Mama. Das kann ich ihm doch nie im +Leben übelnehmen. Wie sollte Ruth ihm denn nicht besser gefallen als +ich?«</p> + +<p>»Wo steckt Ruth nur eigentlich?«</p> + +<p>»Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen, wo Gonne noch +herumwirtschaftet. Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten, sagt sie.«</p> + +<p>Als Erik vom Bahnhof zurückkam, und Ruths Kopf oben aus dem offenen +Fenster herausschaute, stieg er zu ihr hinauf. Das kleine, nach +hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung. Außer dem heute +beschafften Bett und einer großen Holzkiste, die durch zierlich +gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer +wirklichen Waschtoilette bekommen hatte, gab es jedoch hier noch +nicht viel zu sehen. Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem +Oelanstrich machte sich bemerklich.</p> + +<p>Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett, zu dessen Seiten schon +kleine weiße Gardinen niederhingen; die Leiter lehnte noch daneben. +Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der +Terrasse, so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast +Ruths Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> berührten. Man sah von hier oben nur in die Wipfel der +Bäume, und das, fand Ruth, sah lustig aus: wie ein grünes rauschendes +Gewoge, von dem man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne +Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer darin nisten! Und +unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei +vorjährige Schwalbennester.</p> + +<p>Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers +bemerkte, fing er an zu lachen.</p> + +<p>»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder, +die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Thür +stehen, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß. +Meinst du nicht, Ruth?«</p> + +<p>»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast +übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht +fertig, und das ist das schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst +fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich es haben will.«</p> + +<p>»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er +lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster; »als wir zuerst aus dem +Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unsrer Stadtwohnung +auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte +so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen.«</p> + +<p>Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an.</p> + +<p>»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer +gewesen sein, — da von der kleinen Insel weg — und hierher; weg vom +Meer und von all den vielen Leuten?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p> + +<p>Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang +sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich +Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten.</p> + +<p>»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt +es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, — schlimme kleine +Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.«</p> + +<p>»Ach, — die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den +Achseln, »die sind's nicht wert.«</p> + +<p>»Auch du?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an.</p> + +<p>»Ja, auch ich,« meinte sie treuherzig.</p> + +<p>»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig, +Ruth. Das ist nicht gut.«</p> + +<p>»Warum ist nun das auch wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut.</p> + +<p>»Weil es nicht aus dir selbst herauskommt, Mädel. Nicht aus deiner +Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die +er sich verrenken muß. Das sollst du nicht thun.«</p> + +<p>Sie erwiderte nichts darauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre +Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, das sie nicht anzubringen +wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh +aus. In den Augen — und überhaupt. Warum?«</p> + +<p>»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst.</p> + +<p>»Mich! aber all die andern?«</p> + +<p>»Wen denn, Ruth?«</p> + +<p>Nun hielt sie es nicht länger aus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p> + +<p>»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht +wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres thun zu dürfen, +etwas viel, viel Größeres, — so groß wie ein Meer mit allen Schiffen +darauf,« versuchte sie es auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne +es zu merken, erregt an seiner Uhrkette.</p> + +<p>Er sah erstaunt auf sie nieder.</p> + +<p>»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er +eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es +klar sagen können. Nun?«</p> + +<p>»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine +Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber, — am Vormittag.«</p> + +<p>»Mit meiner Frau?«</p> + +<p>Ruth nickte.</p> + +<p>»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so +wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.«</p> + +<p>»So. Thut sie das? Ader was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und +sein Blick war forschend und gespannt.</p> + +<p>»Alles. Und da, — ja, da schien es mir so ganz entsetzlich, — so +ganz unmöglich schien es mir, daß nichts daraus geworden ist. Aus all +den großen Plänen nichts geworden,« sagte sie leidenschaftlich, und +ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas +zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben +soll. Es kann ja nicht so bleiben.«</p> + +<p>Sie sprach beinahe zornig, und in ihren Augen standen große Thränen.</p> + +<p>Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft +hin über ihr loses weiches Haar, und<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> als Ruth aufblicken wollte, da +glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen. +Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel, +und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zu Mute. Er wußte, +daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam; weder die +leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des +Bedauerten war seiner Frau möglich. Noch nie, seit er sich verheiratet, +hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den +Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn +seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Thränen und härmte sich um +diese Enttäuschungen, als seien es ihre eigenen.</p> + +<p>Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf +tiefer, und ihre Hand sank von seiner Uhrkette.</p> + +<p>»Ich will es gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend.</p> + +<p>Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen.</p> + +<p>»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,« +versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft, +»niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen, +— und nun gar Kümmernisse, mein Kind, — solche kindischen und +phantastischen Kümmernisse.«</p> + +<p>Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das +Gesicht im Schatten.</p> + +<p>»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?«</p> + +<p>Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte +sehen, daß ihr an dieser Geschichte<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> nicht allzuviel lag, und daß sie +sich als Kind behandelt fühlte.</p> + +<p>»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein +großes, weites Feld zu bebauen, — ein Feld, wohl so groß wie ein +Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es +noch wenige, — viel zu wenige. Aber es kam anders, als er es sich +gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht +mitarbeiten. Nur ganz fern, in einem äußersten Winkel desselben, wies +man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und +Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.«</p> + +<p>Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm +aufgeschlagen. Groß, ungeduldig hingen sie an seinen Lippen. Ihre ganze +Seele war in diesen Augen.</p> + +<p>»Und da —?« fragte sie atemlos.</p> + +<p>»Und da,« fuhr er fort, »fand er eines Tages unter seinen Kohl- und +Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze. Von irgendwoher +mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein. Es war nur +ein unscheinbarer, zarter Trieb, dem man noch nicht ansehen konnte, +was darin steckte. Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen +auswachsen. Und wenn das gelang, — wenn ein guter Gärtner an diesem +Bäumchen unablässig seine Dienste that, und wenn das Bäumchen sich +willig behandeln und biegen, pfropfen und beschneiden ließ, — dann, — +ja, dann konnte es am Ende seltnere Früchte tragen, als irgend etwas, +was sonst auf dem Feldwinkel wuchs.«</p> + +<p>»Bin ich das Bäumchen?« fragte sie naiv und glitt leise vom +Fensterbrett.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p> + +<p>Er antwortete nicht, aber er zog sie näher an sich, so daß ihr Haar +seine Schultern berührte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der kein +Lächeln war und kein Ernst, und doch wie ein gesteigerter Abglanz von +beiden, der einer Ekstase glich. Er erinnerte Erik plötzlich an jenen +Aufsatz mit der Ueberschrift: »Seligkeit!« Zum erstenmal erinnerte +ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den +geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft.</p> + +<p>»Möchtest du ein solches Bäumchen für den Gärtner werden, Ruth?« fragte +er sie mit gesenkter Stimme.</p> + +<p>Sie atmete tief auf.</p> + +<p>»Noch lieber möchte ich der Gärtner werden,« sagte sie unerwartet, +»aber es ist vielleicht fast dasselbe.«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> + +<h2>III.</h2> +</div> + +<p>Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach wurde, fanden Erik und +Ruth sich im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden +zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit +ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ.</p> + +<p>Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da, und stand, ihn +erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen +Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur +käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so +übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, — als Lehrer +fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur +vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und +die alte Schüchternheit.</p> + +<p>Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat +Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann +schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie +eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur +eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> und +Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte. +Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie +sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in +die Morgenarbeit über.</p> + +<p>Als Erik heute morgen die Thür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen +Augenblick überrascht stehen. Vor den Fenstern waren die weißlackierten +Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur +durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit +trübem Schein auf dem Schreibtisch. Vor demselben saß Ruth, umgeben von +Heften und Büchern, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken.</p> + +<p>Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das +Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam +er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt +emporfuhr.</p> + +<p>Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und +blickte sie aufmerksam an.</p> + +<p>»Du hast geweint. Worüber?«</p> + +<p>Sie errötete und zauderte einen Augenblick.</p> + +<p>»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden +Augen.</p> + +<p>Er lachte.</p> + +<p>»Du bist nicht dumm. Habe ich das gesagt? Wenigstens nicht +hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst du es auch nicht +zu thun.«</p> + +<p>Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand.</p> + +<p>»Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten. Nie ohne mein +Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> abends deine Arbeiten durchgesehen +habe, dann sollst du aufhören.«</p> + +<p>»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die +ganze Nacht durch. Im Gehölz rief ein Kuckuck; die Drosseln vor meinem +Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.«</p> + +<p>Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, in dem sie geschrieben +hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihr +ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt.</p> + +<p>»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft.</p> + +<p>Schweigend las er darin eine Zeit lang, während Ruth mit gefurchter +Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß.</p> + +<p>Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin.</p> + +<p>»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und +Ueberwindung gekostet?«</p> + +<p>»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es +schadet nichts.«</p> + +<p>»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte +nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch +das, was deinen kleinen phantastischen Kopf am härtesten anmutet, durch +das, was ihm am schwersten fällt, gerade da muß er hindurch.«</p> + +<p>Er löste ihre im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den +seinen.</p> + +<p>»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du +dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest; es that weh, nicht wahr? Aber +es mußte sein. Und nun, — nun bekomme ich dich allmählich<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> gerade so, +wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?«</p> + +<p>»Wunderschön ist es!« rief sie, mit leuchtenden Augen sich nach ihm +zurückwendend, »das denke ich ja immer dabei, wenn es mir schwer fällt! +Ich such's zu vergessen und denke mich nur hinein: wie wunderschön muß +es sein, jemand, der ganz anders ist, gerade so zurecht zu kriegen, wie +man ihn haben will!«</p> + +<p>Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen.</p> + +<p>»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst solle es +glücklich machen.«</p> + +<p>»Das thut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf.</p> + +<p>»Was willst du nun heute morgen thun? Wir wollen in den Garten gehen. +Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?«</p> + +<p>Sie schüttelte lachend den Kopf.</p> + +<p>»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung +und Morgenfrische,« sagte Erik; »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht +solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die +Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist +Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich +ermüdet, desto besser.« —</p> + +<p>Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel +lag schon neben demselben in ihrem Stuhl, als Erik, Ruth und Jonas, +erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz +erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand +trug er einen hohen Eimer, den er von<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> Gonne erbeutet hatte und jetzt +auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei +Fuß lange, stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.</p> + +<p>»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so +greuliches Tier herbringen! Könnte sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«</p> + +<p>»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.</p> + +<p>»Aber eine prachtvolle, Mama! ich fand sie hinter dem Gehölz, da +wo der kleine Bach sich im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll +Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund that, war ihm ein +ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen +gerechnet, und höchstens auf eine Blindschleiche.</p> + +<p>Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange, +die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee +tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet +waren, verhielt Ruth sich ganz still. Sie hatte heimlich gehofft, +Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte +sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das +war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.</p> + +<p>Jetzt gelang es der Ringelnatter, nach mehreren vergeblichen Versuchen, +sich auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren +Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die +Anwesenden an.</p> + +<p>Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern +durchlief, und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span></p> + +<p>»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch, +»siehst du denn nicht, daß Ruth sich ängstigt?«</p> + +<p>»Nein, lasse sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze +Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen +werden.«</p> + +<p>Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß +du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie +Lügen.«</p> + +<p>»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt. +»Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas fürchterliches, — kalt und +grausig, — was so gewaltsam von außen kam, — so, wie wenn man einen +umbringt.«</p> + +<p>»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen +sein?«</p> + +<p>»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.</p> + +<p>Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber +sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es +nur eine Raupe gewesen war.</p> + +<p>»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen; +Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den +Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon +etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst +du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und — und bewunderst +mich.«</p> + +<p>Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar.</p> + +<p>»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> er, »denn schon ist +die Zeit ganz nah, wo Ruth sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle +begnügen wird. Wo sie selbst, freiwillig, aus eigenem Antriebe, an die +Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper +hinaufkriechen läßt.«</p> + +<p>Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.</p> + +<p>»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.</p> + +<p>»Wann? vermutlich schon bald.«</p> + +<p>»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen +Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«</p> + +<p>»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor, +daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«</p> + +<p>»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.</p> + +<p>Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen +konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß +Erik ihr etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte +unwillkürlich zusammen.</p> + +<p>»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall +verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg: — thu's eben +nicht! Einfach! denke nur: du brauchst es ja einfach nicht zu thun!«</p> + +<p>Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch +wandte sich andern Dingen zu.</p> + +<p>Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt, +mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen, +der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als +schaue<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> er nur gerade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz +allein mit der Schlange.</p> + +<p>Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu +erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, in dem alles Unheimliche +sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle, +schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die +Schlange lauerte schon auf sie.</p> + +<p>Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken +konnte.</p> + +<p>Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.</p> + +<p>Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.</p> + +<p>Da, als Erik sich vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den +Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild. »Dann +lieber gleich!«</p> + +<p>Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt +im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Ueberraschung.</p> + +<p>»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut +noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Uebertreibung wie das mit dem +Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir jetzt nicht fest genug +dazu.«</p> + +<p>»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich +nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen +sehen, — Tag für Tag, — immer näher, — immer gewisser; — mit einer +Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, — und die mit der +ganzen Familie immer intimer wird, — —<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> und nur auf mich lauert, — +nein, das kann ich wirklich nicht!«</p> + +<p>Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht.</p> + +<p>»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und +Haar aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten +in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich +geschieht. Ueberlege es dir! Denn, wenn du darauf bestehst, gibt es +kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würde ich +nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«</p> + +<p>»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.</p> + +<p>»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«</p> + +<p>Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich +von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen +mußte, wenn sie etwa »umfiel«.</p> + +<p>Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes, +beinahe finsteres Gesicht. Als er sich aber nach dem Eimer bückte, +und sie, dicht vor sich, die Schlange in seiner Hand sich winden sah, +überfiel sie ein Schwindel.</p> + +<p>Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen +sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte +zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.</p> + +<p>Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«</p> + +<p>Sie nickte fast unmerklich.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p> + +<p>»Dann wollen wir es lassen, mein Kind.«</p> + +<p>Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.</p> + +<p>»Für immer?« fragte sie schnell.</p> + +<p>Er mußte lächeln.</p> + +<p>»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt +nicht.«</p> + +<p>Sie nahm sich zusammen.</p> + +<p>»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.</p> + +<p>Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand. +Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie +ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich +hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen, +glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die +erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie +die Ringelnatter sich an ihrem Arm hochstreckte, sich um denselben +herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur +Seite niederhängen ließ.</p> + +<p>Der Arm blieb ausgestreckt, als wäre er erstarrt. Und Ruth machte ein +Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.</p> + +<p>»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie +gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«</p> + +<p>Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in +den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.</p> + +<p>»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch +›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr +einen Stuhl zu.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p> + +<p>Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehen, mit +unsicheren Schritten an Erik vorbei, quer über die Terrasse und in den +Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie +sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in +den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.</p> + +<p>Erik sah ihr verwundert zu.</p> + +<p>»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du +froh sein, und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«</p> + +<p>Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll +an.</p> + +<p>»Ich thue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.</p> + +<p>Jonas, der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden, aber auf einen +Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten +hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll +an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.</p> + +<p>Eine Stunde später fuhr Ruth aber dennoch mit ihm und Erik zur Stadt.</p> + +<p>Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch. +Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im +Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei +Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine +kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die +Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher +fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt +wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den +Ferien,<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der +Fleißigsten.</p> + +<p>So gab es doch eine gewaltige Freude, als heute, in der Freistunde, +Ruth wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm, +unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie, +und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den +Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe, und warum die +Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.</p> + +<p>Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen +stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer +Weltferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern. +All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene +begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und +es blieb nichts, als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück, +der an ihrer Statt erzählte.</p> + +<p>Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo das +überragende Dach sie vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie +damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand +Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.</p> + +<p>Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten, +wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter +ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß +sie nicht sprach, entging ihnen vollständig; der in ihnen selbst +aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und, anstatt +dessen, was sie von ihr erfahren wollten,<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> erfuhr Ruth binnen weniger +Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis heute, +nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.</p> + +<p>Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut. +Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes, blondes Mädchen von +frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als +Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine +Inschrift triumphierend vorgezeigt, — der glatte goldene Traureif fiel +Ruth in den Schoß.</p> + +<p>Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt +zu werden. Sie war begreiflicherweise mit ihren Gedanken längst aus der +Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das +unendliche Interesse verbunden, welches ihr, ihrem Liebsten, und ihrem +Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete +sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann gebracht.</p> + +<p>»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die +besonders zärtlich an Ruth hing, »ach, Ruth, ein solcher, wirklicher +Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denke dir nur, was man als +Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie +spricht von <em class="gesperrt">ihm</em> und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint +man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren +mit ihrem Kram.«</p> + +<p>»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«</p> + +<p>Gretchen schwieg etwas betroffen.</p> + +<p>»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!«<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> fiel eine andre +ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht +wunderschön?«</p> + +<p>»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif +in ihrer Hand; »vielleicht ist es wunderschön.« Dann gab sie ihn +der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das +Wunderschöne daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«</p> + +<p>Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich +zum erstenmal zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein +besaß, als Braut, — was sie mit den andern nicht gemein haben konnte. +»Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich +mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich, mit Scham und +Stolz. Und während sie den Ring überstreifte und Ruth anblickte, konnte +sie dem Gedanken nicht wehren: »Diese hier ist gewiß die nächste Braut.«</p> + +<p>»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen +ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer +zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das +Uebergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte, »was hattest du +immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und +jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin die einzige, die noch dem +›Edlen, Unglücklichen‹ nachsteigt.«</p> + +<p>»Ist der noch da?« fragte Ruth.</p> + +<p>»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht +förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«</p> + +<p>»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte +sie, »es ist ja alles deine Schuld<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> und dein Vermächtnis! Warum bist du +auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«</p> + +<p>Ruth hatte ihren Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in +den verregneten Hof. Gerade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein, +dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß +auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe +Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte +es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.</p> + +<p>»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den +Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«</p> + +<p>»Wieso ein Notbehelf?«</p> + +<p>»Würdest du uns keine mehr erzählen?«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor +einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es +hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter +Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr +wolltet es ja so.«</p> + +<p>»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«</p> + +<p>»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«</p> + +<p>»O!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten +alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse, +»dahinter gibt es das Leben.«</p> + +<p>In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die +Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den +meisten selbst der<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden +erschien. In den Gesichtern prägte es sich deutlich aus, daß ein neuer +Hunger sich geltend machte.</p> + +<p>»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.</p> + +<p>Ruth lachte.</p> + +<p>»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann +geht man geradeaus, und noch rechts und nach links, ringsherum und nach +allen Seiten. Bis man alt ist.«</p> + +<p>»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend, +»seht ihr denn nicht, wie sie euch foppt? Gerade so machte sie es immer +mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil +wir's ernst nehmen.«</p> + +<p>»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den +Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.</p> + +<p>»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch +über die Mauer zu helfen?«</p> + +<p>»Das könnt ihr ja thun.«</p> + +<p>»Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu!«</p> + +<p>»Die hat er gewiß,« versicherte Ruth; »und Lust hat er auch. Er hat +alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«</p> + +<p>Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an. +Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.</p> + +<p>Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu +sein.</p> + +<p>»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> ist? Hast du da +auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen +vorsichtig.</p> + +<p>»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr +beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit gestern noch nicht trocken +geworden waren.</p> + +<p>Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen +verließen den Platz am Brunnen.</p> + +<p>»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche +Wjera, »das kostet nichts.«</p> + +<p>»Warum?« entgegnete Ruth; »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was +kosten.«</p> + +<p>In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber +blieb es unbeachtet, daß Ruth ihnen nicht folgte. Ueber der Spannung, +die sie hervorgerufen, war sie selbst vergessen worden. Als die Mädchen +sich dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden, +war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war +ein Gelächter.</p> + +<p>Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben +wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So +kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo Ruth ihn erwarten +sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es +hier noch zu thun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform +zu entrinnen. Als Ruth sich dann immer noch nicht melden wollte, +öffnete er etwas beunruhigt die Thür zum Wohnzimmer und schaute hinein.</p> + +<p>Da lag sie und schlief.</p> + +<p>Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl +gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Füßen, auf dem +weißen Leinwandbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das +Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie, mit ernstem Gesicht und +schlafgeröteten Wangen, fest und eifrig, wie ein Kind.</p> + +<p>Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben.</p> + +<p>Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassenen +Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, in denen der Staub in breiten +Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein +leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen über dasselbe hin und blieb +auf den Lippen stehen, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher +wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie +heftig niesen.</p> + +<p>Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie +auf und hörte Erik lachen.</p> + +<p>»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf.</p> + +<p>»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch +weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er.</p> + +<p>Ruth rieb sich die Augen.</p> + +<p>»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie; »ja, mit +den Mädchen ist es nichts. Glaub's nicht. Aber mir ist eingefallen: +wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, — dann gäb's am +Ende auch noch ein andres Mittel.«</p> + +<p>»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?«</p> + +<p>»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> mit den Füßen vom +Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und +drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich habe es mir nämlich +so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, — in sie +hineinwirken, — an ihnen was Großes schaffen, — und man findet nicht +recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß +man es <em class="gesperrt">so</em> machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor +Augen stellt, — so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie +Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom +Allerschönsten reden und nicht müde werden, — bis sie Lust kriegen.«</p> + +<p>Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich +bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, das sie da, wie einen Traum, +mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien.</p> + +<p>»Wer soll das thun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie +gebannt, und trat heran an den Tisch.</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Sie</em> sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir +immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben +ist schön und weit. Ich glaub's ja! Ader nun weiß ich, wozu die +Phantasiegeschichten gut sind, — denn zu etwas sind die auch gut. +Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es +hinzuthun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?«</p> + +<p>Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als +lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich +in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit +Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> ihm durch +den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung +verlangt. Und er, durch die Verhältnisse enttäuscht, hatte versucht, +sie von sich abzuschieben, — zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte +er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu +vergessen.</p> + +<p>Ruth saß und folgte ihm mit den Augen.</p> + +<p>»Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie.</p> + +<p>Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Beide merkten nichts davon, +daß die Luft im Zimmer dick und staubig war, und ungezählte Mücken +umherschwirrten.</p> + +<p>Dann blieb Erik stehen, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke +dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest, +was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen +Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.«</p> + +<p>Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm.</p> + +<p>»Ja!« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen +und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges +hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein +Eigentum, und ich kann mit ihnen machen, was ich will.‹ Und nun werden +Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.«</p> + +<p>Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und +Erwartung, und dann fügte sie bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören +dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie es +mir erzählen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p> + +<p>Erik blickte auf sie nieder. So kindhaft kam sie ihm vor, als sie so +in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur +Schulter.</p> + +<p>Wie heute morgen am Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr +Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche, +bittende Kinderaugen.</p> + +<p>»Wir werden es uns zusammen ausdenken!« sagte er. —</p> + +<p>Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause +kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete +den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich +langsam, im Schritt, abkühlen.</p> + +<p>Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem, behaglichem +Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen +Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen.</p> + +<p>Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken +Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde: Sie +empfand es wohlthuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag +eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder +etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft +zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben +zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den +ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig +im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so +einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu +Hause.</p> + +<p>Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es +auch andern Bekannten gegenüber<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> nicht geschah. Sie wußte: dies hier +war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte, als +mit ihrem Mann.</p> + +<p>Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte +sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins +Zimmer trat, war sie enttäuscht.</p> + +<p>Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet.</p> + +<p>Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm, +vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich +schüchtern zurückzog, — jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht +ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon +geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied, +als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene, Formsichere und +Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber.</p> + +<p>Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz +als eine von vielen und gab auch sich selbst so, wie eine unter den +vielen, aus denen die Gesellschaft besteht.</p> + +<p>Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen +worden sei.</p> + +<p>»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich +noch nicht.«</p> + +<p>Man wußte nicht, war es bescheiden oder übermütig gemeint?</p> + +<p>»Wenn die nicht durchtrieben ist!« dachte Warwara bei sich und musterte +sie schärfer.</p> + +<p>Bald trat Erik dazu, eine heitere Unterhaltung in Gang bringend. +Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst +kürzlich auch hier eingelaufen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> war. Ein sensationeller Rückgang, denn +die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in +einen andern verliebt.</p> + +<p>Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser +Sachlage unbeachtet zu lassen, lachte laut.</p> + +<p>Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen.</p> + +<p>»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht +hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so +kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?«</p> + +<p>Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst +geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden, +haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute +Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in +der That im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, — in der +eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge +festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.«</p> + +<p>»Sie meinen, der Mann bedarf eines solchen Gebetes nicht,« bemerkte +Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen.</p> + +<p>Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er; »ich glaube, der Mann +ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur +besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den +Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen +desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, — nein: <em class="gesperrt">das er an sich +gebunden</em> hat. Das ist's!«</p> + +<p>»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> eine Kraft des +Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den <em class="gesperrt">wir</em>, — die +Frauen, — nicht —«</p> + +<p>»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein: nur ein +Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut: +nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der +für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem +Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine +Hand bewußt auf dieses ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu: +›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen, +— verantworten wollen, — herrschen dürfen.«</p> + +<p>Warwara schüttelte sich.</p> + +<p>»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie; »mir jedoch ist wahrlich +die Vorstellung lieber, nach welcher die Frau des Mannes Königin ist.«</p> + +<p>»Sie sehen, — ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er +lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es +eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, — was alles ganz +heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann +hingegen wäre untreues Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was +ihm wider die Scham geht.«</p> + +<p>Warwara lachte ihm ins Gesicht.</p> + +<p>»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwickelungskämpfe, +und auch für die der Frauen, so gern eintritt!« rief sie; »es ist eine +schauderhafte Inkonsequenz und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn +Sie sich nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die +nicht mehr so mittelalterlich denkt, und sie <em class="gesperrt">nicht unterkriegten</em>?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p> + +<p>»Das würde ich doch!« sagte Erik. »Sonst würde ich mich vielleicht +für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen +achten, — aber lieben, — wie sollte ich das? So wenig, als wenn +ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir +vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer +Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe — nie! Und ein +Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt, — wirkt nicht als Weib.«</p> + +<p>»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur +in eurem jahrhundertelang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara +entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem +solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen, +wenn wir lieben?«</p> + +<p>Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das thun wir, nicht +weil wir unter ihm stehen. Sondern weil wir glücklich sein wollen.«</p> + +<p>Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu +fahren.</p> + +<p>»Nun sollt' ich hiervon eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut +gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule +erfuhr ich, daß diesmal Sie bei dem feierlichen Schulschluß die übliche +große Rede halten werden. Da komme ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine +sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich +habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.«</p> + +<p>Erik mußte lachen.</p> + +<p>»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre +schönsten Reden für Toaste genommen werden,«<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> versetzte er, »und +daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den +Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer +oberflächlichen Gesellschaft sind.«</p> + +<p>»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte +Warwara gekränkt zu Klare-Bel; »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht +weh thäte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dieser +Barbar würde dann <em class="gesperrt">Sie</em> auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft +unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.«</p> + +<p>»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt.</p> + +<p>»Doch! doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt, +auf Grund einer Konsultation mit dem Professor, eine Behandlung meiner +Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und +geleitete sie an ihren Wagen.</p> + +<p>Jonas war später nach Hause gekommen, als Erik mit Ruth, und kam +seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war, und +man sich schon zu Tisch setzte.</p> + +<p>Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den +tropfenden Bäumen verbracht, im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine +Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als +wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch +einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt +und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze +geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.</p> + +<p>Um es zu thun, mußte er sich Mut einsprechen und<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> sein Herz verhärten. +Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die +Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus, +der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht +recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer; +Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit seinen schwarzen +Aeuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.</p> + +<p>Da ging ihm ein altes Märchen tröstend durch den Sinn, von einer +Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem +verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht +mehr, ob es sich genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine +Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.</p> + +<p>Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem +Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheures Opfer, fand er, was sie da +beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange +blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut, wie über +ein Reitpferd.</p> + +<p>Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen, +die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die +Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen +Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.</p> + +<p>Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und ein Telegramm für +Erik überbrachte.</p> + +<p>Erik erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller +zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine +freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span></p> + +<p>»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er; »denke +dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs. +Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals +waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner?«</p> + +<p>»O ja, Erik! Wie sollte ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß +du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am +liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist +Römer denn eigentlich geworden?«</p> + +<p>»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb +mir noch manchmal in frühern Jahren.«</p> + +<p>Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber. +Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es +Ruth, als stiege plötzlich eine ganze, fremde und ferne Vergangenheit +zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, bei der sie nicht zugegen +gewesen war. Ueberhaupt noch nicht auf der Welt! Es schien ihr ganz +unmöglich.</p> + +<p>»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.</p> + +<p>»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau. +Dort ist irgend eine Aerzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werde +ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«</p> + +<p>»Zu einer Aerzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.</p> + +<p>»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng +verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze +Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den +Charakter.«</p> + +<p>»Haben sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders +zu interessieren pflegte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p> + +<p>»Ich glaube nicht.«</p> + +<p>»Keine Kinder?« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war +ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht +wieder Mutter werden konnte; »das ist doch eine traurige Ehe, so zu +zweien.«</p> + +<p>»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie +hatten wiederholt ein junges Mädchen bei sich, das an der Universität +studierte.«</p> + +<p>»An der Universität studierte? Können junge Mädchen das?« erkundigte +sich Ruth erstaunt.</p> + +<p>Erik blickte sie mit einem Lächeln an.</p> + +<p>»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja +nichts im Wege, daß du eines der nächsten Hauskinder bei Römers wirst. +Hast du Lust dazu?«</p> + +<p>Er sagte es scherzend, aber der Blick, mit dem sie ihm antwortete, war +so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.</p> + +<p>Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von +alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen, aber sie +blieb sitzen und hörte zu.</p> + +<p>Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen; Jonas lehnte in der +Hausthür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich +vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir +doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das +paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, thust du es doch +nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen +nun einmal nicht haben kannst.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p> + +<p>»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der +schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das +haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«</p> + +<p>»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein, ohne einen +wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so +viel lieber dein Mann sein, als der Mann in all den Räubergeschichten, +bei denen ich mich immer so anstrengen muß.«</p> + +<p>»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und +saß und schaukelte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel +anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du bei alledem jedesmal die +Hauptperson und der Held bist.«</p> + +<p>»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.</p> + +<p>»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein. +Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich —«</p> + +<p>»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt; »aber wenn du mir alles +immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es +ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«</p> + +<p>»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«</p> + +<p>Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; — wenn +sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine +Ueberlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten +und Schmeicheln zu bewegen! Denn, hätten sie »Schlangenbändiger« +gespielt, da wäre er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm, +ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p> + +<p>Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er +fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die +Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.</p> + +<p>»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er; +»warst du es etwa?«</p> + +<p>»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest +du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du +dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«</p> + +<p>»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei +meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.</p> + +<p>Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich ans niedrige +Flurfenster, an dem der Regen herunter rieselte, und drückte ihr +Gesicht platt gegen das Scheibenglas, so daß es sich satyrhaft verzog. +Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme: +sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth +immer zum Lachen.</p> + +<p>Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.</p> + +<p>»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein +Junge!«</p> + +<p>Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte. +Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch +alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie thun, es würde ihr gar +nicht einfallen, — davon war er fest überzeugt.</p> + +<p>Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster +des Wohnzimmers und fragte, ob er<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> noch bis zum Abendthee einen +Kameraden aufsuchen dürfe.</p> + +<p>Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in Lenneps Novellen +las, blickte bei seinen Worten verwundert aus.</p> + +<p>»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein +Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht +nur noch an das Mädchen, Erik.«</p> + +<p>»Strohfeuer!« versetzte dieser.</p> + +<p>Er stand und schaute verträumt hinaus. Seine Gedanken weilten noch +in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine +willkommene Zerstreuung, und darüber freute sie sich für ihn. Ihm war +es mehr als das.</p> + +<p>»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt: »aber du +meintest doch selbst, Jonas sei flüchtig und zerstreut im Lernen +geworden.«</p> + +<p>»Das ist er wohl ein wenig, aber was ihm an Schulweisheit vielleicht +dadurch abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung, +die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm +keine Schule.«</p> + +<p>»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er +nun sein Herz so ganz an sie hängt —?«</p> + +<p>»Dann laß ihm diese Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an +nichts Besseres hängen, Bel.«</p> + +<p>Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren +Händen. Sie faltete sie im Schoß.</p> + +<p>»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p> + +<p>Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam. +Wie ausgestorben schien das Haus, weil man seinen Schritt und seine +Stimme darin nicht hörte.</p> + +<p>Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel. +Nachts ließ er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.</p> + +<p>Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit +fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst +darauf folgendem unzertrennlichen Beisammensein. Aber dafür war Ruth +heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle +seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur +ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«</p> + +<p>Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.</p> + +<p>Ruth dachte immerfort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie +folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm +den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen +hineinzuversetzen.</p> + +<p>Als Klare-Bel ihm am Morgen beim Weggehen zurief: »Adieu, Erik, +amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam +ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst +sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter +allem, was er in gewohnter Weise sprach oder that, fühlte Ruth es +heraus, wie eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich +in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die <em class="gesperrt">amüsieren</em>, — +sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von +der die Gegenwart verdunkelt wird.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<p>Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl +war auf die Terrasse geschoben worden; unten konnte sie nicht bleiben, +weil Erik fehlte, um sie wieder heraufzutragen. Ein warmer Sommerduft +stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und +auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche +drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub +und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen +Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie +ein großer grüner Farbenklecks.</p> + +<p>Als der Abendthee auf der Terrasse getrunken wurde, fiel es Klare-Bel +doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.</p> + +<p>»Es ist doch, als könnte sie es gar nicht mehr ertragen, daß Erik sich +mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm +keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie +und fragte laut: »Aber, Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für +wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du mit Erik dort?«</p> + +<p>Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie +schüchtern an.</p> + +<p>»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen +Erstaunen Klare-Bels.</p> + +<p>Diese zog sich nach dem Abendthee bald in ihr kleines Gemach zurück, +um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig +leidend. Vielleicht griff die neue Behandlung sie an, die Erik seit +kurzer Zeit mit ihr vornahm, und die er ihr auf viele Monate hinaus +in Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> gestellt hatte. Er fing wirklich schon an, wieder neue +Hoffnung zu schöpfen.</p> + +<p>Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet, und +Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den +zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen liebte.</p> + +<p>Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob +auch sie, ganz leise — leise, heimlich, die neue Hoffnung hätschele? +Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu +werden, Erik entgegengehen zu können auf ihren zwei gesunden Füßen.</p> + +<p>Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann +würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen +frühern Enttäuschungen auch. Denn das hatte er gethan, — nicht gerade +mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen +Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und +manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so, +denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen +Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein, +durch die er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So +oft konnte sie es mit Verwunderung beobachten im täglichen Leben unter +den Menschen seiner frühern Umgebung, wie belebend es auf ihn wirkte, +daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug +Erik wirklich schlecht.</p> + +<p>Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit +offenen Augen. Durch das geöffnete<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Fenster strich weich und feucht die +Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; von fernher +verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher +Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer +herein.</p> + +<p>Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie +über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie, +»wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein +schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen +wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen +konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik +also nicht sie, wie sie ihn?</p> + +<p>Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig +streckte ihre Sehnsucht sich ihm entgegen. —</p> + +<p>Wie sie es vorausgesehen, befand sich Erik erst Stunden später auf dem +Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum +Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen, +— ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen +der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich +nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden; er +erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.</p> + +<p>Der lange Gang von der Station aus that ihm nach den verflossenen +Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein +Lufthauch bewegte sich; am fast taglichten Himmel stand blaß und +glanzlos<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> der Vollmond; einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und +von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.</p> + +<p>Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der +Nachthelle dalag, wich langsam die noch erregte Stimmung einem Gefühl +ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei <em class="gesperrt">den</em> +Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.</p> + +<p>Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf +die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast +geräuschlos die Hausthür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale +Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß. +Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien +Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.</p> + +<p>»Aber, Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins +Bett!« sagte er.</p> + +<p>Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes +Gesicht wie einen Willkommgruß.</p> + +<p>»War es schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen +überwachen Augen an, »sollte ich denn dabei schlafen? Nein, das konnte +ich nicht! denn ich war auch da, — immer mit da. War es schön?«</p> + +<p>Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest. +Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die von ihnen aufgewühlt +worden, verflogen; er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich +gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.</p> + +<p>Was bedeutete ihm alle Anregung, ja, was aller so ersehnte Beifall oder +Erfolg, nach dem er im Leben gegeizt und gerungen, gegenüber dem zarten +Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete?<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> +Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge +ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden für +so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.</p> + +<p>Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf und darüber vergaß er zu +antworten.</p> + +<p>Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose +umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so +einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze +Welt um sie her im Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt +mit Leben; und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen, +— verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, — ein Lebenverlangendes, +Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und +ergriffen hatte, als er Ruth zuerst im Schulhof sah, mit dem Uebermut +in den Augen und den erhobenen Armen.</p> + +<p>Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle, +in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.</p> + +<p>»Hätte ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und +blickte sie mit einem Lächeln an.</p> + +<p>»Doch! aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme +verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, in der sie den +Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die +nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als Ruth sie meinte, +aber Blick, Ton und Haltung drückten es so kindlich aus, daß sie sich +in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe +Rührung über ihn kam.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p> + +<p>Ihm schien, Ruth sah wie verzaubert aus, — anders, lieblicher als +sonst.</p> + +<p>Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme. +Nur durch die offen gebliebene Hausthür zog es ganz leise wie ein +geheimnisvolles Raunen und Rauschen, — ein Flüstern, das draußen durch +das niedrige Gebüsch ging, — die erste Ankündigung des neuen Tages.</p> + +<p>»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute +Nacht! Guten Morgen. Liebling!«</p> + +<p>Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich, — fest, so daß sie +an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.</p> + +<p>Als er sie ebenso rasch wieder losließ, hatte Ruth seine Hand ergriffen +und drückte ihre warmen Lippen darauf.</p> + +<p>Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf.</p> + +<p>Erik öffnete die Mittelthür im Flur, die in das Zimmer von Jonas +führte. Er mußte hindurchgehen, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer +zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.</p> + +<p>»Na, Papa, war es schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken +auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«</p> + +<p>Damit schlief er weiter.</p> + +<p>Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein +farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus, +und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.</p> + +<p>Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> flüsternd am +Boden hin, es hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der +wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und dann schwoll +es machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel +durchklang, die vorhin lautlos gegen den hellen Nachthimmel starrten.</p> + +<p>Wie ein Morgenchoral klang es, und — ganz leise, — versuchend, wie im +Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und +bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein lang gezogener unermüdlicher +Buchfinkentriller.</p> + +<p>Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden +Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine +geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen. +Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung, eine +Morgentraumstimmung, so schien ihm.</p> + +<p>Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie heute, daß sie ja +unwiderruflich zu einander gehörten, daß sie im Grunde gleichgeartet, +gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen: +»Mich mitnehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm +erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte +stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem, +unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß, +Verstand und Wille gewesen. Und daß in ihr mit reiner Flamme brannte, +was in ihm die Berührung mit dem Leben mit Schlacken und Asche vermengt +hatte.</p> + +<p>Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p> + +<p>Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind +schwieg still. Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den +Himmel, durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen. In einem +breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.</p> + +<p>Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben. +Im Sonnenschein war er eingeschlafen.</p> + +<p>Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich, weder +auf den gestrigen Tag, noch auf die Nachtstunde. Irgend ein Traum, ein +wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt +ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm +zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht; ich +glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie — Ruth. Es ist ja Ruth.«</p> + +<p>Und ihm schien, es könne nur <em class="gesperrt">eine</em> solche geben.</p> + +<p>Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.</p> + +<p>Und blitzähnlich wurde er vollständig wach.</p> + +<p>Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner +Liebe.</p> + +<p>Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht, +weil es überhaupt wenig seiner Natur entsprach, über sich nachzudenken. +Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen +Interesse am Menschen, nicht am Weibe, entsprungen war.</p> + +<p>Plötzlich war das alles anders geworden. —</p> + +<p>Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch +auf Erik, als er endlich zu ihnen heraustrat. Klare-Bel bemerkte +augenblicklich etwas Verändertes,<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> Verschlossenes in seinem Gesicht, +und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von +Gleichgültigem zu reden begann.</p> + +<p>Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches vom Zusammensein mit +dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine +Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.</p> + +<p>Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch, +— ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.</p> + +<p>Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar +beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung +reichlich überwacht und angegriffen aussähe.</p> + +<p>Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der +Morgensonne,« dachte Erik, während sein Seitenblick sie streifte. +Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber +unterdrückte, daß er verschlafen habe. Sie hatte nicht verschlafen. Sie +hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.</p> + +<p>Mit der gemeinsamen Arbeit wurde es heute nun nichts. Hastiger als +sonst stand Erik auf, um zu gehen. Die Zeit drängte, und Jonas war +schon fort.</p> + +<p>Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm lag, und er +wieder mit sich selbst allein blieb. Aber dennoch war ihm weder zum +Träumen noch zum Grübeln zu Mute. Nur nach <em class="gesperrt">einem</em> verlangte es ihn +dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar +ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor +ihm stand. Nur nach <em class="gesperrt">einem</em> verlangte ihn: davor stillzustehen und +den Blick<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> darauf ruhen zu lassen, fest und forschend, wie auf einem +fremden Antlitz.</p> + +<p>Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und +beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was +bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt +hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah +er vorbei, — ganz gerade, ganz unverwandt auf den <em class="gesperrt">einen</em> Punkt, ohne +nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick, +kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über +<em class="gesperrt">Hindernisse</em>, und wären es Menschen, geht's hinweg. —</p> + +<p>Ehe Erik sich mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm einmal eine +Photographie geschenkt, auf der sie sich im Kreise ihrer ganzen +Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen +Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in das er eine nur Bels Gestalt +entsprechende Oeffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein. +Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.</p> + +<p>Erik war es sich nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso machte: mit +feiner eigenen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen +Umgebung, ja, mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken +weglöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite, +eine Welteinsamkeit, in der nur Ruths Bild vor ihm stand.</p> + +<p>Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.</p> + +<p>Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick. +Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an +sein Bewußtsein heranbringen<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> konnten, das ging von dem fröhlichen +Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in +ihm wurde still.</p> + +<p>Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindhafte, in +dem noch, geheimnisvoll und verheißungsvoll, die ganze Fülle der +Möglichkeiten ruhte, — dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, das +noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, — den zarten, +kostbaren Stoff, nach dem seine Hand sich nur herrisch ausgestreckt, +weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?</p> + +<p>Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er +Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt +seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine +Gärtnerhoffnungen.</p> + +<p>Je länger Erik sich aber so in das ihm vorschwebende Bild vertiefte, +um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl. Er sprach zu sich +selbst nur noch mit geringer Ehrlichkeit. Unwiderstehlich erhob +sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren. +Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer +Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.</p> + +<p>Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm, +der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte, +damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der +Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt. —</p> + +<p>Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die +diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> + +<p>Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für +sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht. +Am besten hätte es ihr gepaßt, jetzt Jonas da zu haben, aber der saß +in der Schule und lernte, der Aermste. So entschloß sie sich denn, zu +Gonne in die Küche hinunterzugehen. Denn lieber noch wollte sie mit +den Händen thätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und irgendwie +lebhaft sich bethätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so +vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und zum »Nachdenken«. Und +dann war es auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu +plantschen.</p> + +<p>Gonne litt es glücklicherweise gut, wenn Ruth ihr so unerbeten mitten +in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der hierzulande üblichen +Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth, +daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm es auch nicht +anders, und zum entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer weichen +ungeschulten Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte +tiefernst zu.</p> + +<p>Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und +zurückgestreiften Aermeln singend und seelenvergnügt am Brunnen. +Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste +von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die +verklärte Gestalt seiner Phantasie, um derentwillen er die wirkliche +Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische +Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen, +die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die +lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Haar und den feinen +von der Sonne schwach gebräunten Hals.</p> + +<p>Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen, machte Erik +plötzlich Halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.</p> + +<p>Dort, auf dem Schreibtisch, lagen noch, unordentlich, Ruths Hefte und +Bücher umher, die heute morgen umsonst auf ihn gewartet hatten. Erik +setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut +hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander. +— — —</p> + +<p>Mußte Ruth fort?</p> + +<p>Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich +eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken +umschleierte.</p> + +<p>Halb mechanisch blickte er über die Hefte hin, die aufgeschlagen +dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als +enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den +Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen. +Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger +Schnörkel.</p> + +<p>Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine +fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, — ihrem Ueberströmen. Etwas +merkwürdig Logisches.</p> + +<p>Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.</p> + +<p>Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die +noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?</p> + +<p>Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Kopf erschien zwischen +den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz +emporkletterte.</p> + +<p>»Soll ich arbeiten?« fragte sie.</p> + +<p>»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er +und stand auf, »weißt du, was es für eine Ueberraschung gab, — in der +letzten Stunde vor den Ferien, in der Mädchenschule? Sie erhoben sich +alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht +leicht herausbringen. Sie wußten es selbst nicht genau. Sie wollten +dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten es nur nicht zu +bewerkstelligen.«</p> + +<p>Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule um +sich zu hören geglaubt. Ganz deutlich empfand er aus dem unerwarteten +»Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber +gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit +gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen +Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden +Mädchenköpfe, schaute ihm, wie aus einem Vexierspiegel, Ruths +Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch +mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben +zwischen den Hopfenranken dastand.</p> + +<p>»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich ans +Fenster; »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht +in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht bei +Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«</p> + +<p>Sie sah ihn voll Interesse an.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p> + +<p>»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser. +Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder +fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas +fort.«</p> + +<p>»Die Braut?«</p> + +<p>»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie es jetzt bald alle +kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr, +meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste. +Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«</p> + +<p>Er blickte auf sie.</p> + +<p>»So. Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es +das Allerhöchste sei, und daß dann all das andre keinen rechten Zweck +mehr hat?«</p> + +<p>»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie es +dann ist? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich +kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.</p> + +<p>Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so +betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er: +»Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen +Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie +sein zukünftiges Leben sich gestalten mag. Und deine Phantasie soll +nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er +mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen +bist.«</p> + +<p>»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit +gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man +einen lieb haben.<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in +der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Wie</em> lieb, Ruth?«</p> + +<p>Seine Stimme klang gedämpft und heiser.</p> + +<p>Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick. Nie noch, meinte +er, eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick +gesehen zu haben.</p> + +<p>»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.</p> + +<p>Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die +Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten. +Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich +zur Faust.</p> + +<p>Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck, +der über sein Gesicht ging.</p> + +<p>Da, wie Erik, fast furchtsam, aufschaute und die fragenden Augen vor +sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine +Blick und Augenblick über ihn entscheide.</p> + +<p>Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine +Augen.</p> + +<p>»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, — denn jetzt +bist du doch nur erst ein kleines Mädel, — aber wenn du längst eigene +und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge, und viele +andre noch, — dann — <em class="gesperrt">dann</em> sollst du noch einmal zu mir kommen und +mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir +— <em class="gesperrt">von mir</em> dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwickelung. +Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der +Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer +ich dann bin, das weiß<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter +Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du +ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste +Hoffnung.«</p> + +<p>Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.</p> + +<p>Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und +blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.</p> + +<p>An einem der nächsten Tage, um die Mittagsstunde, füllte eine bunte +Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der +Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten +und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause +so viel erzählten.</p> + +<p>Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen +und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den seine Klasse ihm +gemacht, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule +hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken +von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwickelung für die +Frau, als die Gegenwart sie ihr außerhalb der Schuljahre gewähre. +Ueber die Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft +heraufzuführen, sprach er ihnen, und über die Zukunft der Frau, die, +erst geahnt und nur halbenthüllt, noch vor ihr liege, von der sie aber +Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung +und Vollendung näher bringe.</p> + +<p>Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte, +mitzukommen; denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der +er redete. Sie war<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> es ja, die in ihm die Lust wiedererweckt hatte, +zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man +für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er +seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr +erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem +Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen +Formen.</p> + +<p>Es war, wie wenn er eine überlebensgroße Gestalt vor den gebannten +Menschenaugen aufrichtete, in der durch diese Größe die individuellen +Züge unerkennbar wurden. Zu groß sicherlich, für das wirkliche Leben, +aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit +fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig +einprägte.</p> + +<p>So stand Erik und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe, +und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner +Worte eine eigentümliche Wucht.</p> + +<p>Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie es +ihm vorhergesagt. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als +sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie, mit ihrem +feinen Instinkt, immer schon dunkel und undeutlich geahnt, wenn sie mit +Erik zusammen gewesen: daß er Gewalt über Menschenleben besaß, und daß +er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie +zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, — das, +was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Scene in +seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht. +Aber selbst damals<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und +sehnend und ungeduldig er aus das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn +enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.</p> + +<p>Als sie damals aus seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr +fortwährend ein ganz abscheulicher Vergleich aufgedrängt. Sie konnte +denselben nicht verscheuchen. Immer sah sie ein Weib vor sich, das +falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des +Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte ihre Koketterie +nicht ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische +Entblößung. Und die Arbeit an sich selbst.</p> + +<p>Es war aber wirklich ein abscheulicher Vergleich. Und zum größten +Erstaunen ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.</p> + +<p>Nach dem Schluß desselben, im Treppenhause, wo Warwara beiseite trat, +um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, bemerkte Erik sie und +kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten so. Warwara war blaß.</p> + +<p>»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr +gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor ihren Augen? Vielleicht war es +wirklich einer.«</p> + +<p>»Wenn es einer war, so könnte ich wohl auf <em class="gesperrt">die</em> eifersüchtig — nein, +aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte +sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht +blieb ernst; »<em class="gesperrt">unser</em> Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie +anderswohin gehören wollen, als unter uns Gesellschaftsgelichter.«</p> + +<p>»Aber, Warwara Michailowna!« sagte er, von<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> ihrem Ausdruck frappiert, +»warum nehmen Sie sich nicht aus?«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Aus Selbsterkenntnis. Ich hab' Sie heut verloren,« entgegnete sie und +gab ihm die Hand, »also adieu, — nicht nur für heute. Ich verzichte +auf Sie. Ich entlasse Sie. — Aber nun hören Sie: es ist doch der +Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«</p> + +<p>Er sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber +als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was +ihm, durch den Scherz hindurch, heute an ihrem Wesen so aufgefallen war.</p> + +<p>Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten, +über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen +mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen +Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.</p> + +<p>Ja, nun begannen die Ferien, und die langen, nicht enden wollenden +Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern, in +die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn, +— einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein +Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die +Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich wurden, gleich +denen, die da noch wachsen.</p> + +<p>Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.</p> + +<p>Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am +kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß +darauf, und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> +ausgedacht«. Zusammen wollten sie's sich ja ausdenken, hatte er ihr +versprochen.</p> + +<p>Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen, +aus denen seine unbefriedigte Thatkraft ruhelos und vergeblich in die +Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit +und Aufgabe, — daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken, +Träumen und Schaffen in <em class="gesperrt">eins</em> zusammen. In Ruth war etwas, das machte +sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte, +so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehört.</p> + +<p>Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den +Bäumen, ums Gehölz herum, eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas — und +noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem +dunkeln Vollbart und Brille. Der jagte sich mit Ruth, und haschte +vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.</p> + +<p>Es war Bernhard Römer.</p> + +<p>Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.</p> + +<p>»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig +außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorene +dichte braune Haar; »— und die Ruth nehme ich gleich mit fort, — +das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir +ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten, +»das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind. +Vierzehnjährig.«</p> + +<p>»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.</p> + +<p>»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. — Es<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> ist ungerecht, daß +du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«</p> + +<p>»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau?« fragte Erik, +ihn unterbrechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der +Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.</p> + +<p>»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück. +Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß Bel +dir nicht fortlaufen kann. — Meine Frau, die reist also herum und +besichtigt Suppenanstalten.«</p> + +<p>»Suppenanstalten?«</p> + +<p>»Na ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana. +Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte +ich wohl meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer +Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann +bin ich nun doch nicht.«</p> + +<p>»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel staunend, »da Sie Ihrer Frau +alles das erlauben.«</p> + +<p>»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr. +»Meine liebe gnädige Frau, ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe +gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundere nämlich ein +wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie +Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, — sagen +wir lieber: im winzigen. — Aber nun will ich dir etwas sagen, mein +lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche +Pläne gemacht von Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, — aber +meine Frau, die führt sie im kleinwinzigen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> aus. Nur sie. Das ist die +Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich +wohlbestallter und — wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur +so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das Leben ist Frauenhand und +Frauenarbeit — mutige. Wir sind Stümper dagegen.«</p> + +<p>»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh, +sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu +sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?«</p> + +<p>»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren? +Ja, — doch in der Arbeitszeit, da behelfe ich mich schon mit der +Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei: +'s ist Arbeitzeit, Wochentag. Aber in den Ferien, — <em class="gesperrt">meinen Ferien</em>, +— da muß ich Sonntag haben. Da muß ich — muß ich meine Frau um mich +haben.«</p> + +<p>Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen +Worte. Freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß +er selbst es war: der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf, +— sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem +kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel.</p> + +<p>Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die +alten Erinnerungen, wie sie es schon heute morgen miteinander gethan. +Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden +beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit war.</p> + +<p>Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p> + +<p>Ruth mit Römer, — nicht mit ihm: er konnte das Bild nicht loswerden.</p> + +<p>Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes +Heim, — das seltenste: eine vollglückliche Ehe. Neben dem Mann die +gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht +sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen +in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine +ewigfrische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offene +Herz und die offene Hand.</p> + +<p>Dort würde Ruth haben, was ihr not that: in körperlicher, geistiger, +praktischer Beziehung. Und indem sie <em class="gesperrt">ihn</em> verlor, eine mütterliche +Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte.</p> + +<p>Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere +Liebe. Schütze sie vor dir selbst.«</p> + +<p>Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte +Linie.</p> + +<p>Nun ja, er gestand es sich ein: daß er selbstlos Ruth dienen wollte, +das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu +verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das +Letzte, — das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst.</p> + +<p>Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes +führe manchen zur wahren, menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaft +thatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken.</p> + +<p>Gewiß gab es solche milden Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm? +Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein!</p> + +<p>Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> nicht trennen. +Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er, +um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu +sich zwingen in irgend einer Form, — und um jeden Preis.</p> + +<p>Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen konnte, einst selbst die +Axt an die Wurzel zu legen?</p> + +<p>Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück.</p> + +<p>Er versuchte, gewaltsam, den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an +den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen, +die er sich unterwegs für seine Winterpläne entworfen. Er versuchte, +sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der +Treppe, im Vorbeigehen, studiert, und in denen er den Ausdruck der +Freude und der Anregung gelesen hatte.</p> + +<p>Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah +nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, — ohne +Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick.</p> + +<p>Unschöne, an denen sein Auge vorüberglitt, — hübsche, aus denen es +teilnahmslos haften blieb.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p> + +<h2 >IV.</h2> +</div> + + +<p>Kurz und glühend, wie immer, war der russische Hochsommer +vorübergeflogen, und früh, mitten im August, nistete sich leise der +Herbst im Garten ein und verlöschte mit seinen langen dunkeln Abenden +die Sonne. Der Rasen sah fahl und versengt aus, und längs den Kieswegen +sammelten sich die ersten dürren Blätter.</p> + +<p>Gerade da, wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes +lag, konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten +goldgelben Fleck hineinschauen, der täglich ein wenig zunahm. Und von +Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter, drehte sich in der Luft +ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder.</p> + +<p>Gleich daneben stand ein Tisch, roh aus ungeschälten Baumästen +gezimmert, und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk +von Weidenzweigen. Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und +arbeiteten.</p> + +<p>Klare-Bel konnte nicht begreifen, wie sie das nur so ununterbrochen +aushielten; manchmal schienen es ihr allerdings nur Unterhaltungen +und Gespräche zu sein, die sie führten, aber sie wußte, wie ernst sie +es damit nahmen, und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb, um seinen +Unterricht vorzubereiten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p> + +<p>Gern lag sie so und lauschte darauf; nicht auf die Worte, aber auf die +Stimmen. Denn darüber täuschte sie sich nicht: nur in solchen Stunden +noch klang Eriks Stimme gerade so froh wie früher. Und da war es +wirklich gut, daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer +in ihrer Nähe saß, wo sie ihn hören konnte.</p> + +<p>Oft dachte sie dabei mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten +Tag im Juni zurück, den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in +der Stadt verbracht hatte. Seit dem darauffolgenden Morgen blieb er +verändert. Und mit diesem Tage mußte es zusammenhängen. Aber den wahren +Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit: namentlich seitdem sie +den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen.</p> + +<p>Denn seitdem begriff sie ganz gut, daß Erik vielleicht noch im +stillen den alten Erinnerungen nachgehen mochte. Kehrten doch sogar +ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück, wohin es keine +Rückkehr gibt.</p> + +<p>Die Jugend ersteht nicht wieder auf.</p> + +<p>Wenn es doch eine Freude gäbe, — dachte sie ganz heimlich bei sich, — +eine große, gewaltige Freude, die sie einmal über Eriks Leben bringen +könnte, so daß er alles darüber vergäße! Aber sie besaß nichts, — sie +hatte immer nur so dagelegen, mit leeren Händen, und Opfer gekostet.</p> + +<p>Vor wenigen Tagen brachte Erik unerwartet den Professor heraus, den er +manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog. Sie war auf ihr Bett gelegt +worden, und dann hatte Erik die in Angst und Schmerz Zitternde ganz +fest in seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> überstanden +waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen.</p> + +<p>»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend.</p> + +<p>»Es muß sein. Eine Aenderung ist da,« antwortete er ausweichend.</p> + +<p>Aenderung! vielleicht Genesung!</p> + +<p>Ja, nur <em class="gesperrt">eine</em> große, gewaltige Freude konnte es noch geben: wenn sie +selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat aus eigenen Füßen, — +da mußte er wohl wieder froh werden.</p> + +<p>Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen +Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken +verträumten sich.</p> + +<p>Als die Strahlen der Nachmittagssonne schräger fielen, und die Schatten +der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die +beiden am Tisch, und Ruth stand auf.</p> + +<p>Da erschien Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich bei diesem +Unterricht, daß immer Ruth es war, die seinen Schluß angeben sollte. +Erik wollte es so; nur diese selbst konnte genau wissen, wann ihre +volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur +seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, — +und das that er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und des Geistes +und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein +Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt.</p> + +<p>Er blickte sie an, wie sie, sonnengebräunt und mit vornübergewehtem +Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von +grobem, ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken +und Oberärmeln,<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> — fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein +Fürstenkind war sie doch.</p> + +<p>Er hatte ein Heft herangezogen, ohne Absicht es durchzusehen; nur +mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb +neben ihm stehen, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken. +Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich, wegen eines +geringfügigen Versehens, das er fand, herrschte er sie so heftig an, +daß Klare-Bel erschrocken aufsah.</p> + +<p>Ruth zog Schultern und Augbrauen hoch und schüttelte entrüstet den Kopf.</p> + +<p>»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, — nicht +wahr? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit +unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort.</p> + +<p>Erik war verblüfft und mußte über sie lachen.</p> + +<p>Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte +etwas derartiges sie scheu gemacht, — sie <em class="gesperrt">ver</em>scheucht. Jetzt +weinte sie nicht mehr darüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie +lachte. Lachte sich aus. — Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen +verspottete sie eigentlich? Sich selbst, — daran war kein Zweifel. +Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von +Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus +seinem Wesen heraus.</p> + +<p>Was war diese Selbstentrückung, dieses Uebermaß von Selbstvergessen +im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, halbbewußt und wider +seinen Willen, — wartete?</p> + +<p>Klare-Bel hatte mitgelacht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p> + +<p>»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du mit dem +Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles +teilen mußt. Wirst du nicht eifersüchtig sein, wenn nun eines von den +Mädchen mehr kann als du?«</p> + +<p>»Warum nicht?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann +wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da. +Je mehr es sind, desto besser.«</p> + +<p>Erik blickte auf. Am Ende würde sie wirklich eine dritte im Bunde mit +Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte +niemand wissen, was sie bei sich dachte.</p> + +<p>Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie +vor Sonnenuntergang hereinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den +ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen +herumgetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er +Ruth in Beschlag nehmen konnte.</p> + +<p>Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den +Birken auf und ab gehen. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen +sich gegenseitig an den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst +das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes +Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln.</p> + +<p>Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von +Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr mit ihrer Hand +liebkosend über seine eigene Wange.</p> + +<p>»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p> + +<p>Der schrak auf bei dem Ton.</p> + +<p>»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher.</p> + +<p>»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik, und schämte sich vor +sich selbst.</p> + +<p>Ruth folgte Jonas ins Haus.</p> + +<p>Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach.</p> + +<p>Da war es wieder, — dies Kindhafte, Kindische, dieses Unausgewachsene +und sonderbar Unreife, über das er in Ruths Wesen nicht hinwegkam. Es +nahm nicht ab, es nahm zu, — es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne +ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie +junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle +kindlichen Elemente sich entwickelten und zu immer vollerer Auslebung +drängten, — und daneben andere, beinahe männliche, die er in +ihr bis dahin nur geahnt. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre +Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische +Richtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik +der Träume gelebt. Sichtlich hatte das Unentwirrbare, Unklare und +Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst +zusammengehangen und fiel mit diesen von ihr ab.</p> + +<p>Erik ging langsam in das Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit +resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber +im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten +abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war +ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten +wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> +Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf +sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel, und daß der Vater sich gerade +die Wochentage genommen hatte.</p> + +<p>Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube +hinauf gegangen sein.</p> + +<p>Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts +rege.</p> + +<p>Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen +Holztreppe.</p> + +<p>Wie ein Dieb erschien er sich selbst, als er da, in der Halbdämmerung, +auf dem untersten Treppenabsatz zögerte.</p> + +<p>Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten.</p> + +<p>Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, — ganz allein. +— —</p> + +<p>Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme. +Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, in dem sich ihre Sachen +befanden, und kramte darin.</p> + +<p>Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht +viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen +gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie die Straßenhändler sie +auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen, am Boden, +Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war bedeckt mit +Bleistiftzeichnungen, die einen breiten Tintenrand als Rahmen empfangen +hatten. Sie rührten alle von Jonas Hand her und stellten alle irgend +einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span></p> + +<p>Erik sah auf den Tisch nieder, auf dem Nähzeug und Papiere unordentlich +durcheinander lagen.</p> + +<p>Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber +in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach +einem Wort und zog eines der Papiere unter dem Nähzeug hervor.</p> + +<p>»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht.</p> + +<p>Sie wurde dunkelrot.</p> + +<p>»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja +auch gar nicht! Aber manchmal, wenn — manchmal muß ich es noch thun.«</p> + +<p>»So Verborgenes thun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß +kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf +geht.«</p> + +<p>Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten.</p> + +<p>»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken. +Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen +sich, und dann muß man Verse schreiben.«</p> + +<p>Erik lachte.</p> + +<p>»O weh, die armen Verse!« bemerkte er, »also einen solchen stillen +Winkel hast du dir noch in deinem Kopf referiert, während es aussieht, +als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den +Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt eine wunderschöne, +unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?«</p> + +<p>Sie sah ihn ganz ernsthaft an.</p> + +<p>»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig.</p> + +<p>»Würdest du denn fraglos thun, was ich will? Auch<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> im geheimsten, was +du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?«</p> + +<p>»Immer.«</p> + +<p>Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.</p> + +<p>»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? und wenn es zufällig +gerade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgend wann einmal, +vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches +geistiges Zu Hause? würdest du dann auch noch ebenso antworten: ›Was +Sie wollen‹?«</p> + +<p>»Ja!« sagte sie einfach.</p> + +<p>Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte, +dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben welchem, +an der Seitenwand, ein kleiner Bücherbort hing.</p> + +<p>Ein paar Minuten vergingen.</p> + +<p>Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die +sich in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr erkennen ließen. +Aber Erik wußte ungefähr, was alles sich hier auf das sonderbarste +einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus +Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht, +eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Uebersetzung und ein +zerrissener Band alter russischem Volkserzählungen, Ueberwegs »System +der Logik« und die französische Uebersetzung des Don Quixote mit den +Illustrationen von Doré, und so fort.</p> + +<p>»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom +Fenster her.</p> + +<p>»Weil ich es nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben verstehe ich nicht, +Ruth. Und mir schien wohl auch immer:<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> Bücher sind tot, nur das +gesprochene Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können, +nie verstehen, mein armes Mädel.«</p> + +<p>»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte etwas andres.«</p> + +<p>»Was möchtest du denn?«</p> + +<p>»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eines, in dem alles drin ist. Aber +nicht mit Worten.«</p> + +<p>»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, malen oder meißeln +müssen, wenn du es mitteilen willst.«</p> + +<p>»Es muß noch auf bessere Weise gehen,« meinte Ruth.</p> + +<p>»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem +lieben Menschen an den Augen ablesen.«</p> + +<p>»Das ist schon besser,« sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen das +Fensterkreuz zurück.</p> + +<p>Kurze Zeit schwiegen beide.</p> + +<p>Die Dämmerung sank tiefer. Ueber den Steinfliesen der Terrasse unter +ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet.</p> + +<p>Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse. +Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter +Ruths Rücken hin und her im Zickzack.</p> + +<p>Erik stand mit einemmal im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände +und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen, +lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern +liegen, und er beugte sich tief über Ruth.</p> + +<p>»Sage mir das nicht mehr, — was du vorhin sagtest: daß du immer und +fraglos thun würdest, was ich will,«<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> bemerkte er mit gesenkter Stimme, +»du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. — Ich könnte ja +auch ein Unrecht von dir wollen. — Hast du daran nicht gedacht?«</p> + +<p>Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf.</p> + +<p>Er umfaßte sie fester.</p> + +<p>»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du +thun?«</p> + +<p>Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien +sich den Fall ernsthaft zu überlegen.</p> + +<p>»Unrecht thun!« sagte sie dann laut.</p> + +<p>Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie +lachte aber über das ganze Gesicht.</p> + +<p>»Für mich ist immer <em class="gesperrt">das</em> das Rechte, was Sie wollen, — niemals ein +Unrechtes. Besser weiß ich es nicht. Ich brauche es aber auch nicht +besser zu wissen.«</p> + +<p>»Mein armes Kind,« sagte er leise.</p> + +<p>Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in +ihr Gesicht.</p> + +<p>»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und +machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles? +Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja <em class="gesperrt">Ihr</em> Kind!«</p> + +<p>Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden +Armen und schüttelte dieselben mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich +es denn nicht?« fragte sie wild. »Worum soll ich nicht mehr thun, was +Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann wäre es +besser, tot zu sein.«</p> + +<p>»Ruth!« rief er erschüttert.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p> + +<p>Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und +schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf.</p> + +<p>»Ich will alles thun, — alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, — +alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die +Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, — Ihr Kind sein dürfen, — +zu Ihnen sagen dürfen: ich will thun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das +muß ich — muß ich dürfen. — — Darf ich?«</p> + +<p>Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde +unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und +ihre Stimme klang wie Metall. Und nun ein ganz weicher, kindlicher Ton: +»— Darf ich?«</p> + +<p>Erik wurde zu Mute, als schaue er plötzlich, erst in diesen +vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte +Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum +erstenmal hinein in das Geheimnis ihres Wesens, — hinein in die +stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit +rückhaltloser Gewalt die langgehemmte, lang aufgestaute Inbrunst +hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das +hieß: endlich — endlich <em class="gesperrt">Kind sein dürfen</em>, gehorchen, sich hingeben, +sich weggeben, auf den Knieen noch. Es hieß sammeln und ausstürzen +dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch +keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen — nur dessen +bedurfte.</p> + +<p>Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an.</p> + +<p>»Bin ich noch immer arm, — ein armes Kind?« schienen sie ihn +unverwandt zu fragen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span></p> + +<p>»Du bist nicht arm, — mein Kind bist du, — und darfst gehorchen, — +mir folgen, — du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser.</p> + +<p>Und er öffnete die Thür nach der Treppe, über der hell das Lampenlicht +aus dem Flurraum heraufschien. —</p> + +<p>Diesen Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Thee in sein +Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die +halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht +ausfiel.</p> + +<p>Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die +Stadt mitzunehmen seien.</p> + +<p>»Willst du zur Stadt fahren? gerade heute? am Sonntag?« fragte seine +Frau erstaunt.</p> + +<p>»Ja. Ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen +notwendigen Besuch machen,« versetzte er.</p> + +<p>Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an +Römer nach Heidelberg, der andere an dessen Frau nach Moskau. Beide +doppelt frankiert.</p> + +<p>Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu +schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschlossenes Gesicht. +Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag +traurig und besorgt diesem Gesicht nach.</p> + +<p>Dies Wortkarge, Verschlossene kannte sie als ein schlimmes Zeichen. +Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so +litt er. Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm +geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht +ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr +immer Leiden und Kummer als die geeignetsten<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Zugänge, die wohl auch +sie zu Eriks Innerem hätte finden müssen, — um ihm nahe zu kommen, +um ihm notwendig zu werden. Aber gerade wenn er litt, wurde er am +unzugänglichsten, — wurde er stets abweisend, bis zur Schroffheit. Nur +in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr.</p> + +<p>So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm +so gern bringen wollte, — noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm +getragen hätte. —</p> + +<p>Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz +gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von +Wiesbaden zurückgekehrt war, um, nach kurzem Aufenthalt, zu den Ihrigen +nach Livland zu reisen, wohin ihr Mann sie begleiten sollte.</p> + +<p>»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte +der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst +nach längeren, zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu +seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben, +eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denke ich mir. Wenn Sie Ihre +Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der +Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?«</p> + +<p>»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war +eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für +Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn +das ihre Abreise unberechenbar beeilen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen +damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen +Sie mich noch einmal<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals, +als ich sie Ihnen fortnahm.«</p> + +<p>»Ich weiß keinen Menschen aus der weiten Welt, zu dem ich mehr +Vertrauen fassen könnte, als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei +Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was +Ruth betrifft, so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als +ob selbst so nahe Verwandte wie wir, Ihnen ein Recht auf die Kleine +abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr +gehandelt ist, handeln Sie so! Ich meinerseits will, — wenn ich sie +nicht wiedersehe, — ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen +und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.«</p> + +<p>»Aber ich bitte dich! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim +ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes +unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren? +Ich meine, mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier +geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein undenkbar.«</p> + +<p>»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das +Weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.«</p> + +<p>Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der +»Zeit« überlassen? Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er +für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz sicherlich ein +Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen.</p> + +<p>»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,« +bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich zu verabschieden, »aber +um so mehr muß<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> ich ein Wort hinzufügen. Du sprichst so ruhig von +Recht abtreten, Louis! Aber <em class="gesperrt">ein</em> Recht kannst du doch nie und nimmer +abtreten. Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit. Das +mag ja eine altmodische Ansicht sein. Aber ich möchte doch wissen, wie +Herr Matthieux darüber denkt.«</p> + +<p>Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten +Augen. Zum erstenmal gefiel sie ihm. Eben die Kampflust gefiel ihm. +Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte, war sie doch ein besserer Wächter als +er.</p> + +<p>»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so fürchten Sie, daß ich mit +meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber +übernehmen würde. Wenn es etwas gibt, was Sie von dieser Furcht +befreien kann, so nennen Sie es nur.«</p> + +<p>Der Onkel sah fast verlegen aus, aber sie beachtete es nicht.</p> + +<p>»Ich antworte Ihnen als gläubige Frau,« entgegnete sie, die stolz +war auf baltische Ueberzeugungstreue, »mir bedeutet moralische +Verantwortlichkeit: schuld sein wollen an einem Menschen, — schuld +an dem, was an seinem innern Menschen geschieht. Nicht zulassen, daß +er Schaden daran nimmt. Wie sollte man das ohne Gott, ohne religiösen +Glauben auf sich nehmen können? Wenn Sie nun Ruth fortgeben, — können +Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen?«</p> + +<p>Ueber Eriks Züge ging ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wußte, der +sie aber wider ihren Willen ergriff.</p> + +<p>»Nun verstehen wir uns,« sagte er mit unterdrückter Bewegung, »denn +eben das soll mein Recht sein: ich will schuld sein an diesem Kinde!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p> + +<p>Sie fand, es klang arroganter als je. Es war nichts, das ihre +religiösen Bedenken beruhigen konnte. Aber ihr war dennoch, als habe er +»Gott« gesagt. —</p> + +<p>Erik ging dem Bahnhof zu. Fast kein Mensch außer ihm in den leeren +Straßen; auch die letzten, die den Sommer in der heißen, ungesunden +Sumpfluft der Stadt zubringen mußten, entrannen ihr am Sonntag. Nur +hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Thür einer +Kellerschenke, oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über +das schadhafte Holzpflaster, das stellenweise noch weit aufgerissen +dalag und darauf wartete, daß seine alljährlichen Löcher in schöner +Mosaikarbeit zugestopft würden.</p> + +<p>Verlorene Glockenklänge, die letzten von einer der zahllosen Kirchen, +zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin, wie Grabgeläute über +einer Totenstadt.</p> + +<p>Erik ging langsam, müden Schrittes heimwärts.</p> + +<p>»Nicht zulassen, daß sie Schaden nimmt,« wiederholte er die eben +gehörten Worte. Ja, genau das wollte er doch. Noch war die Umpflanzung +in einen neuen Boden möglich, wenn er seinen kleinen Baum behutsam, +mit allen feinsten Würzelchen, dort eingrub. Nur so konnte er jetzt +seine Gärtnerdienste an ihm thun, damit derselbe nicht Schaden nehme an +seiner Entwickelung, die noch in hart und fest geschlossenen Knospen +vor sich ging, — undurchsichtig von allen Seiten.</p> + +<p>Denn manchmal, da wachte etwas Gewaltthätiges in ihm auf, — im +pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben, der sich am +Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte, um zu sehen, ob +eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p> + +<p>Aber er fiel sich selbst in die gewaltthätige Hand; er selbst riß Ruth +sich aus der Hand.</p> + +<p>Verdirbt denn ein Vater sein Kind, ein Mann sein Weib, ein Künstler +sein Werk?</p> + +<p>Und ihm schien: seine Liebe zu Ruth sei alles dieses.</p> + +<p>Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet; als er kam, wurde +es einsilbig eingenommen. Klare-Bels Hoffnung, Erik werde erzählen, bei +wem er den Besuch gemacht, erfüllte sich nicht.</p> + +<p>Er wußte wohl, daß er nun davon sprechen mußte. Mit ihr und mit Ruth. +Es war ihm das Schwerste.</p> + +<p>Das dachte er, als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers +stand und wartend in den Hintergarten hinausblickte, wo Ruth sich mit +Jonas erging: »Nur nicht sprechen, — nur nicht grübeln, — handeln! +Sie aus den Arm setzen und forttragen. Handeln! Wer es wortlos dürfte!«</p> + +<p>Und nun ging Jonas ins Haus.</p> + +<p>Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter.</p> + +<p>Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steinrand des Springbrunnens. +Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast +im Grase.</p> + +<p>Wie sie ihn kommen sah, warf sie ihren Zweig fort und lief ihm +entgegen. Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch, zum verspäteten Essen, +und nun schlich sich ihre Hand in die seine.</p> + +<p>Ohne recht zu bemerken, was er that, steckte er sie mitsamt der seinen +in die Seitentasche seiner Joppe.</p> + +<p>Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf, aber als sie den ernsten, +beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah, verstummte sie ebenso +plötzlich.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span></p> + +<p>Sie gingen einige Schritte dem kleinen Gehölz zu.</p> + +<p>»Heute war ich bei deinen Verwandten, Ruth,« sagte Erik, »sie waren +beide da. Ich wollte sie einmal etwas auf das hin ausfragen, was wir in +den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben. Weißt +du nicht? Ich meine daraufhin, ob du nicht einmal im Auslande tüchtig +weiterlernen könntest.«</p> + +<p>Sie sah ihn erwartungsvoll an. Dies da interessierte sie sehr und ein +wenig beunruhigte es sie auch. Denn es handelte sich doch eigentlich +erst um ein ganz allgemein gehaltenes, unbestimmtes Zukunftsbild, — +nicht um etwas, was schon erwogen und besprochen werden mußte.</p> + +<p>»Nun? und was meinten sie darauf?« fragte Ruth gespannt, als er schwieg.</p> + +<p>»Sie haben nichts dagegen einzuwenden, Ruth. Nichts Ernstliches. Da ist +es denn Bernhard Römer gewesen, an den wir dabei gedacht haben. Dort +wüßte ich dich im richtigen Hause geborgen. Es wäre fast so, als wenn +ich selbst bei dir bleiben konnte.«</p> + +<p>Ihre Hand, die er noch umfaßt hielt, erkaltete in der seinen.</p> + +<p>»Ja, — aber — das ist ja noch so lange hin!« meinte Ruth ganz +langsam, und dann immer schneller, in wachsender Unruhe: »Es ist doch +noch lange hin? Sehr lange? Ich soll doch nicht — bald fortgehen? <em class="gesperrt">Von +hier</em> — — fortgehen!«</p> + +<p>Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu, die unter den +Birkenbäumen standen.</p> + +<p>»Komm zu mir,« sagte er sanft, »setze dich zu mir her, mein Liebling, +und laß uns ruhig darüber sprechen. Ganz ruhig, — hörst du?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p> + +<p>Sie folgte ihm schweigend, aber ihre Augen hingen unverwandt, mit +tausend aufgestörten bangen Fragen, an seinem ernsten Gesicht.</p> + +<p>»Sieh, Kind,« fuhr Erik fort, »wenn wir hier, während unsrer +gemeinsamen Arbeit, an deine Zukunft dachten, dann schwebte sie dir wie +ein erwünschtes, lockendes Bild vor. Ich wollte, daß du dich später +weiter entwickelst, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir, +wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich selbst einst erstrebt, +könntest, in andrer Form, du einst verwirklichen. Aber was so, als +Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näher rücken müssen, +bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich +wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.«</p> + +<p>»— — Wie nahe — — ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum +war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre +beiden Hände flach gegen die Ohren preßte.</p> + +<p>»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will es nicht wissen! bitte, +nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.«</p> + +<p>Einen Augenblick schloß er die Augen.</p> + +<p>Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang dieselben zu sich +nieder.</p> + +<p>»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich +vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Gerade hiervon werden +wir weitersprechen. Denn, je mehr du noch davor zurückscheust, desto +dringender, desto eher muß es geschehen.«</p> + +<p>Ruth war sehr blaß geworden.</p> + +<p>Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie +noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> konnte, was aber vor +ihr empordämmerte, — unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, — +schattenhaft, gleich einem Riesengespenst.</p> + +<p>»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will +nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!«</p> + +<p>Er beugte sich zu ihr und suchte ihren Blick.</p> + +<p>»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will +es? Auch nicht, wenn ich selbst es bin, der dich bei der Hand nimmt, +dich vor etwas hinstellt, das dir schwer fällt, damit du lernst, es +herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?«</p> + +<p>Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter.</p> + +<p>»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln, »— irgend +etwas Schreckliches ist da, — seit gestern ist es da, — und +kommt heran, immer näher, — ganz dicht heran, — ganz nahe. Wie +ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. — Ist es etwas +Schreckliches — —?«</p> + +<p>»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »— nur das, +was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was +du mir versprachst? die Probe stellen. Wenn ich es nun thue, Ruth, — +ziehst du dein Versprechen zurück?«</p> + +<p>»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es +keine Auflehnung. Nur Gehorsam.</p> + +<p>»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich thun?«</p> + +<p>Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> zusammengezogen, und +seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen Schmerz.</p> + +<p>Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend bei einander.</p> + +<p>Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ein rundliches +gelbes Birkenblatt nach dem andern ihnen in den Schoß. Mühsam schien +die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den +Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner, satter Ton +die Stille um sie.</p> + +<p>Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst +dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal +in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst thun, was du schon einmal +thatest, als dir das langsame Herankommen, — Näherkommen von etwas +Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als Jonas uns die Schlange ins +Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht +mehr, was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand?«</p> + +<p>»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein +Mittel?«</p> + +<p>»Du sagtest: ›Dann lieber — gleich!‹«</p> + +<p>Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen +ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte.</p> + +<p>Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Kniee, +in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag.</p> + +<p>»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein +Kind! mein Liebling! hörst du mich?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> + +<p>Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das +Bewußtsein verloren.</p> + +<p>Inzwischen kam Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus +beobachtet hatte, wie der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz +hineingegangen war.</p> + +<p>Wie versteinert stand er still, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen +hervortreten sah und Ruth mit geschlossenen Augen regungslos in seinen +Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die +linke hing schlaff herunter.</p> + +<p>»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halte mir die Thüren +offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.«</p> + +<p>Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus, +nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzuschauen, und ins Haus +hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die +Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen +oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Thür, durch +welche man das schmale weiße Bett mit den zurückgeschlagenen Decken +sehen konnte.</p> + +<p>Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht; er wäre so gern +mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend +an ihm vorbei und zog die Thür hinter sich zu.</p> + +<p>Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der +Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während <em class="gesperrt">er</em> +zurückbleiben mußte.</p> + +<p>Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches, +einen starren, wortlosen Ernst, — so, wie wenn Ruth schon so gut wie +tot sei.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p> + +<p>Jonas überlief es kalt.</p> + +<p>Er klammerte sich an den Thürgriff und lauschte mit zurückgehaltenem +Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme, +halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine +Pause, — und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber +so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte.</p> + +<p>Was that man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was that der Vater ihr +an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im +kleinen Gehölz vor sich gegangen sein.</p> + +<p>Und er durfte die Thür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine +rasche, wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in +ihm auf: daß er ein Knabe war, und der Vater ein Mann! Daß er nicht +eindringen durfte mit gleichem Recht, — mit Gewalt!</p> + +<p>Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehen, +wenn sie bei seinem Vater war.</p> + +<p>Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben +der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein.</p> + +<p>Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und +brach in Thränen aus.</p> + +<p>»Ruth ist halbtot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt! +Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, — ich weiß nicht, was +Papa thut, aber ganz bestimmt thut er ihr weh. Sie darf aber nicht +sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch +die Blätter im Garten!«</p> + +<p>Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> erschrocken als er +selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob Erik nicht +bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam.</p> + +<p>»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in +großer Unruhe entgegen.</p> + +<p>»Sei nur ruhig; es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas +einen Wink, hinauszugehen. Dann trat er an seine Frau heran und sagte: +»Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend +vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in +diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.«</p> + +<p>Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen +Staunens an.</p> + +<p>»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du +denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?«</p> + +<p>»Das muß ich doch können, Bel.«</p> + +<p>Im beginnenden Zwielicht vermochte sie nicht seine Züge genau zu +erforschen. Aber dieselben kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und +diesen Ausdruck kannte sie.</p> + +<p>»Erik!« sagte sie ängstlich, »thu nur nichts so gewaltsam. Du siehst +ja, daß es sie krank macht. — Warum siehst du so hart aus, Erik?«</p> + +<p>»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen +kann ich nicht. Aber ängstige dich um nichts. Ruth wird morgen gesund +sein, und auch gefaßt. Für ihre Haltung stehe ich ein. Aber sei gut und +freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.«</p> + +<p>»Verreisen? Du reisest fort, Erik? Wohin?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p> + +<p>»Nach Moskau.«</p> + +<p>»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft.</p> + +<p>»Ja. Ihr soll Ruth sich anschließen. Und sie wird sich wahrscheinlich +hier nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und +besprechen. Mündlich.«</p> + +<p>Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum +hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen.</p> + +<p>Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt.</p> + +<p>»Erik!« flüsterte sie, »— laß mich dich bitten: lasse sie noch ein +Weilchen bei uns. — — — Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!«</p> + +<p>»Du — — — Bel?«</p> + +<p>»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.«</p> + +<p>Er zog ihre Hand an sich, und an den Mund und küßte sie voll Scham und +Ehrfurcht.</p> + +<p>»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht +sein.« —</p> + +<p>Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung +mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war +er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau ab.</p> + +<p>In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik. +Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth werde bis zum Spätherbst bei ihnen +im Haus und dann, vom Hause ihres Onkels aus, nach wie vor in engster +Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob +sie dann, später, mit Jonas zusammen auf die Universität abgehen solle? +Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> +an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus.</p> + +<p>Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise +zu üben. Da er es so wollte, mußte es so wohl gut sein. Gut für Ruth. +Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben. +Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam.</p> + +<p>Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hatte sie +geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu +thun. Zum erstenmal fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für +Ruth, — nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurchging +und alles auf ihn bezog. —</p> + +<p>Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von +den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer +einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß +und ernst, aber gesund, wie Erik es gesagt hatte, und ganz gefaßt und +still.</p> + +<p>Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte Klare-Bel ihr die Arme +entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denke +nicht an die Abreise. Noch bist du hier!«</p> + +<p>Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht +verändert hätte, und schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Ich bin schon fort!« entgegnete sie.</p> + +<p>Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es lag etwas +Schmerzlicheres darin, als in Klagen und Thränen, — etwas, das die +bloße Ankündigung der Trennung schon mit ganzer Wucht als Trennung +empfand und nicht mehr davon los konnte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span></p> + +<p>Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam Erik ihr +doch hart vor. Wie konnte er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus, +von Hand zu Hand ging. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die +wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit +griff sie nach dem Höchsten, das sie gekannt hatte.</p> + +<p>»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,« +sagte sie zögernd, »wir wissen es nie. Es steht in Gottes Hand. +Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehen. Gott ist +allgegenwärtig.«</p> + +<p>Ruth lächelte flüchtig.</p> + +<p>»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott +allgegenwärtig ist, wenn die Menschen es doch nicht sind? die Menschen, +von denen wir fortgehen.«</p> + +<p>Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu +wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen +zugleich. Wer mochte darauf antworten?</p> + +<p>Ueber Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht +davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht darüber, ihn nicht +zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in Auflösung begriffen.</p> + +<p>Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es +ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er +nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war +seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt.</p> + +<p>Gern hätte er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei, +aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem, fremdem Blick an +ihm vorbei, daß er es nicht<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> herausbrachte. So begnügte er sich damit, +so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne +gelegt, und von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu +streicheln. Manchmal duckte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß +Ruth es beachtete.</p> + +<p>Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung, +daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten +hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt, aus Todesgefahr errettet, +— wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem.</p> + +<p>Spät abends, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war, +patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf +und ab, und es that ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte. +Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett, +aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder.</p> + +<p>Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf +einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen +Morgengrauen, noch Licht brennen.</p> + +<p>War sie krank? unglücklich?</p> + +<p>Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und +kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte +Ulme; sie besaß einen bequemen Sattel, von dem aus zwei mächtige Aeste +sich gabelten. Wie eine Katze glitt Jonas am bemoosten, von den starken +Niederschlägen der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf.</p> + +<p>Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der +Giebelstube fiel.</p> + +<p>Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie +hinaufgestiegen war, saß sie noch da; die Arme<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> vor sich hingestreckt, +die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr +Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über +die dunkeln Wipfel des Gartens.</p> + +<p>Sie schaute so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne. +Und um die festgeschlossenen Lippen lag ein stiller Ausdruck, — lag +Ergebung.</p> + +<p>Jonas starrte auf sie hin mit weitgeöffneten Augen. Er war so im Bann +des <em class="gesperrt">einen</em> Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das +flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht, +daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, — +nicht, daß auf ihnen ein offener, halbgefüllter Koffer stand, und daß +die Wände, ohne den Schmuck seiner Bleistiftsskizzen, kahl und leer auf +Ruth niederblickten.</p> + +<p>Er sah nur sie, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden +Heiligen, und alles, was in dem gestrigen Erlebnis seine schwerfällige +Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute +Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde zu etwas Geheimnisvollem und +Leidendem für ihn; aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen, +das seine Schwärmerei wachrief.</p> + +<p>In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut von gestern; er sah +sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, — und sein Herz +schlug beklommen. Er vermochte die Augen nicht vom Fenster abzuwenden.</p> + +<p>Die Nacht war kalt; vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und +blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz +klang verschlafen ein Rabenkrächzen.</p> + +<p>Jonas fror; er schob die Hände unter seine dünne<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Sommerjacke und +drückte sich dichter gegen die breiten Aeste, deren Feuchtigkeit ihn +allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffeln +klatschend aus die Terrasse nieder.</p> + +<p>Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er +hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte Ruth +sich. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit +geweckt.</p> + +<p>Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern.</p> + +<p>Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten +Hemde, die zarte Wölbung der Brust.</p> + +<p>Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die +entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Kniee +und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper +langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen.</p> + +<p>Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh, +er hatte die Kälte vergessen.</p> + +<p>Vor seinen Augen flimmerte es.</p> + +<p>Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um +nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett.</p> + +<p>Ueber ihm glomm langsam der Morgen herauf. —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Als Gonne früh morgens, beim Fegen der Terrasse, den Pantoffel auflas, +war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos +vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein +starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum +sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber.<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Auf Klare-Bels besorgtes +Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben.</p> + +<p>Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett.</p> + +<p>Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn +erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug +benutzt.</p> + +<p>Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte +unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun +seines, — was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften +von seiner Hand, — der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den +Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben +von ihrer Hand.</p> + +<p>Da vernahm sie unerwartet im Flur einen raschen, festen Schritt.</p> + +<p>Die Thür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine Brust.</p> + +<p>Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der +einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv +hin.</p> + +<p>Um so mächtiger jedoch wirkte der plötzliche Anblick Eriks jetzt auf +sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, — in diesem einen +Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der +bevorstand, — leugnete ihn, vernichtete ihn, — in diesem Augenblick +wurde alles, — alles gut.</p> + +<p>Sie vermochte nichts zu denken, als daß er da war. Und daß sie bei ihm +war.</p> + +<p>Fest, — fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, fest barg sich +an seiner Schulter ihr Gesicht.</p> + +<p>So stehen bleiben, — für immer so stehen bleiben,<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> festgewurzelt für +immer an dieser Stelle, hineingeschmiegt in die weiten, weichen Falten +des geöffneten Reisemantels, — nichts fühlen, nichts vernehmen, als +den starken, dumpfen Herzschlag, der ihr entgegenpochte, — für das +ganze Leben nichts — nichts mehr.</p> + +<p>Sie wechselten kein Wort.</p> + +<p>Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten; stumm hielt +er Ruth an der Brust, schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr +Haar.</p> + +<p>Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern, um ihre +Hüften, und umschlossen sie mit so gewaltthätigem Griff, daß es wie +Schmerz und Ersticken über sie kam, — als müsse er sie nun zerbrechen. +Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust, — sterben, — +nicht fortgehen, — dachte sie, und es überflutete sie mit einem +jauchzenden Glücksgefühl, wie sie es nie gekannt.</p> + +<p>Erik sah sie lächeln.</p> + +<p>Er verlor die Besinnung.</p> + +<p>»Wahnsinn!« schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf, »Wahnsinn! Wahnsinn, +sich zu lassen, wenn man sich liebt.«</p> + +<p>Eine Sekunde lang, — dann ließ er sie so jäh los, daß sie +zurücktaumelte. —</p> + +<p>»Erik!« rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer, »Erik, bist du +wieder da?«</p> + +<p>Er hing den Mantel an den Ständer, dann öffnete er die Thür zu der +Wohnstube, in der sie lag.</p> + +<p>»Denke nur, Erik, Jonas ist inzwischen krank geworden, — so schwer +erkältet, — hoffentlich ist es nicht schlimm. Er hat — — aber was +ist dir?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p> + +<p>Er stand da wie ein Betäubter, das Blut in den Augen.</p> + +<p>»Nichts. Ein Schwindel,« murmelte er, setzte sich an den Tisch und +stützte den Kopf auf die Handflächen.</p> + +<p>»Das ist diese übertriebene Eile!« klagte sie besorgt, »— daß es mit +solcher Windeseile vor sich gehen soll. Wann ist es denn nun, daß sie +reist, Erik?«</p> + +<p>»Morgen, — um Mittag,« sagte er leise.</p> + +<p>»Mein Gott, so schnell ist es aber doch rein unmöglich! Denke doch nur, +was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt. +Ruth braucht doch gewiß noch manches, was für sie beschafft werden muß.«</p> + +<p>»Es kann alles in Heidelberg beschafft werden.«</p> + +<p>»Nun ja, Erik. Aber wenn du wüßtest, wie tief es ihr geht. Wie blaß und +elend sie ausgesehen hat, gestern und heute. Sie ist doch nur zart.«</p> + +<p>»Hör auf!« sagte er zwischen den Zähnen.</p> + +<p>»Ach, Erik, ich widerspreche dir ja nicht! Das thue ich ja niemals! Sie +thut mir nur so leid. So allein ist sie, und so liebebedürftig. Und +nun: von Haus zu Haus, von Hand zu Hand. Und wenn sie nun erkrankt, —«</p> + +<p>»Hör auf!« unterbrach er sie außer sich und sprang auf, und warf den +Stuhl zurück, daß er zu Boden schmetterte, »hör auf, Bel! Es ist genug! +Ich will es so!«</p> + +<p>Damit verließ er das Zimmer.</p> + +<p>Mit erschrockenen Augen sah sie ihm nach. Erik war fast immer sanft +gegen sie, obschon — oder vielleicht weil — ihr Wille gegen den +seinen nie recht in Betracht kam. In so heftigem Ausbruch hatte sie ihn +lange nicht mehr gesehen, — wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr. +Kranke sind gute Lehrmeister!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p> + +<p>Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe. Da war ihm der rasche Zorn noch +nicht verraucht, da ward er leicht heftig, wenn seine Frau nicht ganz +dem entsprach, was er erwartet, was er mit ihr gewollt hatte.</p> + +<p>Seltsam: damals erschreckte es sie nicht, — nein, mehr noch, so +wunderlich es auch sein mochte: sie liebte diesen Zorn. So deutlich +fühlte sie, daß Eriks Liebe damit verknüpft war. Gegen einen ihm +gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden. Mit dem Interesse +an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen, ihn +zu formen, zu gestalten, nach seinem Willen umzuprägen. Liebe und Härte +fielen zusammen.</p> + +<p>Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen, da befanden +sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen: die eine, +im roten Sarafan, auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel +dreinschlug, lachte über das ganze Gesicht; die zweite, im blauen +Sarafan, saß daneben am Weg auf einem Stein, sah neidisch zu und weinte +sich die Augen aus, indes ihr Liebster mit einer andern spazieren ging.</p> + +<p>Das war gewiß eine dumme Geschichte. Aber diese beiden Bauersfrauen +konnte Klare-Bel gut verstehen.</p> + +<p>Niemals sollte sein Zorn sie schrecken: nur, daß er mit seinem Zorn +seiner Liebe vergäße. —</p> + +<p>Der Tag schlich langsam zu Ende. Es war so still im Hause, als ob +keiner darin anwesend sei. Erik hatte lange bei Jonas gesessen, +ihn genau angesehen, alles Notwendige veranlaßt und den heftig +Widerstrebenden gezwungen, sich ganz zu Bett zu legen. Es handelte sich +um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p> + +<p>Ruth stand auf dem Flur, gegen das Treppengeländer gelehnt. Sie wußte +selbst nicht, warum sie dort stand. Wahrscheinlich weil alle Thüren +sich in den Flur öffneten. Und aus einer der Thüren mußte doch endlich +Erik kommen. Und wenn er kam, mußte er doch zu ihr treten. Sich nach +ihr umwenden. Er mußte doch einsehen, daß es unmöglich war, so fremd +aneinander vorüberzugehen, wie er es heute abend that.</p> + +<p>Sie wollte so wenig: nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte +sie, — nur seine Hand fühlen, einen Augenblick lang.</p> + +<p>Seitdem Erik sie an sich gerissen, und von sich gestoßen hatte, war +eine ratlose Verzweiflung über Ruth gekommen. Die äußere Trennung, +die nahm sie ja hin, wie etwas Furchtbares, aber Unabwendbares, weil +er es so forderte. Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von +sich losriß, das konnte sie nicht ertragen. Ihn den Blick absichtlich +fortwenden zu sehen, — ohne ein Wort der Liebe für sie, ihn wie einen +Fremden dastehen zu sehen, — das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen.</p> + +<p>Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus. Als er Ruth an +der Treppe bemerkte, sagte er ihr gute Nacht. Sie machte eine Bewegung +auf ihn zu, ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf. +Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er gab ihr nur flüchtig die Hand. +Dann ging er an ihr vorüber, zu Jonas hinein.</p> + +<p>Bald darauf siegte die Uebermüdung über ihn; wider Erwarten fiel er in +einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten +seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß +bedeckten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p> + +<p>Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und +gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere +Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer +Theaterposse, als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der +unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick. Und da, +als er in der Angst des Traumes gewaltsam seine Augen von der Fratze +wandte, — fort, einem andern Ruthbilde zu, — da wandelte es sich vor +ihm — zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth, — und +schamlos, fremden Männern preisgegeben, — einen weißen Körper, der +nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, — +und doch wußte er: es sei Ruth.</p> + +<p>Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus +hörte er küssen und lachen.</p> + +<p>Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den +Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an +Eriks Ohr.</p> + +<p>Er richtete sich auf und lauschte.</p> + +<p>Das Weinen kam aus Jonas' Bett, welches neben der offenen +Verbindungsthür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, wie er +es in den Kissen zu ersticken suchte.</p> + +<p>Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas' +Bett. Als dieser ihn kommen hörte, verkroch er sich nur tiefer in seine +Decken.</p> + +<p>»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker +geworden?«</p> + +<p>»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt +im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat +nichts genützt,<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht +wußte, habe ich gehört! Ich habe gehorcht und habe es gehört!«</p> + +<p>Erik schwieg einen Augenblick betroffen.</p> + +<p>»Du sprichst im Fieber,« sagte er dann, »was weißt du denn, was hast du +gehört?«</p> + +<p>»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!«</p> + +<p>Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen.</p> + +<p>Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm die Hand besorgt an die +trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß seine Hand zurück.</p> + +<p>»Nein!« sagte er fast keuchend, — »du willst es ja, — du bist +es ja — schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth, +— schützen, denn was weißt du, — wie ihr zu Mute ist. Du weißt +nicht, hast nicht gesehen, — wie sie daliegt die Nächte, — halb +ausgekleidet, an ihrem Bett, — wie gestern.«</p> + +<p>Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so +daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß, um den Schmerz zu +beherrschen.</p> + +<p>»Was hast du — gestern — gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme.</p> + +<p>Jonas setzte sich auf.</p> + +<p>»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie, +— oder betete, — so geheimnisvolle Augen hatte sie, — und ich habe +mit ihr gewacht, — ganze Nacht, heimlich, oben, in der alten Ulme vor +der Terrasse.«</p> + +<p>Erik sprach kein Wort.</p> + +<p>Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas +über Stirn und Haar hin.<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen. +Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten +liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehen und Mitfühlen, das +ihn um die letzte Fassung brachte.</p> + +<p>Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein +unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halbverständlich, brachen die Worte +aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln: +»Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann es nicht aushalten, daß sie +fortgeht! Ich war böse auf dich, — nimm's nicht übel, — hilf mir! +halte sie, Papa! sie bleibt da, wenn du es willst. Früher war ich mal +eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebst als mich. +Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich +liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf +der Welt!«</p> + +<p>Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest.</p> + +<p>»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen +Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst nicht +hier liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber. +Nimm dich zusammen.«</p> + +<p>Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam.</p> + +<p>Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände los +zu lassen.</p> + +<p>»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein +Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du +mir folgst, aber anders<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt +trennen. Wir alle müssen es. Denn morgen schon reist sie fort, und bis +dahin wirst du nicht aufstehen dürfen.«</p> + +<p>Jonas fuhr empor.</p> + +<p>»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht! +Ich muß Ruth küssen, — ich muß sie küssen, — wenn sie geht!«</p> + +<p>»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht +küssen wollen, hoffe ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede +Widerrede abschnitt; »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern +auch alles thun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen, +wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit, +keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung +mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du thun. Ich muß mich +unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen +soll. — Kann ich es?«</p> + +<p>»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er +konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt.</p> + +<p>»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen +ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas +war, als spräche er mit den Lauten seiner Mutter zu ihm, »wenn Ruth von +dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein +Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran, +daß du bald ein ganzer Mann wirst, — damit du ihr einst ein ganzer +Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du, in allem was +du thust, zu ihr zurück, — ihr nahe. Dulde es<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> nicht, daß sie dich so +ganz überflügelt und dich einst weit — weit hinter sich zurückläßt! +Jetzt kannst du zeigen, was du wert bist, — und ob du's wert warst, +Ruth gehabt zu haben.«</p> + +<p>Jonas lag ganz still und lauschte.</p> + +<p>»Ja!« sagte er begeistert, »das will ich! ach, Papa, das will ich!«</p> + +<p>Und er hob den Kopf und küßte den Vater. Erik hielt seinen Kopf einen +Augenblick lang an sich.</p> + +<p>»Wir werden <em class="gesperrt">nie mehr</em> hiervon miteinander sprechen,« sagte er leise, +— »nie mehr. Aber vergiß es nicht. Zwinge deine Gedanken auf die +Arbeit, auf das, was vor dir liegt. Suche dich mit mehr Festigkeit zu +beherrschen. Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen. +Streng mit dir sein müssen, mein Junge. Mache es mir nicht schwer.«</p> + +<p>»Papa,« versetzte Jonas so zutraulich, wie er sonst nur mit Klare-Bel +zu sprechen verstand, »ich will mich nie wieder vor dir fürchten. Sei +so streng du willst gegen mich. Du hilfst mir ja damit, nicht wahr? +Tüchtig zu werden. So fest und tüchtig wie kein andrer. Ausstechen muß +ich jeden andern! Hilf mir schnell, ein ganzer Mann zu werden! — Ein +Mann für — für — ich meine: ein Freund für Ruth.«</p> + +<p>Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert; Erik mußte +ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen. Nun schwieg er; er +lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft.</p> + +<p>Erik war außer stande, sich wieder schlafen zu legen; er kleidete sich +vollständig an. Er fühlte sich frei; wie erfrischt von einem langen, +gesunden Schlaf, wie gekühlt<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> und gestählt durch ein erquickendes Bad. +Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend, die noch auf +seinen Träumen gelastet hatte, war verflogen. In der Einwirkung auf +einen andern, dessen Unruhe er bezwang, dessen innerste, widerstrebende +Gedanken er bestimmte, — im kurzen Kampf mit dem Knaben, der zugleich +sich gegen ihn auflehnte und ihm vertraute, hatte er sich selbst +zurückgefunden. Seine Kraft geweckt und gesammelt. Er wußte recht +wohl, wie es damit stand: wenn er sich am schwächsten fühlte, dann +erstarkte er an der Kunst, andre in überlegener Behandlung zur Stärke +zu veranlassen; an der gehobenen und mutigen Stimmung, die er von ihnen +forderte und in ihnen hervorrief, — an seinen eigenen überzeugten, +überredenden Worten kletterte er selbst zu neuem Mute, neuer Zuversicht +empor, wie an einer langen Leiter, die sich manchmal mitten aus seiner +eigenen Verzagtheit erhob, aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien, +— bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen.</p> + +<p>Viele tausend solcher Leitern, festgehalten von den Händen einer +Menschenmenge, die ihn umdrängte, die an ihn glaubte, die auf ihn +angewiesen war, — und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen.</p> + +<p>Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen! denn Stützen +waren es, — wie sehr auch er selbst als der Stützende dabei erschien. +Niemand ist absolut stark.</p> + +<p>Erik wußte recht wohl, wo seine Gefahr lag, wo auch in ihm der +Schwächling steckte: da, wo er sich allein überlassen blieb.</p> + +<p>Draußen herrschte noch dunkle Nacht. Es schlug drei Uhr.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p> + +<p>Erik litt es nicht im engen, warmen Zimmer. Er öffnete leise die +Hausthür und trat hinaus.</p> + +<p>Die Finsternis war so dicht, daß er nur langsam der Tiefe des Gartens +zugehen konnte. Er empfand den aufsteigenden Nebel, ohne ihn zu sehen. +Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des +kleinen Gehölzes. Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein +verlorener Stern. Das letzte Mondviertel, der schmale, blasse Vorläufer +der Morgenröte, war noch nicht sichtbar.</p> + +<p>Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen. Er vernahm +absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter. Aber er fühlte, daß +er nicht allein sei.</p> + +<p>»Ruth!« murmelte er unwillkürlich.</p> + +<p>»Ja! was soll ich?« fragte sie schüchtern.</p> + +<p>Mit einem Schritt stand er neben der Bank; er tastete nach ihr.</p> + +<p>»Was du sollst?! Im Bett sein!«</p> + +<p>Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um.</p> + +<p>»Was thust du hier mitten in der Nacht? Weißt du nicht, daß Jonas sich +in dieser gefährlichen, kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat?«</p> + +<p>»Ja, ich weiß es. Aber mir schadet das nichts,« versetzte sie zaghaft, +»das Fieber thut so gut; ich kenne es gut: da liegt man im Traum und +hört auf zu denken. Und da dachte ich, ich könnte es auch so gut haben.«</p> + +<p>Jetzt fühlte sie seine Hand, die sich fest um ihr Handgelenk legte.</p> + +<p>»Was sagst du da?« fragte er ganz langsam, »du <em class="gesperrt">suchtest</em> das Fieber?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p> + +<p>»Nein! nein!« rief sie flehentlich, »ich will es ja nur ein wenig, — +ein klein wenig nur, — nicht so, daß es die Abreise hindern sollte! +Ganz gewiß nicht!«</p> + +<p>Ein Laut brach von seinen Lippen, wie wenn er verwundet würde. Sie +konnte hören, wie seine Zähne leise übereinanderknirschten.</p> + +<p>Er beugte sich über sie.</p> + +<p>»Und das — das glaubtest du zu dürfen,« sagte er matt.</p> + +<p>»Ja, ich durfte es; denn ich will ja thun, was ich versprochen habe. +Bin nicht ungehorsam. Nur so ganz allein bin ich. Niemand, der nur ein +bißchen hilft. Da sollte das Fieber mir helfen. Ich darf thun, was ich +will, — wenn es nichts aufschiebt,« versetzte sie finster.</p> + +<p>»So. Und wenn du nur rechtzeitig fortgekommen bist, meinst du, — +dann könntest du thun, was du willst? Auch vielleicht dich irgendwo +hinsetzen und krank werden, wenn dir das ›hilft‹? Du irrst dich, mein +Kind. Ich lasse dich nicht los, indem ich dich fortlasse. Und aus der +Ferne sollst du mir doppelt gehorchen. Dein Versprechen geht auf dein +ganzes Leben. Du bist mein. — Bist du es?«</p> + +<p>»Ja!« rief sie inbrünstig.</p> + +<p>»Steh auf und geh hinauf.«</p> + +<p>»Ich kann es nicht so, — ich muß erst wissen, — wann reise ich?«</p> + +<p>»Ich werde es dir morgen sagen. Heute nacht nicht. Du sollst dich +hinlegen und zu schlafen versuchen. An nichts denken als daran, daß du +schlafen sollst. Wirst du es?«</p> + +<p>Sie war schon aufgestanden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span></p> + +<p>»Ja!« murmelte sie, »morgen! Ich muß morgen fragen, was ich will.«</p> + +<p>»Das sollst du.«</p> + +<p>Er gab ihr die Hand.</p> + +<p>»Geh voraus. Gehe nur. Ich folge schon. Warte im Hause nicht auf mich.«</p> + +<p>»Gute Nacht!« sagte sie gehorsam und ging.</p> + +<p>»Mein Liebling! gute Nacht!« rief er ihr nach.</p> + +<p>Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen, nach denen sie +den ganzen Tag, die ganze Nacht gehungert hatte.</p> + +<p>»Verzeih mir! Liebling,« sagte er reuig vor sich hin, während er ihr +langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in +dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer +bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute, — aus +Furcht vor seinen Sinnen, — und vor diesem unwissenden Kindersinn, der +ihm mit einem Lächeln entgegenkam.</p> + +<p>Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in +letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und +gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie +die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das, +was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, — mit +einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das +nie geliebkoste Kind kennt.</p> + +<p>Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie +umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutterliebe, — aus +einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller +Bedenken entschlagen konnte, — daß er sein Liebstes nur noch wie<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> auf +starken Armen hob und trug, — es einem schlummernden Kinde gleich in +einem letzten Traum hinübertrug in die fremde, die kältere Welt. —</p> + +<p>Der Hausflur war schwach erhellt von dem Licht, das an der offenen Thür +zu Eriks Zimmer stand. Ruth hing die Joppe über den Thürgriff, und ohne +sich nach Erik umzusehen stieg sie hinauf.</p> + +<p>Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich +ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des +Dunkels, der Einsamkeit.</p> + +<p>Seit der Stunde seiner Rückkunft gestern verlangte ihn unbewußt nach +dieser Stille und Einsamkeit.</p> + +<p>In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau +hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag, und Bels +Stimme ihn rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief: +»Erik, bist du wieder da?« — Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst +du fort von mir?«</p> + +<p>Und als er sie wiedersah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut +kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine +lange, lange — jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau +nicht gesehen, nicht mit sich genommen, — ja, vergessen hatte. Es war +fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen.</p> + +<p>Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine +Selbstbesinnung zu.</p> + +<p>Aber jetzt — jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die nämliche +Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete +er ihr: »Es ist eine lange,<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> lange Reise gewesen. Ich <em class="gesperrt">habe</em> dich nicht +wiedergesehen all diese Zeit hindurch, — dahin nicht mehr gesehen, wo +du bist: dich vergessen.</p> + +<p>Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks. +Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollte ich nur +<em class="gesperrt">einen</em> Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, — in +eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was +hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen +hat, und dasteht wie ein Bettler oder wie ein König, wollte ich meine +Hände aufheben zu meinem Glück.</p> + +<p>Dann — einst — ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und +Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, um sich +mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren. Zum Kampf. Zum +Kampf um mein Glück.«</p> + +<p>Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf — — — +Glück.«</p> + +<p>Er öffnete, wie erwachend, die Augen.</p> + +<p>Es war hell um ihn. Die Nacht vorbei. Glutrot stand der Himmel, wie in +Flammen.</p> + +<p>Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein +ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner +Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden.</p> + +<p>Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten +vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob +Gonne ihnen wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar +Krumen zuwerfen werde?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p> + +<p>Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit.</p> + +<p>Er hatte Bel geliebt, — so sehr, wie, nach seiner Meinung, der Mann +bisher das Weib überhaupt lieben kann: nicht nur mit der Habgier der +Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe« +hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein +Priester, das nur der eigene, bewußte Wille besiegelt. Es war gewesen, +wie er damals, im scherzenden Gespräche über die Ehe, zu Warwara +gesagt: kein Pflichtbewußtsein, sondern das dauernde Glücksbewußtsein, +seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in +allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder +Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu +ändern vermocht.</p> + +<p>Wenn er ihr je untreu geworden in einer heißen Aufwallung des +begehrlichen Blutes, — oder auch in einem bittern Rückblick auf die +zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte +er sich gegen sich selbst auf mit Kraft und Härte. Niemals hätte er es +doch zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne +als sein Wille, seine Bürgschaft.</p> + +<p>Und nun, wenn er alles sammelte, was er an Scham und Selbstvertrauen, +an Stolz und Herzensgüte besaß, — wenn er das alles sammelte und +zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen +Kampf mit ihm zu schützen? Oder, wenn es denn in der Zukunft zu einem +solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was +stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten +und gegen ihn selbst zu siegen?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p> + +<p>Erik schaute geradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er +wollte, — er mußte ehrlich sein.</p> + +<p>Und er sagte sich: »Nein.« — — —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch +blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Thee auf sein Zimmer +bestellt, dann ging er zu Jonas hinein, um nach ihm zu sehen.</p> + +<p>Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten.</p> + +<p>Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus.</p> + +<p>»Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.«</p> + +<p>Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster.</p> + +<p>Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber +sie blickten sicher, — fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe +kalt.</p> + +<p>Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück.</p> + +<p>»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl. +Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im +Garten und — bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen +gehört uns allein. Uns zusammen. Und den wolltest du krank zubringen.«</p> + +<p>Sie antwortete nicht.</p> + +<p>Ganz leise nur beugte sie gegen ihn den Kopf vor, so daß seine Hand +durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still.</p> + +<p>»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich +etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still thun. Niemals +in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> +schwerer. Aber niemals sollst du es dir erleichtern. Durch nichts. Nur +war ich dieses Mal selbst nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie +krank, — nicht wie ich sein sollte. Siehst du, nun beichte ich es dir +auch. — — — Ist es nun gut?«</p> + +<p>Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf.</p> + +<p>»Eins fehlt noch,« sagte sie.</p> + +<p>Ihm kam ein Lächeln.</p> + +<p>»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvolles Fürstenkind?«</p> + +<p>»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?«</p> + +<p>»Das darfst du. Halte deine Hände offen, Liebling, und laß dich +beschenken.«</p> + +<p>Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knieen, +und hob ihr Gesicht auf zu ihm, — Trotz in den Augen.</p> + +<p>»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.«</p> + +<p>Erik stutzte.</p> + +<p>Er schaute forschend in ihre Augen, mit dem fest auf ihn gerichteten +rätselhaften Blick.</p> + +<p>»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach.</p> + +<p>Sie flüsterte kaum hörbar: »Daß ich erfahre, <em class="gesperrt">warum</em>. Das plötzliche +Fortmüssen, — — — <em class="gesperrt">warum</em>?«</p> + +<p>Er legte ihr die Hand über die Augen.</p> + +<p>Eine lange Pause entstand.</p> + +<p>»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann, +»zwischen uns fehlt <em class="gesperrt">eins</em>. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und +mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, — daß wir im Alter so +weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> du, das +gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es +bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, — mitzuteilen. Aber +nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen +dir und mir, — <em class="gesperrt">sie</em> eint uns gerade. Nur sie macht, daß ich dich +leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll +knieen kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir +aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich +habe den halben Weg schon zurückgelegt. — Oder könntest du das missen? +möchtest du lieber, ich stände neben dir, von gleichem Wuchs wie du? +noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?«</p> + +<p>»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.«</p> + +<p>»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.«</p> + +<p>Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie ihr Herz wild zu schlagen +begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. — Sie war +gestern irre geworden. —</p> + +<p>Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, — +sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen: +Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre +Gefühle in Gärung gekommen sein, — mochte eine Welt von unverstandenen +Empfindungen in ihr ringen.</p> + +<p>Die feine, ruhige, gerade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so +kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig, +— sie schien sich zu biegen, — eine Wendung zu machen: eine Wendung +zu ihm hin — oder von ihm fort.</p> + +<p>Ueber Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> Fähigkeiten +aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte, und +jegliche sinnliche Erregung vollkommen niederhielt.</p> + +<p>Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück. +Ihre Lippen zitterten.</p> + +<p>»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in +dir geregt? Brich den letzten Trotz, — denn es war einer. Laß mich +ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib +nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich rechtlos. +Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu +gehen, ohne ein Warum.«</p> + +<p>»Wann — gehen?« fragte sie undeutlich.</p> + +<p>Er drückte ihren Kopf an sich.</p> + +<p>»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein, +nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch +diese Stunde, Ruth. Dann bringe ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der +ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.«</p> + +<p>Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als +solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte +nicht länger. Sie gab nach, willenlos.</p> + +<p>Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor, +der sie überfiel. Gestern war sie doch irre geworden an ihm, — und +morgen? — — da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr, +was in ihr vorging.</p> + +<p>Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh thun will, +sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh thun <em class="gesperrt">kann</em>. +Gib dich dieser Liebe,<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> Ruth, — ohne Rückhalt, ohne Zweifel, — gib +dich ganz. Denke täglich, daß ich es zu dir sage, — des Morgens mit +deinem Erwachen, des Abends mit deinem Einschlummern: <em class="gesperrt">Ich hab' dich +lieb.</em>«</p> + +<p>Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, — mit grenzenlosem Dank in den +Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund, +— ein wenig zaghaft noch.</p> + +<p>»Da gehe ich ja nicht fort, — da nehme ich Sie ja mit,« sagte sie, +fast schelmisch.</p> + +<p>Das Glück brach aus ihren Augen, — ja, der Schalk.</p> + +<p>Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im +Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden +berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie +sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem +Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, nicht +stärker sich aneignen als in diesem Augenblick, wo er sie von sich +löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war.</p> + +<p>Einigung und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges +Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen +verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in +einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens.</p> + +<p>»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß +wir <em class="gesperrt">nicht</em> sind wie ›zwei Kinder im Wald‹, die sich verlaufen? Für +die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren, +— verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> von der Hand. +Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehen siehst, und +doch um dich weißt — über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie +jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, — der +aber doch alles weiß, was dir not thut und gut thut wie —«</p> + +<p>»Wie Gott,« sagte Ruth keck.</p> + +<p>Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin.</p> + +<p>Aus Gespensterfurcht?</p> + +<p>Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst +aufwachen mochte, an unbewußtem, ungeheurem Fordern und Bewundern und +Erwarten.</p> + +<p>Sie sagte es, gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie +ein Kind einen Kuß gibt.</p> + +<p>Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so +nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, — dem vermessensten.</p> + +<p>Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts.</p> + +<p>Und er küßte sie aufs Haar.</p> + +<p>»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch für dich: wie dein Gott.« —</p> + +<p>Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu +schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das +Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein +leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, welche das Gepäck +aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen.</p> + +<p>Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem +Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte erstaunt auf. Weder er noch +Ruth machten ein trauriges<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt, +dort im Zimmer, hatte er es Ruth mitgeteilt.</p> + +<p>»Wie er das nur zu stande gebracht hat? Er kann doch alles, was er +will!« dachte sie bewundernd.</p> + +<p>Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in +beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik +scherzte darüber, und Ruth harte ihre Schelmengrübchen in den Wangen.</p> + +<p>Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln +Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden +Perlen überblitzt.</p> + +<p>Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen, +verschämten Gesicht.</p> + +<p>Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen. +Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus.</p> + +<p>Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehen, — den +letzten, grüßenden Zuruf seiner Mutter, — die Thüren gingen, — — +dann eine Minute der Pause, — — und nun fiel, mit einem schwachen +Knarren, die Gartenpforte ins Schloß. — — —</p> + +<p>Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am +frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück.</p> + +<p>Aber es blieb so still wie zuvor.</p> + +<p>Jonas hielt es nicht länger im Bett aus; er stand auf, und seinen +kalten Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden, +stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters.</p> + +<p>Der Vater war nicht da.</p> + +<p>Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> mußte machen, daß er +fertig wurde, ehe der Vater ihn hier überraschte.</p> + +<p>Und seine Feder kratzte über das Papier.</p> + +<p>Er schrieb an Ruth:</p> + + +<div class="blockquot"> + + +<p> +<span style="margin-left: 5em;">»Süße, liebe Ruth!</span><br> +</p> + +<p>Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem du +arbeitetest.</p> + +<p>So ungeheuer gern wär' ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollte ich +aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff +(vielleicht war es gar nicht dein Zug), da habe ich trotzdem ein +bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort.</p> + +<p>Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will dir noch nicht +sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange +ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich dir +nicht schreiben. Aber dann schreibe ich dir, daß du meine Frau werden +mußt. Im Spiel hast du es niemals sein wollen, und das hat mich +manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß +ich ein ganzer Mann für dich geworden sein.</p> + +<p>Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt.</p> + +<p>Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es dir gleich schreiben, damit +du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn du dort einen andern Jungen +findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja +hier so ganz umsonst anstrengen.</p> + +<p>Aber vielleicht findest du keinen.</p> + +<p>Ich küsse dich mit tausend Küssen.</p> + +<p class="mright3">Dein Freund,</p> +<p class="right">(dein zukünftiger Mann,)</p> +<p class="mright5">Jonas.</p><br> + +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p> + +<p><i>Pst. Scr.</i>: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf. +Sonst würde er dich sicher grüßen lassen.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube.</p> + +<p>Er stand am Fenster und weinte.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span></p> + +<h2>V.</h2> +</div> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,</div> + <div class="verse indent0">Wo's flatternd eine Zuflucht fände,</div> + <div class="verse indent0">So bin ich, flüchtend nur, gelangt,</div> + <div class="verse indent0">Ein armes Kind, in deine Hände.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, —</div> + <div class="verse indent0">Doch nur von Einsamkeit getrieben,</div> + <div class="verse indent0">und kniete schweigend bei dir hin,</div> + <div class="verse indent0">und wollte nichts, als Etwas lieben.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Und wollte nichts, als, kurze Zeit,</div> + <div class="verse indent0">Gleich einem Kind mich wieder wissen,</div> + <div class="verse indent0">Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit</div> + <div class="verse indent0">Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Nichts, als von kindlich tiefer Qual</div> + <div class="verse indent0">Auf einen Augenblick nur rasten,</div> + <div class="verse indent0">Nichts, als die junge Brust einmal</div> + <div class="verse indent0">In heißer Hingebung entlasten.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Wie ward mir wohl, da ich dich fand,</div> + <div class="verse indent0">Als müßte jeder Wunsch sich stillen,</div> + <div class="verse indent0">Seitdem du mich, mit sanfter Hand,</div> + <div class="verse indent0">Geborgen ganz in deinem Willen.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Als würde plötzlich alles klar,</div> + <div class="verse indent0">Als müßten alle Wirren weichen,</div> + <div class="verse indent0">Seit über das verwehte Haar</div> + <div class="verse indent0">Mir deine lieben Hände streichen.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Bis daß ein jeder Schmerz hinfort</div> + <div class="verse indent0">Versank vor zaubermächt'gem Troste,</div> + <div class="verse indent0">Seit, mit dem ersten Liebeswort,</div> + <div class="verse indent0">Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;</div><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Bis ganz die Welt um uns versank, —</div> + <div class="verse indent0">Und nichts von allem mehr geblieben,</div> + <div class="verse indent0">Als nur ein grenzenloser Dank, —</div> + <div class="verse indent0">Und nur ein grenzenloses Lieben.</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth +hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten +Versen.</p> + +<p>Er wußte es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen +Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissene Blatt mit den +gestammelten Versen gelegen.</p> + +<p>Und seitdem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete +an ihnen.</p> + +<p>Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es gethan.</p> + +<p>Aber so, — so in jedem Worte würde sie sie gedichtet haben, — ein +wenig später, — im Rückblick.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Sie saßen alle zusammen.</p> + +<p>Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube, in einem großen, bequemen +Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch: er hatte die Lampe dicht herangerückt, +um besser sehen zu können, was er in sein Schulheft schrieb. Erik am +Kamin, in welchem mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte +er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter, der mit +Tannenzapfen gefüllt war, ein paar von den braunen, herzigen Zapfen in +die Glut.</p> + +<p>Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der +leichten Sommergardinen schwere, schützende Fenstervorhänge, am Kamin +zwei Sessel aus<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine +Tatzen vorstreckte.</p> + +<p>Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging, +war dieses Jahr die Uebersiedelung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen. +Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur +Genesung führte.</p> + +<p>In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen +Stöcken mußte sie täglich einige Schritte thun. »Laufen lernen,« wie +Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese +Schritte sollte sie in frischer Luft thun.</p> + +<p>Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in +halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die +sie vorgehabt, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren +wenigen Schritten.</p> + +<p>Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen +Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen, blonden Flaum an Kinn +und Lippe, bückte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte +er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.</p> + +<p>Und Erik blickte in die Glut — —</p> + +<p>»Bis ganz die Welt um uns versank —«</p> + +<p>Gonne war es, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den +Abendthee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre +täglich neu genossene Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen +wieder Hausfrau zu sein.</p> + +<p>»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,« +bemerkte sie dabei, »man muß sagen:<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> sie schreibt treulich, — +regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manchmal ein Buch!«</p> + +<p>»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?« +fragte der Vater, »sie will oft von dir wissen.«</p> + +<p>Jonas wurde sehr rot.</p> + +<p>»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu thun,« murmelte +er über seinem Theeglas.</p> + +<p>»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte +Klare-Bel, »Ruth ist doch sicherlich begabt, nicht wahr? Und sind ihre +Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«</p> + +<p>»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«</p> + +<p>»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es +ist, — ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang +erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst.«</p> + +<p>Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung, +selbst des geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie +umgab, und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, — das alles lag +neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war +nicht Verschlossenheit, — es war Haß gegen das Wort, das ungenügende. +Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, — ehe +er das nicht wiedergesehen, nicht wiedergehört, war Ruth für ihn wie +begraben.</p> + +<p>Und wieder schwiegen sie.</p> + +<p>Der Theetisch wurde abgeräumt. Nur eine Fruchtschale mit Aepfeln blieb +darauf stehen. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder +auszubreiten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p> + +<p>Erik hinderte ihn daran.</p> + +<p>»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen +Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«</p> + +<p>»Ich bin es ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch +treiben. Einer von den Jungens hilft mir in der Freistunde darin.«</p> + +<p>»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins +Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«</p> + +<p>»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit +russischen Stunden Geld verdienen.«</p> + +<p>Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Ueberlaß mir das +doch.«</p> + +<p>»Erlaube es mir, bitte. Thue ich nicht genug für die Schule?«</p> + +<p>»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas! +Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine +Kraft in den Knochen. Nicht genug.«</p> + +<p>»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem +Ernst, der ihm drollig genug stand.</p> + +<p>»Aber der Uebel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,« +ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters +mit solchen Citaten kommst, dann werde ich dich noch ganz von den +leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre.«</p> + +<p>Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.</p> + +<p>Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei +andres, das drängte.</p> + +<p>Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.</p> + +<p>Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten;<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> sie schickte sie +ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war +immer noch nicht »Ruth«.</p> + +<p>Er nahm eine Mappe vom Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus +Heidelberg lagen, vom vorigen August bis zum heutigen April.</p> + +<p>Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben, +sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war +zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine +Ankunft.</p> + +<p>Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein +kurzer Brief von Frau Römer:</p> + +<p>»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch +einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen +Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt, +ich meine es aber auch — als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind; +wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so entfernen +Sie auf immer aus Ihren Briefen alles, — auch das Geringste, was +Sehnsucht wecken könnte.«</p> + +<p>Nach einer Woche schrieb Frau Römer:</p> + +<p>»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr +erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder +bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und +sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹</p> + +<p>Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer, ihrem Bett +gegenüber, gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hereintrat, um nach +ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht +im Bett, —<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den +Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.</p> + +<p>Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, — nun +ist er fort!‹ sagte sie traurig. Sie war in einer halben Ohnmacht, am +ganzen Körper kalt.</p> + +<p>Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den +andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.</p> + +<p>In aufrichtiger Freundschaft</p> + +<p>Irene Römer.«</p> + +<p>Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte +Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:</p> + +<p>»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«</p> + +<p>In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von +Eriks Hand, — ein vollständiges Briefkonzept, welches anfing:</p> + +<p>»Mein Herzenskind!</p> + +<p>Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für +Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹</p> + +<p>In ururalten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche +einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu fremden und bösen +Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln beschwören +ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen gethan haben: aus +Kleinmut oder Hochmut; aus dem mangelnden Glauben, daß im Willen ihrer +Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen waltet, — oder +aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p> + +<p>Du machst es doch nicht ebenso, — gleichviel aus welchem dieser +beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus +eigener Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst +doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen +Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu +entführen, die keine ist?</p> + +<p>Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich an die Wirklichkeit hingeben, die +um Dich ist, — ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu +Hause bist —«</p> + +<p>Hier brach das Briefkonzept ab; die nächsten Zeilen waren +ausgestrichen, — wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm +sichtlich schwer von der Hand gegangen.</p> + +<p>Aber die Konzepte mehrten sich; hinter jedem Briefe Ruths folgte eines; +Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: <em class="gesperrt">daß</em> sie da lagen, das besagte +genug.</p> + +<p>Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine, +charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte das Gefühl +nie ganz los werden, als ob er mit ihr — oder sie mit ihm? — in +einem geheimen, unbewußten Kampf stände; und doch erquickten ihn diese +Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein +herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu +messen.</p> + +<p>Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, — man mußte sich wohl +darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen, +was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu +vernehmen: eine heitere, entschlossene Stimme.</p> + +<p>Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> frühern Platz +legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen +Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als +die übrigen, — auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern +Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich +verschrieben: da stand einmal »Du«, anstatt »Sie«.</p> + +<p>Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm +beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's +treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹ sagen.«</p> + +<p>Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu +bleiben, — und er schaute oft hinein.</p> + +<p>Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich +würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen +nicht. Sie <em class="gesperrt">hatte</em> »Du« zu ihm gesagt, an jedem Tage, in jeder +Stunde fast, mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum +verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose +Nähe.</p> + +<p>Erik schob die Briefe von sich; er wollte arbeiten. Arbeiten, — nur +nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen +und Gedanken, — dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit +dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die +Trennungszeit für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis +zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für +Ruth.</p> + +<p>Nun der Rückschlag. Nachlassen, — gehen lassen. Es machte ihn fast +krank.</p> + +<p>Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> blauen Schulhefte +nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war.</p> + +<p>Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las +er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«. —</p> + +<p>Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung. +Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen. Noch zog +sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte +Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die +saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen, +geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund +hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel +und Sonne wieder; vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin +umher.</p> + +<p>Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu thun; +neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er, +mit sich daran anschließenden Vorträgen, in diesem Winter durchführte: +teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener, teils in +einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.</p> + +<p>Diejenigen, die sich hier einfanden, gehörten ebenfalls der Schule +nicht mehr an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen +entnehmen, mit denen sie ihn meistens erwarteten. Es wurde nicht +mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und +Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen +Einbildung existierten. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht +etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines +Mädchen beim Frühgebet im großen Schulsaal umgefallen<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> und liegen +geblieben war, — ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen +wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt, +auf die Zuckende hingestarrt, welche, Schaum an den Lippen, vor ihnen +lag.</p> + +<p>Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem +unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen. +Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden.</p> + +<p>»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an, »ich +möchte wissen, wozu? Ob es dir wohl angenehm ist, daß er immer nur +Spott für dich hat?«</p> + +<p>»Und Lob für dich; da ziehe ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit +Ueberzeugung; »laß ihn nur spotten, das thut ihm gut, er ist bei +schlechter Laune. Glaubst du, daß dein Fleiß ihn beglückt, mein +geliebtes Gänschen?«</p> + +<p>»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung +des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.</p> + +<p>Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich +vermissen, — zum Beispiel Verstand. — — Lieber Gott, was kann es +nützen, sich so anzustrengen?«</p> + +<p>»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte, +— du am meisten.«</p> + +<p>Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne +ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel, +den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer +umstanden war.</p> + +<p>»Ich glaube nicht daran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte +sie; »es wäre der reine Betrug.<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Entweder hat Ruth uns gefoppt, — oder +wir sind — dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte <em class="gesperrt">das</em>, als sie so außer +sich vor Entzücken sagten ›O — — dahinter gibt es das ganze Leben?‹ +Wir stehen noch <em class="gesperrt">vor</em> der Mauer, — wie eine Hammelherde.«</p> + +<p>»Na, so geh doch hinüber.«</p> + +<p>»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, — »noch heute. Wollt ihr? Mit +<em class="gesperrt">einem</em> Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«</p> + +<p>Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.</p> + +<p>»Was wirst du thun?!«</p> + +<p>Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und +spitzte den Mund ein wenig.</p> + +<p>»Ein Kuß?!«</p> + +<p>Sie schrieen jetzt schon.</p> + +<p>Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete +es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie +eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie +liebte; er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeregt, fortwährend +seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe +seiner selbst stehen, um niemals fehlzugreifen.</p> + +<p>Das war hier unnütz.</p> + +<p>Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Rapier in der +Hand, auf Erik zu.</p> + +<p>»Sollte es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie +wolle ihm eine Arbeit vorlegen, »es wäre das erste Mal.«</p> + +<p>Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> beugte sich zu +ihm, — so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes +berührten sich fast die beiden Gesichter.</p> + +<p>Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht +aushalten können.</p> + +<p>Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war, +kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.</p> + +<p>Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste +Schrei vorherging, ob er folgte, — ob sie sich niedergebeugt, weil +sie im Stürzen war. — Er hatte auch vom Fall im Schulsaal gehört, und +jetzt ergriff die Erinnerung daran die Mädchen mit kopflosem Entsetzen.</p> + +<p>Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf +die Bänke, — auf das Fensterbrett.</p> + +<p>Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme +gehoben und trug sie hinaus.</p> + +<p>Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer +zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte +sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem +flog; wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und +jetzt — jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.</p> + +<p>Blitzschnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine +Lippen gedrückt.</p> + +<p>Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt +— hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine +sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick, +wo er Ruth,<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett +getragen.</p> + +<p>Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk +und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügelthür, die den +Hallengang gegen das Treppenhaus hin abschloß. Er stieß die Thür auf.</p> + +<p>»Hinaus. Ohne Wiederkehr,« sagte er kurz.</p> + +<p>Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für +Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse +wohl denken, wenn sie nie wieder kam? Daß er ihr über die Mauer +geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.</p> + +<p>Und das Schlimmste: sie hatte eine gehörige Beule weg, gerade vorn an +der Stirn. —</p> + +<p>Erik gab sich Mühe, bei der Rückkehr in seine Klasse, der Stimmung +Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich +jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher +Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen, und dennoch fest +entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut. +Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte +jetzt, von was für einer Art von Phantasie.</p> + +<p>Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen +jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse +auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er +hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber +nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein +mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und +Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> sich auch noch +in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er +bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen +als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen +Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu +geben, so mißlang ihm alles. —</p> + +<p>Am Thorweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren +zusammen nach Hause aufs Land.</p> + +<p>Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie +bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen?«</p> + +<p>»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In +Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur, +daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du +dann thun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«</p> + +<p>»Wenn ich Medizin studieren werde,« bemerkte Jonas nach einer Pause, +»dann wird es mir immer vor Augen stehen, das Wunderbare, daß es mit +Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt zu sein, und ein einziger +solcher Fall, — das muß auf alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen +machen.«</p> + +<p>»Du bist ein guter Kerl, Jonas. — Ich hätte übrigens nicht +gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte: +Naturwissenschaften.«</p> + +<p>»Ja, ich selbst auch, — früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine +so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet überall sein Brot.«</p> + +<p>»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht +sein. Es kam immer noch auf die Stärke<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> der besondern Neigung und +Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre war dann meine Sache.«</p> + +<p>»Ich möchte aber so früh als es geht unabhängig werden, Papa. +Selbständig.«</p> + +<p>»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge? +Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine +Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«</p> + +<p>Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen +Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.</p> + +<p>Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer +blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete +auf sie.</p> + +<p>Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf +den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.</p> + +<p>»Aber, Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude +errötete, »etwas so Kostbares und Ueberflüssiges! Im russischen April!«</p> + +<p>»Ueberflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem +geschliffenen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und +ich meinte: in einem Landhause müßte er wenigstens drinnen sein, wenn +er schon nicht draußen ist.«</p> + +<p>Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen; sie schlug sie nieder, +damit er es nicht sähe. Der Frühling <em class="gesperrt">war</em> ja drinnen eingekehrt, <em class="gesperrt">ihr</em> +Frühling, auf den sie gewartet hatte, wie auf eine Lebenserneuerung +gerade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig +geblieben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<p>Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung +dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber <em class="gesperrt">das</em> mußte +sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, — die Trennung von +Ruth. Solange Bel ihn glücklich gesehen, war sie arglos und sorglos +geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr, bei Tag und bei Nacht.</p> + +<p>»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach +einer Pause.</p> + +<p>»Ja. Noch nicht völlig beendet,« erwiderte er.</p> + +<p>Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den +duftenden Dolden.</p> + +<p>»Da war doch, — ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern +haben?«</p> + +<p>»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub' ich, +eine kurze Zeit bei ihnen wohnen, — draußen am Schloßberg. Sie wollten +allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«</p> + +<p>Eine kleine Pause entstand.</p> + +<p>»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«</p> + +<p>»Ungefähr zweiundzwanzig Jahre, glaub' ich.«</p> + +<p>»Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um +ein Brotstudium?«</p> + +<p>»Nein.«</p> + +<p>Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen +Russen eifersüchtig, — nein, das war er unter keinen Umständen.</p> + +<p>»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz +und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut +geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd. +Er<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> kennt ihren Onkel hier. Hat einmal früher mit seinen Eltern dort +verkehrt, — mit ihr gespielt, als sie acht und dreizehn Jahre alt +waren.«</p> + +<p>Sie lehnte den Kopf zurück.</p> + +<p>»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte — +<em class="gesperrt">müßte</em> er eifersüchtig sein. Trotz seinem starken Selbstvertrauen. +Jugend sucht Jugend.«</p> + +<p>Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein. +Ich habe einen so großen Wunsch.«</p> + +<p>»Einen so schlimmen, Bel? Nun, heraus mit ihm.«</p> + +<p>»Ich wünsche so sehnlich, — ich möchte so sehr gern, nur ein einziges +Mal, — lesen, was du an Ruth schreibst.«</p> + +<p>Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich +darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.</p> + +<p>»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«</p> + +<p>Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick +nicht aushielt. Er sah hinweg.</p> + +<p>Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, — lesen zu sehen. Am +liebsten wäre er hinausgegangen.</p> + +<p>Er trat an das Fenster und schaute in die Dunkelheit.</p> + +<p>Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was es wiedergab, war noch einmal das +Zimmer, mit der Lampe auf dem Tisch, den zarten Fliederzweigen und der +lesenden Frau im Lehnstuhl.</p> + +<p>Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.</p> + +<p>»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »— ich kann mir gar nicht vorstellen, +daß du so an Ruth schreibst.«</p> + +<p>»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen +habe,« entgegnete er.</p> + +<p>»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> hinzu, was nur im +Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und +frisch im Wesen, Erik.«</p> + +<p>»Nun, — und?«</p> + +<p>Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich +nüchtern,« wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte +nicht ihr Inneres aussprechen, — und er durfte nicht.</p> + +<p>»Ja, — nun, — ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, Erik. Aber +in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann, mit langem +weißem Bart und Haar, — ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben +Gott vorstehen.«</p> + +<p>Es durchzuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«</p> + +<p>Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was +für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, — im +lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, — das mochten wohl zwei +ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.</p> + +<p>Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit, +ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen +vermochte. Für <em class="gesperrt">sie</em> war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen +Persönlichkeit, eine <em class="gesperrt">Verklärung</em> derselben: er hatte ihr ja auch +mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und gerade das +idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten, +— »ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben Gott vorstellen.«</p> + +<p>Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an +seinen Briefen ebensoviel auszusetzen<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> haben, wie er an den ihren. Denn +er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging an +derselben vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam — froh. Denn sie litt +doch nicht? Nein, das that sie gewiß nicht.</p> + +<p>Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt +anregen, bereichern, entwickeln mußte, — sie beglücken und sie +erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten +in diesem Leben, — wie mit weit ausgebreiteten Armen.</p> + +<p>Nein, sie — sie litt nicht.</p> + +<p>Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken +nach, und wieder wurde es heute ein schweigsames Abendessen. Wie sie +da zu dreien bei einander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung +verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner +von ihnen teil hatte an der stummen Welt des andern.</p> + +<p>Als nach dem Essen Erik sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte Jonas, +ohne Schularbeiten, sich zur Mutter.</p> + +<p>»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann +ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf +größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«</p> + +<p>Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand. +Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.</p> + +<p>»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald — viel sein. Wirst du es +auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel +— viel Freude machen, Jonas.«</p> + +<p>»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen,<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> Mama,« erklärte er +treuherzig, »das werde ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz +Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«</p> + +<p>»Freust du dich sehr auf das ungebundene, neue Leben draußen?«</p> + +<p>»Auf draußen, — ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar +nicht so schön. Ich finde es viel schöner so, wie Papa es gehabt hat.«</p> + +<p>»Wie denn, mein Kind?«</p> + +<p>»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir +nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob —. Eine Studentenstube, +— ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den +Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In +der Ecke ein schönes Skelett und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die +Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitze ich, — ich meine: +sitzt Papa.«</p> + +<p>»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen +und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war, +dann mußte er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In +einer kleinen Wiege.«</p> + +<p>»Eine kleine Wiege?«</p> + +<p>Jonas wurde ziemlich rot. An dieses Stück der Zimmereinrichtung hatte +er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber +wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch <em class="gesperrt">das</em>, was ihn +fleißig machte. Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren, +wenn man's für jemand thut, den man so über alles lieb hat.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p> + +<p>»Das sage du Papa lieber nicht. Das würde ihm vielleicht mißfallen. So +hat er es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so +ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er. +Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte, +da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich +hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, — mag es noch +so viel Plage geben, — frisch für meine Ziele: das Mittel bist du, +Bel‹. Ja, so sagte er.«</p> + +<p>Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor seiner Mutter herabsetzen, +aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.</p> + +<p>»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.</p> + +<p>Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in +die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe +sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr +Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen +Arbeiten saß, und sie ihn leise, — ganz leise mußte es sein, — +umsorgte. Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich +wie vor Thränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, — saß Jonas; — und +immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich +allein, — allein mit dem Sohn.</p> + +<p>Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern +wollte, schreckte der Gedanke sie auf, als müsse sie über irgend etwas +angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln.</p> + +<p>Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus;<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> irgend einer der +zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte +sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo, +in der Nähe des Kaminfeuers, ein Schreibtisch für ihn improvisiert +worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar +finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne +neckend bereits wieder hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das +Zimmer hin.</p> + +<p>Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden. +Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie +hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn ihr verraten? +Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht +offen sprechen. Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr +verbarg er sich — befangen und mühsam.</p> + +<p>»Wo steckt Jonas eigentlich?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen +gebeugt.</p> + +<p>»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen +Freund besuchen.«</p> + +<p>»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten, — mit dem Freunde?«</p> + +<p>»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«</p> + +<p>»Ja. Höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das +muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine +Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit +übertroffen.«</p> + +<p>»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein +Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p> + +<p>»Ja. Gerade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht +eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«</p> + +<p>»Ach, Erik, wenn er nur brav wird.«</p> + +<p>»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus! +Heidelberg wird ihm gut thun, denke ich, und Römers Einfluß. Man muß +sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm +knapp zugemessen werden.«</p> + +<p>»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel, »ja, in solchen Dingen ist er immer +unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der +lernen kann, zu genießen.«</p> + +<p>Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus, +dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abging. Allerspätestens +dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon +früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie mit Beginn der +Sommerferien in Deutschland abholen konnte.</p> + +<p>»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.</p> + +<p>Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch — ohne ihre +stützenden beiden Stöcke. Sie hatte sich selbständig erhoben und war +durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen, — allein.</p> + +<p>Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.</p> + +<p>Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er +blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen +sollte.</p> + +<p>Er bemerkte es nicht.</p> + +<p>Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.</p> + +<p>»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer +gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span></p> + +<p>Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt +dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.</p> + +<p>Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt. +Jetzt war er ganz bei ihr.</p> + +<p>»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen +Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir +schlecht, meine arme Bel.«</p> + +<p>Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.</p> + +<p>»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.</p> + +<p>Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit +geschlossenen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise +streichelte, sagte sie: »Siehst du, — ach, Erik, es war ja gewiß recht +kindisch. Aber siehst du, — hierauf hab' ich mich ja schon so lange +gefreut. Auf deine Freude, — wenn ich einmal so zu dir käme, — ohne +Stütze, auf eigenen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller +Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«</p> + +<p>»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme, +gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.</p> + +<p>»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest, und mich in die +Arme schlössest, — nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich +stand, aufrecht neben dir stand, — dann wollte ich dich fragen, — +ganz leise wollte ich dich fragen, — ach, Erik! ich kann es nicht +mehr.«</p> + +<p>Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend, +mit gespanntester Aufmerksamkeit in das<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> erblaßte Gesicht mit den fest +geschlossenen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.</p> + +<p>»Ich will es dir sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr +zu lassen, »wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den +Mut, es zu hören? Willst du es?«</p> + +<p>Sie schlug ihre Augen auf, — hilflos, thränengeblendet, — hilflos wie +ein gestelltes Wild vor dem Schuß.</p> + +<p>»Erik!« stieß sie flüsternd heraus, und das Entsetzen vor seiner +Antwort vergrößerte ihre Augen, »— Erik, liebst du sie?«</p> + +<p>Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.</p> + +<p>»Ja, Bel,« sagte er laut.</p> + +<p>In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom +das ganze Zimmer, daß Klare-Bels Lider sich unwillkürlich davor +schlossen, in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel +selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab, +und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch +zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die +hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er +draußen vom Strauch geschnitten.</p> + +<p>»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »— ich möchte auf mein Bett, — mach's +dunkel.«</p> + +<p>Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem anstoßenden kleinen +Gemach auf ihr Bett, hinter welchem er die Fenstervorhänge aus den +Klammern löste und zuzog.</p> + +<p>Sie suchte nach seiner Hand.</p> + +<p>»Die Briefe, Erik, — wie du ihr geschrieben hast, —<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> war es lauter +Verstellung? Oder hast du ihr — hast du nicht auch anders geschrieben? +Niemals?«</p> + +<p>»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige +Mal, daß ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich +allein. Sie hat's nie gelesen.«</p> + +<p>»Du hast es nicht abgeschickt? — Hast du diese Briefe noch, Erik?«</p> + +<p>»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren, vernichtet.«</p> + +<p>»Wozu hast du es dann nur gethan, Erik?«</p> + +<p>»Es half mir.«</p> + +<p>Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich +mußte zu ihr sprechen.«</p> + +<p>Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und +ich hatte keine Ahnung, — nein, keine Ahnung hatte ich, daß du sie um +deswillen von dir gabst. Nun erst weiß ich es.«</p> + +<p>Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte +sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu +werden seiner Liebe?</p> + +<p>Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an +dich habe ich dabei gedacht.«</p> + +<p>Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute? +Litt sie nicht genug, — maßlos?</p> + +<p>Er vermochte es nicht.</p> + +<p>Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück, +an die offene Thür des Wohnzimmers.</p> + +<p>Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das +Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> mitleidsloser Macht, — mit +einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.</p> + +<p>Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel +hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner +Schneeschauer um das Fenster, — dasselbe Aprilspiel wie zuvor.</p> + +<p>Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut, +und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, — ein Duft +nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich +dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen +geputzten Christbaum in der Zimmerecke.</p> + +<p>Weihnachten, — — — auch in diesem Winter hatten sie den Baum +geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum erstenmal hatten sie sich +wie drei arme Erwachsene gefühlt, die am Fest der Kinder leer ausgehen. +Erik, der zu beschenken wußte, wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu +freuen, wie nur ein Kind, war karg, — war wortkarg geblieben.</p> + +<p>Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche +kleinen, kleinlichen Rückerinnerungen heftete.</p> + +<p>Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen.</p> + +<p>Nicht daß sie jetzt dalag und litt, — aber daß sie so lange — lange +umsonst auf seine Freude gewartet hatte, in seinen Zügen nach Freude +gespäht, all diese Monate hindurch, — das erschütterte ihn so tief. +Genesen war sie, — wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten +unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit +tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie +frohe Kinder darum geschart — —.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p> + +<p>Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr +hineingehen, er mochte nicht fortgehen. Noch immer ging er auf und ab, +wie ein Verurteilter.</p> + +<p>Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt +schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das +Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.</p> + +<p>»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht in der Stadtwohnung im Briefkasten. +Zwei an dich.«</p> + +<p>»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«</p> + +<p>Während Jonas ans Bett trat, leise, auf den Fußspitzen, griff Erik nach +den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu +wissen, warum, erbrach er Warwaras kurzes Billet zuerst: die Bitte, +morgen bei ihr zu speisen; sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges +Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen; in etwa einer +Woche verreise sie bereits ins Ausland.</p> + +<p>Erik setzte sich an das Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein +längerer als sonst. Acht Seiten.</p> + +<p>»Lieber Freund!</p> + +<p>Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth +betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum +Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern +vorläufig nur eine Möglichkeit.</p> + +<p>Sie erraten wohl, daß es sich um Jurii handelt. Ich wußte wohl von +seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu +beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen +Menschen. Jetzt aber<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt, und +daß er im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem +Interesse für Sie, es sei denn, daß Ruth ihn wiederliebt. Dafür habe +ich keinerlei stichhaltigen Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man +nie ganz ergründen kann, was in Ruth vergeht, und wie sie in ihrem +innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offener, +nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt; +verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie, noch hinter allem +andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, von dem +sie selbst nicht recht weiß, aus dem aber dennoch alle entscheidenden +Gefühle und Gedanken bei ihr kommen. So könnte sie recht gut einmal +sich selbst zur Ueberraschung handeln, — ihrer ganzen klaren, +frischen, heitern Unbefangenheit zur Ueberraschung, — und gerade damit +ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. —</p> + +<p>Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vortreffliches +mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter, +— mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt, +ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich +unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel +auf einmal. Ueber Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das +Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da Ruth denselben +mit ihm teilt, und da die Zeit ihn so gründlich heilt.</p> + +<p>Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth +vorauslaufen, — auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie +rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache +stellen wollen. Denn<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> gegen Ihren Willen, — nein, auch nur ohne Ihren +vollen Willen, — würde ja wohl Ruth nie etwas thun —«</p> + +<p>Erik las nicht weiter.</p> + +<p>Er überflog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.</p> + +<p>Ruths Schweigsamkeit, — war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm, +eine stille Wandlung?</p> + +<p>Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen +wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine +Gedanken hin, wie draußen.</p> + +<p>»Aprilwetter, — in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über +sich; »in Angst um eine Aprillaune, — in Angst, in den April geschickt +worden zu sein!«</p> + +<p>Er war so zornig, so ungerecht als möglich, gegen sie, gegen sich +selbst.</p> + +<p>Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über +die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen.</p> + +<p>Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein.</p> + +<p>So schlich er sich in seine Stube.</p> + +<p>Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen +ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.</p> + +<p>Erik ging zu ihr.</p> + +<p>Sie saß aufrecht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher. +Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem, wie zur Nacht, glatt +zurückgestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angstvoll +entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.</p> + +<p>Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren +Händen, und küßte diese.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p> + +<p>»Bel, — Bel, — verzeihe mir.«</p> + +<p>Sie gab sich Mühe zu lächeln; es war ein merkwürdiges, schwaches, +kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.</p> + +<p>»Ach, Erik, — nicht so. Es ist mir zu — es ist mir so ungewohnt. +Schrecklich ist es mir. Sprich nicht so zu mir.«</p> + +<p>Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.</p> + +<p>»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.</p> + +<p>»Ja, Erik. Du mußt nicht böse darüber sein. Es sind so alte Bücher, — +die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte +mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu +lesen, Erik.«</p> + +<p>Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.</p> + +<p>Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen. +Und das andere. P. A. de Génestets »Laiengedichte«, — diese echt +holländischen Lieder, in denen Trotz und Glaube, Trost und Zweifel sich +seltsam genug mischen.</p> + +<p>»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht, +wie nur. — Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt. +Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. — +Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen +liegt drin.«</p> + +<p>Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei +heraus.</p> + +<p>»Höre nur, — Erik, — nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es +schön finden. Es heißt ›<i>Peinzensmoede</i>‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich +glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p> + +<p>Und sie las mit ihrer sanften Stimme:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">»Wo — wo sind die Priester,</div> + <div class="verse indent0">Die dich erklärten?</div> + <div class="verse indent0">In Rätseln wandelt</div> + <div class="verse indent0">Der Mensch auf Erden.</div> + <div class="verse indent0">Geheimnis — das Leben,</div> + <div class="verse indent0">Geheimnis — der Tod,</div> + <div class="verse indent0">Die Schöpfung, sie predigt</div> + <div class="verse indent0">Keinen liebreichen Gott.</div> + <div class="verse indent0">Natur nur umgibt dich,</div> + <div class="verse indent0">Die nicht auf dich hört,</div> + <div class="verse indent0">Gleichviel ob sie wohlthut</div> + <div class="verse indent0">Oder ob sie zerstört.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Und doch, — nisten Zweifel</div> + <div class="verse indent0">Mir auch in der Brust, —</div> + <div class="verse indent0">An dich, meinen Vater,</div> + <div class="verse indent0">Glaub' ich unbewußt.</div> + <div class="verse indent0">Nicht weil deine Schöpfung</div> + <div class="verse indent0">Dein Lieben enthüllt, —</div> + <div class="verse indent0">Nein! nein! nur trotz allem,</div> + <div class="verse indent0">Dem Zweifel entquillt!</div> + <div class="verse indent0">Trotz jeglichem Rätsel,</div> + <div class="verse indent0">Trotz jeglicher Not,</div> + <div class="verse indent0">Trotz Angst und Verderben,</div> + <div class="verse indent0">Trotz Schmerzen und Tod!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ich schmachte, vom Schicksal</div> + <div class="verse indent0">Zu Tode getroffen,</div> + <div class="verse indent0">Meine Hoffnung ist Wehmut,</div> + <div class="verse indent0">Meine Wehmut ist Hoffen.</div> + <div class="verse indent0">Ich <em class="gesperrt">will's</em> — <em class="gesperrt">will</em> es glauben,</div> + <div class="verse indent0">Daß ich deine Hand</div> + <div class="verse indent0">Im Leben wohl spürte,</div> + <div class="verse indent0">Nur sie nicht erkannt; —</div> + <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Will's</em> glauben, was Kirche</div> + <div class="verse indent0">und Priester mich lehrten:</div> + <div class="verse indent0">Daß niemand umsonst dich</div> + <div class="verse indent0">Gesucht hat auf Erden.«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a></div> + </div> +</div> +</div> + +<div class="footnote"> +<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> Frei nach dem Holländischen.</p><br> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p> + +<p>Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig +gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der +Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht; +rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter +ein Gebet nachspricht.</p> + +<p>Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele — in all ihrer +Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin, — ohne jeden +falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.</p> + +<p>Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es +geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein +verirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbouquet.</p> + +<p>Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken zu +Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand. +Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch: »Dieser +Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel, +Bel; ›<i>Peinzensmoede</i>‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde. +Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung lässig dir +übergeworfenes Kleid, — ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von +dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«</p> + +<p>Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch +glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Von wo einen Halt nehmen? +Du warst mein Halt. Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner +Hand hinweg, und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid +anthun? Dich ermorden? <em class="gesperrt">Sie</em> vergiften? Ich<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> bin keiner von den +Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen. +Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt +Hilflosigkeit; — das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer +Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«</p> + +<p>»Weil ich diese Stütze hasse, — diesen Halt, der mich ersetzen soll. +Nein, weil ich mich dessen schäme, — daß er mich ersetzen muß. Weil +ich kein Mitleid mehr mit dir habe, — nur noch Zorn und Haß und Scham +vor mir selbst.« — — — — — — — — — — —</p> + +<p>Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein +Schweigen.</p> + +<p>»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, beinahe bittend, »— +mich macht es glücklich.«</p> + +<p>»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. —</p> + +<p>Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich +mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, — als er seine +Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler +nehmen ließ, als er war, — und jetzt wieder, wo seine Lippen anders +redeten, als seine beschämten, zornigen Gedanken, — hatte er gegen +seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehen +lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, — aus gerechter +Ueberzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht +in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden +mußte.</p> + +<p>Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste +Natur handeln zu müssen.</p> + +<p>Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um +seine Gedanken von allem loszureißen,<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> was ihn quälte, und auf seine +Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth +als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In beiden Fällen war er +der entthronte König.</p> + +<p>»Einen neuen Gott die eine, — einen neuen Mann die andre, — es ist +fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit +seiner Gedanken.</p> + +<p>In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während welcher +er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus +seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, — nur +durchflogen, — und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl thun, diese +Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was +in einem Menschen aufgewühlt werden kann.</p> + +<p>Und er las weiter.</p> + +<p>»Es ist ja nicht notwendig, daß Ruth sich schon so jung bindet. +Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, — vielleicht +nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie +Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für +die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wäre ich wohl ein +nichtsnutziges Ding geblieben, — mit etwas Interesse für Tand und +einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert +auf Ruths geistige Entwickelung. Ich auch. Aber dazu verhält sich +ein frühes gleiches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die +einzige gesunde, natürliche Grundlage auch des Geistesstrebens im +Weibe. Nicht nur damit Sie Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja +gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, — desto besser. Von meinem Mann +glaube ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> eines jeden Berufes +unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden +war. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht +selbstlos. Wohl aber, um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und +Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung +ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten bei einander stehen +wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe ‹ —.«</p> + +<p>Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch. Etwas ganz andres, +als er gesucht, hatte er darin gefunden, — etwas ganz Unerwartetes: +einen unbewußten Vorwurf.</p> + +<p>Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die +zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen, +der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war.</p> + +<p>So würde es wohl Frau Römer ausdrücken.</p> + +<p>Römers standen eben von vornherein anders zu einander. Sie bewunderten +sich gegenseitig, — eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht +darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten.</p> + +<p>Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie +fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbethörend schön, bereits fertig +mit ihrer kurzen Entwickelung, — ein in gewisser Weise viel fertigerer +Mensch als er, — was hätte er da wohl andres thun können, als dürstend +in sich aufzusaugen, was, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, sich ihm +darbot?</p> + +<p>Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in seinen Besitz +nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung: ihn nicht wieder +von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf +hinein zwischen<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Scham und Mitleid, bei jedem leisesten Versuch, sich +dieser Verpflichtung zu entziehen.</p> + +<p>Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. — Auch — Ruths +Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich, +stündlich auf sie wirkte, sie beeinflussen mußte, mächtiger als alle +Worte, alle Grübeleien, — das war Frau Römers Ehe. Eine heilig +gehaltene, glückliche Ehe.</p> + +<p>Sobald sein Unterricht ihn freiließ, ging Erik zu Warwara. Mehr, als er +es sich selbst gestehen wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach +Hause zu fahren.</p> + +<p>Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange, hagere Engländerin, +Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer.</p> + +<p>»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu +Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?«</p> + +<p>Sie mußte hell auflachen.</p> + +<p>»Etwas passiert, — ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.«</p> + +<p>»— Verlobt?! — war das die Mitteilung?! — Mit wem?«</p> + +<p>Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleichviel, mit wem. Ein Ihnen +ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen +Verlobungskarte lesen.«</p> + +<p>»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?«</p> + +<p>»Wie meinen Sie das?«</p> + +<p>»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den Sie +heiraten wollen.«</p> + +<p>»Daran zweifeln Sie?«</p> + +<p>Er schwieg.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p> + +<p>»Ich will es Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern. +Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.«</p> + +<p>»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.«</p> + +<p>»So will ich Ihnen noch mehr eingestehen. Was ich in der Ehe suche, — +das Glück, das ich suche, — ist nicht der Mann.«</p> + +<p>»Sondern?«</p> + +<p>Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie +sich zu schaffen machte.</p> + +<p>»Das Kind.«</p> + +<p>Erik schwieg überrascht.</p> + +<p>Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes +Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, — mehr, als Sie +wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat +gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter, +als wir gethan, ernste Dinge miteinander teilen sollen.«</p> + +<p>»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da +sagen, macht mich froh. Ich bedurfte gerade dessen.«</p> + +<p>»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß +ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand +und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen, +— dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen +geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und +Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen +kann, — das Beste, was in mir ist.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span></p> + +<p>»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?«</p> + +<p>»Von der Mutterschaft — ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der +Mutterpflicht. — Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgend +wann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann gebe ich +mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen +heranziehen helfen, Sie Menschenlehrer.«</p> + +<p>»Hätten Sie <em class="gesperrt">das</em> Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen +Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.«</p> + +<p>»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen +Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.«</p> + +<p>»Mit andern Worten, keine Kraft zur Pflichttreue.«</p> + +<p>»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur, trotz allem, daß Sie im Grunde +Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können, — +Menschen oder Ideen, — und da, wo man sehr liebt, sich rückhaltlos +verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit +solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, — all die Sicherheit und +Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, — +nein, — daran glaub' ich auch für Sie nicht.«</p> + +<p>»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut.</p> + +<p>»Wie? Sie geben's mir zu?« fragte sie überrascht, »welch ein fremder, +guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es +ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig +wir alle vom Glück sind, — wir armen Weltkinder alle? Vom fruchtbaren +Erdfleckchen, auf dem auch für<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> uns noch ein ganzes Glück, eine ganze +Liebe, — und dadurch allein! — auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit +wachsen kann.«</p> + +<p>»Und wenn wir dies Erdfleckchen, gerade dies, nicht bebauen dürfen?«</p> + +<p>»Dann verdorren wir, — oder verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie +auch.«</p> + +<p>Ein Diener erschien in der Portierenthür und bat zur Tafel.</p> + +<p>Warwara stand auf.</p> + +<p>»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?«</p> + +<p>»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie einmal vor langer — +sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹ +Es erkennen, heißt hart werden, — gegen alles, was uns hindert, uns +fruchtbar auszuleben.« —</p> + +<p>Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas +fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß, +dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste. +Er war bemüht, sie zu unterhalten.</p> + +<p>Klare-Bel hörte nicht recht hin; ihre Blicke hingen an einem Brief, +den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der +Stadtwohnung dort eingelaufen.</p> + +<p>Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache, +thörichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses +Geplauder hineinredete.</p> + +<p>Als Erik, bald nach dem Abendthee, zu Hause eintraf, bemerkte er sofort +den Brief, der für ihn bereit lag.<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> Sein Blick streifte Jonas, — +flüchtig nur, — aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehen. Der +Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, — aber er sollte +ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an +Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, — +auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn +ja doch den Weg zu Ruth.</p> + +<p>Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik, während +er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, — die Seite umgerissen, — +eine zweite, blitzschnell, — und er ballte das Papier in der Hand.</p> + +<p>Er war grau im Gesicht.</p> + +<p>»Erik! was ist es? — etwas Schlimmes, — für dich Schlimmes, — Erik!«</p> + +<p>Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen.</p> + +<p>Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen +Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb«, und, am Schluß, +etwas wie »den Kuß gab ich ihm«, — mehr hatte er nicht gelesen. Er biß +die Zähne aufeinander.</p> + +<p>Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau.</p> + +<p>Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe.</p> + +<p>»Am Schloßberg. Dienstag.</p> + +<p>Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb +habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen +ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es. +Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen, weil ich mit Husten zu<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> +Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine +Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause. +Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es +war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich mit +den Galoschen nicht ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich +liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das +sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir +sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie +mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt. +Sterben möcht' ich.‹ Darüber, daß er sterben wollte, wurde ich ganz +traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm +und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in +den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte +mich ins Bett und kochte heißen Thee auf. Ich lag und weinte, denn ich +wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein +könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und +da lag jemand und that dasselbe. Frau Römer kam herein, und horchte, +ob nebenan auch jemand weinte und lächelte etwas und sagte, wir wären +rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein +Haar zurück (das thut sie gerade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii +denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja.‹ Da sagte sie: ›Ich +meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen +Welt ist? gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste +auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie:<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> +›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es +später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu +sein?‹ Das konnte ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie +küßte mich und ging fort.</p> + +<p>Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich +stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich +im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die +aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte. +Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß. +Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß +gab ich ihm auch.</p> + +<p>So ist es gewesen.</p> + +<p>Ruth.«</p> + +<p>Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewendet. Sein Gesicht +verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein +Schreck umsonst gewesen war.</p> + +<p>Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth that oder +unterließ, — das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen.</p> + +<p>Sie hatte gemeint, das Schwerste sei über sie gekommen: gestern. Aber +nicht, es zu wissen, war das Schwerste, — nein, es mit wissenden Augen +zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen +kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, — das +war schwerer. Nicht nur schwerer, — unmöglich war es.</p> + +<p>Und dann, — wenn Ruth einen andern abwies, — dann liebte wohl auch +sie Erik. Und wenn sie ihn liebte — dann erst war er für Bel verloren. +Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten — für Bel; auf Ruths +Glück<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe +blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch +um das Glück des andern.</p> + +<p>So empfand Klare-Bel.</p> + +<p>Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr +auf ihr Zimmer bringen müssen.</p> + +<p>Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden +und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben. Aber +diesmal gelang es ihm schlecht, — ein gequälter Ton klang durch.</p> + +<p>Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine +Felldecke über den Knieen. Sie sah nicht krank aus. Vielmehr klar und +gesammelt.</p> + +<p>»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge.</p> + +<p>»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein +— ganz allein, — ohne Jonas.«</p> + +<p>Und sie umfaßte seine Hand mit ihren beiden Händen.</p> + +<p>»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja +doch bald sein. Laß es jetzt sein!«</p> + +<p>Er schwieg einen Augenblick. Diese Bitte war beredt.</p> + +<p>»Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will +alle Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich +hinbringen.«</p> + +<p>»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt. +Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so +feine Augen. Vor ihm will ich nicht —«</p> + +<p>Sie brach ab; aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz, +schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen, +in meinem Elend!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p> + +<p>»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen. +Darauf bestehe ich, Bel.«</p> + +<p>»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«</p> + +<p>»Was denn?«</p> + +<p>Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans +Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine +Bel vollkommen, — jede leiseste Regung in ihr kannte er, — und +beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm +Entrücktes aus, — etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne es sich noch +erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames +Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.</p> + +<p>»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist, +daß auch du verreisen sollst, — so bald als möglich. Nicht erst zum +Sommer, um mich abzuholen. Bald, — eher, — in den Ostertagen. Wo du +zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob +wohl auch sie — —. Ganz gewiß, das mußt du thun. Denn sonst bist du +zeitlebens unglücklich, Erik. Und das — siehst du — das könnt' ich ja +nicht aushalten.«</p> + +<p>Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die +Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen das Fensterglas.</p> + +<p>Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehen und +handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!</p> + +<p>Wie hatte er nur an Kampf denken können — mit Bel! Kampf? Nein, +ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie +beschenkte ihren Räuber,<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> — freiwillig, überreich beschenkte sie ihn: +»Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, — ich kann's entbehren, bin die +Stärkere, — ich kann entsagen, — du — nicht.«</p> + +<p>Und glühend brannte in ihm die Scham empor, — glühende Scham, — und +Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein +Beschenkter!«</p> + +<p>Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen +und benommen war sie von dem Schweren, das sie vorhatte, daß ihre +Blicke ihn nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.</p> + +<p>»Heut nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre! +Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören, +an sie zu denken, und ich, — wie sollte ich, — wie sollte ich nicht +anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik. +Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es +kann traurig werden, — sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll +es nicht. Ich ertrüg's nicht.«</p> + +<p>Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, — was wußte sie wohl von »Haß«. Von +Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen +Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und +ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele. +Sie dachte nichts Häßliches.</p> + +<p>»Und nun hab' ich auch verstanden, — heut nacht, — warum ich gesund +geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum +wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf +meinen Füßen stehen und gehen konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«</p> + +<p>»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> Exaltation war ihm +entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik. +Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt +du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«</p> + +<p>Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie +von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr +mein, — dies mehr dein.«</p> + +<p>Er trat an ihr Bett.</p> + +<p>»Höre mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß — über nichts, +— ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offener als bisher. +Denn du weißt nicht alles.«</p> + +<p>»Ach, Erik, — sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! — Nichts, +— nein! Nur eines — hätt' ich von dir erbeten!«</p> + +<p>Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie +sanft fest.</p> + +<p>»Es <em class="gesperrt">muß</em> sein, Bel. Du mußt mich hören.«</p> + +<p>»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, — sage mir nur erst: — hast du — +ihr schon geschrieben?«</p> + +<p>»Ja,« versetzte er erstaunt.</p> + +<p>»Ich meine — den <em class="gesperrt">andern</em> Brief?«</p> + +<p>»Ja, — auch den andern.«</p> + +<p>»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, — das hast du doch?«</p> + +<p>In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er +an die Tasche seiner Joppe. Es knisterte leise unter seinen Fingern.</p> + +<p>»Erik! — das ist das Einzige, — was ich von dir erbitten wollte.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p> + +<p>Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne, zerknitterte Papier, +— wieder stieg eine Blutwelle ihm ins Gesicht, — wieder die Röte der +Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, — nur das nicht! Das +konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, — +sein Heiligstes und sein Unheiligstes, — den Aufruhr der wildesten +Stunde, — die Andacht der stillsten —.</p> + +<p>Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, — +tausendmal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war, +was sie erfahren mußte, — sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr +war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, — wenn er selbst es +war, mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, mit allem +Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, — dann war es gut so.</p> + +<p>Vor seinen Worten scheute sie sich, — vor der endgültigen Klarheit: +und in dieses Dunkel griff sie verlangend, — vermessen. Wer ergründet +wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier!</p> + +<p>Er reichte ihr das zerdrückte Blatt, — zusammengeballt war es zu einer +Kugel.</p> + +<p>»Du hast es gewollt.«</p> + +<p>Dann verließ er sie.</p> + +<p>Nebenan im Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas +hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen.</p> + +<p>Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere.</p> + +<p>»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht +entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleids, — nicht in der +schlimmern: der Versuchung der Scham.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span></p> + +<p>Ihm war, als handle es sich gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch +weniger um ein Weib, — nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch +sein konnte, — um alles, was er überhaupt berühren konnte, schaffend, +wirkend, liebend, — um sein eigenes Menschsein.</p> + +<p>Es konzentrierte sich alles in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen, +die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.</p> + +<p>Entsagen hieß: in die Wüste gehen, — nicht nur mit seiner Liebe, +— auch mit seiner Thatkraft, — mit seiner Kraft überhaupt, — ins +Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.</p> + +<p>Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit +standhielt? Ja, in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines +andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, — keiner Augen, die da +glaubten, und warteten, und an sie appellierten?</p> + +<p>Ja vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die +Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln, — spottend oder +genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eigenen Erregungen +sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, — auch sie ihr +eigenes Publikum!</p> + +<p>Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher +auch hilflos in sich selber, — wenn sie sich nicht dadurch helfen +können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken, — und sich selbst +erkennen, wiedergespiegelt im Auge eines andern.</p> + +<p>Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch +in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und schüchtern war und +keineswegs ihr eigenes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen +suggerierten Zuschauer, — mit dem da oben, der alles sah.<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Auch sie +hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, — das +Gottesauge, den blauen Himmelsspiegel!</p> + +<p>Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels +kleinem Nebengemach. Es war, als wolle sie Erik in seinen bittern +Gedanken unterbrechen, — widerlegen.</p> + +<p>Er trat zur offenen Thür.</p> + +<p>Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den unteren Rand +der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot, in den Händen vergraben.</p> + +<p>»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel +bist, und in die Herzen der Menschen hineinsiehst, nimm mir meine Liebe +aus meinem Herzen!« —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der +Straße traf und von der bereits jetzt bevorstehenden Abreise seiner +Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige +Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu +lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie +der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen +mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer +Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß +die Gatten sich nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.</p> + +<p>Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete Erik sich nur kurz und hastig von +ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.</p> + +<p>Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn +eigentlich als Mann in seinem eigenen<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> Heim befriedigt, aber als +Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend +oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit +gelegentliche Versuche, die hungernde Thatkraft durch Näschereien und +Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so +völlig zurückgezogen lebte, — schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus +der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war, +die ihn einst fesselte, und die er gefesselt hatte? War eine Frau im +Spiel? —</p> + +<p>Wenige Tage später, an einem Sonntag vormittag, wollte Warwara eine +notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik +vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der +Grenze heimgekommen sei.</p> + +<p>Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte +sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß +eine ganz junge Dame und blickte mit großen, erwartungsvollen Augen zum +Fenster hinaus.</p> + +<p>Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr +zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Aeußerlichkeiten auf.</p> + +<p>Ein zarter, geschmeidiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue +Tuchkleid mit offenem Jackenteil, auf tiefrotem englischen +Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen +weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte, in ungeduldiger +Bewegung, unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken +Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und +Schläfen in seinem Gelock aus einem weichen Barett von dunkelblauem +Sammet hervor.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p> + +<p>In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht, +an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr +Gegenüber, daß dasselbe sich ein wenig befremdet nach ihr umwandte.</p> + +<p>Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend +ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.</p> + +<p>Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.</p> + +<p>»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend: +»Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte +und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben: Ihr +Vorname.«</p> + +<p>»Es genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben Einen +Weg?«</p> + +<p>»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte +nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines +reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten +Sie?«</p> + +<p>Ruth errötete und schüttelte den Kopf.</p> + +<p>»Nein; ich bin sehr — ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,« +entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.</p> + +<p>Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, — die +›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals +hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«</p> + +<p>»Da wird es Ihnen leid thun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut, +»denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen? +Sie ist schon abgereist.«</p> + +<p>»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnte ich ja noch nicht wissen! Es +hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das thut mir leid!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p> + +<p>Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß +Warwara sich schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon; es war nicht +verabredet; was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie sich, +und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth: »Nein, kein schlimmer +Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man es nie hat erwarten dürfen, +und nun geht es stetig bergauf. Im Anfang des Winters hat sie freilich +noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz: +›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Eine +Operation hat er selbst gemacht, weil die Aerzte es nicht wollten — +ohne Betäubung. <em class="gesperrt">Der</em> Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig +geschüttelt. Ich hab' ihn ein paarmal gesehen: blaß wie ein Tuch.«</p> + +<p>Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die +Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als +Warwara schwieg, atmete sie tief auf.</p> + +<p>»Das schrieb er nicht, daß er selbst, — — daß er ihr eigentlich +selbst die Gesundheit wiedergegeben hat. Aber so mußte es sein! Er +kann alles, was er will! Und das wollte er <em class="gesperrt">so</em> aus voller Seele, daß +sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie +grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten +geleitet hat! Nun, wo es ist, wie <em class="gesperrt">er</em> will: <em class="gesperrt">wo sie glücklich</em> ist.«</p> + +<p>Sie sprach hingerissen; ihre Augen blitzten.</p> + +<p>Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie +damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil +wie ein Wesen, an dem alles Beseelung und nichts mehr Form<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> ist. Eine +Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, — — und +Liebe? Dann konnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und +Freude sprechen. Keine Liebe? Dann konnte sie nicht mit diesem Blick +und diesem Ton sprechen.</p> + +<p>Der Zug hielt. Sie stiegen aus.</p> + +<p>Warwara bequemte sich dazu, eines der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu +benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen, und deren Kutscher sie +sofort umschrieen. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.</p> + +<p>Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.</p> + +<p>»Es ist etwas an ihr, das nicht in das Leben gehört, — Poesie. Poesie +im Konflikt mit dem Leben, — was ergibt das wohl?« dachte sie; — »es +ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte: — +o pfui, nein! — oder: die letzte eines Märchens.«</p> + +<p>Ruth ging langsam hin, zwischen den kahlen Birken am Wegrande; nicht +in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden +Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein, als ob er in +tausend Blüten um sie stände. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht, +— und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer +Gegenwart. Man hörte ihn; in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang +er von den blattlosen Zweigen.</p> + +<p>Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in +verhaltenem Glanze nieder, — Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft, +verhüllt, und wie eine Verheißung.</p> + +<p>Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte. +Sie öffnete, durchschritt den<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> Garten und stieg, zaudernd, leise, ein +paar Stufen zur Terrasse hinauf.</p> + +<p>Vorsichtig vornübergebeugt spähte sie von der Seite her in das breite +Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.</p> + +<p>Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt; hinter den Tellern mit +kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.</p> + +<p>Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand, +an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ dasselbe an der +roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die +Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu +fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark +an Erik.</p> + +<p>Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen; es glitt plötzlich von der +Gabel und fiel hinein.</p> + +<p>Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um, und spießte ein neues auf; +diesmal gelang es besser.</p> + +<p>Dann spülte er einen Theetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und +machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter +den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte +ihm die Hand.</p> + +<p>Jonas machte den Mund weit auf und fing an auf einem Bein im Zimmer zu +tanzen.</p> + +<p>Vom Fenster erklang helles Gelächter.</p> + +<p>Er blieb stehen, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm +niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck, als trauten sie +sich selbst nicht, richteten sich seine Augen nach dem Fenster.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p> + +<p>Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschlossenen +Scheibe, das ihn auslachte, und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob +er Ruth träumte, oder ob er Ruth sah.</p> + +<p>Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, daß +es dabei fast in Splitter schlug, und heraus streckten sich die Hände +nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.</p> + +<p>»Aber, Jonas! laß mich nur erst zur Thür hineinkommen!«</p> + +<p>»Nein, — nicht!« murmelte er, als könne sie ihm doch noch wieder wie +ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich laß dich +nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehen. Setz den Fuß auf die Rampe, — +ganz fest, — hörst du? Ich hebe dich.«</p> + +<p>Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.</p> + +<p>Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im +Zimmer.</p> + +<p>Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie da vor ihm stand, nicht +mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine +grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.</p> + +<p>»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, — von wo bist du nur +gekommen?« Er starrte sie an, als sei er überzeugt, daß sie vom Himmel +gefallen sei.</p> + +<p>»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. — Und — dein Papa?«</p> + +<p>»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge +macht er, allein, — seit Mamas Abreise.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p> + +<p>»O Jonas, — daß Mama gesund geworden ist, — nicht wahr? Ist es nicht +wie ein Wunder, — immer noch?«</p> + +<p>»Ja. Und jetzt werde ich auch Arzt. Weißt du es? Für den Fall, daß du +später einmal krank wirst.«</p> + +<p>Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen, +übermütigen Augen.</p> + +<p>»Hoffentlich werde ich später einmal krank. — — Wie ist es dir nur +ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«</p> + +<p>Er sah rot und verwirrt aus.</p> + +<p>»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, — ich dachte ja, — — Du! willst du +nicht eine Tasse Thee haben?«</p> + +<p>»Nein, danke,« sagte sie lachend; »aber die Hauptsache ist: bald kommst +du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas. Da studieren wir +zusammen.«</p> + +<p>»Ja,« versetzte er tiefatmend, »— endlich: — bald! endlich! endlich +zusammen! Ja, — siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. — +— Hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender +Heftigkeit fort, »— muß in deiner Nähe sein, Ruth. — Bei dir. Ja, +— du! — ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, — — nimm mir's +nicht übel, — aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab' +nichts, bin nichts, — muß mich eben erst durchbeißen, — aber bei dir +sein will ich wenigstens, — jedem die Faust zeigen, der's auch will, +— der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen +jeden — —«</p> + +<p>»Jonas! Du rasest!«</p> + +<p>Sie war aufgesprungen, blaß vor Schreck.</p> + +<p>Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, — und plötzlich +stürzte er vor ihr in die Kniee, das Gesicht in den Falten ihres +Kleides.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p> + +<p>»Ach, Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, — es war ja so schrecklich +für mich, — all die Zeit, — so stumm in mich hineingewürgt, alles. +Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, — es kommt nie wieder, +bis —: Ich weiß, — ich darf noch nicht. Aber einmal, — <em class="gesperrt">einmal</em> +mußt' ich, — ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so +grenzenlos unglücklich, bis — bis du mein — mein — geworden bist!«</p> + +<p>»Jonas!« flüsterte sie, »— Jonas, ich bitte dich, — steh auf, — laß +mich los, — du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht —«</p> + +<p>Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern +losen wollte, — er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte.</p> + +<p>»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer +unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine +Zähne in ihren Handrücken.</p> + +<p>Dunkel drang das Blut vor.</p> + +<p>Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg.</p> + +<p>Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand.</p> + +<p>»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Thränen aus, »Ruth +— hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was — +was sind wir uns denn? was — in Zukunft?«</p> + +<p>Sie faßte ihn an beide Schultern; — angstvoll und liebevoll sah sie +ihm ins verstörte Gesicht.</p> + +<p>»Jonas! Jetzt, — und in Zukunft, — und immer, — <em class="gesperrt">Geschwister</em>!«</p> + +<p>Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen +Schritte bis zur Thür, öffnete sie, —<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> und stürzte hinaus, über die +Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten.</p> + +<p>Totenstill wurde es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und +lohten hell auf im Kamin.</p> + +<p>Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer +Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in +Flammen stand.</p> + +<p>Was that sie hier, — allein, — im Hause, — ein Eindringling, — der +Jonas hinausgetrieben?</p> + +<p>Die Thür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!«</p> + +<p>Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr +großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, — leer. — — —</p> + +<p>Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe +des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf +der Bank unter den überhängenden Birken.</p> + +<p>Erik blieb stehen, blickte schärfer hin, und kam langsam näher. Sie +bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht, in den +grauen Frühling hinein, so daß sie <em class="gesperrt">da</em>, — in unsicheren Umrissen, +— dann immer lebenswärmer, — immer beseelter vor seinen Augen, kein +blasses Gedankenbild mehr: Wirklichkeit. Weich hob der blonde Kopf sich +ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die +Sonne matt durchdrang, in einem Schattenspiel von rosigvioletten Farben.</p> + +<p>Ruth überfiel es wie eine Schwäche, lähmend, je näher Erik ihr kam, je +näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause! +jetzt erst zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben +sich ihm entgegen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p> + +<p>Dieses seltsam Stille, dieses Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder +lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, — als fürchte er zu +verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und +überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde.</p> + +<p>Ueber Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf +schwankendem Zweig und sang hell.</p> + +<p>Wie Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog +davon.</p> + +<p>Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog +ihre Hände fest an sich.</p> + +<p>»Lieb' — Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht.</p> + +<p>»Ich, — — der Brief, — er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas +Fremdes, — Zweifel war darin. Ich mußte fort.«</p> + +<p>Er hörte nur ihre Stimme; er mußte sie wieder hören.</p> + +<p>»Mit dem Rotkehlchen — hergeflogen?« fragte er.</p> + +<p>Sie sah ihn an, — etwas zaghaft, etwas schelmisch; »Durchgebrannt,« +sagte sie.</p> + +<p>Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen.</p> + +<p>»Von Römers?!«</p> + +<p>»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie — +sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹ +sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, — heimlich. +Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. — Durfte ich?«</p> + +<p>Sie fragte es schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie +ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knieen gelegen, — +aber das sagte sie nicht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p> + +<p>Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem +Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie.</p> + +<p>»Ob du durftest? — <em class="gesperrt">Heimkommen</em>, — ja! Bei Tag und bei Nacht; +heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wäre ich gekommen +— zu dir. Vergiß den Brief, — alle Briefe, — das Fremde, den +Zweifel, — vergiß alles — alles. Sei nur bei mir.«</p> + +<p>Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend, +Heimatsgefühl, — nein, mehr als nur das, noch etwas andres, — dieses +Unbedingte und Ausschließliche, das keine Macht im Himmel und auf Erden +ihr gab: nur er ganz allein.</p> + +<p>»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und +wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Thut es so weh?«</p> + +<p>»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt +über ihr Glück.</p> + +<p>Erik stand auf.</p> + +<p>»Komm hinein. Komm, Liebling. <em class="gesperrt">Zu Hause</em> bist du erst in meinem Zimmer, +— im alten Ledersessel, — nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt +für dich, zu windig.«</p> + +<p>Während sie dem Hause zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch +einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm, +daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir thut es so +leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig — —«</p> + +<p>»Laß das,« unterbrach er sie halblaut, »— ich werde dir später alles +erzählen, — später.«</p> + +<p>Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm. Etwas, das sie fremd +berührte, klang aus seinem Ton. Es war<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> nur ein einzelner +durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr +in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, — wie vorhin, +— bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher.</p> + +<p>Erik ließ sie unbemerkt einen Schritt vorausgehen.</p> + +<p>Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen +aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark +gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper kräftiger, +weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen, +weichen Formen ab.</p> + +<p>Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn.</p> + +<p>»Der Knoten nimmt dich mir fort, — den duld' ich nicht,« sagte er +beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit +geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In +dichten lockigen Wellen fiel es nieder bis zum Gürtel, wie einst.</p> + +<p>»Ach nein, — nicht, — wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt +und griff nach dem Rücken.</p> + +<p>»In meiner Joppentasche. — Aber wiederhole das noch einmal. Nun? +›Sie?‹ oder ›Du?‹. Im Brief stand einmal ›Du‹. Nur einmal? Oder +eigentlich — immer?« fragte er leise.</p> + +<p>Sie errötete verwirrt.</p> + +<p>»Sie — — du — — ich —«</p> + +<p>Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich ihren Kopf +nach vorwärts, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm +aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und +gab seiner Hand nach.</p> + +<p>Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p> + +<p>»Mein. Mein Fürstenkind, meine Königin,« flüsterte er.</p> + +<p>Und er beugte sich, und seine Lippen küßten den leise bebenden Mund.</p> + +<p>Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei, und öffnete die Thür zu +seinem Arbeitszimmer.</p> + +<p>»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging dem Fenster +zu. Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb +sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln +gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie +hinauf zur Zimmerdecke mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht.</p> + +<p>»Was ist dir?« fragte er unruhig, »— Ruth! — was ist dir?«</p> + +<p>Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, — sie wachzuküssen: »Du +liebst mich, — du liebst mich ja, du weißt es noch nicht, aber ich +weiß es für dich! Weiß es gewiß, — fühle es, sehe es, daß sie da ist, +— daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!«</p> + +<p>Aber er schwieg.</p> + +<p>Ja, sie war da, — und doch konnte er so nicht handeln, so nicht +sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, — wie das Rotkehlchen +auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da, +— aber greifen konnte er sie nicht.</p> + +<p>Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann +setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster.</p> + +<p>»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz +zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, — +will mich nicht<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner +Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.«</p> + +<p>Da löste sie sich vom Ofen, sie flog zu ihm, sie glitt nieder zu seinen +Knieen, — ganz blaß.</p> + +<p>»Ja!« sagte sie außer sich, »— fremd, — etwas Fremdes, — ich kann es +nicht verstehn und quäle mich.«</p> + +<p>»Was ist es? Sage es mir.«</p> + +<p>»Ich kann nicht,« murmelte sie.</p> + +<p>»Doch, doch! Du kannst. Mußt es wieder lernen, — zu sprechen, oder +auch nur zu stammeln, aus dem Innersten heraus, — noch aus dem +Unklarsten, Unverstandensten —. Es ist nur Scheu. Ueberwinde sie.«</p> + +<p>»Es ist, — im Kuß war es,« sagte sie leise.</p> + +<p>»Hat es dich verletzt, — daß ich dich geküßt habe?«</p> + +<p>»Mich?! verletzt? mich?! nein! — was liegt an mir?«</p> + +<p>»— Für mich — alles, Ruth. — Aber warum quält es dich dann?«</p> + +<p>Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.</p> + +<p>»— Weil, — es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen, +— als ob er gar nicht von Ihnen kam, — und dann: wie ich von Ihrer +Frau sprach, im Garten, — und dann: im Kuß, — da fühlte ich es ganz +deutlich, das Fremde darin, und daß es — —«</p> + +<p>»Daß es —?«</p> + +<p>»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob <em class="gesperrt">Sie</em> es +nicht sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.«</p> + +<p>Er antwortete nicht.</p> + +<p>Wie sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen +geschlossen.</p> + +<p>Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme:<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> »Du täuschest dich. +Es ist nichts Fremdes, — nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, — +und in dir selbst ist es, du erkennst es nur nicht, — mit deinen +Kinderaugen.«</p> + +<p>Er strich ihr über das Haar hin, und sah hinweg über sie, die, den Kopf +unter seiner Hand gebeugt, erwartungsvoll lauschte.</p> + +<p>»Weißt du noch, — als du das erste Mal hier warst, — was wir da an +dieser Stelle miteinander sprachen, und was ich dir versprach? Ich +wollte dich aus der Welt der Phantasie, in der du träumtest, in die +Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und +du bist nicht das Kind mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender +Mensch, der lebt, — lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt +du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe +bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab, +wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen, +alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser +Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht +auf die Wirklichkeit, sondern, über jede Wirklichkeit weit hinaus, +auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest +und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem über alle +Menschen emporgehobenen Bilde, — in deinem Innern. Aber diese ganze +Traumschönheit, Ruth, in der dein Verhältnis zu mir noch steht, — +sie ist dennoch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche +Umhüllung, — nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem +Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> wartet +darauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie +dein ganzes übriges Wesen.«</p> + +<p>Er brach ab.</p> + +<p>Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu +folgen.</p> + +<p>»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause +fort, »habe ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben +aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem +Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem +ganzen Herzen verwachsen ist, — und dir Schmerz damit zufüge, — wirst +du dein Vertrauen behalten, Ruth, deine Liebe — zu mir?«</p> + +<p>Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich. +Er hielt sie zurück.</p> + +<p>»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir +fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst +war; — daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und +mein Glück langer nicht entbehren kann; — daß ich es nicht ertrug, +dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil — ich keine Frau +mehr habe, — weil sie sich von mir trennen wird.«</p> + +<p>»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht +glauben, auch wenn Sie es mir — — Nie und nimmer kann das sein. Kann +nicht. Denn sie — sie war ja so glücklich — bei Ihnen.«</p> + +<p>»Sie?« antwortete er schwer, »— ja, Ruth, — sie war es wohl, — +früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.«</p> + +<p>Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> prägte sich ein +grenzenloses Befremden aus, — Zweifel, Unglaube, ja, Entsetzen prägte +sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, — nach +Erik rufen, — ihn zu ihrer Hilfe rufen, vor einem Unverstandenen, +Unbekannten. Aber er — er war es ja gerade, der da vor ihr stand —.</p> + +<p>Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ +ihn. Er fühlte nur noch Angst, — die Angst, sie zu verlieren.</p> + +<p>»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es +thun, vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, — du bist kein +Kind mehr, — ein Weib, — mein Weib!«</p> + +<p>In diesem Augenblick wurde die Thür vom Flur aus aufgerissen. Jonas +erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Thür wieder +ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen.</p> + +<p>»Jonas!« murmelte Ruth, halb bewußtlos, »— wir müssen, — er hat +gehört, — wir müssen nach Jonas sehen.«</p> + +<p>Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth +war schon bei der Thür. Sie öffnete sie.</p> + +<p>Im Flur lag Jonas am Boden, — lang hingestreckt. Mit dem Kopf war er +im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Ueber seine linke Schläfe +träufelte Blut.</p> + +<p>Ruth stieß die Mittelthür auf. Sie half Erik, ihn hineinzubringen in +das anstoßende Zimmer, auf sein Bett. In den nächsten Minuten sprachen +sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt.</p> + +<p>»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Weile halblaut, +— und dann, über ihn gebeugt: »Er kommt zu sich.«</p> + +<p>Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück; ihre Augen richteten sich +auf Jonas mit einem Ausdruck des Grauens, daß er sie erkennen, — daß +er sie sehen würde.</p> + +<p>Sie machte Erik ein stummes Zeichen, und ging leise in sein +Arbeitszimmer zurück.</p> + +<p>Dort blieb sie verwirrt stehen.</p> + +<p>Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte +sie bleiben, — nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort. +Fort, ehe Erik kam. Fort, ehe Jonas kam.</p> + +<p>Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Thür zu, durch die sie +soeben aus dem Schlafzimmer eingetreten war.</p> + +<p>Nein, — wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschiednehmen? von wem? Ohne +Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. — Für immer?</p> + +<p>Sie trat in den Flur hinaus, — wie hinausgetrieben von ihren eigenen +verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn.</p> + +<p>Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein +paar kleine hellrote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel.</p> + +<p>Der weite, dunkle Reisemantel, den er damals trug, — als sie fort +sollte, — und er heimkehrte, — und als sie ihm an die Brust fiel. — +—</p> + +<p>Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und +verhaltenem Atem.</p> + +<p>Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> ihre Gedanken mit +sich fort, — wild, glühend, unerträglich, — das Trennungsweh.</p> + +<p>Mit den Händen faßte sie den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seine +losen, weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen +Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte +sie den Saum.</p> + +<p>Damals, — wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei, +wozu es sei, — bis in den Tod, bis in das Verbrechen hinein, — hätte +sie es nicht blind gethan?</p> + +<p>Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie +gleich laut schreien.</p> + +<p>O Gott, auch jetzt, — wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin +es sei, wozu es sei, — sie hätte es blind gethan! Blind gehorchend, +— gegen allen Augenschein, gegen alles eigene Wissen und Verstehen! +Mit ihr durfte er thun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen +mochte, — was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo +sie ihn gesehen, — sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie +gewesen, — an ihm lag Alles!</p> + +<p>War er sonst noch <em class="gesperrt">Erik</em>?</p> + +<p>Sie sah ihn vor sich, wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai +im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in +seinen starken Armen. So hatte Ruth ihn zuerst mit ihr gesehen, — so +ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du +allzuleichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang +vertrauend die Hände um seinen Nacken.</p> + +<p>Aber nun — nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glücklich +vertrauende Lachen verstummte, — und<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> sie, die sich an ihm +festgehalten, ließ er fallen, — er öffnete die Arme und ließ sie, +die Hilflose, zu Boden fallen, — denn eine Last war sie, eine +allzuschwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die +sich ausbreiteten nach Ruth.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Ruth richtete sich auf; sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und +schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag +ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und +fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehen!« schrie es in ihr. Aber Eriks +Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe +nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.«</p> + +<p>Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine +fremde Schrift. Das wollte sie also thun? Ja, das wollte sie. Er +hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen, +in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, — so +ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden. +Wenn sie es selbst verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben +verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit +ihr gewollt, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von +ihm. Sie hatte ja alles von ihm, — nur von ihm allein. Sie kannte alle +seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht +nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn.</p> + +<p>Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl.</p> + +<p>Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> kühn zu Mut, +sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen: +sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen.</p> + +<p>Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, — seinen +eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eigenen Willen festhalten! +Haltung! Sich selbst gehorchen, — hörst du?«</p> + +<p>Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er +ihr bei: Erik gegen Erik.</p> + +<p>Leise schlich sie sich aus dem Hause.</p> + +<p>Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück.</p> + +<p>Nein, dafür konnte er nichts, — Erik konnte nichts dafür, daß er +anders war, und daß das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht +hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal ihre Phantasiegeschichten +gar nicht. Die mußte man erst hinzuthun.</p> + +<p>Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, — das ganze verflossene +Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelsang, da mochte es +ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo +sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in +den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der +ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein +Märchen, das »allerschönste von allen«.</p> + +<p>Ja, das allerschönste von allen.</p> + +<p>So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals.</p> + +<p>So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das +Leben bot. Niemals.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p> + +<p>So schön, daß es nichts mehr geben konnte, — im ganzen Leben nichts, +— was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen, — und zu +gering befinden würde.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne +es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend +über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem +Buschwerk umwuchsen.</p> + +<p>Dann ging sie, ohne sich noch umzuwenden, mit gesenktem Kopf den +Landweg zwischen den Birken zurück zur Station, und ihr langes loses +Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde. —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen, +den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem +die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen.</p> + +<p>Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm +wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen, wenn er Gedanken dafür +übrig behalten hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach +Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, — dieser Anstrich von +Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und +Thorheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament, +an Jugendfeuer war das gewesen, — sondern eiserne Ausdauer, +Selbstbeherrschung.</p> + +<p>Kinderei oder nicht, — es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p> + +<p>Aber der — — achtete ihn nicht.</p> + +<p>Jetzt, in dieser Stunde nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem +Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete Erik jetzt, und er mußte nun seine +volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen.</p> + +<p>Ein leises Knaben der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken. Bei +dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck.</p> + +<p>Er öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er +ging über den Flur in das Wohnzimmer. Ruth war nicht da.</p> + +<p>Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte +ihm die Brust zusammen.</p> + +<p>»Ruth!« rief er laut, und erkannte seine eigene Stimme nicht.</p> + +<p>Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an +die Bank vor dem Gehölz.</p> + +<p>Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang.</p> + +<p>Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken; ganz +regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, — +und sang und sang in den grauen Frühling hinein —.</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p class="s3 center"><b>Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart.</b></p><br> +</div> + +<table> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Andreas-Salomé, Lou</b>, Ruth. Erzählung. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Bobertag, Bianca</b>, Moderne Jugend. Roman.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Bourget, Paul</b>, Das gelobte Land. Roman.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Boy-Ed, Ida</b>, Die Lampe der Psyche. Roman.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Ebner-Eschenbach, M. v.</b>, Erzählungen. 3. Aufl. </td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Boŭna. Erzählung. 3. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Margarete. 3. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Eckstein, Ernst</b>, Nero. Roman. 5. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 6.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Fulda, L.</b>, Lebensfragmente. 2 Novellen. 2. Auflage</td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Heyse, Paul</b>, Neue Novellen. 7. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Hopfen, Hans</b>, Der letzte Hieb.3. Auflage. </td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Junghans, S.</b>, Schwertlilie. Roman. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Kirchbach, W.</b>, Miniaturen. Fünf Novellen.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Lenbach, Ernst</b>, Abseits. Erzählungen.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Lindau, Rudolf</b>, Martha. Roman.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 6.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Loti, Pierre</b>, Japanische Herbsteindrücke.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Mauthner, Fritz</b>, Hypatia. Roman. 2. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Petri, Julius</b>, Pater peccavi! Roman.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Proelß, J.</b>, Bilderstürmer! Roman. 2. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Schunsui, Tamenaga</b>, Treu bis in den Tod.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Sudermann, H.</b>, Frau Sorge. Roman. 34. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Geschwister. Zwei Novellen. 15. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Der Katzensteg. Roman. 28. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Im Zwielicht. 19. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 18. Aufl. </td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Es war. Roman. 21. Auflage.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 5.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 6.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Telmann, K.</b>, Trinacria. Sizilische Geschichten</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Wereschagin, W</b>., Der Kriegskorrespondent.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 2.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 3.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Widmann, J. V.</b>, Touristennovellen.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Wilbrandt, A.</b>, Der Dornenweg. Roman.3. Aufl. </td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Novellen aus der Heimat. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Hermann Ifinger. Roman. 4. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Meister Amor. Roman. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.50</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.50</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-˱- Die Osterinsel. Roman. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Die Rothenburger. Roman. 3. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl">--"-- Vater und Sohn u. andere Geschichten. 2. Aufl.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 3.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 4.--</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdl"><b>Wildenbruch, E. v.</b>, Schwester-Seele.</td> +<td class="tdl">Geh. M. 4.--</td> +<td class="tdl">Geb. M. 5.--</td> +</tr> +</table> + +<p class="center">Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.</p> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75251 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75251-h/images/cover.jpg b/75251-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..0e35bca --- /dev/null +++ b/75251-h/images/cover.jpg diff --git a/75251-h/images/signet.jpg b/75251-h/images/signet.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..b6d9195 --- /dev/null +++ b/75251-h/images/signet.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..277acea --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #75251 (https://www.gutenberg.org/ebooks/75251) |
