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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:27:54 -0700
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+Project Gutenberg's Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827, by Wilhelm Hauff
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Posting Date: June 6, 2012 [EBook #6639]
+Release Date: October, 2004
+First Posted: January 9, 2003
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAERCHEN-ALMANACH 1827 ***
+
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+
+Produced by Delphine Lettau
+
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+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
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+
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+
+Märchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Inhalt:
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (Rahmenerzählung)
+Der Zwerg Nase
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+Der arme Stephan
+Der gebackene Kopf
+Der Affe als Mensch (Der junge Engländer)
+Das Fest der Unterirdischen
+Schneeweißchen und Rosenrot
+Die Geschichte Almansors
+
+
+
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Scheik von Alessandria, Ali Banu, war ein sonderbarer Mann; wenn
+er morgens durch die Straßen der Stadt ging, angetan mit einem Turban,
+aus den köstlichsten Kaschmirs gewunden, mit dem Festkleide und dem
+reichen Gürtel, der fünfzig Kamele wert war, wenn er einherging
+langsamen, gravitätischen Schrittes, seine Stirne in finstere Falten
+gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen, die Augen niedergeschlagen
+und alle fünf Schritte gedankenvoll seinen langen, schwarzen Bart
+streichend; wenn er so hinging nach der Moschee, um, wie es seine
+Würde forderte, den Gläubigen Vorlesungen über den Koran zu halten:
+da blieben die Leute auf der Straße stehen, schauten ihm nach und
+sprachen zueinander: "Es ist doch ein schöner, stattlicher Mann, und
+reich, ein reicher Herr", setzte wohl ein anderer hinzu, "sehr reich;
+hat er nicht ein Schloß am Hafen von Stambul? Hat er nicht Güter und
+Felder und viele tausend Stück Vieh und viele Sklaven?"
+
+"Ja", sprach ein dritter, "und der Tatar, der letzthin von Stambul
+her, vom Großherrn selbst, den der Prophet segnen möge, an ihn
+geschickt kam, der sagte mir, daß unser Scheik sehr in Ansehen stehe
+beim Reis-Effendi, beim Kapidschi-Baschi, bei allen, ja beim Sultan
+selbst."
+
+"Ja", rief ein vierter, "seine Schritte sind gesegnet; er ist ein
+reicher, vornehmer Herr, aber--aber, ihr wißt, was ich meine!" "Ja,
+ja!" murmelten dann die anderen dazwischen, "es ist wahr, er hat auch
+ein Teil zu tragen, möchten nicht mit ihm tauschen; ist ein reicher,
+vornehmer Herr; aber, aber!"
+
+Ali Banu hatte ein herrliches Haus auf dem schönsten Platz von
+Alessandria; vor dem Hause war eine weite Terrasse, mit Marmor
+ummauert, beschattet von Palmbäumen; dort saß er oft abends und
+rauchte seine Wasserpfeife. In ehrerbietiger Entfernung harrten dann
+zwölf reichgekleidete Sklaven seines Winkes; der eine trug seinen
+Betel, der andere hielt seinen Sonnenschirm, ein dritter hatte Gefäße
+von gediegenem Golde, mit köstlichem Sorbet angefüllt, ein vierter
+trug einen Wedel von Pfauenfedern, um die Fliegen aus der Nähe des
+Herrn zu verscheuchen; andere waren Sänger und trugen Lauten und
+Blasinstrumente, um ihn zu ergötzen mit Musik, wenn er es verlangte,
+und der gelehrteste von allen trug mehrere Rollen, um ihm vorzulesen.
+
+Aber sie harreten vergeblich auf seinen Wink; er verlangte nicht
+Musik noch Gesang, er wollte keine Sprüche oder Gedichte weiser
+Dichter der Vorzeit hören, er wollte keinen Sorbet zu sich nehmen,
+noch Betel kauen, ja, selbst der mit dem Fächer aus Pfauenfeder hatte
+vergebliche Arbeit; denn der Herr bemerkte es nicht, wenn ihn eine
+Fliege summend umschwärmte. Da blieben oft die Vorübergehenden
+stehen, staunten über die Pracht des Hauses, über die
+reichgekleideten Sklaven und über die Bequemlichkeit, womit alles
+versehen war; aber wenn sie dann den Scheik ansahen, wie er so ernst
+und düster unter den Palmen saß, seine Augen nirgends hinwandte als
+auf die bläulichen Wölkchen seiner Wasserpfeife, da schüttelten sie
+die Köpfe und sprachen: "Wahrlich, der reiche Mann ist ein armer Mann.
+Er, der viel hat, ist ärmer als der, der nichts hat; denn der
+Prophet hat ihm den Verstand nicht gegeben, es zu genießen."
+
+So sprachen die Leute, lachten über ihn und gingen weiter.
+
+Eines Abends, als der Scheik wiederum vor der Türe seines Hauses saß,
+umgeben von allem Glanz der Erde, und traurig und einsam seine
+Wasserpfeife rauchte, standen nicht ferne davon einige junge Leute,
+betrachteten ihn und lachten.
+
+"Wahrlich", sprach der eine, "das ist ein törichter Mann, der Scheik
+Ali Banu; hätte ich seine Schätze, ich wollte sie anders anwenden.
+Alle Tage wollte ich leben herrlich und in Freuden; meine Freunde
+müßten bei mir speisen in den großen Gemächern des Hauses, und Jubel
+und Lachen müßten diese traurigen Hallen füllen."
+
+"Ja", erwiderte ein anderer. "Das wäre nicht so übel; aber viele
+Freunde zehren ein Gut auf, und wäre es so groß als das des Sultans,
+den der Prophet segne; aber säße ich abends so unter den Palmen auf
+dem schönen Platze hier, da müßten mir die Sklaven dort singen und
+musizieren, meine Tänzer müßten kommen und tanzen und springen und
+allerlei wunderliche Stücke aufführen. Dazu rauchte ich recht
+vornehm die Wasserpfeife, ließe mir den köstlichen Sorbet reichen und
+ergötzte mich an all diesem wie ein König von Bagdad."
+
+"Der Scheik", sprach ein dritter dieser jungen Leute, der ein
+Schreiber war, "der Scheik soll ein gelehrter und weiser Mann sein,
+und wirklich, seine Vorlesungen über den Koran zeugen von Belesenheit
+in allen Dichtern und Schriften der Weisheit; aber ist auch sein
+Leben so eingerichtet, wie es einem vernünftigen Manne geziemt? Dort
+steht ein Sklave mit einem ganzen Arm voll Rollen; ich gäbe mein
+Festkleid dafür, nur eine davon lesen zu dürfen; denn es sind gewiß
+seltene Sachen. Aber er? Er sitzt und raucht und läßt
+Bücher--Bücher sein. Wäre ich der Scheik Ali Banu, der Kerl müßte
+mir vorlesen, bis er keinen Atem mehr hätte oder bis die Nacht
+heraufkäme; und auch dann noch müßte er mir lesen, bis ich
+entschlummert wäre." "Ha! Ihr wißt mir recht, wie man sich ein
+köstliches Leben einrichtet", lachte der vierte; "essen und trinken,
+singen und tanzen, Sprüche lesen und Gedichte hören von armseligen
+Dichtern! Nein, ich würde es ganz anders machen. Er hat die
+herrlichsten Pferde und Kamele und Geld die Menge. Da würde ich an
+seiner Stelle reisen, reisen bis an der Welt Ende und selbst zu den
+Moskowitern, selbst zu den Franken. Kein Weg wäre mir zu weit, um
+die Herrlichkeiten der Welt zu sehen. So würde ich tun, wäre ich
+jener Mann dort."
+
+"Die Jugend ist eine schöne Zeit und das Alter, wo man fröhlich ist",
+sprach ein alter Mann von unscheinbarem Aussehen, der neben ihnen
+stand und ihre Reden gehört hatte, "aber erlaubet mir, daß ich es
+sage, die Jugend ist auch töricht und schwatzt hier und da in den Tag
+hinein, ohne zu wissen, was sie tut."
+
+"Was wollt Ihr damit sagen, Alter?" fragten verwundert die jungen
+Leute. "Meinet Ihr uns damit? Was geht es Euch an, daß wir die
+Lebensart des Scheiks tadeln?"
+
+"Wenn einer etwas besser weiß als der andere, so berichtige er seinen
+Irrtum, so will es der Prophet", erwiderte der alte Mann, "der Scheik,
+es ist wahr, ist gesegnet mit Schätzen und hat alles, wonach das
+Herz verlangt, aber er hat Ursache, ernst und traurig zu sein.
+Meinet ihr, er sei immer so gewesen? Nein, ich habe ihn noch vor
+fünfzehn Jahren gesehen, da war er munter und rüstig wie die Gazelle
+und lebte fröhlich und genoß sein Leben. Damals hatte er einen Sohn,
+die Freude seiner Tage, schön und gebildet, und wer ihn sah und
+sprechen hörte, mußte den Scheik beneiden um diesen Schatz, denn er
+war erst zehn Jahre alt, und doch war er schon so gelehrt wie ein
+anderer kaum im achtzehnten."
+
+"Und der ist ihm gestorben? Der arme Scheik!" rief der junge
+Schreiber.
+
+"Es wäre tröstlich für ihn, zu wissen, daß er heimgegangen in die
+Wohnungen des Propheten, wo er besser lebte als hier in Alessandria;
+aber das, was er erfahren mußte, ist viel schlimmer. Es war damals
+die Zeit, wo die Franken wie hungrige Wölfe herüberkamen in unser
+Land und Krieg mit uns führten. Sie hatten Alessandria überwältigt
+und zogen von da aus weiter und immer weiter und bekriegten die
+Mamelucken. Der Scheik war ein kluger Mann und wußte sich gut mit
+ihnen zu vertragen; aber, sei es, weil sie lüstern waren nach seinen
+Schätzen, sei es, weil er sich seiner gläubigen Brüder annahm, ich
+weiß es nicht genau; kurz, sie kamen eines Tages in sein Haus und
+beschuldigten ihn, die Mamelucken heimlich mit Waffen, Pferden und
+Lebensmitteln unterstützt zu haben. Er mochte seine Unschuld
+beweisen, wie er wollte, es half nichts, denn die Franken sind ein
+rohes, hartherziges Volk, wenn es darauf ankommt, Geld zu erpressen.
+Sie nahmen also seinen jungen Sohn, Kairam geheißen, als Geisel in
+ihr Lager. Er bot ihnen viel Geld für ihn; aber sie gaben ihn nicht
+los und wollten ihn zu noch höherem Gebot steigern. Da kam ihnen auf
+einmal von ihrem Bassa, oder was er war, der Befehl, sich
+einzuschiffen; niemand in Alessandria wußte ein Wort davon,
+und--plötzlich waren sie auf der hohen See, und den kleinen Kairam,
+Ali Banus Sohn, schleppten sie wohl mit sich, denn man hat nie wieder
+etwas von ihm gehört."
+
+"O der arme Mann, wie hat ihn doch Allah geschlagen!" riefen einmütig
+die jungen Leute und schauten mitleidig hin nach dem Scheik, der,
+umgeben von Herrlichkeit, trauernd und einsam unter den Palmen saß.
+
+"Sein Weib, das er sehr geliebt hat, starb ihm aus Kummer um ihren
+Sohn; er selbst aber kaufte sich ein Schiff, rüstete es aus und bewog
+den fränkischen Arzt, der dort unten am Brunnen wohnt, mit ihm nach
+Frankistan zu reisen, um den verlorenen Sohn aufzusuchen. Sie
+schifften sich ein und waren lange Zeit auf dem Meere und kamen
+endlich in das Land jener Giaurs, jener Ungläubigen, die in
+Alessandria gewesen waren. Aber dort soll es gerade schrecklich
+zugegangen sein. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Paschas
+und die Reichen und Armen schlugen einander die Köpfe ab, und es war
+keine Ordnung im Lande. Vergeblich suchten sie in jeder Stadt nach
+dem kleinen Kairam, niemand wollte von ihm wissen, und der fränkische
+Doktor riet endlich dem Scheik, sich einzuschiffen, weil sie sonst
+wohl selbst um ihre Köpfe kommen könnten.
+
+So kamen sie wieder zurück, und seit seiner Ankunft hat der Scheik
+gelebt wie an diesem Tag, denn er trauert um seinen Sohn, und er hat
+recht. Muß er nicht, wenn er ißt und trinkt, denken, jetzt muß
+vielleicht mein armer Kairam hungern und dürsten?
+
+Und wenn er sich bekleidet mit reichen Schals und Festkleidern, wie
+es sein Amt und seine Würde will, muß er nicht denken, jetzt hat er
+wohl nichts, womit er seine Blöße deckt? Und wenn er umgeben ist von
+Sängern und Tänzern und Vorlesern, seinen Sklaven, denkt er da nicht,
+jetzt muß wohl mein armer Sohn seinem fränkischen Gebieter Sprünge
+vormachen und musizieren, wie er es haben will? Und was ihm den
+größten Kummer macht, er glaubt, der kleine Kairam werde, so weit vom
+Lande seiner Väter und mitten unter Ungläubigen, die seiner spotten,
+abtrünnig werden vom Glauben seiner Väter und er werde ihn einst
+nicht umarmen können in den Gärten des Paradieses!
+
+Darum ist er auch so mild gegen seine Sklaven und gibt große Summen
+an die Armen; denn er denkt, Allah werde es vergelten und das Herz
+seiner fränkischen Herren rühren, daß sie seinen Sohn mild behandeln.
+Auch gibt er jedesmal, wenn der Tag kommt, an welchem ihm sein Sohn
+entrissen wurde, zwölf Sklaven frei."
+
+"Davon habe ich auch schon gehört", entgegnete der Schreiber, "aber
+man trägt sich mit wundervollen Reden; von seinem Sohne wurde dabei
+nichts erwähnt; wohl aber sagte man, er sei ein sonderbarer Mann und
+ganz besonders erpicht auf Erzählungen; da soll er jedes Jahr unter
+seinen Sklaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzählt,
+den gibt er frei." "Verlasset euch nicht auf das Gerede der Leute",
+sagte der alte Mann, "es ist so, wie ich es sage, und ich weiß es
+genau; möglich ist, daß er sich an diesem schweren Tage aufheitern
+will und sich Geschichten erzählen läßt; doch gibt er sie frei um
+seines Sohnes willen. Doch, der Abend wird kühl, und ich muß
+weitergehen. Salem aleikum, Friede sei mit euch, ihr jungen Herren,
+und denket in Zukunft besser von dem guten Scheik!"
+
+Die jungen Leute dankten dem Alten für seine Nachrichten, schauten
+noch einmal nach dem trauernden Vater und gingen die Straße hinab,
+indem sie zueinander sprachen: "Ich möchte doch nicht der Scheik Ali
+Banu sein."
+
+Nicht lange Zeit, nachdem diese jungen Leute mit dem alten Mann über
+den Scheik Ali Banu gesprochen hatten, traf es sich, daß sie um die
+Zeit des Morgengebets wieder diese Straße gingen. Da fiel ihnen der
+alte Mann und seine Erzählung ein, und sie beklagten zusammen den
+Scheik und blickten nach seinem Hause. Aber wie staunten sie, als
+sie dort alles aufs herrlichste ausgeschmückt fanden! Von dem Dache,
+wo geputzte Sklavinnen spazierengingen, wehten Wimpeln und Fahnen,
+die Halle des Hauses war mit köstlichen Teppichen belegt, Seidenstoff
+schloß sich an diese an, der über die breiten Stufen der Treppe
+gelegt war, und selbst auf der Straße war noch schönes, feines Tuch
+ausgebreitet, wovon sich mancher wünschen mochte zu einem Festkleid
+oder zu einer Decke für die Füße.
+
+"Ei, wie hat sich doch der Scheik geändert in den wenigen Tagen!"
+sprach der junge Schreiber. "Will er ein Fest geben? Will er seine
+Sänger und Tänzer anstrengen? Seht mir diese Teppiche! Hat sie
+einer so schön in ganz Alessandria! Und dieses Tuch auf dem gemeinen
+Boden, wahrlich, es ist schade dafür!"
+
+"Weißt du, was ich denke?" sprach ein anderer. "Er empfängt
+sicherlich einen hohen Gast; denn das sind Zubereitungen, wie man sie
+macht, wenn ein Herrscher von großen Ländern oder ein Effendi des
+Großherrn ein Haus mit seinem Besuch segnet. Wer mag wohl heute
+hierherkommen?"
+
+"Siehe da, geht dort unten nicht unser Alter von letzthin? Ei, der
+weiß ja alles und muß auch darüber Aufschluß geben können. Heda!
+Alter Herr! Wollet Ihr nicht ein wenig zu uns treten?" So riefen sie;
+der alte Mann aber bemerkte ihre Winke und kam zu ihnen; denn er
+erkannte sie als die jungen Leute, mit welchen er vor einigen Tagen
+gesprochen. Sie machten ihn aufmerksam auf die Zurüstungen im Hause
+des Scheiks und fragten ihn, ob er nicht wisse, welch hoher Gast wohl
+erwartet werde.
+
+"Ihr glaubt wohl", erwiderte er, "Ali Banu feiere heute ein großes
+Freudenfest, oder der Besuch eines großen Mannes beehre sein Haus?
+Dem ist nicht also; aber heute ist der zwölfte Tag des Monats Ramadan,
+wie ihr wisset, und an diesem Tag wurde sein Sohn ins Lager geführt."
+
+"Aber beim Bart des Propheten!" rief einer der jungen Leute. "Das
+sieht ja alles aus wie Hochzeit und Festlichkeiten, und doch ist es
+sein berühmter Trauertag, wie reimt Ihr das zusammen? Gesteht, der
+Scheik ist denn doch etwas zerrüttet im Verstand."
+
+"Urteilt Ihr noch immer so schnell, mein junger Freund?" fragte der
+Alte lächelnd. "Auch diesmal war Euer Pfeil wohl spitzig und scharf,
+die Sehne Eures Bogens straff angezogen, und doch habt Ihr weitab vom
+Ziele geschossen. Wisset, daß heute der Scheik seinen Sohn erwartet."
+
+"So ist er gefunden?" riefen die Jünglinge und freuten sich. "Nein,
+und er wird sich wohl lange nicht finden; aber wisset: Vor acht oder
+zehn Jahren, als der Scheik auch einmal mit Trauern und Klagen diesen
+Tag beging, auch Sklaven freigab und viele Arme speiste und tränkte,
+da traf es sich, daß er auch einem Derwisch, der müde und matt im
+Schatten jenes Hauses lag, Speise und Trank reichen ließ. Der
+Derwisch aber war ein heiliger Mann und erfahren in Prophezeiungen
+und im Sterndeuten. Der trat, als er gestärkt war durch die milde
+Hand des Scheiks, zu ihm und sprach: 'Ich kenne die Ursache deines
+Kummers; ist nicht heute der zwölfte Ramadan, und hast du nicht an
+diesem Tage deinen Sohn verloren? Aber sei getrost, dieser Tag der
+Trauer wird dir zum Festtag werden, denn wisse, an diesem Tage wird
+einst dein Sohn zurückkehren!' So sprach der Derwisch. Es wäre Sünde
+für jeden Muselmann, an der Rede eines solchen Mannes zu zweifeln;
+der Gram Alis wurde zwar dadurch nicht gemildert, aber doch harrt er
+an diesem Tage immer auf die Rückkehr seines Sohnes und schmückt sein
+Haus und seine Halle und die Treppen, als könne jener zu jeder Stunde
+anlangen."
+
+"Wunderbar!" erwiderte der Schreiber. "Aber zusehen möchte ich doch,
+wie alles so herrlich bereitet ist, wie er selbst in dieser
+Herrlichkeit trauert, und hauptsächlich möchte ich zuhören, wie er
+sich von seinen Sklaven erzählen läßt."
+
+"Nichts leichter als dies", antwortete der Alte. "Der Aufseher der
+Sklaven jenes Hauses ist mein Freund seit langen Jahren und gönnt mir
+an diesem Tage immer ein Plätzchen in dem Saal, wo man unter der
+Menge der Diener und Freunde des Scheiks den einzelnen nicht bemerkt.
+Ich will mit ihm reden, daß er euch einläßt; ihr seid ja nur zu
+viert, und da kann es schon gehen; kommet um die neunte Stunde auf
+diesen Platz, und ich will euch Antwort geben."
+
+So sprach der Alte; die jungen Leute aber dankten ihm und entfernten
+sich, voll Begierde zu sehen, wie sich dies alles begeben würde.
+
+Sie kamen zur bestimmten Stunde auf den Platz vor dem Hause des
+Scheik und trafen da den Alten, der ihnen sagte, daß der Aufseher der
+Sklaven erlaubt habe, sie einzuführen. Er ging voran, doch nicht
+durch die reichgeschmückten Treppen und Tore, sondern durch ein
+Seitenpförtchen, das er sorgfältig wieder verschloß. Dann führte er
+sie durch mehrere Gänge, bis sie in den großen Saal kamen. Hier war
+ein großes Gedränge von allen Seiten; da waren reichgekleidete Männer,
+angesehene Herren der Stadt und Freunde des Scheik, die gekommen
+waren, ihn in seinem Schmerz zu trösten. Da waren Sklaven aller Art
+und aller Nationen. Aber alle sahen kummervoll aus; denn sie liebten
+ihren Herrn und trauerten mit ihm. Am Ende des Saales, auf einem
+reichen Diwan, saßen die vornehmsten Freunde Alis und wurden von den
+Sklaven bedient. Neben ihnen auf dem Boden saß der Scheik; denn die
+Trauer um seinen Sohn erlaubte ihm nicht, auf dem Teppich der Freude
+zu sitzen. Er hatte sein Haupt in die Hand gestützt und schien wenig
+auf die Tröstungen zu hören, die ihm seine Freunde zuflüsterten. Ihm
+gegenüber saßen einige alte und junge Männer in Sklaventracht. Der
+Alte belehrte seine jungen Freunde, daß dies die Sklaven seien, die
+Ah Banu an diesem Tage freigebe. Es waren unter ihnen auch einige
+Franken, und der Alte machte besonders auf einen von ihnen aufmerksam,
+der von ausgezeichneter Schönheit und noch sehr jung war. Der
+Scheik hatte ihn erst einige Tage zuvor einem Sklavenhändler von
+Tunis um eine große Summe abgekauft und gab ihn dennoch jetzt schon
+frei, weil er glaubte, je mehr Franken er in ihr Vaterland
+zurückschicke, desto früher werde der Prophet seinen Sohn erlösen.
+
+Nachdem man überall Erfrischungen umhergereicht hatte, gab der Scheik
+dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen. Dieser stand auf, und es ward
+tiefe Stille im Saal. Er trat vor die Sklaven, welche freigelassen
+werden sollten, und sprach mit vernehmlichen Stimme: "Ihr Männer, die
+ihr heute frei sein werdet durch die Gnade meines Herrn Ali Banu, des
+Scheik von Alessandria, tuet nur, wie es Sitte ist an diesem Tage in
+seinem Hause, und hebet an zu erzählen!"
+
+Sie flüsterten untereinander. Dann aber nahm ein alter Sklave das
+Wort und fing an zu erzählen:
+
+
+
+
+Der Zwerg Nase
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr! Diejenigen tun sehr unrecht, welche glauben, es habe nur zu
+Zeiten Haruns Al-Raschid, des Beherrschers von Bagdad, Feen und
+Zauberer gegeben, oder die gar behaupten, jene Berichte von dem
+Treiben der Genien und ihrer Fürsten, welche man von den Erzählern
+auf den Märkten der Stadt hört, seien unwahr. Noch heute gibt es
+Feen, und es ist nicht so lange her, daß ich selbst Zeuge einer
+Begebenheit war, wo offenbar die Genien im Spiele waren, wie ich euch
+berichten werde.
+
+In einer bedeutenden Stadt meines lieben Vaterlandes, Deutschlands,
+lebte vor vielen Jahren ein Schuster mit seiner Frau schlicht und
+recht. Er saß bei Tag an der Ecke der Straße und flickte Schuhe und
+Pantoffeln und machte wohl auch neue, wenn ihm einer welche
+anvertrauen mochte; doch mußte er dann das Leder erst einkaufen, denn
+er war arm und hatte keine Vorräte. Seine Frau verkaufte Gemüse und
+Früchte, die sie in einem kleinen Gärtchen vor dem Tore pflanzte, und
+viele Leute kauften gerne bei ihr, weil sie reinlich und sauber
+gekleidet war und ihr Gemüse auf gefällige Art auszubreiten wußte.
+
+Die beiden Leutchen hatten einen schönen Knaben, angenehm von Gesicht,
+wohlgestaltet und für das Alter von zwölf Jahren schon ziemlich groß.
+Er pflegte gewöhnlich bei der Mutter auf dem Gemüsemarkt zu sitzen,
+und den Weibern oder Köchen, die viel bei der Schustersfrau
+eingekauft hatten, trug er wohl auch einen Teil der Früchte nach
+Hause, und selten kam er von einem solchen Gang zurück ohne eine
+schöne Blume oder ein Stückchen Geld oder Kuchen; denn die
+Herrschaften dieser Köche sahen es gerne, wenn man den schönen Knaben
+mit nach Hause brachte, und beschenkten ihn immer reichlich.
+
+Eines Tages saß die Frau des Schusters wieder wie gewöhnlich auf dem
+Markte, sie hatte vor sich einige Körbe mit Kohl und anderm Gemüse,
+allerlei Kräuter und Sämereien, auch in einem kleineren Körbchen
+frühe Birnen, Äpfel und Aprikosen. Der kleine Jakob, so hieß der
+Knabe, saß neben ihr und rief mit heller Stimme die Waren aus:
+"Hierher, ihr Herren, seht, welch schöner Kohl, wie wohlriechend
+diese Kräuter; frühe Birnen, ihr Frauen, frühe Äpfel und Aprikosen,
+wer kauft? Meine Mutter gibt es wohlfeil." So rief der Knabe. Da
+kam ein altes Weib über den Markt her; sie sah etwas zerrissen und
+zerlumpt aus, hatte ein kleines, spitziges Gesicht, vom Alter ganz
+eingefurcht, rote Augen und eine spitzige, gebogene Nase, die gegen
+das Kinn hinabstrebte; sie ging an einem langen Stock, und doch
+konnte man nicht sagen, wie sie ging; denn sie hinkte und rutschte
+und wankte; es war, als habe sie Räder in den Beinen und könne alle
+Augenblicke umstülpen und mit der spitzigen Nase aufs Pflaster fallen.
+
+Die Frau des Schusters betrachtete dieses Weib aufmerksam. Es waren
+jetzt doch schon sechzehn Jahre, daß sie täglich auf dem Markte saß,
+und nie hatte sie diese sonderbare Gestalt bemerkt. Aber sie
+erschrak unwillkürlich, als die Alte auf sie zuhinkte und an ihren
+Körben stillstand.
+
+"Seid Ihr Hanne, die Gemüsehändlerin?" fragte das alte Weib mit
+unangenehmer, krächzender Stimme, indem sie beständig den Kopf hin
+und her schüttelte.
+
+"Ja, die bin ich", antwortete die Schustersfrau, "ist Euch etwas
+gefällig?"
+
+"Wollen sehen, wollen sehen! Kräutlein schauen, Kräutlein schauen,
+ob du hast, was ich brauche", antwortete die Alte, beugte sich nieder
+vor den Körben und fuhr mit ein Paar dunkelbraunen, häßlichen Händen
+in den Kräuterkorb hinein, packte die Kräutlein, die so schön und
+zierlich ausgebreitet waren, mit ihren langen Spinnenfingern, brachte
+sie dann eins um das andere hinauf an die lange Nase und beroch sie
+hin und her. Der Frau des Schusters wollte es fast das Herz
+abdrucken, wie sie das alte Weib also mit ihren seltenen Kräutern
+hantieren sah; aber sie wagte nichts zu sagen; denn es war das Recht
+des Käufers, die Ware zu prüfen, und überdies empfand sie ein
+sonderbares Grauen vor dem Weibe. Als jene den ganzen Korb
+durchgemustert hatte, murmelte sie: "Schlechtes Zeug, schlechtes
+Kraut, nichts von allem, was ich will, war viel besser vor fünfzig
+Jahren; schlechtes Zeug, schlechtes Zeug!"
+
+Solche Reden verdrossen nun den kleinen Jakob. "Höre, du bist ein
+unverschämtes, altes Weib", rief er unmutig, "erst fährst du mit
+deinen garstigen, braunen Fingern in die schönen Kräuter hinein und
+drückst sie zusammen, dann hältst du sie an deine lange Nase, daß sie
+niemand mehr kaufen mag, wer zugesehen, und jetzt schimpfst du noch
+unsere Ware schlechtes Zeug, und doch kauft selbst der Koch des
+Herzogs alles bei uns!"
+
+Das alte Weib schielte den mutigen Knaben an, lachte widerlich und
+sprach mit heiserer Stimme: "Söhnchen, Söhnchen! Also gefällt dir
+meine Nase, meine schöne lange Nase? Sollst auch eine haben mitten
+im Gesicht bis übers Kinn herab." Während sie so sprach, rutschte sie
+an den andern Korb, in welchem Kohl ausgelegt war. Sie nahm die
+herrlichsten weißen Kohlhäupter in die Hand, drückte sie zusammen,
+daß sie ächzten, warf sie dann wieder unordentlich in den Korb und
+sprach auch hier: "Schlechte Ware, schlechter Kohl!"
+
+"Wackle nur nicht so garstig mit dem Kopf hin und her!" rief der
+Kleine ängstlich. "Dein Hals ist ja so dünne wie ein Kohlstengel,
+der könnte leicht abbrechen, und dann fiele dein Kopf hinein in den
+Korb; wer wollte dann noch kaufen!"
+
+"Gefallen sie dir nicht, die dünnen Hälse?" murmelte die Alte lachend.
+"Sollst gar keinen haben, Kopf muß in den Schultern stecken, daß er
+nicht herabfällt vom kleinen Körperlein!"
+
+"Schwatzt doch nicht so unnützes Zeug mit dem Kleinen da", sagte
+endlich die Frau des Schusters im Unmut über das lange Prüfen,
+Mustern und Beriechen, "wenn Ihr etwas kaufen wollt, so sputet Euch,
+Ihr verscheucht mir ja die anderen Kunden."
+
+"Gut, es sei, wie du sagst", rief die Alte mit grimmigem Blick. "Ich
+will dir diese sechs Kohlhäupter abkaufen; aber siehe, ich muß mich
+auf den Stab stützen und kann nichts tragen; erlaube deinem Söhnlein,
+daß es mir die Ware nach Hause bringt, ich will es dafür belohnen."
+
+Der Kleine wollte nicht mitgehen und weinte; denn ihm graute vor der
+häßlichen Frau, aber die Mutter befahl es ihm ernstlich, weil sie es
+doch für eine Sünde hielt, der alten, schwächlichen Frau diese Last
+allein aufzubürden; halb weinend tat er, wie sie befohlen, raffte die
+Kohlhäupter in ein Tuch zusammen und folgte dem alten Weibe über den
+Markt hin.
+
+Es ging nicht sehr schnell bei ihr, und sie brauchte beinahe drei
+Viertelstunden, bis sie in einen ganz entlegenen Teil der Stadt kam
+und endlich vor einem kleinen, baufälligen Hause stillhielt. Dort
+zog sie einen alten, rostigen Haken aus der Tasche, fuhr damit
+geschickt in ein kleines Loch in der Türe, und plötzlich sprang diese
+krachend auf. Aber wie war der kleine Jakob überrascht, als er
+eintrat! Das Innere des Hauses war prachtvoll ausgeschmückt, von
+Marmor waren die Decke und die Wände, die Gerätschaften vom schönsten
+Ebenholz, mit Gold und geschaffenen Steinen eingelegt, der Boden aber
+war von Glas und so glatt, daß der Kleine einigemal ausglitt und
+umfiel. Die Alte aber zog ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche und
+pfiff eine Weise darauf, die gellend durch das Haus tönte. Da kamen
+sogleich einige Meerschweinchen die Treppe herab; dem Jakob wollte es
+aber ganz sonderbar dünken, daß sie aufrecht auf zwei Beinen gingen,
+Nußschalen statt Schuhen an den Pfoten trugen, menschliche Kleider
+angelegt und sogar Hüte nach der neuesten Mode auf die Köpfe gesetzt
+hatten. "Wo habt ihr meine Pantoffeln, schlechtes Gesindel?" rief
+die Alte und schlug mit dem Stock nach ihnen, daß sie jammernd in die
+Höhe sprangen. "Wie lange soll ich noch so dastehen?"
+
+Sie sprangen schnell die Treppe hinauf und kamen wieder mit ein Paar
+Schalen von Kokosnuß, mit Leder gefüttert, welche sie der Alten
+geschickt an die Füße steckten.
+
+Jetzt war alles Hinken und Rutschen vorbei. Sie warf den Stab von
+sich und glitt mit großer Schnelligkeit über den Glasboden hin, indem
+sie den kleinen Jakob an der Hand mit fortzog. Endlich hielt sie in
+einem Zimmer stille, das, mit allerlei Gerätschaften ausgeputzt,
+beinahe einer Küche glich, obgleich die Tische von Mahagoniholz und
+die Sofas, mit reichen Teppichen behängt, mehr zu einem Prunkgemach
+paßten. "Setze dich, Söhnchen", sagte die Alte recht freundlich,
+indem sie ihn in die Ecke eines Sofas drückte und einen Tisch also
+vor ihn hinstellte, daß er nicht mehr hervorkommen konnte. "Setze
+dich, du hast gar schwer zu tragen gehabt, die Menschenköpfe sind
+nicht so leicht, nicht so leicht."
+
+"Aber, Frau, was sprechet Ihr so wunderlich", rief der Kleine. "Müde
+bin ich zwar, aber es waren ja Kohlköpfe, die ich getragen, Ihr habt
+sie meiner Mutter abgekauft."
+
+"Ei, das weißt du falsch", lachte das Weib, deckte den Deckel des
+Korbes auf und brachte einen Menschenkopf hervor, den sie am Schopf
+gefaßt hatte. Der Kleine war vor Schrecken außer sich; er konnte
+nicht fassen, wie dies alles zuging; aber er dachte an seine Mutter;
+wenn jemand von diesen Menschenköpfen etwas erfahren würde, dachte er
+bei sich, da würde man gewiß meine Mutter dafür anklagen.
+
+"Muß dir nun auch etwas geben zum Lohn, weil du so artig bist",
+murmelte die Alte, "gedulde dich nur ein Weilchen, will dir ein
+Süppchen einbrocken, an das du dein Leben lang denken wirst." So
+sprach sie und pfiff wieder. Da kamen zuerst viele Meerschweinchen
+in menschlichen Kleidern; sie hatten Küchenschürzen umgebunden und im
+Gürtel Rührlöffel und Tranchiermesser; nach diesen kam eine Menge
+Eichhörnchen hereingehüpft; sie hatten weite türkische Beinkleider an,
+gingen aufrecht, und auf dem Kopf trugen sie grüne Mützchen von Samt.
+Diese schienen die Küchenjungen zu sein; denn sie kletterten mit
+großer Geschwindigkeit an den Wänden hinauf und brachten Pfannen und
+Schüsseln, Eier und Butter, Kräuter und Mehl herab und trugen, es auf
+den Herd; dort aber fuhr die alte Frau auf ihren Pantoffeln von
+Kokosschalen beständig hin und her, und der Kleine sah, daß sie es
+sich recht angelegen sein lasse, ihm etwas Gutes zu kochen. Jetzt
+knisterte das Feuer höher empor, jetzt rauchte und sott es in der
+Pfanne, ein angenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer; die Alte
+aber rannte auf und ab, die Eichhörnchen und Meerschweinchen ihr nach,
+und so oft sie am Herde vorbeikam, guckte sie mit ihrer langen Nase
+in den Topf. Endlich fing es an zu sprudeln und zu zischen, Dampf
+stieg aus dem Topf hervor, und der Schaum floß herab ins Feuer. Da
+nahm sie ihn weg, goß davon in eine silberne Schale und setzte sie
+dem kleinen Jakob vor.
+
+"So, Söhnchen, so", sprach sie, "iß nur dieses Süppchen, dann hast du
+alles, was dir an mir so gefallen! Sollst auch ein geschickter Koch
+werden, daß du noch etwas bist; aber Kräutlein, nein, das Kräutlein
+sollst du nimmer finden--Warum hat es deine Mutter nicht in ihrem
+Korb gehabt?" Der Kleine verstand nicht recht, was sie sprach, desto
+aufmerksamer behandelte er die Suppe, die ihm ganz trefflich
+schmeckte. Seine Mutter hatte ihm manche schmackhafte Speise
+bereitet; aber so gut war ihm noch nichts geworden. Der Duft von
+feinen Kräutern und Gewürzen stieg aus der Suppe auf, dabei war sie
+süß und säuerlich zugleich und sehr stark. Während er noch die
+letzten Tropfen der köstlichen Speise austrank, zündeten die
+Meerschweinchen arabischen Weihrauch an, der in bläulichen Wolken
+durch das Zimmer schwebte; dichter und immer dichter wurden diese
+Wolken und sanken herab, der Geruch des Weihrauchs wirkte betäubend
+auf den Kleinen, er mochte sich zurufen, so oft er wollte, daß er zu
+seiner Mutter zurückkehren müsse; wenn er sich ermannte, sank er
+immer wieder von neuem in den Schlummer zurück und schlief endlich
+wirklich auf dem Sofa des alten Weibes ein.
+
+Sonderbare Träume kamen über ihn. Es war ihm, als ziehe ihm die Alte
+seine Kleider aus und umhülle ihn dafür mit einem Eichhörnchenbalg.
+Jetzt konnte er Sprünge machen und klettern wie ein Eichhörnchen; er
+ging mit den übrigen Eichhörnchen und Meerschweinchen, die sehr
+artige, gesittete Leute waren, um und hatte mit ihnen den Dienst bei
+der alten Frau. Zuerst wurde er nur zu den Diensten eines
+Schuhputzers gebraucht, d. h. er mußte die Kokosnüsse, welche die
+Frau statt der Pantoffeln trug, mit Öl salben und durch Reiben
+glänzend machen. Da er nun in seines Vaters Hause zu ähnlichen
+Geschäften oft angehalten worden war, so ging es ihm flink von der
+Hand; etwa nach einem Jahre, träumte er weiter, wurde er zu einem
+feineren Geschäft gebraucht; er mußte nämlich mit noch einigen
+Eichhörnchen Sonnenstäubchen fangen und, wenn sie genug hatten,
+solche durch das feinste Haarsieb sieben. Die Frau hielt nämlich die
+Sonnenstäubchen für das Allerfeinste, und weil sie nicht gut beißen
+konnte, denn sie hatte keinen Zahn mehr, so ließ sie sich ihr Brot
+aus Sonnenstäubchen zubereiten.
+
+Wiederum nach einem Jahre wurde er zu den Dienern versetzt, die das
+Trinkwasser für die Alte sammelten. Man denke nicht, daß sie sich
+hierzu etwa eine Zisterne hätte graben lassen oder ein Faß in den Hof
+stellte, um das Regenwasser darin aufzufangen; da ging es viel feiner
+zu; die Eichhörnchen, und Jakob mit ihnen, mußten mit Haselnußschalen
+den Tau aus den Rosen schöpfen, und das war das Trinkwasser der Alten.
+Da sie nun bedeutend viel trank, so hatten die Wasserträger schwere
+Arbeit. Nach einem Jahr wurde er zum inneren Dienst des Hauses
+bestellt; er hatte nämlich das Amt, die Böden rein zu machen; da nun
+diese von Glas waren, worin man jeden Hauch sah, war das keine
+geringe Arbeit. Sie mußten sie bürsten und altes ach an die Füße
+schnallen und auf diesem künstlich im Zimmer umherfahren. Im vierten
+Jahre ward er endlich zur Küche versetzt. Es war dies ein Ehrenamt,
+zu welchem man nur nach langer Prüfung gelangen konnte. Jakob diente
+dort vom Küchenjungen aufwärts bis zum ersten Pastetenmacher und
+erreichte eine so ungemeine Geschicklichkeit und Erfahrung in allem,
+was die Küche betrifft, daß er sich oft über sich selbst wundern
+mußte; die schwierigsten Sachen, Pasteten von zweihunderterlei
+Essenzen, Kräutersuppen, von allen Kräutlein der Erde zusammengesetzt,
+alles lernte er, alles verstand er schnell und kräftig zu machen.
+
+So waren etwa sieben Jahre im Dienste des alten Weibes vergangen, da
+befahl sie ihm eines Tages, indem sie die Kokosschuhe auszog, Korb
+und Krückenstock zur Hand nahm, um auszugehen, er sollte ein Hühnlein
+rupfen, mit Kräutern füllen und solches schön bräunlich und gelb
+rösten, bis sie wiederkäme. Er tat dies nach den Regeln der Kunst.
+Er drehte dem Hühnlein den Kragen um, brühte es in heißem Wasser, zog
+ihm geschickt die Federn aus, schabte ihm nachher die Haut, daß sie
+glatt und fein wurde, und nahm ihm die Eingeweide heraus. Sodann
+fing er an, die Kräuter zu sammeln, womit er das Hühnlein füllen
+sollte. In der Kräuterkammer gewahrte er aber diesmal ein
+Wandschränkchen, dessen Türe halb geöffnet war und das er sonst nie
+bemerkt hatte. Er ging neugierig näher, um zu sehen, was es enthalte,
+und siehe da, es standen viele Körbchen darinnen, von welchen ein
+starker, angenehmer Geruch ausging. Er öffnete eines dieser Körbchen
+und fand darin Kräutlein von ganz besonderer Gestalt und Farbe. Die
+Stengel und Blätter waren blaugrün und trugen oben eine kleine Blume
+von brennendem Rot, mit Gelb verbrämt; er betrachtete sinnend diese
+Blume, beroch sie, und sie strömte denselben starken Geruch aus, von
+dem einst jene Suppe, die ihm die Alte gekocht, geduftet hatte. Aber
+so stark war der Geruch, daß er zu niesen anfing, immer heftiger
+niesen mußte und--am Ende niesend erwachte.
+
+Da lag er auf dem Sofa des alten Weibes und blickte verwundert umher.
+"Nein, wie man aber so lebhaft träumen kann!" sprach er zu sich,
+"hätte ich jetzt doch schwören wollen, daß ich ein schnödes
+Eichhörnchen, ein Kamerad von Meerschweinen und anderem Ungeziefer,
+dabei aber ein großer Koch geworden sei. Wie wird die Mutter lachen,
+wenn ich ihr alles erzähle! Aber wird sie nicht auch schmälen, daß
+ich in einem fremden Hause einschlafe, statt ihr zu helfen auf dem
+Markte?" Mit diesen Gedanken raffte er sich auf, um hinwegzugehen;
+noch waren seine Glieder vom Schlafe ganz steif, besonders sein
+Nacken, denn er konnte den Kopf nicht recht hin und her bewegen; er
+mußte auch selbst über sich lächeln, daß er so schlaftrunken war;
+denn alle Augenblicke, ehe er es sich versah, stieß er mit der Nase
+an einen Schrank oder an die Wand oder schlug sie, wenn er sich
+schnell umwandte, an einen Türpfosten. Die Eichhörnchen und
+Meerschweinchen liefen winselnd um ihn her, als wollten sie ihn
+begleiten, er lud sie auch wirklich ein, als er auf der Schwelle war,
+denn es waren niedliche Tierchen; aber sie fuhren auf ihren
+Nußschalen schnell ins Haus zurück, und er hörte sie nur noch in der
+Ferne heulen.
+
+Es war ein ziemlich entlegener Teil der Stadt, wohin ihn die Alte
+geführt hatte, und er konnte sich kaum aus den engen Gassen
+herausfinden, auch war dort ein großes Gedränge; denn es mußte sich,
+wie ihm dünkte, gerade in der Nähe ein Zwerg sehen lassen; überall
+hörte er rufen: "Ei, sehet den häßlichen Zwerg! Wo kommt der Zwerg
+her? Ei, was hat er doch für eine lange Nase, und wie ihm der Kopf
+in den Schultern steckt, und die braunen, häßlichen Hände!" Zu einer
+andern Zeit wäre er wohl auch nachgelaufen, denn er sah für sein
+Leben gern Riesen oder Zwerge oder seltsame fremde Trachten, aber so
+mußte er sich sputen, um zur Mutter zu kommen.
+
+Es war ihm ganz ängstlich zumute, als er auf den Markt kam. Die
+Mutter saß noch da und hatte noch ziemlich viele Früchte im Korb,
+lange konnte er also nicht geschlafen haben; aber doch kam es ihm von
+weitem schon vor, als sei sie sehr traurig; denn sie rief die
+Vorübergehenden nicht an, einzukaufen, sondern hatte den Kopf in die
+Hand gestützt, und als er näher kam, glaubte er auch, sie sei
+bleicher als sonst. Er zauderte, was er tun sollte; endlich faßte er
+sich ein Herz, schlich sich hinter sie hin, legte traulich seine Hand
+auf ihren Arm und sprach: "Mütterchen, was fehlt dir? Bist du böse
+auf mich?"
+
+Die Frau wandte sich um nach ihm, fuhr aber mit einem Schrei des
+Entsetzens zurück.
+
+"Was willst du von mir, häßlicher Zwerg?" rief sie. "Fort, fort!
+Ich kann dergleichen Possenspiele nicht leiden."
+
+"Aber, Mutter, was hast du denn?" fragte Jakob ganz erschrocken.
+"Dir ist gewiß nicht wohl; warum willst du denn deinen Sohn von dir
+jagen?"
+
+"Ich habe dir schon gesagt, gehe deines Weges!" entgegnete Frau Hanne
+zürnend. "Bei mir verdienst du kein Geld durch deine Gaukeleien,
+häßliche Mißgeburt!"
+
+"Wahrhaftig, Gott hat ihr das Licht des Verstandes geraubt!" sprach
+der Kleine bekümmert zu sich. "Was fange ich nur an, um sie nach
+Haus zu bringen? Lieb Mütterchen, so sei doch nur vernünftig; sieh
+mich doch nur recht an; ich bin ja dein Sohn, dein Jakob."
+
+"Nein, jetzt wird mir der Spaß zu unverschämt", rief Hanne ihrer
+Nachbarin zu, "seht nur den häßlichen Zwerg da; da steht er und
+vertreibt mir gewiß alle Käufer, und mit meinem Unglück wagt er zu
+spotten. Spricht zu mir: Ich bin ja dein Sohn, dein Jakob! Der
+Unverschämte!"
+
+Da erhoben sich die Nachbarinnen und fingen an zu schimpfen, so arg
+sie konnten--und Marktweiber, wisset ihr wohl, verstehen es--, und
+schalten ihn, daß er des Unglücks der armen Hanne spotte, der vor
+sieben Jahren ihr bildschöner 'Knabe gestohlen worden sei, und
+drohten, insgesamt über ihn herzufallen und ihn zu zerkratzen, wenn
+er nicht alsobald ginge.
+
+Der arme Jakob wußte nicht, was er von diesem allem denken sollte.
+War er doch, wie er glaubte, heute früh wie gewöhnlich mit der Mutter
+auf den Markt gegangen, hatte ihr die Früchte aufstellen helfen, war
+nachher mit dem alten Weib in ihr Haus gekommen, hatte ein Süppchen
+verzehrt, ein kleines Schläfchen gemacht und war jetzt wieder da, und
+doch sprachen die Mutter und die Nachbarinnen von sieben Jahren! Und
+sie nannten ihn einen garstigen Zwerg! Was war denn nun mit ihm
+vorgegangen?--Als er sah, daß die Mutter gar nichts mehr von ihm
+hören wollte, traten ihm die Tränen in die Augen, und er ging
+trauernd die Straße hinab nach der Bude, wo sein Vater den Tag über
+Schuhe flickte. "Ich will doch sehen", dachte er bei sich, "ob er
+mich auch nicht kennen will, unter die Türe will ich mich stellen und
+mit ihm sprechen." Als er an der Bude des Schusters angekommen war,
+stellte er sich unter die Türe und schaute hinein. Der Meister war
+so emsig mit seiner Arbeit beschäftigt, daß er ihn gar nicht sah; als
+er aber zufällig einen Blick nach der Türe warf, ließ er Schuhe,
+Draht und Pfriem auf die Erde fallen und rief mit Entsetzen: "Um
+Gottes willen, was ist das, was ist das!"
+
+"Guten Abend, Meister!" sprach der Kleine, indem er vollends in den
+Laden trat. "Wie geht es Euch?"
+
+"Schlecht, schlecht, kleiner Herr!" antwortete der Vater zu Jakobs
+großer Verwunderung; denn er schien ihn auch nicht zu kennen. "Das
+Geschäft will mir nicht von der Hand. Bin so allein und werde jetzt
+alt; doch ist mir ein Geselle zu teuer."
+
+"Aber habt Ihr denn kein Söhnlein, das Euch nach und nach an die Hand
+gehen könnte bei der Arbeit?" forschte der Kleine weiter.
+
+"Ich hatte einen, er hieß Jakob und müßte jetzt ein schlanker,
+gewandter Bursche von zwanzig Jahren sein, der mir tüchtig unter die
+Arme greifen könnte. Ha, das müßte ein Leben sein! Schon als er
+zwölf Jahre alt war, zeigte er sich so anstellig und geschickt und
+verstand schon manches vom Handwerk, und hübsch und angenehm war er
+auch; der hätte mir eine Kundschaft hergelockt, daß ich bald nicht
+mehr geflickt, sondern nichts als Neues geliefert hätte! Aber so
+geht's in der Welt!"
+
+"Wo ist denn aber Euer Sohn?" fragte Jakob mit zitternder Stimme
+seinen Vater.
+
+"Das weiß Gott", antwortete er, "vor sieben Jahren, ja, so lange
+ist's jetzt her, wurde er uns vom Markte weg gestohlen." 'Vor sieben
+Jahren!" rief Jakob mit Entsetzen.
+
+"Ja, kleiner Herr, vor sieben Jahren; ich weiß noch wie heute, wie
+mein Weib nach Hause kam, heulend und schreiend, das Kind sei den
+ganzen Tag nicht zurückgekommen, sie aber überall geforscht und
+gesucht und es nicht gefunden. Ich habe es immer gedacht und gesagt,
+daß es so kommen würde; er Jakob war ein schönes Kind, das muß man
+sagen; da war meine Frau stolz auf ihn und sah es gerne, wenn ihn die
+Leute lobten, und schickte ihn oft mit Gemüse und dergleichen in
+vornehme Häuser. Das war schon recht; er wurde allemal reichlich
+beschenkt; aber, sagte ich, gib acht! Die Stadt ist groß; viele
+schlechte Leute wohnen da, gib mir auf den Jakob acht! Und so war es,
+wie ich sagte. Kommt einmal ein altes, häßliches Weib auf den Markt,
+feilscht um Früchte und Gemüse und kauft am Ende so viel, daß sie es
+nicht selbst tragen kann. Mein Weib, die mitleidige Seele, gibt ihr
+den Jungen mit und--hat ihn zur Stunde nicht mehr gesehen."
+
+"Und das ist jetzt sieben Jahre, sagt Ihr?"
+
+"Sieben Jahre wird es im Frühling. Wir ließen ihn ausrufen, wir
+gingen von Haus zu Haus und fragten; manche hatten den hübschen
+Jungen gekannt und liebgewonnen und suchten jetzt mit uns, alles
+vergeblich. Auch die Frau, welche das Gemüse gekauft hatte, wollte
+niemand kennen; aber ein steinaltes Weib, die schon neunzig Jahre
+gelebt hatte, sagte, es könne wohl die böse Fee Kräuterweis gewesen
+sein, die alle fünfzig Jahre einmal in die Stadt komme, um sich
+allerlei einzukaufen."
+
+So sprach Jakobs Vater und klopfte dabei seine Schuhe weidlich und
+zog den Draht mit beiden Fäusten weit hinaus. Dem Kleinen aber wurde
+es nach und nach klar, was mit ihm vorgegangen, daß er nämlich nicht
+geträumt, sondern daß er sieben Jahre bei der bösen Fee als
+Eichhörnchen gedient habe. Zorn und Gram erfüllten sein Herz so sehr,
+daß es beinahe zerspringen wollte. Sieben Jahre seiner Jugend hatte
+ihm die Alte gestohlen, und was hatte er für Ersatz dafür? Daß er
+Pantoffeln von Kokosnüssen blank putzen, daß er ein Zimmer mit
+gläsernem Fußboden reinmachen konnte? Daß er von den Meerschweinchen
+alle Geheimnisse der Küche gelernt hatte? Er stand eine gute Weile
+so da und dachte über sein Schicksal nach; da fragte ihn endlich sein
+Vater: "Ist Euch vielleicht etwas von meiner Arbeit gefällig, junger
+Herr? Etwa ein Paar neue Pantoffeln oder", setzte er lächelnd hinzu,
+"vielleicht ein Futteral für Eure Nase?"
+
+"Was wollt Ihr nur mit meiner Nase?" fragte Jakob, "warum sollte ich
+denn ein Futteral dazu brauchen?"
+
+"Nun", entgegnete der Schuster, "jeder nach seinem Geschmack; aber
+das muß ich Euch sagen, hätte ich diese schreckliche Nase, ein
+Futteral ließ ich mir darüber machen von rosenfarbigem Glanzleder.
+Schaut, da habe ich ein schönes Stückchen zur Hand; freilich würde
+man eine Elle wenigstens dazu brauchen. Aber wie gut wäret Ihr
+verwahrt, kleiner Herr; so, weiß ich gewiß, stoßt Ihr Euch an jedem
+Türpfosten, an jedem Wagen, dem Ihr ausweichen wollet."
+
+Der Kleine stand stumm vor Schrecken; er belastete seine Nase, sie
+war dick und wohl zwei Hände lang! So hatte also die Alte auch seine
+Gestalt verwandelt! Darum kannte ihn also die Mutter nicht? Darum
+schalt man ihn einen häßlichen Zwerg?! "Meister!" sprach er halb
+weinend zu dem Schuster, "habt Ihr keinen Spiegel bei der Hand, worin
+ich mich beschauen könnte?"
+
+"Junger Herr", erwiderte der Vater mit Ernst, "Ihr habt nicht gerade
+eine Gestalt empfangen, die Euch eitel machen könnte, und Ihr habt
+nicht Ursache, alle Stunden in den Spiegel zu gucken. Gewöhnt es
+Euch ab, es ist besonders bei Euch eine lächerliche Gewohnheit."
+
+"Ach, so laßt mich doch in den Spiegel schauen", rief der Kleine,
+"gewiß, es ist nicht aus Eitelkeit!"
+
+"Lasset mich in Ruhe, ich hab' keinen im Vermögen; meine Frau hat ein
+Spiegelchen, ich weiß aber nicht, wo sie es verborgen. Müßt Ihr aber
+durchaus in den Spiegel gucken, nun, über der Straße hin wohnt Urban,
+der Barbier, der hat einen Spiegel, zweimal so groß als Euer Kopf;
+gucket dort hinein, und indessen guten Morgen!"
+
+Mit diesen Worten schob ihn der Vater ganz gelinde zur Bude hinaus,
+schloß die Tür hinter ihm zu und setzte sich wieder zur Arbeit. Der
+Kleine aber ging sehr niedergeschlagen über die Straße zu Urban, dem
+Barbier, den er noch aus früheren Zeiten wohl kannte. "Guten Morgen,
+Urban", sprach er zu ihm, "ich komme, Euch um eine Gefälligkeit zu
+bitten; seid so gut und lasset mich ein wenig in Euren Spiegel
+schauen!"
+
+"Mit Vergnügen, dort steht er", rief der Barbier lachend, und seine
+Kunden, denen er den Bart scheren sollte, lachten weidlich mit. "Ihr
+seid ein hübsches Bürschchen, schlank und fein, ein Hälschen wie ein
+Schwan, Händchen wie eine Königin, und ein Stumpfnäschen, man kann es
+nicht schöner sehen. Ein wenig eitel seid Ihr darauf, das ist wahr;
+aber beschauet Euch immer! Man soll nicht von mir sagen, ich habe
+Euch aus Neid nicht in meinen Spiegel schauen lassen."
+
+So sprach der Barbier, und wieherndes Gelächter fällte die Baderstube.
+Der Kleine aber war indes vor den Spiegel getreten und hatte sich
+beschaut. Tränen traten ihm in die Augen. "Ja, so konntest du
+freilich deinen Jakob nicht wiedererkennen, liebe Mutter", sprach er
+zu sich, "so war er nicht anzuschauen in den Tagen der Freude, wo du
+gerne mit ihm prangtest vor den Leuten!" Seine Augen waren klein
+geworden wie die der Schweine, seine Nase war ungeheuer und hing über
+Mund und Kinn herunter, der Hals schien gänzlich weggenommen worden
+zu sein; denn sein Kopf stak tief in den Schultern, und nur mit den
+größten Schmerzen konnte er ihn rechts und links bewegen. Sein
+Körper war noch so groß als vor sieben Jahren, da er zwölf Jahre alt
+war; aber wenn andere vom zwölften bis ins zwanzigste in die Höhe
+wachsen, so wuchs er in die Breite, der Rücken und die Brust waren
+weit ausgebogen und waren anzusehen wie ein kleiner, aber sehr dick
+gefällter Sack; dieser dicke Oberleib saß auf kleinen, schwachen
+Beinchen, die dieser Last nicht gewachsen schienen, aber um so größer
+waren die Arme, die ihm am Leib herabhingen, sie hatten die Größe wie
+die eines wohlgewachsenen Mannes, seine Hände waren grob und
+braungelb, seine Finger lang und spinnenartig, und wenn er sie recht
+ausstreckte, konnte er damit auf den Boden reichen, ohne daß er sich
+bückte. So sah er aus, der kleine Jakob, zum mißgestalteten Zwerg
+war er geworden.
+
+Jetzt gedachte er auch jenes Morgens, an welchem das alte Weib an die
+Körbe seiner Mutter getreten war. Alles, was er damals an ihr
+getadelt hatte, die lange Nase, die häßlichen Finger, alles hatte sie
+ihm angetan, und nur den langen, zitternden Hals hatte sie gänzlich
+weggelassen.
+
+"Nun, habt Ihr Euch jetzt genug beschaut, mein Prinz?" sagte der
+Barbier, indem er zu ihm trat und ihn lachend betrachtete. "Wahrlich,
+wenn man sich dergleichen träumen lassen wollte, so komisch könnte
+es einem im Traume nicht vorkommen. Doch ich will Euch einen
+Vorschlag machen, kleiner Mann. Mein Barbierzimmer ist zwar sehr
+besucht, aber doch seit neuerer Zeit nicht so, wie ich wünsche. Das
+kommt daher, weil mein Nachbar, der Barbier Schaum, irgendwo einen
+Riesen aufgefunden hat, der ihm die Kunden ins Haus lockt. Nun, ein
+Riese zu werden, ist gerade keine Kunst, aber so ein Männchen wie Ihr,
+ja, das ist schon ein ander Ding. Tretet bei mir in Dienste,
+kleiner Mann, Ihr sollt Wohnung, Essen, Trinken, Kleider, alles sollt
+Ihr haben; dafür stellt Ihr Euch morgens unter meine Türe und ladet
+die Leute ein, hereinzukommen. Ihr schlaget den Seifenschaum,
+reichet den Kunden das Handtuch und seid versichert, wir stehen uns
+beide gut dabei; ich bekomme mehr Kunden als jener mit dem Riesen,
+und jeder gibt Euch gerne noch ein Trinkgeld."
+
+Der Kleine war in seinem Innern empört über den Vorschlag, als
+Lockvogel für einen Barbier zu dienen. Aber mußte er sich nicht
+diesen Schimpf geduldig gefallen lassen? Er sagte dem Barbier daher
+ganz ruhig, daß er nicht Zeit habe zu dergleichen Diensten, und ging
+weiter.
+
+Hatte das böse alte Weib seine Gestalt unterdrückt, so hatte sie doch
+seinem Geist nichts anhaben können, das fühlte er wohl; denn er
+dachte und fühlte nicht mehr, wie er vor sieben Jahren getan; nein,
+er glaubte in diesem Zeitraum weiser, verständiger geworden zu sein;
+er trauerte nicht um seine verlorene Schönheit, nicht über diese
+häßliche Gestalt, sondern nur darüber, daß er wie ein Hund von der
+Türe seines Vaters gejagt werde. Darum beschloß er, noch einen
+Versuch bei seiner Mutter zu machen.
+
+Er trat zu ihr auf den Markt und bat sie, ihm ruhig zuzuhören. Er
+erinnerte sie an jenen Tag, an welchem er mit dem alten Weibe
+gegangen, er erinnerte sie an alle einzelnen Vorfälle seiner Kindheit,
+erzählte ihr dann, wie er sieben Jahre als Eichhörnchen gedient habe
+bei der Fee und wie sie ihn verwandelte, weil er sie damals getadelt.
+Die Frau des Schusters wußte nicht, was sie denken sollte. Alles
+traf zu, was er ihr von seiner Kindheit erzählte, aber wenn er davon
+sprach, daß er sieben Jahre lang ein Eichhörnchen gewesen sei, da
+sprach sie: "Es ist unmöglich, und es gibt keine Feen", und wenn sie
+ihn ansah, so verabscheute sie den häßlichen Zwerg und glaubte nicht,
+daß dies ihr Sohn sein könne. Endlich hielt sie es fürs beste, mit
+ihrem Manne darüber zu sprechen. Sie raffte also ihre Körbe zusammen
+und hieß ihn mitgehen. So kamen sie zu der Bude des Schusters.
+
+"Sieh einmal", sprach sie zu diesem, "der Mensch da will unser
+verlorner Jakob sein. Er hat mir alles erzählt, wie er uns vor
+sieben Jahren gestohlen wurde und wie er von einer Fee verzaubert
+worden sei."
+
+"So?" unterbrach sie der Schuster mit Zorn, "hat er dir dies erzählt?
+Warte, du Range! Ich habe ihm alles erzählt noch vor einer Stunde,
+und jetzt geht er hin, dich so zu foppen! Verzaubert bist du worden,
+mein Söhnchen? Warte doch, ich will dich wieder entzaubern." Dabei
+nahm er ein Bündel Riemen, die er eben zugeschnitten hatte, sprang
+auf den Kleinen zu und schlug ihn auf den hohen Rücken und auf die
+langen Arme, daß der Kleine vor Schmerz aufschrie und weinend
+davonlief.
+
+In jener Stadt gibt es, wie überall, wenige mitleidige Seelen, die
+einen Unglücklichen, der zugleich etwas Lächerliches an sich trägt,
+unterstützen. Daher kam es, daß der unglückliche Zwerg den ganzen
+Tag ohne Speise und Trank blieb und abends die Treppen einer Kirche,
+so hart und kalt sie waren, zum Nachtlager wählen mußte.
+
+Als ihn aber am nächsten Morgen die ersten Strahlen der Sonne
+erweckten, da dachte er ernstlich darüber nach, wie er sein Leben
+fristen könne, da ihn Vater und Mutter verstoßen. Er fühlte sich zu
+stolz, um als Aushängeschild eines Barbiers zu dienen, er wollte
+nicht zu einem Possenreißer sich verdingen und sich um Geld sehen
+lassen. Was sollte er anfangen? Da fiel ihm mit einemmal bei, daß
+er als Eichhörnchen große Fortschritte in der Kochkunst gemacht habe;
+er glaubte nicht mit Unrecht, hoffen zu dürfen, daß er es mit manchem
+Koch aufnehmen könne; er beschloß, seine Kunst zu benützen.
+
+Sobald es daher lebhafter wurde auf den Straßen und der Morgen ganz
+heraufgekommen war, trat er zuerst in die Kirche und verrichtete sein
+Gebet. Dann trat er seinen Weg an. Der Herzog, der Herr des Landes,
+o Herr, war ein bekannter Schlemmer und Lecker, der eine gute Tafel
+liebte und seine Köche in allen Weltteilen aufsuchte. Zu seinem
+Palast begab sich der Kleine. Als er an die äußerste Pforte kam,
+fragten die Türhüter nach seinem Begehr und hatten ihren Spott mit
+ihm; er aber verlangte nach dem Oberküchenmeister. Sie lachten und
+führten ihn durch die Vorhöfe, und wo er hinkam, blieben die Diener
+stehen, schauten nach ihm, lachten weidlich und schlossen sich an, so
+daß nach und nach ein ungeheurer Zug von Dienern aller Art sich die
+Treppe des Palastes hinaufbewegte; die Stallknechte warfen ihre
+Striegel weg, die Läufer liefen, was sie konnten, die Teppichbreiter
+vergaßen, die Teppiche auszuklopfen, alles drängte und trieb sich, es
+war ein Gefühl, als sei der Feind vor den Toren, und das Geschrei:
+"Ein Zwerg, ein Zwerg! Habt ihr den Zwerg gesehen?" fällte die Lüfte.
+
+Da erschien der Aufseher des Hauses mit grimmigem Gesicht, eine
+ungeheure Peitsche in der Hand, in der Türe. "Um des Himmels willen,
+ihr Hunde, was macht ihr solchen Lärm! Wisset ihr nicht, daß der
+Herr noch schläft?" Und dabei schwang er die Geißel und ließ sie
+unsanft auf den Rücken einiger Stallknechte und Türhalter
+niederfallen.
+
+"Ach, Herr!" riefen sie, "seht Ihr denn nicht? Da bringen wir einen
+Zwerg, einen Zwerg, wie Ihr noch keinen gesehen."
+
+Der Aufseher des Palastes zwang sich mit Mühe, nicht laut aufzulachen,
+als er des Kleinen ansichtig wurde; denn er fürchtete, durch Lachen
+seiner Würde zu schaden. Er trieb daher mit der Peitsche die übrigen
+hinweg, führte den Kleinen ins Haus und fragte nach seinem Begehr.
+Als er hörte, jener wolle zum Küchenmeister, erwiderte er--"Du irrst
+dich, mein Söhnchen; zu mir, dem Aufseher des Hauses, willst du; du
+willst Leibzwerg werden beim Herzog; ist es nicht also?"
+
+"Nein, Herr!" antwortete der Zwerg. "Ich bin ein geschickter Koch
+und erfahren in allerlei seltenen Speisen; wollet mich zum
+Oberküchenmeister bringen; vielleicht kann er meine Kunst brauchen."
+
+"Jeder nach seinem Willen, kleiner Mann; übrigens bist du doch ein
+unbesonnener Junge. In die Küche! Als Leibzwerg hättest du keine
+Arbeit gehabt und Essen und Trinken nach Herzenslust und schöne
+Kleider. Doch, wir wollen sehen, deine Kochkunst wird schwerlich so
+weit reichen, als ein Mundkoch des Herren nötig hat, und zum
+Küchenjungen bist du zu gut." Bei diesen Worten nahm ihn der Aufseher
+des Palastes bei der Hand und führte ihn in die Gemächer des
+Oberküchenmeisters.
+
+"Gnädiger Herr", sprach dort der Zwerg und verbeugte sich so tief,
+daß er mit der Nase den Fußteppich berührte, "brauchet Ihr keinen
+geschickten Koch?"
+
+Der Oberküchenmeister betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen,
+brach dann in lautes Lachen aus und sprach: "Wie?" rief er, "du ein
+Koch? Meinst du, unsere Herde seien so niedrig, daß du nur auf einen
+hinaufschauen kannst, wenn du dich auch auf die Zehen stellst und den
+Kopf recht aus den Schultern herausarbeitest? O lieber Kleiner! Wer
+dich zu mir geschickt hat, um dich als Koch zu verdingen, der hat
+dich zum Narren gehabt." So sprach der Oberküchenmeister und lachte
+weidlich, und mit ihm lachten der Aufseher des Palastes und alle
+Diener, die im Zimmer waren.
+
+Der Zwerg aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen. "Was liegt
+an einem Ei oder zweien, an ein wenig Sirup und Wein, an Mehl und
+Gewürze in einem Hause, wo man dessen genug hat?" sprach er. "Gebet
+mir irgendeine leckerhafte Speise zu bereiten auf, schaffet mir, was
+ich dazu brauche, und sie soll vor Euren Augen schnell bereitet sein,
+und Ihr sollet sagen müssen, er ist ein Koch nach Regel und Recht."
+Solche und ähnliche Reden führte der Kleine, und es war wunderlich
+anzuschauen, wie es dabei aus seinen kleinen Äuglein hervorblitzte,
+wie seine lange Nase sich hin und her schlängelte und seine dünnen
+Spinnenfinger seine Rede begleiteten.
+
+"Wohlan!" rief der Küchenmeister und nahm den Aufseher des Palastes
+unter dem Arme, "wohlan, es sei um des Spaßes willen; lasset uns zur
+Küche gehen!" Sie gingen durch mehrere Säle und Gänge und kamen
+endlich in die Küche. Es war dies ein großes, weitläufiges Gebäude,
+herrlich eingerichtet; auf zwanzig Herden brannten beständig Feuer;
+ein klares Wasser, das zugleich zum Fischbehälter diente, floß mitten
+durch sie, in Schränken von Marmor und köstlichem Holz waren die
+Vorräte aufgestellt, die man immer zur Hand haben mußte, und zur
+Rechten und Linken waren zehn Säle, in welchen alles aufgespeichert
+war, was man in allen Ländern von Frankistan und selbst im
+Morgenlande Köstliches und Leckeres für den Gaumen erfunden.
+Küchenbedienstete aller Art liefen umher und rasselten und hantierten
+mit Kesseln und Pfannen, mit Gabeln und Schaumlöffeln; als aber der
+Oberküchenmeister in die Küche eintrat, blieben sie alle regungslos
+stehen, und nur das Feuer hörte man noch knistern und das Bächlein
+rieseln. "Was hat der Herr heute zum Frühstück befohlen?" fragte der
+Meister den ersten Frühstücksmacher, einen alten Koch. "Herr, die
+dänische Suppe hat er geruht zu befehlen und rote Hamburger Klößchen."
+
+"Gut", sprach der Küchenmeister weiter, "hast du gehört, was der Herr
+speisen will? Getraust du dich, diese schwierigen Speisen zu
+bereiten? Die Klößchen bringst du auf keinen Fall heraus, das ist
+ein Geheimnis."
+
+"Nichts leichter als dies", erwiderte zu allgemeinem Erstaunen der
+Zwerg; denn er hatte diese Speisen als Eichhörnchen oft gemacht;
+"nichts leichter! Man gebe mir zu der Suppe die und die Kräuter,
+dies und jenes Gewürz, Fett von einem wilden Schwein, Wurzeln und
+Eier; zu den Klößchen aber", sprach er leiser, daß es nur der
+Küchenmeister und der Frühstücksmacher hören konnten, "zu den
+Klößchen brauche ich viererlei Fleisch, etwas Wein, Entenschmalz,
+Ingwer und ein gewisses Kraut, das man Magentrost heißt."
+
+"Hai Bei St. Benedikt! Bei welchem Zauberer hast du gelernt?" rief
+der Koch mit Staunen. "Alles bis auf ein Haar hat er gesagt, und das
+Kräutlein Magentrost haben wir selbst nicht gewußt; ja, das muß es
+noch angenehmer machen. O du Wunder von einem Koch!"
+
+"Das hätte ich nicht gedacht", sagte der Oberküchenmeister, "doch
+lassen wir ihn die Probe machen; gebt ihm die Sachen, die er verlangt,
+Geschirr und alles, und lasset ihn das Frühstück bereiten."
+
+Man tat, wie er befohlen, und rüstete alles auf dem Herde zu; aber da
+fand es sich, daß der Zwerg kaum mit der Nase bis an den Herd reichen
+konnte. Man setzte daher ein paar Stühle zusammen, legte eine
+Marmorplatte darüber und lud den kleinen Wundermann ein, sein
+Kunststück zu beginnen. In einem großen Kreise standen die Köche,
+Küchenjungen, Diener und allerlei Volk umher und sahen zu und
+staunten, wie ihm alles so flink und fertig von der Hand ging, wie er
+alles so reinlich und niedlich bereitete. Als er mit der Zubereitung
+fertig war, befahl er, beide Schüsseln ans Feuer zu setzen und genau
+so lange kochen zu lassen, bis er rufen werde; dann fing er an zu
+zählen, eins, zwei drei und so fort, und gerade als er fünfhundert
+gezählt hatte, rief er: "Halt!" Die Töpfe wurden weggesetzt, und der
+Kleine lud den Küchenmeister ein, zu kosten.
+
+Der Mundkoch ließ sich von einem Küchenjungen einen goldenen Löffel
+reichen, spülte ihn im Bach und überreichte ihn dem Oberküchenmeister.
+Dieser trat mit feierlicher Miene an den Herd, nahm von den Speisen,
+kostete, drückte die Augen zu, schnalzte vor Vergnügen mit der Zunge
+und sprach dann: "Köstlich, bei des Herzogs Leben, köstlich! Wollet
+Ihr nicht auch ein Löffelchen zu Euch nehmen, Aufseher des Palastes?"
+
+Dieser verbeugte sich, nahm den Löffel, versuchte und war vor
+Vergnügen und Lust außer sich. "Eure Kunst in Ehren, lieber
+Frühstücksmacher, Ihr seid ein erfahrener Koch; aber so herrlich habt
+Ihr weder die Suppe noch die Hamburger Klöße machen können!"
+
+Auch der Koch kostete jetzt, schüttelte dann dem Zwerg ehrfurchtsvoll
+die Hand und sagte: "Kleiner! Du bist Meister in der Kunst, ja, das
+Kräutlein Magentrost, das gibt allem einen ganz eigenen Reiz."
+
+In diesem Augenblick kam der Kammerdiener des Herzogs in die Küche
+und berichtete, daß der Herr das Frühstück verlange. Die Speisen
+wurden nun auf silberne Platten gelegt und dem Herzog zugeschickt;
+der Oberküchenmeister aber nahm den Kleinen in sein Zimmer und
+unterhielt sich mit ihm. Kaum waren sie aber halb so lange da, als
+man ein Paternoster spricht (es ist dies das Gebet der Franken, o
+Herr, und dauert nicht halb so lange als das Gebet der Gläubigen), so
+kam schon ein Bote und rief den Oberküchenmeister zum Herrn. Er
+kleidete sich schnell in sein Festkleid und folgte dem Boten.
+
+Der Herzog sah sehr vergnügt aus. Er hatte alles aufgezehrt, was auf
+den silbernen Platten gewesen war, und wischte sich eben den Bart ab,
+als der Oberküchenmeister zu ihm eintrat. "Höre, Küchenmeister",
+sprach er, "ich bin mit deinen Köchen bisher immer sehr zufrieden
+gewesen; aber sage mir, wer hat heute mein Frühstück bereitet? So
+köstlich war es nie, seit ich auf dem Thron meiner Väter sitze; sage
+an, wie er heißt, der Koch, daß wir ihm einige Dukaten zum Geschenk
+schicken."
+
+"Herr, das ist eine wunderbare Geschichte", antwortete der
+Oberküchenmeister und erzählte, wie man ihm heute früh einen Zwerg
+gebracht, der durchaus Koch werden wollte und wie sich dies alles
+begeben. Der Herzog verwunderte sich höchlich, ließ den Zwerg vor
+sich rufen und fragte ihn aus, wer er sei und woher er komme. Da
+konnte nun der arme Jakob freilich nicht sagen, daß er verzaubert
+worden sei und früher als Eichhörnchen gedient habe; doch blieb er
+bei der Wahrheit, indem er erzählte, er sei jetzt ohne Vater und
+Mutter und habe bei einer alten Frau kochen gelernt. Der Herzog
+fragte nicht weiter, sondern ergötzte sich an der sonderbaren Gestalt
+seines neuen Kochs.
+
+"Willst du bei mir bleiben", sprach er, "so will ich dir jährlich
+fünfzig Dukaten, ein Festkleid und noch überdies zwei Paar
+Beinkleider reichen lassen. Dafür mußt du aber täglich mein
+Frühstück selbst bereiten, mußt angeben, wie das Mittagessen gemacht
+werden soll, und Oberhaupt dich meiner Küche annehmen. Da jeder in
+meinem Palast seinen eigenen Namen von mir empfängt, so sollst du
+Nase heißen und die Würde eines Unterküchenmeisters bekleiden."
+
+Der Zwerg Nase fiel nieder vor dem mächtigen Herzog in Frankenland,
+küßte ihm die Füße und versprach, ihm treu zu dienen.
+
+So war nun der Kleine fürs erste versorgt, und er machte seinem Amt
+Ehre. Denn man kann sagen, daß der Herzog ein ganz anderer Mann war,
+während der Zwerg Nase sich in seinem Hause aufhielt. Sonst hatte es
+ihm oft beliebt, die Schüsseln oder Platten, die man ihm auftrug, den
+Köchen an den Kopf zu werfen; ja, dem Oberküchenmeister selbst warf
+er im Zorn einmal einen gebackenen Kalbsfaß, der nicht weich genug
+geworden war, so heftig an die Stirne, daß er umfiel und drei Tage zu
+Bett liegen mußte. Der Herzog machte zwar, was er im Zorn getan,
+durch einige Hände voll Dukaten wieder gut, aber dennoch war nie ein
+Koch ohne Zittern und Zagen mit den Speisen zu ihm gekommen. Seit
+der Zwerg im Hause war, schien alles wie durch Zauber umgewandelt.
+Der Herr aß jetzt statt dreimal des Tages fünfmal, um sich an der
+Kunst seines kleinsten Dieners recht zu laben, und dennoch verzog er
+nie eine Miene zum Unmut. Nein, er fand alles neu, trefflich, war
+leutselig und angenehm und wurde von Tag zu Tag fetter.
+
+Oft ließ er mitten unter der Tafel den Küchenmeister und den Zwerg
+Nase rufen, setzte den einen rechts, den anderen links zu sich und
+schob ihnen mit seinen eigenen Fingern einige Bissen der köstlichsten
+Speisen in den Mund, eine Gnade, welche sie beide wohl zu schätzen
+wußten.
+
+Der Zwerg war das Wunder der Stadt. Man erbat sich flehentlich
+Erlaubnis vom Oberküchenmeister, den Zwerg kochen zu sehen, und
+einige der vornehmsten Männer hatten es so weit gebracht beim Herzog,
+daß ihre Diener in der Küche beim Zwerg Unterrichtsstunden genießen
+durften, was nicht wenig Geld eintrug; denn jeder zahlte täglich
+einen halben Dukaten. Und um die übrigen Köche bei guter Laune zu
+erhalten und sie nicht neidisch auf ihn zu machen, überließ ihnen
+Nase dieses Geld, das die Herren für den Unterricht ihrer Köche
+zahlen mußten.
+
+So lebte Nase beinahe zwei Jahre in äußerlichem Wohlleben und Ehre,
+und nur der Gedanke an seine Eltern betrübte ihn; so lebte er, ohne
+etwas Merkwürdiges zu erfahren, bis sich folgender Vorfall ereignete.
+Der Zwerg Nase war besonders geschickt und glücklich in seinen
+Einkäufen. Daher ging er, so oft es ihm die Zeit erlaubte, immer
+selbst auf den Markt, um Geflügel und Früchte einzukaufen. Eines
+Morgens ging er auch auf den Gänsemarkt und forschte nach schweren,
+fetten Gänsen, wie sie der Herr liebte. Er war musternd schon
+einigemal auf und ab gegangen. Seine Gestalt, weit entfernt, hier
+Lachen und Spott zu erregen, gebot Ehrfurcht; denn man erkannte ihn
+als den berühmten Mundkoch des Herzogs, und jede Gänsefrau fühlte
+sich glücklich, wenn er ihr die Nase zuwandte.
+
+Da sah er ganz am Ende einer Reihe in einer Ecke eine Frau sitzen,
+die auch Gänse feil hatte, aber nicht wie die übrigen ihre Ware
+anpries; zu dieser trat er und maß und wog ihre Gänse. Sie waren,
+wie er sie wünschte, und er kaufte drei samt dem Käfig, lud sie auf
+seine breiten Schultern und trat den Rückweg an. Da kam es ihm
+sonderbar vor, daß nur zwei von diesen Gänsen schnatterten und
+schrien, wie rechte Gänse zu tun pflegen, die dritte aber ganz still
+und in sich gekehrt dasaß und Seufzer ausstieß und ächzte wie ein
+Mensch--"Die ist halbkrank", sprach er vor sich hin, "ich muß eilen,
+daß ich sie umbringe und zurichte." Aber die Gans antwortete ganz
+deutlich und laut:
+
+"Stichst du mich, So beiß' ich dich. Drückst du mir die Kehle ab,
+Bring' ich dich ins frühe Grab."
+
+Ganz erschrocken setzte der Zwerg Nase seinen Käfig nieder, und die
+Gans sah ihn mit schönen, klugen Augen an und seufzte.
+
+"Ei der Tausend!" rief Nase. "Sie kann sprechen, Jungfer Gans? Das
+hätte ich nicht gedacht. Na, sei Sie nur nicht ängstlich! Man weiß
+zu leben und wird einem so seltenen Vogel nicht zu Leibe gehen. Aber
+ich wollte wetten, Sie ist nicht von jeher in diesen Federn gewesen.
+War ich ja selbst einmal ein schnödes Eichhörnchen."
+
+"Du hast recht", erwiderte die Gans, "wenn du sagst, ich sei nicht in
+dieser schmachvollen Hülle geboren worden. Ach, an meiner Wiege
+wurde es mir nicht gesungen, daß Mimi, des großen Wetterbocks Tochter,
+in der Küche eines Herzogs getötet werden soll!"
+
+"Sei Sie doch ruhig, liebe Jungfer Mimi", tröstete der Zwerg. "So
+wahr ich ein ehrlicher Kerl und Unterküchenmeister Seiner Durchlaucht
+bin, es soll Ihr keiner an die Kehle. Ich will Ihr in meinen eigenen
+Gemächern einen Stall anweisen, Futter soll Sie genug haben, und
+meine freie Zeit werde ich Ihrer Unterhaltung widmen; den übrigen
+Küchenmenschen werde ich sagen, daß ich eine Gans mit allerlei
+besonderen Kräutern für den Herzog mäste, und sobald sich Gelegenheit
+findet, setze ich Sie in Freiheit."
+
+Die Gans dankte ihm mit Tränen; der Zwerg aber tat, wie er
+versprochen, schlachtete die zwei anderen Gänse, für Mimi aber baute
+er einen eigenen Stall unter dem Vorwande, sie für den Herzog ganz
+besonders zuzurichten. Er gab ihr auch kein gewöhnliches Gänsefutter,
+sondern versah sie mit Backwerk und süßen Speisen.
+
+So oft er freie Zeit hatte, ging er hin, sich mit ihr zu unterhalten
+und sie zu trösten. Sie erzählten sich auch gegenseitig ihre
+Geschichten, und Nase erfuhr auf diesem Wege, daß die Gans eine
+Tochter des Zauberers Wetterbock sei, der auf der Insel Gotland lebe.
+Er sei in Streit geraten mit einer alten Fee, die ihn durch Ränke
+und List überwunden und sie zur Rache in eine Gans verwandelt und
+weit hinweg bis hierher gebracht habe. Als der Zwerg Nase ihr seine
+Geschichte ebenfalls erzählt hatte, sprach sie: "Ich bin nicht
+unerfahren in "lesen Sachen. Mein Vater hat mir und meinen
+Schwestern einige Anleitung gegeben, so viel er nämlich davon
+mitteilen durfte. Die Geschichte mit dem Streit am Kräuterkorb,
+deine plötzliche Verwandlung, als du an jenem Kräutlein rochst, auch
+einige Worte der Alten, die du mir sagtest, beweisen mir, daß du auf
+Kräuter verzaubert bist, das heißt, wenn du das Kraut auffindest, das
+sich die Fee bei deiner Verzauberung gedacht hat, so kannst du erlöst
+werden." Es war dies ein geringer Trost für den Kleinen; denn wo
+sollte er das Kraut auffinden? Doch dankte er ihr und schöpfte
+einige Hoffnung.
+
+Um diese Zeit bekam der Herzog einen Besuch von einem benachbarten
+Fürsten, seinem Freunde. Er ließ daher seinen Zwerg Nase vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du mir
+zeigen mußt, ob du mir treu dienst und Meister deiner Kunst bist.
+Dieser Fürst, der bei mir zu Besuch ist, speist bekanntlich außer mir
+am besten und ist ein großer Kenner einer feinen Küche und ein weiser
+Mann. Sorge nun dafür, daß meine Tafel täglich also besorgt werde,
+daß er immer mehr in Erstaunen gerät. Dabei darfst du, bei meiner
+Ungnade, so lange er da ist, keine Speise zweimal bringen. Dafür
+kannst du dir von meinem Schatzmeister alles reichen lassen, was du
+nur brauchst. Und wenn du Gold und Diamanten in Schmalz baden mußt
+so tu es! Ich will lieber ein armer Mann werden, als erröten vor ihm."
+
+So sprach der Herzog! Der Zwerg aber sagte, indem er sich anständig
+verbeugte: "Es sei, wie du sagst, o Herr! So es Gott der gefällt,
+werde ich alles so machen, daß es diesem Fürsten der Gutschmecker
+wohlgefällt."
+
+Der kleine Koch suchte nun seine ganze Kunst hervor. Er schonte die
+Schätze seines Herrn nicht, noch weniger aber sich selbst. Denn man
+sah ihn den ganzen Tag in eine Wolke von Rauch und Feuer eingehüllt,
+und seine Stimme hallte beständig durch das Gewölbe der Küche; denn
+er befahl als Herrscher den Küchenjungen und niederen Köchen. Herr!
+Ich könnte es machen wie die Kameltreiber von Aleppo, wenn sie in
+ihren Geschichten, die sie den Reisenden erzählen, die Menschen
+herrlich speisen lassen. Sie führen eine ganze Stunde lang alle die
+Gerichte an, die aufgetragen worden sind, und erwecken dadurch große
+Sehnsucht und noch größeren Hunger in ihren Zuhörern, so daß diese
+unwillkürlich die Vorräte öffnen und eine Mahlzeit halten und den
+Kameltreibern reichlich mitteilen; doch ich nicht also.
+
+Der fremde Fürst war schon vierzehn Tage beim Herzog und lebte
+herrlich und in Freuden. Sie speisten des Tages nicht weniger als
+fünfmal, und der Herzog war zufrieden mit der Kunst des Zwerges; denn
+er sah Zufriedenheit auf der Stirne seines Gastes. Am fünfzehnten
+Tage aber begab es sich, daß der Herzog den Zwerg zur Tafel rufen
+ließ, ihn seinem Gast, dem Fürsten, vorstellte und diesen fragte, wie
+er mit dem Zwerg zufrieden sei.
+
+"Du bist ein wunderbarer Koch", antwortete der fremde Fürst, "und
+weißt, was anständig essen heißt. Du hast in der ganzen Zeit, da ich
+hier bin, nicht eine einzige Speise wiederholt und alles trefflich
+bereitet. Aber sage mir doch, warum bringst du so lange nicht die
+Königin der Speisen, die Pastete Souzeraine?"
+
+Der Zwerg war sehr erschrocken; denn er hatte von dieser
+Pastetenkönigin nie gehört; doch faßte er sich und antwortete: "O
+Herr! Noch lange, hoffte ich, sollte dein Angesicht leuchten an
+diesem Hoflager, darum wartete ich mit dieser Speise; denn womit
+sollte dich denn der Koch begrüßen am Tage des Scheidens als mit der
+Königin der Pasteten?"
+
+"So?" entgegnete der Herzog lachend. "Und bei mir wolltest du wohl
+warten bis an meinen Tod, um mich dann noch zu begrüßen? Denn auch
+mir hast du die Pastete noch nie vorgesetzt. Doch denke auf einen
+anderen Scheidegruß; denn morgen mußt du die Pastete auf die Tafel
+setzen."
+
+"Es sei, wie du sagst, Herr!" antwortete der Zwerg und ging. Aber er
+ging nicht vergnügt; denn der Tag seiner Schande und seines Unglücks
+war gekommen. Er wußte nicht, wie er die Pastete machen sollte. Er
+ging daher in seine Kammer und weinte über sein Schicksal.
+
+Da trat die Gans Mimi, die in seinem Gemach umhergehen durfte, zu ihm
+und fragte ihn nach der Ursache seines Jammers. "Stille deine
+Tränen", antwortete sie, als sie von der Pastete Souzeraine gehört,
+"dieses Gericht kam oft auf meines Vaters Tisch, und ich weiß
+ungefähr, was man dazu braucht; du nimmst dies und jenes, so und so
+viel, und wenn es auch nicht durchaus alles ist, was eigentlich dazu
+nötig, die Herren werden keinen so feinen Geschmack haben." So sprach
+Mimi. Der Zwerg aber sprang auf vor Freuden, segnete den Tag, an
+welchem er die Gans gekauft hatte, und schickte sich an, die Königin
+der Pasteten zuzurichten. Er machte zuerst einen kleinen Versuch,
+und siehe, es schmeckte trefflich, und der Oberküchenmeister, dem er
+davon zu kosten gab, pries aufs neue seine ausgebreitete Kunst.
+
+Den anderen Tag setzte er die Pastete in größerer Form auf und
+schickte sie warm, wie sie aus dem Ofen kam, nachdem er sie mit
+Blumenkränzen geschmeckt hatte, auf die Tafel. Er selbst aber zog
+sein bestes Festkleid an und ging in den Speisesaal. Als r eintrat,
+war der Obervorschneider gerade damit beschäftigt, die Pastete zu
+zerschneiden und auf einem silbernen Schäufelein dem Herzog und
+seinem Gaste hinzureichen. Der Herzog tat einen tüchtigen Biß hinein,
+schlug die Augen auf zur Decke und srach, nachdem er geschluckt
+hatte: "Ah, ah, ah! Mit Recht nennt man dies die Königin der
+Pasteten; aber mein Zwerg ist auch der König aller Köche! Nicht also,
+lieber Freund?"
+
+Der Gast nahm einige kleine Bissen zu sich, kostete und prüfte
+aufmerksam und lächelte dabei höhnisch und geheimnisvoll. "Das Ding
+ist recht artig gemacht", antwortete er, indem er den Teller
+hinwegrückte, "aber die Souzeraine ist es denn doch nicht ganz; das
+habe ich mir wohl gedacht."
+
+Da runzelte der Herzog vor Unmut die Stirne und errötete vor
+Beschämung. "Hund von einem Zwerg!" rief er, "wie wagst du es,
+deinem Herrn dies anzutun? Soll ich dir deinen großen Kopf abhacken
+lassen zur Strafe für deine schlechte Kocherei?"
+
+"Ach, Herr! Um des Himmels willen, ich habe das Gericht doch
+zubereitet nach den Regeln der Kunst, es kann gewiß nichts fehlen!"
+so sprach der Zwerg und zitterte.
+
+"Es ist eine Lüge, du Bube!" erwiderte der Herzog und stieß ihn mit
+dem Fuße von sich. "Mein Gast würde sonst nicht sagen, es fehlt
+etwas. Dich selbst will ich zerhacken und backen lassen in eine
+Pastete!"
+
+"Habt Mitleiden!" rief der Kleine und rutschte auf den Knien zu dem
+Gast, dessen Füße er umfaßte. "Saget, was fehlt in dieser Speise,
+daß sie Eurem Gaumen nicht zusagt? Lasset mich nicht sterben wegen
+einer Handvoll Fleisch und Mehl."
+
+"Das wird dir wenig helfen, mein lieber Nase", antwortete der Fremde
+mit Lachen, "das habe ich mir schon gestern gedacht, daß du diese
+Speise nicht machen kannst wie mein Koch. Wisse, es fehlt ein
+Kräutlein, das man hierzulande gar nicht kennt, das Kraut Niesmitlust;
+ohne dieses bleibt die Pastete ohne Würze, und dein Herr wird sie
+nie essen wie ich."
+
+Da geriet der Herrscher in Frankistan in Wut. "Und doch werde ich
+sie essen", rief er mit funkelnden Augen, "denn ich schwöre bei
+meiner fürstlichen Ehre: Entweder zeige ich Euch morgen die Pastete,
+wie Ihr sie verlangst--oder den Kopf dieses Burschen, aufgespießt auf
+dem Tor meines Palastes. Gehe, du Hund, noch einmal gebe ich dir
+vierundzwanzig Stunden Zeit."
+
+So rief der Herzog; der Zwerg aber ging wieder weinend in sein
+Kämmerlein und klagte der Gans sein Schicksal und daß er sterben
+müsse; denn von dem Kraut habe er nie gehört. "Ist es nur dies",
+sprach sie, "da kann ich dir schon helfen; denn mein Vater lehrte
+mich alle Kräuter kennen. Wohl wärest du vielleicht zu einer anderen
+Zeit des Todes gewesen; aber glücklicherweise ist es gerade Neumond,
+und um diese Zeit blüht das Kräutlein. Doch, sage an, sind alte
+Kastanienbäume in der Nähe des Palastes?"
+
+"O ja!" erwiderte Nase mit leichterem Herzen. "Am See, zweihundert
+Schritte vom Haus, steht eine ganze Gruppe; doch warum diese?"
+
+"Nur am Fuße alter Kastanien blüht das Kräutlein", sagte Mimi, "darum
+laß uns keine Zeit versäumen und suchen, was du brauchst; nimm mich
+auf deinen Arm und setze mich im Freien nieder; ich will dir suchen."
+
+Er tat, wie sie gesagt, und ging mit ihr zur Pforte des Palastes.
+Dort aber streckte der Türhüter das Gewehr vor und sprach: "Mein
+guter Nase, mit dir ist's vorbei; aus dem Hause darfst du nicht, ich
+habe den strengsten Befehl darüber."
+
+"Aber in den Garten kann ich doch wohl gehen?" erwiderte der Zwerg.
+"Sei so gut und schicke einen deiner Gesellen zum Aufseher des
+Palastes und frage, ob ich nicht in den Garten gehen und Kräuter
+suchen dürfe?" Der Türhüter tat also, und es wurde erlaubt; denn der
+Garten hatte hohe Mauern, und es war an kein Entkommen daraus zu
+denken. Als aber Nase mit der Gans Mimi ins Freie gekommen war,
+setzte er sie behutsam nieder, und sie ging schnell vor ihm her dem
+See zu, wo die Kastanien standen. Er folgte ihr nur mit beklommenem
+Herzen; denn es war ja seine letzte, einzige Hoffnung; fand sie das
+Kräutlein nicht, so stand sein Entschluß fest, er stürzte sich dann
+lieber in den See, als daß er sich köpfen ließ. Die Gans suchte
+vergebens, sie wandelte unter allen Kastanien, sie wandte mit dem
+Schnabel jedes Gräschen um, es wollte sich nichts zeigen, und sie
+fing aus Mitleid und Angst an zu weinen; denn schon wurde der Abend
+dunkler und die Gegenstände umher waren schwerer zu erkennen.
+
+Da fielen die Blicke des Zwerges über den See hin, und plötzlich rief
+er: "Siehe, siehe, dort über dem See steht noch ein großer, alter
+Baum; laß uns dorthin gehen und suchen, vielleicht blüht dort mein
+Glück."
+
+Die Gans hüpfte und flog voran, und er lief nach, so schnell seine
+kleinen Beine konnten; der Kastanienbaum warf einen großen Schatten,
+und es war dunkel umher, fast war nichts mehr zu erkennen; aber da
+blieb plötzlich die Gans stille stehen, schlug vor Freuden mit den
+Flügeln, fuhr dann schnell mit dem Kopf ins hohe Gras und pflückte
+etwas ab, das sie dem erstaunten Nase zierlich mit dem Schnabel
+überreichte und sprach: "Das ist das Kräutlein, und hier wächst eine
+Menge davon, so daß es dir nie daran fehlen kann."
+
+Der Zwerg betrachtete das Kraut sinnend; ein süßer Duft strömte ihm
+daraus entgegen, der ihn unwillkürlich an die Szene seiner
+Verwandlung erinnerte; die Stengel, die Blätter waren bläulichgrün,
+sie trugen eine brennend rote Blume mit gelbem Rande.
+
+"Gelobt sei Gott!" rief er endlich aus. "Welches Wunder! Wisse, ich
+glaube, es ist dies dasselbe Kraut, das mich aus einem Eichhörnchen
+in diese schändliche Gestalt umwandelte; soll ich den Versuch machen?"
+
+"Noch nicht", bat die Gans. "Nimm von diesem Kraut eine Handvoll mit
+dir, laß uns auf dein Zimmer gehen und dein Geld, und was du sonst
+hast, zusammenraffen, und dann wollen wir die Kraft des Krautes
+versuchen!" Sie taten also und gingen auf seine Kammer zurück, und
+das Herz des Zwerges pochte hörbar vor Erwartung. Nachdem er fünfzig
+oder sechzig Dukaten, die er erspart hatte, einige Kleider und Schuhe
+zusammen in ein Bündel geknüpft hatte, sprach er: "So es Gott
+gefällig ist, werde ich diese Bürde loswerden", steckte seine Nase
+tief in die Kräuter und sog ihren Duft ein.
+
+Da zog und knackte es in allen seinen Gliedern, er fühlte, wie sich
+sein Kopf aus den Schultern hob, er schielte herab auf seine Nase und
+sah sie kleiner und kleiner werden, sein Rücken und seine Brust
+fingen an, sich zu ebnen, und seine Beine wurden länger.
+
+Die Gans sah mit Erstaunen diesem allem zu. "Ha! Was du groß, was
+du schön bist!" rief sie. "Gott sei gedankt, es ist nichts mehr an
+dir von allem, was du vorher warst!"
+
+Da freute sich Jakob sehr, und er faltete die Hände und betete. Aber
+seine Freude ließ ihn nicht vergessen, welchen Dank er der Gans
+schuldig sei; zwar drängte ihn sein Herz, zu seinen Eltern zu gehen;
+doch besiegte er aus Dankbarkeit diesen Wunsch und sprach: "Wem
+anders als dir habe ich es zu danken, daß ich mir selbst
+wiedergeschenkt bin? Ohne dich hätte ich dieses Kraut nimmer
+gefunden, hätte also ewig in jener Gestalt bleiben oder vielleicht
+gar unter dem Beile des Henkers sterben müssen. Wohlan, ich will es
+dir vergelten. Ich will dich zu deinem Vater bringen; er, der
+erfahren ist in jedem Zauber, wird dich leicht entzaubern können."
+Die Gans vergoß Freudentränen und nahm sein Anerbieten an. Jakob kam
+glücklich und unerkannt mit der Gans aus dem Palast und machte sich
+auf den Weg nach dem Meeresstrand, Mimis Heimat, zu.
+
+Was soll ich noch weiter erzählen, daß sie ihre Reise glücklich
+vollendeten, daß Wetterbock seine Tochter entzauberte und den Jakob,
+mit Geschenken beladen, entließ, daß er in seine Vaterstadt zurückkam
+und daß seine Eltern in dem schönen jungen Mann mit Vergnügen ihren
+verlorenen Sohn erkannten, daß er von den Geschenken, die er von
+Wetterbock mitbrachte, sich einen Laden kaufte und reich und
+glücklich wurde?
+
+Nur so viel will ich noch sagen, daß nach seiner Entfernung aus dem
+Palaste des Herzogs große Unruhe entstand; denn als am anderen Tage
+der Herzog seinen Schwur erfüllen und dem Zwerg, wenn er die Kräuter
+nicht gefunden hätte, den Kopf abschlagen lassen wollte, war er
+nirgends zu finden; der Fürst aber behauptete, der Herzog habe ihn
+heimlich entkommen lassen, um sich nicht seines besten Kochs zu
+berauben, und klagte ihn an, daß er wortbrüchig sei. Dadurch
+entstand denn ein großer Krieg zwischen beiden Fürsten, der in der
+Geschichte unter dem Namen "Kräuterkrieg" wohlbekannt ist; es wurde
+manche Schlacht geschlagen, aber am Ende doch Friede gemacht, und
+diesen Frieden nennt man bei uns den "Pastetenfrieden", weil beim
+Versöhnungsfest durch den Koch des Fürsten die Souzeraine, die
+Königin der Pasteten, zubereitet wurde, welche sich der Herr Herzog
+trefflich schmecken ließ.
+
+So führen oft die kleinsten Ursachen zu großen Folgen; und dies, o
+Herr, ist die Geschichte des Zwerges Nase.
+
+So erzählte der Sklave aus Frankistan; nachdem er geendet hatte, ließ
+der Scheik Ali Banu ihm und den anderen Sklaven Früchte reichen, sich
+zu erfrischen, und unterhielt sich, während sie aßen, mit seinen
+Freunden. Die jungen Männer aber, die der Alte eingeführt hatte,
+waren voll Lobes über den Scheik, sein Haus und alle seine
+Einrichtungen. "Wahrlich", sprach der junge Schreiber, "es gibt
+keinen angenehmeren Zeitvertreib als Geschichten anzuhören. Ich
+könnte tagelang so hinsetzen, die Beine untergeschlagen, einen Arm
+aufs Kissen gestützt, die Stirne in die Hand gelegt, und, wenn es
+ginge, des Scheiks große Wasserpfeife in der Hand, und Geschichten
+anhören--so ungefähr stelle ich mir das Leben vor in den Gärten
+Mahomeds."
+
+"So lange Ihr jung seid und arbeiten könnt", sprach der Alte, "kann
+ein solcher träger Wunsch nicht Euer Ernst sein. Aber das gebe ich
+Euch zu, daß ein eigener Reiz darin liegt, etwas erzählen zu hören.
+So alt ich bin, und ich gehe nun ins siebenundsiebzigste Jahr, so
+viel ich in meinem Leben schon gehört habe, so verschmähe ich es doch
+nicht, wenn an der Ecke ein Geschichtenerzähler sitzt und um ihn in
+großem Kreis die Zuhörer, mich ebenfalls hinzusetzen und zuzuhören.
+Man träumt sich ja in die Begebenheiten hinein, die erzählt werden,
+man lebt mit diesen Menschen, mit diesen wundervollen Geistern, mit
+Feen und dergleichen Leuten, die uns nicht alle Tage begegnen, und
+hat nachher, wenn man einsam ist, Stoff, sich alles zu wiederholen,
+wie der Wanderer, der sich gut versehen hat, wenn er durch die Wüste
+reist."
+
+"Ich habe nie so darüber nachgedacht", erwiderte ein anderer der
+jungen Leute, "worin der Reiz solcher Geschichten eigentlich liegt.
+Aber mir geht es wie euch. Schon als Kind konnte man mich, wenn ich
+ungeduldig war, durch eine Geschichte zum Schweigen bringen. Es war
+mir anfangs gleichgültig, von was es handelte, wenn es nur erzählt
+war, wenn nur etwas geschah; wie oft habe ich, ohne zu ermüden, jene
+Fabeln angehört, die weise Männer erfunden und in welche sie einen
+Kern ihrer Weisheit gelegt haben, vom Fuchs und vom törichten Raben,
+vom Fuchs und vom Wolf, viele Dutzend Geschichten vom Löwen und den
+übrigen Tieren. Als ich älter wurde und mehr unter die Menschen kam,
+genügten mir jene kurzen Geschichten nicht mehr; sie mußten schon
+länger sein, mußten von Menschen und ihren wunderbaren Schicksalen
+handeln." "Ja, ich entsinne mich noch wohl dieser Zeit", unterbrach
+ihn einer seiner Freunde. "Du warst es, der uns diesen Drang nach
+Erzählungen beibrachte. Einer Eurer Sklaven wußte so viel zu
+erzählen, als ein Kameltreiber von Mekka nach Medina spricht; wenn er
+fertig war mit seiner Arbeit, mußte er sich zu uns setzen, und da
+baten wir so lange, bis er zu erzählen anfing, und das ging fort und
+fort, bis die Nacht heraufkam."
+
+"Und erschloß sich uns", entgegnete der Schreiber, "erschloß sich uns
+da nicht ein neues, nie gekanntes Reich, das Land der Genien und Feen,
+bebaut mit allen Wundern der Pflanzenwelt, mit reichen Palästen von
+Smaragden und Rubinen, mit riesenhaften Sklaven bevölkert, die
+erschienen, wenn man einen Ring hin und wider dreht oder die
+Wunderlampe reibt oder das Wort Salomos ausspricht, und in goldenen
+Schalen herrliche Speisen bringen. Wir fühlten uns unwillkürlich in
+jenes Land versetzt, wir machten mit Sindbad seine wunderbaren
+Fahrten, wir gingen mit Harun Al-Raschid, dem weisen Beherrscher der
+Gläubigen, abends spazieren, wir kannten Giaffar, seinen Wesir, so
+gut als uns selbst, kurz, wir lebten in jenen Geschichten, wie man
+nachts in Träumen lebt, und es gab keine schönere Tageszeit für uns
+als den Abend, wo der alte Sklave uns erzählte. Aber sage uns, Alter,
+worin liegt es denn eigentlich, daß wir damals so gerne erzählen
+hörten, daß es noch jetzt für uns keine angenehmere Unterhaltung
+gibt?"
+
+Die Bewegung, die im Zimmer entstand, und die Aufforderung zur
+Aufmerksamkeit, die der Sklavenaufseher gab, verhinderte den Alten zu
+antworten. Die jungen Leute wußten nicht, ob sie sich freuen sollten,
+daß sie eine neue Geschichte anhören durften, oder ungehalten sein
+darüber, daß ihr anziehendes Gespräch mit dem Alten unterbrochen
+worden war; aber ein zweiter Sklave erhob sich bereits und begann:
+
+
+
+
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr, ich bin aus Mogador am Strande des großen Meers, und als der
+großmächtigste Kaiser Muley Ismael über Fez und Marokko herrschte,
+hat sich die Geschichte zugetragen, die du vielleicht nicht ungerne
+hören wirst. Es ist die Geschichte von Abner, dem Juden, der nichts
+gesehen hat.
+
+Juden, wie du weißt, gibt es überall, und sie sind überall Juden:
+pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt,
+verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden,
+ihrer Verschlagenheit sich bewußt und sich etwas darauf einbildend.
+Daß aber doch zuweilen ein Jude durch seine Pfiffe zu Schaden kommt,
+bewies Abner, als er eines Abends zum Tore von Marokko hinaus
+spazierenging.
+
+Er schreitet einher, mit der spitzen Mütze auf dem Kopf, in den
+bescheidenen, nicht übermäßig reinlichen Mantel gehüllt, streichelt
+sich den Knebelbart, und trotz der umherrollenden Augen, welche ewige
+Furcht und Besorgnis und die Begierde, etwas zu erspähen, womit etwas
+zu machen wäre, keinen Augenblick ruhen läßt, leuchtet Zufriedenheit
+aus seiner Miene; er muß diesen Tag gute Geschäfte gemacht haben; und
+so ist es auch. Er ist Arzt, ist Kaufinann, ist alles, was Geld
+einträgt; er hat heute einen Sklaven mit einem heimlichen Fehler
+verkauft, wohlfeil eine Kamelladung Gummi gekauft und einem reichen
+kranken Mann den letzten Trank, nicht vor seiner Genesung, sondern
+vor seinem Hintritt bereitet.
+
+Eben war er auf seinem Spaziergang aus einem kleinen Gehölz von
+Palmen und Datteln getreten, da hörte er lautes Geschrei
+herbeilaufender Menschen hinter sich; es war ein Haufe kaiserlicher
+Stallknechte, den Oberstallmeister an der Spitze, die nach allen
+Seiten unruhige Blicke umherwarfen, wie Menschen, die etwas
+Verlorenes eifrig suchen.
+
+"Philister", rief ihm keuchend der Oberstallmeister zu, "hast du
+nicht ein kaiserlich Pferd mit Sattel und Zeug vorüberrennen sehen?"
+
+Abner antwortete: "Der beste Galoppläufer, den es gibt; zierlich
+klein ist sein Huf, seine Hufeisen sind von vierzehnlötigem Silber,
+sein Haar leuchtet golden, gleich dem großen Sabbatleuchter in der
+Schule, fünfzehn Fäuste ist er hoch, sein Schweif ist drei und einen
+halben Fuß lang, und die Stangen seines Gebisses sind von
+dreiundzwanzigkarätigem Golde."
+
+"Er ist's!" rief der Oberstallmeister.
+
+"Er ist's!" rief der Chor der Stallknechte.
+
+"Es ist der Emir", rief ein alter Bereiter, "ich habe es dem Prinzen
+Abdallah zehnmal gesagt, er solle den Emir in der Trense reiten, ich
+kenne den Emir, ich habe es vorausgesagt, daß er ihn abwerfen würde,
+und sollte ich seine Rückenschmerzen mit dem Kopf bezahlen müssen,
+ich habe es vorausgesagt. Aber schnell, wohinzu ist er gelaufen?"
+
+"Habe ich doch gar kein Pferd gesehen", erwiderte Abner lächelnd,
+"wie kann ich sagen, wohin es gelaufen ist, des Kaisers Pferd?"
+
+Erstaunt über diesen Widerspruch wollten die Herren vom Stalle eben
+weiter in Abner dringen; da kam ein anderes Ereignis dazwischen.
+
+Durch einen sonderbaren Zufall, wie es deren so viele gibt, war
+gerade zu dieser Zeit auch der Leibschoßhund der Kaiserin entlaufen.
+Ein Haufe schwarze Sklaven kam herbeigerannt, und sie schrien schon
+von weitem: "Habt Ihr den Schoßhund der Kaiserin nicht gesehen?"
+
+"Es ist kein Hund, den Ihr suchet, meine Herren", sagte Abner, "es
+ist eine Hündin."
+
+"Allerdings!" rief der erste Eunuch hocherfreut. "Aline, wo bist du?"
+
+"Ein kleiner Wachtelhund", fuhr Abner fort, "der vor kurzem Junge
+geworfen, langes Behänge, Federschwanz, hinkt auf dem rechten
+vorderen Bein."
+
+"Sie ist's, wie sie leibt und lebt!" rief der Chor der Schwarzen.
+"Es ist Aline; die Kaiserin ist in Krämpfe verfallen, sobald sie
+vermißt wurde; Aline, wo bist du? Was soll aus uns werden, wenn wir
+ohne dich in den Harem zurückkehren? Sprich geschwind, wohin hast du
+sie laufen sehen?"
+
+"Ich habe gar keinen Hund gesehen; weiß ich doch nicht einmal, daß
+meine Kaiserin, welche Gott erhalte, einen Wachtelhund besitzt."
+
+Da ergrimmten die Leute vom Stalle und vom Harem über Abners
+Unverschämtheit, wie sie es nannten, über kaiserliches Eigentum
+seinen Scherz zu treiben, und zweifelten keinen Augenblick, so
+unwahrscheinlich dies auch war, daß er Hund und Pferd gestohlen habe.
+Während die anderen ihre Nachforschungen fortsetzten, packten der
+Stallmeister und der erste Eunuch den Juden und führten den halb
+pfiffig, halb ängstlich Lächelnden vor das Angesicht des Kaisers.
+
+Aufgebracht berief Mulen Ismael, als er den Hergang vernommen, den
+gewöhnlichen Rat des Palastes und führte in Betracht der Wichtigkeit
+des Gegenstandes selbst den Vorsitz. Zur Eröffnung der Sache wurde
+dem Angeschuldigten ein halbes Hundert Streiche auf die Fußsohlen
+zuerkannt. Abner mochte schreien und winseln, seine Unschuld
+beteuern oder versprechen, alles zu erzählen, wie es sich zugetragen,
+Sprüche aus der Schrift oder dem Talmud anführen, mochte rufen: "Die
+Ungnade des Königs ist wie das Brüllen eines jungen Löwen, aber seine
+Gnade ist Tau auf dem Grase"; oder: "Laß nicht zuschlagen deine Hand,
+wenn dir Augen und Ohren verschlossen sind"--Mulen Ismael winkte und
+schwur bei des Propheten Bart und seinem eigenen, der Philister solle
+die Schmerzen des Prinzen Abdallah und die Krämpfe der Kaiserin mit
+dem Kopfe bezahlen, wenn die Flüchtigen nicht wieder beigebracht
+würden. Noch erschallte der Palast des Kaisers von Marokko von dem
+Schmerzgeschrei des Patienten, als die Nachricht einlief, Hund und
+Pferd seien wiedergefunden. Aline überraschte man in der
+Gesellschaft einiger Möpse, sehr anständiger Leute, die sich aber für
+sie, als Hofdame, durchaus nicht schickte, und Emir hatte, nachdem er
+sich müde gelaufen, das duftende Gras auf den grünen Wiesen am Bache
+Tara wohlschmeckender gefunden als den kaiserlichen Hafer; gleich dem
+ermüdeten fürstlichen Jäger, der, auf der Parforcejagd verirrt, über
+dem schwarzen Brot und der Butter in der Hütte des Landmanns alle
+Leckereien seiner Tafel vergißt.
+
+Muley Ismael verlangte nun von Abner eine Erklärung seines Betragens,
+und dieser sah sich nun, wiewohl etwas spät, imstande, sich zu
+verantworten, was er, nachdem er vor seiner Hoheit Thron dreimal die
+Erde mit der Stirne berührte, in folgenden Worten tat:
+
+"Großmächtigster Kaiser, König der Könige, Herr des Besten, Stern der
+Gerechtigkeit, Spiegel der Wahrheit, Abgrund der Weisheit, der du so
+glänzend bist wie Gold, so strahlend wie der Diamant, so hart wie das
+Eisen, höre mich, weil es deinem Sklaven vergönnt ist, vor deinem
+strahlenden Angesichte seine Stimme zu erheben! Ich schwöre bei dem
+Gott meiner Väter, bei Moses und den Propheten, daß ich dein heiliges
+Pferd und meiner gnädigen Kaiserin liebenswürdigen Hund mit meines
+Leibes Augen nicht gesehen habe. Höre aber, wie sich die Sache
+begeben:
+
+Ich spazierte, um mich von des Tages Last und Arbeit zu erholen,
+nichts denkend, in dem kleinen Gehölze, wo ich die Ehre gehabt habe,
+Seiner Herrlichkeit, dem Oberstallmeister, und Seiner Wachsamkeit,
+dem schwarzen Aufseher deines gesegneten Harems, zu begegnen; da
+gewahrte ich im feinen Sande zwischen den Palmen die Spuren eines
+Tieres; ich, dem die Spuren der Tiere überaus gut bekannt sind,
+erkenne sie alsbald für die Fußstapfen eines kleinen Hundes; feine
+langgezogene Furchen liefen über die kleinen Unebenheiten des
+Sandbodens zwischen diesen Spuren hin; es ist eine Hündin, sprach ich
+zu mir selbst, und sie hat hängende Zitzen und hat Junge geworfen vor
+so und so langer Zeit; andere Spuren neben den Vordertatzen, wo der
+Sand leicht weggefegt zu sein schien, sagten mir, daß das Tier mit
+schönen, weit herabhängenden Ohren begabt sei; und da ich bemerkt,
+wie in längeren Zwischenräumen der Sand bedeutender aufgewühlt war,
+dachte ich: Einen schönen langbehaarten Schwanz hat die Kleine, und
+er muß anzusehen sein als ein Federbusch, und es hat ihr beliebt,
+zuweilen den Sand damit zu peitschen; auch entging mir nicht, daß
+eine Pfote sich beständig weniger tief in den Sand eindrückte; leider
+konnte mir da nicht verborgen bleiben, daß die Hündin meiner
+gnädigsten Frau, wenn es erlaubt ist, es auszusprechen, etwas hinke.
+
+Was das Roß deiner Hoheit betrifft, so wisse, daß ich, als ich in
+einem Gange des Gebüsches hinwandelte, auf die Spuren eines Pferdes
+aufmerksam wurde. Kaum hatte ich den edlen, kleinen Huf, den feinen
+und doch starken Strahl bemerkt, so sagte ich in meinem Herzen: Da
+ist gewesen ein Roß von der Rasse Tschenner, die da ist die
+vornehmste von allen. Ist es ja noch nicht vier Monate, hat mein
+gnädigster Kaiser einem Fürsten in Frankenland eine ganze Koppel von
+dieser Rasse verkauft, und mein Bruder Ruben ist dabeigewesen, wie
+sie sind handelseinig geworden, und mein gnädigster Kaiser hat dabei
+gewonnen so und so viel. Als ich sah, wie die Spuren so weit und so
+gleichmäßig voneinander entfernt waren, mußte ich denken: Das
+galoppierte schön, vornehm; und ist bloß mein Kaiser wert, solch ein
+Tier zu besitzen, und ich gedachte des Streitrosses, von dem
+geschrieben steht bei Hiob: ŽEs stampfet auf den Boden und ist
+freudig mit Kraft und zeucht aus, den Geharnischten entgegen; es
+spottet der Furcht und erschrickt nicht und fleucht vor dem Schwert
+nicht, wenngleich wider es erklinget der Köcher, und glänzen beide,
+Spieß und Lanzen.Ž Und ich bückte mich, da ich etwas glänzen sah auf
+dem Boden, wie ich immer tue, und siehe, es war ein Marmelstein,
+darauf hatte das Hufeisen des eilenden Rosses einen Strich gezogen,
+und ich erkannte, daß es Hufeisen haben mußte von vierzehnlötigem
+Silber; muß ich doch den Strich kennen von jeglichem Metall, sei es
+echt oder unecht. Der Baumgang, in dem ich spazierte, war sieben Fuß
+weit, und hie und da sah ich den Staub von den Palmen gestreift; der
+Gaul hat mit dem Schweif gefochten, sprach ich, und er ist lang drei
+und einen halben Fuß; unter Bäumen, deren Krone etwa fünf Fuß vom
+Boden aufging, sah ich frisch abgestreifte Blätter; seiner
+Schnelligkeit Rücken mußte sie abgestreift haben; da haben wir ein
+Pferd von fünfzehn Fäusten; siehe da, unter denselben Bäumen kleine
+Büschel goldglänzender Haare, und siehe da, es ist ein Goldfuchs!
+Eben trat ich aus dem Gebüsche, da fiel an einer Felswand ein
+Goldstrich in mein Auge; diesen Strich solltest du kennen, sprach ich,
+und was war's? Ein Probierstein war eingesprengt in dem Gestein und
+ein haarfeiner Goldstrich darauf, wie ihn das Männchen mit dem
+Pfeilbündel auf den Füchsen der sieben vereinigten Provinzen von
+Holland nicht feiner, nicht reiner ziehen kann. Der Strich mußte von
+den Gebißstangen des flüchtigen Rosses rühren, die es im
+Vorbeispringen gegen dieses Gestein gerieben. Kennt man ja doch
+deine erhabene Prachtliebe, König der Könige, weiß man ja doch, daß
+sich das geringste deiner Rosse schämen würde, auf einen anderen als
+einen goldenen Zaum zu beißen. Also hat es sich begeben, und wenn--"
+
+"Nun, bei Mekka und Medina!" rief Muley Ismael, "das heiße ich Augen;
+solche Augen könnten dir nicht schaden, Oberjägermeister, sie würden
+dir eine Koppel Schweißhunde ersparen; du, Polizeiminister, könntest
+damit weiter sehen als alle deine Schergen und Aufpasser. Nun,
+Philister, wir wollen dich in Betracht deines ungemeinen Scharfsinns,
+der uns wohlgefallen hat, gnädig behandeln; die fünfzig Prügel, die
+du richtig erhalten, sind fünfzig Zechinen wert. Sie ersparen dir
+fünfzig; denn du zahlst jetzt bloß noch fünfzig bar; zieh deinen
+Beutel und enthalte dich für die Zukunft, unseres kaiserlichen
+Eigentums zu spotten! Wir bleiben dir übrigens in Gnaden gewogen."
+
+Der ganze Hof bewunderte Abners Scharfsinn, denn seine Majestät hatte
+geschworen, er sei ein geschickter Bursche; aber dies bezahlte ihm
+seine Schmerzen nicht, tröstete ihn nicht für seine teuren Zechinen.
+Während er stöhnend und seufzend eine nach der anderen aus dem Beutel
+führte, jede noch zum Abschiede auf der Fingerspitze wog, höhnte ihn
+noch Schnuri, der kaiserliche Spaßmacher, fragte ihn, ob seine
+Zechinen alle auf dem Steine sich bewährten, auf dem der Goldfuchs
+des Prinzen Abdallah sein Gebiß probiert habe. "Deine Weisheit hat
+heute Ruhm geerntet", sprach er; "ich wollte aber noch fünfzig
+Zechinen wetten, es wäre dir lieber, du hättest geschwiegen. Aber
+wie spricht der Prophet? ŽEin entschlüpftes Wort holt kein Wagen ein,
+und wenn er mit vier flüchtigen Rossen bespannt wäre.Ž Auch kein
+Windspiel holt es ein, Herr Abner, auch wenn es nicht hinkt."
+
+Nicht lange nach diesem für Abner schmerzlichen Ereignis ging er
+wieder einmal in einem der grünen Täler zwischen den Vorbergen des
+Atlas spazieren. Da wurde er, gerade wie damals, von einem
+einherstürmenden Haufen Gewaffneter eingeholt, und der Anführer
+schrie ihn an:
+
+"He, guter Freund, hast du nicht Goro, den schwarzen Leibschützen des
+Kaisers, vorbeilaufen sehen? Er ist entflohen, er muß diesen Weg
+genommen haben ins Gebirg."
+
+"Kann nicht dienen, Herr General", antwortete Abner.
+
+"Ach, bist du nicht der pfiffige Jude, der den Fuchsen und den Hund
+nicht gesehen hat? Mach nur keine Umstände; hier muß der Sklave
+vorbeigekommen sein; riechst du vielleicht noch den Duft seines
+Schweißes in der Luft? Siehst du noch die Spuren seines flüchtigen
+Fußes im hohen Grase? Sprich, der Sklave muß herbei; er ist einzig
+im Sperlingsschießen mit dem Blaserohr, und dies ist Seiner Majestät
+Lieblingszeitvertreib. Sprich! Oder ich lasse dich sogleich krumm
+fesseln!"
+
+"Kann ich doch nicht sagen, ich habe gesehen, was ich doch nicht hab'
+gesehen."
+
+"Jude, zum letzten Male: Wohin ist der Sklave gelaufen? Denk an
+deine Fußsohlen, denk an deine Zechinen!"
+
+"O weh geschrien! Nun, wenn Ihr absolut haben wollt, daß ich soll
+gesehen haben den Sperlingsschützen, so lauft dorthin; ist er dort
+nicht, so ist er anderswo."
+
+"Du hast ihn also gesehen?" brüllte ihn der Soldat an. "Ja denn,
+Herr Offizier, weil Ihr es so haben wollt."
+
+Die Soldaten verfolgten eilig die angewiesene Richtung. Abner aber
+ging, innerlich über seine List zufrieden, nach Hause. Kaum aber war
+er vierundzwanzig Stunden älter geworden, so drang ein Haufe von der
+Wache des Palastes in sein Haus und verunreinigte es, denn es war
+Sabbat, und schleppte ihn vor das Angesicht des Kaisers von Marokko.
+
+"Hund von einem Juden", schnaubte ihn der Kaiser an, "du wagst es,
+kaiserliche Bedienstete, die einen flüchtigen Sklaven verfolgen, auf
+falsche Spur ins Gebirge zu schicken, während der Flüchtling der
+Meeresküste zueilt und beinahe auf einem spanischen Schiffe entkommen
+wäre? Greift ihn, Soldaten! Hundert auf die Sohlen! Hundert
+Zechinen aus dem Beutel! Um wieviel die Sohlen schwellen unter den
+Hieben, um soviel soll der Beutel einschnurren."
+
+Du weißt es, o Herr, im Reiche Fez und Marokko liebt man schnelle
+Gerechtigkeit, und so wurde der arme Abner geprügelt und besteuert,
+ohne daß man ihn zuvor um seine Einwilligung befragt hätte. Er aber
+verfluchte sein Geschick, das ihn dazu verdammte, daß seine Sohlen
+und sein Beutel es hart empfinden sollten, so oft Seine Majestät
+geruhten, etwas zu verlieren. Als er aber brummend und seufzend
+unter dem Gelächter des rohen Hofvolks aus dem Saale hinkte, sprach
+zu ihm Schnuri, der Spaßmacher: "Gib dich zufrieden, Abner,
+undankbarer Abner! Ist es nicht Ehre genug für dich, daß jeder
+Verlust, den unser gnädiger Kaiser, den Gott erhalte, erleidet, auch
+dir empfindlichen Kummer verursachen muß? Versprichst du mir aber
+ein gut Trinkgeld, so komme ich jedesmal, eine Stunde bevor der Herr
+des Westens etwas verliert, an deine Bude in der Judengasse und
+spreche: ŽGehe nicht aus deiner Hütte, Abner, du weißt schon warum;
+schließe dich ein in dein Kämmerlein bis zu Sonnenuntergang, beides
+unter Schloß und Riegel.Ž"
+
+Dies, o Herr, ist die Geschichte von Abner, der nichts gesehen hat.
+
+Als der Sklave geendet hatte und es wieder stille im Saale geworden
+war, erinnerte der junge Schreiber den Alten, daß sie den Faden ihrer
+Unterhaltung abgebrochen hatten, und bat, ihnen zu erklären, worin
+denn eigentlich der mächtige Reiz des Märchens liege.
+
+"Das will ich Euch jetzt sagen", erwiderte der Alte. "Der
+menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser,
+das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die
+dichtesten Gegenstände durchdringt. Er ist leicht und frei wie die
+Luft und wird wie diese, je höher er sich von der Erde hebt, desto
+leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich
+hinauf über das Gewöhnliche zu erheben und sich in höheren Räumen
+leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Träumen. Ihr
+selbst, mein junger Freund, sagtet: ŽWir lebten in jenen Geschichten,
+wir dachten und fühlten mit jenen MenschenŽ, und daher kommt der Reiz,
+den sie für Euch hatten. Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven
+zuhöret, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt
+Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den
+Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr
+erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes
+Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Manne, von dem
+man Euch erzählte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen
+Geschichte über die Gegenwart, die Euch nicht so schön, nicht so
+anziehend dünkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, höheren
+Räumen freier und ungebundener, das Märchen wurde Euch zur
+Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde
+zum Märchen, weil Euer Dichten und Sein im Märchen lebte."
+
+"Ganz verstehe ich Euch nicht", erwiderte der junge Kaufmann, "aber
+Ihr habt recht mit dem, was Ihr sagtet, wir lebten im Märchen oder
+das Märchen in uns. Sie ist mir noch wohl erinnerlich, jene schöne
+Zeit; wenn wir Muße dazu hatten, träumten wir wachend; wir stellten
+uns vor, an wüste, unwirtbare Inseln verschlagen zu sein, wir
+berieten uns, was wir beginnen sollten, um unser Leben zu fristen,
+und oft haben wir im dichten Weidengebüsch uns Hütten gebaut, haben
+von elenden Früchten ein kärgliches Mahl gehalten, obgleich wir
+hundert Schritte weit zu Haus das Beste hätten haben können, ja, es
+gab Zeiten, wo wir auf die Erscheinung einer gütigen Fee oder eines
+wunderbaren Zwerges warteten, die zu uns treten und sagen würden:
+ŽDie Erde wird sich alsobald auftun, wollet dann nur gefälligst
+herabsteigen in meinen Palast von Bergkristall und euch belieben
+lassen, was meine Diener, die Meerkatzen, euch auftischen.Ž"
+
+Die jungen Leute lachten, gaben aber ihrem Freunde zu, daß er wahr
+gesprochen habe. "Noch jetzt", fuhr ein anderer fort, "noch jetzt
+beschleicht mich hier und da dieser Zauber; ich würde mich zum
+Beispiel nicht wenig ärgern über die dumme Fabel, wenn mein Bruder
+zur Türe hereingestürzt käme und sagte: ŽWeißt du schon das Unglück
+von unserem Nachbarn, dem dicken Bäcker? Er hat Händel gehabt mit
+einem Zauberer, und dieser hat ihn aus Rache in einen Bären
+verwandelt, und jetzt liegt er in seiner Kammer und heult
+entsetzlichŽ; ich würde mich ärgern und ihn einen Lügner schelten.
+Aber wie anders, wenn mir erzählt würde, der dicke Nachbar hab' eine
+weite Reise in ein fernes, unbekanntes Land unternommen, sei dort
+einem Zauberer in die Hände gefallen, der ihn in einen Bären
+verwandelte. Ich würde mich nach und nach in die Geschichte versetzt
+fühlen, würde mit dem dicken Nachbar reisen, Wunderbares erleben, und
+es würde mich nicht sehr überraschen, wenn er in ein Fell gesteckt
+würde und auf allen vieren gehen müßte."
+
+So sprachen die jungen Leute; da gab der Scheik wiederum das Zeichen,
+und alle setzten sich nieder. Der Aufseher der Sklaven aber trat zu
+den Freigelassenen und forderte sie auf, weiter forzufahren. Einer
+unter ihnen zeigte sich bereit, stand auf und hub an, folgendermaßen
+zu erzählen:
+
+(im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schöll.)
+
+Der Sklave hatte geendet, und seine Erzählung erhielt den Beifall des
+Scheik und seiner Freunde. Aber auch durch diese Erzählung wollte
+sich die Stirne des Scheik nicht entwölken lassen, er war und blieb
+ernst und tiefsinnig wie zuvor, und die jungen Leute bemitleideten
+ihn.
+
+"Und doch", sprach der junge Kaufmann, "und doch kann ich nicht
+begreifen, wie der Scheik sich an einem solchen Tage Märchen erzählen
+lassen mag, und zwar von seinen Sklaven. Ich für meinen Teil, hätte
+ich einen solchen Kummer, so würde ich lieber hinausreiten in den
+Wald und mich setzen, wo es recht dunkel und einsam ist, aber auf
+keinen Fall dieses Geräusch von Bekannten und Unbekannten um mich
+versammeln."
+
+"Der Weise", antwortete der alte Mann, "der Weise läßt sich von
+seinem Kummer nie so überwältigen, daß er ihm völlig unterliegt. Er
+wird ernst, er wird tiefsinnig sein, er wird aber nicht laut klagen
+oder verzweifeln. Warum also, wenn es in deinem Innern dunkel und
+traurig aussieht, warum noch überdies die Schatten dunkler Zedern
+suchen? Ihr Schatten fällt durch das Auge in dein Herz und macht es
+noch dunkler. An die Sonne mußt du gehen, in den warmen, lichten Tag,
+für was du trauerst, und mit der Klarheit des Tages, mit der Wärme
+des Lichtes wird dir die Gewißheit aufgehen, daß Allahs Liebe über
+dir ist, erwärmend und ewig wie seine Sonne."
+
+"Ihr habt wahr gesprochen", setzte der Schreiber hinzu, "und geziemt
+es nicht einem weisen Mann, dem seine Umgebungen zu Gebot stehen, daß
+er an einem solchen Tage die Schatten des Grams so weit als möglich
+entferne? Soll er zum Getränke seine Zuflucht nehmen oder Opium
+speisen, um den Schmerz zu vergessen? Ich bleibe dabei, es ist die
+anständigste Unterhaltung in Leid und Freude, sich erzählen zu lassen,
+und der Scheik hat ganz recht."
+
+"Gut", erwiderte der junge Kaufmann, "aber hat er nicht Vorleser,
+nicht Freunde genug; warum müssen es gerade Sklaven sein, die
+erzählen?"
+
+"Diese Sklaven, lieber Herr", sagte der Alte, "sind vermutlich durch
+allerlei Unglück in Sklaverei geraten und sind nicht gerade so
+ungebildete Leute, wie Ihr wohl gesehen habt, von welchen man sich
+nicht könnte erzählen lassen. Überdies stammen sie von allerlei
+Ländern und Völkern, und es ist zu erwarten, daß sie bei sich zu
+Hause irgend etwas Merkwürdiges gehört oder gesehen, das sie nun zu
+erzählen wissen. Einen noch schöneren Grund, den mir einst ein
+Freund des Scheik sagte, will ich Euch wiedergeben: Diese Leute waren
+bis jetzt in seinem Hause als Sklaven, hatten sie auch keine schwere
+Arbeit zu verrichten, so war es doch immer Arbeit, zu der sie
+gezwungen waren, und mächtig der Unterschied zwischen ihnen und
+freien Leuten. Sie durften sich, wie es Sitte ist, dem Scheik nicht
+anders als mit den Zeichen der Unterwürfigkeit nähern. Sie durften
+nicht zu ihm reden, außer er fragte sie, und ihre Rede mußte kurz
+sein. Heute sind sie frei; und ihr erstes Geschäft als freie Leute
+ist, in großer Gesellschaft und vor ihrem bisherigen Herrn lange und
+offen sprechen zu dürfen. Sie fühlen sich nicht wenig geehrt dadurch,
+und ihre unverhoffte Freilassung wird ihnen dadurch nur um so werter."
+
+"Siehe", unterbrach ihn der Schreiber, "dort steht der vierte Sklave
+auf; der Aufseher hat ihm wohl schon das Zeichen gegeben, lasset uns
+niedersetzen und hören!"
+
+(Im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der gebackene Kopf"
+von James Justinian Morier)
+
+Der Scheik äußerte seinen Beifall über diese Erzählung. Er hatte,
+was in Jahren nicht geschehen war, einigemal gelächelt, und seine
+Freunde nahmen dies als eine gute Vorbedeutung. Dieser Eindruck war
+den jungen Männern und dem Alten nicht entgangen. Auch sie freuten
+sich darüber, daß der Scheik, auf eine halbe Stunde wenigstens,
+zerstreut wurde; denn sie ehrten seinen Kummer und die Trauer um sein
+Unglück, sie fühlten ihre Brust beengt, wenn sie ihn so ernst und
+stille seinem Grame nachhängen sahen, und gehobener, freudiger waren
+sie, als die Wolke seiner Stirne auf Augenblicke vorüberzog.
+
+"Ich kann mir wohl denken", sagte der Schreiber, "daß diese Erzählung
+günstigen Eindruck auf ihn machen mußte; es liegt so viel Sonderbares,
+Komisches darin, daß selbst der heilige Derwisch auf dem Berge
+Libanon, der in seinem Leben noch nie gelacht hat, laut auflachen
+müßte."
+
+"Und doch", sprach der Alte lächelnd, "und doch ist weder Fee noch
+Zauberer darin erschienen; kein Schloß von Kristall, keine Genien,
+die wunderbare Speisen bringen, kein Vogel Rock, noch ein
+Zauberpferd--"
+
+"Ihr beschämt uns", rief der junge Kaufmann, "weil wir mit so vielem
+Eifer von jenen Märchen unserer Kindheit sprachen, die uns noch jetzt
+so wunderbar anziehen, weil wir jene Momente aufzählten, wo uns das
+Märchen so mit sich hinwegriß, daß wir darin zu leben wähnten, weil
+wir dies so hoch anschlugen, wollet Ihr uns beschämen und auf feine
+Art zurechtweisen; nicht so?"
+
+"Mitnichten! Es sei ferne von mir, eure Liebe zum Märchen zu tadeln;
+es zeugt von einem unverdorbenen Gemüt, daß ihr euch noch so recht
+gemütlich in den Gang des Märchens versetzen konntet, daß ihr nicht
+wie andere vornehm darauf, als auf ein Kinderspiel, herabsehet, daß
+ihr euch nicht langweilt und lieber ein Roß zureiten oder auf dem
+Sofa behaglich einschlummern oder halb träumend die Wasserpfeife
+rauchen wolltet, statt dergleichen euer Ohr zu schenken. Es sei
+ferne von mir, euch darum zu tadeln; aber das freut mich, daß auch
+eine andere Art von Erzählung euch fesselt und ergötzt, eine andere
+Art als die, welche man gewöhnlich Märchen nennt."
+
+"Wie versteht Ihr dies? Erklärt uns deutlicher, was Ihr meinet.
+Eine andere Art als das Märchen?" sprachen die Jünglinge unter sich.
+
+"Ich denke, man muß einen gewissen Unterschied machen zwischen
+Märchen und Erzählungen, die man im gemeinen Leben Geschichten nennt.
+Wenn ich euch sage, ich will euch ein Märchen erzählen, so werdet
+ihr zum voraus darauf rechnen, daß es eine Begebenheit ist, die von
+dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift und sich in einem Gebiet
+bewegt, das nicht mehr durchaus irdischer Natur ist. Oder, um
+deutlicher zu sein, ihr werdet bei dem Märchen auf die Erscheinung
+anderer Wesen als allein sterblicher Menschen rechnen können; es
+greifen in das Schicksal der Person, von welcher das Märchen handelt,
+fremde Mächte, wie Feen und Zauberer, Genien und Geisterfürsten, ein;
+die ganze Erzählung nimmt eine außergewöhnliche, wunderbare Gestalt
+an und ist ungefähr anzuschauen wie die Gewebe unserer Teppiche oder
+viele Gemälde unserer besten Meister, welche die Franken Arabesken
+nennen. Es ist dem echten Muselmann verboten, den Menschen, das
+Geschöpf Allahs, sündigerweise wiederzuschöpfen in Farben und
+Gemälden, daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene
+Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch
+oder Strauch ausgehen, kurz, Figuren, die an das gewöhnliche Leben
+erinnern und dennoch ungewöhnlich sind; ihr versteht mich doch?" "Ich
+glaube, Eure Meinung zu erraten", sagte der Schreiber, "doch fahret
+weiter fort!"
+
+"Von dieser Art ist nun das Märchen; fabelhaft, ungewöhnlich,
+überraschend; weil es dem gewöhnlichen Leben fremd ist, wird es oft
+in fremde Länder oder in ferne, längst vergangene Zeiten verschoben.
+Jedes Land, jedes Volk hat solche Märchen, die Türken so gut als die
+Perser, die Chinesen wie die Mongolen; selbst in Frankenland soll es
+viele geben, wenigstens erzählte mir einst ein gelehrter Giaur davon;
+doch sind sie nicht so schön als die unsrigen; denn statt schöner
+Feen, die in prachtvollen Palästen wohnen, haben sie zauberhafte
+Weiber, die sie Hexen nennen, heimtückisches, häßliches Volk, das in
+elenden Hütten wohnt, und statt in einem Muschelwagen, von Greisen
+gezogen, durch die blauen Lüfte zu fahren, reiten sie auf einem Besen
+durch den Nebel. Sie haben auch Gnomen und Erdgeister, das sind
+kleine verwachsene Kerlchen, die allerlei Spuk machen. Das sind nun
+die Märchen; ganz anders ist es aber mit den Erzählungen, die man
+gemeinhin Geschichten nennt. Diese bleiben ganz ordentlich auf der
+Erde, tragen sich im gewöhnlichen Leben zu, und wunderbar ist an
+ihnen meistens nur die Verkettung der Schicksale eines Menschen, der
+nicht durch Zauber, Verwünschung oder Feenspuk, wie im Märchen,
+sondern durch sie selbst oder die sonderbare Fügung der Umstände
+reich oder arm, glücklich oder unglücklich wird."
+
+"Richtig!" erwiderte einer der jungen Leute. "Solche reinen
+Geschichten finden sich auch in den herrlichen Erzählungen der
+Scheherazade, die man ŽTausendundeine NachtŽ nennt. Die meisten
+Begebenheiten des Königs Harun Al-Raschid und seines Wesirs sind
+dieser Art. Sie gehen verkleidet aus und sehen diesen oder jenen
+höchst sonderbaren Vorfall, der sich nachher ganz natürlich auflöst."
+
+"Und dennoch werdet ihr gestehen müssen", fuhr der Alte fort, "daß
+jene Geschichten nicht der schlechteste Teil der ŽTausendundeine
+NachtŽ sind. Und doch, wie verschieden sind sie in ihren Ursachen,
+in ihrem Gang, in ihrem ganzen Wesen von den Märchen eines Prinzen
+Biribinker oder der drei Derwische mit einem Auge oder des Fischers,
+der den Kasten, verschlossen mit dem Siegel Salomos, aus dem Meere
+zieht! Aber am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden
+ihren eigentümlichen Reiz gibt, nämlich das, daß wir etwas
+Auffallendes, Außergewöhnliches miterleben. Bei dem Märchen liegt
+dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften
+Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben, bei den Geschichten
+geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf
+überraschende, ungewöhnliche Weise."
+
+"Sonderbar!" rief der Schreiber, "sonderbar, daß uns dann dieser
+natürliche Gang der Dinge ebenso anzieht wie der übernatürliche im
+Märchen; worin mag dies doch liegen?"
+
+"Das liegt in der Schilderung des einzelnen Menschen", antwortete der
+Alte; "im Märchen häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch
+handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren
+und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können. Anders bei
+der gewöhnlichen Erzählung, wo die Art, wie jeder seinem Charakter
+gemäß spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende ist. So
+die Geschichte von dem gebackenen Kopf, die wir soeben gehört haben.
+Der Gang der Erzählung wäre im ganzen nicht auffallend, nicht
+überraschend, wäre er nicht verwickelt durch den Charakter der
+Handelnden. Wie köstlich zum Beispiel ist die Figur des Schneiders.
+Man glaubt den alten, gekrümmten Mantelflicker vor sich zu sehen. Er
+soll zum erstenmal in seinem Leben einen tüchtigen Schnitt machen,
+ihm und seinem Weibe lacht schon zum voraus das Herz, und sie
+traktieren sich mit recht schwarzem Kaffee. Welches Gegenstück zu
+dieser behaglichen Ruhe ist dann jene Szene, wo sie den Pack begierig
+öffnen und den greulichen Kopf erblicken. Und nachher glaubt man ihn
+nicht zu sehen und zu hören, wie er auf dem Minarett umherschleicht,
+die Gläubigen mit meckernder Stimme zum Gebet ruft und bei Erblickung
+des Sklaven plötzlich, wie vom Donner gerührt, verstummt? Dann der
+Barbier! Sehet ihr ihn nicht vor euch, den alten Sünder, der,
+während er die Seife anrührt, viel schwatzt und gerne verbotenen Wein
+trinkt? Sehet ihr ihn nicht, wie er dem sonderbaren Kunden das
+Barbierschüsselchen unterhält und--den kalten Schädel berührt? Nicht
+minder gut, wenn auch nur angedeutet, ist der Sohn des Bäckers, der
+verschmitzte Junge, und der Bratenmacher Yanakil. Ist nicht das
+Ganze eine ununterbrochene Reihe komischer Szenen, scheint nicht der
+Gang der Geschichte, so ungewöhnlich er ist, sich ganz natürlich zu
+fügen? Und warum? Weil die einzelnen Figuren richtig gezeichnet
+sind und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muß, wie es wirklich
+geschieht."
+
+"Wahrlich, Ihr habt recht!" erwiderte der junge Kaufmann, "ich habe
+mir nie Zeit genommen, so recht darüber nachzudenken, habe alles nur
+so gesehen und an mir vorübergehen lassen, habe mich an dem einen
+ergötzt, das andere langweilig gefunden, ohne gerade zu wissen, warum.
+Aber Ihr gebt uns da einen Schlüssel, der uns das Geheimnis öffnet,
+einen Probierstein, worauf wir die Probe machen und richtig urteilen
+können."
+
+"Tuet das immer", antwortete der Alte, "und euer Genuß wird sich
+vergrößern, wenn ihr nachdenken lernet über das, was ihr gehört.
+Doch siehe, dort erhebt sich wieder ein neuer, um zu erzählen."
+
+So war es, und der fünfte Sklave begann:
+
+
+
+
+Der arme Stephan
+
+Gustav Adolf Schöll
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schöll.
+
+
+
+
+
+
+Der gebackene Kopf
+
+James Justinian Morier
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der gebackene
+Kopf" von James Justinian Morier.
+
+
+
+
+
+
+Der Affe als Mensch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+"Herr! ich bin ein Deutscher von Geburt und habe mich in Euren Landen
+zu kurz aufgehalten, als daß ich ein persisches Märchen oder eine
+ergötzliche Geschichte von Sultanen und Wesiren erzählen könnte. Ihr
+müßt mir daher schon erlauben, daß ich etwas aus meinem Vaterland
+erzähle, was Euch vielleicht auch einigen Spaß macht. Leider sind
+unsere Geschichten nicht immer so vornehm wie die Euren, das heißt,
+sie handeln nicht von Sultanen oder unseren Königen, nicht von
+Wesiren und Paschas, was man bei uns Justiz- und Finanzminister, auch
+Geheimräte und dergleichen nennt, sondern sie leben, wenn sie nicht
+von Soldaten handeln, gewöhnlich ganz bescheiden und unter den
+Bürgern.
+
+Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel, wo
+ich geboren und erzogen bin. Es ist ein Städtchen, wie sie alle sind.
+In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite
+ein kleines, altes Rathaus, umher auf dem Markt die Häuser des
+Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar
+engen Straßen wohnen die übrigen Menschen. Alles kennt sich,
+jedermann weiß, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer
+oder der Bürgermeister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel
+hat, so weiß es schon am Mittagessen die ganze Stadt. Nachmittags
+kommen dann die Frauen zueinander in die Visite, wie man es nennt,
+besprechen sich bei starkem Kaffee und süßem Kuchen über diese große
+Begebenheit, und der Schluß ist, daß der Oberpfarrer wahrscheinlich
+in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel gewonnen habe, daß der
+Bürgermeister sich 'schmieren' lasse oder daß der Doktor vom
+Apotheker einige Goldstücke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu
+verschreiben. Ihr könnet Euch denken, Herr, wie unangenehm es für
+eine so wohleingerichtete Stadt wie Grünwiesel sein mußte, als ein
+Mann dorthin zog, von dem niemand wußte, woher er kam, was er wollte,
+von was er lebte. Der Bürgermeister hatte zwar seinen Paß gesehen,
+ein Papier, das bei uns jedermann haben muß"
+
+"Ist es denn so unsicher auf den Straßen", unterbrach den Sklaven der
+Scheik, "daß Ihr einen Ferman Eures Sultans haben müsset, um die
+Räuber in Respekt zu setzen?"
+
+"Nein, Herr", entgegnete jener, "diese Papiere halten keinen Dieb von
+uns ab, sondern es ist nur der Ordnung wegen, daß man überall weiß,
+wen man vor sich hat."
+
+Nun, der Bürgermeister hatte den Paß untersucht und in einer
+Kaffeegesellschaft bei Doktors geäußert, der Paß sei zwar ganz
+richtig visiert von Berlin bis Grünwiesel, aber es stecke doch was
+dahinter; denn der Mann sehe etwas verdächtig aus. Der Bürgermeister
+hatte das größte Ansehen in der Stadt, kein Wunder, daß von da an der
+Fremde als eine verdächtige Person angesehen wurde. Und sein
+Lebenswandel konnte meine Landsleute nicht von dieser Meinung
+abbringen. Der fremde Mann mietete sich für einige Goldstücke ein
+ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen ganzen Wagen voll
+sonderbarer Gerätschaften, als Öfen, Kunstherde, große Tiegel und
+dergleichen hineinschaffen und lebte von da an ganz für sich allein.
+Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele
+in sein Haus als ein alter Mann aus Grünwiesel, der ihm seine
+Einkäufe in Brot, Fleisch und Gemüse besorgen mußte. Doch auch
+dieser durfte nur in den Flur des Hauses kommen, und dort nahm der
+fremde Mann das Gekaufte in Empfang.
+
+Ich war ein Knabe von zehn Jahren, als der Mann in meiner Vaterstadt
+einzog, und ich kann mir noch heute, als wäre es gestern geschehen,
+die Unruhe denken, die dieser Mann im Städtchen verursachte. Er kam
+nachmittags nicht, wie andere Männer, auf die Kegelbahn, er kam
+abends nicht ins Wirtshaus, um, wie die übrigen, bei einer Pfeife
+Tabak über die Zeitung zu sprechen. Umsonst luden ihn nach der Reihe
+der Bürgermeister, der Friedensrichter, der Doktor und der
+Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein, er ließ sich immer
+entschuldigen. Daher hielten ihn einige für verrückt, andere für
+einen Juden, eine dritte Partie behauptete steif und fest, er sei ein
+Zauberer oder Hexenmeister. Ich wurde achtzehn, zwanzig Jahre alt,
+und noch immer hieß der Mann in der Stadt der fremde Herr.
+
+Es begab sich aber eines Tages, daß Leute mit fremden Tieren in die
+Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat,
+welches sich verbeugen kann, einen Bären, der tanzt, einige Hunde und
+Affen, die in menschlichen Kleidern komisch genug aussehen und
+allerlei Künste machen. Diese Leute durchziehen gewöhnlich die Stadt,
+halten an den Kreuzstraßen und Plätzen, machen mit einer kleinen
+Trommel und einer Pfeife eine übeltönende Musik, lassen ihre Truppe
+tanzen und springen und sammeln dann in den Häusern Geld ein. Die
+Truppe aber, die diesmal sich in Grünwiesel sehen ließ, zeichnete
+sich durch einen ungeheuren Orang-Utan aus, der beinahe Menschengröße
+hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Künste zu machen
+verstand. Diese Hunds- und Affenkomödie kam auch vor das Haus des
+fremden Herrn; er erschien, als die Trommel und Pfeife ertönten, von
+Anfang ganz unwillig hinter den dunklen, vom Alter angelaufenen
+Fenstern; bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns
+Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich über die Künste des
+Orang-Utans; ja, er gab für den Spaß ein so großes Silberstück, daß
+die ganze Stadt davon sprach.
+
+Am anderen Morgen zog die Tierbande weiter; das Kamel mußte viele
+Körbe tragen, in welchen die Hunde und Affen ganz bequem saßen, die
+Tiertreiber aber und der große Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum
+aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde
+Herr auf die Post, verlangte zu großer Verwunderung des Postmeisters
+einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus den Weg
+hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Städtchen ärgerte sich,
+daß man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon
+Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam; es saß
+aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrückt
+und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der
+Torschreiber hielt es für seine Pflicht, den anderen Fremden
+anzureden und um seinen Paß zu bitten; er antwortete aber sehr grob,
+indem er in einer ganz unverständlichen Sprache brummte.
+
+"Es ist mein Neffe", sagte der fremde Mann freundlich zum
+Torschreiber, indem er ihm einige Silbermünzen in die Hand drückte,
+"es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig Deutsch; er hat
+soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, daß wir hier aufgehalten
+werden."
+
+"Ei, wenn es Dero Neffe ist", antwortete der Torschreiber, "so kann
+er wohl ohne Paß hereinkommen; er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen
+wohnen?"
+
+"Allerdings", sagte der Fremde, "und hält sich wahrscheinlich längere
+Zeit hier auf."
+
+Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde
+Herr und sein Neffe fuhren ins Städtchen. Der Bürgermeister und die
+ganze Stadt waren übrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber.
+Er hätte doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen
+sich merken sollen; daraus hätte man dann leicht erfahren, was für
+ein Landeskind er und der Onkel wären. Der Torschreiber versicherte
+aber, daß es weder Französisch oder Italienisch sei, wohl aber habe
+es so breit geklungen wie Englisch, und wenn er nicht irre, so habe
+der junge Herr gesagt: "Goddam!" So half der Torschreiber sich selbst
+aus der Not und dem jungen Manne zu einem Namen; denn man sprach
+jetzt nur von dem jungen Engländer im Städtchen.
+
+Aber auch der junge Engländer wurde nicht sichtbar, weder auf der
+Kegelbahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere
+Weise viel zu schaffen.--Es begab sich nämlich oft, daß von dem sonst
+so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Lärm
+ausging, daß die Leute haufenweise vor dem Hause stehenblieben und
+hinaufsahen. Man sah dann den jungen Engländer, angetan mit einem
+roten Frack und grünen Beinkleidern, mit struppichtem Haar und
+schrecklicher Miene unglaublich schnell an den Fenstern hin und her
+durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten
+Schlafrock, eine Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft,
+aber einigemal kam es doch der Menge auf der Straße vor, als müsse er
+den Jungen erreicht haben; denn man hörte klägliche Angsttöne und
+klatschende Peitschenhiebe die Menge. An dieser grausamen Behandlung
+des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Städtchens so
+lebhaften Anteil, daß sie endlich den Bürgermeister bewogen, einen
+Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein
+Billett, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in
+ziemlich derben Ausdrücken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner
+solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen
+Schutz zu nehmen.
+
+Wer war aber mehr erstaunt als der Bürgermeister, wie er den Fremden
+selbst, zum erstenmal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah. Der
+alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der
+Eltern des Jünglings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei
+sonst ein kluger, anstelliger Junge, äußerte er, aber die Sprachen
+erlerne er sehr schwer; er wünsche so sehnlich, seinem Neffen das
+Deutsche recht geläufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu
+nehmen, ihn in die Gesellschaft von Grünwiesel einzuführen, und
+dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, daß man oft
+nichts Besseres tun könne, als ihn gehörig durchzupeitschen. Der
+Bürgermeister fand sich durch diese Mitteilung völlig befriedigt,
+riet dem Alten zur Mäßigung und erzählte abends im Bierkeller, daß er
+selten einen so unterrichteten, artigen Mann gefunden als den Fremden;
+"es ist nur schade", setzte er hinzu, "daß er so wenig in
+Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig
+Deutsch spricht, besucht er meine Cercles öfter."
+
+Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Städtchens völlig
+umgeändert. Man hielt den Fremden für einen artigen Mann, sehnte
+sich nach seiner näheren Bekanntschaft und fand es ganz in der
+Ordnung, wenn hier und da in dem öden Hause ein gräßliches Geschrei
+aufging. "Er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen
+Sprachlehre", sagten die Grünwiesler und blieben nicht mehr stehen.
+Nach einem Vierteljahr ungefähr schien der Unterricht im Deutschen
+beendigt; denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es
+lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen
+Leuten Unterricht im Tanzen gab. Diesen ließ der Fremde zu sich
+rufen und sagte ihm, daß er seinen Neffen im Tanzen unterrichten
+lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, daß derselbe zwar sehr
+gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er
+habe nämlich früher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und
+zwar nach so sonderbaren Touren, daß er sich nicht füglich in der
+Gesellschaft produzieren könne; der Neffe halte sich aber eben
+deswegen für einen großen Tänzer, obgleich sein Tanz nicht die
+entfernteste Ähnlichkeit mit Walzer oder Galopp (Tänze, die man in
+meinem Vaterlande tanzt, o Herr!), nicht einmal Ähnlichkeit mit
+Ekossaise oder Française habe. Er versprach übrigens einen Taler für
+die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnügen bereit, den
+Unterricht des eigensinnigen Zöglings zu übernehmen.
+
+Es gab, wie der Franzose unterderhand versicherte, auf der Welt
+nichts Sonderbareres als diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich
+großer, schlanker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte,
+erschien in einem roten Frack, schön frisiert, in grünen, weiten
+Beinkleidern und glasierten Handschuhen. Er sprach wenig und mit
+fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann
+verfiel er aber oft plötzlich in fratzenhafte Sprünge, tanzte die
+kühnsten Touren, wobei er Entrechats machte, daß dem Tanzmeister
+Hören und Sehen verging; wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die
+zierlichen Tanzschuhe von den Füßen, warf sie dem Franzosen an den
+Kopf und setzte nun auf allen Vieren im Zimmer umher. Bei diesem
+Lärm fuhr dann der alte Herr plötzlich in einem weiten, roten
+Schlafrock, eine Mütze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer
+heraus und ließ die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des
+Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an, schrecklich zu heulen,
+sprang auf Tische und hohe Kommoden, ja selbst an den Kreuzstöcken
+der Fenster hinauf und sprach eine fremde, seltsame Sprache. Der
+Alte im roten Schlafrock aber ließ sich nicht irremachen, faßte ihn
+am Bein, riß ihn herab, bleute ihn durch und zog ihm mittels einer
+Schnalle die Halsbinde fester an, worauf er immer wieder artig und
+manierlich wurde und die Tanzstunde ohne Störung weiterging.
+
+Als aber der Tanzmeister seinen Zögling so weit gebracht hatte, daß
+man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie
+umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des öden
+Hauses auf einen Tisch sich setzen mußte. Der Tanzmeister stellte
+dann die Dame vor, indem ihm der alte Herr einen Frauenrock von Seide
+und einen ostindischen Schal anziehen ließ; der Neffe forderte ihn
+auf und fing nun an, mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein
+unermüdlicher, rasender Tänzer, er ließ den Meister nicht aus seinen
+langen Armen; ob er ächzte und schrie, er mußte tanzen, bis er
+ermattet umsank oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der
+Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe
+unter den Boden, aber der Taler, den er jedesmal richtig ausbezahlt
+bekam, der gute Wein, den der Alte aufwartete, machten, daß er immer
+wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte,
+nicht mehr in das öde Haus zu gehen.
+
+Die Leute in Grünwiesel sahen aber die Sache ganz anders an als der
+Franzose. Sie fanden, daß der junge Mann viele Anlagen zum
+Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Städtchen freuten
+sich, bei dem großen Mangel an Herren einen so flinken Tänzer für den
+nächsten Winter zu bekommen.
+
+Eines Morgens berichteten die Mägde, die vom Markte heimkehrten,
+ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem öden Hause sei
+ein prächtiger Glaswagen gestanden, mit schönen Pferden bespannt, und
+ein Bediensteter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei
+die Türe des öden Hauses aufgegangen und zwei schön gekleidete Herren
+herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere
+wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt
+und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der
+Bedienstete hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle
+sich vor, sei geradezu auf Bürgermeisters Haus zugefahren.
+
+Als die Frauen solches von ihren Mägden erzählen hörten, rissen sie
+eilends die Küchenschürzen und die etwas unsauberen Hauben ab und
+versetzten sich in Staat; "es ist nichts gewisser", sagten sie zu
+ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchszimmer, das
+zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuräumen, "es ist nichts
+gewisser, als daß der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einführt.
+Der alte Narr war seit zehn Jahren nicht so artig, einen Fuß in
+unser Haus zu setzen, aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der
+ein charmanter Mensch sein soll." So sprachen sie und ermahnten ihre
+Söhne und Töchter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden
+kämen, sich gerade zu halten und sich auch einer besseren Aussprache
+zu bedienen als gewöhnlich. Und die klugen Frauen im Städtchen
+hatten nicht unrecht geraten; denn nach der Reihe fuhr der alte Herr
+mit seinem Neffen umher; sich und ihn in die Gewogenheit der Familien
+zu empfehlen.
+
+Man war überall ganz erfüllt von den beiden Fremden und bedauerte,
+nicht schon früher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben.
+Der alte Herr zeigte sich als ein würdiger, sehr vernünftiger Mann,
+der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig lächelte, so daß man
+nicht gewiß war, ob es ihm Ernst sei oder nicht, aber er sprach über
+das Wetter, über die Gegend, über das Sommervergnügen auf dem Keller
+am Berge so klug und durchdacht, daß jedermann davon bezaubert war.
+Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er gewann alle Herzen für sich.
+
+Man konnte zwar, was sein Äußeres betraf, sein Gesicht nicht schön
+nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzusehr
+hervor, und der Teint war sehr bräunlich; auch machte er zuweilen
+allerlei sonderbare Grimassen, drückte die Augen zu und fletschte mit
+den Zähnen; aber dennoch fand man den Schnitt seiner Züge ungemein
+interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als
+seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib,
+aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit großer Lebendigkeit im
+Zimmer umher, warf sich hier aufs Sofa, dort in einen Lehnstuhl und
+streckte die Beine von sich; aber was man bei einem anderen jungen
+Mann höchst gemein und unschicklich gefunden hätte, galt bei dem
+Neffen für Genialität.
+
+"Er ist ein Engländer", sagte man, "so sind sie alle; ein Engländer
+kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, während zehn Damen
+keinen Platz haben und umherstehen müssen, einem Engländer kann man
+so etwas nicht übelnehmen." Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war
+er sehr fügsam; denn wenn er anfing, im Zimmer umherzuhüpfen oder,
+wie er gerne tat, die Füße auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte
+ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie
+konnte man ihm so etwas übelnehmen, als vollends der Onkel in jedem
+Haus zu der Dame sagte: "Mein Neffe ist noch ein wenig roh und
+ungebildet; aber ich verspreche mir viel von der Gesellschaft, die
+wird ihn gehörig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich
+Ihnen aufs angelegenste."
+
+So war der Neffe also in die Welt eingeführt, und ganz Grünwiesel
+sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von
+diesem Ereignis. Der alte Herr blieb aber hierbei nicht stehen; er
+schien seine Denk- und Lebensart gänzlich geändert zu haben.
+Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berg,
+wo die vornehmeren Herren von Grünwiesel Bier tranken und sich am
+Kegelschieben ergötzten. Der Neffe zeigte sich dort als ein flinker
+Meister im Spiel; denn er warf nie unter fünf oder sechs; hier und da
+schien zwar ein sonderbarer Geist über ihn zu kommen; es konnte ihm
+einfallen, daß er pfeilschnell mit der Kugel hinaus- und unter die
+Kegel hineinfuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder
+wenn er den Kranz oder den König geworfen, stand er plötzlich auf
+seinem schön frisierten Haar und streckte die Beine in die Höhe, oder
+wenn ein Wagen vorbeifuhr, saß er, ehe man sich's dessen versah, oben
+auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr so ein
+Stückchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.
+
+Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Bürgermeister und
+die anderen Männer sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der
+Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner
+Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfüßig gewesen
+zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten,
+ungemein.
+
+Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig über ihn ärgerten
+und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Engländer
+allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte
+Herr pflegte nämlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen
+Hirsch, das Wirtshaus des Städtchens, zu kommen. Obgleich der Neffe
+noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein Alter,
+setzte sich hinter sein Glas, tat eine ungeheure Brille auf, zog
+eine gewaltige Pfeife heraus, zündete sie an und dampfte unter allen
+am ärgsten. Wurde nun über die Zeitungen, über Krieg und Frieden
+gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Bürgermeister jene, waren
+die anderen Herren ganz erstaunt über so tiefe politische Kenntnisse,
+so konnte es dem Neffen plötzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu
+sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe
+ablegte, auf den Tisch und gab dem Bürgermeister und dem Doktor nicht
+undeutlich zu verstehen, daß sie von diesem allem nichts genau wüßten,
+daß er diese Sachen ganz anders gehört habe und tiefere Einsicht
+besitze. Er gab dann in einem sonderbar gebrochenen Deutsch seine
+Meinung preis, die alle, zum großen Ärgernis des Bürgermeisters, ganz
+trefflich fanden; denn er mußte als Engländer natürlich alles besser
+wissen.
+
+Setzten sich dann der Bürgermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den
+sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so
+rückte der Neffe hinzu, schaute dem Bürgermeister mit seiner großen
+Brille über die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug,
+sagte dem Doktor, so und so müsse er ziehen, so daß beide Männer
+heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Bürgermeister
+ärgerlich eine Partie an, um ihn gehörig matt zu machen, denn er
+hielt sich für einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem
+Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und
+manierlich wurde und den Bürgermeister matt machte.
+
+Man hatte bisher in Grünwiesel beinahe jeden Abend Karten gespielt,
+die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbärmlich,
+setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so
+fein wie er, söhnte aber die beleidigten Herren gewöhnlich dadurch
+wieder aus, daß er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich
+auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen; denn
+"er ist ja ein Engländer, also von Hause aus reich", sagten sie und
+schoben die Dukaten in die Tasche.
+
+So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und
+Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit
+Menschengedenken nicht erinnern, einen jungen Mann dieser Art in
+Grünwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung,
+die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, daß der Neffe irgend
+etwas gelernt hätte als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm,
+wie man zu sagen pflegt, böhmische Dörfer. Bei einem
+Gesellschaftsspiel in Bürgermeisters Hause sollte er etwas schreiben,
+und es fand sich, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte;
+in der Geographie machte er die auffallendsten Schnitzer; denn es kam
+ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich oder eine
+dänische nach Polen zu versetzen, er hatte nichts gesehen, nichts
+studiert, und der Oberpfarrer schüttelte oft bedenklich den Kopf über
+die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles
+trefflich, was er tat oder sagte; denn er war so unverschämt, immer
+recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: "Ich
+verstehe das besser!"
+
+So kam der Winter heran, und jetzt erst trat der Neffe mit noch
+größerer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht
+er zugegen war, man gähnte, wenn ein vernünftiger Mann etwas sagte;
+wenn aber der Neffe selbst das törichteste Zeug in schlechtem Deutsch
+vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, daß der treffliche
+junge Mann auch ein Dichter war; denn nicht leicht verging ein Abend,
+an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der
+Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die
+von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht
+und ohne Sinn, einen anderen Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt
+gelesen haben; aber der Neffe ließ sich nicht irremachen, er las und
+las, machte dann auf die Schönheiten seiner Verse aufmerksam, und
+jedesmal erfolgte rauschender Beifall.
+
+Sein Triumph waren aber die Grünwieseler Bälle. Es konnte niemand
+anhaltender, schneller tanzen als er; keiner machte so kühne und
+ungemein zierliche Spränge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel
+immer aufs prächtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm
+die Kleider nicht recht am Leibe sitzen wollten, fand man dennoch,
+daß ihn alles allerliebst kleide. Die Männer fanden sich zwar bei
+diesen Tänzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat.
+Sonst hatte immer der Bürgermeister in eigener Person den Ball
+eröffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die übrigen
+Tänze anzuordnen aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies
+alles ganz anders. Ohne viel zu fragen, nahm er die nächste beste
+Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr oben an, machte alles, wie es
+ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkönig. Weil aber die
+Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften
+die Männer nichts dagegen einwenden, und der Neffe blieb bei seiner
+selbstgewählten Würde.
+
+Das größte Vergnügen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu
+gewähren; er verwandte kein Auge von seinem Neffen, lächelte immer in
+sich hinein, und wenn alle Welt herbeiströmte, um ihm über den
+anständigen, wohlgezogenen Jüngling Lobsprüche zu erteilen, so konnte
+er sich vor Freude gar nicht fassen; er brach dann in ein lustiges
+Gelächter aus und bezeugte sich wie närrisch; die Grünwieseler
+schrieben diese sonderbaren Ausbrüche der Freude seiner großen Liebe
+zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hier und da
+mußte er auch sein väterliches Ansehen gegen den Neffen anwenden.
+Denn mitten in den zierlichsten Tänzen konnte es dem jungen Mann
+einfallen, mit einem kühnen Sprung auf die Tribüne, wo die
+Stadtmusikanten saßen, zu setzen, dem Organisten den Kontrabaß aus
+der Hand zu reißen und schrecklich darauf umherzukratzen; oder er
+wechselte auf einmal und tanzte auf den Händen, indem er die Beine in
+die Höhe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu
+nehmen, machte ihm dort ernstliche Vowürfe und zog ihm die Halsbinde
+fester an, daß er wieder ganz gesittet wurde.
+
+So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Bällen. Wie es
+aber mit den Sitten zu geschehen pflegt, die schlechten verbreiten
+sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode,
+wenn sie auch höchst lächerlich sein solle, hat etwas Ansteckendes an
+sich für junge Leute, die noch nicht über sich selbst und die Welt
+nachgedacht haben. So war es auch in Grünwiesel mit dem Neffen und
+seinen sonderbaren Sitten. Als nämlich die junge Welt sah, wie
+derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und
+Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen Ältere eher geschätzt
+als getadelt werde, daß man dies alles sogar sehr geistreich finde,
+so dachten sie bei sich: "Es ist mir ein leichtes, auch solch ein
+geistreicher Schlingel zu werden." Sie waren sonst fleißige,
+geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: "Zu was hilft
+Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkömmt?" Sie
+ließen die Bücher liegen und trieben sich überall umher auf Plätzen
+und Straßen. Sonst waren sie artig gewesen und höflich gegen
+jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anständig und
+bescheiden geantwortet; jetzt standen sie in die Reihe der Männer,
+schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis und lachten selbst dem
+Bürgermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten,
+alles viel besser zu wissen.
+
+Sonst hatten die jungen Grünwieser Abscheu gehegt gegen rohes und
+gemeines Wesen. Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten
+aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen
+umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, große
+Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten nun, gemachte Leute
+zu sein; denn sie sahen ja aus wie der berühmte Neffe. Zu Hause oder
+wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefeln und Sporen auf dem
+Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft oder
+stützten die Wangen in beide Fäuste, die Ellbogen aber auf den Tisch,
+was nun überaus reizend anzusehen war. Umsonst sagten ihnen ihre
+Mütter und Freunde, wie töricht, wie unschicklich dies alles sei, sie
+beriefen sich auf das glänzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte
+man ihnen vor, daß man dem Neffen, als einem jungen Engländer, eine
+gewisse Nationalroheit verzeihen müsse, die jungen Grünwieseler
+behaupteten, ebensogut als der beste Engländer das Recht zu haben,
+auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie
+durch das böse Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten
+in Grünwiesel völlig untergingen.
+
+Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben
+dauerte nicht lange; denn folgender Vorfall veränderte auf einmal die
+ganze Szene: Die Wintervergnügungen sollte ein großes Konzert
+beschließen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten
+Musikfreunden in Grünwiesel aufgeführt werden sollte. Der
+Bürgermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz
+vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte,
+blies die Flöte, einige Jungfrauen aus Grünwiesel hatten Arien
+einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da äußerte der
+alte Fremde, daß zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden
+würde, es fehle aber offenbar an einem Duett, und ein Duett müsse in
+jedem ordentlichen Konzert notwendigerweise vorkommen. Man war etwas
+betreten über diese Äußerung; die Tochter des Bürgermeisters sang
+zwar wie eine Nachtigall; aber wo einen Herrn herbekommen, der mit
+ihr ein Duett singen könnte? Man wollte endlich auf den alten
+Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Baß gesungen hatte;
+der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht nötig, indem sein
+Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt über
+diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes; er mußte zur
+Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die
+man für englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in
+der Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem
+die Ohren der Grünwieseler durch das Konzert erquickt werden sollten.
+
+Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht
+beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn
+eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln über seinen Neffen
+auf. "Er ist eine gute Seele, mein Neffe", sagte er, "aber hier und
+da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles
+Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, daß ich dem Konzert nicht
+beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß
+wohl, warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht
+geistiger Mutwillen ist, sondern es ist körperlich, es liegt in
+seiner Natur. Wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in
+solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte oder
+daß er durchaus den Kontrabaß streichen wollte oder dergleichen,
+wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen
+oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen,
+Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird."
+
+Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach,
+im Fall der Not also zu tun, wie er ihm geraten.
+
+Der Konzertsaal war gedrängt voll; denn ganz Grünwiesel und die
+Umgegend hatten sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute,
+Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit
+zahlreicher Familie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den
+Grünwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich
+vortrefflich; nach ihnen trat der Bürgermeister auf, der das
+Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies;
+nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall,
+und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem
+Fagott sich hören ließ.
+
+Die erste Abteilung des Konzertes war vorbei, und jedermann war nun
+auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des
+Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in
+einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die
+Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich
+nämlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der
+für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er
+streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein
+ungeheueres Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille
+gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er trotz
+des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte.
+Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien; aber
+wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen,
+war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und
+niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darüber zu sagen; die
+vornehme Dame aber mußte auf einem ganz gemeinen Strohsessel mitten
+unter den übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht
+wenig geärgert haben.
+
+Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des
+Organisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem
+Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der
+Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut
+mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die
+absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.
+
+Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett
+vortragen würde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten
+hatten etwas weniges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit
+seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und
+sprach: "Mosjöh, wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?"
+Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die
+beiden anderen folgten ihm an das Notenpult, und die ganze
+Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und
+winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen
+Brillengläser in die Noten und stieß greuliche, jämmerliche Töne aus.
+Der Organist aber schrie ihm zu: "Zwei Töne tiefer, Wertester, C
+müssen Sie singen, C!"
+
+Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf
+ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als
+dies der Bürgermeister sah, dachte er. "Ha, jetzt hat er wieder
+seine körperlichen Zufälle!", sprang hinzu, packte ihn am Hals und
+band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch
+schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr Deutsch, sondern
+eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte große
+Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese
+unangenehme Störung; er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann,
+dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch
+vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor
+Schrecken wie erstarrt stehen; denn statt menschlicher Haut und Farbe
+umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und
+alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und
+sonderbarer fort, fuhr sich mit den glasierten Handschuhen in die
+Haare, zog diese ab, und o Wunder, diese schönen Haare waren eine
+Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf
+erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.
+
+Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat
+Geigen und Klarinette und erschien wie ein Rasender. "Fangt ihn,
+fangt ihn!" rief der Bürgermeister ganz außer sich, "er ist von
+Sinnen, fangt ihn!" Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte
+die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen
+er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich
+gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßte
+ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte
+und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich
+umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar
+nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der
+Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei
+ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief
+dann voll Verwunderung: "Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie
+bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft, das ist ja ein
+Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler für
+ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und balge ihn aus für mein Kabinett."
+
+Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten!
+"Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge
+Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe?" riefen sie und sahen einander
+ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute
+seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es
+war und blieb ein ganz natürlicher Affe.
+
+"Aber, wie ist dies möglich!" rief die Frau Bürgermeister. "Hat er
+mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein
+anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?"
+
+"Was?" eiferte die Frau Doktorin. "Wie? Hat er nicht oft und viel
+den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen
+und geraucht?"
+
+"Wie! Ist es möglich!" riefen die Männer. "Hat er nicht mit uns am
+Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie
+unsereiner?"
+
+"Und wie?" klagten sie alle. "Hat er nicht sogar vorgetanzt auf
+unseren Bällen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist
+Zauberei!" sagten die Bürger. "Ja, es ist Zauberei und teuflischer
+Spuk", sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder
+Affen herbeibrachte. "Seht! In diesem Tuch steckte der ganze Zauber,
+der ihn in unseren Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter
+Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen
+beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand
+lesen?"
+
+Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie
+Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und
+sprach: "Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:
+
+DER--AFFE--SEHR--POSSIERLICH--IST--ZUMAL--WANN--ER--VOM--APFEL--FRISST
+-Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei", fuhr er
+fort, "und es muß exemplarisch bestraft werden."
+
+Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf
+den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs
+Stadtsoldaten trugen den Affen; denn der Fremde sollte sogleich ins
+Verhör genommen werden.
+
+Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde
+Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben
+würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich,
+es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die
+Türe einschlagen und begab sich hierauf in die Zimmer des Fremden.
+Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde
+Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein
+großer, versiegelter Brief, an den Bürgermeister überschrieben, den
+dieser auch sogleich öffnete. Er las:
+
+"Meine lieben Grünwieseler!
+
+Wenn Ihr dies leset, bin ich nicht mehr in Eurem Städtchen, und Ihr
+werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein
+lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mit Euch erlaubte, als
+eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in
+Eure Gesellschaft zu nötigen. Ich selbst fühlte mich zu gut, um Euer
+ewiges Klatschen, um Eure schlechten Sitten und Euer lächerliches
+Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den Ihr
+als meinen Stellvertreter so liebgewonnen habt. Lebet wohl und
+benützet diese Lehre nach Kräften!"
+
+Die Grünwieseler schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr
+Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sei.
+Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil
+sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt
+hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie
+schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt
+wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie
+zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechten, lächerlichen
+Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseler: "Es ist ein Affe." Der
+Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt
+hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß,
+überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn
+und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den
+heutigen Tag zu sehen ist.
+
+Es entstand ein Gelächter im Saal, als der Sklave geendet hatte, und
+auch die jungen Männer lachten mit. "Es muß doch sonderbare Leute
+geben unter diesen Franken, und wahrhaftig, da bin ich lieber beim
+Scheik und Mufti in Alessandria als in Gesellschaft des Oberpfarrers,
+des Bürgermeisters und ihrer törichten Frauen in Grünwiesel!"
+
+"Da hast du gewiß recht gesprochen", erwiderte der junge Kaufmann.
+"In Frankistan möchte ich nicht tot sein. Die Franken sind ein rohes,
+wildes, barbarisches Volk, und für einen gebildeten Türken oder
+Perser müßte es schrecklich sein, dort zu leben."
+
+"Das werdet ihr bald hören", versprach der Alte, "so viel mir der
+Sklavenaufseher sagte, wird der schöne junge Mann dort vieles von
+Frankistan erzählen; denn er war lange dort und ist doch seiner
+Geburt nach ein Muselmann."
+
+"Wie, jener, der zuletzt sitzt in der Reihe? Wahrlich, es ist eine
+Sünde, daß der Herr Scheik diesen losgibt! Es ist der schönste
+Sklave im ganzen Land; schaut nur dieses mutige Gesicht, dieses kühne
+Auge, diese schöne Gestalt! Er kann ihm ja leichte Geschäfte geben;
+er kann ihn zum Fliegenwedeler machen oder zum Pfeifenträger; es ist
+ein Spaß, ein solches Amt zu versehen, und wahrlich, ein solcher
+SkIave ist die Zierde von einem ganzen Haus. Und erst drei Tage hat
+er ihn und gibt ihn weg? Es ist Torheit, es ist Sünde!"
+
+"Tadelt ihn doch nicht, ihn, der weiser ist als ganz Ägypten!" sprach
+der Alte mit Nachdruck. "Sagte ich euch nicht schon, daß er ihn
+losläßt, weil er glaubt, den Segen Allahs dadurch zu verdienen? Ihr
+sagt, er ist schön und wohlgebildet, und ihr sprecht die Wahrheit.
+Aber der Sohn des Scheik, den der Prophet in sein Vaterhaus
+zurückbringen möge, der Sohn des Scheik war ein schöner Knabe und muß
+jetzt auch groß sein und wohlgebildet. Soll er also das Gold sparen
+und einen wohlfeilen, verwachsenen Sklaven hingeben in der Hoffnung,
+seinen Sohn dafür zu bekommen? Wer etwas tun will in der Welt, der
+tut es lieber gar nicht oder--recht!"
+
+"Und sehet, des Scheik Augen sind immer auf diesen Sklaven geheftet;
+ich bemerkte es schon den ganzen Abend. Während der Erzählungen
+streifte oft sein Blick dorthin und verweilte auf den edlen Zügen des
+Freigelassenen. Es muß ihn doch ein wenig schmerzen, ihn freizugeben."
+
+"Denke nicht also von dem Mann! Meinst du, tausend Tomans schmerzen
+ihn, der jeden Tag das Dreifache einnimmt?" sagte der alte Mann.
+"Aber wenn sein Blick mit Kummer auf dem Jüngling weilt, so denkt er
+wohl an seinen Sohn, der in der Fremde schmachtet; er denkt wohl, ob
+dort vielleicht ein barmerziger Mann wohne, der ihn loskaufe und
+zurückschicke zum Vater. "
+
+"Ihr mögt recht haben", erwiderte der junge Kaufmann, "und ich schäme
+mich, daß ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke,
+während Ihr lieber eine schöne Gesinnung unterlegt. Und doch sind
+die Menschen in der Regel schlecht, habt Ihr dies nicht auch gefunden,
+Alter?"
+
+"Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von
+den Menschen", antwortete dieser, "es ging mir gerade wie euch; ich
+lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen,
+mußte selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die
+Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir
+bei, daß Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte,
+daß ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich
+dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und
+siehe--ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich
+hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit
+übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft
+lebten und gerecht waren; so oft ich aber Böses, Schlechtes hörte,
+hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an,
+mit ganz anderen Augen um mich zu schauen; es freute mich, wenn ich
+das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich
+bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so
+lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken und
+habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes
+sprach, als wenn ich ihn für geizig oder gemein oder gottlos hielt."
+
+Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven
+unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: "Mein Herr, der Scheik von
+Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale
+bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu
+setzen."
+
+Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt über die Ehre, die dem
+Alten widerfahren sollte, den sie für einen Bettler gehalten, und als
+dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den
+Sklavenaufseher zurück, und der Schreiber fragte ihn: "Beim Bart des
+Propheten beschwöre ich dich, sage uns, wer ist dieser alte Mann, mit
+dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?"
+
+"Wie!" rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die
+Hände zusammen. "Diesen Mann kennet ihr nicht?"
+
+"Nein, wir wissen nicht, wer er ist."
+
+"Aber ich sah euch doch schon einigemal mit ihm auf der Straße
+sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst
+letzthin gesagt: 'Das müssen wackere junge Leute sein, die dieser
+Mann eines Gespräches würdigt.'"
+
+"Aber, so sage doch, wer er ist!" rief der junge Kaufmann in höchster
+Ungeduld.
+
+"Gehet, Ihr wollet mich nur zum Narren haben", antwortete der
+Sklavenaufseher. "In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht
+ausdrücklich eingeladen ist, und heute ließ der Alte dem Scheik sagen,
+er werde einige junge Männer in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm
+nicht ungelegen sei, und Ali Banu ließ ihm sagen, er habe über sein
+Haus zu gebieten."
+
+"Lasse uns nicht länger in Ungewißheit; so wahr ich lebe, ich weiß
+nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufällig kennen und
+sprachen mit ihm."
+
+"Nun, dann dürfet ihr euch glücklich preisen; denn ihr habt mit einem
+gelehrten, berühmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und
+bewundern euch deshalb; es ist niemand anders als Mustapha, der
+gelehrte Derwisch."
+
+"Mustapha, der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat?
+Der viele gelehrte Bücher schrieb, der große Reisen machte in alle
+Weltteile! Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als
+wär' er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?" So sprachen die
+jungen Männer untereinander und waren sehr beschämt; denn der
+Derwisch Mustapha galt damals für den weisesten und gelehrtesten Mann
+im ganzen Morgenland.
+
+"Tröst' euch darüber", antwortete der Sklavenaufseher, seid froh, daß
+ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt,
+und hättet ihr ihn ein einziges Mal die Sonne der Gelehrsamkeit oder
+das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebräuchlich ist bei Männern
+dieser Axt, er hätte euch von Stund' an verlassen. Doch ich muß
+jetzt zurück zu den Leuten, die heute erzählen. Der, der jetzt kommt,
+ist tief hinten in Frankistan gebürtig, wollen sehen, was er weiß."
+
+So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe
+zu erzählen kam, stand auf und sprach: "Herr! ich bin aus einem Lande,
+das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne
+nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht,
+wo sie nur wenige Monde über die grüne Erde scheint und ihr im Flug
+sparsame Blüten und Früchte entlockt. Du sollst, wenn es dir
+angenehm ist, ein paar Märchen hören, wie man sie bei uns in den
+warmen Stuben erzählt, wenn das Nordlicht über die Schneefelder
+flimmert." (Im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 standen hier "Das
+Fest der Unterirdischen" (norwegisches Märchen nach mündlicher
+Überlieferung) und "Schneeweißchen und Rosenrot" von Wilhelm Grimm)
+
+Noch waren die jungen Männer im Gespräch über diese Märchen und über
+den Alten, den Derwisch Mustapha; sie fühlten sich nicht wenig geehrt,
+daß ein so alter und berühmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit
+gewürdigt und sogar öfters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte.
+Da kam plötzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein,
+ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle.
+
+Den Jünglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so
+vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so
+großer Gesellschaft. Doch sie faßten sich, um nicht als Toren zu
+erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali
+Banu saß auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu
+seiner Rechten saß der Alte, sein dürftiges Kleid ruhte auf
+herrlichen Polstern, seine ärmlichen Sandalen hatte er auf einen
+reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schöner
+Kopf, sein Auge voll Würde und Weisheit zeigten an, daß er würdig sei,
+neben einem Mann wie dem Scheik zu sitzen.
+
+Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut
+zuzusprechen. Die Jünglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das
+Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der
+wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespräch mit ihnen
+zerstreuen wollte.
+
+"Willkommen, ihr jungen Männer", sprach der Scheik, "willkommen in
+dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank
+verdient, daß er euch hier einführte; doch zürnte ich ihm ein wenig,
+daß er mich nicht früher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist
+denn der junge Schreiber?"
+
+"Ich, o Herr und zu Euren Diensten!" sprach der junge Schreiber,
+indem er die Arme über der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.
+
+"Ihr hört also gerne Geschichten und leset gerne Bücher mit schönen
+Versen und Denksprüchen?"
+
+Der junge Mensch erschrak und errötete; denn ihm fiel bei, wie er
+damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seine
+Stelle würde er sich erzählen oder aus Büchern vorlesen lassen. Er
+war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiß alles verraten
+hatte, in diesem Augenblicke recht gram, warf ihm einen bösen Blick
+zu und sprach dann: "O Herr! Allerdings kenne ich für meinen Teil
+keine angenehmere Beschäftigung, als mit dergleichen den Tag
+zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder
+nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiß keinen, der nicht--"
+
+"Schon gut, schon gut", unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte
+den zweiten herbei.
+
+"Wer bist denn du?" fragte er ihn.
+
+"Herr, ich bin meines Amtes der Gehilfe eines Arztes und habe selbst
+schon einige Kranke geheilt."
+
+"Richtig", erwiderte der Scheik, "und Ihr seid es auch, der das
+Wohlleben liebet; Ihr möchtet gerne mit guten Freunden hier und da
+tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?"
+
+Der junge Mann war beschämt; er fühlte, daß er verraten war und daß
+der Alte auch von ihm gebeichtet haben mußte. Er faßte sich aber ein
+Herz und antwortete: "O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens
+Glückseligkeiten, hier und da mit guten Freunden fröhlich sein zu
+können. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine
+Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu
+bewirten; doch sind wir auch dabei fröhlich, und es läßt sich denken,
+daß wir es noch um ein gutes Teil mehr wären, wenn ich mehr Geld
+hätte."
+
+Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich nicht
+enthalten, darüber zu lachen. "Welcher ist denn der junge Kaufmann?"
+fragte er weiter.
+
+Der junge Kaufmann verbeugte sich mit freiem Anstand vor dem Scheik;
+denn er war ein Mensch von guter Erziehung; der Scheik aber sprach:
+"Und Ihr? Ihr habt Freude an Musik und Tanz? Ihr höret es gerne,
+wenn gute Künstler etwas spielen und singen und sehet gerne Tänzer
+künstliche Tänze ausführen?" Der junge Kaufmann antwortete: "Ich sehe
+wohl, o Herr, daß jener alte Mann, um Euch zu belustigen, unsere
+Torheiten insgesamt verraten hat. Wenn es ihm gelang, Euch dadurch
+aufzuheitern, so habe ich gerne zu Eurem Scherz gedient. Was aber
+Musik und Tanz betrifft, so gestehe ich, es gibt nicht leicht etwas,
+was mein Herz also vergnügt. Doch glaubet nicht, daß ich deswegen
+Euch tadle, o Herr, wenn Ihr nicht ebenfalls--"
+
+"Genug, nicht weiter!" rief der Scheik, lächelnd mit der Hand
+abwehrend. "Jeder nach seiner Weise, wollet Ihr sagen; aber dort
+steht ja noch einer; das ist wohl der, welcher so gerne reisen
+möchte? Wer seid denn Ihr, junger Herr?"
+
+"Ich bin ein Maler, o Herr", antwortete der junge Mann, "ich male
+Landschaften teils an die Wände der Säle, teils auf Leinwand. Fremde
+Länder zu sehen, ist allerdings mein Wunsch; denn man sieht dort
+allerlei schöne Gegenden, die man wieder anbringen kann; und was man
+sieht und abzeichnet, ist doch in der Regel immer schöner, als was
+man nur so selbst erfindet."
+
+Der Scheik betrachtete jetzt die schönen jungen Leute, und sein Blick
+wurde ernst und düster. "Ich hatte einst auch einen lieben Sohn",
+sagte er, "und er müßte nun auch so herangewachsen sein wie ihr. Da
+solltet ihr seine Genossen und Begleiter sein, und jeder eurer
+Wünsche würde von selbst befriedigt werden. Mit jenem würde er lesen,
+mit diesem Musik hören, mit dem anderen würde er gute Freunde
+einladen und fröhlich und guter Dinge sein, und mit dem Maler ließe
+ich ihn ausziehen in schöne Gegenden und wäre dann gewiß, daß er
+immer wieder zu mir zurückkehrte. So hat es aber Allah nicht gewollt,
+und ich füge mich in seinen Willen ohne Murren. Doch es steht in
+meiner Macht, eure Wünsche dennoch zu erfüllen, und ihr sollt
+freudigen Herzens von Ali Banu gehen. Ihr, mein gelehrter Freund",
+fuhr er fort, indem er sich zu dem Schreiber wandte, "wohnt von jetzt
+an in meinem Hause und seid über meine Bücher gesetzt. Ihr könnet
+noch dazu anschaffen, was Ihr wollet und für gut haltet, und Euer
+einziges Geschäft sei, mir, wenn Ihr etwas recht Schönes gelesen habt,
+zu erzählen. Ihr, der Ihr eine gute Tafel unter Freunden liebet,
+Ihr sollet der Aufseher über meine Vergnügungen sein. Ich selbst
+zwar lebe einsam und ohne Freude, aber es ist meine Pflicht, und mein
+Amt bringt es mit sich, hier und da viele Gäste einzuladen. Dort
+sollet Ihr an meiner Stelle alles besorgen und könnet von Euren
+Freunden dazu einladen, wen Ihr nur wollet; versteht sich, auf etwas
+Besseres als Wassermelonen. Den jungen Kaufmann da darf ich freilich
+seinem Geschäft nicht entziehen, das ihm Geld und Ehre bringt; aber
+alle Abende stehen Euch, mein junger Freund, Tänzer, Sänger und
+Musikanten zu Dienste, so viel Ihr wollet. Lasset Euch aufspielen
+und tanzen nach Herzenslust. Und Ihr", sprach er zu dem Maler, "Ihr
+sollet fremde Länder sehen und das Auge durch Erfahrung schärfen.
+Mein Schatzmeister wird Euch zu der ersten Reise, die Ihr morgen
+antreten könnet, tausend Goldstücke reichen nebst zwei Pferden und
+einem Sklaven. Reiset, wohin Euch das Herz treibt, und wenn Ihr
+etwas Schönes sehet, so malet es für mich!"
+
+Die jungen Leute waren außer sich vor Erstaunen, sprachlos vor Freude
+und Dank. Sie wollten den Boden vor den Füßen des gültigen Mannes
+küssen; aber er ließ es nicht zu. "Wenn ihr einem zu danken habt",
+sprach er, "so ist es diesem weisen Mann hier, der mir von euch
+erzählte. Auch mir hat er dadurch Vergnügen gemacht, vier so muntere
+junge Leute eurer Art kennenzulernen."
+
+Der Derwisch Mustapha aber wehrte den Dank der Jünglinge ab. "Sehet",
+sprach er, "wie man nie voreilig urteilen muß; habe ich euch zuviel
+von diesem edlen Manne gesagt?"
+
+"Lasset uns nun noch den letzten meiner Sklaven, die heute frei sind,
+erzählen hören", unterbrach ihn Ali Banu.
+
+Jener junge Sklave, der die Aufmerksamkeit aller durch seinen Wuchs,
+durch seine Schönheit und seinen mutigen Blick auf sich gezogen hatte,
+stand jetzt auf, verbeugte sich vor dem Scheik und fing wohltönend
+also zu sprechen an:
+
+
+
+
+Das Fest der Unterirdischen
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Das Fest der
+Unterirdischen" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Schneeweißchen und Rosenrot
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Schneeweißchen und
+Rosenrot" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Die Geschichte Almansors
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+O Herr! Die Männer, die vor mir gesprochen haben, erzählten
+mancherlei wunderbare Geschichten, die sie gehört hatten in fremden
+Ländern; ich muß mit Beschämung gestehen, daß ich keine einzige
+Erzählung weiß, die Eurer Aufmerksamkeit würdig wäre. Doch wenn es
+Euch nicht langweilt, will ich Euch die wunderbaren Schicksale eines
+meiner Freunde vortragen.
+
+Auf jenem algerischen Kaperschiff, von welchem mich Eure milde Hand
+befreit hat, war ein junger Mann in meinem Alter, der mir nicht für
+das Sklavenkleid geboren schien, das er trug. Die übrigen
+Unglücklichen auf dem Schiffe waren entweder rohe Menschen, mit denen
+ich nicht leben mochte, oder Leute, deren Sprache ich nicht verstand;
+darum fand ich mich zu der Zeit, wo wir ein Stündchen frei hatten,
+gerne zu dem jungen Mann. Er nannte sich Almansor und war seiner
+Aussprache nach ein Ägypter. Wir unterhielten uns recht angenehm
+miteinander und kamen eines Tages auch darauf, uns unsere Geschichte
+zu erzählen, da dann die meines Freundes allerdings bei weitem
+merkwürdiger war als die meinige.
+
+Almansors Vater war ein vornehmer Mann in einer ägyptischen Stadt,
+deren Namen er mir nicht nannte. Er lebte die Tage seiner Kindheit
+vergnügt und froh und umgeben von allem Glanz und aller
+Bequemlichkeit der Erde. Aber er wurde dabei doch nicht weichlich
+erzogen, und sein Geist wurde frühzeitig ausgebildet; denn sein Vater
+war ein weiser Mann, der ihm Lehren der Tugend gab, und überdies
+hatte er zum Lehrer einen berühmten Gelehrten, der ihn in allem
+unterrichtete, was ein junger Mensch wissen muß--Almansor war etwa
+zehn Jahre alt, als die Franken über das Meer her in das Land kamen
+und Krieg mit seinem Volke führten.
+
+Der Vater des Knaben mußte aber den Franken nicht sehr günstig
+gewesen sein; denn eines Tages, als er eben zum Morgengebet gehen
+wollte, kamen sie und verlangten zuerst seine Frau als Geisel seiner
+treuen Gesinnungen gegen das Frankenvolk, und als er sie nicht geben
+wollte, schleppten sie seinen Sohn mit Gewalt ins Lager.
+
+Als der junge Sklave also erzählte, verhüllte der Scheik sein
+Angesicht, und es entstand ein Murren des Unwillens im Saal. "Wie",
+riefen die Freunde des Scheik, "wie kann der junge Mann dort so
+töricht handeln und durch solche Geschichten die Wunden Ali Banus
+aufreißen, statt sie zu mildern? Wie kann er ihm seinen Schmerz
+erneuern, statt ihn zu zerstreuen?" Der Sklavenaufseher selbst war
+voll Zorn über den unverschämten Jüngling und gebot ihm zu schweigen.
+
+Der junge Sklave aber war sehr erstaunt über dies alles und fragte
+den Scheik, ob denn in seiner Erzählung etwas liege, das sein
+Mißfallen erregt habe. Der Scheik richtete sich auf und sprach:
+"Seid doch ruhig, Freunde; wie kann denn dieser Jüngling etwas von
+meinem betrübten Schicksal wissen, da er nur kaum drei Tage unter
+diesem Dache ist! Kann es denn bei den Greueln, die diese Franken
+verübten, nicht ein ähnliches Geschick wie das meine geben? Kann
+nicht vielleicht selbst jener Almansor--doch erzähle immer weiter,
+mein junger Freund!" Der junge Sklave verbeugte sich und fuhr fort:
+
+Der junge Almansor wurde also in das fränkische Lager geführt. Es
+erging ihm dort im ganzen gut; denn einer der Feldherrn ließ ihn in
+sein Zelt kommen und hatte seine Freude an den Antworten des Knaben,
+die ihm ein Dragoman übersetzen mußte; er sorgte für ihn, daß ihm an
+Speise und Kleidung nichts abginge; aber die Sehnsucht nach Vater und
+Mutter machte dennoch den Knaben höchst unglücklich. Er weinte viele
+Tage lang, aber seine Tränen rührten diese Männer nicht. Das Lager
+wurde aufgebrochen, und Almansor glaubte jetzt wieder zurückkehren zu
+dürfen; aber es war nicht so; das Heer zog hin und her, führte Krieg
+mit den Mamelucken, und den jungen Almansor schleppten sie immer mit
+sich. Wenn er dann die Hauptleute und Feldherren anflehte, ihn doch
+wieder heimkehren zu lassen, so verweigerten sie es und sagten, er
+müsse ein Unterpfand von seines Vaters Treue sein. So war er viele
+Tage lang auf dem Marsch.
+
+Auf einmal aber entstand eine Bewegung im Heere, die dem Knaben nicht
+entging; man sprach von Einpacken, von Zurückziehen, vom Einschiffen,
+und Almansor war außer sich vor Freude; denn jetzt, wenn die Franken
+in ihr Land zurückkehrten, jetzt mußte er ja frei werden. Man zog
+mit Roß und Wagen rückwärts gegen die Küste, und endlich war man so
+weit, daß man die Schiffe vor Anker liegen sah. Die Soldaten
+schifften sich ein; aber es wurde Nacht, bis nur ein kleiner Teil
+eingeschifft war. So gerne Almansor gewacht hätte, weil er jede
+Stunde glaubte, freigelassen zu werden, so verfiel er doch endlich in
+einen tiefen Schlaf, und er glaubte, die Franken haben ihm etwas
+unter das Wasser gemischt, um ihn einzuschläfern. Denn als er
+aufwachte, schien der helle Tag in eine kleine Kammer, worin er nicht
+gewesen war, als er einschlief. Er sprang auf von seinem Lager, aber
+als er auf den Boden kam, fiel er um; denn der Boden schwankte hin
+und wieder, und es schien sich alles zu bewegen und im Kreis um ihn
+her zu tanzen. Er raffte sich auf, hielt sich an den Wänden fest, um
+aus dem Gemach zu kommen, worin er sich befand.
+
+Ein sonderbares Brausen und Zischen war um ihn her; er wußte nicht,
+ob er träume oder wache; denn er hatte nie Ähnliches gesehen oder
+gehört. Endlich erreichte er eine kleine Treppe, mit Mühe klimmte er
+hinauf, und welcher Schrecken befiel ihn! Ringsumher war nichts als
+Himmel und Meer, er befand sich auf einem Schiffe. Da fing er
+kläglich an zu weinen. Er wollte zurückgebracht werden, er wollte
+ins Meer sich stürzen und hinüberschwimmen nach seiner Heimat; aber
+die Franken hielten ihn fest, und einer der Befehlshaber ließ ihn zu
+sich kommen, versprach ihm, wenn er gehorsam sei, solle er bald
+wieder in seine Heimat zurück, und stellte ihm vor, daß es nicht mehr
+möglich gewesen wäre, ihn vom Land aus nach Hause zu bringen, dort
+aber hätte er, wenn man ihn zurückgelassen, elendiglich umkommen
+müssen.
+
+Wer aber nicht Wort hielt, waren die Franken; denn das Schiff segelte
+viele Tage lang weiter, und als es endlich landete, war man nicht an
+Ägyptens Küste, sondern in Frankistan! Almansor hatte während der
+langen Fahrt und schon im Lager einiges von der Sprache der Franken
+verstehen und sprechen gelernt, was ihm in diesem Lande, wo niemand
+seine Sprache kannte, sehr gut zustatten kam. Er wurde viele Tage
+lang durch das Land in das Innere geführt, und überall strömte das
+Volk zusammen, um ihn zu sehen; denn seine Begleiter sagten aus, er
+wäre der Sohn des Königs von Ägypten, der ihn zu seiner Ausbildung
+nach Frankistan schicke.
+
+So sagten aber die Soldaten nur, um das Volk glauben zu machen, sie
+haben Ägypten besiegt und stehen in tiefem Frieden mit diesem Land.
+Nachdem die Reise zu Land mehrere Tage gedauert hatte, kamen sie in
+eine große Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Dort wurde er einem Arzt
+übergeben, der ihn in sein Haus nahm und in allen Sitten und
+Gebräuchen von Frankistan unterwies.
+
+Er mußte vor allem fränkische Kleider anlegen, die sehr enge und
+knapp waren und bei weitem nicht so schön wie seine ägyptischen.
+Dann durfte er nicht mehr seine Verbeugung mit gekreuzten Armen
+machen, sondern wollte er jemand seine Ehrerbietung bezeugen, so
+mußte er mit der einen Hand die ungeheure Mütze von schwarzem Filz,
+die alle Männer trugen und die man auch ihm aufgesetzt hatte, vom
+Kopfe reißen, mit der anderen Hand mußte er auf die Seite fahren und
+mit dem rechten Fuß auskratzen. Er durfte auch nicht mehr mit
+überschlagenen Beinen sitzen, wie es angenehme Sitte ist im
+Morgenlande, sondern auf hochbeinige Stühle mußte er sich setzen und
+die Füße herabhängen lassen auf den Boden. Das Essen machte ihm auch
+nicht geringe Schwierigkeit; denn alles, was er zum Munde bringen
+wollte, mußte er zuvor auf eine Gabel von Eisen stecken.
+
+Der Doktor aber war ein strenger, böser Mann, der den Knaben plagte:
+Denn wenn er sich jemals vergaß und zu einem Besuch sagte: "Salem
+aleikum", so schlug er ihn mit dem Stock; denn er sollte sagen:
+"Votre serviteur!" Er durfte auch nicht mehr in seiner Sprache denken
+und sprechen oder schreiben, höchstens durfte er darin träumen, und
+er hätte vielleicht seine Sprache gänzlich verlernt, wenn nicht ein
+Mann in jener Stadt gelebt hätte, der ihm von großem Nutzen war.
+
+Es war dies ein alter, aber sehr gelehrter Mann, der viele
+morgenländische Sprachen verstand. Arabisch, Persisch, Koptisch,
+sogar Chinesisch, von jedem etwas; er galt in jenem Land für ein
+Wunder von Gelehrsamkeit, und man gab ihm viel Geld, daß er diese
+Sprachen andere Leute lehrte. Dieser Mann ließ nun den jungen
+Almansor alle Wochen einigemal zu sich kommen, bewirtete ihn mit
+seltenen Früchten und dergleichen, und dem Jüngling war es dann, als
+wäre er zu Haus. Denn der alte Herr war gar ein sonderbarer Mann.
+Er hatte Almansor Kleider machen lassen, wie sie vornehme Leute in
+Ägypten tragen. Diese Kleider bewahrte er in seinem Hause in einem
+besonderen Zimmer auf. Kam nun Almansor, so schickte er ihn mit
+einem Bediensteten in jenes Zimmer und ließ ihn ganz nach seiner
+Landessitte ankleiden. Von da ging es dann nach "Kleinarabien"; so
+nannte man einen Saal im Hause des Gelehrten.
+
+Dieser Saal war mit allerlei künstlich aufgezogenen Bäumen, als
+Palmen, Bambus, jungen Zedern und dergleichen, und mit Blumen
+ausgeschmückt, die nur im Morgenland wachsen. Persische Teppiche
+lagen auf dem Fußboden, und an den Wänden waren Polster, nirgends
+aber ein fränkischer Stuhl oder Tisch. Auf einem dieser Polster saß
+der alte Professor; er sah aber ganz anders aus als gewöhnlich; um
+den Kopf hatte er einen feinen türkischen Schal als Turban gewunden,
+er hatte einen grauen Bart umgeknüpft, der ihm bis zum Gürtel reichte
+und aussah wie ein natürlicher, ehrwürdiger Bart eines gewichtigen
+Mannes. Dazu trug er einen Talar, den er aus einem brokatnen
+Schlafrock hatte machen lassen, weite türkische Beinkleider, gelbe
+Pantoffeln, und so friedlich er sonst war, an diesen Tagen hatte er
+einen türkischen Säbel umgeschnallt, und im Gürtel stak ein Dolch,
+mit falschen Steinen besetzt. Dazu rauchte er aus einer zwei Ellen
+langen Pfeife und ließ sich von seinen Leuten bedienen, die ebenfalls
+persisch gekleidet waren und wovon die Hälfte Gesicht und Hände
+schwarz gefärbt hatte.
+
+Von Anfang wollte dies alles dem jungen Almansor gar wunderlich
+bedünken; aber bald sah er ein, daß solche Stunden, wenn er in die
+Gedanken des Alten sich fügte, sehr nützlich für ihn seien. Durfte
+er beim Doktor kein ägyptisches Wort sprechen, so war hier die
+fränkische Sprache sehr verboten. Almansor mußte beim Eintreten den
+Friedensgruß sprechen, den der alte Perser sehr feierlich erwiderte;
+dann winkte er dem Jüngling, sich neben ihn zu setzen, und begann
+Persisch, Arabisch, Koptisch und alle Sprachen untereinander zu
+sprechen und nannte dies eine gelehrte morgenländische Unterhaltung.
+Neben ihm stand ein Bediensteter oder, was sie an diesem Tage
+vorstellten, ein Sklave, der ein großes Buch hielt; das Buch war aber
+ein Wörterbuch, und wenn dem Alten die Worte ausgingen, winkte er dem
+Sklaven, schlug flugs auf, was er sagen wollte, und fuhr dann zu
+sprechen fort.
+
+Die Sklaven aber brachten in türkischem Geschirr Sorbet und
+dergleichen, und wollte Almansor dem Alten ein großes Vergnügen
+machen, so mußte er sagen, es sei alles bei ihm angeordnet wie im
+Morgenland. Almansor las sehr schön Persisch, und das war der
+Hauptvorteil für den Alten. Er hatte viele persische Manuskripte;
+aus diesen ließ er sich von dem Jüngling vorlesen, las aufmerksam
+nach und merkte sich auf diese Art die richtige Aussprache.
+
+Das waren die Freudentage des armen Almansor; denn nie entließ ihn
+der alte Professor unbeschenkt, und oft trug er sogar kostbare Gaben
+an Geld und Leinenzeug oder anderen notwendigen Dingen davon, die ihm
+der Doktor nicht geben wollte. So lebte Almansor einige Jahre in der
+Hauptstadt des Frankenlandes, und nie wurde seine Sehnsucht nach der
+Heimat geringer. Als er aber etwa fünfzehn Jahre alt war, begab sich
+ein Vorfall, der auf sein Schicksal großen Einfluß hatte.
+
+Die Franken nämlich wählten ihren ersten Feldherrn, denselben, mit
+welchem Almansor so oft in Ägypten gesprochen hatte, zu ihrem König
+und Beherrscher; Almansor wußte zwar und erkannte es an den großen
+Festlichkeiten, daß etwas dergleichen in dieser großen Stadt geschehe;
+doch konnte er sich nicht denken, daß der König derselbe sei, den er
+in Ägypten gesehen; denn jener Feldherr war noch ein sehr junger Mann.
+Eines Tages aber ging Almansor über eine jener Brücken, die über
+den breiten Fluß fahren, der die Stadt durchströmt; da gewahrte er in
+dem einfachen Kleid eines Soldaten einen Mann, der am Brückengeländer
+lehnte und in die Wellen sah. Die Züge des Mannes fielen ihm auf,
+und er erinnerte sich, ihn schon gesehen zu haben. Er ging also
+schnell die Kammern seiner Erinnerung durch, und als er an die Pforte
+der Kammer von Ägypten kam, da eröffnete sich ihm plötzlich das
+Verständnis, daß dieser Mann jener Feldherr der Franken sei, mit
+welchem er oft im Lager gesprochen und der immer gütig für ihn
+gesorgt hatte. Er wußte seinen rechten Namen nicht genau; er faßte
+sich daher ein Herz, trat zu ihm, nannte ihn, wie ihn die Soldaten
+unter sich nannten, und sprach, indem er nach seiner Landessitte die
+Arme über der Brust kreuzte: "Salem aleikum, Petit-Caporal!"
+
+Der Mann sah sich erstaunt um, blickte den jungen Menschen mit
+scharfen Augen an, dachte über ihn nach und sagte dann: "Himmel, ist
+es möglich! Du hier, Almansor? Was macht dein Vater? Wie geht es
+in Ägypten? Was führt dich zu uns hierher?"
+
+Da konnte sich Almansor nicht länger halten; er fing an, bitterlich
+zu weinen, und sagte zu dem Mann: "So weißt du also nicht, was die
+Hunde, deine Landsleute, mit mir gemacht haben, Petit-Caporal? Du
+weißt nicht, daß ich das Land meiner Väter nicht mehr gesehen habe
+seit vielen Jahren?"
+
+"Ich will nicht hoffen", sagte der Mann, und seine Stirne wurde
+finster, "ich will nicht hoffen, daß man dich mit hinwegschleppte."
+
+"Ach, freilich", antwortete Almansor, "an jenem Tage, wo Eure
+Soldaten sich einschifften, sah ich mein Vaterland zum letztenmal;
+sie nahmen mich mit sich hinweg, und ein Hauptmann, den mein Elend
+rührte, zahlt ein Kostgeld für mich bei einem verwünschten Doktor,
+der mich schlägt und halb Hungers sterben läßt. Aber höre,
+Petit-Caporal", fuhr er ganz treuherzig fort, "es ist gut, daß ich
+dich hier traf, du mußt mir helfen."
+
+Der Mann, zu welchem er dies sprach, lächelte und fragte, auf welche
+Weise er denn helfen sollte.
+
+"Siehe", sagte Almansor, "es wäre unbillig, wollte ich von dir etwas
+verlangen; du warst von jeher so gütig gegen mich, aber ich weiß, du
+bist auch ein armer Mensch, und wenn du auch Feldherr warst, gingst
+du nie so schön gekleidet wie die anderen; auch jetzt mußt du, nach
+deinem Rock und Hut zu urteilen, nicht in den besten Umständen sein.
+Aber da haben ja die Franken letzthin einen Sultan gewählt, und ohne
+Zweifel kennst du Leute, die sich ihm nahen dürfen, etwa seinen
+Janitscharen-Aga oder den Reis-Effendi oder seinen Rapudan-Pascha;
+nicht?"
+
+"Nun ja", antwortete der Mann, "aber wie weiter?"
+
+"Bei diesen könntest du ein gutes Wort für mich einlegen,
+Petit-Caporal, daß sie den Sultan der Franken bitten, er möchte mich
+freilassen; dann brauche ich auch etwas Geld zur Reise übers Meer;
+vor allem aber mußt du mir versprechen, weder dem Doktor noch dem
+arabischen Professor etwas davon zu sagen."
+
+"Wer ist denn der arabische Professor?" fragte jener. "Ach, das ist
+ein sonderbarer Mann; doch von diesem erzähle ich dir ein andermal.
+Wenn es die beiden hörten, dürfte ich nicht mehr aus Frankistan weg.
+Aber willst du für mich sprechen bei den Agas? Sage es mir
+aufrichtig!"
+
+"Komm mit mir", sagte der Mann, "vielleicht kann ich dir jetzt gleich
+nützlich sein."
+
+"Jetzt?" rief der Jüngling mit Schrecken. "Jetzt um keinen Preis, da
+würde mich der Doktor prügeln; ich muß eilen, daß ich nach Hause
+komme."
+
+"Was trägst du denn in diesem Korb?" fragte jener, indem er ihn
+zurückhielt.
+
+Almansor errötete und wollte es anfangs nicht zeigen; endlich aber
+sagte er: "Siehe, Petit- Caporal, ich muß hier Dienste tun wie der
+geringste Sklave meines Vaters. Der Doktor ist ein geiziger Mann und
+schickt mich alle Tage von unserem Hause eine Stunde weit auf den
+Gemüse- und Fischmarkt; da muß ich dann unter den schmutzigen
+Marktweibern einkaufen, weil es dort um einige Kupfermünzen
+wohlfeiler ist als in unserem Stadtteil. Siehe, wegen dieses
+schlechten Herings, wegen dieser Handvoll Salat, wegen dieses
+Stückchens Butter muß ich alle Tage zwei Stunden gehen. Ach, wenn es
+mein Vater wüßte!"
+
+Der Mann, zu welchem Almansor dies sprach, war gerührt über die Not
+des Knaben und antwortete: "Komm nur mit mir und sei getrost; der
+Doktor soll dir nichts anhaben dürfen, wenn er auch heute weder
+Hering noch Salat verspeist! Sei getrosten Mutes und komm!" Er nahm
+bei diesen Worten Almansor bei der Hand und führte ihn mit sich, und
+obgleich diesem das Herz pochte, wenn er an den Doktor dachte, so lag
+doch so viel Zuversicht in den Worten und Mienen des Mannes, daß er
+sich entschloß, ihm zu folgen. Er ging also, sein Körbchen am Arm,
+neben dem Soldaten viele Straßen durch, und wunderbar wollte es ihm
+bedünken, daß alle Leute die Hüte vor ihnen abnahmen und
+stehenblieben und ihnen nachschauten. Er äußerte dies auch gegen
+seinen Begleiter, dieser aber lachte und sagte nichts darüber.
+
+Sie gelangten endlich an ein prachtvolles Schloß, auf welches der
+Mann zuging. "Wohnst du hier, Petit-Caporal?" fragte Almansor.
+
+"Hier ist meine Wohnung", entgegnete jener, "und ich will dich zu
+meiner Frau führen."
+
+"Ei, da wohnst du schön!" fahr Almansor fort. "Gewiß hat dir der
+Sultan hier freie Wohnung gegeben?"
+
+"Diese Wohnung habe ich vom Kaiser, du hast recht", antwortete sein
+Begleiter und führte ihn in das Schloß. Dort stiegen sie eine breite
+Treppe hinan, und in einem schönen Saal hieß er ihn seinen Korb
+absetzen und trat dann mit ihm in ein prachtvolles Gemach, wo eine
+Frau auf einem Diwan saß. Der Mann sprach mit ihr in einer fremden
+Sprache, worauf sie beide nicht wenig lachten, und die Frau fragte
+dann Almansor in fränkischer Sprache vieles über Ägypten. Endlich
+sagte Petit-Caporal zu dem Jüngling: "Weißt du, was das beste ist?
+Ich will dich gleich selbst zum Kaiser führen und bei ihm für dich
+sprechen."
+
+Almansor erschrak sehr; aber er gedachte an sein Elend und seine
+Heimat. "Dem Unglücklichen", sprach er zu den beiden, "dem
+Unglücklichen verleiht Allah einen hohen Mut in der Stunde der Not;
+er wird auch mich armen Knaben nicht verlassen. Ich will es tun, ich
+will zu ihm gehen. Aber sage, Caporal, muß ich vor ihm niederfallen?
+Muß ich die Stirne mit dem Boden berühren? Was muß ich tun?"
+
+Die beiden lachten von neuem und versicherten, dies alles sei nicht
+nötig.
+
+"Sieht er schrecklich und majestätisch aus?" fragte er weiter, "hat
+er einen langen Bart? Macht er feurige Augen? Sage, wie sieht er
+aus?"
+
+Sein Begleiter lachte von neuem und sprach dann: "Ich will dir ihn
+lieber gar nicht beschreiben, Almansor, du selbst sollst erraten,
+welcher es ist. Nur das will ich dir als Kennzeichen angeben: Alle
+im Saale des Kaisers werden, wenn er da ist, die Hüte ehrerbietig
+abnehmen; der, welcher den Hut auf dem Kopf behält, der ist der
+Kaiser." Bei diesen Worten nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm
+nach dem Saal des Kaisers. Je näher er kam, desto lauter pochte ihm
+das Herz, und die Knie fingen ihm an zu zittern, als sie sich der
+Türe näherten. Ein Bediensteter öffnete die Türe, und da standen in
+einem Halbkreis wenigstens dreißig Männer, alle prächtig gekleidet
+und mit Gold und Sternen überdeckt, wie es Sitte ist im Lande der
+Franken bei den vornehmsten Agas und Bassas der Könige; und Almansor
+dachte, sein Begleiter, der so unscheinbar gekleidet war, müsse der
+Geringsten einer sein unter diesen. Sie hatten alle das Haupt
+entblößt, und Almansor fing nun an, nach dem zu suchen, der den Hut
+auf dem Kopfe hätte; denn dieser mußte der Kaiser sein. Aber
+vergebens war sein Suchen. Alle hatten den Hut in der Hand, und der
+Kaiser mußte also nicht unter ihnen sein; da fiel kein Blick zufällig
+auf seinen Begleiter, und siehe--dieser hatte den Hut auf dem Kopfe
+sitzen!
+
+Der Jüngling war erstaunt, betroffen. Er sah seinen Begleiter lange
+an und sagte dann, indem er selbst seinen Hut abnahm: "Salem aleikum,
+Petit-Caporal! Soviel ich weiß, bin ich selbst nicht der Sultan der
+Franken, also kommt es mir nicht zu, mein Haupt zu bedecken; doch du
+bist der, der den Hut trägt--Petit-Caporal, bist denn du der Kaiser?".
+
+"Du hast's erraten", antwortete jener, "und überdies bin ich dein
+Freund. Schreibe dein Unglück nicht mir, sondern einer unglücklichen
+Verwirrung der Umstände zu, und sei versichert, daß du mit dem ersten
+Schiff in dein Vaterland zurücksegelst. Gehe jetzt wieder hinein zu
+meiner Frau, erzähle ihr vom arabischen Professor und was du weißt.
+Die Heringe und den Salat will ich dem Doktor schicken; du aber
+bleibst für deinen Aufenthalt in meinem Palast."
+
+So sprach der Mann, der Kaiser war; Almansor aber fiel vor ihm nieder,
+küßte seine Hand und bat ihn um Verzeihung, daß er ihn nicht erkannt
+habe; er habe es ihm gewiß nicht angesehen, daß er Kaiser sei.
+
+"Du hast recht", erwiderte jener lachend, "wenn man nur wenige Tage
+Kaiser ist, kann man es nicht an der Stirne geschrieben haben." So
+sprach er und winkte ihm, sich zu entfernen.
+
+Seit diesem Tage lebte Almansor glücklich und in Freuden.
+
+Den arabischen Professor, von welchem er dem Kaiser erzählte, durfte
+er noch einigemal besuchen den Doktor aber sah er nicht mehr. Nach
+einigen Wochen ließ ihn der Kaiser zu sich rufen und kündigte ihm an,
+daß ein Schiff vor Anker liege, mit dem er ihn nach Ägypten senden
+wolle. Almansor war außer sich vor Freude; wenige Tage reichten hin,
+um ihn auszurüsten, und mit einem Herzen voll Dankes und mit Schätzen
+und Geschenken reich beladen, reiste er vom Kaiser ab ans Meer und
+schiffte sich ein.
+
+Aber Allah wollte ihn noch länger prüfen, wollte seinen Mut im
+Unglück noch länger stählen und ließ ihn die Küste seiner Heimat noch
+nicht sehen. Ein anderes fränkisches Volk, die Engländer, führten
+damals Krieg mit dem Kaiser auf der See. Sie nahmen ihm alle Schiffe
+weg, die sie besiegen konnten, und so kam es, daß am sechsten Tage
+der Reise das Schiff, auf welchem sich Almansor befand, von
+englischen Schiffen umgeben und beschossen wurde; es mußte sich
+ergeben, und die ganze Mannschaft wurde auf ein kleineres Schiff
+gebracht, das mit den anderen weitersegelte. Doch auf der See ist es
+nicht weniger unsicher als in der Wüste, wo unversehens die Räuber
+auf die Karawanen fallen und totschlagen und plündern. Ein Kaper von
+Tunis überfiel das kleine Schiff, das der Sturm von den größeren
+Schiffen getrennt hatte, und--es wurde genommen und alle Mannschaft
+nach Algier geführt und verkauft.
+
+Almansor kam zwar nicht in so harte Sklaverei als die Christen, weil
+er ein rechtgläubiger Muselmann war, aber dennoch war jetzt alle
+Hoffnung verschwunden, die Heimat und den Vater wiederzusehen. Dort
+lebte er bei einem reichen Manne fünf Jahre und mußte die Blumen
+begießen und den Garten bauen. Da starb der reiche Mann ohne nahe
+Erben, seine Besitzungen wurden zerrissen, seine Sklaven geteilt, und
+Almansor fiel in die Hände eines Sklavenmaklers. Dieser rüstete um
+diese Zeit ein Schiff aus, um seine Sklaven anderwärts teurer zu
+verkaufen. Der Zufall wollte, daß ich selbst ein Sklave dieses
+Händlers war und auf dasselbe Schiff kam, wo auch Almansor sich
+befand. Dort lernten wir uns kennen, und dort erzählte er mir seine
+wunderbaren Schicksale. Doch--als wir landeten, war ich Zeuge der
+wunderbarsten Fügung Allahs; es war die Küste seines Vaterlandes, an
+welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt,
+wo wir öffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr, daß ich es kurz
+sage, es war sein eigener, sein teurer Vater, der ihn kaufte!
+
+Der Scheik Ali Banu war in tiefes Nachdenken versunken über diese
+Erzählung; sie hatte ihn unwillkürlich mit sich fortgerissen, seine
+Brust hob sich, sein Auge glühte, und er war oft nahe daran, seinen
+jungen Sklaven zu unterbrechen; aber das Ende der Erzählung schien
+ihn nicht zu befriedigen.
+
+"Er könnte jetzt einundzwanzig Jahre haben, sagst du?" so fing er an
+zu fragen.
+
+"Herr, er ist in meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre."
+
+"Und welche Stadt nannte er seine Geburtsstadt? Das hast du uns noch
+nicht gesagt."
+
+"Wenn ich nicht irre", antwortete jener, "so war es Alessandria!"
+
+"Alessandria!" rief der Scheik. "Es ist mein Sohn; wo ist er
+geblieben? Sagtest du nicht, daß er Kairam hieß? Hat er dunkle
+Augen und braunes Haar?"
+
+"Er hat es, und in traulichen Stunden nannte er sich Kairam und nicht
+Almansor."
+
+"Aber, Allah! Allah! Sage mir doch, sein Vater hätte ihn vor deinen
+Augen gekauft, sagst du? Sagte er, es sei sein Vater? Also ist er
+doch nicht mein Sohn!"
+
+Der Sklave antwortete: "Er sprach zu mir: "Allah sei gepriesen nach
+so langem Unglück: Das ist der Marktplatz meiner Vaterstadt." Nach
+einer Weile aber kam ein vornehmer Mann um die Ecke; da rief er: "Oh,
+was für ein teures Geschenk des Himmels sind die Augen! Ich sehe
+noch einmal meinen ehrwürdigen Vater!" Der Mann aber trat zu uns,
+betrachtet diesen und jenen und kauft endlich den, dem dies alles
+begegnet ist. Da rief er Allah an, sprach ein heißes Dankgebet und
+flüsterte mir zu: "Jetzt gehe ich wieder ein in die Hallen meines
+Glückes, es ist mein eigener Vater, der mich gekauft hat.""
+
+"Es ist also doch nicht mein Sohn, mein Kairam!" sagte der Scheik,
+von Schmerz bewegt.
+
+Da konnte sich der Jüngling nicht mehr zurückhalten; Tränen der
+Freude entstürzten seinen Augen, er warf sich nieder vor dem Scheik
+und rief: "Und dennoch ist es Euer Sohn, Kairam: Almansor; denn Ihr
+seid es, der ihn gekauft hat." "Allah, Allah! Ein Wunder, ein großes
+Wunder!" riefen die Anwesenden und drängten sich herbei; der Scheik
+aber stand sprachlos und staunte den Jüngling an, der sein schönes
+Antlitz zu ihm aufhob. "Mein Freund Mustapha!" sprach er zu dem
+alten Derwisch, "vor meinen Augen hängt ein Schleier von Tränen, daß
+ich nicht sehen kann, ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug,
+auf seinem Gesicht eingegraben sind. Trete du her und schaue ihn an!"
+
+Der Alte trat herzu, sah ihn lange an, legte seine Hand auf die
+Stirne des jungen Mannes und sprach: "Kairam! Wie hieß der Spruch,
+den ich dir am Tage, des Unglücks mitgab ins Lager der Franken?"
+
+"Mein teurer Lehrer!" antwortete der Jüngling, indem er die Hand des
+Alten an seine Lippen zog, "er hieß: So einer Allah liebt und ein
+gutes Gewissen hat, ist er auch in der Wüste des Elends nicht allein;
+denn er hat zwei Gefährten, die ihm tröstend zur Seite gehen."
+
+Da hob der Alte seine Augen dankend auf zum Himmel, zog den Jüngling
+herauf an seine Brust und gab ihn dem Scheik und sprach: "Nimm ihn
+hin! So gewiß du zehn Jahre um ihn trauertest, so gewiß ist es dein
+Sohn Kairam."
+
+Der Scheik war außer sich vor Freude und Entzücken; er betrachtete
+immer von neuem wieder die Züge des Wiedergefundenen, und unleugbar
+fand er das Bild seines Sohnes wieder, wie er ihn verloren hatte.
+Und alle Anwesenden teilten seine Freude; denn sie liebten den Scheik,
+und jedem unter ihnen war es, als wäre ihm heute ein Sohn geschenkt
+worden.
+
+Jetzt füllte wieder Gesang und Jubel diese Halle wie in den Tagen des
+Glückes und der Freude. Noch einmal mußte der Jüngling, und noch
+ausführlicher, seine Geschichte erzählen, und alle priesen den
+arabischen Professor und den Kaiser und jeden, der sich Kairams
+angenommen hatte. Man war beisammen bis in die Nacht, und als man
+aufbrach, beschenkte der Scheik jeden seiner Freunde reichlich, auf
+daß er immer dieses Freudentages gedenke.
+
+Die vier jungen Männer aber stellte er seinem Sohne vor und lud sie
+ein, ihn immer zu besuchen, und es war ausgemachte Sache, daß er mit
+dem Schreiber lesen, mit dem Maler kleine Reisen machen sollte, daß
+der Kaufmann Gesang und Tanz mit ihm teile und der andere alle
+Vergnügungen für sie bereiten solle. Auch sie wurden reich beschenkt
+und traten freudig aus dem Hause des Scheik.
+
+"Wem haben wir dies alles zu verdanken", sprachen sie untereinander,
+"wem anders als dem Alten? Wer hätte dies damals gedacht, als wir
+vor diesem Hause standen und über den Scheik loszogen?"
+
+"Und wie leicht hätte es uns einfallen können, die Lehren des alten
+Mannes zu überhören", sagte ein anderer, "oder ihn gar zu verspotten?
+Denn er sah doch recht zerrissen und ärmlich aus, und wer könne
+denken, daß dies der weise Mustapha sei?" "Und wunderbar! War es
+nicht hier, wo wir unsere Wünsche laut werden ließen?" sprach der
+Schreiber. "Da wollte der eine reisen, der andere singen und tanzen,
+der dritte gute Gesellschaft haben und ich--Geschichten lesen und
+hören, und sind nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung gegangen?
+Darf ich nicht alle Bücher des Scheik lesen und kaufen, was ich
+will?" "Und darf ich nicht seine Tafel zurichten und seine schönsten
+Vergnügen anordnen und selbst dabeisein?" sagte der andere.
+
+"Und ich, so oft mich mein Herz gelüstet, Gesang und Saitenspiel zu
+hören oder einen Tanz zu sehen, darf ich nicht hingehen und mir seine
+Sklaven ausbitten?"
+
+"Und ich", rief der Maler, "vor diesem Tage war ich arm und konnte
+keinen Fuß aus dieser Stadt setzen, und jetzt kann ich reisen, wohin
+ich will."
+
+"Ja", sprachen sie alle, "es war doch gut, daß wir dem Alten folgten,
+wer weiß, was aus uns geworden wäre!"
+
+So sprachen sie und gingen freudig und glücklich nach Hause.
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Märchen-Almanach auf das Jahr
+1827", von Wilhelm Hauff.
+
+
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+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827, by
+Wilhelm Hauff
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAERCHEN-ALMANACH 1827 ***
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+The Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+by Wilhelm Hauff
+
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+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
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+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Release Date: October, 2004 [EBook #6639]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on January 9, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
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+Character set encoding: ASCII
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1827 ***
+
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+Thanks are given to Delphine Lettau for finding a huge collection of ancient
+German books in London.
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+This Etext is in German.
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+We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
+known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
+and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
+which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
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+This is the 7-bit version.
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+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
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+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+
+Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Inhalt:
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (Rahmenerzaehlung)
+Der Zwerg Nase
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+Der arme Stephan
+Der gebackene Kopf
+Der Affe als Mensch (Der junge Englaender)
+Das Fest der Unterirdischen
+Schneeweisschen und Rosenrot
+Die Geschichte Almansors
+
+
+
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Scheik von Alessandria, Ali Banu, war ein sonderbarer Mann; wenn
+er morgens durch die Strassen der Stadt ging, angetan mit einem Turban,
+aus den koestlichsten Kaschmirs gewunden, mit dem Festkleide und dem
+reichen Guertel, der fuenfzig Kamele wert war, wenn er einherging
+langsamen, gravitaetischen Schrittes, seine Stirne in finstere Falten
+gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen, die Augen niedergeschlagen
+und alle fuenf Schritte gedankenvoll seinen langen, schwarzen Bart
+streichend; wenn er so hinging nach der Moschee, um, wie es seine
+Wuerde forderte, den Glaeubigen Vorlesungen ueber den Koran zu halten:
+da blieben die Leute auf der Strasse stehen, schauten ihm nach und
+sprachen zueinander: "Es ist doch ein schoener, stattlicher Mann, und
+reich, ein reicher Herr", setzte wohl ein anderer hinzu, "sehr reich;
+hat er nicht ein Schloss am Hafen von Stambul? Hat er nicht Gueter und
+Felder und viele tausend Stueck Vieh und viele Sklaven?"
+
+"Ja", sprach ein dritter, "und der Tatar, der letzthin von Stambul
+her, vom Grossherrn selbst, den der Prophet segnen moege, an ihn
+geschickt kam, der sagte mir, dass unser Scheik sehr in Ansehen stehe
+beim Reis-Effendi, beim Kapidschi-Baschi, bei allen, ja beim Sultan
+selbst."
+
+"Ja", rief ein vierter, "seine Schritte sind gesegnet; er ist ein
+reicher, vornehmer Herr, aber--aber, ihr wisst, was ich meine!" "Ja,
+ja!" murmelten dann die anderen dazwischen, "es ist wahr, er hat auch
+ein Teil zu tragen, moechten nicht mit ihm tauschen; ist ein reicher,
+vornehmer Herr; aber, aber!"
+
+Ali Banu hatte ein herrliches Haus auf dem schoensten Platz von
+Alessandria; vor dem Hause war eine weite Terrasse, mit Marmor
+ummauert, beschattet von Palmbaeumen; dort sass er oft abends und
+rauchte seine Wasserpfeife. In ehrerbietiger Entfernung harrten dann
+zwoelf reichgekleidete Sklaven seines Winkes; der eine trug seinen
+Betel, der andere hielt seinen Sonnenschirm, ein dritter hatte Gefaesse
+von gediegenem Golde, mit koestlichem Sorbet angefuellt, ein vierter
+trug einen Wedel von Pfauenfedern, um die Fliegen aus der Naehe des
+Herrn zu verscheuchen; andere waren Saenger und trugen Lauten und
+Blasinstrumente, um ihn zu ergoetzen mit Musik, wenn er es verlangte,
+und der gelehrteste von allen trug mehrere Rollen, um ihm vorzulesen.
+
+Aber sie harreten vergeblich auf seinen Wink; er verlangte nicht
+Musik noch Gesang, er wollte keine Sprueche oder Gedichte weiser
+Dichter der Vorzeit hoeren, er wollte keinen Sorbet zu sich nehmen,
+noch Betel kauen, ja, selbst der mit dem Faecher aus Pfauenfeder hatte
+vergebliche Arbeit; denn der Herr bemerkte es nicht, wenn ihn eine
+Fliege summend umschwaermte. Da blieben oft die Voruebergehenden
+stehen, staunten ueber die Pracht des Hauses, ueber die
+reichgekleideten Sklaven und ueber die Bequemlichkeit, womit alles
+versehen war; aber wenn sie dann den Scheik ansahen, wie er so ernst
+und duester unter den Palmen sass, seine Augen nirgends hinwandte als
+auf die blaeulichen Woelkchen seiner Wasserpfeife, da schuettelten sie
+die Koepfe und sprachen: "Wahrlich, der reiche Mann ist ein armer Mann.
+Er, der viel hat, ist aermer als der, der nichts hat; denn der
+Prophet hat ihm den Verstand nicht gegeben, es zu geniessen."
+
+So sprachen die Leute, lachten ueber ihn und gingen weiter.
+
+Eines Abends, als der Scheik wiederum vor der Tuere seines Hauses sass,
+umgeben von allem Glanz der Erde, und traurig und einsam seine
+Wasserpfeife rauchte, standen nicht ferne davon einige junge Leute,
+betrachteten ihn und lachten.
+
+"Wahrlich", sprach der eine, "das ist ein toerichter Mann, der Scheik
+Ali Banu; haette ich seine Schaetze, ich wollte sie anders anwenden.
+Alle Tage wollte ich leben herrlich und in Freuden; meine Freunde
+muessten bei mir speisen in den grossen Gemaechern des Hauses, und Jubel
+und Lachen muessten diese traurigen Hallen fuellen."
+
+"Ja", erwiderte ein anderer. "Das waere nicht so uebel; aber viele
+Freunde zehren ein Gut auf, und waere es so gross als das des Sultans,
+den der Prophet segne; aber saesse ich abends so unter den Palmen auf
+dem schoenen Platze hier, da muessten mir die Sklaven dort singen und
+musizieren, meine Taenzer muessten kommen und tanzen und springen und
+allerlei wunderliche Stuecke auffuehren. Dazu rauchte ich recht
+vornehm die Wasserpfeife, liesse mir den koestlichen Sorbet reichen und
+ergoetzte mich an all diesem wie ein Koenig von Bagdad."
+
+"Der Scheik", sprach ein dritter dieser jungen Leute, der ein
+Schreiber war, "der Scheik soll ein gelehrter und weiser Mann sein,
+und wirklich, seine Vorlesungen ueber den Koran zeugen von Belesenheit
+in allen Dichtern und Schriften der Weisheit; aber ist auch sein
+Leben so eingerichtet, wie es einem vernuenftigen Manne geziemt? Dort
+steht ein Sklave mit einem ganzen Arm voll Rollen; ich gaebe mein
+Festkleid dafuer, nur eine davon lesen zu duerfen; denn es sind gewiss
+seltene Sachen. Aber er? Er sitzt und raucht und laesst
+Buecher--Buecher sein. Waere ich der Scheik Ali Banu, der Kerl muesste
+mir vorlesen, bis er keinen Atem mehr haette oder bis die Nacht
+heraufkaeme; und auch dann noch muesste er mir lesen, bis ich
+entschlummert waere." "Ha! Ihr wisst mir recht, wie man sich ein
+koestliches Leben einrichtet", lachte der vierte; "essen und trinken,
+singen und tanzen, Sprueche lesen und Gedichte hoeren von armseligen
+Dichtern! Nein, ich wuerde es ganz anders machen. Er hat die
+herrlichsten Pferde und Kamele und Geld die Menge. Da wuerde ich an
+seiner Stelle reisen, reisen bis an der Welt Ende und selbst zu den
+Moskowitern, selbst zu den Franken. Kein Weg waere mir zu weit, um
+die Herrlichkeiten der Welt zu sehen. So wuerde ich tun, waere ich
+jener Mann dort."
+
+"Die Jugend ist eine schoene Zeit und das Alter, wo man froehlich ist",
+sprach ein alter Mann von unscheinbarem Aussehen, der neben ihnen
+stand und ihre Reden gehoert hatte, "aber erlaubet mir, dass ich es
+sage, die Jugend ist auch toericht und schwatzt hier und da in den Tag
+hinein, ohne zu wissen, was sie tut."
+
+"Was wollt Ihr damit sagen, Alter?" fragten verwundert die jungen
+Leute. "Meinet Ihr uns damit? Was geht es Euch an, dass wir die
+Lebensart des Scheiks tadeln?"
+
+"Wenn einer etwas besser weiss als der andere, so berichtige er seinen
+Irrtum, so will es der Prophet", erwiderte der alte Mann, "der Scheik,
+es ist wahr, ist gesegnet mit Schaetzen und hat alles, wonach das
+Herz verlangt, aber er hat Ursache, ernst und traurig zu sein.
+Meinet ihr, er sei immer so gewesen? Nein, ich habe ihn noch vor
+fuenfzehn Jahren gesehen, da war er munter und ruestig wie die Gazelle
+und lebte froehlich und genoss sein Leben. Damals hatte er einen Sohn,
+die Freude seiner Tage, schoen und gebildet, und wer ihn sah und
+sprechen hoerte, musste den Scheik beneiden um diesen Schatz, denn er
+war erst zehn Jahre alt, und doch war er schon so gelehrt wie ein
+anderer kaum im achtzehnten."
+
+"Und der ist ihm gestorben? Der arme Scheik!" rief der junge
+Schreiber.
+
+"Es waere troestlich fuer ihn, zu wissen, dass er heimgegangen in die
+Wohnungen des Propheten, wo er besser lebte als hier in Alessandria;
+aber das, was er erfahren musste, ist viel schlimmer. Es war damals
+die Zeit, wo die Franken wie hungrige Woelfe herueberkamen in unser
+Land und Krieg mit uns fuehrten. Sie hatten Alessandria ueberwaeltigt
+und zogen von da aus weiter und immer weiter und bekriegten die
+Mamelucken. Der Scheik war ein kluger Mann und wusste sich gut mit
+ihnen zu vertragen; aber, sei es, weil sie luestern waren nach seinen
+Schaetzen, sei es, weil er sich seiner glaeubigen Brueder annahm, ich
+weiss es nicht genau; kurz, sie kamen eines Tages in sein Haus und
+beschuldigten ihn, die Mamelucken heimlich mit Waffen, Pferden und
+Lebensmitteln unterstuetzt zu haben. Er mochte seine Unschuld
+beweisen, wie er wollte, es half nichts, denn die Franken sind ein
+rohes, hartherziges Volk, wenn es darauf ankommt, Geld zu erpressen.
+Sie nahmen also seinen jungen Sohn, Kairam geheissen, als Geisel in
+ihr Lager. Er bot ihnen viel Geld fuer ihn; aber sie gaben ihn nicht
+los und wollten ihn zu noch hoeherem Gebot steigern. Da kam ihnen auf
+einmal von ihrem Bassa, oder was er war, der Befehl, sich
+einzuschiffen; niemand in Alessandria wusste ein Wort davon,
+und--ploetzlich waren sie auf der hohen See, und den kleinen Kairam,
+Ali Banus Sohn, schleppten sie wohl mit sich, denn man hat nie wieder
+etwas von ihm gehoert."
+
+"O der arme Mann, wie hat ihn doch Allah geschlagen!" riefen einmuetig
+die jungen Leute und schauten mitleidig hin nach dem Scheik, der,
+umgeben von Herrlichkeit, trauernd und einsam unter den Palmen sass.
+
+"Sein Weib, das er sehr geliebt hat, starb ihm aus Kummer um ihren
+Sohn; er selbst aber kaufte sich ein Schiff, ruestete es aus und bewog
+den fraenkischen Arzt, der dort unten am Brunnen wohnt, mit ihm nach
+Frankistan zu reisen, um den verlorenen Sohn aufzusuchen. Sie
+schifften sich ein und waren lange Zeit auf dem Meere und kamen
+endlich in das Land jener Giaurs, jener Unglaeubigen, die in
+Alessandria gewesen waren. Aber dort soll es gerade schrecklich
+zugegangen sein. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Paschas
+und die Reichen und Armen schlugen einander die Koepfe ab, und es war
+keine Ordnung im Lande. Vergeblich suchten sie in jeder Stadt nach
+dem kleinen Kairam, niemand wollte von ihm wissen, und der fraenkische
+Doktor riet endlich dem Scheik, sich einzuschiffen, weil sie sonst
+wohl selbst um ihre Koepfe kommen koennten.
+
+So kamen sie wieder zurueck, und seit seiner Ankunft hat der Scheik
+gelebt wie an diesem Tag, denn er trauert um seinen Sohn, und er hat
+recht. Muss er nicht, wenn er isst und trinkt, denken, jetzt muss
+vielleicht mein armer Kairam hungern und duersten?
+
+Und wenn er sich bekleidet mit reichen Schals und Festkleidern, wie
+es sein Amt und seine Wuerde will, muss er nicht denken, jetzt hat er
+wohl nichts, womit er seine Bloesse deckt? Und wenn er umgeben ist von
+Saengern und Taenzern und Vorlesern, seinen Sklaven, denkt er da nicht,
+jetzt muss wohl mein armer Sohn seinem fraenkischen Gebieter Spruenge
+vormachen und musizieren, wie er es haben will? Und was ihm den
+groessten Kummer macht, er glaubt, der kleine Kairam werde, so weit vom
+Lande seiner Vaeter und mitten unter Unglaeubigen, die seiner spotten,
+abtruennig werden vom Glauben seiner Vaeter und er werde ihn einst
+nicht umarmen koennen in den Gaerten des Paradieses!
+
+Darum ist er auch so mild gegen seine Sklaven und gibt grosse Summen
+an die Armen; denn er denkt, Allah werde es vergelten und das Herz
+seiner fraenkischen Herren ruehren, dass sie seinen Sohn mild behandeln.
+Auch gibt er jedesmal, wenn der Tag kommt, an welchem ihm sein Sohn
+entrissen wurde, zwoelf Sklaven frei."
+
+"Davon habe ich auch schon gehoert", entgegnete der Schreiber, "aber
+man traegt sich mit wundervollen Reden; von seinem Sohne wurde dabei
+nichts erwaehnt; wohl aber sagte man, er sei ein sonderbarer Mann und
+ganz besonders erpicht auf Erzaehlungen; da soll er jedes Jahr unter
+seinen Sklaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzaehlt,
+den gibt er frei." "Verlasset euch nicht auf das Gerede der Leute",
+sagte der alte Mann, "es ist so, wie ich es sage, und ich weiss es
+genau; moeglich ist, dass er sich an diesem schweren Tage aufheitern
+will und sich Geschichten erzaehlen laesst; doch gibt er sie frei um
+seines Sohnes willen. Doch, der Abend wird kuehl, und ich muss
+weitergehen. Salem aleikum, Friede sei mit euch, ihr jungen Herren,
+und denket in Zukunft besser von dem guten Scheik!"
+
+Die jungen Leute dankten dem Alten fuer seine Nachrichten, schauten
+noch einmal nach dem trauernden Vater und gingen die Strasse hinab,
+indem sie zueinander sprachen: "Ich moechte doch nicht der Scheik Ali
+Banu sein."
+
+Nicht lange Zeit, nachdem diese jungen Leute mit dem alten Mann ueber
+den Scheik Ali Banu gesprochen hatten, traf es sich, dass sie um die
+Zeit des Morgengebets wieder diese Strasse gingen. Da fiel ihnen der
+alte Mann und seine Erzaehlung ein, und sie beklagten zusammen den
+Scheik und blickten nach seinem Hause. Aber wie staunten sie, als
+sie dort alles aufs herrlichste ausgeschmueckt fanden! Von dem Dache,
+wo geputzte Sklavinnen spazierengingen, wehten Wimpeln und Fahnen,
+die Halle des Hauses war mit koestlichen Teppichen belegt, Seidenstoff
+schloss sich an diese an, der ueber die breiten Stufen der Treppe
+gelegt war, und selbst auf der Strasse war noch schoenes, feines Tuch
+ausgebreitet, wovon sich mancher wuenschen mochte zu einem Festkleid
+oder zu einer Decke fuer die Fuesse.
+
+"Ei, wie hat sich doch der Scheik geaendert in den wenigen Tagen!"
+sprach der junge Schreiber. "Will er ein Fest geben? Will er seine
+Saenger und Taenzer anstrengen? Seht mir diese Teppiche! Hat sie
+einer so schoen in ganz Alessandria! Und dieses Tuch auf dem gemeinen
+Boden, wahrlich, es ist schade dafuer!"
+
+"Weisst du, was ich denke?" sprach ein anderer. "Er empfaengt
+sicherlich einen hohen Gast; denn das sind Zubereitungen, wie man sie
+macht, wenn ein Herrscher von grossen Laendern oder ein Effendi des
+Grossherrn ein Haus mit seinem Besuch segnet. Wer mag wohl heute
+hierherkommen?"
+
+"Siehe da, geht dort unten nicht unser Alter von letzthin? Ei, der
+weiss ja alles und muss auch darueber Aufschluss geben koennen. Heda!
+Alter Herr! Wollet Ihr nicht ein wenig zu uns treten?" So riefen sie;
+der alte Mann aber bemerkte ihre Winke und kam zu ihnen; denn er
+erkannte sie als die jungen Leute, mit welchen er vor einigen Tagen
+gesprochen. Sie machten ihn aufmerksam auf die Zuruestungen im Hause
+des Scheiks und fragten ihn, ob er nicht wisse, welch hoher Gast wohl
+erwartet werde.
+
+"Ihr glaubt wohl", erwiderte er, "Ali Banu feiere heute ein grosses
+Freudenfest, oder der Besuch eines grossen Mannes beehre sein Haus?
+Dem ist nicht also; aber heute ist der zwoelfte Tag des Monats Ramadan,
+wie ihr wisset, und an diesem Tag wurde sein Sohn ins Lager gefuehrt."
+
+"Aber beim Bart des Propheten!" rief einer der jungen Leute. "Das
+sieht ja alles aus wie Hochzeit und Festlichkeiten, und doch ist es
+sein beruehmter Trauertag, wie reimt Ihr das zusammen? Gesteht, der
+Scheik ist denn doch etwas zerruettet im Verstand."
+
+"Urteilt Ihr noch immer so schnell, mein junger Freund?" fragte der
+Alte laechelnd. "Auch diesmal war Euer Pfeil wohl spitzig und scharf,
+die Sehne Eures Bogens straff angezogen, und doch habt Ihr weitab vom
+Ziele geschossen. Wisset, dass heute der Scheik seinen Sohn erwartet."
+
+"So ist er gefunden?" riefen die Juenglinge und freuten sich. "Nein,
+und er wird sich wohl lange nicht finden; aber wisset: Vor acht oder
+zehn Jahren, als der Scheik auch einmal mit Trauern und Klagen diesen
+Tag beging, auch Sklaven freigab und viele Arme speiste und traenkte,
+da traf es sich, dass er auch einem Derwisch, der muede und matt im
+Schatten jenes Hauses lag, Speise und Trank reichen liess. Der
+Derwisch aber war ein heiliger Mann und erfahren in Prophezeiungen
+und im Sterndeuten. Der trat, als er gestaerkt war durch die milde
+Hand des Scheiks, zu ihm und sprach: 'Ich kenne die Ursache deines
+Kummers; ist nicht heute der zwoelfte Ramadan, und hast du nicht an
+diesem Tage deinen Sohn verloren? Aber sei getrost, dieser Tag der
+Trauer wird dir zum Festtag werden, denn wisse, an diesem Tage wird
+einst dein Sohn zurueckkehren!' So sprach der Derwisch. Es waere Suende
+fuer jeden Muselmann, an der Rede eines solchen Mannes zu zweifeln;
+der Gram Alis wurde zwar dadurch nicht gemildert, aber doch harrt er
+an diesem Tage immer auf die Rueckkehr seines Sohnes und schmueckt sein
+Haus und seine Halle und die Treppen, als koenne jener zu jeder Stunde
+anlangen."
+
+"Wunderbar!" erwiderte der Schreiber. "Aber zusehen moechte ich doch,
+wie alles so herrlich bereitet ist, wie er selbst in dieser
+Herrlichkeit trauert, und hauptsaechlich moechte ich zuhoeren, wie er
+sich von seinen Sklaven erzaehlen laesst."
+
+"Nichts leichter als dies", antwortete der Alte. "Der Aufseher der
+Sklaven jenes Hauses ist mein Freund seit langen Jahren und goennt mir
+an diesem Tage immer ein Plaetzchen in dem Saal, wo man unter der
+Menge der Diener und Freunde des Scheiks den einzelnen nicht bemerkt.
+Ich will mit ihm reden, dass er euch einlaesst; ihr seid ja nur zu
+viert, und da kann es schon gehen; kommet um die neunte Stunde auf
+diesen Platz, und ich will euch Antwort geben."
+
+So sprach der Alte; die jungen Leute aber dankten ihm und entfernten
+sich, voll Begierde zu sehen, wie sich dies alles begeben wuerde.
+
+Sie kamen zur bestimmten Stunde auf den Platz vor dem Hause des
+Scheik und trafen da den Alten, der ihnen sagte, dass der Aufseher der
+Sklaven erlaubt habe, sie einzufuehren. Er ging voran, doch nicht
+durch die reichgeschmueckten Treppen und Tore, sondern durch ein
+Seitenpfoertchen, das er sorgfaeltig wieder verschloss. Dann fuehrte er
+sie durch mehrere Gaenge, bis sie in den grossen Saal kamen. Hier war
+ein grosses Gedraenge von allen Seiten; da waren reichgekleidete Maenner,
+angesehene Herren der Stadt und Freunde des Scheik, die gekommen
+waren, ihn in seinem Schmerz zu troesten. Da waren Sklaven aller Art
+und aller Nationen. Aber alle sahen kummervoll aus; denn sie liebten
+ihren Herrn und trauerten mit ihm. Am Ende des Saales, auf einem
+reichen Diwan, sassen die vornehmsten Freunde Alis und wurden von den
+Sklaven bedient. Neben ihnen auf dem Boden sass der Scheik; denn die
+Trauer um seinen Sohn erlaubte ihm nicht, auf dem Teppich der Freude
+zu sitzen. Er hatte sein Haupt in die Hand gestuetzt und schien wenig
+auf die Troestungen zu hoeren, die ihm seine Freunde zufluesterten. Ihm
+gegenueber sassen einige alte und junge Maenner in Sklaventracht. Der
+Alte belehrte seine jungen Freunde, dass dies die Sklaven seien, die
+Ah Banu an diesem Tage freigebe. Es waren unter ihnen auch einige
+Franken, und der Alte machte besonders auf einen von ihnen aufmerksam,
+der von ausgezeichneter Schoenheit und noch sehr jung war. Der
+Scheik hatte ihn erst einige Tage zuvor einem Sklavenhaendler von
+Tunis um eine grosse Summe abgekauft und gab ihn dennoch jetzt schon
+frei, weil er glaubte, je mehr Franken er in ihr Vaterland
+zurueckschicke, desto frueher werde der Prophet seinen Sohn erloesen.
+
+Nachdem man ueberall Erfrischungen umhergereicht hatte, gab der Scheik
+dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen. Dieser stand auf, und es ward
+tiefe Stille im Saal. Er trat vor die Sklaven, welche freigelassen
+werden sollten, und sprach mit vernehmlichen Stimme: "Ihr Maenner, die
+ihr heute frei sein werdet durch die Gnade meines Herrn Ali Banu, des
+Scheik von Alessandria, tuet nur, wie es Sitte ist an diesem Tage in
+seinem Hause, und hebet an zu erzaehlen!"
+
+Sie fluesterten untereinander. Dann aber nahm ein alter Sklave das
+Wort und fing an zu erzaehlen:
+
+
+
+
+Der Zwerg Nase
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr! Diejenigen tun sehr unrecht, welche glauben, es habe nur zu
+Zeiten Haruns Al-Raschid, des Beherrschers von Bagdad, Feen und
+Zauberer gegeben, oder die gar behaupten, jene Berichte von dem
+Treiben der Genien und ihrer Fuersten, welche man von den Erzaehlern
+auf den Maerkten der Stadt hoert, seien unwahr. Noch heute gibt es
+Feen, und es ist nicht so lange her, dass ich selbst Zeuge einer
+Begebenheit war, wo offenbar die Genien im Spiele waren, wie ich euch
+berichten werde.
+
+In einer bedeutenden Stadt meines lieben Vaterlandes, Deutschlands,
+lebte vor vielen Jahren ein Schuster mit seiner Frau schlicht und
+recht. Er sass bei Tag an der Ecke der Strasse und flickte Schuhe und
+Pantoffeln und machte wohl auch neue, wenn ihm einer welche
+anvertrauen mochte; doch musste er dann das Leder erst einkaufen, denn
+er war arm und hatte keine Vorraete. Seine Frau verkaufte Gemuese und
+Fruechte, die sie in einem kleinen Gaertchen vor dem Tore pflanzte, und
+viele Leute kauften gerne bei ihr, weil sie reinlich und sauber
+gekleidet war und ihr Gemuese auf gefaellige Art auszubreiten wusste.
+
+Die beiden Leutchen hatten einen schoenen Knaben, angenehm von Gesicht,
+wohlgestaltet und fuer das Alter von zwoelf Jahren schon ziemlich gross.
+Er pflegte gewoehnlich bei der Mutter auf dem Gemuesemarkt zu sitzen,
+und den Weibern oder Koechen, die viel bei der Schustersfrau
+eingekauft hatten, trug er wohl auch einen Teil der Fruechte nach
+Hause, und selten kam er von einem solchen Gang zurueck ohne eine
+schoene Blume oder ein Stueckchen Geld oder Kuchen; denn die
+Herrschaften dieser Koeche sahen es gerne, wenn man den schoenen Knaben
+mit nach Hause brachte, und beschenkten ihn immer reichlich.
+
+Eines Tages sass die Frau des Schusters wieder wie gewoehnlich auf dem
+Markte, sie hatte vor sich einige Koerbe mit Kohl und anderm Gemuese,
+allerlei Kraeuter und Saemereien, auch in einem kleineren Koerbchen
+fruehe Birnen, Aepfel und Aprikosen. Der kleine Jakob, so hiess der
+Knabe, sass neben ihr und rief mit heller Stimme die Waren aus:
+"Hierher, ihr Herren, seht, welch schoener Kohl, wie wohlriechend
+diese Kraeuter; fruehe Birnen, ihr Frauen, fruehe Aepfel und Aprikosen,
+wer kauft? Meine Mutter gibt es wohlfeil." So rief der Knabe. Da
+kam ein altes Weib ueber den Markt her; sie sah etwas zerrissen und
+zerlumpt aus, hatte ein kleines, spitziges Gesicht, vom Alter ganz
+eingefurcht, rote Augen und eine spitzige, gebogene Nase, die gegen
+das Kinn hinabstrebte; sie ging an einem langen Stock, und doch
+konnte man nicht sagen, wie sie ging; denn sie hinkte und rutschte
+und wankte; es war, als habe sie Raeder in den Beinen und koenne alle
+Augenblicke umstuelpen und mit der spitzigen Nase aufs Pflaster fallen.
+
+Die Frau des Schusters betrachtete dieses Weib aufmerksam. Es waren
+jetzt doch schon sechzehn Jahre, dass sie taeglich auf dem Markte sass,
+und nie hatte sie diese sonderbare Gestalt bemerkt. Aber sie
+erschrak unwillkuerlich, als die Alte auf sie zuhinkte und an ihren
+Koerben stillstand.
+
+"Seid Ihr Hanne, die Gemuesehaendlerin?" fragte das alte Weib mit
+unangenehmer, kraechzender Stimme, indem sie bestaendig den Kopf hin
+und her schuettelte.
+
+"Ja, die bin ich", antwortete die Schustersfrau, "ist Euch etwas
+gefaellig?"
+
+"Wollen sehen, wollen sehen! Kraeutlein schauen, Kraeutlein schauen,
+ob du hast, was ich brauche", antwortete die Alte, beugte sich nieder
+vor den Koerben und fuhr mit ein Paar dunkelbraunen, haesslichen Haenden
+in den Kraeuterkorb hinein, packte die Kraeutlein, die so schoen und
+zierlich ausgebreitet waren, mit ihren langen Spinnenfingern, brachte
+sie dann eins um das andere hinauf an die lange Nase und beroch sie
+hin und her. Der Frau des Schusters wollte es fast das Herz
+abdrucken, wie sie das alte Weib also mit ihren seltenen Kraeutern
+hantieren sah; aber sie wagte nichts zu sagen; denn es war das Recht
+des Kaeufers, die Ware zu pruefen, und ueberdies empfand sie ein
+sonderbares Grauen vor dem Weibe. Als jene den ganzen Korb
+durchgemustert hatte, murmelte sie: "Schlechtes Zeug, schlechtes
+Kraut, nichts von allem, was ich will, war viel besser vor fuenfzig
+Jahren; schlechtes Zeug, schlechtes Zeug!"
+
+Solche Reden verdrossen nun den kleinen Jakob. "Hoere, du bist ein
+unverschaemtes, altes Weib", rief er unmutig, "erst faehrst du mit
+deinen garstigen, braunen Fingern in die schoenen Kraeuter hinein und
+drueckst sie zusammen, dann haeltst du sie an deine lange Nase, dass sie
+niemand mehr kaufen mag, wer zugesehen, und jetzt schimpfst du noch
+unsere Ware schlechtes Zeug, und doch kauft selbst der Koch des
+Herzogs alles bei uns!"
+
+Das alte Weib schielte den mutigen Knaben an, lachte widerlich und
+sprach mit heiserer Stimme: "Soehnchen, Soehnchen! Also gefaellt dir
+meine Nase, meine schoene lange Nase? Sollst auch eine haben mitten
+im Gesicht bis uebers Kinn herab." Waehrend sie so sprach, rutschte sie
+an den andern Korb, in welchem Kohl ausgelegt war. Sie nahm die
+herrlichsten weissen Kohlhaeupter in die Hand, drueckte sie zusammen,
+dass sie aechzten, warf sie dann wieder unordentlich in den Korb und
+sprach auch hier: "Schlechte Ware, schlechter Kohl!"
+
+"Wackle nur nicht so garstig mit dem Kopf hin und her!" rief der
+Kleine aengstlich. "Dein Hals ist ja so duenne wie ein Kohlstengel,
+der koennte leicht abbrechen, und dann fiele dein Kopf hinein in den
+Korb; wer wollte dann noch kaufen!"
+
+"Gefallen sie dir nicht, die duennen Haelse?" murmelte die Alte lachend.
+"Sollst gar keinen haben, Kopf muss in den Schultern stecken, dass er
+nicht herabfaellt vom kleinen Koerperlein!"
+
+"Schwatzt doch nicht so unnuetzes Zeug mit dem Kleinen da", sagte
+endlich die Frau des Schusters im Unmut ueber das lange Pruefen,
+Mustern und Beriechen, "wenn Ihr etwas kaufen wollt, so sputet Euch,
+Ihr verscheucht mir ja die anderen Kunden."
+
+"Gut, es sei, wie du sagst", rief die Alte mit grimmigem Blick. "Ich
+will dir diese sechs Kohlhaeupter abkaufen; aber siehe, ich muss mich
+auf den Stab stuetzen und kann nichts tragen; erlaube deinem Soehnlein,
+dass es mir die Ware nach Hause bringt, ich will es dafuer belohnen."
+
+Der Kleine wollte nicht mitgehen und weinte; denn ihm graute vor der
+haesslichen Frau, aber die Mutter befahl es ihm ernstlich, weil sie es
+doch fuer eine Suende hielt, der alten, schwaechlichen Frau diese Last
+allein aufzubuerden; halb weinend tat er, wie sie befohlen, raffte die
+Kohlhaeupter in ein Tuch zusammen und folgte dem alten Weibe ueber den
+Markt hin.
+
+Es ging nicht sehr schnell bei ihr, und sie brauchte beinahe drei
+Viertelstunden, bis sie in einen ganz entlegenen Teil der Stadt kam
+und endlich vor einem kleinen, baufaelligen Hause stillhielt. Dort
+zog sie einen alten, rostigen Haken aus der Tasche, fuhr damit
+geschickt in ein kleines Loch in der Tuere, und ploetzlich sprang diese
+krachend auf. Aber wie war der kleine Jakob ueberrascht, als er
+eintrat! Das Innere des Hauses war prachtvoll ausgeschmueckt, von
+Marmor waren die Decke und die Waende, die Geraetschaften vom schoensten
+Ebenholz, mit Gold und geschaffenen Steinen eingelegt, der Boden aber
+war von Glas und so glatt, dass der Kleine einigemal ausglitt und
+umfiel. Die Alte aber zog ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche und
+pfiff eine Weise darauf, die gellend durch das Haus toente. Da kamen
+sogleich einige Meerschweinchen die Treppe herab; dem Jakob wollte es
+aber ganz sonderbar duenken, dass sie aufrecht auf zwei Beinen gingen,
+Nussschalen statt Schuhen an den Pfoten trugen, menschliche Kleider
+angelegt und sogar Huete nach der neuesten Mode auf die Koepfe gesetzt
+hatten. "Wo habt ihr meine Pantoffeln, schlechtes Gesindel?" rief
+die Alte und schlug mit dem Stock nach ihnen, dass sie jammernd in die
+Hoehe sprangen. "Wie lange soll ich noch so dastehen?"
+
+Sie sprangen schnell die Treppe hinauf und kamen wieder mit ein Paar
+Schalen von Kokosnuss, mit Leder gefuettert, welche sie der Alten
+geschickt an die Fuesse steckten.
+
+Jetzt war alles Hinken und Rutschen vorbei. Sie warf den Stab von
+sich und glitt mit grosser Schnelligkeit ueber den Glasboden hin, indem
+sie den kleinen Jakob an der Hand mit fortzog. Endlich hielt sie in
+einem Zimmer stille, das, mit allerlei Geraetschaften ausgeputzt,
+beinahe einer Kueche glich, obgleich die Tische von Mahagoniholz und
+die Sofas, mit reichen Teppichen behaengt, mehr zu einem Prunkgemach
+passten. "Setze dich, Soehnchen", sagte die Alte recht freundlich,
+indem sie ihn in die Ecke eines Sofas drueckte und einen Tisch also
+vor ihn hinstellte, dass er nicht mehr hervorkommen konnte. "Setze
+dich, du hast gar schwer zu tragen gehabt, die Menschenkoepfe sind
+nicht so leicht, nicht so leicht."
+
+"Aber, Frau, was sprechet Ihr so wunderlich", rief der Kleine. "Muede
+bin ich zwar, aber es waren ja Kohlkoepfe, die ich getragen, Ihr habt
+sie meiner Mutter abgekauft."
+
+"Ei, das weisst du falsch", lachte das Weib, deckte den Deckel des
+Korbes auf und brachte einen Menschenkopf hervor, den sie am Schopf
+gefasst hatte. Der Kleine war vor Schrecken ausser sich; er konnte
+nicht fassen, wie dies alles zuging; aber er dachte an seine Mutter;
+wenn jemand von diesen Menschenkoepfen etwas erfahren wuerde, dachte er
+bei sich, da wuerde man gewiss meine Mutter dafuer anklagen.
+
+"Muss dir nun auch etwas geben zum Lohn, weil du so artig bist",
+murmelte die Alte, "gedulde dich nur ein Weilchen, will dir ein
+Sueppchen einbrocken, an das du dein Leben lang denken wirst." So
+sprach sie und pfiff wieder. Da kamen zuerst viele Meerschweinchen
+in menschlichen Kleidern; sie hatten Kuechenschuerzen umgebunden und im
+Guertel Ruehrloeffel und Tranchiermesser; nach diesen kam eine Menge
+Eichhoernchen hereingehuepft; sie hatten weite tuerkische Beinkleider an,
+gingen aufrecht, und auf dem Kopf trugen sie gruene Muetzchen von Samt.
+Diese schienen die Kuechenjungen zu sein; denn sie kletterten mit
+grosser Geschwindigkeit an den Waenden hinauf und brachten Pfannen und
+Schuesseln, Eier und Butter, Kraeuter und Mehl herab und trugen, es auf
+den Herd; dort aber fuhr die alte Frau auf ihren Pantoffeln von
+Kokosschalen bestaendig hin und her, und der Kleine sah, dass sie es
+sich recht angelegen sein lasse, ihm etwas Gutes zu kochen. Jetzt
+knisterte das Feuer hoeher empor, jetzt rauchte und sott es in der
+Pfanne, ein angenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer; die Alte
+aber rannte auf und ab, die Eichhoernchen und Meerschweinchen ihr nach,
+und so oft sie am Herde vorbeikam, guckte sie mit ihrer langen Nase
+in den Topf. Endlich fing es an zu sprudeln und zu zischen, Dampf
+stieg aus dem Topf hervor, und der Schaum floss herab ins Feuer. Da
+nahm sie ihn weg, goss davon in eine silberne Schale und setzte sie
+dem kleinen Jakob vor.
+
+"So, Soehnchen, so", sprach sie, "iss nur dieses Sueppchen, dann hast du
+alles, was dir an mir so gefallen! Sollst auch ein geschickter Koch
+werden, dass du noch etwas bist; aber Kraeutlein, nein, das Kraeutlein
+sollst du nimmer finden--Warum hat es deine Mutter nicht in ihrem
+Korb gehabt?" Der Kleine verstand nicht recht, was sie sprach, desto
+aufmerksamer behandelte er die Suppe, die ihm ganz trefflich
+schmeckte. Seine Mutter hatte ihm manche schmackhafte Speise
+bereitet; aber so gut war ihm noch nichts geworden. Der Duft von
+feinen Kraeutern und Gewuerzen stieg aus der Suppe auf, dabei war sie
+suess und saeuerlich zugleich und sehr stark. Waehrend er noch die
+letzten Tropfen der koestlichen Speise austrank, zuendeten die
+Meerschweinchen arabischen Weihrauch an, der in blaeulichen Wolken
+durch das Zimmer schwebte; dichter und immer dichter wurden diese
+Wolken und sanken herab, der Geruch des Weihrauchs wirkte betaeubend
+auf den Kleinen, er mochte sich zurufen, so oft er wollte, dass er zu
+seiner Mutter zurueckkehren muesse; wenn er sich ermannte, sank er
+immer wieder von neuem in den Schlummer zurueck und schlief endlich
+wirklich auf dem Sofa des alten Weibes ein.
+
+Sonderbare Traeume kamen ueber ihn. Es war ihm, als ziehe ihm die Alte
+seine Kleider aus und umhuelle ihn dafuer mit einem Eichhoernchenbalg.
+Jetzt konnte er Spruenge machen und klettern wie ein Eichhoernchen; er
+ging mit den uebrigen Eichhoernchen und Meerschweinchen, die sehr
+artige, gesittete Leute waren, um und hatte mit ihnen den Dienst bei
+der alten Frau. Zuerst wurde er nur zu den Diensten eines
+Schuhputzers gebraucht, d. h. er musste die Kokosnuesse, welche die
+Frau statt der Pantoffeln trug, mit Oel salben und durch Reiben
+glaenzend machen. Da er nun in seines Vaters Hause zu aehnlichen
+Geschaeften oft angehalten worden war, so ging es ihm flink von der
+Hand; etwa nach einem Jahre, traeumte er weiter, wurde er zu einem
+feineren Geschaeft gebraucht; er musste naemlich mit noch einigen
+Eichhoernchen Sonnenstaeubchen fangen und, wenn sie genug hatten,
+solche durch das feinste Haarsieb sieben. Die Frau hielt naemlich die
+Sonnenstaeubchen fuer das Allerfeinste, und weil sie nicht gut beissen
+konnte, denn sie hatte keinen Zahn mehr, so liess sie sich ihr Brot
+aus Sonnenstaeubchen zubereiten.
+
+Wiederum nach einem Jahre wurde er zu den Dienern versetzt, die das
+Trinkwasser fuer die Alte sammelten. Man denke nicht, dass sie sich
+hierzu etwa eine Zisterne haette graben lassen oder ein Fass in den Hof
+stellte, um das Regenwasser darin aufzufangen; da ging es viel feiner
+zu; die Eichhoernchen, und Jakob mit ihnen, mussten mit Haselnussschalen
+den Tau aus den Rosen schoepfen, und das war das Trinkwasser der Alten.
+Da sie nun bedeutend viel trank, so hatten die Wassertraeger schwere
+Arbeit. Nach einem Jahr wurde er zum inneren Dienst des Hauses
+bestellt; er hatte naemlich das Amt, die Boeden rein zu machen; da nun
+diese von Glas waren, worin man jeden Hauch sah, war das keine
+geringe Arbeit. Sie mussten sie buersten und altes ach an die Fuesse
+schnallen und auf diesem kuenstlich im Zimmer umherfahren. Im vierten
+Jahre ward er endlich zur Kueche versetzt. Es war dies ein Ehrenamt,
+zu welchem man nur nach langer Pruefung gelangen konnte. Jakob diente
+dort vom Kuechenjungen aufwaerts bis zum ersten Pastetenmacher und
+erreichte eine so ungemeine Geschicklichkeit und Erfahrung in allem,
+was die Kueche betrifft, dass er sich oft ueber sich selbst wundern
+musste; die schwierigsten Sachen, Pasteten von zweihunderterlei
+Essenzen, Kraeutersuppen, von allen Kraeutlein der Erde zusammengesetzt,
+alles lernte er, alles verstand er schnell und kraeftig zu machen.
+
+So waren etwa sieben Jahre im Dienste des alten Weibes vergangen, da
+befahl sie ihm eines Tages, indem sie die Kokosschuhe auszog, Korb
+und Krueckenstock zur Hand nahm, um auszugehen, er sollte ein Huehnlein
+rupfen, mit Kraeutern fuellen und solches schoen braeunlich und gelb
+roesten, bis sie wiederkaeme. Er tat dies nach den Regeln der Kunst.
+Er drehte dem Huehnlein den Kragen um, bruehte es in heissem Wasser, zog
+ihm geschickt die Federn aus, schabte ihm nachher die Haut, dass sie
+glatt und fein wurde, und nahm ihm die Eingeweide heraus. Sodann
+fing er an, die Kraeuter zu sammeln, womit er das Huehnlein fuellen
+sollte. In der Kraeuterkammer gewahrte er aber diesmal ein
+Wandschraenkchen, dessen Tuere halb geoeffnet war und das er sonst nie
+bemerkt hatte. Er ging neugierig naeher, um zu sehen, was es enthalte,
+und siehe da, es standen viele Koerbchen darinnen, von welchen ein
+starker, angenehmer Geruch ausging. Er oeffnete eines dieser Koerbchen
+und fand darin Kraeutlein von ganz besonderer Gestalt und Farbe. Die
+Stengel und Blaetter waren blaugruen und trugen oben eine kleine Blume
+von brennendem Rot, mit Gelb verbraemt; er betrachtete sinnend diese
+Blume, beroch sie, und sie stroemte denselben starken Geruch aus, von
+dem einst jene Suppe, die ihm die Alte gekocht, geduftet hatte. Aber
+so stark war der Geruch, dass er zu niesen anfing, immer heftiger
+niesen musste und--am Ende niesend erwachte.
+
+Da lag er auf dem Sofa des alten Weibes und blickte verwundert umher.
+"Nein, wie man aber so lebhaft traeumen kann!" sprach er zu sich,
+"haette ich jetzt doch schwoeren wollen, dass ich ein schnoedes
+Eichhoernchen, ein Kamerad von Meerschweinen und anderem Ungeziefer,
+dabei aber ein grosser Koch geworden sei. Wie wird die Mutter lachen,
+wenn ich ihr alles erzaehle! Aber wird sie nicht auch schmaelen, dass
+ich in einem fremden Hause einschlafe, statt ihr zu helfen auf dem
+Markte?" Mit diesen Gedanken raffte er sich auf, um hinwegzugehen;
+noch waren seine Glieder vom Schlafe ganz steif, besonders sein
+Nacken, denn er konnte den Kopf nicht recht hin und her bewegen; er
+musste auch selbst ueber sich laecheln, dass er so schlaftrunken war;
+denn alle Augenblicke, ehe er es sich versah, stiess er mit der Nase
+an einen Schrank oder an die Wand oder schlug sie, wenn er sich
+schnell umwandte, an einen Tuerpfosten. Die Eichhoernchen und
+Meerschweinchen liefen winselnd um ihn her, als wollten sie ihn
+begleiten, er lud sie auch wirklich ein, als er auf der Schwelle war,
+denn es waren niedliche Tierchen; aber sie fuhren auf ihren
+Nussschalen schnell ins Haus zurueck, und er hoerte sie nur noch in der
+Ferne heulen.
+
+Es war ein ziemlich entlegener Teil der Stadt, wohin ihn die Alte
+gefuehrt hatte, und er konnte sich kaum aus den engen Gassen
+herausfinden, auch war dort ein grosses Gedraenge; denn es musste sich,
+wie ihm duenkte, gerade in der Naehe ein Zwerg sehen lassen; ueberall
+hoerte er rufen: "Ei, sehet den haesslichen Zwerg! Wo kommt der Zwerg
+her? Ei, was hat er doch fuer eine lange Nase, und wie ihm der Kopf
+in den Schultern steckt, und die braunen, haesslichen Haende!" Zu einer
+andern Zeit waere er wohl auch nachgelaufen, denn er sah fuer sein
+Leben gern Riesen oder Zwerge oder seltsame fremde Trachten, aber so
+musste er sich sputen, um zur Mutter zu kommen.
+
+Es war ihm ganz aengstlich zumute, als er auf den Markt kam. Die
+Mutter sass noch da und hatte noch ziemlich viele Fruechte im Korb,
+lange konnte er also nicht geschlafen haben; aber doch kam es ihm von
+weitem schon vor, als sei sie sehr traurig; denn sie rief die
+Voruebergehenden nicht an, einzukaufen, sondern hatte den Kopf in die
+Hand gestuetzt, und als er naeher kam, glaubte er auch, sie sei
+bleicher als sonst. Er zauderte, was er tun sollte; endlich fasste er
+sich ein Herz, schlich sich hinter sie hin, legte traulich seine Hand
+auf ihren Arm und sprach: "Muetterchen, was fehlt dir? Bist du boese
+auf mich?"
+
+Die Frau wandte sich um nach ihm, fuhr aber mit einem Schrei des
+Entsetzens zurueck.
+
+"Was willst du von mir, haesslicher Zwerg?" rief sie. "Fort, fort!
+Ich kann dergleichen Possenspiele nicht leiden."
+
+"Aber, Mutter, was hast du denn?" fragte Jakob ganz erschrocken.
+"Dir ist gewiss nicht wohl; warum willst du denn deinen Sohn von dir
+jagen?"
+
+"Ich habe dir schon gesagt, gehe deines Weges!" entgegnete Frau Hanne
+zuernend. "Bei mir verdienst du kein Geld durch deine Gaukeleien,
+haessliche Missgeburt!"
+
+"Wahrhaftig, Gott hat ihr das Licht des Verstandes geraubt!" sprach
+der Kleine bekuemmert zu sich. "Was fange ich nur an, um sie nach
+Haus zu bringen? Lieb Muetterchen, so sei doch nur vernuenftig; sieh
+mich doch nur recht an; ich bin ja dein Sohn, dein Jakob."
+
+"Nein, jetzt wird mir der Spass zu unverschaemt", rief Hanne ihrer
+Nachbarin zu, "seht nur den haesslichen Zwerg da; da steht er und
+vertreibt mir gewiss alle Kaeufer, und mit meinem Unglueck wagt er zu
+spotten. Spricht zu mir: Ich bin ja dein Sohn, dein Jakob! Der
+Unverschaemte!"
+
+Da erhoben sich die Nachbarinnen und fingen an zu schimpfen, so arg
+sie konnten--und Marktweiber, wisset ihr wohl, verstehen es--, und
+schalten ihn, dass er des Ungluecks der armen Hanne spotte, der vor
+sieben Jahren ihr bildschoener 'Knabe gestohlen worden sei, und
+drohten, insgesamt ueber ihn herzufallen und ihn zu zerkratzen, wenn
+er nicht alsobald ginge.
+
+Der arme Jakob wusste nicht, was er von diesem allem denken sollte.
+War er doch, wie er glaubte, heute frueh wie gewoehnlich mit der Mutter
+auf den Markt gegangen, hatte ihr die Fruechte aufstellen helfen, war
+nachher mit dem alten Weib in ihr Haus gekommen, hatte ein Sueppchen
+verzehrt, ein kleines Schlaefchen gemacht und war jetzt wieder da, und
+doch sprachen die Mutter und die Nachbarinnen von sieben Jahren! Und
+sie nannten ihn einen garstigen Zwerg! Was war denn nun mit ihm
+vorgegangen?--Als er sah, dass die Mutter gar nichts mehr von ihm
+hoeren wollte, traten ihm die Traenen in die Augen, und er ging
+trauernd die Strasse hinab nach der Bude, wo sein Vater den Tag ueber
+Schuhe flickte. "Ich will doch sehen", dachte er bei sich, "ob er
+mich auch nicht kennen will, unter die Tuere will ich mich stellen und
+mit ihm sprechen." Als er an der Bude des Schusters angekommen war,
+stellte er sich unter die Tuere und schaute hinein. Der Meister war
+so emsig mit seiner Arbeit beschaeftigt, dass er ihn gar nicht sah; als
+er aber zufaellig einen Blick nach der Tuere warf, liess er Schuhe,
+Draht und Pfriem auf die Erde fallen und rief mit Entsetzen: "Um
+Gottes willen, was ist das, was ist das!"
+
+"Guten Abend, Meister!" sprach der Kleine, indem er vollends in den
+Laden trat. "Wie geht es Euch?"
+
+"Schlecht, schlecht, kleiner Herr!" antwortete der Vater zu Jakobs
+grosser Verwunderung; denn er schien ihn auch nicht zu kennen. "Das
+Geschaeft will mir nicht von der Hand. Bin so allein und werde jetzt
+alt; doch ist mir ein Geselle zu teuer."
+
+"Aber habt Ihr denn kein Soehnlein, das Euch nach und nach an die Hand
+gehen koennte bei der Arbeit?" forschte der Kleine weiter.
+
+"Ich hatte einen, er hiess Jakob und muesste jetzt ein schlanker,
+gewandter Bursche von zwanzig Jahren sein, der mir tuechtig unter die
+Arme greifen koennte. Ha, das muesste ein Leben sein! Schon als er
+zwoelf Jahre alt war, zeigte er sich so anstellig und geschickt und
+verstand schon manches vom Handwerk, und huebsch und angenehm war er
+auch; der haette mir eine Kundschaft hergelockt, dass ich bald nicht
+mehr geflickt, sondern nichts als Neues geliefert haette! Aber so
+geht's in der Welt!"
+
+"Wo ist denn aber Euer Sohn?" fragte Jakob mit zitternder Stimme
+seinen Vater.
+
+"Das weiss Gott", antwortete er, "vor sieben Jahren, ja, so lange
+ist's jetzt her, wurde er uns vom Markte weg gestohlen." 'Vor sieben
+Jahren!" rief Jakob mit Entsetzen.
+
+"Ja, kleiner Herr, vor sieben Jahren; ich weiss noch wie heute, wie
+mein Weib nach Hause kam, heulend und schreiend, das Kind sei den
+ganzen Tag nicht zurueckgekommen, sie aber ueberall geforscht und
+gesucht und es nicht gefunden. Ich habe es immer gedacht und gesagt,
+dass es so kommen wuerde; er Jakob war ein schoenes Kind, das muss man
+sagen; da war meine Frau stolz auf ihn und sah es gerne, wenn ihn die
+Leute lobten, und schickte ihn oft mit Gemuese und dergleichen in
+vornehme Haeuser. Das war schon recht; er wurde allemal reichlich
+beschenkt; aber, sagte ich, gib acht! Die Stadt ist gross; viele
+schlechte Leute wohnen da, gib mir auf den Jakob acht! Und so war es,
+wie ich sagte. Kommt einmal ein altes, haessliches Weib auf den Markt,
+feilscht um Fruechte und Gemuese und kauft am Ende so viel, dass sie es
+nicht selbst tragen kann. Mein Weib, die mitleidige Seele, gibt ihr
+den Jungen mit und--hat ihn zur Stunde nicht mehr gesehen."
+
+"Und das ist jetzt sieben Jahre, sagt Ihr?"
+
+"Sieben Jahre wird es im Fruehling. Wir liessen ihn ausrufen, wir
+gingen von Haus zu Haus und fragten; manche hatten den huebschen
+Jungen gekannt und liebgewonnen und suchten jetzt mit uns, alles
+vergeblich. Auch die Frau, welche das Gemuese gekauft hatte, wollte
+niemand kennen; aber ein steinaltes Weib, die schon neunzig Jahre
+gelebt hatte, sagte, es koenne wohl die boese Fee Kraeuterweis gewesen
+sein, die alle fuenfzig Jahre einmal in die Stadt komme, um sich
+allerlei einzukaufen."
+
+So sprach Jakobs Vater und klopfte dabei seine Schuhe weidlich und
+zog den Draht mit beiden Faeusten weit hinaus. Dem Kleinen aber wurde
+es nach und nach klar, was mit ihm vorgegangen, dass er naemlich nicht
+getraeumt, sondern dass er sieben Jahre bei der boesen Fee als
+Eichhoernchen gedient habe. Zorn und Gram erfuellten sein Herz so sehr,
+dass es beinahe zerspringen wollte. Sieben Jahre seiner Jugend hatte
+ihm die Alte gestohlen, und was hatte er fuer Ersatz dafuer? Dass er
+Pantoffeln von Kokosnuessen blank putzen, dass er ein Zimmer mit
+glaesernem Fussboden reinmachen konnte? Dass er von den Meerschweinchen
+alle Geheimnisse der Kueche gelernt hatte? Er stand eine gute Weile
+so da und dachte ueber sein Schicksal nach; da fragte ihn endlich sein
+Vater: "Ist Euch vielleicht etwas von meiner Arbeit gefaellig, junger
+Herr? Etwa ein Paar neue Pantoffeln oder", setzte er laechelnd hinzu,
+"vielleicht ein Futteral fuer Eure Nase?"
+
+"Was wollt Ihr nur mit meiner Nase?" fragte Jakob, "warum sollte ich
+denn ein Futteral dazu brauchen?"
+
+"Nun", entgegnete der Schuster, "jeder nach seinem Geschmack; aber
+das muss ich Euch sagen, haette ich diese schreckliche Nase, ein
+Futteral liess ich mir darueber machen von rosenfarbigem Glanzleder.
+Schaut, da habe ich ein schoenes Stueckchen zur Hand; freilich wuerde
+man eine Elle wenigstens dazu brauchen. Aber wie gut waeret Ihr
+verwahrt, kleiner Herr; so, weiss ich gewiss, stosst Ihr Euch an jedem
+Tuerpfosten, an jedem Wagen, dem Ihr ausweichen wollet."
+
+Der Kleine stand stumm vor Schrecken; er belastete seine Nase, sie
+war dick und wohl zwei Haende lang! So hatte also die Alte auch seine
+Gestalt verwandelt! Darum kannte ihn also die Mutter nicht? Darum
+schalt man ihn einen haesslichen Zwerg?! "Meister!" sprach er halb
+weinend zu dem Schuster, "habt Ihr keinen Spiegel bei der Hand, worin
+ich mich beschauen koennte?"
+
+"Junger Herr", erwiderte der Vater mit Ernst, "Ihr habt nicht gerade
+eine Gestalt empfangen, die Euch eitel machen koennte, und Ihr habt
+nicht Ursache, alle Stunden in den Spiegel zu gucken. Gewoehnt es
+Euch ab, es ist besonders bei Euch eine laecherliche Gewohnheit."
+
+"Ach, so lasst mich doch in den Spiegel schauen", rief der Kleine,
+"gewiss, es ist nicht aus Eitelkeit!"
+
+"Lasset mich in Ruhe, ich hab' keinen im Vermoegen; meine Frau hat ein
+Spiegelchen, ich weiss aber nicht, wo sie es verborgen. Muesst Ihr aber
+durchaus in den Spiegel gucken, nun, ueber der Strasse hin wohnt Urban,
+der Barbier, der hat einen Spiegel, zweimal so gross als Euer Kopf;
+gucket dort hinein, und indessen guten Morgen!"
+
+Mit diesen Worten schob ihn der Vater ganz gelinde zur Bude hinaus,
+schloss die Tuer hinter ihm zu und setzte sich wieder zur Arbeit. Der
+Kleine aber ging sehr niedergeschlagen ueber die Strasse zu Urban, dem
+Barbier, den er noch aus frueheren Zeiten wohl kannte. "Guten Morgen,
+Urban", sprach er zu ihm, "ich komme, Euch um eine Gefaelligkeit zu
+bitten; seid so gut und lasset mich ein wenig in Euren Spiegel
+schauen!"
+
+"Mit Vergnuegen, dort steht er", rief der Barbier lachend, und seine
+Kunden, denen er den Bart scheren sollte, lachten weidlich mit. "Ihr
+seid ein huebsches Buerschchen, schlank und fein, ein Haelschen wie ein
+Schwan, Haendchen wie eine Koenigin, und ein Stumpfnaeschen, man kann es
+nicht schoener sehen. Ein wenig eitel seid Ihr darauf, das ist wahr;
+aber beschauet Euch immer! Man soll nicht von mir sagen, ich habe
+Euch aus Neid nicht in meinen Spiegel schauen lassen."
+
+So sprach der Barbier, und wieherndes Gelaechter faellte die Baderstube.
+Der Kleine aber war indes vor den Spiegel getreten und hatte sich
+beschaut. Traenen traten ihm in die Augen. "Ja, so konntest du
+freilich deinen Jakob nicht wiedererkennen, liebe Mutter", sprach er
+zu sich, "so war er nicht anzuschauen in den Tagen der Freude, wo du
+gerne mit ihm prangtest vor den Leuten!" Seine Augen waren klein
+geworden wie die der Schweine, seine Nase war ungeheuer und hing ueber
+Mund und Kinn herunter, der Hals schien gaenzlich weggenommen worden
+zu sein; denn sein Kopf stak tief in den Schultern, und nur mit den
+groessten Schmerzen konnte er ihn rechts und links bewegen. Sein
+Koerper war noch so gross als vor sieben Jahren, da er zwoelf Jahre alt
+war; aber wenn andere vom zwoelften bis ins zwanzigste in die Hoehe
+wachsen, so wuchs er in die Breite, der Ruecken und die Brust waren
+weit ausgebogen und waren anzusehen wie ein kleiner, aber sehr dick
+gefaellter Sack; dieser dicke Oberleib sass auf kleinen, schwachen
+Beinchen, die dieser Last nicht gewachsen schienen, aber um so groesser
+waren die Arme, die ihm am Leib herabhingen, sie hatten die Groesse wie
+die eines wohlgewachsenen Mannes, seine Haende waren grob und
+braungelb, seine Finger lang und spinnenartig, und wenn er sie recht
+ausstreckte, konnte er damit auf den Boden reichen, ohne dass er sich
+bueckte. So sah er aus, der kleine Jakob, zum missgestalteten Zwerg
+war er geworden.
+
+Jetzt gedachte er auch jenes Morgens, an welchem das alte Weib an die
+Koerbe seiner Mutter getreten war. Alles, was er damals an ihr
+getadelt hatte, die lange Nase, die haesslichen Finger, alles hatte sie
+ihm angetan, und nur den langen, zitternden Hals hatte sie gaenzlich
+weggelassen.
+
+"Nun, habt Ihr Euch jetzt genug beschaut, mein Prinz?" sagte der
+Barbier, indem er zu ihm trat und ihn lachend betrachtete. "Wahrlich,
+wenn man sich dergleichen traeumen lassen wollte, so komisch koennte
+es einem im Traume nicht vorkommen. Doch ich will Euch einen
+Vorschlag machen, kleiner Mann. Mein Barbierzimmer ist zwar sehr
+besucht, aber doch seit neuerer Zeit nicht so, wie ich wuensche. Das
+kommt daher, weil mein Nachbar, der Barbier Schaum, irgendwo einen
+Riesen aufgefunden hat, der ihm die Kunden ins Haus lockt. Nun, ein
+Riese zu werden, ist gerade keine Kunst, aber so ein Maennchen wie Ihr,
+ja, das ist schon ein ander Ding. Tretet bei mir in Dienste,
+kleiner Mann, Ihr sollt Wohnung, Essen, Trinken, Kleider, alles sollt
+Ihr haben; dafuer stellt Ihr Euch morgens unter meine Tuere und ladet
+die Leute ein, hereinzukommen. Ihr schlaget den Seifenschaum,
+reichet den Kunden das Handtuch und seid versichert, wir stehen uns
+beide gut dabei; ich bekomme mehr Kunden als jener mit dem Riesen,
+und jeder gibt Euch gerne noch ein Trinkgeld."
+
+Der Kleine war in seinem Innern empoert ueber den Vorschlag, als
+Lockvogel fuer einen Barbier zu dienen. Aber musste er sich nicht
+diesen Schimpf geduldig gefallen lassen? Er sagte dem Barbier daher
+ganz ruhig, dass er nicht Zeit habe zu dergleichen Diensten, und ging
+weiter.
+
+Hatte das boese alte Weib seine Gestalt unterdrueckt, so hatte sie doch
+seinem Geist nichts anhaben koennen, das fuehlte er wohl; denn er
+dachte und fuehlte nicht mehr, wie er vor sieben Jahren getan; nein,
+er glaubte in diesem Zeitraum weiser, verstaendiger geworden zu sein;
+er trauerte nicht um seine verlorene Schoenheit, nicht ueber diese
+haessliche Gestalt, sondern nur darueber, dass er wie ein Hund von der
+Tuere seines Vaters gejagt werde. Darum beschloss er, noch einen
+Versuch bei seiner Mutter zu machen.
+
+Er trat zu ihr auf den Markt und bat sie, ihm ruhig zuzuhoeren. Er
+erinnerte sie an jenen Tag, an welchem er mit dem alten Weibe
+gegangen, er erinnerte sie an alle einzelnen Vorfaelle seiner Kindheit,
+erzaehlte ihr dann, wie er sieben Jahre als Eichhoernchen gedient habe
+bei der Fee und wie sie ihn verwandelte, weil er sie damals getadelt.
+Die Frau des Schusters wusste nicht, was sie denken sollte. Alles
+traf zu, was er ihr von seiner Kindheit erzaehlte, aber wenn er davon
+sprach, dass er sieben Jahre lang ein Eichhoernchen gewesen sei, da
+sprach sie: "Es ist unmoeglich, und es gibt keine Feen", und wenn sie
+ihn ansah, so verabscheute sie den haesslichen Zwerg und glaubte nicht,
+dass dies ihr Sohn sein koenne. Endlich hielt sie es fuers beste, mit
+ihrem Manne darueber zu sprechen. Sie raffte also ihre Koerbe zusammen
+und hiess ihn mitgehen. So kamen sie zu der Bude des Schusters.
+
+"Sieh einmal", sprach sie zu diesem, "der Mensch da will unser
+verlorner Jakob sein. Er hat mir alles erzaehlt, wie er uns vor
+sieben Jahren gestohlen wurde und wie er von einer Fee verzaubert
+worden sei."
+
+"So?" unterbrach sie der Schuster mit Zorn, "hat er dir dies erzaehlt?
+Warte, du Range! Ich habe ihm alles erzaehlt noch vor einer Stunde,
+und jetzt geht er hin, dich so zu foppen! Verzaubert bist du worden,
+mein Soehnchen? Warte doch, ich will dich wieder entzaubern." Dabei
+nahm er ein Buendel Riemen, die er eben zugeschnitten hatte, sprang
+auf den Kleinen zu und schlug ihn auf den hohen Ruecken und auf die
+langen Arme, dass der Kleine vor Schmerz aufschrie und weinend
+davonlief.
+
+In jener Stadt gibt es, wie ueberall, wenige mitleidige Seelen, die
+einen Ungluecklichen, der zugleich etwas Laecherliches an sich traegt,
+unterstuetzen. Daher kam es, dass der unglueckliche Zwerg den ganzen
+Tag ohne Speise und Trank blieb und abends die Treppen einer Kirche,
+so hart und kalt sie waren, zum Nachtlager waehlen musste.
+
+Als ihn aber am naechsten Morgen die ersten Strahlen der Sonne
+erweckten, da dachte er ernstlich darueber nach, wie er sein Leben
+fristen koenne, da ihn Vater und Mutter verstossen. Er fuehlte sich zu
+stolz, um als Aushaengeschild eines Barbiers zu dienen, er wollte
+nicht zu einem Possenreisser sich verdingen und sich um Geld sehen
+lassen. Was sollte er anfangen? Da fiel ihm mit einemmal bei, dass
+er als Eichhoernchen grosse Fortschritte in der Kochkunst gemacht habe;
+er glaubte nicht mit Unrecht, hoffen zu duerfen, dass er es mit manchem
+Koch aufnehmen koenne; er beschloss, seine Kunst zu benuetzen.
+
+Sobald es daher lebhafter wurde auf den Strassen und der Morgen ganz
+heraufgekommen war, trat er zuerst in die Kirche und verrichtete sein
+Gebet. Dann trat er seinen Weg an. Der Herzog, der Herr des Landes,
+o Herr, war ein bekannter Schlemmer und Lecker, der eine gute Tafel
+liebte und seine Koeche in allen Weltteilen aufsuchte. Zu seinem
+Palast begab sich der Kleine. Als er an die aeusserste Pforte kam,
+fragten die Tuerhueter nach seinem Begehr und hatten ihren Spott mit
+ihm; er aber verlangte nach dem Oberkuechenmeister. Sie lachten und
+fuehrten ihn durch die Vorhoefe, und wo er hinkam, blieben die Diener
+stehen, schauten nach ihm, lachten weidlich und schlossen sich an, so
+dass nach und nach ein ungeheurer Zug von Dienern aller Art sich die
+Treppe des Palastes hinaufbewegte; die Stallknechte warfen ihre
+Striegel weg, die Laeufer liefen, was sie konnten, die Teppichbreiter
+vergassen, die Teppiche auszuklopfen, alles draengte und trieb sich, es
+war ein Gefuehl, als sei der Feind vor den Toren, und das Geschrei:
+"Ein Zwerg, ein Zwerg! Habt ihr den Zwerg gesehen?" faellte die Luefte.
+
+Da erschien der Aufseher des Hauses mit grimmigem Gesicht, eine
+ungeheure Peitsche in der Hand, in der Tuere. "Um des Himmels willen,
+ihr Hunde, was macht ihr solchen Laerm! Wisset ihr nicht, dass der
+Herr noch schlaeft?" Und dabei schwang er die Geissel und liess sie
+unsanft auf den Ruecken einiger Stallknechte und Tuerhalter
+niederfallen.
+
+"Ach, Herr!" riefen sie, "seht Ihr denn nicht? Da bringen wir einen
+Zwerg, einen Zwerg, wie Ihr noch keinen gesehen."
+
+Der Aufseher des Palastes zwang sich mit Muehe, nicht laut aufzulachen,
+als er des Kleinen ansichtig wurde; denn er fuerchtete, durch Lachen
+seiner Wuerde zu schaden. Er trieb daher mit der Peitsche die uebrigen
+hinweg, fuehrte den Kleinen ins Haus und fragte nach seinem Begehr.
+Als er hoerte, jener wolle zum Kuechenmeister, erwiderte er--"Du irrst
+dich, mein Soehnchen; zu mir, dem Aufseher des Hauses, willst du; du
+willst Leibzwerg werden beim Herzog; ist es nicht also?"
+
+"Nein, Herr!" antwortete der Zwerg. "Ich bin ein geschickter Koch
+und erfahren in allerlei seltenen Speisen; wollet mich zum
+Oberkuechenmeister bringen; vielleicht kann er meine Kunst brauchen."
+
+"Jeder nach seinem Willen, kleiner Mann; uebrigens bist du doch ein
+unbesonnener Junge. In die Kueche! Als Leibzwerg haettest du keine
+Arbeit gehabt und Essen und Trinken nach Herzenslust und schoene
+Kleider. Doch, wir wollen sehen, deine Kochkunst wird schwerlich so
+weit reichen, als ein Mundkoch des Herren noetig hat, und zum
+Kuechenjungen bist du zu gut." Bei diesen Worten nahm ihn der Aufseher
+des Palastes bei der Hand und fuehrte ihn in die Gemaecher des
+Oberkuechenmeisters.
+
+"Gnaediger Herr", sprach dort der Zwerg und verbeugte sich so tief,
+dass er mit der Nase den Fussteppich beruehrte, "brauchet Ihr keinen
+geschickten Koch?"
+
+Der Oberkuechenmeister betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Fuessen,
+brach dann in lautes Lachen aus und sprach: "Wie?" rief er, "du ein
+Koch? Meinst du, unsere Herde seien so niedrig, dass du nur auf einen
+hinaufschauen kannst, wenn du dich auch auf die Zehen stellst und den
+Kopf recht aus den Schultern herausarbeitest? O lieber Kleiner! Wer
+dich zu mir geschickt hat, um dich als Koch zu verdingen, der hat
+dich zum Narren gehabt." So sprach der Oberkuechenmeister und lachte
+weidlich, und mit ihm lachten der Aufseher des Palastes und alle
+Diener, die im Zimmer waren.
+
+Der Zwerg aber liess sich nicht aus der Fassung bringen. "Was liegt
+an einem Ei oder zweien, an ein wenig Sirup und Wein, an Mehl und
+Gewuerze in einem Hause, wo man dessen genug hat?" sprach er. "Gebet
+mir irgendeine leckerhafte Speise zu bereiten auf, schaffet mir, was
+ich dazu brauche, und sie soll vor Euren Augen schnell bereitet sein,
+und Ihr sollet sagen muessen, er ist ein Koch nach Regel und Recht."
+Solche und aehnliche Reden fuehrte der Kleine, und es war wunderlich
+anzuschauen, wie es dabei aus seinen kleinen Aeuglein hervorblitzte,
+wie seine lange Nase sich hin und her schlaengelte und seine duennen
+Spinnenfinger seine Rede begleiteten.
+
+"Wohlan!" rief der Kuechenmeister und nahm den Aufseher des Palastes
+unter dem Arme, "wohlan, es sei um des Spasses willen; lasset uns zur
+Kueche gehen!" Sie gingen durch mehrere Saele und Gaenge und kamen
+endlich in die Kueche. Es war dies ein grosses, weitlaeufiges Gebaeude,
+herrlich eingerichtet; auf zwanzig Herden brannten bestaendig Feuer;
+ein klares Wasser, das zugleich zum Fischbehaelter diente, floss mitten
+durch sie, in Schraenken von Marmor und koestlichem Holz waren die
+Vorraete aufgestellt, die man immer zur Hand haben musste, und zur
+Rechten und Linken waren zehn Saele, in welchen alles aufgespeichert
+war, was man in allen Laendern von Frankistan und selbst im
+Morgenlande Koestliches und Leckeres fuer den Gaumen erfunden.
+Kuechenbedienstete aller Art liefen umher und rasselten und hantierten
+mit Kesseln und Pfannen, mit Gabeln und Schaumloeffeln; als aber der
+Oberkuechenmeister in die Kueche eintrat, blieben sie alle regungslos
+stehen, und nur das Feuer hoerte man noch knistern und das Baechlein
+rieseln. "Was hat der Herr heute zum Fruehstueck befohlen?" fragte der
+Meister den ersten Fruehstuecksmacher, einen alten Koch. "Herr, die
+daenische Suppe hat er geruht zu befehlen und rote Hamburger Kloesschen."
+
+"Gut", sprach der Kuechenmeister weiter, "hast du gehoert, was der Herr
+speisen will? Getraust du dich, diese schwierigen Speisen zu
+bereiten? Die Kloesschen bringst du auf keinen Fall heraus, das ist
+ein Geheimnis."
+
+"Nichts leichter als dies", erwiderte zu allgemeinem Erstaunen der
+Zwerg; denn er hatte diese Speisen als Eichhoernchen oft gemacht;
+"nichts leichter! Man gebe mir zu der Suppe die und die Kraeuter,
+dies und jenes Gewuerz, Fett von einem wilden Schwein, Wurzeln und
+Eier; zu den Kloesschen aber", sprach er leiser, dass es nur der
+Kuechenmeister und der Fruehstuecksmacher hoeren konnten, "zu den
+Kloesschen brauche ich viererlei Fleisch, etwas Wein, Entenschmalz,
+Ingwer und ein gewisses Kraut, das man Magentrost heisst."
+
+"Hai Bei St. Benedikt! Bei welchem Zauberer hast du gelernt?" rief
+der Koch mit Staunen. "Alles bis auf ein Haar hat er gesagt, und das
+Kraeutlein Magentrost haben wir selbst nicht gewusst; ja, das muss es
+noch angenehmer machen. O du Wunder von einem Koch!"
+
+"Das haette ich nicht gedacht", sagte der Oberkuechenmeister, "doch
+lassen wir ihn die Probe machen; gebt ihm die Sachen, die er verlangt,
+Geschirr und alles, und lasset ihn das Fruehstueck bereiten."
+
+Man tat, wie er befohlen, und ruestete alles auf dem Herde zu; aber da
+fand es sich, dass der Zwerg kaum mit der Nase bis an den Herd reichen
+konnte. Man setzte daher ein paar Stuehle zusammen, legte eine
+Marmorplatte darueber und lud den kleinen Wundermann ein, sein
+Kunststueck zu beginnen. In einem grossen Kreise standen die Koeche,
+Kuechenjungen, Diener und allerlei Volk umher und sahen zu und
+staunten, wie ihm alles so flink und fertig von der Hand ging, wie er
+alles so reinlich und niedlich bereitete. Als er mit der Zubereitung
+fertig war, befahl er, beide Schuesseln ans Feuer zu setzen und genau
+so lange kochen zu lassen, bis er rufen werde; dann fing er an zu
+zaehlen, eins, zwei drei und so fort, und gerade als er fuenfhundert
+gezaehlt hatte, rief er: "Halt!" Die Toepfe wurden weggesetzt, und der
+Kleine lud den Kuechenmeister ein, zu kosten.
+
+Der Mundkoch liess sich von einem Kuechenjungen einen goldenen Loeffel
+reichen, spuelte ihn im Bach und ueberreichte ihn dem Oberkuechenmeister.
+Dieser trat mit feierlicher Miene an den Herd, nahm von den Speisen,
+kostete, drueckte die Augen zu, schnalzte vor Vergnuegen mit der Zunge
+und sprach dann: "Koestlich, bei des Herzogs Leben, koestlich! Wollet
+Ihr nicht auch ein Loeffelchen zu Euch nehmen, Aufseher des Palastes?"
+
+Dieser verbeugte sich, nahm den Loeffel, versuchte und war vor
+Vergnuegen und Lust ausser sich. "Eure Kunst in Ehren, lieber
+Fruehstuecksmacher, Ihr seid ein erfahrener Koch; aber so herrlich habt
+Ihr weder die Suppe noch die Hamburger Kloesse machen koennen!"
+
+Auch der Koch kostete jetzt, schuettelte dann dem Zwerg ehrfurchtsvoll
+die Hand und sagte: "Kleiner! Du bist Meister in der Kunst, ja, das
+Kraeutlein Magentrost, das gibt allem einen ganz eigenen Reiz."
+
+In diesem Augenblick kam der Kammerdiener des Herzogs in die Kueche
+und berichtete, dass der Herr das Fruehstueck verlange. Die Speisen
+wurden nun auf silberne Platten gelegt und dem Herzog zugeschickt;
+der Oberkuechenmeister aber nahm den Kleinen in sein Zimmer und
+unterhielt sich mit ihm. Kaum waren sie aber halb so lange da, als
+man ein Paternoster spricht (es ist dies das Gebet der Franken, o
+Herr, und dauert nicht halb so lange als das Gebet der Glaeubigen), so
+kam schon ein Bote und rief den Oberkuechenmeister zum Herrn. Er
+kleidete sich schnell in sein Festkleid und folgte dem Boten.
+
+Der Herzog sah sehr vergnuegt aus. Er hatte alles aufgezehrt, was auf
+den silbernen Platten gewesen war, und wischte sich eben den Bart ab,
+als der Oberkuechenmeister zu ihm eintrat. "Hoere, Kuechenmeister",
+sprach er, "ich bin mit deinen Koechen bisher immer sehr zufrieden
+gewesen; aber sage mir, wer hat heute mein Fruehstueck bereitet? So
+koestlich war es nie, seit ich auf dem Thron meiner Vaeter sitze; sage
+an, wie er heisst, der Koch, dass wir ihm einige Dukaten zum Geschenk
+schicken."
+
+"Herr, das ist eine wunderbare Geschichte", antwortete der
+Oberkuechenmeister und erzaehlte, wie man ihm heute frueh einen Zwerg
+gebracht, der durchaus Koch werden wollte und wie sich dies alles
+begeben. Der Herzog verwunderte sich hoechlich, liess den Zwerg vor
+sich rufen und fragte ihn aus, wer er sei und woher er komme. Da
+konnte nun der arme Jakob freilich nicht sagen, dass er verzaubert
+worden sei und frueher als Eichhoernchen gedient habe; doch blieb er
+bei der Wahrheit, indem er erzaehlte, er sei jetzt ohne Vater und
+Mutter und habe bei einer alten Frau kochen gelernt. Der Herzog
+fragte nicht weiter, sondern ergoetzte sich an der sonderbaren Gestalt
+seines neuen Kochs.
+
+"Willst du bei mir bleiben", sprach er, "so will ich dir jaehrlich
+fuenfzig Dukaten, ein Festkleid und noch ueberdies zwei Paar
+Beinkleider reichen lassen. Dafuer musst du aber taeglich mein
+Fruehstueck selbst bereiten, musst angeben, wie das Mittagessen gemacht
+werden soll, und Oberhaupt dich meiner Kueche annehmen. Da jeder in
+meinem Palast seinen eigenen Namen von mir empfaengt, so sollst du
+Nase heissen und die Wuerde eines Unterkuechenmeisters bekleiden."
+
+Der Zwerg Nase fiel nieder vor dem maechtigen Herzog in Frankenland,
+kuesste ihm die Fuesse und versprach, ihm treu zu dienen.
+
+So war nun der Kleine fuers erste versorgt, und er machte seinem Amt
+Ehre. Denn man kann sagen, dass der Herzog ein ganz anderer Mann war,
+waehrend der Zwerg Nase sich in seinem Hause aufhielt. Sonst hatte es
+ihm oft beliebt, die Schuesseln oder Platten, die man ihm auftrug, den
+Koechen an den Kopf zu werfen; ja, dem Oberkuechenmeister selbst warf
+er im Zorn einmal einen gebackenen Kalbsfass, der nicht weich genug
+geworden war, so heftig an die Stirne, dass er umfiel und drei Tage zu
+Bett liegen musste. Der Herzog machte zwar, was er im Zorn getan,
+durch einige Haende voll Dukaten wieder gut, aber dennoch war nie ein
+Koch ohne Zittern und Zagen mit den Speisen zu ihm gekommen. Seit
+der Zwerg im Hause war, schien alles wie durch Zauber umgewandelt.
+Der Herr ass jetzt statt dreimal des Tages fuenfmal, um sich an der
+Kunst seines kleinsten Dieners recht zu laben, und dennoch verzog er
+nie eine Miene zum Unmut. Nein, er fand alles neu, trefflich, war
+leutselig und angenehm und wurde von Tag zu Tag fetter.
+
+Oft liess er mitten unter der Tafel den Kuechenmeister und den Zwerg
+Nase rufen, setzte den einen rechts, den anderen links zu sich und
+schob ihnen mit seinen eigenen Fingern einige Bissen der koestlichsten
+Speisen in den Mund, eine Gnade, welche sie beide wohl zu schaetzen
+wussten.
+
+Der Zwerg war das Wunder der Stadt. Man erbat sich flehentlich
+Erlaubnis vom Oberkuechenmeister, den Zwerg kochen zu sehen, und
+einige der vornehmsten Maenner hatten es so weit gebracht beim Herzog,
+dass ihre Diener in der Kueche beim Zwerg Unterrichtsstunden geniessen
+durften, was nicht wenig Geld eintrug; denn jeder zahlte taeglich
+einen halben Dukaten. Und um die uebrigen Koeche bei guter Laune zu
+erhalten und sie nicht neidisch auf ihn zu machen, ueberliess ihnen
+Nase dieses Geld, das die Herren fuer den Unterricht ihrer Koeche
+zahlen mussten.
+
+So lebte Nase beinahe zwei Jahre in aeusserlichem Wohlleben und Ehre,
+und nur der Gedanke an seine Eltern betruebte ihn; so lebte er, ohne
+etwas Merkwuerdiges zu erfahren, bis sich folgender Vorfall ereignete.
+Der Zwerg Nase war besonders geschickt und gluecklich in seinen
+Einkaeufen. Daher ging er, so oft es ihm die Zeit erlaubte, immer
+selbst auf den Markt, um Gefluegel und Fruechte einzukaufen. Eines
+Morgens ging er auch auf den Gaensemarkt und forschte nach schweren,
+fetten Gaensen, wie sie der Herr liebte. Er war musternd schon
+einigemal auf und ab gegangen. Seine Gestalt, weit entfernt, hier
+Lachen und Spott zu erregen, gebot Ehrfurcht; denn man erkannte ihn
+als den beruehmten Mundkoch des Herzogs, und jede Gaensefrau fuehlte
+sich gluecklich, wenn er ihr die Nase zuwandte.
+
+Da sah er ganz am Ende einer Reihe in einer Ecke eine Frau sitzen,
+die auch Gaense feil hatte, aber nicht wie die uebrigen ihre Ware
+anpries; zu dieser trat er und mass und wog ihre Gaense. Sie waren,
+wie er sie wuenschte, und er kaufte drei samt dem Kaefig, lud sie auf
+seine breiten Schultern und trat den Rueckweg an. Da kam es ihm
+sonderbar vor, dass nur zwei von diesen Gaensen schnatterten und
+schrien, wie rechte Gaense zu tun pflegen, die dritte aber ganz still
+und in sich gekehrt dasass und Seufzer ausstiess und aechzte wie ein
+Mensch--"Die ist halbkrank", sprach er vor sich hin, "ich muss eilen,
+dass ich sie umbringe und zurichte." Aber die Gans antwortete ganz
+deutlich und laut:
+
+"Stichst du mich, So beiss' ich dich. Drueckst du mir die Kehle ab,
+Bring' ich dich ins fruehe Grab."
+
+Ganz erschrocken setzte der Zwerg Nase seinen Kaefig nieder, und die
+Gans sah ihn mit schoenen, klugen Augen an und seufzte.
+
+"Ei der Tausend!" rief Nase. "Sie kann sprechen, Jungfer Gans? Das
+haette ich nicht gedacht. Na, sei Sie nur nicht aengstlich! Man weiss
+zu leben und wird einem so seltenen Vogel nicht zu Leibe gehen. Aber
+ich wollte wetten, Sie ist nicht von jeher in diesen Federn gewesen.
+War ich ja selbst einmal ein schnoedes Eichhoernchen."
+
+"Du hast recht", erwiderte die Gans, "wenn du sagst, ich sei nicht in
+dieser schmachvollen Huelle geboren worden. Ach, an meiner Wiege
+wurde es mir nicht gesungen, dass Mimi, des grossen Wetterbocks Tochter,
+in der Kueche eines Herzogs getoetet werden soll!"
+
+"Sei Sie doch ruhig, liebe Jungfer Mimi", troestete der Zwerg. "So
+wahr ich ein ehrlicher Kerl und Unterkuechenmeister Seiner Durchlaucht
+bin, es soll Ihr keiner an die Kehle. Ich will Ihr in meinen eigenen
+Gemaechern einen Stall anweisen, Futter soll Sie genug haben, und
+meine freie Zeit werde ich Ihrer Unterhaltung widmen; den uebrigen
+Kuechenmenschen werde ich sagen, dass ich eine Gans mit allerlei
+besonderen Kraeutern fuer den Herzog maeste, und sobald sich Gelegenheit
+findet, setze ich Sie in Freiheit."
+
+Die Gans dankte ihm mit Traenen; der Zwerg aber tat, wie er
+versprochen, schlachtete die zwei anderen Gaense, fuer Mimi aber baute
+er einen eigenen Stall unter dem Vorwande, sie fuer den Herzog ganz
+besonders zuzurichten. Er gab ihr auch kein gewoehnliches Gaensefutter,
+sondern versah sie mit Backwerk und suessen Speisen.
+
+So oft er freie Zeit hatte, ging er hin, sich mit ihr zu unterhalten
+und sie zu troesten. Sie erzaehlten sich auch gegenseitig ihre
+Geschichten, und Nase erfuhr auf diesem Wege, dass die Gans eine
+Tochter des Zauberers Wetterbock sei, der auf der Insel Gotland lebe.
+Er sei in Streit geraten mit einer alten Fee, die ihn durch Raenke
+und List ueberwunden und sie zur Rache in eine Gans verwandelt und
+weit hinweg bis hierher gebracht habe. Als der Zwerg Nase ihr seine
+Geschichte ebenfalls erzaehlt hatte, sprach sie: "Ich bin nicht
+unerfahren in "lesen Sachen. Mein Vater hat mir und meinen
+Schwestern einige Anleitung gegeben, so viel er naemlich davon
+mitteilen durfte. Die Geschichte mit dem Streit am Kraeuterkorb,
+deine ploetzliche Verwandlung, als du an jenem Kraeutlein rochst, auch
+einige Worte der Alten, die du mir sagtest, beweisen mir, dass du auf
+Kraeuter verzaubert bist, das heisst, wenn du das Kraut auffindest, das
+sich die Fee bei deiner Verzauberung gedacht hat, so kannst du erloest
+werden." Es war dies ein geringer Trost fuer den Kleinen; denn wo
+sollte er das Kraut auffinden? Doch dankte er ihr und schoepfte
+einige Hoffnung.
+
+Um diese Zeit bekam der Herzog einen Besuch von einem benachbarten
+Fuersten, seinem Freunde. Er liess daher seinen Zwerg Nase vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du mir
+zeigen musst, ob du mir treu dienst und Meister deiner Kunst bist.
+Dieser Fuerst, der bei mir zu Besuch ist, speist bekanntlich ausser mir
+am besten und ist ein grosser Kenner einer feinen Kueche und ein weiser
+Mann. Sorge nun dafuer, dass meine Tafel taeglich also besorgt werde,
+dass er immer mehr in Erstaunen geraet. Dabei darfst du, bei meiner
+Ungnade, so lange er da ist, keine Speise zweimal bringen. Dafuer
+kannst du dir von meinem Schatzmeister alles reichen lassen, was du
+nur brauchst. Und wenn du Gold und Diamanten in Schmalz baden musst
+so tu es! Ich will lieber ein armer Mann werden, als erroeten vor ihm."
+
+So sprach der Herzog! Der Zwerg aber sagte, indem er sich anstaendig
+verbeugte: "Es sei, wie du sagst, o Herr! So es Gott der gefaellt,
+werde ich alles so machen, dass es diesem Fuersten der Gutschmecker
+wohlgefaellt."
+
+Der kleine Koch suchte nun seine ganze Kunst hervor. Er schonte die
+Schaetze seines Herrn nicht, noch weniger aber sich selbst. Denn man
+sah ihn den ganzen Tag in eine Wolke von Rauch und Feuer eingehuellt,
+und seine Stimme hallte bestaendig durch das Gewoelbe der Kueche; denn
+er befahl als Herrscher den Kuechenjungen und niederen Koechen. Herr!
+Ich koennte es machen wie die Kameltreiber von Aleppo, wenn sie in
+ihren Geschichten, die sie den Reisenden erzaehlen, die Menschen
+herrlich speisen lassen. Sie fuehren eine ganze Stunde lang alle die
+Gerichte an, die aufgetragen worden sind, und erwecken dadurch grosse
+Sehnsucht und noch groesseren Hunger in ihren Zuhoerern, so dass diese
+unwillkuerlich die Vorraete oeffnen und eine Mahlzeit halten und den
+Kameltreibern reichlich mitteilen; doch ich nicht also.
+
+Der fremde Fuerst war schon vierzehn Tage beim Herzog und lebte
+herrlich und in Freuden. Sie speisten des Tages nicht weniger als
+fuenfmal, und der Herzog war zufrieden mit der Kunst des Zwerges; denn
+er sah Zufriedenheit auf der Stirne seines Gastes. Am fuenfzehnten
+Tage aber begab es sich, dass der Herzog den Zwerg zur Tafel rufen
+liess, ihn seinem Gast, dem Fuersten, vorstellte und diesen fragte, wie
+er mit dem Zwerg zufrieden sei.
+
+"Du bist ein wunderbarer Koch", antwortete der fremde Fuerst, "und
+weisst, was anstaendig essen heisst. Du hast in der ganzen Zeit, da ich
+hier bin, nicht eine einzige Speise wiederholt und alles trefflich
+bereitet. Aber sage mir doch, warum bringst du so lange nicht die
+Koenigin der Speisen, die Pastete Souzeraine?"
+
+Der Zwerg war sehr erschrocken; denn er hatte von dieser
+Pastetenkoenigin nie gehoert; doch fasste er sich und antwortete: "O
+Herr! Noch lange, hoffte ich, sollte dein Angesicht leuchten an
+diesem Hoflager, darum wartete ich mit dieser Speise; denn womit
+sollte dich denn der Koch begruessen am Tage des Scheidens als mit der
+Koenigin der Pasteten?"
+
+"So?" entgegnete der Herzog lachend. "Und bei mir wolltest du wohl
+warten bis an meinen Tod, um mich dann noch zu begruessen? Denn auch
+mir hast du die Pastete noch nie vorgesetzt. Doch denke auf einen
+anderen Scheidegruss; denn morgen musst du die Pastete auf die Tafel
+setzen."
+
+"Es sei, wie du sagst, Herr!" antwortete der Zwerg und ging. Aber er
+ging nicht vergnuegt; denn der Tag seiner Schande und seines Ungluecks
+war gekommen. Er wusste nicht, wie er die Pastete machen sollte. Er
+ging daher in seine Kammer und weinte ueber sein Schicksal.
+
+Da trat die Gans Mimi, die in seinem Gemach umhergehen durfte, zu ihm
+und fragte ihn nach der Ursache seines Jammers. "Stille deine
+Traenen", antwortete sie, als sie von der Pastete Souzeraine gehoert,
+"dieses Gericht kam oft auf meines Vaters Tisch, und ich weiss
+ungefaehr, was man dazu braucht; du nimmst dies und jenes, so und so
+viel, und wenn es auch nicht durchaus alles ist, was eigentlich dazu
+noetig, die Herren werden keinen so feinen Geschmack haben." So sprach
+Mimi. Der Zwerg aber sprang auf vor Freuden, segnete den Tag, an
+welchem er die Gans gekauft hatte, und schickte sich an, die Koenigin
+der Pasteten zuzurichten. Er machte zuerst einen kleinen Versuch,
+und siehe, es schmeckte trefflich, und der Oberkuechenmeister, dem er
+davon zu kosten gab, pries aufs neue seine ausgebreitete Kunst.
+
+Den anderen Tag setzte er die Pastete in groesserer Form auf und
+schickte sie warm, wie sie aus dem Ofen kam, nachdem er sie mit
+Blumenkraenzen geschmeckt hatte, auf die Tafel. Er selbst aber zog
+sein bestes Festkleid an und ging in den Speisesaal. Als r eintrat,
+war der Obervorschneider gerade damit beschaeftigt, die Pastete zu
+zerschneiden und auf einem silbernen Schaeufelein dem Herzog und
+seinem Gaste hinzureichen. Der Herzog tat einen tuechtigen Biss hinein,
+schlug die Augen auf zur Decke und srach, nachdem er geschluckt
+hatte: "Ah, ah, ah! Mit Recht nennt man dies die Koenigin der
+Pasteten; aber mein Zwerg ist auch der Koenig aller Koeche! Nicht also,
+lieber Freund?"
+
+Der Gast nahm einige kleine Bissen zu sich, kostete und pruefte
+aufmerksam und laechelte dabei hoehnisch und geheimnisvoll. "Das Ding
+ist recht artig gemacht", antwortete er, indem er den Teller
+hinwegrueckte, "aber die Souzeraine ist es denn doch nicht ganz; das
+habe ich mir wohl gedacht."
+
+Da runzelte der Herzog vor Unmut die Stirne und erroetete vor
+Beschaemung. "Hund von einem Zwerg!" rief er, "wie wagst du es,
+deinem Herrn dies anzutun? Soll ich dir deinen grossen Kopf abhacken
+lassen zur Strafe fuer deine schlechte Kocherei?"
+
+"Ach, Herr! Um des Himmels willen, ich habe das Gericht doch
+zubereitet nach den Regeln der Kunst, es kann gewiss nichts fehlen!"
+so sprach der Zwerg und zitterte.
+
+"Es ist eine Luege, du Bube!" erwiderte der Herzog und stiess ihn mit
+dem Fusse von sich. "Mein Gast wuerde sonst nicht sagen, es fehlt
+etwas. Dich selbst will ich zerhacken und backen lassen in eine
+Pastete!"
+
+"Habt Mitleiden!" rief der Kleine und rutschte auf den Knien zu dem
+Gast, dessen Fuesse er umfasste. "Saget, was fehlt in dieser Speise,
+dass sie Eurem Gaumen nicht zusagt? Lasset mich nicht sterben wegen
+einer Handvoll Fleisch und Mehl."
+
+"Das wird dir wenig helfen, mein lieber Nase", antwortete der Fremde
+mit Lachen, "das habe ich mir schon gestern gedacht, dass du diese
+Speise nicht machen kannst wie mein Koch. Wisse, es fehlt ein
+Kraeutlein, das man hierzulande gar nicht kennt, das Kraut Niesmitlust;
+ohne dieses bleibt die Pastete ohne Wuerze, und dein Herr wird sie
+nie essen wie ich."
+
+Da geriet der Herrscher in Frankistan in Wut. "Und doch werde ich
+sie essen", rief er mit funkelnden Augen, "denn ich schwoere bei
+meiner fuerstlichen Ehre: Entweder zeige ich Euch morgen die Pastete,
+wie Ihr sie verlangst--oder den Kopf dieses Burschen, aufgespiesst auf
+dem Tor meines Palastes. Gehe, du Hund, noch einmal gebe ich dir
+vierundzwanzig Stunden Zeit."
+
+So rief der Herzog; der Zwerg aber ging wieder weinend in sein
+Kaemmerlein und klagte der Gans sein Schicksal und dass er sterben
+muesse; denn von dem Kraut habe er nie gehoert. "Ist es nur dies",
+sprach sie, "da kann ich dir schon helfen; denn mein Vater lehrte
+mich alle Kraeuter kennen. Wohl waerest du vielleicht zu einer anderen
+Zeit des Todes gewesen; aber gluecklicherweise ist es gerade Neumond,
+und um diese Zeit blueht das Kraeutlein. Doch, sage an, sind alte
+Kastanienbaeume in der Naehe des Palastes?"
+
+"O ja!" erwiderte Nase mit leichterem Herzen. "Am See, zweihundert
+Schritte vom Haus, steht eine ganze Gruppe; doch warum diese?"
+
+"Nur am Fusse alter Kastanien blueht das Kraeutlein", sagte Mimi, "darum
+lass uns keine Zeit versaeumen und suchen, was du brauchst; nimm mich
+auf deinen Arm und setze mich im Freien nieder; ich will dir suchen."
+
+Er tat, wie sie gesagt, und ging mit ihr zur Pforte des Palastes.
+Dort aber streckte der Tuerhueter das Gewehr vor und sprach: "Mein
+guter Nase, mit dir ist's vorbei; aus dem Hause darfst du nicht, ich
+habe den strengsten Befehl darueber."
+
+"Aber in den Garten kann ich doch wohl gehen?" erwiderte der Zwerg.
+"Sei so gut und schicke einen deiner Gesellen zum Aufseher des
+Palastes und frage, ob ich nicht in den Garten gehen und Kraeuter
+suchen duerfe?" Der Tuerhueter tat also, und es wurde erlaubt; denn der
+Garten hatte hohe Mauern, und es war an kein Entkommen daraus zu
+denken. Als aber Nase mit der Gans Mimi ins Freie gekommen war,
+setzte er sie behutsam nieder, und sie ging schnell vor ihm her dem
+See zu, wo die Kastanien standen. Er folgte ihr nur mit beklommenem
+Herzen; denn es war ja seine letzte, einzige Hoffnung; fand sie das
+Kraeutlein nicht, so stand sein Entschluss fest, er stuerzte sich dann
+lieber in den See, als dass er sich koepfen liess. Die Gans suchte
+vergebens, sie wandelte unter allen Kastanien, sie wandte mit dem
+Schnabel jedes Graeschen um, es wollte sich nichts zeigen, und sie
+fing aus Mitleid und Angst an zu weinen; denn schon wurde der Abend
+dunkler und die Gegenstaende umher waren schwerer zu erkennen.
+
+Da fielen die Blicke des Zwerges ueber den See hin, und ploetzlich rief
+er: "Siehe, siehe, dort ueber dem See steht noch ein grosser, alter
+Baum; lass uns dorthin gehen und suchen, vielleicht blueht dort mein
+Glueck."
+
+Die Gans huepfte und flog voran, und er lief nach, so schnell seine
+kleinen Beine konnten; der Kastanienbaum warf einen grossen Schatten,
+und es war dunkel umher, fast war nichts mehr zu erkennen; aber da
+blieb ploetzlich die Gans stille stehen, schlug vor Freuden mit den
+Fluegeln, fuhr dann schnell mit dem Kopf ins hohe Gras und pflueckte
+etwas ab, das sie dem erstaunten Nase zierlich mit dem Schnabel
+ueberreichte und sprach: "Das ist das Kraeutlein, und hier waechst eine
+Menge davon, so dass es dir nie daran fehlen kann."
+
+Der Zwerg betrachtete das Kraut sinnend; ein suesser Duft stroemte ihm
+daraus entgegen, der ihn unwillkuerlich an die Szene seiner
+Verwandlung erinnerte; die Stengel, die Blaetter waren blaeulichgruen,
+sie trugen eine brennend rote Blume mit gelbem Rande.
+
+"Gelobt sei Gott!" rief er endlich aus. "Welches Wunder! Wisse, ich
+glaube, es ist dies dasselbe Kraut, das mich aus einem Eichhoernchen
+in diese schaendliche Gestalt umwandelte; soll ich den Versuch machen?"
+
+"Noch nicht", bat die Gans. "Nimm von diesem Kraut eine Handvoll mit
+dir, lass uns auf dein Zimmer gehen und dein Geld, und was du sonst
+hast, zusammenraffen, und dann wollen wir die Kraft des Krautes
+versuchen!" Sie taten also und gingen auf seine Kammer zurueck, und
+das Herz des Zwerges pochte hoerbar vor Erwartung. Nachdem er fuenfzig
+oder sechzig Dukaten, die er erspart hatte, einige Kleider und Schuhe
+zusammen in ein Buendel geknuepft hatte, sprach er: "So es Gott
+gefaellig ist, werde ich diese Buerde loswerden", steckte seine Nase
+tief in die Kraeuter und sog ihren Duft ein.
+
+Da zog und knackte es in allen seinen Gliedern, er fuehlte, wie sich
+sein Kopf aus den Schultern hob, er schielte herab auf seine Nase und
+sah sie kleiner und kleiner werden, sein Ruecken und seine Brust
+fingen an, sich zu ebnen, und seine Beine wurden laenger.
+
+Die Gans sah mit Erstaunen diesem allem zu. "Ha! Was du gross, was
+du schoen bist!" rief sie. "Gott sei gedankt, es ist nichts mehr an
+dir von allem, was du vorher warst!"
+
+Da freute sich Jakob sehr, und er faltete die Haende und betete. Aber
+seine Freude liess ihn nicht vergessen, welchen Dank er der Gans
+schuldig sei; zwar draengte ihn sein Herz, zu seinen Eltern zu gehen;
+doch besiegte er aus Dankbarkeit diesen Wunsch und sprach: "Wem
+anders als dir habe ich es zu danken, dass ich mir selbst
+wiedergeschenkt bin? Ohne dich haette ich dieses Kraut nimmer
+gefunden, haette also ewig in jener Gestalt bleiben oder vielleicht
+gar unter dem Beile des Henkers sterben muessen. Wohlan, ich will es
+dir vergelten. Ich will dich zu deinem Vater bringen; er, der
+erfahren ist in jedem Zauber, wird dich leicht entzaubern koennen."
+Die Gans vergoss Freudentraenen und nahm sein Anerbieten an. Jakob kam
+gluecklich und unerkannt mit der Gans aus dem Palast und machte sich
+auf den Weg nach dem Meeresstrand, Mimis Heimat, zu.
+
+Was soll ich noch weiter erzaehlen, dass sie ihre Reise gluecklich
+vollendeten, dass Wetterbock seine Tochter entzauberte und den Jakob,
+mit Geschenken beladen, entliess, dass er in seine Vaterstadt zurueckkam
+und dass seine Eltern in dem schoenen jungen Mann mit Vergnuegen ihren
+verlorenen Sohn erkannten, dass er von den Geschenken, die er von
+Wetterbock mitbrachte, sich einen Laden kaufte und reich und
+gluecklich wurde?
+
+Nur so viel will ich noch sagen, dass nach seiner Entfernung aus dem
+Palaste des Herzogs grosse Unruhe entstand; denn als am anderen Tage
+der Herzog seinen Schwur erfuellen und dem Zwerg, wenn er die Kraeuter
+nicht gefunden haette, den Kopf abschlagen lassen wollte, war er
+nirgends zu finden; der Fuerst aber behauptete, der Herzog habe ihn
+heimlich entkommen lassen, um sich nicht seines besten Kochs zu
+berauben, und klagte ihn an, dass er wortbruechig sei. Dadurch
+entstand denn ein grosser Krieg zwischen beiden Fuersten, der in der
+Geschichte unter dem Namen "Kraeuterkrieg" wohlbekannt ist; es wurde
+manche Schlacht geschlagen, aber am Ende doch Friede gemacht, und
+diesen Frieden nennt man bei uns den "Pastetenfrieden", weil beim
+Versoehnungsfest durch den Koch des Fuersten die Souzeraine, die
+Koenigin der Pasteten, zubereitet wurde, welche sich der Herr Herzog
+trefflich schmecken liess.
+
+So fuehren oft die kleinsten Ursachen zu grossen Folgen; und dies, o
+Herr, ist die Geschichte des Zwerges Nase.
+
+So erzaehlte der Sklave aus Frankistan; nachdem er geendet hatte, liess
+der Scheik Ali Banu ihm und den anderen Sklaven Fruechte reichen, sich
+zu erfrischen, und unterhielt sich, waehrend sie assen, mit seinen
+Freunden. Die jungen Maenner aber, die der Alte eingefuehrt hatte,
+waren voll Lobes ueber den Scheik, sein Haus und alle seine
+Einrichtungen. "Wahrlich", sprach der junge Schreiber, "es gibt
+keinen angenehmeren Zeitvertreib als Geschichten anzuhoeren. Ich
+koennte tagelang so hinsetzen, die Beine untergeschlagen, einen Arm
+aufs Kissen gestuetzt, die Stirne in die Hand gelegt, und, wenn es
+ginge, des Scheiks grosse Wasserpfeife in der Hand, und Geschichten
+anhoeren--so ungefaehr stelle ich mir das Leben vor in den Gaerten
+Mahomeds."
+
+"So lange Ihr jung seid und arbeiten koennt", sprach der Alte, "kann
+ein solcher traeger Wunsch nicht Euer Ernst sein. Aber das gebe ich
+Euch zu, dass ein eigener Reiz darin liegt, etwas erzaehlen zu hoeren.
+So alt ich bin, und ich gehe nun ins siebenundsiebzigste Jahr, so
+viel ich in meinem Leben schon gehoert habe, so verschmaehe ich es doch
+nicht, wenn an der Ecke ein Geschichtenerzaehler sitzt und um ihn in
+grossem Kreis die Zuhoerer, mich ebenfalls hinzusetzen und zuzuhoeren.
+Man traeumt sich ja in die Begebenheiten hinein, die erzaehlt werden,
+man lebt mit diesen Menschen, mit diesen wundervollen Geistern, mit
+Feen und dergleichen Leuten, die uns nicht alle Tage begegnen, und
+hat nachher, wenn man einsam ist, Stoff, sich alles zu wiederholen,
+wie der Wanderer, der sich gut versehen hat, wenn er durch die Wueste
+reist."
+
+"Ich habe nie so darueber nachgedacht", erwiderte ein anderer der
+jungen Leute, "worin der Reiz solcher Geschichten eigentlich liegt.
+Aber mir geht es wie euch. Schon als Kind konnte man mich, wenn ich
+ungeduldig war, durch eine Geschichte zum Schweigen bringen. Es war
+mir anfangs gleichgueltig, von was es handelte, wenn es nur erzaehlt
+war, wenn nur etwas geschah; wie oft habe ich, ohne zu ermueden, jene
+Fabeln angehoert, die weise Maenner erfunden und in welche sie einen
+Kern ihrer Weisheit gelegt haben, vom Fuchs und vom toerichten Raben,
+vom Fuchs und vom Wolf, viele Dutzend Geschichten vom Loewen und den
+uebrigen Tieren. Als ich aelter wurde und mehr unter die Menschen kam,
+genuegten mir jene kurzen Geschichten nicht mehr; sie mussten schon
+laenger sein, mussten von Menschen und ihren wunderbaren Schicksalen
+handeln." "Ja, ich entsinne mich noch wohl dieser Zeit", unterbrach
+ihn einer seiner Freunde. "Du warst es, der uns diesen Drang nach
+Erzaehlungen beibrachte. Einer Eurer Sklaven wusste so viel zu
+erzaehlen, als ein Kameltreiber von Mekka nach Medina spricht; wenn er
+fertig war mit seiner Arbeit, musste er sich zu uns setzen, und da
+baten wir so lange, bis er zu erzaehlen anfing, und das ging fort und
+fort, bis die Nacht heraufkam."
+
+"Und erschloss sich uns", entgegnete der Schreiber, "erschloss sich uns
+da nicht ein neues, nie gekanntes Reich, das Land der Genien und Feen,
+bebaut mit allen Wundern der Pflanzenwelt, mit reichen Palaesten von
+Smaragden und Rubinen, mit riesenhaften Sklaven bevoelkert, die
+erschienen, wenn man einen Ring hin und wider dreht oder die
+Wunderlampe reibt oder das Wort Salomos ausspricht, und in goldenen
+Schalen herrliche Speisen bringen. Wir fuehlten uns unwillkuerlich in
+jenes Land versetzt, wir machten mit Sindbad seine wunderbaren
+Fahrten, wir gingen mit Harun Al-Raschid, dem weisen Beherrscher der
+Glaeubigen, abends spazieren, wir kannten Giaffar, seinen Wesir, so
+gut als uns selbst, kurz, wir lebten in jenen Geschichten, wie man
+nachts in Traeumen lebt, und es gab keine schoenere Tageszeit fuer uns
+als den Abend, wo der alte Sklave uns erzaehlte. Aber sage uns, Alter,
+worin liegt es denn eigentlich, dass wir damals so gerne erzaehlen
+hoerten, dass es noch jetzt fuer uns keine angenehmere Unterhaltung
+gibt?"
+
+Die Bewegung, die im Zimmer entstand, und die Aufforderung zur
+Aufmerksamkeit, die der Sklavenaufseher gab, verhinderte den Alten zu
+antworten. Die jungen Leute wussten nicht, ob sie sich freuen sollten,
+dass sie eine neue Geschichte anhoeren durften, oder ungehalten sein
+darueber, dass ihr anziehendes Gespraech mit dem Alten unterbrochen
+worden war; aber ein zweiter Sklave erhob sich bereits und begann:
+
+
+
+
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr, ich bin aus Mogador am Strande des grossen Meers, und als der
+grossmaechtigste Kaiser Muley Ismael ueber Fez und Marokko herrschte,
+hat sich die Geschichte zugetragen, die du vielleicht nicht ungerne
+hoeren wirst. Es ist die Geschichte von Abner, dem Juden, der nichts
+gesehen hat.
+
+Juden, wie du weisst, gibt es ueberall, und sie sind ueberall Juden:
+pfiffig, mit Falkenaugen fuer den kleinsten Vorteil begabt,
+verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie misshandelt werden,
+ihrer Verschlagenheit sich bewusst und sich etwas darauf einbildend.
+Dass aber doch zuweilen ein Jude durch seine Pfiffe zu Schaden kommt,
+bewies Abner, als er eines Abends zum Tore von Marokko hinaus
+spazierenging.
+
+Er schreitet einher, mit der spitzen Muetze auf dem Kopf, in den
+bescheidenen, nicht uebermaessig reinlichen Mantel gehuellt, streichelt
+sich den Knebelbart, und trotz der umherrollenden Augen, welche ewige
+Furcht und Besorgnis und die Begierde, etwas zu erspaehen, womit etwas
+zu machen waere, keinen Augenblick ruhen laesst, leuchtet Zufriedenheit
+aus seiner Miene; er muss diesen Tag gute Geschaefte gemacht haben; und
+so ist es auch. Er ist Arzt, ist Kaufinann, ist alles, was Geld
+eintraegt; er hat heute einen Sklaven mit einem heimlichen Fehler
+verkauft, wohlfeil eine Kamelladung Gummi gekauft und einem reichen
+kranken Mann den letzten Trank, nicht vor seiner Genesung, sondern
+vor seinem Hintritt bereitet.
+
+Eben war er auf seinem Spaziergang aus einem kleinen Gehoelz von
+Palmen und Datteln getreten, da hoerte er lautes Geschrei
+herbeilaufender Menschen hinter sich; es war ein Haufe kaiserlicher
+Stallknechte, den Oberstallmeister an der Spitze, die nach allen
+Seiten unruhige Blicke umherwarfen, wie Menschen, die etwas
+Verlorenes eifrig suchen.
+
+"Philister", rief ihm keuchend der Oberstallmeister zu, "hast du
+nicht ein kaiserlich Pferd mit Sattel und Zeug vorueberrennen sehen?"
+
+Abner antwortete: "Der beste Galopplaeufer, den es gibt; zierlich
+klein ist sein Huf, seine Hufeisen sind von vierzehnloetigem Silber,
+sein Haar leuchtet golden, gleich dem grossen Sabbatleuchter in der
+Schule, fuenfzehn Faeuste ist er hoch, sein Schweif ist drei und einen
+halben Fuss lang, und die Stangen seines Gebisses sind von
+dreiundzwanzigkaraetigem Golde."
+
+"Er ist's!" rief der Oberstallmeister.
+
+"Er ist's!" rief der Chor der Stallknechte.
+
+"Es ist der Emir", rief ein alter Bereiter, "ich habe es dem Prinzen
+Abdallah zehnmal gesagt, er solle den Emir in der Trense reiten, ich
+kenne den Emir, ich habe es vorausgesagt, dass er ihn abwerfen wuerde,
+und sollte ich seine Rueckenschmerzen mit dem Kopf bezahlen muessen,
+ich habe es vorausgesagt. Aber schnell, wohinzu ist er gelaufen?"
+
+"Habe ich doch gar kein Pferd gesehen", erwiderte Abner laechelnd,
+"wie kann ich sagen, wohin es gelaufen ist, des Kaisers Pferd?"
+
+Erstaunt ueber diesen Widerspruch wollten die Herren vom Stalle eben
+weiter in Abner dringen; da kam ein anderes Ereignis dazwischen.
+
+Durch einen sonderbaren Zufall, wie es deren so viele gibt, war
+gerade zu dieser Zeit auch der Leibschosshund der Kaiserin entlaufen.
+Ein Haufe schwarze Sklaven kam herbeigerannt, und sie schrien schon
+von weitem: "Habt Ihr den Schosshund der Kaiserin nicht gesehen?"
+
+"Es ist kein Hund, den Ihr suchet, meine Herren", sagte Abner, "es
+ist eine Huendin."
+
+"Allerdings!" rief der erste Eunuch hocherfreut. "Aline, wo bist du?"
+
+"Ein kleiner Wachtelhund", fuhr Abner fort, "der vor kurzem Junge
+geworfen, langes Behaenge, Federschwanz, hinkt auf dem rechten
+vorderen Bein."
+
+"Sie ist's, wie sie leibt und lebt!" rief der Chor der Schwarzen.
+"Es ist Aline; die Kaiserin ist in Kraempfe verfallen, sobald sie
+vermisst wurde; Aline, wo bist du? Was soll aus uns werden, wenn wir
+ohne dich in den Harem zurueckkehren? Sprich geschwind, wohin hast du
+sie laufen sehen?"
+
+"Ich habe gar keinen Hund gesehen; weiss ich doch nicht einmal, dass
+meine Kaiserin, welche Gott erhalte, einen Wachtelhund besitzt."
+
+Da ergrimmten die Leute vom Stalle und vom Harem ueber Abners
+Unverschaemtheit, wie sie es nannten, ueber kaiserliches Eigentum
+seinen Scherz zu treiben, und zweifelten keinen Augenblick, so
+unwahrscheinlich dies auch war, dass er Hund und Pferd gestohlen habe.
+Waehrend die anderen ihre Nachforschungen fortsetzten, packten der
+Stallmeister und der erste Eunuch den Juden und fuehrten den halb
+pfiffig, halb aengstlich Laechelnden vor das Angesicht des Kaisers.
+
+Aufgebracht berief Mulen Ismael, als er den Hergang vernommen, den
+gewoehnlichen Rat des Palastes und fuehrte in Betracht der Wichtigkeit
+des Gegenstandes selbst den Vorsitz. Zur Eroeffnung der Sache wurde
+dem Angeschuldigten ein halbes Hundert Streiche auf die Fusssohlen
+zuerkannt. Abner mochte schreien und winseln, seine Unschuld
+beteuern oder versprechen, alles zu erzaehlen, wie es sich zugetragen,
+Sprueche aus der Schrift oder dem Talmud anfuehren, mochte rufen: "Die
+Ungnade des Koenigs ist wie das Bruellen eines jungen Loewen, aber seine
+Gnade ist Tau auf dem Grase"; oder: "Lass nicht zuschlagen deine Hand,
+wenn dir Augen und Ohren verschlossen sind"--Mulen Ismael winkte und
+schwur bei des Propheten Bart und seinem eigenen, der Philister solle
+die Schmerzen des Prinzen Abdallah und die Kraempfe der Kaiserin mit
+dem Kopfe bezahlen, wenn die Fluechtigen nicht wieder beigebracht
+wuerden. Noch erschallte der Palast des Kaisers von Marokko von dem
+Schmerzgeschrei des Patienten, als die Nachricht einlief, Hund und
+Pferd seien wiedergefunden. Aline ueberraschte man in der
+Gesellschaft einiger Moepse, sehr anstaendiger Leute, die sich aber fuer
+sie, als Hofdame, durchaus nicht schickte, und Emir hatte, nachdem er
+sich muede gelaufen, das duftende Gras auf den gruenen Wiesen am Bache
+Tara wohlschmeckender gefunden als den kaiserlichen Hafer; gleich dem
+ermuedeten fuerstlichen Jaeger, der, auf der Parforcejagd verirrt, ueber
+dem schwarzen Brot und der Butter in der Huette des Landmanns alle
+Leckereien seiner Tafel vergisst.
+
+Muley Ismael verlangte nun von Abner eine Erklaerung seines Betragens,
+und dieser sah sich nun, wiewohl etwas spaet, imstande, sich zu
+verantworten, was er, nachdem er vor seiner Hoheit Thron dreimal die
+Erde mit der Stirne beruehrte, in folgenden Worten tat:
+
+"Grossmaechtigster Kaiser, Koenig der Koenige, Herr des Besten, Stern der
+Gerechtigkeit, Spiegel der Wahrheit, Abgrund der Weisheit, der du so
+glaenzend bist wie Gold, so strahlend wie der Diamant, so hart wie das
+Eisen, hoere mich, weil es deinem Sklaven vergoennt ist, vor deinem
+strahlenden Angesichte seine Stimme zu erheben! Ich schwoere bei dem
+Gott meiner Vaeter, bei Moses und den Propheten, dass ich dein heiliges
+Pferd und meiner gnaedigen Kaiserin liebenswuerdigen Hund mit meines
+Leibes Augen nicht gesehen habe. Hoere aber, wie sich die Sache
+begeben:
+
+Ich spazierte, um mich von des Tages Last und Arbeit zu erholen,
+nichts denkend, in dem kleinen Gehoelze, wo ich die Ehre gehabt habe,
+Seiner Herrlichkeit, dem Oberstallmeister, und Seiner Wachsamkeit,
+dem schwarzen Aufseher deines gesegneten Harems, zu begegnen; da
+gewahrte ich im feinen Sande zwischen den Palmen die Spuren eines
+Tieres; ich, dem die Spuren der Tiere ueberaus gut bekannt sind,
+erkenne sie alsbald fuer die Fussstapfen eines kleinen Hundes; feine
+langgezogene Furchen liefen ueber die kleinen Unebenheiten des
+Sandbodens zwischen diesen Spuren hin; es ist eine Huendin, sprach ich
+zu mir selbst, und sie hat haengende Zitzen und hat Junge geworfen vor
+so und so langer Zeit; andere Spuren neben den Vordertatzen, wo der
+Sand leicht weggefegt zu sein schien, sagten mir, dass das Tier mit
+schoenen, weit herabhaengenden Ohren begabt sei; und da ich bemerkt,
+wie in laengeren Zwischenraeumen der Sand bedeutender aufgewuehlt war,
+dachte ich: Einen schoenen langbehaarten Schwanz hat die Kleine, und
+er muss anzusehen sein als ein Federbusch, und es hat ihr beliebt,
+zuweilen den Sand damit zu peitschen; auch entging mir nicht, dass
+eine Pfote sich bestaendig weniger tief in den Sand eindrueckte; leider
+konnte mir da nicht verborgen bleiben, dass die Huendin meiner
+gnaedigsten Frau, wenn es erlaubt ist, es auszusprechen, etwas hinke.
+
+Was das Ross deiner Hoheit betrifft, so wisse, dass ich, als ich in
+einem Gange des Gebuesches hinwandelte, auf die Spuren eines Pferdes
+aufmerksam wurde. Kaum hatte ich den edlen, kleinen Huf, den feinen
+und doch starken Strahl bemerkt, so sagte ich in meinem Herzen: Da
+ist gewesen ein Ross von der Rasse Tschenner, die da ist die
+vornehmste von allen. Ist es ja noch nicht vier Monate, hat mein
+gnaedigster Kaiser einem Fuersten in Frankenland eine ganze Koppel von
+dieser Rasse verkauft, und mein Bruder Ruben ist dabeigewesen, wie
+sie sind handelseinig geworden, und mein gnaedigster Kaiser hat dabei
+gewonnen so und so viel. Als ich sah, wie die Spuren so weit und so
+gleichmaessig voneinander entfernt waren, musste ich denken: Das
+galoppierte schoen, vornehm; und ist bloss mein Kaiser wert, solch ein
+Tier zu besitzen, und ich gedachte des Streitrosses, von dem
+geschrieben steht bei Hiob: ZEs stampfet auf den Boden und ist
+freudig mit Kraft und zeucht aus, den Geharnischten entgegen; es
+spottet der Furcht und erschrickt nicht und fleucht vor dem Schwert
+nicht, wenngleich wider es erklinget der Koecher, und glaenzen beide,
+Spiess und Lanzen.Z Und ich bueckte mich, da ich etwas glaenzen sah auf
+dem Boden, wie ich immer tue, und siehe, es war ein Marmelstein,
+darauf hatte das Hufeisen des eilenden Rosses einen Strich gezogen,
+und ich erkannte, dass es Hufeisen haben musste von vierzehnloetigem
+Silber; muss ich doch den Strich kennen von jeglichem Metall, sei es
+echt oder unecht. Der Baumgang, in dem ich spazierte, war sieben Fuss
+weit, und hie und da sah ich den Staub von den Palmen gestreift; der
+Gaul hat mit dem Schweif gefochten, sprach ich, und er ist lang drei
+und einen halben Fuss; unter Baeumen, deren Krone etwa fuenf Fuss vom
+Boden aufging, sah ich frisch abgestreifte Blaetter; seiner
+Schnelligkeit Ruecken musste sie abgestreift haben; da haben wir ein
+Pferd von fuenfzehn Faeusten; siehe da, unter denselben Baeumen kleine
+Bueschel goldglaenzender Haare, und siehe da, es ist ein Goldfuchs!
+Eben trat ich aus dem Gebuesche, da fiel an einer Felswand ein
+Goldstrich in mein Auge; diesen Strich solltest du kennen, sprach ich,
+und was war's? Ein Probierstein war eingesprengt in dem Gestein und
+ein haarfeiner Goldstrich darauf, wie ihn das Maennchen mit dem
+Pfeilbuendel auf den Fuechsen der sieben vereinigten Provinzen von
+Holland nicht feiner, nicht reiner ziehen kann. Der Strich musste von
+den Gebissstangen des fluechtigen Rosses ruehren, die es im
+Vorbeispringen gegen dieses Gestein gerieben. Kennt man ja doch
+deine erhabene Prachtliebe, Koenig der Koenige, weiss man ja doch, dass
+sich das geringste deiner Rosse schaemen wuerde, auf einen anderen als
+einen goldenen Zaum zu beissen. Also hat es sich begeben, und wenn--"
+
+"Nun, bei Mekka und Medina!" rief Muley Ismael, "das heisse ich Augen;
+solche Augen koennten dir nicht schaden, Oberjaegermeister, sie wuerden
+dir eine Koppel Schweisshunde ersparen; du, Polizeiminister, koenntest
+damit weiter sehen als alle deine Schergen und Aufpasser. Nun,
+Philister, wir wollen dich in Betracht deines ungemeinen Scharfsinns,
+der uns wohlgefallen hat, gnaedig behandeln; die fuenfzig Pruegel, die
+du richtig erhalten, sind fuenfzig Zechinen wert. Sie ersparen dir
+fuenfzig; denn du zahlst jetzt bloss noch fuenfzig bar; zieh deinen
+Beutel und enthalte dich fuer die Zukunft, unseres kaiserlichen
+Eigentums zu spotten! Wir bleiben dir uebrigens in Gnaden gewogen."
+
+Der ganze Hof bewunderte Abners Scharfsinn, denn seine Majestaet hatte
+geschworen, er sei ein geschickter Bursche; aber dies bezahlte ihm
+seine Schmerzen nicht, troestete ihn nicht fuer seine teuren Zechinen.
+Waehrend er stoehnend und seufzend eine nach der anderen aus dem Beutel
+fuehrte, jede noch zum Abschiede auf der Fingerspitze wog, hoehnte ihn
+noch Schnuri, der kaiserliche Spassmacher, fragte ihn, ob seine
+Zechinen alle auf dem Steine sich bewaehrten, auf dem der Goldfuchs
+des Prinzen Abdallah sein Gebiss probiert habe. "Deine Weisheit hat
+heute Ruhm geerntet", sprach er; "ich wollte aber noch fuenfzig
+Zechinen wetten, es waere dir lieber, du haettest geschwiegen. Aber
+wie spricht der Prophet? ZEin entschluepftes Wort holt kein Wagen ein,
+und wenn er mit vier fluechtigen Rossen bespannt waere.Z Auch kein
+Windspiel holt es ein, Herr Abner, auch wenn es nicht hinkt."
+
+Nicht lange nach diesem fuer Abner schmerzlichen Ereignis ging er
+wieder einmal in einem der gruenen Taeler zwischen den Vorbergen des
+Atlas spazieren. Da wurde er, gerade wie damals, von einem
+einherstuermenden Haufen Gewaffneter eingeholt, und der Anfuehrer
+schrie ihn an:
+
+"He, guter Freund, hast du nicht Goro, den schwarzen Leibschuetzen des
+Kaisers, vorbeilaufen sehen? Er ist entflohen, er muss diesen Weg
+genommen haben ins Gebirg."
+
+"Kann nicht dienen, Herr General", antwortete Abner.
+
+"Ach, bist du nicht der pfiffige Jude, der den Fuchsen und den Hund
+nicht gesehen hat? Mach nur keine Umstaende; hier muss der Sklave
+vorbeigekommen sein; riechst du vielleicht noch den Duft seines
+Schweisses in der Luft? Siehst du noch die Spuren seines fluechtigen
+Fusses im hohen Grase? Sprich, der Sklave muss herbei; er ist einzig
+im Sperlingsschiessen mit dem Blaserohr, und dies ist Seiner Majestaet
+Lieblingszeitvertreib. Sprich! Oder ich lasse dich sogleich krumm
+fesseln!"
+
+"Kann ich doch nicht sagen, ich habe gesehen, was ich doch nicht hab'
+gesehen."
+
+"Jude, zum letzten Male: Wohin ist der Sklave gelaufen? Denk an
+deine Fusssohlen, denk an deine Zechinen!"
+
+"O weh geschrien! Nun, wenn Ihr absolut haben wollt, dass ich soll
+gesehen haben den Sperlingsschuetzen, so lauft dorthin; ist er dort
+nicht, so ist er anderswo."
+
+"Du hast ihn also gesehen?" bruellte ihn der Soldat an. "Ja denn,
+Herr Offizier, weil Ihr es so haben wollt."
+
+Die Soldaten verfolgten eilig die angewiesene Richtung. Abner aber
+ging, innerlich ueber seine List zufrieden, nach Hause. Kaum aber war
+er vierundzwanzig Stunden aelter geworden, so drang ein Haufe von der
+Wache des Palastes in sein Haus und verunreinigte es, denn es war
+Sabbat, und schleppte ihn vor das Angesicht des Kaisers von Marokko.
+
+"Hund von einem Juden", schnaubte ihn der Kaiser an, "du wagst es,
+kaiserliche Bedienstete, die einen fluechtigen Sklaven verfolgen, auf
+falsche Spur ins Gebirge zu schicken, waehrend der Fluechtling der
+Meereskueste zueilt und beinahe auf einem spanischen Schiffe entkommen
+waere? Greift ihn, Soldaten! Hundert auf die Sohlen! Hundert
+Zechinen aus dem Beutel! Um wieviel die Sohlen schwellen unter den
+Hieben, um soviel soll der Beutel einschnurren."
+
+Du weisst es, o Herr, im Reiche Fez und Marokko liebt man schnelle
+Gerechtigkeit, und so wurde der arme Abner gepruegelt und besteuert,
+ohne dass man ihn zuvor um seine Einwilligung befragt haette. Er aber
+verfluchte sein Geschick, das ihn dazu verdammte, dass seine Sohlen
+und sein Beutel es hart empfinden sollten, so oft Seine Majestaet
+geruhten, etwas zu verlieren. Als er aber brummend und seufzend
+unter dem Gelaechter des rohen Hofvolks aus dem Saale hinkte, sprach
+zu ihm Schnuri, der Spassmacher: "Gib dich zufrieden, Abner,
+undankbarer Abner! Ist es nicht Ehre genug fuer dich, dass jeder
+Verlust, den unser gnaediger Kaiser, den Gott erhalte, erleidet, auch
+dir empfindlichen Kummer verursachen muss? Versprichst du mir aber
+ein gut Trinkgeld, so komme ich jedesmal, eine Stunde bevor der Herr
+des Westens etwas verliert, an deine Bude in der Judengasse und
+spreche: ZGehe nicht aus deiner Huette, Abner, du weisst schon warum;
+schliesse dich ein in dein Kaemmerlein bis zu Sonnenuntergang, beides
+unter Schloss und Riegel.Z"
+
+Dies, o Herr, ist die Geschichte von Abner, der nichts gesehen hat.
+
+Als der Sklave geendet hatte und es wieder stille im Saale geworden
+war, erinnerte der junge Schreiber den Alten, dass sie den Faden ihrer
+Unterhaltung abgebrochen hatten, und bat, ihnen zu erklaeren, worin
+denn eigentlich der maechtige Reiz des Maerchens liege.
+
+"Das will ich Euch jetzt sagen", erwiderte der Alte. "Der
+menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser,
+das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die
+dichtesten Gegenstaende durchdringt. Er ist leicht und frei wie die
+Luft und wird wie diese, je hoeher er sich von der Erde hebt, desto
+leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich
+hinauf ueber das Gewoehnliche zu erheben und sich in hoeheren Raeumen
+leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Traeumen. Ihr
+selbst, mein junger Freund, sagtet: ZWir lebten in jenen Geschichten,
+wir dachten und fuehlten mit jenen MenschenZ, und daher kommt der Reiz,
+den sie fuer Euch hatten. Indem Ihr den Erzaehlungen des Sklaven
+zuhoeret, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt
+Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den
+Gegenstaenden um Euch her, bei Euren gewoehnlichen Gedanken, nein, Ihr
+erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes
+Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Manne, von dem
+man Euch erzaehlte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen
+Geschichte ueber die Gegenwart, die Euch nicht so schoen, nicht so
+anziehend duenkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, hoeheren
+Raeumen freier und ungebundener, das Maerchen wurde Euch zur
+Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde
+zum Maerchen, weil Euer Dichten und Sein im Maerchen lebte."
+
+"Ganz verstehe ich Euch nicht", erwiderte der junge Kaufmann, "aber
+Ihr habt recht mit dem, was Ihr sagtet, wir lebten im Maerchen oder
+das Maerchen in uns. Sie ist mir noch wohl erinnerlich, jene schoene
+Zeit; wenn wir Musse dazu hatten, traeumten wir wachend; wir stellten
+uns vor, an wueste, unwirtbare Inseln verschlagen zu sein, wir
+berieten uns, was wir beginnen sollten, um unser Leben zu fristen,
+und oft haben wir im dichten Weidengebuesch uns Huetten gebaut, haben
+von elenden Fruechten ein kaergliches Mahl gehalten, obgleich wir
+hundert Schritte weit zu Haus das Beste haetten haben koennen, ja, es
+gab Zeiten, wo wir auf die Erscheinung einer guetigen Fee oder eines
+wunderbaren Zwerges warteten, die zu uns treten und sagen wuerden:
+ZDie Erde wird sich alsobald auftun, wollet dann nur gefaelligst
+herabsteigen in meinen Palast von Bergkristall und euch belieben
+lassen, was meine Diener, die Meerkatzen, euch auftischen.Z"
+
+Die jungen Leute lachten, gaben aber ihrem Freunde zu, dass er wahr
+gesprochen habe. "Noch jetzt", fuhr ein anderer fort, "noch jetzt
+beschleicht mich hier und da dieser Zauber; ich wuerde mich zum
+Beispiel nicht wenig aergern ueber die dumme Fabel, wenn mein Bruder
+zur Tuere hereingestuerzt kaeme und sagte: ZWeisst du schon das Unglueck
+von unserem Nachbarn, dem dicken Baecker? Er hat Haendel gehabt mit
+einem Zauberer, und dieser hat ihn aus Rache in einen Baeren
+verwandelt, und jetzt liegt er in seiner Kammer und heult
+entsetzlichZ; ich wuerde mich aergern und ihn einen Luegner schelten.
+Aber wie anders, wenn mir erzaehlt wuerde, der dicke Nachbar hab' eine
+weite Reise in ein fernes, unbekanntes Land unternommen, sei dort
+einem Zauberer in die Haende gefallen, der ihn in einen Baeren
+verwandelte. Ich wuerde mich nach und nach in die Geschichte versetzt
+fuehlen, wuerde mit dem dicken Nachbar reisen, Wunderbares erleben, und
+es wuerde mich nicht sehr ueberraschen, wenn er in ein Fell gesteckt
+wuerde und auf allen vieren gehen muesste."
+
+So sprachen die jungen Leute; da gab der Scheik wiederum das Zeichen,
+und alle setzten sich nieder. Der Aufseher der Sklaven aber trat zu
+den Freigelassenen und forderte sie auf, weiter forzufahren. Einer
+unter ihnen zeigte sich bereit, stand auf und hub an, folgendermassen
+zu erzaehlen:
+
+(im Maerchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schoell.)
+
+Der Sklave hatte geendet, und seine Erzaehlung erhielt den Beifall des
+Scheik und seiner Freunde. Aber auch durch diese Erzaehlung wollte
+sich die Stirne des Scheik nicht entwoelken lassen, er war und blieb
+ernst und tiefsinnig wie zuvor, und die jungen Leute bemitleideten
+ihn.
+
+"Und doch", sprach der junge Kaufmann, "und doch kann ich nicht
+begreifen, wie der Scheik sich an einem solchen Tage Maerchen erzaehlen
+lassen mag, und zwar von seinen Sklaven. Ich fuer meinen Teil, haette
+ich einen solchen Kummer, so wuerde ich lieber hinausreiten in den
+Wald und mich setzen, wo es recht dunkel und einsam ist, aber auf
+keinen Fall dieses Geraeusch von Bekannten und Unbekannten um mich
+versammeln."
+
+"Der Weise", antwortete der alte Mann, "der Weise laesst sich von
+seinem Kummer nie so ueberwaeltigen, dass er ihm voellig unterliegt. Er
+wird ernst, er wird tiefsinnig sein, er wird aber nicht laut klagen
+oder verzweifeln. Warum also, wenn es in deinem Innern dunkel und
+traurig aussieht, warum noch ueberdies die Schatten dunkler Zedern
+suchen? Ihr Schatten faellt durch das Auge in dein Herz und macht es
+noch dunkler. An die Sonne musst du gehen, in den warmen, lichten Tag,
+fuer was du trauerst, und mit der Klarheit des Tages, mit der Waerme
+des Lichtes wird dir die Gewissheit aufgehen, dass Allahs Liebe ueber
+dir ist, erwaermend und ewig wie seine Sonne."
+
+"Ihr habt wahr gesprochen", setzte der Schreiber hinzu, "und geziemt
+es nicht einem weisen Mann, dem seine Umgebungen zu Gebot stehen, dass
+er an einem solchen Tage die Schatten des Grams so weit als moeglich
+entferne? Soll er zum Getraenke seine Zuflucht nehmen oder Opium
+speisen, um den Schmerz zu vergessen? Ich bleibe dabei, es ist die
+anstaendigste Unterhaltung in Leid und Freude, sich erzaehlen zu lassen,
+und der Scheik hat ganz recht."
+
+"Gut", erwiderte der junge Kaufmann, "aber hat er nicht Vorleser,
+nicht Freunde genug; warum muessen es gerade Sklaven sein, die
+erzaehlen?"
+
+"Diese Sklaven, lieber Herr", sagte der Alte, "sind vermutlich durch
+allerlei Unglueck in Sklaverei geraten und sind nicht gerade so
+ungebildete Leute, wie Ihr wohl gesehen habt, von welchen man sich
+nicht koennte erzaehlen lassen. Ueberdies stammen sie von allerlei
+Laendern und Voelkern, und es ist zu erwarten, dass sie bei sich zu
+Hause irgend etwas Merkwuerdiges gehoert oder gesehen, das sie nun zu
+erzaehlen wissen. Einen noch schoeneren Grund, den mir einst ein
+Freund des Scheik sagte, will ich Euch wiedergeben: Diese Leute waren
+bis jetzt in seinem Hause als Sklaven, hatten sie auch keine schwere
+Arbeit zu verrichten, so war es doch immer Arbeit, zu der sie
+gezwungen waren, und maechtig der Unterschied zwischen ihnen und
+freien Leuten. Sie durften sich, wie es Sitte ist, dem Scheik nicht
+anders als mit den Zeichen der Unterwuerfigkeit naehern. Sie durften
+nicht zu ihm reden, ausser er fragte sie, und ihre Rede musste kurz
+sein. Heute sind sie frei; und ihr erstes Geschaeft als freie Leute
+ist, in grosser Gesellschaft und vor ihrem bisherigen Herrn lange und
+offen sprechen zu duerfen. Sie fuehlen sich nicht wenig geehrt dadurch,
+und ihre unverhoffte Freilassung wird ihnen dadurch nur um so werter."
+
+"Siehe", unterbrach ihn der Schreiber, "dort steht der vierte Sklave
+auf; der Aufseher hat ihm wohl schon das Zeichen gegeben, lasset uns
+niedersetzen und hoeren!"
+
+(Im Maerchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der gebackene Kopf"
+von James Justinian Morier)
+
+Der Scheik aeusserte seinen Beifall ueber diese Erzaehlung. Er hatte,
+was in Jahren nicht geschehen war, einigemal gelaechelt, und seine
+Freunde nahmen dies als eine gute Vorbedeutung. Dieser Eindruck war
+den jungen Maennern und dem Alten nicht entgangen. Auch sie freuten
+sich darueber, dass der Scheik, auf eine halbe Stunde wenigstens,
+zerstreut wurde; denn sie ehrten seinen Kummer und die Trauer um sein
+Unglueck, sie fuehlten ihre Brust beengt, wenn sie ihn so ernst und
+stille seinem Grame nachhaengen sahen, und gehobener, freudiger waren
+sie, als die Wolke seiner Stirne auf Augenblicke vorueberzog.
+
+"Ich kann mir wohl denken", sagte der Schreiber, "dass diese Erzaehlung
+guenstigen Eindruck auf ihn machen musste; es liegt so viel Sonderbares,
+Komisches darin, dass selbst der heilige Derwisch auf dem Berge
+Libanon, der in seinem Leben noch nie gelacht hat, laut auflachen
+muesste."
+
+"Und doch", sprach der Alte laechelnd, "und doch ist weder Fee noch
+Zauberer darin erschienen; kein Schloss von Kristall, keine Genien,
+die wunderbare Speisen bringen, kein Vogel Rock, noch ein
+Zauberpferd--"
+
+"Ihr beschaemt uns", rief der junge Kaufmann, "weil wir mit so vielem
+Eifer von jenen Maerchen unserer Kindheit sprachen, die uns noch jetzt
+so wunderbar anziehen, weil wir jene Momente aufzaehlten, wo uns das
+Maerchen so mit sich hinwegriss, dass wir darin zu leben waehnten, weil
+wir dies so hoch anschlugen, wollet Ihr uns beschaemen und auf feine
+Art zurechtweisen; nicht so?"
+
+"Mitnichten! Es sei ferne von mir, eure Liebe zum Maerchen zu tadeln;
+es zeugt von einem unverdorbenen Gemuet, dass ihr euch noch so recht
+gemuetlich in den Gang des Maerchens versetzen konntet, dass ihr nicht
+wie andere vornehm darauf, als auf ein Kinderspiel, herabsehet, dass
+ihr euch nicht langweilt und lieber ein Ross zureiten oder auf dem
+Sofa behaglich einschlummern oder halb traeumend die Wasserpfeife
+rauchen wolltet, statt dergleichen euer Ohr zu schenken. Es sei
+ferne von mir, euch darum zu tadeln; aber das freut mich, dass auch
+eine andere Art von Erzaehlung euch fesselt und ergoetzt, eine andere
+Art als die, welche man gewoehnlich Maerchen nennt."
+
+"Wie versteht Ihr dies? Erklaert uns deutlicher, was Ihr meinet.
+Eine andere Art als das Maerchen?" sprachen die Juenglinge unter sich.
+
+"Ich denke, man muss einen gewissen Unterschied machen zwischen
+Maerchen und Erzaehlungen, die man im gemeinen Leben Geschichten nennt.
+Wenn ich euch sage, ich will euch ein Maerchen erzaehlen, so werdet
+ihr zum voraus darauf rechnen, dass es eine Begebenheit ist, die von
+dem gewoehnlichen Gang des Lebens abschweift und sich in einem Gebiet
+bewegt, das nicht mehr durchaus irdischer Natur ist. Oder, um
+deutlicher zu sein, ihr werdet bei dem Maerchen auf die Erscheinung
+anderer Wesen als allein sterblicher Menschen rechnen koennen; es
+greifen in das Schicksal der Person, von welcher das Maerchen handelt,
+fremde Maechte, wie Feen und Zauberer, Genien und Geisterfuersten, ein;
+die ganze Erzaehlung nimmt eine aussergewoehnliche, wunderbare Gestalt
+an und ist ungefaehr anzuschauen wie die Gewebe unserer Teppiche oder
+viele Gemaelde unserer besten Meister, welche die Franken Arabesken
+nennen. Es ist dem echten Muselmann verboten, den Menschen, das
+Geschoepf Allahs, suendigerweise wiederzuschoepfen in Farben und
+Gemaelden, daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene
+Baeume und Zweige mit Menschenkoepfen, Menschen, die in einen Fisch
+oder Strauch ausgehen, kurz, Figuren, die an das gewoehnliche Leben
+erinnern und dennoch ungewoehnlich sind; ihr versteht mich doch?" "Ich
+glaube, Eure Meinung zu erraten", sagte der Schreiber, "doch fahret
+weiter fort!"
+
+"Von dieser Art ist nun das Maerchen; fabelhaft, ungewoehnlich,
+ueberraschend; weil es dem gewoehnlichen Leben fremd ist, wird es oft
+in fremde Laender oder in ferne, laengst vergangene Zeiten verschoben.
+Jedes Land, jedes Volk hat solche Maerchen, die Tuerken so gut als die
+Perser, die Chinesen wie die Mongolen; selbst in Frankenland soll es
+viele geben, wenigstens erzaehlte mir einst ein gelehrter Giaur davon;
+doch sind sie nicht so schoen als die unsrigen; denn statt schoener
+Feen, die in prachtvollen Palaesten wohnen, haben sie zauberhafte
+Weiber, die sie Hexen nennen, heimtueckisches, haessliches Volk, das in
+elenden Huetten wohnt, und statt in einem Muschelwagen, von Greisen
+gezogen, durch die blauen Luefte zu fahren, reiten sie auf einem Besen
+durch den Nebel. Sie haben auch Gnomen und Erdgeister, das sind
+kleine verwachsene Kerlchen, die allerlei Spuk machen. Das sind nun
+die Maerchen; ganz anders ist es aber mit den Erzaehlungen, die man
+gemeinhin Geschichten nennt. Diese bleiben ganz ordentlich auf der
+Erde, tragen sich im gewoehnlichen Leben zu, und wunderbar ist an
+ihnen meistens nur die Verkettung der Schicksale eines Menschen, der
+nicht durch Zauber, Verwuenschung oder Feenspuk, wie im Maerchen,
+sondern durch sie selbst oder die sonderbare Fuegung der Umstaende
+reich oder arm, gluecklich oder ungluecklich wird."
+
+"Richtig!" erwiderte einer der jungen Leute. "Solche reinen
+Geschichten finden sich auch in den herrlichen Erzaehlungen der
+Scheherazade, die man ZTausendundeine NachtZ nennt. Die meisten
+Begebenheiten des Koenigs Harun Al-Raschid und seines Wesirs sind
+dieser Art. Sie gehen verkleidet aus und sehen diesen oder jenen
+hoechst sonderbaren Vorfall, der sich nachher ganz natuerlich aufloest."
+
+"Und dennoch werdet ihr gestehen muessen", fuhr der Alte fort, "dass
+jene Geschichten nicht der schlechteste Teil der ZTausendundeine
+NachtZ sind. Und doch, wie verschieden sind sie in ihren Ursachen,
+in ihrem Gang, in ihrem ganzen Wesen von den Maerchen eines Prinzen
+Biribinker oder der drei Derwische mit einem Auge oder des Fischers,
+der den Kasten, verschlossen mit dem Siegel Salomos, aus dem Meere
+zieht! Aber am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden
+ihren eigentuemlichen Reiz gibt, naemlich das, dass wir etwas
+Auffallendes, Aussergewoehnliches miterleben. Bei dem Maerchen liegt
+dieses Aussergewoehnliche in jener Einmischung eines fabelhaften
+Zaubers in das gewoehnliche Menschenleben, bei den Geschichten
+geschieht etwas zwar nach natuerlichen Gesetzen, aber auf
+ueberraschende, ungewoehnliche Weise."
+
+"Sonderbar!" rief der Schreiber, "sonderbar, dass uns dann dieser
+natuerliche Gang der Dinge ebenso anzieht wie der uebernatuerliche im
+Maerchen; worin mag dies doch liegen?"
+
+"Das liegt in der Schilderung des einzelnen Menschen", antwortete der
+Alte; "im Maerchen haeuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch
+handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, dass die einzelnen Figuren
+und ihr Charakter nur fluechtig gezeichnet werden koennen. Anders bei
+der gewoehnlichen Erzaehlung, wo die Art, wie jeder seinem Charakter
+gemaess spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende ist. So
+die Geschichte von dem gebackenen Kopf, die wir soeben gehoert haben.
+Der Gang der Erzaehlung waere im ganzen nicht auffallend, nicht
+ueberraschend, waere er nicht verwickelt durch den Charakter der
+Handelnden. Wie koestlich zum Beispiel ist die Figur des Schneiders.
+Man glaubt den alten, gekruemmten Mantelflicker vor sich zu sehen. Er
+soll zum erstenmal in seinem Leben einen tuechtigen Schnitt machen,
+ihm und seinem Weibe lacht schon zum voraus das Herz, und sie
+traktieren sich mit recht schwarzem Kaffee. Welches Gegenstueck zu
+dieser behaglichen Ruhe ist dann jene Szene, wo sie den Pack begierig
+oeffnen und den greulichen Kopf erblicken. Und nachher glaubt man ihn
+nicht zu sehen und zu hoeren, wie er auf dem Minarett umherschleicht,
+die Glaeubigen mit meckernder Stimme zum Gebet ruft und bei Erblickung
+des Sklaven ploetzlich, wie vom Donner geruehrt, verstummt? Dann der
+Barbier! Sehet ihr ihn nicht vor euch, den alten Suender, der,
+waehrend er die Seife anruehrt, viel schwatzt und gerne verbotenen Wein
+trinkt? Sehet ihr ihn nicht, wie er dem sonderbaren Kunden das
+Barbierschuesselchen unterhaelt und--den kalten Schaedel beruehrt? Nicht
+minder gut, wenn auch nur angedeutet, ist der Sohn des Baeckers, der
+verschmitzte Junge, und der Bratenmacher Yanakil. Ist nicht das
+Ganze eine ununterbrochene Reihe komischer Szenen, scheint nicht der
+Gang der Geschichte, so ungewoehnlich er ist, sich ganz natuerlich zu
+fuegen? Und warum? Weil die einzelnen Figuren richtig gezeichnet
+sind und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muss, wie es wirklich
+geschieht."
+
+"Wahrlich, Ihr habt recht!" erwiderte der junge Kaufmann, "ich habe
+mir nie Zeit genommen, so recht darueber nachzudenken, habe alles nur
+so gesehen und an mir voruebergehen lassen, habe mich an dem einen
+ergoetzt, das andere langweilig gefunden, ohne gerade zu wissen, warum.
+Aber Ihr gebt uns da einen Schluessel, der uns das Geheimnis oeffnet,
+einen Probierstein, worauf wir die Probe machen und richtig urteilen
+koennen."
+
+"Tuet das immer", antwortete der Alte, "und euer Genuss wird sich
+vergroessern, wenn ihr nachdenken lernet ueber das, was ihr gehoert.
+Doch siehe, dort erhebt sich wieder ein neuer, um zu erzaehlen."
+
+So war es, und der fuenfte Sklave begann:
+
+
+
+
+Der arme Stephan
+
+Gustav Adolf Schoell
+
+
+Im "Maerchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schoell.
+
+
+
+
+
+
+Der gebackene Kopf
+
+James Justinian Morier
+
+
+Im "Maerchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der gebackene
+Kopf" von James Justinian Morier.
+
+
+
+
+
+
+Der Affe als Mensch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+"Herr! ich bin ein Deutscher von Geburt und habe mich in Euren Landen
+zu kurz aufgehalten, als dass ich ein persisches Maerchen oder eine
+ergoetzliche Geschichte von Sultanen und Wesiren erzaehlen koennte. Ihr
+muesst mir daher schon erlauben, dass ich etwas aus meinem Vaterland
+erzaehle, was Euch vielleicht auch einigen Spass macht. Leider sind
+unsere Geschichten nicht immer so vornehm wie die Euren, das heisst,
+sie handeln nicht von Sultanen oder unseren Koenigen, nicht von
+Wesiren und Paschas, was man bei uns Justiz- und Finanzminister, auch
+Geheimraete und dergleichen nennt, sondern sie leben, wenn sie nicht
+von Soldaten handeln, gewoehnlich ganz bescheiden und unter den
+Buergern.
+
+Im suedlichen Teil von Deutschland liegt das Staedtchen Gruenwiesel, wo
+ich geboren und erzogen bin. Es ist ein Staedtchen, wie sie alle sind.
+In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite
+ein kleines, altes Rathaus, umher auf dem Markt die Haeuser des
+Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar
+engen Strassen wohnen die uebrigen Menschen. Alles kennt sich,
+jedermann weiss, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer
+oder der Buergermeister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel
+hat, so weiss es schon am Mittagessen die ganze Stadt. Nachmittags
+kommen dann die Frauen zueinander in die Visite, wie man es nennt,
+besprechen sich bei starkem Kaffee und suessem Kuchen ueber diese grosse
+Begebenheit, und der Schluss ist, dass der Oberpfarrer wahrscheinlich
+in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel gewonnen habe, dass der
+Buergermeister sich 'schmieren' lasse oder dass der Doktor vom
+Apotheker einige Goldstuecke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu
+verschreiben. Ihr koennet Euch denken, Herr, wie unangenehm es fuer
+eine so wohleingerichtete Stadt wie Gruenwiesel sein musste, als ein
+Mann dorthin zog, von dem niemand wusste, woher er kam, was er wollte,
+von was er lebte. Der Buergermeister hatte zwar seinen Pass gesehen,
+ein Papier, das bei uns jedermann haben muss"
+
+"Ist es denn so unsicher auf den Strassen", unterbrach den Sklaven der
+Scheik, "dass Ihr einen Ferman Eures Sultans haben muesset, um die
+Raeuber in Respekt zu setzen?"
+
+"Nein, Herr", entgegnete jener, "diese Papiere halten keinen Dieb von
+uns ab, sondern es ist nur der Ordnung wegen, dass man ueberall weiss,
+wen man vor sich hat."
+
+Nun, der Buergermeister hatte den Pass untersucht und in einer
+Kaffeegesellschaft bei Doktors geaeussert, der Pass sei zwar ganz
+richtig visiert von Berlin bis Gruenwiesel, aber es stecke doch was
+dahinter; denn der Mann sehe etwas verdaechtig aus. Der Buergermeister
+hatte das groesste Ansehen in der Stadt, kein Wunder, dass von da an der
+Fremde als eine verdaechtige Person angesehen wurde. Und sein
+Lebenswandel konnte meine Landsleute nicht von dieser Meinung
+abbringen. Der fremde Mann mietete sich fuer einige Goldstuecke ein
+ganzes Haus, das bisher oede gestanden, liess einen ganzen Wagen voll
+sonderbarer Geraetschaften, als Oefen, Kunstherde, grosse Tiegel und
+dergleichen hineinschaffen und lebte von da an ganz fuer sich allein.
+Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele
+in sein Haus als ein alter Mann aus Gruenwiesel, der ihm seine
+Einkaeufe in Brot, Fleisch und Gemuese besorgen musste. Doch auch
+dieser durfte nur in den Flur des Hauses kommen, und dort nahm der
+fremde Mann das Gekaufte in Empfang.
+
+Ich war ein Knabe von zehn Jahren, als der Mann in meiner Vaterstadt
+einzog, und ich kann mir noch heute, als waere es gestern geschehen,
+die Unruhe denken, die dieser Mann im Staedtchen verursachte. Er kam
+nachmittags nicht, wie andere Maenner, auf die Kegelbahn, er kam
+abends nicht ins Wirtshaus, um, wie die uebrigen, bei einer Pfeife
+Tabak ueber die Zeitung zu sprechen. Umsonst luden ihn nach der Reihe
+der Buergermeister, der Friedensrichter, der Doktor und der
+Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein, er liess sich immer
+entschuldigen. Daher hielten ihn einige fuer verrueckt, andere fuer
+einen Juden, eine dritte Partie behauptete steif und fest, er sei ein
+Zauberer oder Hexenmeister. Ich wurde achtzehn, zwanzig Jahre alt,
+und noch immer hiess der Mann in der Stadt der fremde Herr.
+
+Es begab sich aber eines Tages, dass Leute mit fremden Tieren in die
+Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat,
+welches sich verbeugen kann, einen Baeren, der tanzt, einige Hunde und
+Affen, die in menschlichen Kleidern komisch genug aussehen und
+allerlei Kuenste machen. Diese Leute durchziehen gewoehnlich die Stadt,
+halten an den Kreuzstrassen und Plaetzen, machen mit einer kleinen
+Trommel und einer Pfeife eine uebeltoenende Musik, lassen ihre Truppe
+tanzen und springen und sammeln dann in den Haeusern Geld ein. Die
+Truppe aber, die diesmal sich in Gruenwiesel sehen liess, zeichnete
+sich durch einen ungeheuren Orang-Utan aus, der beinahe Menschengroesse
+hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Kuenste zu machen
+verstand. Diese Hunds- und Affenkomoedie kam auch vor das Haus des
+fremden Herrn; er erschien, als die Trommel und Pfeife ertoenten, von
+Anfang ganz unwillig hinter den dunklen, vom Alter angelaufenen
+Fenstern; bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns
+Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich ueber die Kuenste des
+Orang-Utans; ja, er gab fuer den Spass ein so grosses Silberstueck, dass
+die ganze Stadt davon sprach.
+
+Am anderen Morgen zog die Tierbande weiter; das Kamel musste viele
+Koerbe tragen, in welchen die Hunde und Affen ganz bequem sassen, die
+Tiertreiber aber und der grosse Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum
+aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde
+Herr auf die Post, verlangte zu grosser Verwunderung des Postmeisters
+einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus den Weg
+hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Staedtchen aergerte sich,
+dass man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon
+Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam; es sass
+aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrueckt
+und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der
+Torschreiber hielt es fuer seine Pflicht, den anderen Fremden
+anzureden und um seinen Pass zu bitten; er antwortete aber sehr grob,
+indem er in einer ganz unverstaendlichen Sprache brummte.
+
+"Es ist mein Neffe", sagte der fremde Mann freundlich zum
+Torschreiber, indem er ihm einige Silbermuenzen in die Hand drueckte,
+"es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig Deutsch; er hat
+soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, dass wir hier aufgehalten
+werden."
+
+"Ei, wenn es Dero Neffe ist", antwortete der Torschreiber, "so kann
+er wohl ohne Pass hereinkommen; er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen
+wohnen?"
+
+"Allerdings", sagte der Fremde, "und haelt sich wahrscheinlich laengere
+Zeit hier auf."
+
+Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde
+Herr und sein Neffe fuhren ins Staedtchen. Der Buergermeister und die
+ganze Stadt waren uebrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber.
+Er haette doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen
+sich merken sollen; daraus haette man dann leicht erfahren, was fuer
+ein Landeskind er und der Onkel waeren. Der Torschreiber versicherte
+aber, dass es weder Franzoesisch oder Italienisch sei, wohl aber habe
+es so breit geklungen wie Englisch, und wenn er nicht irre, so habe
+der junge Herr gesagt: "Goddam!" So half der Torschreiber sich selbst
+aus der Not und dem jungen Manne zu einem Namen; denn man sprach
+jetzt nur von dem jungen Englaender im Staedtchen.
+
+Aber auch der junge Englaender wurde nicht sichtbar, weder auf der
+Kegelbahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere
+Weise viel zu schaffen.--Es begab sich naemlich oft, dass von dem sonst
+so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Laerm
+ausging, dass die Leute haufenweise vor dem Hause stehenblieben und
+hinaufsahen. Man sah dann den jungen Englaender, angetan mit einem
+roten Frack und gruenen Beinkleidern, mit struppichtem Haar und
+schrecklicher Miene unglaublich schnell an den Fenstern hin und her
+durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten
+Schlafrock, eine Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft,
+aber einigemal kam es doch der Menge auf der Strasse vor, als muesse er
+den Jungen erreicht haben; denn man hoerte klaegliche Angsttoene und
+klatschende Peitschenhiebe die Menge. An dieser grausamen Behandlung
+des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Staedtchens so
+lebhaften Anteil, dass sie endlich den Buergermeister bewogen, einen
+Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein
+Billett, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in
+ziemlich derben Ausdruecken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner
+solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen
+Schutz zu nehmen.
+
+Wer war aber mehr erstaunt als der Buergermeister, wie er den Fremden
+selbst, zum erstenmal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah. Der
+alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der
+Eltern des Juenglings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei
+sonst ein kluger, anstelliger Junge, aeusserte er, aber die Sprachen
+erlerne er sehr schwer; er wuensche so sehnlich, seinem Neffen das
+Deutsche recht gelaeufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu
+nehmen, ihn in die Gesellschaft von Gruenwiesel einzufuehren, und
+dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, dass man oft
+nichts Besseres tun koenne, als ihn gehoerig durchzupeitschen. Der
+Buergermeister fand sich durch diese Mitteilung voellig befriedigt,
+riet dem Alten zur Maessigung und erzaehlte abends im Bierkeller, dass er
+selten einen so unterrichteten, artigen Mann gefunden als den Fremden;
+"es ist nur schade", setzte er hinzu, "dass er so wenig in
+Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig
+Deutsch spricht, besucht er meine Cercles oefter."
+
+Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Staedtchens voellig
+umgeaendert. Man hielt den Fremden fuer einen artigen Mann, sehnte
+sich nach seiner naeheren Bekanntschaft und fand es ganz in der
+Ordnung, wenn hier und da in dem oeden Hause ein graessliches Geschrei
+aufging. "Er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen
+Sprachlehre", sagten die Gruenwiesler und blieben nicht mehr stehen.
+Nach einem Vierteljahr ungefaehr schien der Unterricht im Deutschen
+beendigt; denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es
+lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen
+Leuten Unterricht im Tanzen gab. Diesen liess der Fremde zu sich
+rufen und sagte ihm, dass er seinen Neffen im Tanzen unterrichten
+lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, dass derselbe zwar sehr
+gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er
+habe naemlich frueher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und
+zwar nach so sonderbaren Touren, dass er sich nicht fueglich in der
+Gesellschaft produzieren koenne; der Neffe halte sich aber eben
+deswegen fuer einen grossen Taenzer, obgleich sein Tanz nicht die
+entfernteste Aehnlichkeit mit Walzer oder Galopp (Taenze, die man in
+meinem Vaterlande tanzt, o Herr!), nicht einmal Aehnlichkeit mit
+Ekossaise oder Francaise habe. Er versprach uebrigens einen Taler fuer
+die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnuegen bereit, den
+Unterricht des eigensinnigen Zoeglings zu uebernehmen.
+
+Es gab, wie der Franzose unterderhand versicherte, auf der Welt
+nichts Sonderbareres als diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich
+grosser, schlanker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte,
+erschien in einem roten Frack, schoen frisiert, in gruenen, weiten
+Beinkleidern und glasierten Handschuhen. Er sprach wenig und mit
+fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann
+verfiel er aber oft ploetzlich in fratzenhafte Spruenge, tanzte die
+kuehnsten Touren, wobei er Entrechats machte, dass dem Tanzmeister
+Hoeren und Sehen verging; wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die
+zierlichen Tanzschuhe von den Fuessen, warf sie dem Franzosen an den
+Kopf und setzte nun auf allen Vieren im Zimmer umher. Bei diesem
+Laerm fuhr dann der alte Herr ploetzlich in einem weiten, roten
+Schlafrock, eine Muetze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer
+heraus und liess die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Ruecken des
+Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an, schrecklich zu heulen,
+sprang auf Tische und hohe Kommoden, ja selbst an den Kreuzstoecken
+der Fenster hinauf und sprach eine fremde, seltsame Sprache. Der
+Alte im roten Schlafrock aber liess sich nicht irremachen, fasste ihn
+am Bein, riss ihn herab, bleute ihn durch und zog ihm mittels einer
+Schnalle die Halsbinde fester an, worauf er immer wieder artig und
+manierlich wurde und die Tanzstunde ohne Stoerung weiterging.
+
+Als aber der Tanzmeister seinen Zoegling so weit gebracht hatte, dass
+man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie
+umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des oeden
+Hauses auf einen Tisch sich setzen musste. Der Tanzmeister stellte
+dann die Dame vor, indem ihm der alte Herr einen Frauenrock von Seide
+und einen ostindischen Schal anziehen liess; der Neffe forderte ihn
+auf und fing nun an, mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein
+unermuedlicher, rasender Taenzer, er liess den Meister nicht aus seinen
+langen Armen; ob er aechzte und schrie, er musste tanzen, bis er
+ermattet umsank oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der
+Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe
+unter den Boden, aber der Taler, den er jedesmal richtig ausbezahlt
+bekam, der gute Wein, den der Alte aufwartete, machten, dass er immer
+wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte,
+nicht mehr in das oede Haus zu gehen.
+
+Die Leute in Gruenwiesel sahen aber die Sache ganz anders an als der
+Franzose. Sie fanden, dass der junge Mann viele Anlagen zum
+Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Staedtchen freuten
+sich, bei dem grossen Mangel an Herren einen so flinken Taenzer fuer den
+naechsten Winter zu bekommen.
+
+Eines Morgens berichteten die Maegde, die vom Markte heimkehrten,
+ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem oeden Hause sei
+ein praechtiger Glaswagen gestanden, mit schoenen Pferden bespannt, und
+ein Bediensteter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei
+die Tuere des oeden Hauses aufgegangen und zwei schoen gekleidete Herren
+herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere
+wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt
+und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der
+Bedienstete hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle
+sich vor, sei geradezu auf Buergermeisters Haus zugefahren.
+
+Als die Frauen solches von ihren Maegden erzaehlen hoerten, rissen sie
+eilends die Kuechenschuerzen und die etwas unsauberen Hauben ab und
+versetzten sich in Staat; "es ist nichts gewisser", sagten sie zu
+ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchszimmer, das
+zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuraeumen, "es ist nichts
+gewisser, als dass der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einfuehrt.
+Der alte Narr war seit zehn Jahren nicht so artig, einen Fuss in
+unser Haus zu setzen, aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der
+ein charmanter Mensch sein soll." So sprachen sie und ermahnten ihre
+Soehne und Toechter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden
+kaemen, sich gerade zu halten und sich auch einer besseren Aussprache
+zu bedienen als gewoehnlich. Und die klugen Frauen im Staedtchen
+hatten nicht unrecht geraten; denn nach der Reihe fuhr der alte Herr
+mit seinem Neffen umher; sich und ihn in die Gewogenheit der Familien
+zu empfehlen.
+
+Man war ueberall ganz erfuellt von den beiden Fremden und bedauerte,
+nicht schon frueher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben.
+Der alte Herr zeigte sich als ein wuerdiger, sehr vernuenftiger Mann,
+der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig laechelte, so dass man
+nicht gewiss war, ob es ihm Ernst sei oder nicht, aber er sprach ueber
+das Wetter, ueber die Gegend, ueber das Sommervergnuegen auf dem Keller
+am Berge so klug und durchdacht, dass jedermann davon bezaubert war.
+Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er gewann alle Herzen fuer sich.
+
+Man konnte zwar, was sein Aeusseres betraf, sein Gesicht nicht schoen
+nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzusehr
+hervor, und der Teint war sehr braeunlich; auch machte er zuweilen
+allerlei sonderbare Grimassen, drueckte die Augen zu und fletschte mit
+den Zaehnen; aber dennoch fand man den Schnitt seiner Zuege ungemein
+interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als
+seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib,
+aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit grosser Lebendigkeit im
+Zimmer umher, warf sich hier aufs Sofa, dort in einen Lehnstuhl und
+streckte die Beine von sich; aber was man bei einem anderen jungen
+Mann hoechst gemein und unschicklich gefunden haette, galt bei dem
+Neffen fuer Genialitaet.
+
+"Er ist ein Englaender", sagte man, "so sind sie alle; ein Englaender
+kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, waehrend zehn Damen
+keinen Platz haben und umherstehen muessen, einem Englaender kann man
+so etwas nicht uebelnehmen." Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war
+er sehr fuegsam; denn wenn er anfing, im Zimmer umherzuhuepfen oder,
+wie er gerne tat, die Fuesse auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte
+ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie
+konnte man ihm so etwas uebelnehmen, als vollends der Onkel in jedem
+Haus zu der Dame sagte: "Mein Neffe ist noch ein wenig roh und
+ungebildet; aber ich verspreche mir viel von der Gesellschaft, die
+wird ihn gehoerig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich
+Ihnen aufs angelegenste."
+
+So war der Neffe also in die Welt eingefuehrt, und ganz Gruenwiesel
+sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von
+diesem Ereignis. Der alte Herr blieb aber hierbei nicht stehen; er
+schien seine Denk- und Lebensart gaenzlich geaendert zu haben.
+Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berg,
+wo die vornehmeren Herren von Gruenwiesel Bier tranken und sich am
+Kegelschieben ergoetzten. Der Neffe zeigte sich dort als ein flinker
+Meister im Spiel; denn er warf nie unter fuenf oder sechs; hier und da
+schien zwar ein sonderbarer Geist ueber ihn zu kommen; es konnte ihm
+einfallen, dass er pfeilschnell mit der Kugel hinaus- und unter die
+Kegel hineinfuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder
+wenn er den Kranz oder den Koenig geworfen, stand er ploetzlich auf
+seinem schoen frisierten Haar und streckte die Beine in die Hoehe, oder
+wenn ein Wagen vorbeifuhr, sass er, ehe man sich's dessen versah, oben
+auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr so ein
+Stueckchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.
+
+Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Buergermeister und
+die anderen Maenner sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der
+Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner
+Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfuessig gewesen
+zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten,
+ungemein.
+
+Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig ueber ihn aergerten
+und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Englaender
+allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte
+Herr pflegte naemlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen
+Hirsch, das Wirtshaus des Staedtchens, zu kommen. Obgleich der Neffe
+noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein Alter,
+setzte sich hinter sein Glas, tat eine ungeheure Brille auf, zog
+eine gewaltige Pfeife heraus, zuendete sie an und dampfte unter allen
+am aergsten. Wurde nun ueber die Zeitungen, ueber Krieg und Frieden
+gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Buergermeister jene, waren
+die anderen Herren ganz erstaunt ueber so tiefe politische Kenntnisse,
+so konnte es dem Neffen ploetzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu
+sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe
+ablegte, auf den Tisch und gab dem Buergermeister und dem Doktor nicht
+undeutlich zu verstehen, dass sie von diesem allem nichts genau wuessten,
+dass er diese Sachen ganz anders gehoert habe und tiefere Einsicht
+besitze. Er gab dann in einem sonderbar gebrochenen Deutsch seine
+Meinung preis, die alle, zum grossen Aergernis des Buergermeisters, ganz
+trefflich fanden; denn er musste als Englaender natuerlich alles besser
+wissen.
+
+Setzten sich dann der Buergermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den
+sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so
+rueckte der Neffe hinzu, schaute dem Buergermeister mit seiner grossen
+Brille ueber die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug,
+sagte dem Doktor, so und so muesse er ziehen, so dass beide Maenner
+heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Buergermeister
+aergerlich eine Partie an, um ihn gehoerig matt zu machen, denn er
+hielt sich fuer einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem
+Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und
+manierlich wurde und den Buergermeister matt machte.
+
+Man hatte bisher in Gruenwiesel beinahe jeden Abend Karten gespielt,
+die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbaermlich,
+setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so
+fein wie er, soehnte aber die beleidigten Herren gewoehnlich dadurch
+wieder aus, dass er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich
+auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen; denn
+"er ist ja ein Englaender, also von Hause aus reich", sagten sie und
+schoben die Dukaten in die Tasche.
+
+So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und
+Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit
+Menschengedenken nicht erinnern, einen jungen Mann dieser Art in
+Gruenwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung,
+die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, dass der Neffe irgend
+etwas gelernt haette als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm,
+wie man zu sagen pflegt, boehmische Doerfer. Bei einem
+Gesellschaftsspiel in Buergermeisters Hause sollte er etwas schreiben,
+und es fand sich, dass er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte;
+in der Geographie machte er die auffallendsten Schnitzer; denn es kam
+ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich oder eine
+daenische nach Polen zu versetzen, er hatte nichts gesehen, nichts
+studiert, und der Oberpfarrer schuettelte oft bedenklich den Kopf ueber
+die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles
+trefflich, was er tat oder sagte; denn er war so unverschaemt, immer
+recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: "Ich
+verstehe das besser!"
+
+So kam der Winter heran, und jetzt erst trat der Neffe mit noch
+groesserer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht
+er zugegen war, man gaehnte, wenn ein vernuenftiger Mann etwas sagte;
+wenn aber der Neffe selbst das toerichteste Zeug in schlechtem Deutsch
+vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, dass der treffliche
+junge Mann auch ein Dichter war; denn nicht leicht verging ein Abend,
+an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der
+Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die
+von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht
+und ohne Sinn, einen anderen Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt
+gelesen haben; aber der Neffe liess sich nicht irremachen, er las und
+las, machte dann auf die Schoenheiten seiner Verse aufmerksam, und
+jedesmal erfolgte rauschender Beifall.
+
+Sein Triumph waren aber die Gruenwieseler Baelle. Es konnte niemand
+anhaltender, schneller tanzen als er; keiner machte so kuehne und
+ungemein zierliche Spraenge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel
+immer aufs praechtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm
+die Kleider nicht recht am Leibe sitzen wollten, fand man dennoch,
+dass ihn alles allerliebst kleide. Die Maenner fanden sich zwar bei
+diesen Taenzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat.
+Sonst hatte immer der Buergermeister in eigener Person den Ball
+eroeffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die uebrigen
+Taenze anzuordnen aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies
+alles ganz anders. Ohne viel zu fragen, nahm er die naechste beste
+Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr oben an, machte alles, wie es
+ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkoenig. Weil aber die
+Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften
+die Maenner nichts dagegen einwenden, und der Neffe blieb bei seiner
+selbstgewaehlten Wuerde.
+
+Das groesste Vergnuegen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu
+gewaehren; er verwandte kein Auge von seinem Neffen, laechelte immer in
+sich hinein, und wenn alle Welt herbeistroemte, um ihm ueber den
+anstaendigen, wohlgezogenen Juengling Lobsprueche zu erteilen, so konnte
+er sich vor Freude gar nicht fassen; er brach dann in ein lustiges
+Gelaechter aus und bezeugte sich wie naerrisch; die Gruenwieseler
+schrieben diese sonderbaren Ausbrueche der Freude seiner grossen Liebe
+zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hier und da
+musste er auch sein vaeterliches Ansehen gegen den Neffen anwenden.
+Denn mitten in den zierlichsten Taenzen konnte es dem jungen Mann
+einfallen, mit einem kuehnen Sprung auf die Tribuene, wo die
+Stadtmusikanten sassen, zu setzen, dem Organisten den Kontrabass aus
+der Hand zu reissen und schrecklich darauf umherzukratzen; oder er
+wechselte auf einmal und tanzte auf den Haenden, indem er die Beine in
+die Hoehe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu
+nehmen, machte ihm dort ernstliche Vowuerfe und zog ihm die Halsbinde
+fester an, dass er wieder ganz gesittet wurde.
+
+So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Baellen. Wie es
+aber mit den Sitten zu geschehen pflegt, die schlechten verbreiten
+sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode,
+wenn sie auch hoechst laecherlich sein solle, hat etwas Ansteckendes an
+sich fuer junge Leute, die noch nicht ueber sich selbst und die Welt
+nachgedacht haben. So war es auch in Gruenwiesel mit dem Neffen und
+seinen sonderbaren Sitten. Als naemlich die junge Welt sah, wie
+derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und
+Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen Aeltere eher geschaetzt
+als getadelt werde, dass man dies alles sogar sehr geistreich finde,
+so dachten sie bei sich: "Es ist mir ein leichtes, auch solch ein
+geistreicher Schlingel zu werden." Sie waren sonst fleissige,
+geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: "Zu was hilft
+Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkoemmt?" Sie
+liessen die Buecher liegen und trieben sich ueberall umher auf Plaetzen
+und Strassen. Sonst waren sie artig gewesen und hoeflich gegen
+jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anstaendig und
+bescheiden geantwortet; jetzt standen sie in die Reihe der Maenner,
+schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis und lachten selbst dem
+Buergermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten,
+alles viel besser zu wissen.
+
+Sonst hatten die jungen Gruenwieser Abscheu gehegt gegen rohes und
+gemeines Wesen. Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten
+aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen
+umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, grosse
+Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten nun, gemachte Leute
+zu sein; denn sie sahen ja aus wie der beruehmte Neffe. Zu Hause oder
+wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefeln und Sporen auf dem
+Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft oder
+stuetzten die Wangen in beide Faeuste, die Ellbogen aber auf den Tisch,
+was nun ueberaus reizend anzusehen war. Umsonst sagten ihnen ihre
+Muetter und Freunde, wie toericht, wie unschicklich dies alles sei, sie
+beriefen sich auf das glaenzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte
+man ihnen vor, dass man dem Neffen, als einem jungen Englaender, eine
+gewisse Nationalroheit verzeihen muesse, die jungen Gruenwieseler
+behaupteten, ebensogut als der beste Englaender das Recht zu haben,
+auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie
+durch das boese Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten
+in Gruenwiesel voellig untergingen.
+
+Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben
+dauerte nicht lange; denn folgender Vorfall veraenderte auf einmal die
+ganze Szene: Die Wintervergnuegungen sollte ein grosses Konzert
+beschliessen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten
+Musikfreunden in Gruenwiesel aufgefuehrt werden sollte. Der
+Buergermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz
+vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte,
+blies die Floete, einige Jungfrauen aus Gruenwiesel hatten Arien
+einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da aeusserte der
+alte Fremde, dass zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden
+wuerde, es fehle aber offenbar an einem Duett, und ein Duett muesse in
+jedem ordentlichen Konzert notwendigerweise vorkommen. Man war etwas
+betreten ueber diese Aeusserung; die Tochter des Buergermeisters sang
+zwar wie eine Nachtigall; aber wo einen Herrn herbekommen, der mit
+ihr ein Duett singen koennte? Man wollte endlich auf den alten
+Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Bass gesungen hatte;
+der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht noetig, indem sein
+Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt ueber
+diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes; er musste zur
+Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die
+man fuer englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in
+der Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem
+die Ohren der Gruenwieseler durch das Konzert erquickt werden sollten.
+
+Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht
+beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Buergermeister, der ihn
+eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Massregeln ueber seinen Neffen
+auf. "Er ist eine gute Seele, mein Neffe", sagte er, "aber hier und
+da verfaellt er in allerlei sonderbare Gedanken und faengt dann tolles
+Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, dass ich dem Konzert nicht
+beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiss
+wohl, warum! Ich muss uebrigens zu seiner Ehre sagen, dass dies nicht
+geistiger Mutwillen ist, sondern es ist koerperlich, es liegt in
+seiner Natur. Wollten Sie nun, Herr Buergermeister, wenn er etwa in
+solche Gedanken verfiele, dass er sich auf ein Notenpult setzte oder
+dass er durchaus den Kontrabass streichen wollte oder dergleichen,
+wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen
+oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen,
+Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird."
+
+Der Buergermeister dankte dem Kranken fuer sein Zutrauen und versprach,
+im Fall der Not also zu tun, wie er ihm geraten.
+
+Der Konzertsaal war gedraengt voll; denn ganz Gruenwiesel und die
+Umgegend hatten sich eingefunden. Alle Jaeger, Pfarrer, Amtleute,
+Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit
+zahlreicher Familie herbeigestroemt, um den seltenen Genuss mit den
+Gruenwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich
+vortrefflich; nach ihnen trat der Buergermeister auf, der das
+Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Floete blies;
+nach diesen sang der Organist eine Bassarie mit allgemeinem Beifall,
+und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem
+Fagott sich hoeren liess.
+
+Die erste Abteilung des Konzertes war vorbei, und jedermann war nun
+auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des
+Buergermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in
+einem glaenzenden Anzug erschienen und hatte schon laengst die
+Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich
+naemlich, ohne viel zu fragen, in den praechtigen Lehnstuhl gelegt, der
+fuer eine Graefin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er
+streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein
+ungeheueres Perspektiv an, das er noch ausser seiner grossen Brille
+gebrauchte, und spielte mit einem grossen Fleischerhund, den er trotz
+des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingefuehrt hatte.
+Die Graefin, fuer welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien; aber
+wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuraeumen,
+war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und
+niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darueber zu sagen; die
+vornehme Dame aber musste auf einem ganz gemeinen Strohsessel mitten
+unter den uebrigen Frauen des Staedtchens sitzen und soll sich nicht
+wenig geaergert haben.
+
+Waehrend des herrlichen Spieles des Buergermeisters, waehrend des
+Organisten trefflicher Bassarie, ja sogar waehrend der Doktor auf dem
+Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, liess der
+Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut
+mit seinen Nachbarn, so dass jedermann, der ihn nicht kannte, ueber die
+absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.
+
+Kein Wunder daher, dass alles sehr begierig war, wie er sein Duett
+vortragen wuerde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten
+hatten etwas weniges aufgespielt, und nun trat der Buergermeister mit
+seiner Tochter zu dem jungen Mann, ueberreichte ihm ein Notenblatt und
+sprach: "Mosjoeh, waere es Ihnen jetzt gefaellig, das Duetto zu singen?"
+Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zaehnen, sprang auf, und die
+beiden anderen folgten ihm an das Notenpult, und die ganze
+Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und
+winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine grossen
+Brillenglaeser in die Noten und stiess greuliche, jaemmerliche Toene aus.
+Der Organist aber schrie ihm zu: "Zwei Toene tiefer, Wertester, C
+muessen Sie singen, C!"
+
+Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf
+ihn dem Organisten an den Kopf, dass der Puder weit umherflog. Als
+dies der Buergermeister sah, dachte er. "Ha, jetzt hat er wieder
+seine koerperlichen Zufaelle!", sprang hinzu, packte ihn am Hals und
+band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch
+schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr Deutsch, sondern
+eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte grosse
+Spruenge. Der Buergermeister war in Verzweiflung ueber diese
+unangenehme Stoerung; er fasste daher den Entschluss, dem jungen Mann,
+dem etwas ganz Besonderes zugestossen sein musste, das Halstuch
+vollends abzuloesen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor
+Schrecken wie erstarrt stehen; denn statt menschlicher Haut und Farbe
+umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und
+alsobald setzte derselbe auch seine Spruenge noch hoeher und
+sonderbarer fort, fuhr sich mit den glasierten Handschuhen in die
+Haare, zog diese ab, und o Wunder, diese schoenen Haare waren eine
+Peruecke, die er dem Buergermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf
+erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.
+
+Er setzte ueber Tische und Baenke, warf die Notenpulte um, zertrat
+Geigen und Klarinette und erschien wie ein Rasender. "Fangt ihn,
+fangt ihn!" rief der Buergermeister ganz ausser sich, "er ist von
+Sinnen, fangt ihn!" Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte
+die Handschuhe abgezogen und zeigte Naegel an den Haenden, mit welchen
+er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jaemmerlich kratzte. Endlich
+gelang es einem mutigen Jaeger, seiner habhaft zu werden. Er presste
+ihm die langen Arme zusammen, dass er nur noch mit den Fuessen zappelte
+und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich
+umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar
+nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der
+Nachbarschaft, der ein grosses Naturalienkabinett und allerlei
+ausgestopfte Tiere besass, trat naeher, betrachtete ihn genau und rief
+dann voll Verwunderung: "Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie
+bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft, das ist ja ein
+Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler fuer
+ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und balge ihn aus fuer mein Kabinett."
+
+Wer beschreibt das Erstaunen der Gruenwieseler, als sie dies hoerten!
+"Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge
+Fremde ein ganz gewoehnlicher Affe?" riefen sie und sahen einander
+ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute
+seinen Ohren nicht, die Maenner untersuchten das Tier genauer, aber es
+war und blieb ein ganz natuerlicher Affe.
+
+"Aber, wie ist dies moeglich!" rief die Frau Buergermeister. "Hat er
+mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein
+anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?"
+
+"Was?" eiferte die Frau Doktorin. "Wie? Hat er nicht oft und viel
+den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen
+und geraucht?"
+
+"Wie! Ist es moeglich!" riefen die Maenner. "Hat er nicht mit uns am
+Felsenkeller Kugeln geschoben und ueber Politik gestritten wie
+unsereiner?"
+
+"Und wie?" klagten sie alle. "Hat er nicht sogar vorgetanzt auf
+unseren Baellen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist
+Zauberei!" sagten die Buerger. "Ja, es ist Zauberei und teuflischer
+Spuk", sagte der Buergermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder
+Affen herbeibrachte. "Seht! In diesem Tuch steckte der ganze Zauber,
+der ihn in unseren Augen liebenswuerdig machte. Da ist ein breiter
+Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen
+beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand
+lesen?"
+
+Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie
+Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und
+sprach: "Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heisst:
+
+DER--AFFE--SEHR--POSSIERLICH--IST--ZUMAL--WANN--ER--VOM--APFEL--FRISST
+-Ja, ja, es ist hoellischer Betrug, eine Art von Zauberei", fuhr er
+fort, "und es muss exemplarisch bestraft werden."
+
+Der Buergermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf
+den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein musste, und sechs
+Stadtsoldaten trugen den Affen; denn der Fremde sollte sogleich ins
+Verhoer genommen werden.
+
+Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das oede
+Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben
+wuerde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich,
+es zeigte sich niemand. Da liess der Buergermeister in seiner Wut die
+Tuere einschlagen und begab sich hierauf in die Zimmer des Fremden.
+Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde
+Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein
+grosser, versiegelter Brief, an den Buergermeister ueberschrieben, den
+dieser auch sogleich oeffnete. Er las:
+
+"Meine lieben Gruenwieseler!
+
+Wenn Ihr dies leset, bin ich nicht mehr in Eurem Staedtchen, und Ihr
+werdet dann laengst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein
+lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mit Euch erlaubte, als
+eine gute Lehre auf, einen Fremden, der fuer sich leben will, nicht in
+Eure Gesellschaft zu noetigen. Ich selbst fuehlte mich zu gut, um Euer
+ewiges Klatschen, um Eure schlechten Sitten und Euer laecherliches
+Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den Ihr
+als meinen Stellvertreter so liebgewonnen habt. Lebet wohl und
+benuetzet diese Lehre nach Kraeften!"
+
+Die Gruenwieseler schaemten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr
+Trost war, dass dies alles mit unnatuerlichen Dingen zugegangen sei.
+Am meisten schaemten sich aber die jungen Leute in Gruenwiesel, weil
+sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt
+hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie
+schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt
+wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie
+zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechten, laecherlichen
+Sitten verfiel, so sagten die Gruenwieseler: "Es ist ein Affe." Der
+Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt
+hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besass,
+ueberantwortet. Dieser laesst ihn in seinem Hof umhergehen, fuettert ihn
+und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den
+heutigen Tag zu sehen ist.
+
+Es entstand ein Gelaechter im Saal, als der Sklave geendet hatte, und
+auch die jungen Maenner lachten mit. "Es muss doch sonderbare Leute
+geben unter diesen Franken, und wahrhaftig, da bin ich lieber beim
+Scheik und Mufti in Alessandria als in Gesellschaft des Oberpfarrers,
+des Buergermeisters und ihrer toerichten Frauen in Gruenwiesel!"
+
+"Da hast du gewiss recht gesprochen", erwiderte der junge Kaufmann.
+"In Frankistan moechte ich nicht tot sein. Die Franken sind ein rohes,
+wildes, barbarisches Volk, und fuer einen gebildeten Tuerken oder
+Perser muesste es schrecklich sein, dort zu leben."
+
+"Das werdet ihr bald hoeren", versprach der Alte, "so viel mir der
+Sklavenaufseher sagte, wird der schoene junge Mann dort vieles von
+Frankistan erzaehlen; denn er war lange dort und ist doch seiner
+Geburt nach ein Muselmann."
+
+"Wie, jener, der zuletzt sitzt in der Reihe? Wahrlich, es ist eine
+Suende, dass der Herr Scheik diesen losgibt! Es ist der schoenste
+Sklave im ganzen Land; schaut nur dieses mutige Gesicht, dieses kuehne
+Auge, diese schoene Gestalt! Er kann ihm ja leichte Geschaefte geben;
+er kann ihn zum Fliegenwedeler machen oder zum Pfeifentraeger; es ist
+ein Spass, ein solches Amt zu versehen, und wahrlich, ein solcher
+SkIave ist die Zierde von einem ganzen Haus. Und erst drei Tage hat
+er ihn und gibt ihn weg? Es ist Torheit, es ist Suende!"
+
+"Tadelt ihn doch nicht, ihn, der weiser ist als ganz Aegypten!" sprach
+der Alte mit Nachdruck. "Sagte ich euch nicht schon, dass er ihn
+loslaesst, weil er glaubt, den Segen Allahs dadurch zu verdienen? Ihr
+sagt, er ist schoen und wohlgebildet, und ihr sprecht die Wahrheit.
+Aber der Sohn des Scheik, den der Prophet in sein Vaterhaus
+zurueckbringen moege, der Sohn des Scheik war ein schoener Knabe und muss
+jetzt auch gross sein und wohlgebildet. Soll er also das Gold sparen
+und einen wohlfeilen, verwachsenen Sklaven hingeben in der Hoffnung,
+seinen Sohn dafuer zu bekommen? Wer etwas tun will in der Welt, der
+tut es lieber gar nicht oder--recht!"
+
+"Und sehet, des Scheik Augen sind immer auf diesen Sklaven geheftet;
+ich bemerkte es schon den ganzen Abend. Waehrend der Erzaehlungen
+streifte oft sein Blick dorthin und verweilte auf den edlen Zuegen des
+Freigelassenen. Es muss ihn doch ein wenig schmerzen, ihn freizugeben."
+
+"Denke nicht also von dem Mann! Meinst du, tausend Tomans schmerzen
+ihn, der jeden Tag das Dreifache einnimmt?" sagte der alte Mann.
+"Aber wenn sein Blick mit Kummer auf dem Juengling weilt, so denkt er
+wohl an seinen Sohn, der in der Fremde schmachtet; er denkt wohl, ob
+dort vielleicht ein barmerziger Mann wohne, der ihn loskaufe und
+zurueckschicke zum Vater. "
+
+"Ihr moegt recht haben", erwiderte der junge Kaufmann, "und ich schaeme
+mich, dass ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke,
+waehrend Ihr lieber eine schoene Gesinnung unterlegt. Und doch sind
+die Menschen in der Regel schlecht, habt Ihr dies nicht auch gefunden,
+Alter?"
+
+"Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von
+den Menschen", antwortete dieser, "es ging mir gerade wie euch; ich
+lebte so in den Tag hinein, hoerte viel Schlimmes von den Menschen,
+musste selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die
+Menschen alle fuer schlechte Geschoepfe zu halten. Doch da fiel mir
+bei, dass Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden koennte,
+dass ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schoenen Erde hause. Ich
+dachte nach ueber das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und
+siehe--ich hatte nur das Boese gezaehlt und das Gute vergessen. Ich
+hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit
+uebte, ich hatte es natuerlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft
+lebten und gerecht waren; so oft ich aber Boeses, Schlechtes hoerte,
+hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedaechtnis. Da fing ich an,
+mit ganz anderen Augen um mich zu schauen; es freute mich, wenn ich
+das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich
+bemerkte das Boese weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so
+lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken und
+habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes
+sprach, als wenn ich ihn fuer geizig oder gemein oder gottlos hielt."
+
+Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven
+unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: "Mein Herr, der Scheik von
+Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale
+bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu
+setzen."
+
+Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt ueber die Ehre, die dem
+Alten widerfahren sollte, den sie fuer einen Bettler gehalten, und als
+dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den
+Sklavenaufseher zurueck, und der Schreiber fragte ihn: "Beim Bart des
+Propheten beschwoere ich dich, sage uns, wer ist dieser alte Mann, mit
+dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?"
+
+"Wie!" rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die
+Haende zusammen. "Diesen Mann kennet ihr nicht?"
+
+"Nein, wir wissen nicht, wer er ist."
+
+"Aber ich sah euch doch schon einigemal mit ihm auf der Strasse
+sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst
+letzthin gesagt: 'Das muessen wackere junge Leute sein, die dieser
+Mann eines Gespraeches wuerdigt.'"
+
+"Aber, so sage doch, wer er ist!" rief der junge Kaufmann in hoechster
+Ungeduld.
+
+"Gehet, Ihr wollet mich nur zum Narren haben", antwortete der
+Sklavenaufseher. "In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht
+ausdruecklich eingeladen ist, und heute liess der Alte dem Scheik sagen,
+er werde einige junge Maenner in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm
+nicht ungelegen sei, und Ali Banu liess ihm sagen, er habe ueber sein
+Haus zu gebieten."
+
+"Lasse uns nicht laenger in Ungewissheit; so wahr ich lebe, ich weiss
+nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufaellig kennen und
+sprachen mit ihm."
+
+"Nun, dann duerfet ihr euch gluecklich preisen; denn ihr habt mit einem
+gelehrten, beruehmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und
+bewundern euch deshalb; es ist niemand anders als Mustapha, der
+gelehrte Derwisch."
+
+"Mustapha, der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat?
+Der viele gelehrte Buecher schrieb, der grosse Reisen machte in alle
+Weltteile! Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als
+waer' er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?" So sprachen die
+jungen Maenner untereinander und waren sehr beschaemt; denn der
+Derwisch Mustapha galt damals fuer den weisesten und gelehrtesten Mann
+im ganzen Morgenland.
+
+"Troest' euch darueber", antwortete der Sklavenaufseher, seid froh, dass
+ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt,
+und haettet ihr ihn ein einziges Mal die Sonne der Gelehrsamkeit oder
+das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebraeuchlich ist bei Maennern
+dieser Axt, er haette euch von Stund' an verlassen. Doch ich muss
+jetzt zurueck zu den Leuten, die heute erzaehlen. Der, der jetzt kommt,
+ist tief hinten in Frankistan gebuertig, wollen sehen, was er weiss."
+
+So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe
+zu erzaehlen kam, stand auf und sprach: "Herr! ich bin aus einem Lande,
+das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne
+nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht,
+wo sie nur wenige Monde ueber die gruene Erde scheint und ihr im Flug
+sparsame Blueten und Fruechte entlockt. Du sollst, wenn es dir
+angenehm ist, ein paar Maerchen hoeren, wie man sie bei uns in den
+warmen Stuben erzaehlt, wenn das Nordlicht ueber die Schneefelder
+flimmert." (Im Maerchenalmanach auf das Jahr 1827 standen hier "Das
+Fest der Unterirdischen" (norwegisches Maerchen nach muendlicher
+Ueberlieferung) und "Schneeweisschen und Rosenrot" von Wilhelm Grimm)
+
+Noch waren die jungen Maenner im Gespraech ueber diese Maerchen und ueber
+den Alten, den Derwisch Mustapha; sie fuehlten sich nicht wenig geehrt,
+dass ein so alter und beruehmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit
+gewuerdigt und sogar oefters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte.
+Da kam ploetzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein,
+ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle.
+
+Den Juenglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so
+vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so
+grosser Gesellschaft. Doch sie fassten sich, um nicht als Toren zu
+erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali
+Banu sass auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu
+seiner Rechten sass der Alte, sein duerftiges Kleid ruhte auf
+herrlichen Polstern, seine aermlichen Sandalen hatte er auf einen
+reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schoener
+Kopf, sein Auge voll Wuerde und Weisheit zeigten an, dass er wuerdig sei,
+neben einem Mann wie dem Scheik zu sitzen.
+
+Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut
+zuzusprechen. Die Juenglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das
+Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der
+wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespraech mit ihnen
+zerstreuen wollte.
+
+"Willkommen, ihr jungen Maenner", sprach der Scheik, "willkommen in
+dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank
+verdient, dass er euch hier einfuehrte; doch zuernte ich ihm ein wenig,
+dass er mich nicht frueher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist
+denn der junge Schreiber?"
+
+"Ich, o Herr und zu Euren Diensten!" sprach der junge Schreiber,
+indem er die Arme ueber der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.
+
+"Ihr hoert also gerne Geschichten und leset gerne Buecher mit schoenen
+Versen und Denkspruechen?"
+
+Der junge Mensch erschrak und erroetete; denn ihm fiel bei, wie er
+damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seine
+Stelle wuerde er sich erzaehlen oder aus Buechern vorlesen lassen. Er
+war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiss alles verraten
+hatte, in diesem Augenblicke recht gram, warf ihm einen boesen Blick
+zu und sprach dann: "O Herr! Allerdings kenne ich fuer meinen Teil
+keine angenehmere Beschaeftigung, als mit dergleichen den Tag
+zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder
+nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiss keinen, der nicht--"
+
+"Schon gut, schon gut", unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte
+den zweiten herbei.
+
+"Wer bist denn du?" fragte er ihn.
+
+"Herr, ich bin meines Amtes der Gehilfe eines Arztes und habe selbst
+schon einige Kranke geheilt."
+
+"Richtig", erwiderte der Scheik, "und Ihr seid es auch, der das
+Wohlleben liebet; Ihr moechtet gerne mit guten Freunden hier und da
+tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?"
+
+Der junge Mann war beschaemt; er fuehlte, dass er verraten war und dass
+der Alte auch von ihm gebeichtet haben musste. Er fasste sich aber ein
+Herz und antwortete: "O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens
+Glueckseligkeiten, hier und da mit guten Freunden froehlich sein zu
+koennen. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine
+Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu
+bewirten; doch sind wir auch dabei froehlich, und es laesst sich denken,
+dass wir es noch um ein gutes Teil mehr waeren, wenn ich mehr Geld
+haette."
+
+Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich nicht
+enthalten, darueber zu lachen. "Welcher ist denn der junge Kaufmann?"
+fragte er weiter.
+
+Der junge Kaufmann verbeugte sich mit freiem Anstand vor dem Scheik;
+denn er war ein Mensch von guter Erziehung; der Scheik aber sprach:
+"Und Ihr? Ihr habt Freude an Musik und Tanz? Ihr hoeret es gerne,
+wenn gute Kuenstler etwas spielen und singen und sehet gerne Taenzer
+kuenstliche Taenze ausfuehren?" Der junge Kaufmann antwortete: "Ich sehe
+wohl, o Herr, dass jener alte Mann, um Euch zu belustigen, unsere
+Torheiten insgesamt verraten hat. Wenn es ihm gelang, Euch dadurch
+aufzuheitern, so habe ich gerne zu Eurem Scherz gedient. Was aber
+Musik und Tanz betrifft, so gestehe ich, es gibt nicht leicht etwas,
+was mein Herz also vergnuegt. Doch glaubet nicht, dass ich deswegen
+Euch tadle, o Herr, wenn Ihr nicht ebenfalls--"
+
+"Genug, nicht weiter!" rief der Scheik, laechelnd mit der Hand
+abwehrend. "Jeder nach seiner Weise, wollet Ihr sagen; aber dort
+steht ja noch einer; das ist wohl der, welcher so gerne reisen
+moechte? Wer seid denn Ihr, junger Herr?"
+
+"Ich bin ein Maler, o Herr", antwortete der junge Mann, "ich male
+Landschaften teils an die Waende der Saele, teils auf Leinwand. Fremde
+Laender zu sehen, ist allerdings mein Wunsch; denn man sieht dort
+allerlei schoene Gegenden, die man wieder anbringen kann; und was man
+sieht und abzeichnet, ist doch in der Regel immer schoener, als was
+man nur so selbst erfindet."
+
+Der Scheik betrachtete jetzt die schoenen jungen Leute, und sein Blick
+wurde ernst und duester. "Ich hatte einst auch einen lieben Sohn",
+sagte er, "und er muesste nun auch so herangewachsen sein wie ihr. Da
+solltet ihr seine Genossen und Begleiter sein, und jeder eurer
+Wuensche wuerde von selbst befriedigt werden. Mit jenem wuerde er lesen,
+mit diesem Musik hoeren, mit dem anderen wuerde er gute Freunde
+einladen und froehlich und guter Dinge sein, und mit dem Maler liesse
+ich ihn ausziehen in schoene Gegenden und waere dann gewiss, dass er
+immer wieder zu mir zurueckkehrte. So hat es aber Allah nicht gewollt,
+und ich fuege mich in seinen Willen ohne Murren. Doch es steht in
+meiner Macht, eure Wuensche dennoch zu erfuellen, und ihr sollt
+freudigen Herzens von Ali Banu gehen. Ihr, mein gelehrter Freund",
+fuhr er fort, indem er sich zu dem Schreiber wandte, "wohnt von jetzt
+an in meinem Hause und seid ueber meine Buecher gesetzt. Ihr koennet
+noch dazu anschaffen, was Ihr wollet und fuer gut haltet, und Euer
+einziges Geschaeft sei, mir, wenn Ihr etwas recht Schoenes gelesen habt,
+zu erzaehlen. Ihr, der Ihr eine gute Tafel unter Freunden liebet,
+Ihr sollet der Aufseher ueber meine Vergnuegungen sein. Ich selbst
+zwar lebe einsam und ohne Freude, aber es ist meine Pflicht, und mein
+Amt bringt es mit sich, hier und da viele Gaeste einzuladen. Dort
+sollet Ihr an meiner Stelle alles besorgen und koennet von Euren
+Freunden dazu einladen, wen Ihr nur wollet; versteht sich, auf etwas
+Besseres als Wassermelonen. Den jungen Kaufmann da darf ich freilich
+seinem Geschaeft nicht entziehen, das ihm Geld und Ehre bringt; aber
+alle Abende stehen Euch, mein junger Freund, Taenzer, Saenger und
+Musikanten zu Dienste, so viel Ihr wollet. Lasset Euch aufspielen
+und tanzen nach Herzenslust. Und Ihr", sprach er zu dem Maler, "Ihr
+sollet fremde Laender sehen und das Auge durch Erfahrung schaerfen.
+Mein Schatzmeister wird Euch zu der ersten Reise, die Ihr morgen
+antreten koennet, tausend Goldstuecke reichen nebst zwei Pferden und
+einem Sklaven. Reiset, wohin Euch das Herz treibt, und wenn Ihr
+etwas Schoenes sehet, so malet es fuer mich!"
+
+Die jungen Leute waren ausser sich vor Erstaunen, sprachlos vor Freude
+und Dank. Sie wollten den Boden vor den Fuessen des gueltigen Mannes
+kuessen; aber er liess es nicht zu. "Wenn ihr einem zu danken habt",
+sprach er, "so ist es diesem weisen Mann hier, der mir von euch
+erzaehlte. Auch mir hat er dadurch Vergnuegen gemacht, vier so muntere
+junge Leute eurer Art kennenzulernen."
+
+Der Derwisch Mustapha aber wehrte den Dank der Juenglinge ab. "Sehet",
+sprach er, "wie man nie voreilig urteilen muss; habe ich euch zuviel
+von diesem edlen Manne gesagt?"
+
+"Lasset uns nun noch den letzten meiner Sklaven, die heute frei sind,
+erzaehlen hoeren", unterbrach ihn Ali Banu.
+
+Jener junge Sklave, der die Aufmerksamkeit aller durch seinen Wuchs,
+durch seine Schoenheit und seinen mutigen Blick auf sich gezogen hatte,
+stand jetzt auf, verbeugte sich vor dem Scheik und fing wohltoenend
+also zu sprechen an:
+
+
+
+
+Das Fest der Unterirdischen
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Maerchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Das Fest der
+Unterirdischen" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Schneeweisschen und Rosenrot
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Maerchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Schneeweisschen und
+Rosenrot" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Die Geschichte Almansors
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+O Herr! Die Maenner, die vor mir gesprochen haben, erzaehlten
+mancherlei wunderbare Geschichten, die sie gehoert hatten in fremden
+Laendern; ich muss mit Beschaemung gestehen, dass ich keine einzige
+Erzaehlung weiss, die Eurer Aufmerksamkeit wuerdig waere. Doch wenn es
+Euch nicht langweilt, will ich Euch die wunderbaren Schicksale eines
+meiner Freunde vortragen.
+
+Auf jenem algerischen Kaperschiff, von welchem mich Eure milde Hand
+befreit hat, war ein junger Mann in meinem Alter, der mir nicht fuer
+das Sklavenkleid geboren schien, das er trug. Die uebrigen
+Ungluecklichen auf dem Schiffe waren entweder rohe Menschen, mit denen
+ich nicht leben mochte, oder Leute, deren Sprache ich nicht verstand;
+darum fand ich mich zu der Zeit, wo wir ein Stuendchen frei hatten,
+gerne zu dem jungen Mann. Er nannte sich Almansor und war seiner
+Aussprache nach ein Aegypter. Wir unterhielten uns recht angenehm
+miteinander und kamen eines Tages auch darauf, uns unsere Geschichte
+zu erzaehlen, da dann die meines Freundes allerdings bei weitem
+merkwuerdiger war als die meinige.
+
+Almansors Vater war ein vornehmer Mann in einer aegyptischen Stadt,
+deren Namen er mir nicht nannte. Er lebte die Tage seiner Kindheit
+vergnuegt und froh und umgeben von allem Glanz und aller
+Bequemlichkeit der Erde. Aber er wurde dabei doch nicht weichlich
+erzogen, und sein Geist wurde fruehzeitig ausgebildet; denn sein Vater
+war ein weiser Mann, der ihm Lehren der Tugend gab, und ueberdies
+hatte er zum Lehrer einen beruehmten Gelehrten, der ihn in allem
+unterrichtete, was ein junger Mensch wissen muss--Almansor war etwa
+zehn Jahre alt, als die Franken ueber das Meer her in das Land kamen
+und Krieg mit seinem Volke fuehrten.
+
+Der Vater des Knaben musste aber den Franken nicht sehr guenstig
+gewesen sein; denn eines Tages, als er eben zum Morgengebet gehen
+wollte, kamen sie und verlangten zuerst seine Frau als Geisel seiner
+treuen Gesinnungen gegen das Frankenvolk, und als er sie nicht geben
+wollte, schleppten sie seinen Sohn mit Gewalt ins Lager.
+
+Als der junge Sklave also erzaehlte, verhuellte der Scheik sein
+Angesicht, und es entstand ein Murren des Unwillens im Saal. "Wie",
+riefen die Freunde des Scheik, "wie kann der junge Mann dort so
+toericht handeln und durch solche Geschichten die Wunden Ali Banus
+aufreissen, statt sie zu mildern? Wie kann er ihm seinen Schmerz
+erneuern, statt ihn zu zerstreuen?" Der Sklavenaufseher selbst war
+voll Zorn ueber den unverschaemten Juengling und gebot ihm zu schweigen.
+
+Der junge Sklave aber war sehr erstaunt ueber dies alles und fragte
+den Scheik, ob denn in seiner Erzaehlung etwas liege, das sein
+Missfallen erregt habe. Der Scheik richtete sich auf und sprach:
+"Seid doch ruhig, Freunde; wie kann denn dieser Juengling etwas von
+meinem betruebten Schicksal wissen, da er nur kaum drei Tage unter
+diesem Dache ist! Kann es denn bei den Greueln, die diese Franken
+veruebten, nicht ein aehnliches Geschick wie das meine geben? Kann
+nicht vielleicht selbst jener Almansor--doch erzaehle immer weiter,
+mein junger Freund!" Der junge Sklave verbeugte sich und fuhr fort:
+
+Der junge Almansor wurde also in das fraenkische Lager gefuehrt. Es
+erging ihm dort im ganzen gut; denn einer der Feldherrn liess ihn in
+sein Zelt kommen und hatte seine Freude an den Antworten des Knaben,
+die ihm ein Dragoman uebersetzen musste; er sorgte fuer ihn, dass ihm an
+Speise und Kleidung nichts abginge; aber die Sehnsucht nach Vater und
+Mutter machte dennoch den Knaben hoechst ungluecklich. Er weinte viele
+Tage lang, aber seine Traenen ruehrten diese Maenner nicht. Das Lager
+wurde aufgebrochen, und Almansor glaubte jetzt wieder zurueckkehren zu
+duerfen; aber es war nicht so; das Heer zog hin und her, fuehrte Krieg
+mit den Mamelucken, und den jungen Almansor schleppten sie immer mit
+sich. Wenn er dann die Hauptleute und Feldherren anflehte, ihn doch
+wieder heimkehren zu lassen, so verweigerten sie es und sagten, er
+muesse ein Unterpfand von seines Vaters Treue sein. So war er viele
+Tage lang auf dem Marsch.
+
+Auf einmal aber entstand eine Bewegung im Heere, die dem Knaben nicht
+entging; man sprach von Einpacken, von Zurueckziehen, vom Einschiffen,
+und Almansor war ausser sich vor Freude; denn jetzt, wenn die Franken
+in ihr Land zurueckkehrten, jetzt musste er ja frei werden. Man zog
+mit Ross und Wagen rueckwaerts gegen die Kueste, und endlich war man so
+weit, dass man die Schiffe vor Anker liegen sah. Die Soldaten
+schifften sich ein; aber es wurde Nacht, bis nur ein kleiner Teil
+eingeschifft war. So gerne Almansor gewacht haette, weil er jede
+Stunde glaubte, freigelassen zu werden, so verfiel er doch endlich in
+einen tiefen Schlaf, und er glaubte, die Franken haben ihm etwas
+unter das Wasser gemischt, um ihn einzuschlaefern. Denn als er
+aufwachte, schien der helle Tag in eine kleine Kammer, worin er nicht
+gewesen war, als er einschlief. Er sprang auf von seinem Lager, aber
+als er auf den Boden kam, fiel er um; denn der Boden schwankte hin
+und wieder, und es schien sich alles zu bewegen und im Kreis um ihn
+her zu tanzen. Er raffte sich auf, hielt sich an den Waenden fest, um
+aus dem Gemach zu kommen, worin er sich befand.
+
+Ein sonderbares Brausen und Zischen war um ihn her; er wusste nicht,
+ob er traeume oder wache; denn er hatte nie Aehnliches gesehen oder
+gehoert. Endlich erreichte er eine kleine Treppe, mit Muehe klimmte er
+hinauf, und welcher Schrecken befiel ihn! Ringsumher war nichts als
+Himmel und Meer, er befand sich auf einem Schiffe. Da fing er
+klaeglich an zu weinen. Er wollte zurueckgebracht werden, er wollte
+ins Meer sich stuerzen und hinueberschwimmen nach seiner Heimat; aber
+die Franken hielten ihn fest, und einer der Befehlshaber liess ihn zu
+sich kommen, versprach ihm, wenn er gehorsam sei, solle er bald
+wieder in seine Heimat zurueck, und stellte ihm vor, dass es nicht mehr
+moeglich gewesen waere, ihn vom Land aus nach Hause zu bringen, dort
+aber haette er, wenn man ihn zurueckgelassen, elendiglich umkommen
+muessen.
+
+Wer aber nicht Wort hielt, waren die Franken; denn das Schiff segelte
+viele Tage lang weiter, und als es endlich landete, war man nicht an
+Aegyptens Kueste, sondern in Frankistan! Almansor hatte waehrend der
+langen Fahrt und schon im Lager einiges von der Sprache der Franken
+verstehen und sprechen gelernt, was ihm in diesem Lande, wo niemand
+seine Sprache kannte, sehr gut zustatten kam. Er wurde viele Tage
+lang durch das Land in das Innere gefuehrt, und ueberall stroemte das
+Volk zusammen, um ihn zu sehen; denn seine Begleiter sagten aus, er
+waere der Sohn des Koenigs von Aegypten, der ihn zu seiner Ausbildung
+nach Frankistan schicke.
+
+So sagten aber die Soldaten nur, um das Volk glauben zu machen, sie
+haben Aegypten besiegt und stehen in tiefem Frieden mit diesem Land.
+Nachdem die Reise zu Land mehrere Tage gedauert hatte, kamen sie in
+eine grosse Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Dort wurde er einem Arzt
+uebergeben, der ihn in sein Haus nahm und in allen Sitten und
+Gebraeuchen von Frankistan unterwies.
+
+Er musste vor allem fraenkische Kleider anlegen, die sehr enge und
+knapp waren und bei weitem nicht so schoen wie seine aegyptischen.
+Dann durfte er nicht mehr seine Verbeugung mit gekreuzten Armen
+machen, sondern wollte er jemand seine Ehrerbietung bezeugen, so
+musste er mit der einen Hand die ungeheure Muetze von schwarzem Filz,
+die alle Maenner trugen und die man auch ihm aufgesetzt hatte, vom
+Kopfe reissen, mit der anderen Hand musste er auf die Seite fahren und
+mit dem rechten Fuss auskratzen. Er durfte auch nicht mehr mit
+ueberschlagenen Beinen sitzen, wie es angenehme Sitte ist im
+Morgenlande, sondern auf hochbeinige Stuehle musste er sich setzen und
+die Fuesse herabhaengen lassen auf den Boden. Das Essen machte ihm auch
+nicht geringe Schwierigkeit; denn alles, was er zum Munde bringen
+wollte, musste er zuvor auf eine Gabel von Eisen stecken.
+
+Der Doktor aber war ein strenger, boeser Mann, der den Knaben plagte:
+Denn wenn er sich jemals vergass und zu einem Besuch sagte: "Salem
+aleikum", so schlug er ihn mit dem Stock; denn er sollte sagen:
+"Votre serviteur!" Er durfte auch nicht mehr in seiner Sprache denken
+und sprechen oder schreiben, hoechstens durfte er darin traeumen, und
+er haette vielleicht seine Sprache gaenzlich verlernt, wenn nicht ein
+Mann in jener Stadt gelebt haette, der ihm von grossem Nutzen war.
+
+Es war dies ein alter, aber sehr gelehrter Mann, der viele
+morgenlaendische Sprachen verstand. Arabisch, Persisch, Koptisch,
+sogar Chinesisch, von jedem etwas; er galt in jenem Land fuer ein
+Wunder von Gelehrsamkeit, und man gab ihm viel Geld, dass er diese
+Sprachen andere Leute lehrte. Dieser Mann liess nun den jungen
+Almansor alle Wochen einigemal zu sich kommen, bewirtete ihn mit
+seltenen Fruechten und dergleichen, und dem Juengling war es dann, als
+waere er zu Haus. Denn der alte Herr war gar ein sonderbarer Mann.
+Er hatte Almansor Kleider machen lassen, wie sie vornehme Leute in
+Aegypten tragen. Diese Kleider bewahrte er in seinem Hause in einem
+besonderen Zimmer auf. Kam nun Almansor, so schickte er ihn mit
+einem Bediensteten in jenes Zimmer und liess ihn ganz nach seiner
+Landessitte ankleiden. Von da ging es dann nach "Kleinarabien"; so
+nannte man einen Saal im Hause des Gelehrten.
+
+Dieser Saal war mit allerlei kuenstlich aufgezogenen Baeumen, als
+Palmen, Bambus, jungen Zedern und dergleichen, und mit Blumen
+ausgeschmueckt, die nur im Morgenland wachsen. Persische Teppiche
+lagen auf dem Fussboden, und an den Waenden waren Polster, nirgends
+aber ein fraenkischer Stuhl oder Tisch. Auf einem dieser Polster sass
+der alte Professor; er sah aber ganz anders aus als gewoehnlich; um
+den Kopf hatte er einen feinen tuerkischen Schal als Turban gewunden,
+er hatte einen grauen Bart umgeknuepft, der ihm bis zum Guertel reichte
+und aussah wie ein natuerlicher, ehrwuerdiger Bart eines gewichtigen
+Mannes. Dazu trug er einen Talar, den er aus einem brokatnen
+Schlafrock hatte machen lassen, weite tuerkische Beinkleider, gelbe
+Pantoffeln, und so friedlich er sonst war, an diesen Tagen hatte er
+einen tuerkischen Saebel umgeschnallt, und im Guertel stak ein Dolch,
+mit falschen Steinen besetzt. Dazu rauchte er aus einer zwei Ellen
+langen Pfeife und liess sich von seinen Leuten bedienen, die ebenfalls
+persisch gekleidet waren und wovon die Haelfte Gesicht und Haende
+schwarz gefaerbt hatte.
+
+Von Anfang wollte dies alles dem jungen Almansor gar wunderlich
+beduenken; aber bald sah er ein, dass solche Stunden, wenn er in die
+Gedanken des Alten sich fuegte, sehr nuetzlich fuer ihn seien. Durfte
+er beim Doktor kein aegyptisches Wort sprechen, so war hier die
+fraenkische Sprache sehr verboten. Almansor musste beim Eintreten den
+Friedensgruss sprechen, den der alte Perser sehr feierlich erwiderte;
+dann winkte er dem Juengling, sich neben ihn zu setzen, und begann
+Persisch, Arabisch, Koptisch und alle Sprachen untereinander zu
+sprechen und nannte dies eine gelehrte morgenlaendische Unterhaltung.
+Neben ihm stand ein Bediensteter oder, was sie an diesem Tage
+vorstellten, ein Sklave, der ein grosses Buch hielt; das Buch war aber
+ein Woerterbuch, und wenn dem Alten die Worte ausgingen, winkte er dem
+Sklaven, schlug flugs auf, was er sagen wollte, und fuhr dann zu
+sprechen fort.
+
+Die Sklaven aber brachten in tuerkischem Geschirr Sorbet und
+dergleichen, und wollte Almansor dem Alten ein grosses Vergnuegen
+machen, so musste er sagen, es sei alles bei ihm angeordnet wie im
+Morgenland. Almansor las sehr schoen Persisch, und das war der
+Hauptvorteil fuer den Alten. Er hatte viele persische Manuskripte;
+aus diesen liess er sich von dem Juengling vorlesen, las aufmerksam
+nach und merkte sich auf diese Art die richtige Aussprache.
+
+Das waren die Freudentage des armen Almansor; denn nie entliess ihn
+der alte Professor unbeschenkt, und oft trug er sogar kostbare Gaben
+an Geld und Leinenzeug oder anderen notwendigen Dingen davon, die ihm
+der Doktor nicht geben wollte. So lebte Almansor einige Jahre in der
+Hauptstadt des Frankenlandes, und nie wurde seine Sehnsucht nach der
+Heimat geringer. Als er aber etwa fuenfzehn Jahre alt war, begab sich
+ein Vorfall, der auf sein Schicksal grossen Einfluss hatte.
+
+Die Franken naemlich waehlten ihren ersten Feldherrn, denselben, mit
+welchem Almansor so oft in Aegypten gesprochen hatte, zu ihrem Koenig
+und Beherrscher; Almansor wusste zwar und erkannte es an den grossen
+Festlichkeiten, dass etwas dergleichen in dieser grossen Stadt geschehe;
+doch konnte er sich nicht denken, dass der Koenig derselbe sei, den er
+in Aegypten gesehen; denn jener Feldherr war noch ein sehr junger Mann.
+Eines Tages aber ging Almansor ueber eine jener Bruecken, die ueber
+den breiten Fluss fahren, der die Stadt durchstroemt; da gewahrte er in
+dem einfachen Kleid eines Soldaten einen Mann, der am Brueckengelaender
+lehnte und in die Wellen sah. Die Zuege des Mannes fielen ihm auf,
+und er erinnerte sich, ihn schon gesehen zu haben. Er ging also
+schnell die Kammern seiner Erinnerung durch, und als er an die Pforte
+der Kammer von Aegypten kam, da eroeffnete sich ihm ploetzlich das
+Verstaendnis, dass dieser Mann jener Feldherr der Franken sei, mit
+welchem er oft im Lager gesprochen und der immer guetig fuer ihn
+gesorgt hatte. Er wusste seinen rechten Namen nicht genau; er fasste
+sich daher ein Herz, trat zu ihm, nannte ihn, wie ihn die Soldaten
+unter sich nannten, und sprach, indem er nach seiner Landessitte die
+Arme ueber der Brust kreuzte: "Salem aleikum, Petit-Caporal!"
+
+Der Mann sah sich erstaunt um, blickte den jungen Menschen mit
+scharfen Augen an, dachte ueber ihn nach und sagte dann: "Himmel, ist
+es moeglich! Du hier, Almansor? Was macht dein Vater? Wie geht es
+in Aegypten? Was fuehrt dich zu uns hierher?"
+
+Da konnte sich Almansor nicht laenger halten; er fing an, bitterlich
+zu weinen, und sagte zu dem Mann: "So weisst du also nicht, was die
+Hunde, deine Landsleute, mit mir gemacht haben, Petit-Caporal? Du
+weisst nicht, dass ich das Land meiner Vaeter nicht mehr gesehen habe
+seit vielen Jahren?"
+
+"Ich will nicht hoffen", sagte der Mann, und seine Stirne wurde
+finster, "ich will nicht hoffen, dass man dich mit hinwegschleppte."
+
+"Ach, freilich", antwortete Almansor, "an jenem Tage, wo Eure
+Soldaten sich einschifften, sah ich mein Vaterland zum letztenmal;
+sie nahmen mich mit sich hinweg, und ein Hauptmann, den mein Elend
+ruehrte, zahlt ein Kostgeld fuer mich bei einem verwuenschten Doktor,
+der mich schlaegt und halb Hungers sterben laesst. Aber hoere,
+Petit-Caporal", fuhr er ganz treuherzig fort, "es ist gut, dass ich
+dich hier traf, du musst mir helfen."
+
+Der Mann, zu welchem er dies sprach, laechelte und fragte, auf welche
+Weise er denn helfen sollte.
+
+"Siehe", sagte Almansor, "es waere unbillig, wollte ich von dir etwas
+verlangen; du warst von jeher so guetig gegen mich, aber ich weiss, du
+bist auch ein armer Mensch, und wenn du auch Feldherr warst, gingst
+du nie so schoen gekleidet wie die anderen; auch jetzt musst du, nach
+deinem Rock und Hut zu urteilen, nicht in den besten Umstaenden sein.
+Aber da haben ja die Franken letzthin einen Sultan gewaehlt, und ohne
+Zweifel kennst du Leute, die sich ihm nahen duerfen, etwa seinen
+Janitscharen-Aga oder den Reis-Effendi oder seinen Rapudan-Pascha;
+nicht?"
+
+"Nun ja", antwortete der Mann, "aber wie weiter?"
+
+"Bei diesen koenntest du ein gutes Wort fuer mich einlegen,
+Petit-Caporal, dass sie den Sultan der Franken bitten, er moechte mich
+freilassen; dann brauche ich auch etwas Geld zur Reise uebers Meer;
+vor allem aber musst du mir versprechen, weder dem Doktor noch dem
+arabischen Professor etwas davon zu sagen."
+
+"Wer ist denn der arabische Professor?" fragte jener. "Ach, das ist
+ein sonderbarer Mann; doch von diesem erzaehle ich dir ein andermal.
+Wenn es die beiden hoerten, duerfte ich nicht mehr aus Frankistan weg.
+Aber willst du fuer mich sprechen bei den Agas? Sage es mir
+aufrichtig!"
+
+"Komm mit mir", sagte der Mann, "vielleicht kann ich dir jetzt gleich
+nuetzlich sein."
+
+"Jetzt?" rief der Juengling mit Schrecken. "Jetzt um keinen Preis, da
+wuerde mich der Doktor pruegeln; ich muss eilen, dass ich nach Hause
+komme."
+
+"Was traegst du denn in diesem Korb?" fragte jener, indem er ihn
+zurueckhielt.
+
+Almansor erroetete und wollte es anfangs nicht zeigen; endlich aber
+sagte er: "Siehe, Petit- Caporal, ich muss hier Dienste tun wie der
+geringste Sklave meines Vaters. Der Doktor ist ein geiziger Mann und
+schickt mich alle Tage von unserem Hause eine Stunde weit auf den
+Gemuese- und Fischmarkt; da muss ich dann unter den schmutzigen
+Marktweibern einkaufen, weil es dort um einige Kupfermuenzen
+wohlfeiler ist als in unserem Stadtteil. Siehe, wegen dieses
+schlechten Herings, wegen dieser Handvoll Salat, wegen dieses
+Stueckchens Butter muss ich alle Tage zwei Stunden gehen. Ach, wenn es
+mein Vater wuesste!"
+
+Der Mann, zu welchem Almansor dies sprach, war geruehrt ueber die Not
+des Knaben und antwortete: "Komm nur mit mir und sei getrost; der
+Doktor soll dir nichts anhaben duerfen, wenn er auch heute weder
+Hering noch Salat verspeist! Sei getrosten Mutes und komm!" Er nahm
+bei diesen Worten Almansor bei der Hand und fuehrte ihn mit sich, und
+obgleich diesem das Herz pochte, wenn er an den Doktor dachte, so lag
+doch so viel Zuversicht in den Worten und Mienen des Mannes, dass er
+sich entschloss, ihm zu folgen. Er ging also, sein Koerbchen am Arm,
+neben dem Soldaten viele Strassen durch, und wunderbar wollte es ihm
+beduenken, dass alle Leute die Huete vor ihnen abnahmen und
+stehenblieben und ihnen nachschauten. Er aeusserte dies auch gegen
+seinen Begleiter, dieser aber lachte und sagte nichts darueber.
+
+Sie gelangten endlich an ein prachtvolles Schloss, auf welches der
+Mann zuging. "Wohnst du hier, Petit-Caporal?" fragte Almansor.
+
+"Hier ist meine Wohnung", entgegnete jener, "und ich will dich zu
+meiner Frau fuehren."
+
+"Ei, da wohnst du schoen!" fahr Almansor fort. "Gewiss hat dir der
+Sultan hier freie Wohnung gegeben?"
+
+"Diese Wohnung habe ich vom Kaiser, du hast recht", antwortete sein
+Begleiter und fuehrte ihn in das Schloss. Dort stiegen sie eine breite
+Treppe hinan, und in einem schoenen Saal hiess er ihn seinen Korb
+absetzen und trat dann mit ihm in ein prachtvolles Gemach, wo eine
+Frau auf einem Diwan sass. Der Mann sprach mit ihr in einer fremden
+Sprache, worauf sie beide nicht wenig lachten, und die Frau fragte
+dann Almansor in fraenkischer Sprache vieles ueber Aegypten. Endlich
+sagte Petit-Caporal zu dem Juengling: "Weisst du, was das beste ist?
+Ich will dich gleich selbst zum Kaiser fuehren und bei ihm fuer dich
+sprechen."
+
+Almansor erschrak sehr; aber er gedachte an sein Elend und seine
+Heimat. "Dem Ungluecklichen", sprach er zu den beiden, "dem
+Ungluecklichen verleiht Allah einen hohen Mut in der Stunde der Not;
+er wird auch mich armen Knaben nicht verlassen. Ich will es tun, ich
+will zu ihm gehen. Aber sage, Caporal, muss ich vor ihm niederfallen?
+Muss ich die Stirne mit dem Boden beruehren? Was muss ich tun?"
+
+Die beiden lachten von neuem und versicherten, dies alles sei nicht
+noetig.
+
+"Sieht er schrecklich und majestaetisch aus?" fragte er weiter, "hat
+er einen langen Bart? Macht er feurige Augen? Sage, wie sieht er
+aus?"
+
+Sein Begleiter lachte von neuem und sprach dann: "Ich will dir ihn
+lieber gar nicht beschreiben, Almansor, du selbst sollst erraten,
+welcher es ist. Nur das will ich dir als Kennzeichen angeben: Alle
+im Saale des Kaisers werden, wenn er da ist, die Huete ehrerbietig
+abnehmen; der, welcher den Hut auf dem Kopf behaelt, der ist der
+Kaiser." Bei diesen Worten nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm
+nach dem Saal des Kaisers. Je naeher er kam, desto lauter pochte ihm
+das Herz, und die Knie fingen ihm an zu zittern, als sie sich der
+Tuere naeherten. Ein Bediensteter oeffnete die Tuere, und da standen in
+einem Halbkreis wenigstens dreissig Maenner, alle praechtig gekleidet
+und mit Gold und Sternen ueberdeckt, wie es Sitte ist im Lande der
+Franken bei den vornehmsten Agas und Bassas der Koenige; und Almansor
+dachte, sein Begleiter, der so unscheinbar gekleidet war, muesse der
+Geringsten einer sein unter diesen. Sie hatten alle das Haupt
+entbloesst, und Almansor fing nun an, nach dem zu suchen, der den Hut
+auf dem Kopfe haette; denn dieser musste der Kaiser sein. Aber
+vergebens war sein Suchen. Alle hatten den Hut in der Hand, und der
+Kaiser musste also nicht unter ihnen sein; da fiel kein Blick zufaellig
+auf seinen Begleiter, und siehe--dieser hatte den Hut auf dem Kopfe
+sitzen!
+
+Der Juengling war erstaunt, betroffen. Er sah seinen Begleiter lange
+an und sagte dann, indem er selbst seinen Hut abnahm: "Salem aleikum,
+Petit-Caporal! Soviel ich weiss, bin ich selbst nicht der Sultan der
+Franken, also kommt es mir nicht zu, mein Haupt zu bedecken; doch du
+bist der, der den Hut traegt--Petit-Caporal, bist denn du der Kaiser?".
+
+"Du hast's erraten", antwortete jener, "und ueberdies bin ich dein
+Freund. Schreibe dein Unglueck nicht mir, sondern einer ungluecklichen
+Verwirrung der Umstaende zu, und sei versichert, dass du mit dem ersten
+Schiff in dein Vaterland zuruecksegelst. Gehe jetzt wieder hinein zu
+meiner Frau, erzaehle ihr vom arabischen Professor und was du weisst.
+Die Heringe und den Salat will ich dem Doktor schicken; du aber
+bleibst fuer deinen Aufenthalt in meinem Palast."
+
+So sprach der Mann, der Kaiser war; Almansor aber fiel vor ihm nieder,
+kuesste seine Hand und bat ihn um Verzeihung, dass er ihn nicht erkannt
+habe; er habe es ihm gewiss nicht angesehen, dass er Kaiser sei.
+
+"Du hast recht", erwiderte jener lachend, "wenn man nur wenige Tage
+Kaiser ist, kann man es nicht an der Stirne geschrieben haben." So
+sprach er und winkte ihm, sich zu entfernen.
+
+Seit diesem Tage lebte Almansor gluecklich und in Freuden.
+
+Den arabischen Professor, von welchem er dem Kaiser erzaehlte, durfte
+er noch einigemal besuchen den Doktor aber sah er nicht mehr. Nach
+einigen Wochen liess ihn der Kaiser zu sich rufen und kuendigte ihm an,
+dass ein Schiff vor Anker liege, mit dem er ihn nach Aegypten senden
+wolle. Almansor war ausser sich vor Freude; wenige Tage reichten hin,
+um ihn auszuruesten, und mit einem Herzen voll Dankes und mit Schaetzen
+und Geschenken reich beladen, reiste er vom Kaiser ab ans Meer und
+schiffte sich ein.
+
+Aber Allah wollte ihn noch laenger pruefen, wollte seinen Mut im
+Unglueck noch laenger staehlen und liess ihn die Kueste seiner Heimat noch
+nicht sehen. Ein anderes fraenkisches Volk, die Englaender, fuehrten
+damals Krieg mit dem Kaiser auf der See. Sie nahmen ihm alle Schiffe
+weg, die sie besiegen konnten, und so kam es, dass am sechsten Tage
+der Reise das Schiff, auf welchem sich Almansor befand, von
+englischen Schiffen umgeben und beschossen wurde; es musste sich
+ergeben, und die ganze Mannschaft wurde auf ein kleineres Schiff
+gebracht, das mit den anderen weitersegelte. Doch auf der See ist es
+nicht weniger unsicher als in der Wueste, wo unversehens die Raeuber
+auf die Karawanen fallen und totschlagen und pluendern. Ein Kaper von
+Tunis ueberfiel das kleine Schiff, das der Sturm von den groesseren
+Schiffen getrennt hatte, und--es wurde genommen und alle Mannschaft
+nach Algier gefuehrt und verkauft.
+
+Almansor kam zwar nicht in so harte Sklaverei als die Christen, weil
+er ein rechtglaeubiger Muselmann war, aber dennoch war jetzt alle
+Hoffnung verschwunden, die Heimat und den Vater wiederzusehen. Dort
+lebte er bei einem reichen Manne fuenf Jahre und musste die Blumen
+begiessen und den Garten bauen. Da starb der reiche Mann ohne nahe
+Erben, seine Besitzungen wurden zerrissen, seine Sklaven geteilt, und
+Almansor fiel in die Haende eines Sklavenmaklers. Dieser ruestete um
+diese Zeit ein Schiff aus, um seine Sklaven anderwaerts teurer zu
+verkaufen. Der Zufall wollte, dass ich selbst ein Sklave dieses
+Haendlers war und auf dasselbe Schiff kam, wo auch Almansor sich
+befand. Dort lernten wir uns kennen, und dort erzaehlte er mir seine
+wunderbaren Schicksale. Doch--als wir landeten, war ich Zeuge der
+wunderbarsten Fuegung Allahs; es war die Kueste seines Vaterlandes, an
+welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt,
+wo wir oeffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr, dass ich es kurz
+sage, es war sein eigener, sein teurer Vater, der ihn kaufte!
+
+Der Scheik Ali Banu war in tiefes Nachdenken versunken ueber diese
+Erzaehlung; sie hatte ihn unwillkuerlich mit sich fortgerissen, seine
+Brust hob sich, sein Auge gluehte, und er war oft nahe daran, seinen
+jungen Sklaven zu unterbrechen; aber das Ende der Erzaehlung schien
+ihn nicht zu befriedigen.
+
+"Er koennte jetzt einundzwanzig Jahre haben, sagst du?" so fing er an
+zu fragen.
+
+"Herr, er ist in meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre."
+
+"Und welche Stadt nannte er seine Geburtsstadt? Das hast du uns noch
+nicht gesagt."
+
+"Wenn ich nicht irre", antwortete jener, "so war es Alessandria!"
+
+"Alessandria!" rief der Scheik. "Es ist mein Sohn; wo ist er
+geblieben? Sagtest du nicht, dass er Kairam hiess? Hat er dunkle
+Augen und braunes Haar?"
+
+"Er hat es, und in traulichen Stunden nannte er sich Kairam und nicht
+Almansor."
+
+"Aber, Allah! Allah! Sage mir doch, sein Vater haette ihn vor deinen
+Augen gekauft, sagst du? Sagte er, es sei sein Vater? Also ist er
+doch nicht mein Sohn!"
+
+Der Sklave antwortete: "Er sprach zu mir: "Allah sei gepriesen nach
+so langem Unglueck: Das ist der Marktplatz meiner Vaterstadt." Nach
+einer Weile aber kam ein vornehmer Mann um die Ecke; da rief er: "Oh,
+was fuer ein teures Geschenk des Himmels sind die Augen! Ich sehe
+noch einmal meinen ehrwuerdigen Vater!" Der Mann aber trat zu uns,
+betrachtet diesen und jenen und kauft endlich den, dem dies alles
+begegnet ist. Da rief er Allah an, sprach ein heisses Dankgebet und
+fluesterte mir zu: "Jetzt gehe ich wieder ein in die Hallen meines
+Glueckes, es ist mein eigener Vater, der mich gekauft hat.""
+
+"Es ist also doch nicht mein Sohn, mein Kairam!" sagte der Scheik,
+von Schmerz bewegt.
+
+Da konnte sich der Juengling nicht mehr zurueckhalten; Traenen der
+Freude entstuerzten seinen Augen, er warf sich nieder vor dem Scheik
+und rief: "Und dennoch ist es Euer Sohn, Kairam: Almansor; denn Ihr
+seid es, der ihn gekauft hat." "Allah, Allah! Ein Wunder, ein grosses
+Wunder!" riefen die Anwesenden und draengten sich herbei; der Scheik
+aber stand sprachlos und staunte den Juengling an, der sein schoenes
+Antlitz zu ihm aufhob. "Mein Freund Mustapha!" sprach er zu dem
+alten Derwisch, "vor meinen Augen haengt ein Schleier von Traenen, dass
+ich nicht sehen kann, ob die Zuege seiner Mutter, die mein Kairam trug,
+auf seinem Gesicht eingegraben sind. Trete du her und schaue ihn an!"
+
+Der Alte trat herzu, sah ihn lange an, legte seine Hand auf die
+Stirne des jungen Mannes und sprach: "Kairam! Wie hiess der Spruch,
+den ich dir am Tage, des Ungluecks mitgab ins Lager der Franken?"
+
+"Mein teurer Lehrer!" antwortete der Juengling, indem er die Hand des
+Alten an seine Lippen zog, "er hiess: So einer Allah liebt und ein
+gutes Gewissen hat, ist er auch in der Wueste des Elends nicht allein;
+denn er hat zwei Gefaehrten, die ihm troestend zur Seite gehen."
+
+Da hob der Alte seine Augen dankend auf zum Himmel, zog den Juengling
+herauf an seine Brust und gab ihn dem Scheik und sprach: "Nimm ihn
+hin! So gewiss du zehn Jahre um ihn trauertest, so gewiss ist es dein
+Sohn Kairam."
+
+Der Scheik war ausser sich vor Freude und Entzuecken; er betrachtete
+immer von neuem wieder die Zuege des Wiedergefundenen, und unleugbar
+fand er das Bild seines Sohnes wieder, wie er ihn verloren hatte.
+Und alle Anwesenden teilten seine Freude; denn sie liebten den Scheik,
+und jedem unter ihnen war es, als waere ihm heute ein Sohn geschenkt
+worden.
+
+Jetzt fuellte wieder Gesang und Jubel diese Halle wie in den Tagen des
+Glueckes und der Freude. Noch einmal musste der Juengling, und noch
+ausfuehrlicher, seine Geschichte erzaehlen, und alle priesen den
+arabischen Professor und den Kaiser und jeden, der sich Kairams
+angenommen hatte. Man war beisammen bis in die Nacht, und als man
+aufbrach, beschenkte der Scheik jeden seiner Freunde reichlich, auf
+dass er immer dieses Freudentages gedenke.
+
+Die vier jungen Maenner aber stellte er seinem Sohne vor und lud sie
+ein, ihn immer zu besuchen, und es war ausgemachte Sache, dass er mit
+dem Schreiber lesen, mit dem Maler kleine Reisen machen sollte, dass
+der Kaufmann Gesang und Tanz mit ihm teile und der andere alle
+Vergnuegungen fuer sie bereiten solle. Auch sie wurden reich beschenkt
+und traten freudig aus dem Hause des Scheik.
+
+"Wem haben wir dies alles zu verdanken", sprachen sie untereinander,
+"wem anders als dem Alten? Wer haette dies damals gedacht, als wir
+vor diesem Hause standen und ueber den Scheik loszogen?"
+
+"Und wie leicht haette es uns einfallen koennen, die Lehren des alten
+Mannes zu ueberhoeren", sagte ein anderer, "oder ihn gar zu verspotten?
+Denn er sah doch recht zerrissen und aermlich aus, und wer koenne
+denken, dass dies der weise Mustapha sei?" "Und wunderbar! War es
+nicht hier, wo wir unsere Wuensche laut werden liessen?" sprach der
+Schreiber. "Da wollte der eine reisen, der andere singen und tanzen,
+der dritte gute Gesellschaft haben und ich--Geschichten lesen und
+hoeren, und sind nicht alle unsere Wuensche in Erfuellung gegangen?
+Darf ich nicht alle Buecher des Scheik lesen und kaufen, was ich
+will?" "Und darf ich nicht seine Tafel zurichten und seine schoensten
+Vergnuegen anordnen und selbst dabeisein?" sagte der andere.
+
+"Und ich, so oft mich mein Herz geluestet, Gesang und Saitenspiel zu
+hoeren oder einen Tanz zu sehen, darf ich nicht hingehen und mir seine
+Sklaven ausbitten?"
+
+"Und ich", rief der Maler, "vor diesem Tage war ich arm und konnte
+keinen Fuss aus dieser Stadt setzen, und jetzt kann ich reisen, wohin
+ich will."
+
+"Ja", sprachen sie alle, "es war doch gut, dass wir dem Alten folgten,
+wer weiss, was aus uns geworden waere!"
+
+So sprachen sie und gingen freudig und gluecklich nach Hause.
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Maerchen-Almanach auf das Jahr
+1827", von Wilhelm Hauff.
+
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1827 ***
+
+This file should be named 7alm210.txt or 7alm210.zip
+Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7alm211.txt
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+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
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+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
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+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext04
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+Or /etext03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
+
+We need your donations more than ever!
+
+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
+International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
+
+Donations by check or money order may be sent to:
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+Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+PMB 113
+1739 University Ave.
+Oxford, MS 38655-4109
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+Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
+method other than by check or money order.
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+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
+the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
+tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising
+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
+
+We need your donations more than ever!
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+You can get up to date donation information online at:
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+Money should be paid to the:
+"Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
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+hart@pobox.com
+
+[Portions of this eBook's header and trailer may be reprinted only
+when distributed free of all fees. Copyright (C) 2001, 2002 by
+Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
+used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be
+they hardware or software or any other related product without
+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
+
diff --git a/old/7alm210.zip b/old/7alm210.zip
new file mode 100644
index 0000000..c4aeed0
--- /dev/null
+++ b/old/7alm210.zip
Binary files differ
diff --git a/old/8alm210.txt b/old/8alm210.txt
new file mode 100644
index 0000000..55650dd
--- /dev/null
+++ b/old/8alm210.txt
@@ -0,0 +1,4105 @@
+The Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+by Wilhelm Hauff
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
+
+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
+header without written permission.
+
+Please read the "legal small print," and other information about the
+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
+important information about your specific rights and restrictions in
+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Release Date: October, 2004 [EBook #6639]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on January 9, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1827 ***
+
+
+
+
+Thanks are given to Delphine Lettau for finding a huge collection of ancient
+German books in London.
+
+
+
+This Etext is in German.
+
+We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
+known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
+and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
+which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
+may require more specialized programs to display the accents.
+This is the 8-bit version.
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+
+Märchen-Almanach auf das Jahr 1827
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Inhalt:
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (Rahmenerzählung)
+Der Zwerg Nase
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+Der arme Stephan
+Der gebackene Kopf
+Der Affe als Mensch (Der junge Engländer)
+Das Fest der Unterirdischen
+Schneeweißchen und Rosenrot
+Die Geschichte Almansors
+
+
+
+
+Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Scheik von Alessandria, Ali Banu, war ein sonderbarer Mann; wenn
+er morgens durch die Straßen der Stadt ging, angetan mit einem Turban,
+aus den köstlichsten Kaschmirs gewunden, mit dem Festkleide und dem
+reichen Gürtel, der fünfzig Kamele wert war, wenn er einherging
+langsamen, gravitätischen Schrittes, seine Stirne in finstere Falten
+gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen, die Augen niedergeschlagen
+und alle fünf Schritte gedankenvoll seinen langen, schwarzen Bart
+streichend; wenn er so hinging nach der Moschee, um, wie es seine
+Würde forderte, den Gläubigen Vorlesungen über den Koran zu halten:
+da blieben die Leute auf der Straße stehen, schauten ihm nach und
+sprachen zueinander: "Es ist doch ein schöner, stattlicher Mann, und
+reich, ein reicher Herr", setzte wohl ein anderer hinzu, "sehr reich;
+hat er nicht ein Schloß am Hafen von Stambul? Hat er nicht Güter und
+Felder und viele tausend Stück Vieh und viele Sklaven?"
+
+"Ja", sprach ein dritter, "und der Tatar, der letzthin von Stambul
+her, vom Großherrn selbst, den der Prophet segnen möge, an ihn
+geschickt kam, der sagte mir, daß unser Scheik sehr in Ansehen stehe
+beim Reis-Effendi, beim Kapidschi-Baschi, bei allen, ja beim Sultan
+selbst."
+
+"Ja", rief ein vierter, "seine Schritte sind gesegnet; er ist ein
+reicher, vornehmer Herr, aber--aber, ihr wißt, was ich meine!" "Ja,
+ja!" murmelten dann die anderen dazwischen, "es ist wahr, er hat auch
+ein Teil zu tragen, möchten nicht mit ihm tauschen; ist ein reicher,
+vornehmer Herr; aber, aber!"
+
+Ali Banu hatte ein herrliches Haus auf dem schönsten Platz von
+Alessandria; vor dem Hause war eine weite Terrasse, mit Marmor
+ummauert, beschattet von Palmbäumen; dort saß er oft abends und
+rauchte seine Wasserpfeife. In ehrerbietiger Entfernung harrten dann
+zwölf reichgekleidete Sklaven seines Winkes; der eine trug seinen
+Betel, der andere hielt seinen Sonnenschirm, ein dritter hatte Gefäße
+von gediegenem Golde, mit köstlichem Sorbet angefüllt, ein vierter
+trug einen Wedel von Pfauenfedern, um die Fliegen aus der Nähe des
+Herrn zu verscheuchen; andere waren Sänger und trugen Lauten und
+Blasinstrumente, um ihn zu ergötzen mit Musik, wenn er es verlangte,
+und der gelehrteste von allen trug mehrere Rollen, um ihm vorzulesen.
+
+Aber sie harreten vergeblich auf seinen Wink; er verlangte nicht
+Musik noch Gesang, er wollte keine Sprüche oder Gedichte weiser
+Dichter der Vorzeit hören, er wollte keinen Sorbet zu sich nehmen,
+noch Betel kauen, ja, selbst der mit dem Fächer aus Pfauenfeder hatte
+vergebliche Arbeit; denn der Herr bemerkte es nicht, wenn ihn eine
+Fliege summend umschwärmte. Da blieben oft die Vorübergehenden
+stehen, staunten über die Pracht des Hauses, über die
+reichgekleideten Sklaven und über die Bequemlichkeit, womit alles
+versehen war; aber wenn sie dann den Scheik ansahen, wie er so ernst
+und düster unter den Palmen saß, seine Augen nirgends hinwandte als
+auf die bläulichen Wölkchen seiner Wasserpfeife, da schüttelten sie
+die Köpfe und sprachen: "Wahrlich, der reiche Mann ist ein armer Mann.
+Er, der viel hat, ist ärmer als der, der nichts hat; denn der
+Prophet hat ihm den Verstand nicht gegeben, es zu genießen."
+
+So sprachen die Leute, lachten über ihn und gingen weiter.
+
+Eines Abends, als der Scheik wiederum vor der Türe seines Hauses saß,
+umgeben von allem Glanz der Erde, und traurig und einsam seine
+Wasserpfeife rauchte, standen nicht ferne davon einige junge Leute,
+betrachteten ihn und lachten.
+
+"Wahrlich", sprach der eine, "das ist ein törichter Mann, der Scheik
+Ali Banu; hätte ich seine Schätze, ich wollte sie anders anwenden.
+Alle Tage wollte ich leben herrlich und in Freuden; meine Freunde
+müßten bei mir speisen in den großen Gemächern des Hauses, und Jubel
+und Lachen müßten diese traurigen Hallen füllen."
+
+"Ja", erwiderte ein anderer. "Das wäre nicht so übel; aber viele
+Freunde zehren ein Gut auf, und wäre es so groß als das des Sultans,
+den der Prophet segne; aber säße ich abends so unter den Palmen auf
+dem schönen Platze hier, da müßten mir die Sklaven dort singen und
+musizieren, meine Tänzer müßten kommen und tanzen und springen und
+allerlei wunderliche Stücke aufführen. Dazu rauchte ich recht
+vornehm die Wasserpfeife, ließe mir den köstlichen Sorbet reichen und
+ergötzte mich an all diesem wie ein König von Bagdad."
+
+"Der Scheik", sprach ein dritter dieser jungen Leute, der ein
+Schreiber war, "der Scheik soll ein gelehrter und weiser Mann sein,
+und wirklich, seine Vorlesungen über den Koran zeugen von Belesenheit
+in allen Dichtern und Schriften der Weisheit; aber ist auch sein
+Leben so eingerichtet, wie es einem vernünftigen Manne geziemt? Dort
+steht ein Sklave mit einem ganzen Arm voll Rollen; ich gäbe mein
+Festkleid dafür, nur eine davon lesen zu dürfen; denn es sind gewiß
+seltene Sachen. Aber er? Er sitzt und raucht und läßt
+Bücher--Bücher sein. Wäre ich der Scheik Ali Banu, der Kerl müßte
+mir vorlesen, bis er keinen Atem mehr hätte oder bis die Nacht
+heraufkäme; und auch dann noch müßte er mir lesen, bis ich
+entschlummert wäre." "Ha! Ihr wißt mir recht, wie man sich ein
+köstliches Leben einrichtet", lachte der vierte; "essen und trinken,
+singen und tanzen, Sprüche lesen und Gedichte hören von armseligen
+Dichtern! Nein, ich würde es ganz anders machen. Er hat die
+herrlichsten Pferde und Kamele und Geld die Menge. Da würde ich an
+seiner Stelle reisen, reisen bis an der Welt Ende und selbst zu den
+Moskowitern, selbst zu den Franken. Kein Weg wäre mir zu weit, um
+die Herrlichkeiten der Welt zu sehen. So würde ich tun, wäre ich
+jener Mann dort."
+
+"Die Jugend ist eine schöne Zeit und das Alter, wo man fröhlich ist",
+sprach ein alter Mann von unscheinbarem Aussehen, der neben ihnen
+stand und ihre Reden gehört hatte, "aber erlaubet mir, daß ich es
+sage, die Jugend ist auch töricht und schwatzt hier und da in den Tag
+hinein, ohne zu wissen, was sie tut."
+
+"Was wollt Ihr damit sagen, Alter?" fragten verwundert die jungen
+Leute. "Meinet Ihr uns damit? Was geht es Euch an, daß wir die
+Lebensart des Scheiks tadeln?"
+
+"Wenn einer etwas besser weiß als der andere, so berichtige er seinen
+Irrtum, so will es der Prophet", erwiderte der alte Mann, "der Scheik,
+es ist wahr, ist gesegnet mit Schätzen und hat alles, wonach das
+Herz verlangt, aber er hat Ursache, ernst und traurig zu sein.
+Meinet ihr, er sei immer so gewesen? Nein, ich habe ihn noch vor
+fünfzehn Jahren gesehen, da war er munter und rüstig wie die Gazelle
+und lebte fröhlich und genoß sein Leben. Damals hatte er einen Sohn,
+die Freude seiner Tage, schön und gebildet, und wer ihn sah und
+sprechen hörte, mußte den Scheik beneiden um diesen Schatz, denn er
+war erst zehn Jahre alt, und doch war er schon so gelehrt wie ein
+anderer kaum im achtzehnten."
+
+"Und der ist ihm gestorben? Der arme Scheik!" rief der junge
+Schreiber.
+
+"Es wäre tröstlich für ihn, zu wissen, daß er heimgegangen in die
+Wohnungen des Propheten, wo er besser lebte als hier in Alessandria;
+aber das, was er erfahren mußte, ist viel schlimmer. Es war damals
+die Zeit, wo die Franken wie hungrige Wölfe herüberkamen in unser
+Land und Krieg mit uns führten. Sie hatten Alessandria überwältigt
+und zogen von da aus weiter und immer weiter und bekriegten die
+Mamelucken. Der Scheik war ein kluger Mann und wußte sich gut mit
+ihnen zu vertragen; aber, sei es, weil sie lüstern waren nach seinen
+Schätzen, sei es, weil er sich seiner gläubigen Brüder annahm, ich
+weiß es nicht genau; kurz, sie kamen eines Tages in sein Haus und
+beschuldigten ihn, die Mamelucken heimlich mit Waffen, Pferden und
+Lebensmitteln unterstützt zu haben. Er mochte seine Unschuld
+beweisen, wie er wollte, es half nichts, denn die Franken sind ein
+rohes, hartherziges Volk, wenn es darauf ankommt, Geld zu erpressen.
+Sie nahmen also seinen jungen Sohn, Kairam geheißen, als Geisel in
+ihr Lager. Er bot ihnen viel Geld für ihn; aber sie gaben ihn nicht
+los und wollten ihn zu noch höherem Gebot steigern. Da kam ihnen auf
+einmal von ihrem Bassa, oder was er war, der Befehl, sich
+einzuschiffen; niemand in Alessandria wußte ein Wort davon,
+und--plötzlich waren sie auf der hohen See, und den kleinen Kairam,
+Ali Banus Sohn, schleppten sie wohl mit sich, denn man hat nie wieder
+etwas von ihm gehört."
+
+"O der arme Mann, wie hat ihn doch Allah geschlagen!" riefen einmütig
+die jungen Leute und schauten mitleidig hin nach dem Scheik, der,
+umgeben von Herrlichkeit, trauernd und einsam unter den Palmen saß.
+
+"Sein Weib, das er sehr geliebt hat, starb ihm aus Kummer um ihren
+Sohn; er selbst aber kaufte sich ein Schiff, rüstete es aus und bewog
+den fränkischen Arzt, der dort unten am Brunnen wohnt, mit ihm nach
+Frankistan zu reisen, um den verlorenen Sohn aufzusuchen. Sie
+schifften sich ein und waren lange Zeit auf dem Meere und kamen
+endlich in das Land jener Giaurs, jener Ungläubigen, die in
+Alessandria gewesen waren. Aber dort soll es gerade schrecklich
+zugegangen sein. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Paschas
+und die Reichen und Armen schlugen einander die Köpfe ab, und es war
+keine Ordnung im Lande. Vergeblich suchten sie in jeder Stadt nach
+dem kleinen Kairam, niemand wollte von ihm wissen, und der fränkische
+Doktor riet endlich dem Scheik, sich einzuschiffen, weil sie sonst
+wohl selbst um ihre Köpfe kommen könnten.
+
+So kamen sie wieder zurück, und seit seiner Ankunft hat der Scheik
+gelebt wie an diesem Tag, denn er trauert um seinen Sohn, und er hat
+recht. Muß er nicht, wenn er ißt und trinkt, denken, jetzt muß
+vielleicht mein armer Kairam hungern und dürsten?
+
+Und wenn er sich bekleidet mit reichen Schals und Festkleidern, wie
+es sein Amt und seine Würde will, muß er nicht denken, jetzt hat er
+wohl nichts, womit er seine Blöße deckt? Und wenn er umgeben ist von
+Sängern und Tänzern und Vorlesern, seinen Sklaven, denkt er da nicht,
+jetzt muß wohl mein armer Sohn seinem fränkischen Gebieter Sprünge
+vormachen und musizieren, wie er es haben will? Und was ihm den
+größten Kummer macht, er glaubt, der kleine Kairam werde, so weit vom
+Lande seiner Väter und mitten unter Ungläubigen, die seiner spotten,
+abtrünnig werden vom Glauben seiner Väter und er werde ihn einst
+nicht umarmen können in den Gärten des Paradieses!
+
+Darum ist er auch so mild gegen seine Sklaven und gibt große Summen
+an die Armen; denn er denkt, Allah werde es vergelten und das Herz
+seiner fränkischen Herren rühren, daß sie seinen Sohn mild behandeln.
+Auch gibt er jedesmal, wenn der Tag kommt, an welchem ihm sein Sohn
+entrissen wurde, zwölf Sklaven frei."
+
+"Davon habe ich auch schon gehört", entgegnete der Schreiber, "aber
+man trägt sich mit wundervollen Reden; von seinem Sohne wurde dabei
+nichts erwähnt; wohl aber sagte man, er sei ein sonderbarer Mann und
+ganz besonders erpicht auf Erzählungen; da soll er jedes Jahr unter
+seinen Sklaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzählt,
+den gibt er frei." "Verlasset euch nicht auf das Gerede der Leute",
+sagte der alte Mann, "es ist so, wie ich es sage, und ich weiß es
+genau; möglich ist, daß er sich an diesem schweren Tage aufheitern
+will und sich Geschichten erzählen läßt; doch gibt er sie frei um
+seines Sohnes willen. Doch, der Abend wird kühl, und ich muß
+weitergehen. Salem aleikum, Friede sei mit euch, ihr jungen Herren,
+und denket in Zukunft besser von dem guten Scheik!"
+
+Die jungen Leute dankten dem Alten für seine Nachrichten, schauten
+noch einmal nach dem trauernden Vater und gingen die Straße hinab,
+indem sie zueinander sprachen: "Ich möchte doch nicht der Scheik Ali
+Banu sein."
+
+Nicht lange Zeit, nachdem diese jungen Leute mit dem alten Mann über
+den Scheik Ali Banu gesprochen hatten, traf es sich, daß sie um die
+Zeit des Morgengebets wieder diese Straße gingen. Da fiel ihnen der
+alte Mann und seine Erzählung ein, und sie beklagten zusammen den
+Scheik und blickten nach seinem Hause. Aber wie staunten sie, als
+sie dort alles aufs herrlichste ausgeschmückt fanden! Von dem Dache,
+wo geputzte Sklavinnen spazierengingen, wehten Wimpeln und Fahnen,
+die Halle des Hauses war mit köstlichen Teppichen belegt, Seidenstoff
+schloß sich an diese an, der über die breiten Stufen der Treppe
+gelegt war, und selbst auf der Straße war noch schönes, feines Tuch
+ausgebreitet, wovon sich mancher wünschen mochte zu einem Festkleid
+oder zu einer Decke für die Füße.
+
+"Ei, wie hat sich doch der Scheik geändert in den wenigen Tagen!"
+sprach der junge Schreiber. "Will er ein Fest geben? Will er seine
+Sänger und Tänzer anstrengen? Seht mir diese Teppiche! Hat sie
+einer so schön in ganz Alessandria! Und dieses Tuch auf dem gemeinen
+Boden, wahrlich, es ist schade dafür!"
+
+"Weißt du, was ich denke?" sprach ein anderer. "Er empfängt
+sicherlich einen hohen Gast; denn das sind Zubereitungen, wie man sie
+macht, wenn ein Herrscher von großen Ländern oder ein Effendi des
+Großherrn ein Haus mit seinem Besuch segnet. Wer mag wohl heute
+hierherkommen?"
+
+"Siehe da, geht dort unten nicht unser Alter von letzthin? Ei, der
+weiß ja alles und muß auch darüber Aufschluß geben können. Heda!
+Alter Herr! Wollet Ihr nicht ein wenig zu uns treten?" So riefen sie;
+der alte Mann aber bemerkte ihre Winke und kam zu ihnen; denn er
+erkannte sie als die jungen Leute, mit welchen er vor einigen Tagen
+gesprochen. Sie machten ihn aufmerksam auf die Zurüstungen im Hause
+des Scheiks und fragten ihn, ob er nicht wisse, welch hoher Gast wohl
+erwartet werde.
+
+"Ihr glaubt wohl", erwiderte er, "Ali Banu feiere heute ein großes
+Freudenfest, oder der Besuch eines großen Mannes beehre sein Haus?
+Dem ist nicht also; aber heute ist der zwölfte Tag des Monats Ramadan,
+wie ihr wisset, und an diesem Tag wurde sein Sohn ins Lager geführt."
+
+"Aber beim Bart des Propheten!" rief einer der jungen Leute. "Das
+sieht ja alles aus wie Hochzeit und Festlichkeiten, und doch ist es
+sein berühmter Trauertag, wie reimt Ihr das zusammen? Gesteht, der
+Scheik ist denn doch etwas zerrüttet im Verstand."
+
+"Urteilt Ihr noch immer so schnell, mein junger Freund?" fragte der
+Alte lächelnd. "Auch diesmal war Euer Pfeil wohl spitzig und scharf,
+die Sehne Eures Bogens straff angezogen, und doch habt Ihr weitab vom
+Ziele geschossen. Wisset, daß heute der Scheik seinen Sohn erwartet."
+
+"So ist er gefunden?" riefen die Jünglinge und freuten sich. "Nein,
+und er wird sich wohl lange nicht finden; aber wisset: Vor acht oder
+zehn Jahren, als der Scheik auch einmal mit Trauern und Klagen diesen
+Tag beging, auch Sklaven freigab und viele Arme speiste und tränkte,
+da traf es sich, daß er auch einem Derwisch, der müde und matt im
+Schatten jenes Hauses lag, Speise und Trank reichen ließ. Der
+Derwisch aber war ein heiliger Mann und erfahren in Prophezeiungen
+und im Sterndeuten. Der trat, als er gestärkt war durch die milde
+Hand des Scheiks, zu ihm und sprach: 'Ich kenne die Ursache deines
+Kummers; ist nicht heute der zwölfte Ramadan, und hast du nicht an
+diesem Tage deinen Sohn verloren? Aber sei getrost, dieser Tag der
+Trauer wird dir zum Festtag werden, denn wisse, an diesem Tage wird
+einst dein Sohn zurückkehren!' So sprach der Derwisch. Es wäre Sünde
+für jeden Muselmann, an der Rede eines solchen Mannes zu zweifeln;
+der Gram Alis wurde zwar dadurch nicht gemildert, aber doch harrt er
+an diesem Tage immer auf die Rückkehr seines Sohnes und schmückt sein
+Haus und seine Halle und die Treppen, als könne jener zu jeder Stunde
+anlangen."
+
+"Wunderbar!" erwiderte der Schreiber. "Aber zusehen möchte ich doch,
+wie alles so herrlich bereitet ist, wie er selbst in dieser
+Herrlichkeit trauert, und hauptsächlich möchte ich zuhören, wie er
+sich von seinen Sklaven erzählen läßt."
+
+"Nichts leichter als dies", antwortete der Alte. "Der Aufseher der
+Sklaven jenes Hauses ist mein Freund seit langen Jahren und gönnt mir
+an diesem Tage immer ein Plätzchen in dem Saal, wo man unter der
+Menge der Diener und Freunde des Scheiks den einzelnen nicht bemerkt.
+Ich will mit ihm reden, daß er euch einläßt; ihr seid ja nur zu
+viert, und da kann es schon gehen; kommet um die neunte Stunde auf
+diesen Platz, und ich will euch Antwort geben."
+
+So sprach der Alte; die jungen Leute aber dankten ihm und entfernten
+sich, voll Begierde zu sehen, wie sich dies alles begeben würde.
+
+Sie kamen zur bestimmten Stunde auf den Platz vor dem Hause des
+Scheik und trafen da den Alten, der ihnen sagte, daß der Aufseher der
+Sklaven erlaubt habe, sie einzuführen. Er ging voran, doch nicht
+durch die reichgeschmückten Treppen und Tore, sondern durch ein
+Seitenpförtchen, das er sorgfältig wieder verschloß. Dann führte er
+sie durch mehrere Gänge, bis sie in den großen Saal kamen. Hier war
+ein großes Gedränge von allen Seiten; da waren reichgekleidete Männer,
+angesehene Herren der Stadt und Freunde des Scheik, die gekommen
+waren, ihn in seinem Schmerz zu trösten. Da waren Sklaven aller Art
+und aller Nationen. Aber alle sahen kummervoll aus; denn sie liebten
+ihren Herrn und trauerten mit ihm. Am Ende des Saales, auf einem
+reichen Diwan, saßen die vornehmsten Freunde Alis und wurden von den
+Sklaven bedient. Neben ihnen auf dem Boden saß der Scheik; denn die
+Trauer um seinen Sohn erlaubte ihm nicht, auf dem Teppich der Freude
+zu sitzen. Er hatte sein Haupt in die Hand gestützt und schien wenig
+auf die Tröstungen zu hören, die ihm seine Freunde zuflüsterten. Ihm
+gegenüber saßen einige alte und junge Männer in Sklaventracht. Der
+Alte belehrte seine jungen Freunde, daß dies die Sklaven seien, die
+Ah Banu an diesem Tage freigebe. Es waren unter ihnen auch einige
+Franken, und der Alte machte besonders auf einen von ihnen aufmerksam,
+der von ausgezeichneter Schönheit und noch sehr jung war. Der
+Scheik hatte ihn erst einige Tage zuvor einem Sklavenhändler von
+Tunis um eine große Summe abgekauft und gab ihn dennoch jetzt schon
+frei, weil er glaubte, je mehr Franken er in ihr Vaterland
+zurückschicke, desto früher werde der Prophet seinen Sohn erlösen.
+
+Nachdem man überall Erfrischungen umhergereicht hatte, gab der Scheik
+dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen. Dieser stand auf, und es ward
+tiefe Stille im Saal. Er trat vor die Sklaven, welche freigelassen
+werden sollten, und sprach mit vernehmlichen Stimme: "Ihr Männer, die
+ihr heute frei sein werdet durch die Gnade meines Herrn Ali Banu, des
+Scheik von Alessandria, tuet nur, wie es Sitte ist an diesem Tage in
+seinem Hause, und hebet an zu erzählen!"
+
+Sie flüsterten untereinander. Dann aber nahm ein alter Sklave das
+Wort und fing an zu erzählen:
+
+
+
+
+Der Zwerg Nase
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr! Diejenigen tun sehr unrecht, welche glauben, es habe nur zu
+Zeiten Haruns Al-Raschid, des Beherrschers von Bagdad, Feen und
+Zauberer gegeben, oder die gar behaupten, jene Berichte von dem
+Treiben der Genien und ihrer Fürsten, welche man von den Erzählern
+auf den Märkten der Stadt hört, seien unwahr. Noch heute gibt es
+Feen, und es ist nicht so lange her, daß ich selbst Zeuge einer
+Begebenheit war, wo offenbar die Genien im Spiele waren, wie ich euch
+berichten werde.
+
+In einer bedeutenden Stadt meines lieben Vaterlandes, Deutschlands,
+lebte vor vielen Jahren ein Schuster mit seiner Frau schlicht und
+recht. Er saß bei Tag an der Ecke der Straße und flickte Schuhe und
+Pantoffeln und machte wohl auch neue, wenn ihm einer welche
+anvertrauen mochte; doch mußte er dann das Leder erst einkaufen, denn
+er war arm und hatte keine Vorräte. Seine Frau verkaufte Gemüse und
+Früchte, die sie in einem kleinen Gärtchen vor dem Tore pflanzte, und
+viele Leute kauften gerne bei ihr, weil sie reinlich und sauber
+gekleidet war und ihr Gemüse auf gefällige Art auszubreiten wußte.
+
+Die beiden Leutchen hatten einen schönen Knaben, angenehm von Gesicht,
+wohlgestaltet und für das Alter von zwölf Jahren schon ziemlich groß.
+Er pflegte gewöhnlich bei der Mutter auf dem Gemüsemarkt zu sitzen,
+und den Weibern oder Köchen, die viel bei der Schustersfrau
+eingekauft hatten, trug er wohl auch einen Teil der Früchte nach
+Hause, und selten kam er von einem solchen Gang zurück ohne eine
+schöne Blume oder ein Stückchen Geld oder Kuchen; denn die
+Herrschaften dieser Köche sahen es gerne, wenn man den schönen Knaben
+mit nach Hause brachte, und beschenkten ihn immer reichlich.
+
+Eines Tages saß die Frau des Schusters wieder wie gewöhnlich auf dem
+Markte, sie hatte vor sich einige Körbe mit Kohl und anderm Gemüse,
+allerlei Kräuter und Sämereien, auch in einem kleineren Körbchen
+frühe Birnen, Äpfel und Aprikosen. Der kleine Jakob, so hieß der
+Knabe, saß neben ihr und rief mit heller Stimme die Waren aus:
+"Hierher, ihr Herren, seht, welch schöner Kohl, wie wohlriechend
+diese Kräuter; frühe Birnen, ihr Frauen, frühe Äpfel und Aprikosen,
+wer kauft? Meine Mutter gibt es wohlfeil." So rief der Knabe. Da
+kam ein altes Weib über den Markt her; sie sah etwas zerrissen und
+zerlumpt aus, hatte ein kleines, spitziges Gesicht, vom Alter ganz
+eingefurcht, rote Augen und eine spitzige, gebogene Nase, die gegen
+das Kinn hinabstrebte; sie ging an einem langen Stock, und doch
+konnte man nicht sagen, wie sie ging; denn sie hinkte und rutschte
+und wankte; es war, als habe sie Räder in den Beinen und könne alle
+Augenblicke umstülpen und mit der spitzigen Nase aufs Pflaster fallen.
+
+Die Frau des Schusters betrachtete dieses Weib aufmerksam. Es waren
+jetzt doch schon sechzehn Jahre, daß sie täglich auf dem Markte saß,
+und nie hatte sie diese sonderbare Gestalt bemerkt. Aber sie
+erschrak unwillkürlich, als die Alte auf sie zuhinkte und an ihren
+Körben stillstand.
+
+"Seid Ihr Hanne, die Gemüsehändlerin?" fragte das alte Weib mit
+unangenehmer, krächzender Stimme, indem sie beständig den Kopf hin
+und her schüttelte.
+
+"Ja, die bin ich", antwortete die Schustersfrau, "ist Euch etwas
+gefällig?"
+
+"Wollen sehen, wollen sehen! Kräutlein schauen, Kräutlein schauen,
+ob du hast, was ich brauche", antwortete die Alte, beugte sich nieder
+vor den Körben und fuhr mit ein Paar dunkelbraunen, häßlichen Händen
+in den Kräuterkorb hinein, packte die Kräutlein, die so schön und
+zierlich ausgebreitet waren, mit ihren langen Spinnenfingern, brachte
+sie dann eins um das andere hinauf an die lange Nase und beroch sie
+hin und her. Der Frau des Schusters wollte es fast das Herz
+abdrucken, wie sie das alte Weib also mit ihren seltenen Kräutern
+hantieren sah; aber sie wagte nichts zu sagen; denn es war das Recht
+des Käufers, die Ware zu prüfen, und überdies empfand sie ein
+sonderbares Grauen vor dem Weibe. Als jene den ganzen Korb
+durchgemustert hatte, murmelte sie: "Schlechtes Zeug, schlechtes
+Kraut, nichts von allem, was ich will, war viel besser vor fünfzig
+Jahren; schlechtes Zeug, schlechtes Zeug!"
+
+Solche Reden verdrossen nun den kleinen Jakob. "Höre, du bist ein
+unverschämtes, altes Weib", rief er unmutig, "erst fährst du mit
+deinen garstigen, braunen Fingern in die schönen Kräuter hinein und
+drückst sie zusammen, dann hältst du sie an deine lange Nase, daß sie
+niemand mehr kaufen mag, wer zugesehen, und jetzt schimpfst du noch
+unsere Ware schlechtes Zeug, und doch kauft selbst der Koch des
+Herzogs alles bei uns!"
+
+Das alte Weib schielte den mutigen Knaben an, lachte widerlich und
+sprach mit heiserer Stimme: "Söhnchen, Söhnchen! Also gefällt dir
+meine Nase, meine schöne lange Nase? Sollst auch eine haben mitten
+im Gesicht bis übers Kinn herab." Während sie so sprach, rutschte sie
+an den andern Korb, in welchem Kohl ausgelegt war. Sie nahm die
+herrlichsten weißen Kohlhäupter in die Hand, drückte sie zusammen,
+daß sie ächzten, warf sie dann wieder unordentlich in den Korb und
+sprach auch hier: "Schlechte Ware, schlechter Kohl!"
+
+"Wackle nur nicht so garstig mit dem Kopf hin und her!" rief der
+Kleine ängstlich. "Dein Hals ist ja so dünne wie ein Kohlstengel,
+der könnte leicht abbrechen, und dann fiele dein Kopf hinein in den
+Korb; wer wollte dann noch kaufen!"
+
+"Gefallen sie dir nicht, die dünnen Hälse?" murmelte die Alte lachend.
+"Sollst gar keinen haben, Kopf muß in den Schultern stecken, daß er
+nicht herabfällt vom kleinen Körperlein!"
+
+"Schwatzt doch nicht so unnützes Zeug mit dem Kleinen da", sagte
+endlich die Frau des Schusters im Unmut über das lange Prüfen,
+Mustern und Beriechen, "wenn Ihr etwas kaufen wollt, so sputet Euch,
+Ihr verscheucht mir ja die anderen Kunden."
+
+"Gut, es sei, wie du sagst", rief die Alte mit grimmigem Blick. "Ich
+will dir diese sechs Kohlhäupter abkaufen; aber siehe, ich muß mich
+auf den Stab stützen und kann nichts tragen; erlaube deinem Söhnlein,
+daß es mir die Ware nach Hause bringt, ich will es dafür belohnen."
+
+Der Kleine wollte nicht mitgehen und weinte; denn ihm graute vor der
+häßlichen Frau, aber die Mutter befahl es ihm ernstlich, weil sie es
+doch für eine Sünde hielt, der alten, schwächlichen Frau diese Last
+allein aufzubürden; halb weinend tat er, wie sie befohlen, raffte die
+Kohlhäupter in ein Tuch zusammen und folgte dem alten Weibe über den
+Markt hin.
+
+Es ging nicht sehr schnell bei ihr, und sie brauchte beinahe drei
+Viertelstunden, bis sie in einen ganz entlegenen Teil der Stadt kam
+und endlich vor einem kleinen, baufälligen Hause stillhielt. Dort
+zog sie einen alten, rostigen Haken aus der Tasche, fuhr damit
+geschickt in ein kleines Loch in der Türe, und plötzlich sprang diese
+krachend auf. Aber wie war der kleine Jakob überrascht, als er
+eintrat! Das Innere des Hauses war prachtvoll ausgeschmückt, von
+Marmor waren die Decke und die Wände, die Gerätschaften vom schönsten
+Ebenholz, mit Gold und geschaffenen Steinen eingelegt, der Boden aber
+war von Glas und so glatt, daß der Kleine einigemal ausglitt und
+umfiel. Die Alte aber zog ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche und
+pfiff eine Weise darauf, die gellend durch das Haus tönte. Da kamen
+sogleich einige Meerschweinchen die Treppe herab; dem Jakob wollte es
+aber ganz sonderbar dünken, daß sie aufrecht auf zwei Beinen gingen,
+Nußschalen statt Schuhen an den Pfoten trugen, menschliche Kleider
+angelegt und sogar Hüte nach der neuesten Mode auf die Köpfe gesetzt
+hatten. "Wo habt ihr meine Pantoffeln, schlechtes Gesindel?" rief
+die Alte und schlug mit dem Stock nach ihnen, daß sie jammernd in die
+Höhe sprangen. "Wie lange soll ich noch so dastehen?"
+
+Sie sprangen schnell die Treppe hinauf und kamen wieder mit ein Paar
+Schalen von Kokosnuß, mit Leder gefüttert, welche sie der Alten
+geschickt an die Füße steckten.
+
+Jetzt war alles Hinken und Rutschen vorbei. Sie warf den Stab von
+sich und glitt mit großer Schnelligkeit über den Glasboden hin, indem
+sie den kleinen Jakob an der Hand mit fortzog. Endlich hielt sie in
+einem Zimmer stille, das, mit allerlei Gerätschaften ausgeputzt,
+beinahe einer Küche glich, obgleich die Tische von Mahagoniholz und
+die Sofas, mit reichen Teppichen behängt, mehr zu einem Prunkgemach
+paßten. "Setze dich, Söhnchen", sagte die Alte recht freundlich,
+indem sie ihn in die Ecke eines Sofas drückte und einen Tisch also
+vor ihn hinstellte, daß er nicht mehr hervorkommen konnte. "Setze
+dich, du hast gar schwer zu tragen gehabt, die Menschenköpfe sind
+nicht so leicht, nicht so leicht."
+
+"Aber, Frau, was sprechet Ihr so wunderlich", rief der Kleine. "Müde
+bin ich zwar, aber es waren ja Kohlköpfe, die ich getragen, Ihr habt
+sie meiner Mutter abgekauft."
+
+"Ei, das weißt du falsch", lachte das Weib, deckte den Deckel des
+Korbes auf und brachte einen Menschenkopf hervor, den sie am Schopf
+gefaßt hatte. Der Kleine war vor Schrecken außer sich; er konnte
+nicht fassen, wie dies alles zuging; aber er dachte an seine Mutter;
+wenn jemand von diesen Menschenköpfen etwas erfahren würde, dachte er
+bei sich, da würde man gewiß meine Mutter dafür anklagen.
+
+"Muß dir nun auch etwas geben zum Lohn, weil du so artig bist",
+murmelte die Alte, "gedulde dich nur ein Weilchen, will dir ein
+Süppchen einbrocken, an das du dein Leben lang denken wirst." So
+sprach sie und pfiff wieder. Da kamen zuerst viele Meerschweinchen
+in menschlichen Kleidern; sie hatten Küchenschürzen umgebunden und im
+Gürtel Rührlöffel und Tranchiermesser; nach diesen kam eine Menge
+Eichhörnchen hereingehüpft; sie hatten weite türkische Beinkleider an,
+gingen aufrecht, und auf dem Kopf trugen sie grüne Mützchen von Samt.
+Diese schienen die Küchenjungen zu sein; denn sie kletterten mit
+großer Geschwindigkeit an den Wänden hinauf und brachten Pfannen und
+Schüsseln, Eier und Butter, Kräuter und Mehl herab und trugen, es auf
+den Herd; dort aber fuhr die alte Frau auf ihren Pantoffeln von
+Kokosschalen beständig hin und her, und der Kleine sah, daß sie es
+sich recht angelegen sein lasse, ihm etwas Gutes zu kochen. Jetzt
+knisterte das Feuer höher empor, jetzt rauchte und sott es in der
+Pfanne, ein angenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer; die Alte
+aber rannte auf und ab, die Eichhörnchen und Meerschweinchen ihr nach,
+und so oft sie am Herde vorbeikam, guckte sie mit ihrer langen Nase
+in den Topf. Endlich fing es an zu sprudeln und zu zischen, Dampf
+stieg aus dem Topf hervor, und der Schaum floß herab ins Feuer. Da
+nahm sie ihn weg, goß davon in eine silberne Schale und setzte sie
+dem kleinen Jakob vor.
+
+"So, Söhnchen, so", sprach sie, "iß nur dieses Süppchen, dann hast du
+alles, was dir an mir so gefallen! Sollst auch ein geschickter Koch
+werden, daß du noch etwas bist; aber Kräutlein, nein, das Kräutlein
+sollst du nimmer finden--Warum hat es deine Mutter nicht in ihrem
+Korb gehabt?" Der Kleine verstand nicht recht, was sie sprach, desto
+aufmerksamer behandelte er die Suppe, die ihm ganz trefflich
+schmeckte. Seine Mutter hatte ihm manche schmackhafte Speise
+bereitet; aber so gut war ihm noch nichts geworden. Der Duft von
+feinen Kräutern und Gewürzen stieg aus der Suppe auf, dabei war sie
+süß und säuerlich zugleich und sehr stark. Während er noch die
+letzten Tropfen der köstlichen Speise austrank, zündeten die
+Meerschweinchen arabischen Weihrauch an, der in bläulichen Wolken
+durch das Zimmer schwebte; dichter und immer dichter wurden diese
+Wolken und sanken herab, der Geruch des Weihrauchs wirkte betäubend
+auf den Kleinen, er mochte sich zurufen, so oft er wollte, daß er zu
+seiner Mutter zurückkehren müsse; wenn er sich ermannte, sank er
+immer wieder von neuem in den Schlummer zurück und schlief endlich
+wirklich auf dem Sofa des alten Weibes ein.
+
+Sonderbare Träume kamen über ihn. Es war ihm, als ziehe ihm die Alte
+seine Kleider aus und umhülle ihn dafür mit einem Eichhörnchenbalg.
+Jetzt konnte er Sprünge machen und klettern wie ein Eichhörnchen; er
+ging mit den übrigen Eichhörnchen und Meerschweinchen, die sehr
+artige, gesittete Leute waren, um und hatte mit ihnen den Dienst bei
+der alten Frau. Zuerst wurde er nur zu den Diensten eines
+Schuhputzers gebraucht, d. h. er mußte die Kokosnüsse, welche die
+Frau statt der Pantoffeln trug, mit Öl salben und durch Reiben
+glänzend machen. Da er nun in seines Vaters Hause zu ähnlichen
+Geschäften oft angehalten worden war, so ging es ihm flink von der
+Hand; etwa nach einem Jahre, träumte er weiter, wurde er zu einem
+feineren Geschäft gebraucht; er mußte nämlich mit noch einigen
+Eichhörnchen Sonnenstäubchen fangen und, wenn sie genug hatten,
+solche durch das feinste Haarsieb sieben. Die Frau hielt nämlich die
+Sonnenstäubchen für das Allerfeinste, und weil sie nicht gut beißen
+konnte, denn sie hatte keinen Zahn mehr, so ließ sie sich ihr Brot
+aus Sonnenstäubchen zubereiten.
+
+Wiederum nach einem Jahre wurde er zu den Dienern versetzt, die das
+Trinkwasser für die Alte sammelten. Man denke nicht, daß sie sich
+hierzu etwa eine Zisterne hätte graben lassen oder ein Faß in den Hof
+stellte, um das Regenwasser darin aufzufangen; da ging es viel feiner
+zu; die Eichhörnchen, und Jakob mit ihnen, mußten mit Haselnußschalen
+den Tau aus den Rosen schöpfen, und das war das Trinkwasser der Alten.
+Da sie nun bedeutend viel trank, so hatten die Wasserträger schwere
+Arbeit. Nach einem Jahr wurde er zum inneren Dienst des Hauses
+bestellt; er hatte nämlich das Amt, die Böden rein zu machen; da nun
+diese von Glas waren, worin man jeden Hauch sah, war das keine
+geringe Arbeit. Sie mußten sie bürsten und altes ach an die Füße
+schnallen und auf diesem künstlich im Zimmer umherfahren. Im vierten
+Jahre ward er endlich zur Küche versetzt. Es war dies ein Ehrenamt,
+zu welchem man nur nach langer Prüfung gelangen konnte. Jakob diente
+dort vom Küchenjungen aufwärts bis zum ersten Pastetenmacher und
+erreichte eine so ungemeine Geschicklichkeit und Erfahrung in allem,
+was die Küche betrifft, daß er sich oft über sich selbst wundern
+mußte; die schwierigsten Sachen, Pasteten von zweihunderterlei
+Essenzen, Kräutersuppen, von allen Kräutlein der Erde zusammengesetzt,
+alles lernte er, alles verstand er schnell und kräftig zu machen.
+
+So waren etwa sieben Jahre im Dienste des alten Weibes vergangen, da
+befahl sie ihm eines Tages, indem sie die Kokosschuhe auszog, Korb
+und Krückenstock zur Hand nahm, um auszugehen, er sollte ein Hühnlein
+rupfen, mit Kräutern füllen und solches schön bräunlich und gelb
+rösten, bis sie wiederkäme. Er tat dies nach den Regeln der Kunst.
+Er drehte dem Hühnlein den Kragen um, brühte es in heißem Wasser, zog
+ihm geschickt die Federn aus, schabte ihm nachher die Haut, daß sie
+glatt und fein wurde, und nahm ihm die Eingeweide heraus. Sodann
+fing er an, die Kräuter zu sammeln, womit er das Hühnlein füllen
+sollte. In der Kräuterkammer gewahrte er aber diesmal ein
+Wandschränkchen, dessen Türe halb geöffnet war und das er sonst nie
+bemerkt hatte. Er ging neugierig näher, um zu sehen, was es enthalte,
+und siehe da, es standen viele Körbchen darinnen, von welchen ein
+starker, angenehmer Geruch ausging. Er öffnete eines dieser Körbchen
+und fand darin Kräutlein von ganz besonderer Gestalt und Farbe. Die
+Stengel und Blätter waren blaugrün und trugen oben eine kleine Blume
+von brennendem Rot, mit Gelb verbrämt; er betrachtete sinnend diese
+Blume, beroch sie, und sie strömte denselben starken Geruch aus, von
+dem einst jene Suppe, die ihm die Alte gekocht, geduftet hatte. Aber
+so stark war der Geruch, daß er zu niesen anfing, immer heftiger
+niesen mußte und--am Ende niesend erwachte.
+
+Da lag er auf dem Sofa des alten Weibes und blickte verwundert umher.
+"Nein, wie man aber so lebhaft träumen kann!" sprach er zu sich,
+"hätte ich jetzt doch schwören wollen, daß ich ein schnödes
+Eichhörnchen, ein Kamerad von Meerschweinen und anderem Ungeziefer,
+dabei aber ein großer Koch geworden sei. Wie wird die Mutter lachen,
+wenn ich ihr alles erzähle! Aber wird sie nicht auch schmälen, daß
+ich in einem fremden Hause einschlafe, statt ihr zu helfen auf dem
+Markte?" Mit diesen Gedanken raffte er sich auf, um hinwegzugehen;
+noch waren seine Glieder vom Schlafe ganz steif, besonders sein
+Nacken, denn er konnte den Kopf nicht recht hin und her bewegen; er
+mußte auch selbst über sich lächeln, daß er so schlaftrunken war;
+denn alle Augenblicke, ehe er es sich versah, stieß er mit der Nase
+an einen Schrank oder an die Wand oder schlug sie, wenn er sich
+schnell umwandte, an einen Türpfosten. Die Eichhörnchen und
+Meerschweinchen liefen winselnd um ihn her, als wollten sie ihn
+begleiten, er lud sie auch wirklich ein, als er auf der Schwelle war,
+denn es waren niedliche Tierchen; aber sie fuhren auf ihren
+Nußschalen schnell ins Haus zurück, und er hörte sie nur noch in der
+Ferne heulen.
+
+Es war ein ziemlich entlegener Teil der Stadt, wohin ihn die Alte
+geführt hatte, und er konnte sich kaum aus den engen Gassen
+herausfinden, auch war dort ein großes Gedränge; denn es mußte sich,
+wie ihm dünkte, gerade in der Nähe ein Zwerg sehen lassen; überall
+hörte er rufen: "Ei, sehet den häßlichen Zwerg! Wo kommt der Zwerg
+her? Ei, was hat er doch für eine lange Nase, und wie ihm der Kopf
+in den Schultern steckt, und die braunen, häßlichen Hände!" Zu einer
+andern Zeit wäre er wohl auch nachgelaufen, denn er sah für sein
+Leben gern Riesen oder Zwerge oder seltsame fremde Trachten, aber so
+mußte er sich sputen, um zur Mutter zu kommen.
+
+Es war ihm ganz ängstlich zumute, als er auf den Markt kam. Die
+Mutter saß noch da und hatte noch ziemlich viele Früchte im Korb,
+lange konnte er also nicht geschlafen haben; aber doch kam es ihm von
+weitem schon vor, als sei sie sehr traurig; denn sie rief die
+Vorübergehenden nicht an, einzukaufen, sondern hatte den Kopf in die
+Hand gestützt, und als er näher kam, glaubte er auch, sie sei
+bleicher als sonst. Er zauderte, was er tun sollte; endlich faßte er
+sich ein Herz, schlich sich hinter sie hin, legte traulich seine Hand
+auf ihren Arm und sprach: "Mütterchen, was fehlt dir? Bist du böse
+auf mich?"
+
+Die Frau wandte sich um nach ihm, fuhr aber mit einem Schrei des
+Entsetzens zurück.
+
+"Was willst du von mir, häßlicher Zwerg?" rief sie. "Fort, fort!
+Ich kann dergleichen Possenspiele nicht leiden."
+
+"Aber, Mutter, was hast du denn?" fragte Jakob ganz erschrocken.
+"Dir ist gewiß nicht wohl; warum willst du denn deinen Sohn von dir
+jagen?"
+
+"Ich habe dir schon gesagt, gehe deines Weges!" entgegnete Frau Hanne
+zürnend. "Bei mir verdienst du kein Geld durch deine Gaukeleien,
+häßliche Mißgeburt!"
+
+"Wahrhaftig, Gott hat ihr das Licht des Verstandes geraubt!" sprach
+der Kleine bekümmert zu sich. "Was fange ich nur an, um sie nach
+Haus zu bringen? Lieb Mütterchen, so sei doch nur vernünftig; sieh
+mich doch nur recht an; ich bin ja dein Sohn, dein Jakob."
+
+"Nein, jetzt wird mir der Spaß zu unverschämt", rief Hanne ihrer
+Nachbarin zu, "seht nur den häßlichen Zwerg da; da steht er und
+vertreibt mir gewiß alle Käufer, und mit meinem Unglück wagt er zu
+spotten. Spricht zu mir: Ich bin ja dein Sohn, dein Jakob! Der
+Unverschämte!"
+
+Da erhoben sich die Nachbarinnen und fingen an zu schimpfen, so arg
+sie konnten--und Marktweiber, wisset ihr wohl, verstehen es--, und
+schalten ihn, daß er des Unglücks der armen Hanne spotte, der vor
+sieben Jahren ihr bildschöner 'Knabe gestohlen worden sei, und
+drohten, insgesamt über ihn herzufallen und ihn zu zerkratzen, wenn
+er nicht alsobald ginge.
+
+Der arme Jakob wußte nicht, was er von diesem allem denken sollte.
+War er doch, wie er glaubte, heute früh wie gewöhnlich mit der Mutter
+auf den Markt gegangen, hatte ihr die Früchte aufstellen helfen, war
+nachher mit dem alten Weib in ihr Haus gekommen, hatte ein Süppchen
+verzehrt, ein kleines Schläfchen gemacht und war jetzt wieder da, und
+doch sprachen die Mutter und die Nachbarinnen von sieben Jahren! Und
+sie nannten ihn einen garstigen Zwerg! Was war denn nun mit ihm
+vorgegangen?--Als er sah, daß die Mutter gar nichts mehr von ihm
+hören wollte, traten ihm die Tränen in die Augen, und er ging
+trauernd die Straße hinab nach der Bude, wo sein Vater den Tag über
+Schuhe flickte. "Ich will doch sehen", dachte er bei sich, "ob er
+mich auch nicht kennen will, unter die Türe will ich mich stellen und
+mit ihm sprechen." Als er an der Bude des Schusters angekommen war,
+stellte er sich unter die Türe und schaute hinein. Der Meister war
+so emsig mit seiner Arbeit beschäftigt, daß er ihn gar nicht sah; als
+er aber zufällig einen Blick nach der Türe warf, ließ er Schuhe,
+Draht und Pfriem auf die Erde fallen und rief mit Entsetzen: "Um
+Gottes willen, was ist das, was ist das!"
+
+"Guten Abend, Meister!" sprach der Kleine, indem er vollends in den
+Laden trat. "Wie geht es Euch?"
+
+"Schlecht, schlecht, kleiner Herr!" antwortete der Vater zu Jakobs
+großer Verwunderung; denn er schien ihn auch nicht zu kennen. "Das
+Geschäft will mir nicht von der Hand. Bin so allein und werde jetzt
+alt; doch ist mir ein Geselle zu teuer."
+
+"Aber habt Ihr denn kein Söhnlein, das Euch nach und nach an die Hand
+gehen könnte bei der Arbeit?" forschte der Kleine weiter.
+
+"Ich hatte einen, er hieß Jakob und müßte jetzt ein schlanker,
+gewandter Bursche von zwanzig Jahren sein, der mir tüchtig unter die
+Arme greifen könnte. Ha, das müßte ein Leben sein! Schon als er
+zwölf Jahre alt war, zeigte er sich so anstellig und geschickt und
+verstand schon manches vom Handwerk, und hübsch und angenehm war er
+auch; der hätte mir eine Kundschaft hergelockt, daß ich bald nicht
+mehr geflickt, sondern nichts als Neues geliefert hätte! Aber so
+geht's in der Welt!"
+
+"Wo ist denn aber Euer Sohn?" fragte Jakob mit zitternder Stimme
+seinen Vater.
+
+"Das weiß Gott", antwortete er, "vor sieben Jahren, ja, so lange
+ist's jetzt her, wurde er uns vom Markte weg gestohlen." 'Vor sieben
+Jahren!" rief Jakob mit Entsetzen.
+
+"Ja, kleiner Herr, vor sieben Jahren; ich weiß noch wie heute, wie
+mein Weib nach Hause kam, heulend und schreiend, das Kind sei den
+ganzen Tag nicht zurückgekommen, sie aber überall geforscht und
+gesucht und es nicht gefunden. Ich habe es immer gedacht und gesagt,
+daß es so kommen würde; er Jakob war ein schönes Kind, das muß man
+sagen; da war meine Frau stolz auf ihn und sah es gerne, wenn ihn die
+Leute lobten, und schickte ihn oft mit Gemüse und dergleichen in
+vornehme Häuser. Das war schon recht; er wurde allemal reichlich
+beschenkt; aber, sagte ich, gib acht! Die Stadt ist groß; viele
+schlechte Leute wohnen da, gib mir auf den Jakob acht! Und so war es,
+wie ich sagte. Kommt einmal ein altes, häßliches Weib auf den Markt,
+feilscht um Früchte und Gemüse und kauft am Ende so viel, daß sie es
+nicht selbst tragen kann. Mein Weib, die mitleidige Seele, gibt ihr
+den Jungen mit und--hat ihn zur Stunde nicht mehr gesehen."
+
+"Und das ist jetzt sieben Jahre, sagt Ihr?"
+
+"Sieben Jahre wird es im Frühling. Wir ließen ihn ausrufen, wir
+gingen von Haus zu Haus und fragten; manche hatten den hübschen
+Jungen gekannt und liebgewonnen und suchten jetzt mit uns, alles
+vergeblich. Auch die Frau, welche das Gemüse gekauft hatte, wollte
+niemand kennen; aber ein steinaltes Weib, die schon neunzig Jahre
+gelebt hatte, sagte, es könne wohl die böse Fee Kräuterweis gewesen
+sein, die alle fünfzig Jahre einmal in die Stadt komme, um sich
+allerlei einzukaufen."
+
+So sprach Jakobs Vater und klopfte dabei seine Schuhe weidlich und
+zog den Draht mit beiden Fäusten weit hinaus. Dem Kleinen aber wurde
+es nach und nach klar, was mit ihm vorgegangen, daß er nämlich nicht
+geträumt, sondern daß er sieben Jahre bei der bösen Fee als
+Eichhörnchen gedient habe. Zorn und Gram erfüllten sein Herz so sehr,
+daß es beinahe zerspringen wollte. Sieben Jahre seiner Jugend hatte
+ihm die Alte gestohlen, und was hatte er für Ersatz dafür? Daß er
+Pantoffeln von Kokosnüssen blank putzen, daß er ein Zimmer mit
+gläsernem Fußboden reinmachen konnte? Daß er von den Meerschweinchen
+alle Geheimnisse der Küche gelernt hatte? Er stand eine gute Weile
+so da und dachte über sein Schicksal nach; da fragte ihn endlich sein
+Vater: "Ist Euch vielleicht etwas von meiner Arbeit gefällig, junger
+Herr? Etwa ein Paar neue Pantoffeln oder", setzte er lächelnd hinzu,
+"vielleicht ein Futteral für Eure Nase?"
+
+"Was wollt Ihr nur mit meiner Nase?" fragte Jakob, "warum sollte ich
+denn ein Futteral dazu brauchen?"
+
+"Nun", entgegnete der Schuster, "jeder nach seinem Geschmack; aber
+das muß ich Euch sagen, hätte ich diese schreckliche Nase, ein
+Futteral ließ ich mir darüber machen von rosenfarbigem Glanzleder.
+Schaut, da habe ich ein schönes Stückchen zur Hand; freilich würde
+man eine Elle wenigstens dazu brauchen. Aber wie gut wäret Ihr
+verwahrt, kleiner Herr; so, weiß ich gewiß, stoßt Ihr Euch an jedem
+Türpfosten, an jedem Wagen, dem Ihr ausweichen wollet."
+
+Der Kleine stand stumm vor Schrecken; er belastete seine Nase, sie
+war dick und wohl zwei Hände lang! So hatte also die Alte auch seine
+Gestalt verwandelt! Darum kannte ihn also die Mutter nicht? Darum
+schalt man ihn einen häßlichen Zwerg?! "Meister!" sprach er halb
+weinend zu dem Schuster, "habt Ihr keinen Spiegel bei der Hand, worin
+ich mich beschauen könnte?"
+
+"Junger Herr", erwiderte der Vater mit Ernst, "Ihr habt nicht gerade
+eine Gestalt empfangen, die Euch eitel machen könnte, und Ihr habt
+nicht Ursache, alle Stunden in den Spiegel zu gucken. Gewöhnt es
+Euch ab, es ist besonders bei Euch eine lächerliche Gewohnheit."
+
+"Ach, so laßt mich doch in den Spiegel schauen", rief der Kleine,
+"gewiß, es ist nicht aus Eitelkeit!"
+
+"Lasset mich in Ruhe, ich hab' keinen im Vermögen; meine Frau hat ein
+Spiegelchen, ich weiß aber nicht, wo sie es verborgen. Müßt Ihr aber
+durchaus in den Spiegel gucken, nun, über der Straße hin wohnt Urban,
+der Barbier, der hat einen Spiegel, zweimal so groß als Euer Kopf;
+gucket dort hinein, und indessen guten Morgen!"
+
+Mit diesen Worten schob ihn der Vater ganz gelinde zur Bude hinaus,
+schloß die Tür hinter ihm zu und setzte sich wieder zur Arbeit. Der
+Kleine aber ging sehr niedergeschlagen über die Straße zu Urban, dem
+Barbier, den er noch aus früheren Zeiten wohl kannte. "Guten Morgen,
+Urban", sprach er zu ihm, "ich komme, Euch um eine Gefälligkeit zu
+bitten; seid so gut und lasset mich ein wenig in Euren Spiegel
+schauen!"
+
+"Mit Vergnügen, dort steht er", rief der Barbier lachend, und seine
+Kunden, denen er den Bart scheren sollte, lachten weidlich mit. "Ihr
+seid ein hübsches Bürschchen, schlank und fein, ein Hälschen wie ein
+Schwan, Händchen wie eine Königin, und ein Stumpfnäschen, man kann es
+nicht schöner sehen. Ein wenig eitel seid Ihr darauf, das ist wahr;
+aber beschauet Euch immer! Man soll nicht von mir sagen, ich habe
+Euch aus Neid nicht in meinen Spiegel schauen lassen."
+
+So sprach der Barbier, und wieherndes Gelächter fällte die Baderstube.
+Der Kleine aber war indes vor den Spiegel getreten und hatte sich
+beschaut. Tränen traten ihm in die Augen. "Ja, so konntest du
+freilich deinen Jakob nicht wiedererkennen, liebe Mutter", sprach er
+zu sich, "so war er nicht anzuschauen in den Tagen der Freude, wo du
+gerne mit ihm prangtest vor den Leuten!" Seine Augen waren klein
+geworden wie die der Schweine, seine Nase war ungeheuer und hing über
+Mund und Kinn herunter, der Hals schien gänzlich weggenommen worden
+zu sein; denn sein Kopf stak tief in den Schultern, und nur mit den
+größten Schmerzen konnte er ihn rechts und links bewegen. Sein
+Körper war noch so groß als vor sieben Jahren, da er zwölf Jahre alt
+war; aber wenn andere vom zwölften bis ins zwanzigste in die Höhe
+wachsen, so wuchs er in die Breite, der Rücken und die Brust waren
+weit ausgebogen und waren anzusehen wie ein kleiner, aber sehr dick
+gefällter Sack; dieser dicke Oberleib saß auf kleinen, schwachen
+Beinchen, die dieser Last nicht gewachsen schienen, aber um so größer
+waren die Arme, die ihm am Leib herabhingen, sie hatten die Größe wie
+die eines wohlgewachsenen Mannes, seine Hände waren grob und
+braungelb, seine Finger lang und spinnenartig, und wenn er sie recht
+ausstreckte, konnte er damit auf den Boden reichen, ohne daß er sich
+bückte. So sah er aus, der kleine Jakob, zum mißgestalteten Zwerg
+war er geworden.
+
+Jetzt gedachte er auch jenes Morgens, an welchem das alte Weib an die
+Körbe seiner Mutter getreten war. Alles, was er damals an ihr
+getadelt hatte, die lange Nase, die häßlichen Finger, alles hatte sie
+ihm angetan, und nur den langen, zitternden Hals hatte sie gänzlich
+weggelassen.
+
+"Nun, habt Ihr Euch jetzt genug beschaut, mein Prinz?" sagte der
+Barbier, indem er zu ihm trat und ihn lachend betrachtete. "Wahrlich,
+wenn man sich dergleichen träumen lassen wollte, so komisch könnte
+es einem im Traume nicht vorkommen. Doch ich will Euch einen
+Vorschlag machen, kleiner Mann. Mein Barbierzimmer ist zwar sehr
+besucht, aber doch seit neuerer Zeit nicht so, wie ich wünsche. Das
+kommt daher, weil mein Nachbar, der Barbier Schaum, irgendwo einen
+Riesen aufgefunden hat, der ihm die Kunden ins Haus lockt. Nun, ein
+Riese zu werden, ist gerade keine Kunst, aber so ein Männchen wie Ihr,
+ja, das ist schon ein ander Ding. Tretet bei mir in Dienste,
+kleiner Mann, Ihr sollt Wohnung, Essen, Trinken, Kleider, alles sollt
+Ihr haben; dafür stellt Ihr Euch morgens unter meine Türe und ladet
+die Leute ein, hereinzukommen. Ihr schlaget den Seifenschaum,
+reichet den Kunden das Handtuch und seid versichert, wir stehen uns
+beide gut dabei; ich bekomme mehr Kunden als jener mit dem Riesen,
+und jeder gibt Euch gerne noch ein Trinkgeld."
+
+Der Kleine war in seinem Innern empört über den Vorschlag, als
+Lockvogel für einen Barbier zu dienen. Aber mußte er sich nicht
+diesen Schimpf geduldig gefallen lassen? Er sagte dem Barbier daher
+ganz ruhig, daß er nicht Zeit habe zu dergleichen Diensten, und ging
+weiter.
+
+Hatte das böse alte Weib seine Gestalt unterdrückt, so hatte sie doch
+seinem Geist nichts anhaben können, das fühlte er wohl; denn er
+dachte und fühlte nicht mehr, wie er vor sieben Jahren getan; nein,
+er glaubte in diesem Zeitraum weiser, verständiger geworden zu sein;
+er trauerte nicht um seine verlorene Schönheit, nicht über diese
+häßliche Gestalt, sondern nur darüber, daß er wie ein Hund von der
+Türe seines Vaters gejagt werde. Darum beschloß er, noch einen
+Versuch bei seiner Mutter zu machen.
+
+Er trat zu ihr auf den Markt und bat sie, ihm ruhig zuzuhören. Er
+erinnerte sie an jenen Tag, an welchem er mit dem alten Weibe
+gegangen, er erinnerte sie an alle einzelnen Vorfälle seiner Kindheit,
+erzählte ihr dann, wie er sieben Jahre als Eichhörnchen gedient habe
+bei der Fee und wie sie ihn verwandelte, weil er sie damals getadelt.
+Die Frau des Schusters wußte nicht, was sie denken sollte. Alles
+traf zu, was er ihr von seiner Kindheit erzählte, aber wenn er davon
+sprach, daß er sieben Jahre lang ein Eichhörnchen gewesen sei, da
+sprach sie: "Es ist unmöglich, und es gibt keine Feen", und wenn sie
+ihn ansah, so verabscheute sie den häßlichen Zwerg und glaubte nicht,
+daß dies ihr Sohn sein könne. Endlich hielt sie es fürs beste, mit
+ihrem Manne darüber zu sprechen. Sie raffte also ihre Körbe zusammen
+und hieß ihn mitgehen. So kamen sie zu der Bude des Schusters.
+
+"Sieh einmal", sprach sie zu diesem, "der Mensch da will unser
+verlorner Jakob sein. Er hat mir alles erzählt, wie er uns vor
+sieben Jahren gestohlen wurde und wie er von einer Fee verzaubert
+worden sei."
+
+"So?" unterbrach sie der Schuster mit Zorn, "hat er dir dies erzählt?
+Warte, du Range! Ich habe ihm alles erzählt noch vor einer Stunde,
+und jetzt geht er hin, dich so zu foppen! Verzaubert bist du worden,
+mein Söhnchen? Warte doch, ich will dich wieder entzaubern." Dabei
+nahm er ein Bündel Riemen, die er eben zugeschnitten hatte, sprang
+auf den Kleinen zu und schlug ihn auf den hohen Rücken und auf die
+langen Arme, daß der Kleine vor Schmerz aufschrie und weinend
+davonlief.
+
+In jener Stadt gibt es, wie überall, wenige mitleidige Seelen, die
+einen Unglücklichen, der zugleich etwas Lächerliches an sich trägt,
+unterstützen. Daher kam es, daß der unglückliche Zwerg den ganzen
+Tag ohne Speise und Trank blieb und abends die Treppen einer Kirche,
+so hart und kalt sie waren, zum Nachtlager wählen mußte.
+
+Als ihn aber am nächsten Morgen die ersten Strahlen der Sonne
+erweckten, da dachte er ernstlich darüber nach, wie er sein Leben
+fristen könne, da ihn Vater und Mutter verstoßen. Er fühlte sich zu
+stolz, um als Aushängeschild eines Barbiers zu dienen, er wollte
+nicht zu einem Possenreißer sich verdingen und sich um Geld sehen
+lassen. Was sollte er anfangen? Da fiel ihm mit einemmal bei, daß
+er als Eichhörnchen große Fortschritte in der Kochkunst gemacht habe;
+er glaubte nicht mit Unrecht, hoffen zu dürfen, daß er es mit manchem
+Koch aufnehmen könne; er beschloß, seine Kunst zu benützen.
+
+Sobald es daher lebhafter wurde auf den Straßen und der Morgen ganz
+heraufgekommen war, trat er zuerst in die Kirche und verrichtete sein
+Gebet. Dann trat er seinen Weg an. Der Herzog, der Herr des Landes,
+o Herr, war ein bekannter Schlemmer und Lecker, der eine gute Tafel
+liebte und seine Köche in allen Weltteilen aufsuchte. Zu seinem
+Palast begab sich der Kleine. Als er an die äußerste Pforte kam,
+fragten die Türhüter nach seinem Begehr und hatten ihren Spott mit
+ihm; er aber verlangte nach dem Oberküchenmeister. Sie lachten und
+führten ihn durch die Vorhöfe, und wo er hinkam, blieben die Diener
+stehen, schauten nach ihm, lachten weidlich und schlossen sich an, so
+daß nach und nach ein ungeheurer Zug von Dienern aller Art sich die
+Treppe des Palastes hinaufbewegte; die Stallknechte warfen ihre
+Striegel weg, die Läufer liefen, was sie konnten, die Teppichbreiter
+vergaßen, die Teppiche auszuklopfen, alles drängte und trieb sich, es
+war ein Gefühl, als sei der Feind vor den Toren, und das Geschrei:
+"Ein Zwerg, ein Zwerg! Habt ihr den Zwerg gesehen?" fällte die Lüfte.
+
+Da erschien der Aufseher des Hauses mit grimmigem Gesicht, eine
+ungeheure Peitsche in der Hand, in der Türe. "Um des Himmels willen,
+ihr Hunde, was macht ihr solchen Lärm! Wisset ihr nicht, daß der
+Herr noch schläft?" Und dabei schwang er die Geißel und ließ sie
+unsanft auf den Rücken einiger Stallknechte und Türhalter
+niederfallen.
+
+"Ach, Herr!" riefen sie, "seht Ihr denn nicht? Da bringen wir einen
+Zwerg, einen Zwerg, wie Ihr noch keinen gesehen."
+
+Der Aufseher des Palastes zwang sich mit Mühe, nicht laut aufzulachen,
+als er des Kleinen ansichtig wurde; denn er fürchtete, durch Lachen
+seiner Würde zu schaden. Er trieb daher mit der Peitsche die übrigen
+hinweg, führte den Kleinen ins Haus und fragte nach seinem Begehr.
+Als er hörte, jener wolle zum Küchenmeister, erwiderte er--"Du irrst
+dich, mein Söhnchen; zu mir, dem Aufseher des Hauses, willst du; du
+willst Leibzwerg werden beim Herzog; ist es nicht also?"
+
+"Nein, Herr!" antwortete der Zwerg. "Ich bin ein geschickter Koch
+und erfahren in allerlei seltenen Speisen; wollet mich zum
+Oberküchenmeister bringen; vielleicht kann er meine Kunst brauchen."
+
+"Jeder nach seinem Willen, kleiner Mann; übrigens bist du doch ein
+unbesonnener Junge. In die Küche! Als Leibzwerg hättest du keine
+Arbeit gehabt und Essen und Trinken nach Herzenslust und schöne
+Kleider. Doch, wir wollen sehen, deine Kochkunst wird schwerlich so
+weit reichen, als ein Mundkoch des Herren nötig hat, und zum
+Küchenjungen bist du zu gut." Bei diesen Worten nahm ihn der Aufseher
+des Palastes bei der Hand und führte ihn in die Gemächer des
+Oberküchenmeisters.
+
+"Gnädiger Herr", sprach dort der Zwerg und verbeugte sich so tief,
+daß er mit der Nase den Fußteppich berührte, "brauchet Ihr keinen
+geschickten Koch?"
+
+Der Oberküchenmeister betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen,
+brach dann in lautes Lachen aus und sprach: "Wie?" rief er, "du ein
+Koch? Meinst du, unsere Herde seien so niedrig, daß du nur auf einen
+hinaufschauen kannst, wenn du dich auch auf die Zehen stellst und den
+Kopf recht aus den Schultern herausarbeitest? O lieber Kleiner! Wer
+dich zu mir geschickt hat, um dich als Koch zu verdingen, der hat
+dich zum Narren gehabt." So sprach der Oberküchenmeister und lachte
+weidlich, und mit ihm lachten der Aufseher des Palastes und alle
+Diener, die im Zimmer waren.
+
+Der Zwerg aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen. "Was liegt
+an einem Ei oder zweien, an ein wenig Sirup und Wein, an Mehl und
+Gewürze in einem Hause, wo man dessen genug hat?" sprach er. "Gebet
+mir irgendeine leckerhafte Speise zu bereiten auf, schaffet mir, was
+ich dazu brauche, und sie soll vor Euren Augen schnell bereitet sein,
+und Ihr sollet sagen müssen, er ist ein Koch nach Regel und Recht."
+Solche und ähnliche Reden führte der Kleine, und es war wunderlich
+anzuschauen, wie es dabei aus seinen kleinen Äuglein hervorblitzte,
+wie seine lange Nase sich hin und her schlängelte und seine dünnen
+Spinnenfinger seine Rede begleiteten.
+
+"Wohlan!" rief der Küchenmeister und nahm den Aufseher des Palastes
+unter dem Arme, "wohlan, es sei um des Spaßes willen; lasset uns zur
+Küche gehen!" Sie gingen durch mehrere Säle und Gänge und kamen
+endlich in die Küche. Es war dies ein großes, weitläufiges Gebäude,
+herrlich eingerichtet; auf zwanzig Herden brannten beständig Feuer;
+ein klares Wasser, das zugleich zum Fischbehälter diente, floß mitten
+durch sie, in Schränken von Marmor und köstlichem Holz waren die
+Vorräte aufgestellt, die man immer zur Hand haben mußte, und zur
+Rechten und Linken waren zehn Säle, in welchen alles aufgespeichert
+war, was man in allen Ländern von Frankistan und selbst im
+Morgenlande Köstliches und Leckeres für den Gaumen erfunden.
+Küchenbedienstete aller Art liefen umher und rasselten und hantierten
+mit Kesseln und Pfannen, mit Gabeln und Schaumlöffeln; als aber der
+Oberküchenmeister in die Küche eintrat, blieben sie alle regungslos
+stehen, und nur das Feuer hörte man noch knistern und das Bächlein
+rieseln. "Was hat der Herr heute zum Frühstück befohlen?" fragte der
+Meister den ersten Frühstücksmacher, einen alten Koch. "Herr, die
+dänische Suppe hat er geruht zu befehlen und rote Hamburger Klößchen."
+
+"Gut", sprach der Küchenmeister weiter, "hast du gehört, was der Herr
+speisen will? Getraust du dich, diese schwierigen Speisen zu
+bereiten? Die Klößchen bringst du auf keinen Fall heraus, das ist
+ein Geheimnis."
+
+"Nichts leichter als dies", erwiderte zu allgemeinem Erstaunen der
+Zwerg; denn er hatte diese Speisen als Eichhörnchen oft gemacht;
+"nichts leichter! Man gebe mir zu der Suppe die und die Kräuter,
+dies und jenes Gewürz, Fett von einem wilden Schwein, Wurzeln und
+Eier; zu den Klößchen aber", sprach er leiser, daß es nur der
+Küchenmeister und der Frühstücksmacher hören konnten, "zu den
+Klößchen brauche ich viererlei Fleisch, etwas Wein, Entenschmalz,
+Ingwer und ein gewisses Kraut, das man Magentrost heißt."
+
+"Hai Bei St. Benedikt! Bei welchem Zauberer hast du gelernt?" rief
+der Koch mit Staunen. "Alles bis auf ein Haar hat er gesagt, und das
+Kräutlein Magentrost haben wir selbst nicht gewußt; ja, das muß es
+noch angenehmer machen. O du Wunder von einem Koch!"
+
+"Das hätte ich nicht gedacht", sagte der Oberküchenmeister, "doch
+lassen wir ihn die Probe machen; gebt ihm die Sachen, die er verlangt,
+Geschirr und alles, und lasset ihn das Frühstück bereiten."
+
+Man tat, wie er befohlen, und rüstete alles auf dem Herde zu; aber da
+fand es sich, daß der Zwerg kaum mit der Nase bis an den Herd reichen
+konnte. Man setzte daher ein paar Stühle zusammen, legte eine
+Marmorplatte darüber und lud den kleinen Wundermann ein, sein
+Kunststück zu beginnen. In einem großen Kreise standen die Köche,
+Küchenjungen, Diener und allerlei Volk umher und sahen zu und
+staunten, wie ihm alles so flink und fertig von der Hand ging, wie er
+alles so reinlich und niedlich bereitete. Als er mit der Zubereitung
+fertig war, befahl er, beide Schüsseln ans Feuer zu setzen und genau
+so lange kochen zu lassen, bis er rufen werde; dann fing er an zu
+zählen, eins, zwei drei und so fort, und gerade als er fünfhundert
+gezählt hatte, rief er: "Halt!" Die Töpfe wurden weggesetzt, und der
+Kleine lud den Küchenmeister ein, zu kosten.
+
+Der Mundkoch ließ sich von einem Küchenjungen einen goldenen Löffel
+reichen, spülte ihn im Bach und überreichte ihn dem Oberküchenmeister.
+Dieser trat mit feierlicher Miene an den Herd, nahm von den Speisen,
+kostete, drückte die Augen zu, schnalzte vor Vergnügen mit der Zunge
+und sprach dann: "Köstlich, bei des Herzogs Leben, köstlich! Wollet
+Ihr nicht auch ein Löffelchen zu Euch nehmen, Aufseher des Palastes?"
+
+Dieser verbeugte sich, nahm den Löffel, versuchte und war vor
+Vergnügen und Lust außer sich. "Eure Kunst in Ehren, lieber
+Frühstücksmacher, Ihr seid ein erfahrener Koch; aber so herrlich habt
+Ihr weder die Suppe noch die Hamburger Klöße machen können!"
+
+Auch der Koch kostete jetzt, schüttelte dann dem Zwerg ehrfurchtsvoll
+die Hand und sagte: "Kleiner! Du bist Meister in der Kunst, ja, das
+Kräutlein Magentrost, das gibt allem einen ganz eigenen Reiz."
+
+In diesem Augenblick kam der Kammerdiener des Herzogs in die Küche
+und berichtete, daß der Herr das Frühstück verlange. Die Speisen
+wurden nun auf silberne Platten gelegt und dem Herzog zugeschickt;
+der Oberküchenmeister aber nahm den Kleinen in sein Zimmer und
+unterhielt sich mit ihm. Kaum waren sie aber halb so lange da, als
+man ein Paternoster spricht (es ist dies das Gebet der Franken, o
+Herr, und dauert nicht halb so lange als das Gebet der Gläubigen), so
+kam schon ein Bote und rief den Oberküchenmeister zum Herrn. Er
+kleidete sich schnell in sein Festkleid und folgte dem Boten.
+
+Der Herzog sah sehr vergnügt aus. Er hatte alles aufgezehrt, was auf
+den silbernen Platten gewesen war, und wischte sich eben den Bart ab,
+als der Oberküchenmeister zu ihm eintrat. "Höre, Küchenmeister",
+sprach er, "ich bin mit deinen Köchen bisher immer sehr zufrieden
+gewesen; aber sage mir, wer hat heute mein Frühstück bereitet? So
+köstlich war es nie, seit ich auf dem Thron meiner Väter sitze; sage
+an, wie er heißt, der Koch, daß wir ihm einige Dukaten zum Geschenk
+schicken."
+
+"Herr, das ist eine wunderbare Geschichte", antwortete der
+Oberküchenmeister und erzählte, wie man ihm heute früh einen Zwerg
+gebracht, der durchaus Koch werden wollte und wie sich dies alles
+begeben. Der Herzog verwunderte sich höchlich, ließ den Zwerg vor
+sich rufen und fragte ihn aus, wer er sei und woher er komme. Da
+konnte nun der arme Jakob freilich nicht sagen, daß er verzaubert
+worden sei und früher als Eichhörnchen gedient habe; doch blieb er
+bei der Wahrheit, indem er erzählte, er sei jetzt ohne Vater und
+Mutter und habe bei einer alten Frau kochen gelernt. Der Herzog
+fragte nicht weiter, sondern ergötzte sich an der sonderbaren Gestalt
+seines neuen Kochs.
+
+"Willst du bei mir bleiben", sprach er, "so will ich dir jährlich
+fünfzig Dukaten, ein Festkleid und noch überdies zwei Paar
+Beinkleider reichen lassen. Dafür mußt du aber täglich mein
+Frühstück selbst bereiten, mußt angeben, wie das Mittagessen gemacht
+werden soll, und Oberhaupt dich meiner Küche annehmen. Da jeder in
+meinem Palast seinen eigenen Namen von mir empfängt, so sollst du
+Nase heißen und die Würde eines Unterküchenmeisters bekleiden."
+
+Der Zwerg Nase fiel nieder vor dem mächtigen Herzog in Frankenland,
+küßte ihm die Füße und versprach, ihm treu zu dienen.
+
+So war nun der Kleine fürs erste versorgt, und er machte seinem Amt
+Ehre. Denn man kann sagen, daß der Herzog ein ganz anderer Mann war,
+während der Zwerg Nase sich in seinem Hause aufhielt. Sonst hatte es
+ihm oft beliebt, die Schüsseln oder Platten, die man ihm auftrug, den
+Köchen an den Kopf zu werfen; ja, dem Oberküchenmeister selbst warf
+er im Zorn einmal einen gebackenen Kalbsfaß, der nicht weich genug
+geworden war, so heftig an die Stirne, daß er umfiel und drei Tage zu
+Bett liegen mußte. Der Herzog machte zwar, was er im Zorn getan,
+durch einige Hände voll Dukaten wieder gut, aber dennoch war nie ein
+Koch ohne Zittern und Zagen mit den Speisen zu ihm gekommen. Seit
+der Zwerg im Hause war, schien alles wie durch Zauber umgewandelt.
+Der Herr aß jetzt statt dreimal des Tages fünfmal, um sich an der
+Kunst seines kleinsten Dieners recht zu laben, und dennoch verzog er
+nie eine Miene zum Unmut. Nein, er fand alles neu, trefflich, war
+leutselig und angenehm und wurde von Tag zu Tag fetter.
+
+Oft ließ er mitten unter der Tafel den Küchenmeister und den Zwerg
+Nase rufen, setzte den einen rechts, den anderen links zu sich und
+schob ihnen mit seinen eigenen Fingern einige Bissen der köstlichsten
+Speisen in den Mund, eine Gnade, welche sie beide wohl zu schätzen
+wußten.
+
+Der Zwerg war das Wunder der Stadt. Man erbat sich flehentlich
+Erlaubnis vom Oberküchenmeister, den Zwerg kochen zu sehen, und
+einige der vornehmsten Männer hatten es so weit gebracht beim Herzog,
+daß ihre Diener in der Küche beim Zwerg Unterrichtsstunden genießen
+durften, was nicht wenig Geld eintrug; denn jeder zahlte täglich
+einen halben Dukaten. Und um die übrigen Köche bei guter Laune zu
+erhalten und sie nicht neidisch auf ihn zu machen, überließ ihnen
+Nase dieses Geld, das die Herren für den Unterricht ihrer Köche
+zahlen mußten.
+
+So lebte Nase beinahe zwei Jahre in äußerlichem Wohlleben und Ehre,
+und nur der Gedanke an seine Eltern betrübte ihn; so lebte er, ohne
+etwas Merkwürdiges zu erfahren, bis sich folgender Vorfall ereignete.
+Der Zwerg Nase war besonders geschickt und glücklich in seinen
+Einkäufen. Daher ging er, so oft es ihm die Zeit erlaubte, immer
+selbst auf den Markt, um Geflügel und Früchte einzukaufen. Eines
+Morgens ging er auch auf den Gänsemarkt und forschte nach schweren,
+fetten Gänsen, wie sie der Herr liebte. Er war musternd schon
+einigemal auf und ab gegangen. Seine Gestalt, weit entfernt, hier
+Lachen und Spott zu erregen, gebot Ehrfurcht; denn man erkannte ihn
+als den berühmten Mundkoch des Herzogs, und jede Gänsefrau fühlte
+sich glücklich, wenn er ihr die Nase zuwandte.
+
+Da sah er ganz am Ende einer Reihe in einer Ecke eine Frau sitzen,
+die auch Gänse feil hatte, aber nicht wie die übrigen ihre Ware
+anpries; zu dieser trat er und maß und wog ihre Gänse. Sie waren,
+wie er sie wünschte, und er kaufte drei samt dem Käfig, lud sie auf
+seine breiten Schultern und trat den Rückweg an. Da kam es ihm
+sonderbar vor, daß nur zwei von diesen Gänsen schnatterten und
+schrien, wie rechte Gänse zu tun pflegen, die dritte aber ganz still
+und in sich gekehrt dasaß und Seufzer ausstieß und ächzte wie ein
+Mensch--"Die ist halbkrank", sprach er vor sich hin, "ich muß eilen,
+daß ich sie umbringe und zurichte." Aber die Gans antwortete ganz
+deutlich und laut:
+
+"Stichst du mich, So beiß' ich dich. Drückst du mir die Kehle ab,
+Bring' ich dich ins frühe Grab."
+
+Ganz erschrocken setzte der Zwerg Nase seinen Käfig nieder, und die
+Gans sah ihn mit schönen, klugen Augen an und seufzte.
+
+"Ei der Tausend!" rief Nase. "Sie kann sprechen, Jungfer Gans? Das
+hätte ich nicht gedacht. Na, sei Sie nur nicht ängstlich! Man weiß
+zu leben und wird einem so seltenen Vogel nicht zu Leibe gehen. Aber
+ich wollte wetten, Sie ist nicht von jeher in diesen Federn gewesen.
+War ich ja selbst einmal ein schnödes Eichhörnchen."
+
+"Du hast recht", erwiderte die Gans, "wenn du sagst, ich sei nicht in
+dieser schmachvollen Hülle geboren worden. Ach, an meiner Wiege
+wurde es mir nicht gesungen, daß Mimi, des großen Wetterbocks Tochter,
+in der Küche eines Herzogs getötet werden soll!"
+
+"Sei Sie doch ruhig, liebe Jungfer Mimi", tröstete der Zwerg. "So
+wahr ich ein ehrlicher Kerl und Unterküchenmeister Seiner Durchlaucht
+bin, es soll Ihr keiner an die Kehle. Ich will Ihr in meinen eigenen
+Gemächern einen Stall anweisen, Futter soll Sie genug haben, und
+meine freie Zeit werde ich Ihrer Unterhaltung widmen; den übrigen
+Küchenmenschen werde ich sagen, daß ich eine Gans mit allerlei
+besonderen Kräutern für den Herzog mäste, und sobald sich Gelegenheit
+findet, setze ich Sie in Freiheit."
+
+Die Gans dankte ihm mit Tränen; der Zwerg aber tat, wie er
+versprochen, schlachtete die zwei anderen Gänse, für Mimi aber baute
+er einen eigenen Stall unter dem Vorwande, sie für den Herzog ganz
+besonders zuzurichten. Er gab ihr auch kein gewöhnliches Gänsefutter,
+sondern versah sie mit Backwerk und süßen Speisen.
+
+So oft er freie Zeit hatte, ging er hin, sich mit ihr zu unterhalten
+und sie zu trösten. Sie erzählten sich auch gegenseitig ihre
+Geschichten, und Nase erfuhr auf diesem Wege, daß die Gans eine
+Tochter des Zauberers Wetterbock sei, der auf der Insel Gotland lebe.
+Er sei in Streit geraten mit einer alten Fee, die ihn durch Ränke
+und List überwunden und sie zur Rache in eine Gans verwandelt und
+weit hinweg bis hierher gebracht habe. Als der Zwerg Nase ihr seine
+Geschichte ebenfalls erzählt hatte, sprach sie: "Ich bin nicht
+unerfahren in "lesen Sachen. Mein Vater hat mir und meinen
+Schwestern einige Anleitung gegeben, so viel er nämlich davon
+mitteilen durfte. Die Geschichte mit dem Streit am Kräuterkorb,
+deine plötzliche Verwandlung, als du an jenem Kräutlein rochst, auch
+einige Worte der Alten, die du mir sagtest, beweisen mir, daß du auf
+Kräuter verzaubert bist, das heißt, wenn du das Kraut auffindest, das
+sich die Fee bei deiner Verzauberung gedacht hat, so kannst du erlöst
+werden." Es war dies ein geringer Trost für den Kleinen; denn wo
+sollte er das Kraut auffinden? Doch dankte er ihr und schöpfte
+einige Hoffnung.
+
+Um diese Zeit bekam der Herzog einen Besuch von einem benachbarten
+Fürsten, seinem Freunde. Er ließ daher seinen Zwerg Nase vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du mir
+zeigen mußt, ob du mir treu dienst und Meister deiner Kunst bist.
+Dieser Fürst, der bei mir zu Besuch ist, speist bekanntlich außer mir
+am besten und ist ein großer Kenner einer feinen Küche und ein weiser
+Mann. Sorge nun dafür, daß meine Tafel täglich also besorgt werde,
+daß er immer mehr in Erstaunen gerät. Dabei darfst du, bei meiner
+Ungnade, so lange er da ist, keine Speise zweimal bringen. Dafür
+kannst du dir von meinem Schatzmeister alles reichen lassen, was du
+nur brauchst. Und wenn du Gold und Diamanten in Schmalz baden mußt
+so tu es! Ich will lieber ein armer Mann werden, als erröten vor ihm."
+
+So sprach der Herzog! Der Zwerg aber sagte, indem er sich anständig
+verbeugte: "Es sei, wie du sagst, o Herr! So es Gott der gefällt,
+werde ich alles so machen, daß es diesem Fürsten der Gutschmecker
+wohlgefällt."
+
+Der kleine Koch suchte nun seine ganze Kunst hervor. Er schonte die
+Schätze seines Herrn nicht, noch weniger aber sich selbst. Denn man
+sah ihn den ganzen Tag in eine Wolke von Rauch und Feuer eingehüllt,
+und seine Stimme hallte beständig durch das Gewölbe der Küche; denn
+er befahl als Herrscher den Küchenjungen und niederen Köchen. Herr!
+Ich könnte es machen wie die Kameltreiber von Aleppo, wenn sie in
+ihren Geschichten, die sie den Reisenden erzählen, die Menschen
+herrlich speisen lassen. Sie führen eine ganze Stunde lang alle die
+Gerichte an, die aufgetragen worden sind, und erwecken dadurch große
+Sehnsucht und noch größeren Hunger in ihren Zuhörern, so daß diese
+unwillkürlich die Vorräte öffnen und eine Mahlzeit halten und den
+Kameltreibern reichlich mitteilen; doch ich nicht also.
+
+Der fremde Fürst war schon vierzehn Tage beim Herzog und lebte
+herrlich und in Freuden. Sie speisten des Tages nicht weniger als
+fünfmal, und der Herzog war zufrieden mit der Kunst des Zwerges; denn
+er sah Zufriedenheit auf der Stirne seines Gastes. Am fünfzehnten
+Tage aber begab es sich, daß der Herzog den Zwerg zur Tafel rufen
+ließ, ihn seinem Gast, dem Fürsten, vorstellte und diesen fragte, wie
+er mit dem Zwerg zufrieden sei.
+
+"Du bist ein wunderbarer Koch", antwortete der fremde Fürst, "und
+weißt, was anständig essen heißt. Du hast in der ganzen Zeit, da ich
+hier bin, nicht eine einzige Speise wiederholt und alles trefflich
+bereitet. Aber sage mir doch, warum bringst du so lange nicht die
+Königin der Speisen, die Pastete Souzeraine?"
+
+Der Zwerg war sehr erschrocken; denn er hatte von dieser
+Pastetenkönigin nie gehört; doch faßte er sich und antwortete: "O
+Herr! Noch lange, hoffte ich, sollte dein Angesicht leuchten an
+diesem Hoflager, darum wartete ich mit dieser Speise; denn womit
+sollte dich denn der Koch begrüßen am Tage des Scheidens als mit der
+Königin der Pasteten?"
+
+"So?" entgegnete der Herzog lachend. "Und bei mir wolltest du wohl
+warten bis an meinen Tod, um mich dann noch zu begrüßen? Denn auch
+mir hast du die Pastete noch nie vorgesetzt. Doch denke auf einen
+anderen Scheidegruß; denn morgen mußt du die Pastete auf die Tafel
+setzen."
+
+"Es sei, wie du sagst, Herr!" antwortete der Zwerg und ging. Aber er
+ging nicht vergnügt; denn der Tag seiner Schande und seines Unglücks
+war gekommen. Er wußte nicht, wie er die Pastete machen sollte. Er
+ging daher in seine Kammer und weinte über sein Schicksal.
+
+Da trat die Gans Mimi, die in seinem Gemach umhergehen durfte, zu ihm
+und fragte ihn nach der Ursache seines Jammers. "Stille deine
+Tränen", antwortete sie, als sie von der Pastete Souzeraine gehört,
+"dieses Gericht kam oft auf meines Vaters Tisch, und ich weiß
+ungefähr, was man dazu braucht; du nimmst dies und jenes, so und so
+viel, und wenn es auch nicht durchaus alles ist, was eigentlich dazu
+nötig, die Herren werden keinen so feinen Geschmack haben." So sprach
+Mimi. Der Zwerg aber sprang auf vor Freuden, segnete den Tag, an
+welchem er die Gans gekauft hatte, und schickte sich an, die Königin
+der Pasteten zuzurichten. Er machte zuerst einen kleinen Versuch,
+und siehe, es schmeckte trefflich, und der Oberküchenmeister, dem er
+davon zu kosten gab, pries aufs neue seine ausgebreitete Kunst.
+
+Den anderen Tag setzte er die Pastete in größerer Form auf und
+schickte sie warm, wie sie aus dem Ofen kam, nachdem er sie mit
+Blumenkränzen geschmeckt hatte, auf die Tafel. Er selbst aber zog
+sein bestes Festkleid an und ging in den Speisesaal. Als r eintrat,
+war der Obervorschneider gerade damit beschäftigt, die Pastete zu
+zerschneiden und auf einem silbernen Schäufelein dem Herzog und
+seinem Gaste hinzureichen. Der Herzog tat einen tüchtigen Biß hinein,
+schlug die Augen auf zur Decke und srach, nachdem er geschluckt
+hatte: "Ah, ah, ah! Mit Recht nennt man dies die Königin der
+Pasteten; aber mein Zwerg ist auch der König aller Köche! Nicht also,
+lieber Freund?"
+
+Der Gast nahm einige kleine Bissen zu sich, kostete und prüfte
+aufmerksam und lächelte dabei höhnisch und geheimnisvoll. "Das Ding
+ist recht artig gemacht", antwortete er, indem er den Teller
+hinwegrückte, "aber die Souzeraine ist es denn doch nicht ganz; das
+habe ich mir wohl gedacht."
+
+Da runzelte der Herzog vor Unmut die Stirne und errötete vor
+Beschämung. "Hund von einem Zwerg!" rief er, "wie wagst du es,
+deinem Herrn dies anzutun? Soll ich dir deinen großen Kopf abhacken
+lassen zur Strafe für deine schlechte Kocherei?"
+
+"Ach, Herr! Um des Himmels willen, ich habe das Gericht doch
+zubereitet nach den Regeln der Kunst, es kann gewiß nichts fehlen!"
+so sprach der Zwerg und zitterte.
+
+"Es ist eine Lüge, du Bube!" erwiderte der Herzog und stieß ihn mit
+dem Fuße von sich. "Mein Gast würde sonst nicht sagen, es fehlt
+etwas. Dich selbst will ich zerhacken und backen lassen in eine
+Pastete!"
+
+"Habt Mitleiden!" rief der Kleine und rutschte auf den Knien zu dem
+Gast, dessen Füße er umfaßte. "Saget, was fehlt in dieser Speise,
+daß sie Eurem Gaumen nicht zusagt? Lasset mich nicht sterben wegen
+einer Handvoll Fleisch und Mehl."
+
+"Das wird dir wenig helfen, mein lieber Nase", antwortete der Fremde
+mit Lachen, "das habe ich mir schon gestern gedacht, daß du diese
+Speise nicht machen kannst wie mein Koch. Wisse, es fehlt ein
+Kräutlein, das man hierzulande gar nicht kennt, das Kraut Niesmitlust;
+ohne dieses bleibt die Pastete ohne Würze, und dein Herr wird sie
+nie essen wie ich."
+
+Da geriet der Herrscher in Frankistan in Wut. "Und doch werde ich
+sie essen", rief er mit funkelnden Augen, "denn ich schwöre bei
+meiner fürstlichen Ehre: Entweder zeige ich Euch morgen die Pastete,
+wie Ihr sie verlangst--oder den Kopf dieses Burschen, aufgespießt auf
+dem Tor meines Palastes. Gehe, du Hund, noch einmal gebe ich dir
+vierundzwanzig Stunden Zeit."
+
+So rief der Herzog; der Zwerg aber ging wieder weinend in sein
+Kämmerlein und klagte der Gans sein Schicksal und daß er sterben
+müsse; denn von dem Kraut habe er nie gehört. "Ist es nur dies",
+sprach sie, "da kann ich dir schon helfen; denn mein Vater lehrte
+mich alle Kräuter kennen. Wohl wärest du vielleicht zu einer anderen
+Zeit des Todes gewesen; aber glücklicherweise ist es gerade Neumond,
+und um diese Zeit blüht das Kräutlein. Doch, sage an, sind alte
+Kastanienbäume in der Nähe des Palastes?"
+
+"O ja!" erwiderte Nase mit leichterem Herzen. "Am See, zweihundert
+Schritte vom Haus, steht eine ganze Gruppe; doch warum diese?"
+
+"Nur am Fuße alter Kastanien blüht das Kräutlein", sagte Mimi, "darum
+laß uns keine Zeit versäumen und suchen, was du brauchst; nimm mich
+auf deinen Arm und setze mich im Freien nieder; ich will dir suchen."
+
+Er tat, wie sie gesagt, und ging mit ihr zur Pforte des Palastes.
+Dort aber streckte der Türhüter das Gewehr vor und sprach: "Mein
+guter Nase, mit dir ist's vorbei; aus dem Hause darfst du nicht, ich
+habe den strengsten Befehl darüber."
+
+"Aber in den Garten kann ich doch wohl gehen?" erwiderte der Zwerg.
+"Sei so gut und schicke einen deiner Gesellen zum Aufseher des
+Palastes und frage, ob ich nicht in den Garten gehen und Kräuter
+suchen dürfe?" Der Türhüter tat also, und es wurde erlaubt; denn der
+Garten hatte hohe Mauern, und es war an kein Entkommen daraus zu
+denken. Als aber Nase mit der Gans Mimi ins Freie gekommen war,
+setzte er sie behutsam nieder, und sie ging schnell vor ihm her dem
+See zu, wo die Kastanien standen. Er folgte ihr nur mit beklommenem
+Herzen; denn es war ja seine letzte, einzige Hoffnung; fand sie das
+Kräutlein nicht, so stand sein Entschluß fest, er stürzte sich dann
+lieber in den See, als daß er sich köpfen ließ. Die Gans suchte
+vergebens, sie wandelte unter allen Kastanien, sie wandte mit dem
+Schnabel jedes Gräschen um, es wollte sich nichts zeigen, und sie
+fing aus Mitleid und Angst an zu weinen; denn schon wurde der Abend
+dunkler und die Gegenstände umher waren schwerer zu erkennen.
+
+Da fielen die Blicke des Zwerges über den See hin, und plötzlich rief
+er: "Siehe, siehe, dort über dem See steht noch ein großer, alter
+Baum; laß uns dorthin gehen und suchen, vielleicht blüht dort mein
+Glück."
+
+Die Gans hüpfte und flog voran, und er lief nach, so schnell seine
+kleinen Beine konnten; der Kastanienbaum warf einen großen Schatten,
+und es war dunkel umher, fast war nichts mehr zu erkennen; aber da
+blieb plötzlich die Gans stille stehen, schlug vor Freuden mit den
+Flügeln, fuhr dann schnell mit dem Kopf ins hohe Gras und pflückte
+etwas ab, das sie dem erstaunten Nase zierlich mit dem Schnabel
+überreichte und sprach: "Das ist das Kräutlein, und hier wächst eine
+Menge davon, so daß es dir nie daran fehlen kann."
+
+Der Zwerg betrachtete das Kraut sinnend; ein süßer Duft strömte ihm
+daraus entgegen, der ihn unwillkürlich an die Szene seiner
+Verwandlung erinnerte; die Stengel, die Blätter waren bläulichgrün,
+sie trugen eine brennend rote Blume mit gelbem Rande.
+
+"Gelobt sei Gott!" rief er endlich aus. "Welches Wunder! Wisse, ich
+glaube, es ist dies dasselbe Kraut, das mich aus einem Eichhörnchen
+in diese schändliche Gestalt umwandelte; soll ich den Versuch machen?"
+
+"Noch nicht", bat die Gans. "Nimm von diesem Kraut eine Handvoll mit
+dir, laß uns auf dein Zimmer gehen und dein Geld, und was du sonst
+hast, zusammenraffen, und dann wollen wir die Kraft des Krautes
+versuchen!" Sie taten also und gingen auf seine Kammer zurück, und
+das Herz des Zwerges pochte hörbar vor Erwartung. Nachdem er fünfzig
+oder sechzig Dukaten, die er erspart hatte, einige Kleider und Schuhe
+zusammen in ein Bündel geknüpft hatte, sprach er: "So es Gott
+gefällig ist, werde ich diese Bürde loswerden", steckte seine Nase
+tief in die Kräuter und sog ihren Duft ein.
+
+Da zog und knackte es in allen seinen Gliedern, er fühlte, wie sich
+sein Kopf aus den Schultern hob, er schielte herab auf seine Nase und
+sah sie kleiner und kleiner werden, sein Rücken und seine Brust
+fingen an, sich zu ebnen, und seine Beine wurden länger.
+
+Die Gans sah mit Erstaunen diesem allem zu. "Ha! Was du groß, was
+du schön bist!" rief sie. "Gott sei gedankt, es ist nichts mehr an
+dir von allem, was du vorher warst!"
+
+Da freute sich Jakob sehr, und er faltete die Hände und betete. Aber
+seine Freude ließ ihn nicht vergessen, welchen Dank er der Gans
+schuldig sei; zwar drängte ihn sein Herz, zu seinen Eltern zu gehen;
+doch besiegte er aus Dankbarkeit diesen Wunsch und sprach: "Wem
+anders als dir habe ich es zu danken, daß ich mir selbst
+wiedergeschenkt bin? Ohne dich hätte ich dieses Kraut nimmer
+gefunden, hätte also ewig in jener Gestalt bleiben oder vielleicht
+gar unter dem Beile des Henkers sterben müssen. Wohlan, ich will es
+dir vergelten. Ich will dich zu deinem Vater bringen; er, der
+erfahren ist in jedem Zauber, wird dich leicht entzaubern können."
+Die Gans vergoß Freudentränen und nahm sein Anerbieten an. Jakob kam
+glücklich und unerkannt mit der Gans aus dem Palast und machte sich
+auf den Weg nach dem Meeresstrand, Mimis Heimat, zu.
+
+Was soll ich noch weiter erzählen, daß sie ihre Reise glücklich
+vollendeten, daß Wetterbock seine Tochter entzauberte und den Jakob,
+mit Geschenken beladen, entließ, daß er in seine Vaterstadt zurückkam
+und daß seine Eltern in dem schönen jungen Mann mit Vergnügen ihren
+verlorenen Sohn erkannten, daß er von den Geschenken, die er von
+Wetterbock mitbrachte, sich einen Laden kaufte und reich und
+glücklich wurde?
+
+Nur so viel will ich noch sagen, daß nach seiner Entfernung aus dem
+Palaste des Herzogs große Unruhe entstand; denn als am anderen Tage
+der Herzog seinen Schwur erfüllen und dem Zwerg, wenn er die Kräuter
+nicht gefunden hätte, den Kopf abschlagen lassen wollte, war er
+nirgends zu finden; der Fürst aber behauptete, der Herzog habe ihn
+heimlich entkommen lassen, um sich nicht seines besten Kochs zu
+berauben, und klagte ihn an, daß er wortbrüchig sei. Dadurch
+entstand denn ein großer Krieg zwischen beiden Fürsten, der in der
+Geschichte unter dem Namen "Kräuterkrieg" wohlbekannt ist; es wurde
+manche Schlacht geschlagen, aber am Ende doch Friede gemacht, und
+diesen Frieden nennt man bei uns den "Pastetenfrieden", weil beim
+Versöhnungsfest durch den Koch des Fürsten die Souzeraine, die
+Königin der Pasteten, zubereitet wurde, welche sich der Herr Herzog
+trefflich schmecken ließ.
+
+So führen oft die kleinsten Ursachen zu großen Folgen; und dies, o
+Herr, ist die Geschichte des Zwerges Nase.
+
+So erzählte der Sklave aus Frankistan; nachdem er geendet hatte, ließ
+der Scheik Ali Banu ihm und den anderen Sklaven Früchte reichen, sich
+zu erfrischen, und unterhielt sich, während sie aßen, mit seinen
+Freunden. Die jungen Männer aber, die der Alte eingeführt hatte,
+waren voll Lobes über den Scheik, sein Haus und alle seine
+Einrichtungen. "Wahrlich", sprach der junge Schreiber, "es gibt
+keinen angenehmeren Zeitvertreib als Geschichten anzuhören. Ich
+könnte tagelang so hinsetzen, die Beine untergeschlagen, einen Arm
+aufs Kissen gestützt, die Stirne in die Hand gelegt, und, wenn es
+ginge, des Scheiks große Wasserpfeife in der Hand, und Geschichten
+anhören--so ungefähr stelle ich mir das Leben vor in den Gärten
+Mahomeds."
+
+"So lange Ihr jung seid und arbeiten könnt", sprach der Alte, "kann
+ein solcher träger Wunsch nicht Euer Ernst sein. Aber das gebe ich
+Euch zu, daß ein eigener Reiz darin liegt, etwas erzählen zu hören.
+So alt ich bin, und ich gehe nun ins siebenundsiebzigste Jahr, so
+viel ich in meinem Leben schon gehört habe, so verschmähe ich es doch
+nicht, wenn an der Ecke ein Geschichtenerzähler sitzt und um ihn in
+großem Kreis die Zuhörer, mich ebenfalls hinzusetzen und zuzuhören.
+Man träumt sich ja in die Begebenheiten hinein, die erzählt werden,
+man lebt mit diesen Menschen, mit diesen wundervollen Geistern, mit
+Feen und dergleichen Leuten, die uns nicht alle Tage begegnen, und
+hat nachher, wenn man einsam ist, Stoff, sich alles zu wiederholen,
+wie der Wanderer, der sich gut versehen hat, wenn er durch die Wüste
+reist."
+
+"Ich habe nie so darüber nachgedacht", erwiderte ein anderer der
+jungen Leute, "worin der Reiz solcher Geschichten eigentlich liegt.
+Aber mir geht es wie euch. Schon als Kind konnte man mich, wenn ich
+ungeduldig war, durch eine Geschichte zum Schweigen bringen. Es war
+mir anfangs gleichgültig, von was es handelte, wenn es nur erzählt
+war, wenn nur etwas geschah; wie oft habe ich, ohne zu ermüden, jene
+Fabeln angehört, die weise Männer erfunden und in welche sie einen
+Kern ihrer Weisheit gelegt haben, vom Fuchs und vom törichten Raben,
+vom Fuchs und vom Wolf, viele Dutzend Geschichten vom Löwen und den
+übrigen Tieren. Als ich älter wurde und mehr unter die Menschen kam,
+genügten mir jene kurzen Geschichten nicht mehr; sie mußten schon
+länger sein, mußten von Menschen und ihren wunderbaren Schicksalen
+handeln." "Ja, ich entsinne mich noch wohl dieser Zeit", unterbrach
+ihn einer seiner Freunde. "Du warst es, der uns diesen Drang nach
+Erzählungen beibrachte. Einer Eurer Sklaven wußte so viel zu
+erzählen, als ein Kameltreiber von Mekka nach Medina spricht; wenn er
+fertig war mit seiner Arbeit, mußte er sich zu uns setzen, und da
+baten wir so lange, bis er zu erzählen anfing, und das ging fort und
+fort, bis die Nacht heraufkam."
+
+"Und erschloß sich uns", entgegnete der Schreiber, "erschloß sich uns
+da nicht ein neues, nie gekanntes Reich, das Land der Genien und Feen,
+bebaut mit allen Wundern der Pflanzenwelt, mit reichen Palästen von
+Smaragden und Rubinen, mit riesenhaften Sklaven bevölkert, die
+erschienen, wenn man einen Ring hin und wider dreht oder die
+Wunderlampe reibt oder das Wort Salomos ausspricht, und in goldenen
+Schalen herrliche Speisen bringen. Wir fühlten uns unwillkürlich in
+jenes Land versetzt, wir machten mit Sindbad seine wunderbaren
+Fahrten, wir gingen mit Harun Al-Raschid, dem weisen Beherrscher der
+Gläubigen, abends spazieren, wir kannten Giaffar, seinen Wesir, so
+gut als uns selbst, kurz, wir lebten in jenen Geschichten, wie man
+nachts in Träumen lebt, und es gab keine schönere Tageszeit für uns
+als den Abend, wo der alte Sklave uns erzählte. Aber sage uns, Alter,
+worin liegt es denn eigentlich, daß wir damals so gerne erzählen
+hörten, daß es noch jetzt für uns keine angenehmere Unterhaltung
+gibt?"
+
+Die Bewegung, die im Zimmer entstand, und die Aufforderung zur
+Aufmerksamkeit, die der Sklavenaufseher gab, verhinderte den Alten zu
+antworten. Die jungen Leute wußten nicht, ob sie sich freuen sollten,
+daß sie eine neue Geschichte anhören durften, oder ungehalten sein
+darüber, daß ihr anziehendes Gespräch mit dem Alten unterbrochen
+worden war; aber ein zweiter Sklave erhob sich bereits und begann:
+
+
+
+
+Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Herr, ich bin aus Mogador am Strande des großen Meers, und als der
+großmächtigste Kaiser Muley Ismael über Fez und Marokko herrschte,
+hat sich die Geschichte zugetragen, die du vielleicht nicht ungerne
+hören wirst. Es ist die Geschichte von Abner, dem Juden, der nichts
+gesehen hat.
+
+Juden, wie du weißt, gibt es überall, und sie sind überall Juden:
+pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt,
+verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden,
+ihrer Verschlagenheit sich bewußt und sich etwas darauf einbildend.
+Daß aber doch zuweilen ein Jude durch seine Pfiffe zu Schaden kommt,
+bewies Abner, als er eines Abends zum Tore von Marokko hinaus
+spazierenging.
+
+Er schreitet einher, mit der spitzen Mütze auf dem Kopf, in den
+bescheidenen, nicht übermäßig reinlichen Mantel gehüllt, streichelt
+sich den Knebelbart, und trotz der umherrollenden Augen, welche ewige
+Furcht und Besorgnis und die Begierde, etwas zu erspähen, womit etwas
+zu machen wäre, keinen Augenblick ruhen läßt, leuchtet Zufriedenheit
+aus seiner Miene; er muß diesen Tag gute Geschäfte gemacht haben; und
+so ist es auch. Er ist Arzt, ist Kaufinann, ist alles, was Geld
+einträgt; er hat heute einen Sklaven mit einem heimlichen Fehler
+verkauft, wohlfeil eine Kamelladung Gummi gekauft und einem reichen
+kranken Mann den letzten Trank, nicht vor seiner Genesung, sondern
+vor seinem Hintritt bereitet.
+
+Eben war er auf seinem Spaziergang aus einem kleinen Gehölz von
+Palmen und Datteln getreten, da hörte er lautes Geschrei
+herbeilaufender Menschen hinter sich; es war ein Haufe kaiserlicher
+Stallknechte, den Oberstallmeister an der Spitze, die nach allen
+Seiten unruhige Blicke umherwarfen, wie Menschen, die etwas
+Verlorenes eifrig suchen.
+
+"Philister", rief ihm keuchend der Oberstallmeister zu, "hast du
+nicht ein kaiserlich Pferd mit Sattel und Zeug vorüberrennen sehen?"
+
+Abner antwortete: "Der beste Galoppläufer, den es gibt; zierlich
+klein ist sein Huf, seine Hufeisen sind von vierzehnlötigem Silber,
+sein Haar leuchtet golden, gleich dem großen Sabbatleuchter in der
+Schule, fünfzehn Fäuste ist er hoch, sein Schweif ist drei und einen
+halben Fuß lang, und die Stangen seines Gebisses sind von
+dreiundzwanzigkarätigem Golde."
+
+"Er ist's!" rief der Oberstallmeister.
+
+"Er ist's!" rief der Chor der Stallknechte.
+
+"Es ist der Emir", rief ein alter Bereiter, "ich habe es dem Prinzen
+Abdallah zehnmal gesagt, er solle den Emir in der Trense reiten, ich
+kenne den Emir, ich habe es vorausgesagt, daß er ihn abwerfen würde,
+und sollte ich seine Rückenschmerzen mit dem Kopf bezahlen müssen,
+ich habe es vorausgesagt. Aber schnell, wohinzu ist er gelaufen?"
+
+"Habe ich doch gar kein Pferd gesehen", erwiderte Abner lächelnd,
+"wie kann ich sagen, wohin es gelaufen ist, des Kaisers Pferd?"
+
+Erstaunt über diesen Widerspruch wollten die Herren vom Stalle eben
+weiter in Abner dringen; da kam ein anderes Ereignis dazwischen.
+
+Durch einen sonderbaren Zufall, wie es deren so viele gibt, war
+gerade zu dieser Zeit auch der Leibschoßhund der Kaiserin entlaufen.
+Ein Haufe schwarze Sklaven kam herbeigerannt, und sie schrien schon
+von weitem: "Habt Ihr den Schoßhund der Kaiserin nicht gesehen?"
+
+"Es ist kein Hund, den Ihr suchet, meine Herren", sagte Abner, "es
+ist eine Hündin."
+
+"Allerdings!" rief der erste Eunuch hocherfreut. "Aline, wo bist du?"
+
+"Ein kleiner Wachtelhund", fuhr Abner fort, "der vor kurzem Junge
+geworfen, langes Behänge, Federschwanz, hinkt auf dem rechten
+vorderen Bein."
+
+"Sie ist's, wie sie leibt und lebt!" rief der Chor der Schwarzen.
+"Es ist Aline; die Kaiserin ist in Krämpfe verfallen, sobald sie
+vermißt wurde; Aline, wo bist du? Was soll aus uns werden, wenn wir
+ohne dich in den Harem zurückkehren? Sprich geschwind, wohin hast du
+sie laufen sehen?"
+
+"Ich habe gar keinen Hund gesehen; weiß ich doch nicht einmal, daß
+meine Kaiserin, welche Gott erhalte, einen Wachtelhund besitzt."
+
+Da ergrimmten die Leute vom Stalle und vom Harem über Abners
+Unverschämtheit, wie sie es nannten, über kaiserliches Eigentum
+seinen Scherz zu treiben, und zweifelten keinen Augenblick, so
+unwahrscheinlich dies auch war, daß er Hund und Pferd gestohlen habe.
+Während die anderen ihre Nachforschungen fortsetzten, packten der
+Stallmeister und der erste Eunuch den Juden und führten den halb
+pfiffig, halb ängstlich Lächelnden vor das Angesicht des Kaisers.
+
+Aufgebracht berief Mulen Ismael, als er den Hergang vernommen, den
+gewöhnlichen Rat des Palastes und führte in Betracht der Wichtigkeit
+des Gegenstandes selbst den Vorsitz. Zur Eröffnung der Sache wurde
+dem Angeschuldigten ein halbes Hundert Streiche auf die Fußsohlen
+zuerkannt. Abner mochte schreien und winseln, seine Unschuld
+beteuern oder versprechen, alles zu erzählen, wie es sich zugetragen,
+Sprüche aus der Schrift oder dem Talmud anführen, mochte rufen: "Die
+Ungnade des Königs ist wie das Brüllen eines jungen Löwen, aber seine
+Gnade ist Tau auf dem Grase"; oder: "Laß nicht zuschlagen deine Hand,
+wenn dir Augen und Ohren verschlossen sind"--Mulen Ismael winkte und
+schwur bei des Propheten Bart und seinem eigenen, der Philister solle
+die Schmerzen des Prinzen Abdallah und die Krämpfe der Kaiserin mit
+dem Kopfe bezahlen, wenn die Flüchtigen nicht wieder beigebracht
+würden. Noch erschallte der Palast des Kaisers von Marokko von dem
+Schmerzgeschrei des Patienten, als die Nachricht einlief, Hund und
+Pferd seien wiedergefunden. Aline überraschte man in der
+Gesellschaft einiger Möpse, sehr anständiger Leute, die sich aber für
+sie, als Hofdame, durchaus nicht schickte, und Emir hatte, nachdem er
+sich müde gelaufen, das duftende Gras auf den grünen Wiesen am Bache
+Tara wohlschmeckender gefunden als den kaiserlichen Hafer; gleich dem
+ermüdeten fürstlichen Jäger, der, auf der Parforcejagd verirrt, über
+dem schwarzen Brot und der Butter in der Hütte des Landmanns alle
+Leckereien seiner Tafel vergißt.
+
+Muley Ismael verlangte nun von Abner eine Erklärung seines Betragens,
+und dieser sah sich nun, wiewohl etwas spät, imstande, sich zu
+verantworten, was er, nachdem er vor seiner Hoheit Thron dreimal die
+Erde mit der Stirne berührte, in folgenden Worten tat:
+
+"Großmächtigster Kaiser, König der Könige, Herr des Besten, Stern der
+Gerechtigkeit, Spiegel der Wahrheit, Abgrund der Weisheit, der du so
+glänzend bist wie Gold, so strahlend wie der Diamant, so hart wie das
+Eisen, höre mich, weil es deinem Sklaven vergönnt ist, vor deinem
+strahlenden Angesichte seine Stimme zu erheben! Ich schwöre bei dem
+Gott meiner Väter, bei Moses und den Propheten, daß ich dein heiliges
+Pferd und meiner gnädigen Kaiserin liebenswürdigen Hund mit meines
+Leibes Augen nicht gesehen habe. Höre aber, wie sich die Sache
+begeben:
+
+Ich spazierte, um mich von des Tages Last und Arbeit zu erholen,
+nichts denkend, in dem kleinen Gehölze, wo ich die Ehre gehabt habe,
+Seiner Herrlichkeit, dem Oberstallmeister, und Seiner Wachsamkeit,
+dem schwarzen Aufseher deines gesegneten Harems, zu begegnen; da
+gewahrte ich im feinen Sande zwischen den Palmen die Spuren eines
+Tieres; ich, dem die Spuren der Tiere überaus gut bekannt sind,
+erkenne sie alsbald für die Fußstapfen eines kleinen Hundes; feine
+langgezogene Furchen liefen über die kleinen Unebenheiten des
+Sandbodens zwischen diesen Spuren hin; es ist eine Hündin, sprach ich
+zu mir selbst, und sie hat hängende Zitzen und hat Junge geworfen vor
+so und so langer Zeit; andere Spuren neben den Vordertatzen, wo der
+Sand leicht weggefegt zu sein schien, sagten mir, daß das Tier mit
+schönen, weit herabhängenden Ohren begabt sei; und da ich bemerkt,
+wie in längeren Zwischenräumen der Sand bedeutender aufgewühlt war,
+dachte ich: Einen schönen langbehaarten Schwanz hat die Kleine, und
+er muß anzusehen sein als ein Federbusch, und es hat ihr beliebt,
+zuweilen den Sand damit zu peitschen; auch entging mir nicht, daß
+eine Pfote sich beständig weniger tief in den Sand eindrückte; leider
+konnte mir da nicht verborgen bleiben, daß die Hündin meiner
+gnädigsten Frau, wenn es erlaubt ist, es auszusprechen, etwas hinke.
+
+Was das Roß deiner Hoheit betrifft, so wisse, daß ich, als ich in
+einem Gange des Gebüsches hinwandelte, auf die Spuren eines Pferdes
+aufmerksam wurde. Kaum hatte ich den edlen, kleinen Huf, den feinen
+und doch starken Strahl bemerkt, so sagte ich in meinem Herzen: Da
+ist gewesen ein Roß von der Rasse Tschenner, die da ist die
+vornehmste von allen. Ist es ja noch nicht vier Monate, hat mein
+gnädigster Kaiser einem Fürsten in Frankenland eine ganze Koppel von
+dieser Rasse verkauft, und mein Bruder Ruben ist dabeigewesen, wie
+sie sind handelseinig geworden, und mein gnädigster Kaiser hat dabei
+gewonnen so und so viel. Als ich sah, wie die Spuren so weit und so
+gleichmäßig voneinander entfernt waren, mußte ich denken: Das
+galoppierte schön, vornehm; und ist bloß mein Kaiser wert, solch ein
+Tier zu besitzen, und ich gedachte des Streitrosses, von dem
+geschrieben steht bei Hiob: ŽEs stampfet auf den Boden und ist
+freudig mit Kraft und zeucht aus, den Geharnischten entgegen; es
+spottet der Furcht und erschrickt nicht und fleucht vor dem Schwert
+nicht, wenngleich wider es erklinget der Köcher, und glänzen beide,
+Spieß und Lanzen.Ž Und ich bückte mich, da ich etwas glänzen sah auf
+dem Boden, wie ich immer tue, und siehe, es war ein Marmelstein,
+darauf hatte das Hufeisen des eilenden Rosses einen Strich gezogen,
+und ich erkannte, daß es Hufeisen haben mußte von vierzehnlötigem
+Silber; muß ich doch den Strich kennen von jeglichem Metall, sei es
+echt oder unecht. Der Baumgang, in dem ich spazierte, war sieben Fuß
+weit, und hie und da sah ich den Staub von den Palmen gestreift; der
+Gaul hat mit dem Schweif gefochten, sprach ich, und er ist lang drei
+und einen halben Fuß; unter Bäumen, deren Krone etwa fünf Fuß vom
+Boden aufging, sah ich frisch abgestreifte Blätter; seiner
+Schnelligkeit Rücken mußte sie abgestreift haben; da haben wir ein
+Pferd von fünfzehn Fäusten; siehe da, unter denselben Bäumen kleine
+Büschel goldglänzender Haare, und siehe da, es ist ein Goldfuchs!
+Eben trat ich aus dem Gebüsche, da fiel an einer Felswand ein
+Goldstrich in mein Auge; diesen Strich solltest du kennen, sprach ich,
+und was war's? Ein Probierstein war eingesprengt in dem Gestein und
+ein haarfeiner Goldstrich darauf, wie ihn das Männchen mit dem
+Pfeilbündel auf den Füchsen der sieben vereinigten Provinzen von
+Holland nicht feiner, nicht reiner ziehen kann. Der Strich mußte von
+den Gebißstangen des flüchtigen Rosses rühren, die es im
+Vorbeispringen gegen dieses Gestein gerieben. Kennt man ja doch
+deine erhabene Prachtliebe, König der Könige, weiß man ja doch, daß
+sich das geringste deiner Rosse schämen würde, auf einen anderen als
+einen goldenen Zaum zu beißen. Also hat es sich begeben, und wenn--"
+
+"Nun, bei Mekka und Medina!" rief Muley Ismael, "das heiße ich Augen;
+solche Augen könnten dir nicht schaden, Oberjägermeister, sie würden
+dir eine Koppel Schweißhunde ersparen; du, Polizeiminister, könntest
+damit weiter sehen als alle deine Schergen und Aufpasser. Nun,
+Philister, wir wollen dich in Betracht deines ungemeinen Scharfsinns,
+der uns wohlgefallen hat, gnädig behandeln; die fünfzig Prügel, die
+du richtig erhalten, sind fünfzig Zechinen wert. Sie ersparen dir
+fünfzig; denn du zahlst jetzt bloß noch fünfzig bar; zieh deinen
+Beutel und enthalte dich für die Zukunft, unseres kaiserlichen
+Eigentums zu spotten! Wir bleiben dir übrigens in Gnaden gewogen."
+
+Der ganze Hof bewunderte Abners Scharfsinn, denn seine Majestät hatte
+geschworen, er sei ein geschickter Bursche; aber dies bezahlte ihm
+seine Schmerzen nicht, tröstete ihn nicht für seine teuren Zechinen.
+Während er stöhnend und seufzend eine nach der anderen aus dem Beutel
+führte, jede noch zum Abschiede auf der Fingerspitze wog, höhnte ihn
+noch Schnuri, der kaiserliche Spaßmacher, fragte ihn, ob seine
+Zechinen alle auf dem Steine sich bewährten, auf dem der Goldfuchs
+des Prinzen Abdallah sein Gebiß probiert habe. "Deine Weisheit hat
+heute Ruhm geerntet", sprach er; "ich wollte aber noch fünfzig
+Zechinen wetten, es wäre dir lieber, du hättest geschwiegen. Aber
+wie spricht der Prophet? ŽEin entschlüpftes Wort holt kein Wagen ein,
+und wenn er mit vier flüchtigen Rossen bespannt wäre.Ž Auch kein
+Windspiel holt es ein, Herr Abner, auch wenn es nicht hinkt."
+
+Nicht lange nach diesem für Abner schmerzlichen Ereignis ging er
+wieder einmal in einem der grünen Täler zwischen den Vorbergen des
+Atlas spazieren. Da wurde er, gerade wie damals, von einem
+einherstürmenden Haufen Gewaffneter eingeholt, und der Anführer
+schrie ihn an:
+
+"He, guter Freund, hast du nicht Goro, den schwarzen Leibschützen des
+Kaisers, vorbeilaufen sehen? Er ist entflohen, er muß diesen Weg
+genommen haben ins Gebirg."
+
+"Kann nicht dienen, Herr General", antwortete Abner.
+
+"Ach, bist du nicht der pfiffige Jude, der den Fuchsen und den Hund
+nicht gesehen hat? Mach nur keine Umstände; hier muß der Sklave
+vorbeigekommen sein; riechst du vielleicht noch den Duft seines
+Schweißes in der Luft? Siehst du noch die Spuren seines flüchtigen
+Fußes im hohen Grase? Sprich, der Sklave muß herbei; er ist einzig
+im Sperlingsschießen mit dem Blaserohr, und dies ist Seiner Majestät
+Lieblingszeitvertreib. Sprich! Oder ich lasse dich sogleich krumm
+fesseln!"
+
+"Kann ich doch nicht sagen, ich habe gesehen, was ich doch nicht hab'
+gesehen."
+
+"Jude, zum letzten Male: Wohin ist der Sklave gelaufen? Denk an
+deine Fußsohlen, denk an deine Zechinen!"
+
+"O weh geschrien! Nun, wenn Ihr absolut haben wollt, daß ich soll
+gesehen haben den Sperlingsschützen, so lauft dorthin; ist er dort
+nicht, so ist er anderswo."
+
+"Du hast ihn also gesehen?" brüllte ihn der Soldat an. "Ja denn,
+Herr Offizier, weil Ihr es so haben wollt."
+
+Die Soldaten verfolgten eilig die angewiesene Richtung. Abner aber
+ging, innerlich über seine List zufrieden, nach Hause. Kaum aber war
+er vierundzwanzig Stunden älter geworden, so drang ein Haufe von der
+Wache des Palastes in sein Haus und verunreinigte es, denn es war
+Sabbat, und schleppte ihn vor das Angesicht des Kaisers von Marokko.
+
+"Hund von einem Juden", schnaubte ihn der Kaiser an, "du wagst es,
+kaiserliche Bedienstete, die einen flüchtigen Sklaven verfolgen, auf
+falsche Spur ins Gebirge zu schicken, während der Flüchtling der
+Meeresküste zueilt und beinahe auf einem spanischen Schiffe entkommen
+wäre? Greift ihn, Soldaten! Hundert auf die Sohlen! Hundert
+Zechinen aus dem Beutel! Um wieviel die Sohlen schwellen unter den
+Hieben, um soviel soll der Beutel einschnurren."
+
+Du weißt es, o Herr, im Reiche Fez und Marokko liebt man schnelle
+Gerechtigkeit, und so wurde der arme Abner geprügelt und besteuert,
+ohne daß man ihn zuvor um seine Einwilligung befragt hätte. Er aber
+verfluchte sein Geschick, das ihn dazu verdammte, daß seine Sohlen
+und sein Beutel es hart empfinden sollten, so oft Seine Majestät
+geruhten, etwas zu verlieren. Als er aber brummend und seufzend
+unter dem Gelächter des rohen Hofvolks aus dem Saale hinkte, sprach
+zu ihm Schnuri, der Spaßmacher: "Gib dich zufrieden, Abner,
+undankbarer Abner! Ist es nicht Ehre genug für dich, daß jeder
+Verlust, den unser gnädiger Kaiser, den Gott erhalte, erleidet, auch
+dir empfindlichen Kummer verursachen muß? Versprichst du mir aber
+ein gut Trinkgeld, so komme ich jedesmal, eine Stunde bevor der Herr
+des Westens etwas verliert, an deine Bude in der Judengasse und
+spreche: ŽGehe nicht aus deiner Hütte, Abner, du weißt schon warum;
+schließe dich ein in dein Kämmerlein bis zu Sonnenuntergang, beides
+unter Schloß und Riegel.Ž"
+
+Dies, o Herr, ist die Geschichte von Abner, der nichts gesehen hat.
+
+Als der Sklave geendet hatte und es wieder stille im Saale geworden
+war, erinnerte der junge Schreiber den Alten, daß sie den Faden ihrer
+Unterhaltung abgebrochen hatten, und bat, ihnen zu erklären, worin
+denn eigentlich der mächtige Reiz des Märchens liege.
+
+"Das will ich Euch jetzt sagen", erwiderte der Alte. "Der
+menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser,
+das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die
+dichtesten Gegenstände durchdringt. Er ist leicht und frei wie die
+Luft und wird wie diese, je höher er sich von der Erde hebt, desto
+leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich
+hinauf über das Gewöhnliche zu erheben und sich in höheren Räumen
+leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Träumen. Ihr
+selbst, mein junger Freund, sagtet: ŽWir lebten in jenen Geschichten,
+wir dachten und fühlten mit jenen MenschenŽ, und daher kommt der Reiz,
+den sie für Euch hatten. Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven
+zuhöret, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt
+Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den
+Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr
+erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes
+Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Manne, von dem
+man Euch erzählte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen
+Geschichte über die Gegenwart, die Euch nicht so schön, nicht so
+anziehend dünkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, höheren
+Räumen freier und ungebundener, das Märchen wurde Euch zur
+Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde
+zum Märchen, weil Euer Dichten und Sein im Märchen lebte."
+
+"Ganz verstehe ich Euch nicht", erwiderte der junge Kaufmann, "aber
+Ihr habt recht mit dem, was Ihr sagtet, wir lebten im Märchen oder
+das Märchen in uns. Sie ist mir noch wohl erinnerlich, jene schöne
+Zeit; wenn wir Muße dazu hatten, träumten wir wachend; wir stellten
+uns vor, an wüste, unwirtbare Inseln verschlagen zu sein, wir
+berieten uns, was wir beginnen sollten, um unser Leben zu fristen,
+und oft haben wir im dichten Weidengebüsch uns Hütten gebaut, haben
+von elenden Früchten ein kärgliches Mahl gehalten, obgleich wir
+hundert Schritte weit zu Haus das Beste hätten haben können, ja, es
+gab Zeiten, wo wir auf die Erscheinung einer gütigen Fee oder eines
+wunderbaren Zwerges warteten, die zu uns treten und sagen würden:
+ŽDie Erde wird sich alsobald auftun, wollet dann nur gefälligst
+herabsteigen in meinen Palast von Bergkristall und euch belieben
+lassen, was meine Diener, die Meerkatzen, euch auftischen.Ž"
+
+Die jungen Leute lachten, gaben aber ihrem Freunde zu, daß er wahr
+gesprochen habe. "Noch jetzt", fuhr ein anderer fort, "noch jetzt
+beschleicht mich hier und da dieser Zauber; ich würde mich zum
+Beispiel nicht wenig ärgern über die dumme Fabel, wenn mein Bruder
+zur Türe hereingestürzt käme und sagte: ŽWeißt du schon das Unglück
+von unserem Nachbarn, dem dicken Bäcker? Er hat Händel gehabt mit
+einem Zauberer, und dieser hat ihn aus Rache in einen Bären
+verwandelt, und jetzt liegt er in seiner Kammer und heult
+entsetzlichŽ; ich würde mich ärgern und ihn einen Lügner schelten.
+Aber wie anders, wenn mir erzählt würde, der dicke Nachbar hab' eine
+weite Reise in ein fernes, unbekanntes Land unternommen, sei dort
+einem Zauberer in die Hände gefallen, der ihn in einen Bären
+verwandelte. Ich würde mich nach und nach in die Geschichte versetzt
+fühlen, würde mit dem dicken Nachbar reisen, Wunderbares erleben, und
+es würde mich nicht sehr überraschen, wenn er in ein Fell gesteckt
+würde und auf allen vieren gehen müßte."
+
+So sprachen die jungen Leute; da gab der Scheik wiederum das Zeichen,
+und alle setzten sich nieder. Der Aufseher der Sklaven aber trat zu
+den Freigelassenen und forderte sie auf, weiter forzufahren. Einer
+unter ihnen zeigte sich bereit, stand auf und hub an, folgendermaßen
+zu erzählen:
+
+(im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schöll.)
+
+Der Sklave hatte geendet, und seine Erzählung erhielt den Beifall des
+Scheik und seiner Freunde. Aber auch durch diese Erzählung wollte
+sich die Stirne des Scheik nicht entwölken lassen, er war und blieb
+ernst und tiefsinnig wie zuvor, und die jungen Leute bemitleideten
+ihn.
+
+"Und doch", sprach der junge Kaufmann, "und doch kann ich nicht
+begreifen, wie der Scheik sich an einem solchen Tage Märchen erzählen
+lassen mag, und zwar von seinen Sklaven. Ich für meinen Teil, hätte
+ich einen solchen Kummer, so würde ich lieber hinausreiten in den
+Wald und mich setzen, wo es recht dunkel und einsam ist, aber auf
+keinen Fall dieses Geräusch von Bekannten und Unbekannten um mich
+versammeln."
+
+"Der Weise", antwortete der alte Mann, "der Weise läßt sich von
+seinem Kummer nie so überwältigen, daß er ihm völlig unterliegt. Er
+wird ernst, er wird tiefsinnig sein, er wird aber nicht laut klagen
+oder verzweifeln. Warum also, wenn es in deinem Innern dunkel und
+traurig aussieht, warum noch überdies die Schatten dunkler Zedern
+suchen? Ihr Schatten fällt durch das Auge in dein Herz und macht es
+noch dunkler. An die Sonne mußt du gehen, in den warmen, lichten Tag,
+für was du trauerst, und mit der Klarheit des Tages, mit der Wärme
+des Lichtes wird dir die Gewißheit aufgehen, daß Allahs Liebe über
+dir ist, erwärmend und ewig wie seine Sonne."
+
+"Ihr habt wahr gesprochen", setzte der Schreiber hinzu, "und geziemt
+es nicht einem weisen Mann, dem seine Umgebungen zu Gebot stehen, daß
+er an einem solchen Tage die Schatten des Grams so weit als möglich
+entferne? Soll er zum Getränke seine Zuflucht nehmen oder Opium
+speisen, um den Schmerz zu vergessen? Ich bleibe dabei, es ist die
+anständigste Unterhaltung in Leid und Freude, sich erzählen zu lassen,
+und der Scheik hat ganz recht."
+
+"Gut", erwiderte der junge Kaufmann, "aber hat er nicht Vorleser,
+nicht Freunde genug; warum müssen es gerade Sklaven sein, die
+erzählen?"
+
+"Diese Sklaven, lieber Herr", sagte der Alte, "sind vermutlich durch
+allerlei Unglück in Sklaverei geraten und sind nicht gerade so
+ungebildete Leute, wie Ihr wohl gesehen habt, von welchen man sich
+nicht könnte erzählen lassen. Überdies stammen sie von allerlei
+Ländern und Völkern, und es ist zu erwarten, daß sie bei sich zu
+Hause irgend etwas Merkwürdiges gehört oder gesehen, das sie nun zu
+erzählen wissen. Einen noch schöneren Grund, den mir einst ein
+Freund des Scheik sagte, will ich Euch wiedergeben: Diese Leute waren
+bis jetzt in seinem Hause als Sklaven, hatten sie auch keine schwere
+Arbeit zu verrichten, so war es doch immer Arbeit, zu der sie
+gezwungen waren, und mächtig der Unterschied zwischen ihnen und
+freien Leuten. Sie durften sich, wie es Sitte ist, dem Scheik nicht
+anders als mit den Zeichen der Unterwürfigkeit nähern. Sie durften
+nicht zu ihm reden, außer er fragte sie, und ihre Rede mußte kurz
+sein. Heute sind sie frei; und ihr erstes Geschäft als freie Leute
+ist, in großer Gesellschaft und vor ihrem bisherigen Herrn lange und
+offen sprechen zu dürfen. Sie fühlen sich nicht wenig geehrt dadurch,
+und ihre unverhoffte Freilassung wird ihnen dadurch nur um so werter."
+
+"Siehe", unterbrach ihn der Schreiber, "dort steht der vierte Sklave
+auf; der Aufseher hat ihm wohl schon das Zeichen gegeben, lasset uns
+niedersetzen und hören!"
+
+(Im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 stand hier "Der gebackene Kopf"
+von James Justinian Morier)
+
+Der Scheik äußerte seinen Beifall über diese Erzählung. Er hatte,
+was in Jahren nicht geschehen war, einigemal gelächelt, und seine
+Freunde nahmen dies als eine gute Vorbedeutung. Dieser Eindruck war
+den jungen Männern und dem Alten nicht entgangen. Auch sie freuten
+sich darüber, daß der Scheik, auf eine halbe Stunde wenigstens,
+zerstreut wurde; denn sie ehrten seinen Kummer und die Trauer um sein
+Unglück, sie fühlten ihre Brust beengt, wenn sie ihn so ernst und
+stille seinem Grame nachhängen sahen, und gehobener, freudiger waren
+sie, als die Wolke seiner Stirne auf Augenblicke vorüberzog.
+
+"Ich kann mir wohl denken", sagte der Schreiber, "daß diese Erzählung
+günstigen Eindruck auf ihn machen mußte; es liegt so viel Sonderbares,
+Komisches darin, daß selbst der heilige Derwisch auf dem Berge
+Libanon, der in seinem Leben noch nie gelacht hat, laut auflachen
+müßte."
+
+"Und doch", sprach der Alte lächelnd, "und doch ist weder Fee noch
+Zauberer darin erschienen; kein Schloß von Kristall, keine Genien,
+die wunderbare Speisen bringen, kein Vogel Rock, noch ein
+Zauberpferd--"
+
+"Ihr beschämt uns", rief der junge Kaufmann, "weil wir mit so vielem
+Eifer von jenen Märchen unserer Kindheit sprachen, die uns noch jetzt
+so wunderbar anziehen, weil wir jene Momente aufzählten, wo uns das
+Märchen so mit sich hinwegriß, daß wir darin zu leben wähnten, weil
+wir dies so hoch anschlugen, wollet Ihr uns beschämen und auf feine
+Art zurechtweisen; nicht so?"
+
+"Mitnichten! Es sei ferne von mir, eure Liebe zum Märchen zu tadeln;
+es zeugt von einem unverdorbenen Gemüt, daß ihr euch noch so recht
+gemütlich in den Gang des Märchens versetzen konntet, daß ihr nicht
+wie andere vornehm darauf, als auf ein Kinderspiel, herabsehet, daß
+ihr euch nicht langweilt und lieber ein Roß zureiten oder auf dem
+Sofa behaglich einschlummern oder halb träumend die Wasserpfeife
+rauchen wolltet, statt dergleichen euer Ohr zu schenken. Es sei
+ferne von mir, euch darum zu tadeln; aber das freut mich, daß auch
+eine andere Art von Erzählung euch fesselt und ergötzt, eine andere
+Art als die, welche man gewöhnlich Märchen nennt."
+
+"Wie versteht Ihr dies? Erklärt uns deutlicher, was Ihr meinet.
+Eine andere Art als das Märchen?" sprachen die Jünglinge unter sich.
+
+"Ich denke, man muß einen gewissen Unterschied machen zwischen
+Märchen und Erzählungen, die man im gemeinen Leben Geschichten nennt.
+Wenn ich euch sage, ich will euch ein Märchen erzählen, so werdet
+ihr zum voraus darauf rechnen, daß es eine Begebenheit ist, die von
+dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift und sich in einem Gebiet
+bewegt, das nicht mehr durchaus irdischer Natur ist. Oder, um
+deutlicher zu sein, ihr werdet bei dem Märchen auf die Erscheinung
+anderer Wesen als allein sterblicher Menschen rechnen können; es
+greifen in das Schicksal der Person, von welcher das Märchen handelt,
+fremde Mächte, wie Feen und Zauberer, Genien und Geisterfürsten, ein;
+die ganze Erzählung nimmt eine außergewöhnliche, wunderbare Gestalt
+an und ist ungefähr anzuschauen wie die Gewebe unserer Teppiche oder
+viele Gemälde unserer besten Meister, welche die Franken Arabesken
+nennen. Es ist dem echten Muselmann verboten, den Menschen, das
+Geschöpf Allahs, sündigerweise wiederzuschöpfen in Farben und
+Gemälden, daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene
+Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch
+oder Strauch ausgehen, kurz, Figuren, die an das gewöhnliche Leben
+erinnern und dennoch ungewöhnlich sind; ihr versteht mich doch?" "Ich
+glaube, Eure Meinung zu erraten", sagte der Schreiber, "doch fahret
+weiter fort!"
+
+"Von dieser Art ist nun das Märchen; fabelhaft, ungewöhnlich,
+überraschend; weil es dem gewöhnlichen Leben fremd ist, wird es oft
+in fremde Länder oder in ferne, längst vergangene Zeiten verschoben.
+Jedes Land, jedes Volk hat solche Märchen, die Türken so gut als die
+Perser, die Chinesen wie die Mongolen; selbst in Frankenland soll es
+viele geben, wenigstens erzählte mir einst ein gelehrter Giaur davon;
+doch sind sie nicht so schön als die unsrigen; denn statt schöner
+Feen, die in prachtvollen Palästen wohnen, haben sie zauberhafte
+Weiber, die sie Hexen nennen, heimtückisches, häßliches Volk, das in
+elenden Hütten wohnt, und statt in einem Muschelwagen, von Greisen
+gezogen, durch die blauen Lüfte zu fahren, reiten sie auf einem Besen
+durch den Nebel. Sie haben auch Gnomen und Erdgeister, das sind
+kleine verwachsene Kerlchen, die allerlei Spuk machen. Das sind nun
+die Märchen; ganz anders ist es aber mit den Erzählungen, die man
+gemeinhin Geschichten nennt. Diese bleiben ganz ordentlich auf der
+Erde, tragen sich im gewöhnlichen Leben zu, und wunderbar ist an
+ihnen meistens nur die Verkettung der Schicksale eines Menschen, der
+nicht durch Zauber, Verwünschung oder Feenspuk, wie im Märchen,
+sondern durch sie selbst oder die sonderbare Fügung der Umstände
+reich oder arm, glücklich oder unglücklich wird."
+
+"Richtig!" erwiderte einer der jungen Leute. "Solche reinen
+Geschichten finden sich auch in den herrlichen Erzählungen der
+Scheherazade, die man ŽTausendundeine NachtŽ nennt. Die meisten
+Begebenheiten des Königs Harun Al-Raschid und seines Wesirs sind
+dieser Art. Sie gehen verkleidet aus und sehen diesen oder jenen
+höchst sonderbaren Vorfall, der sich nachher ganz natürlich auflöst."
+
+"Und dennoch werdet ihr gestehen müssen", fuhr der Alte fort, "daß
+jene Geschichten nicht der schlechteste Teil der ŽTausendundeine
+NachtŽ sind. Und doch, wie verschieden sind sie in ihren Ursachen,
+in ihrem Gang, in ihrem ganzen Wesen von den Märchen eines Prinzen
+Biribinker oder der drei Derwische mit einem Auge oder des Fischers,
+der den Kasten, verschlossen mit dem Siegel Salomos, aus dem Meere
+zieht! Aber am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden
+ihren eigentümlichen Reiz gibt, nämlich das, daß wir etwas
+Auffallendes, Außergewöhnliches miterleben. Bei dem Märchen liegt
+dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften
+Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben, bei den Geschichten
+geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf
+überraschende, ungewöhnliche Weise."
+
+"Sonderbar!" rief der Schreiber, "sonderbar, daß uns dann dieser
+natürliche Gang der Dinge ebenso anzieht wie der übernatürliche im
+Märchen; worin mag dies doch liegen?"
+
+"Das liegt in der Schilderung des einzelnen Menschen", antwortete der
+Alte; "im Märchen häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch
+handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren
+und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können. Anders bei
+der gewöhnlichen Erzählung, wo die Art, wie jeder seinem Charakter
+gemäß spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende ist. So
+die Geschichte von dem gebackenen Kopf, die wir soeben gehört haben.
+Der Gang der Erzählung wäre im ganzen nicht auffallend, nicht
+überraschend, wäre er nicht verwickelt durch den Charakter der
+Handelnden. Wie köstlich zum Beispiel ist die Figur des Schneiders.
+Man glaubt den alten, gekrümmten Mantelflicker vor sich zu sehen. Er
+soll zum erstenmal in seinem Leben einen tüchtigen Schnitt machen,
+ihm und seinem Weibe lacht schon zum voraus das Herz, und sie
+traktieren sich mit recht schwarzem Kaffee. Welches Gegenstück zu
+dieser behaglichen Ruhe ist dann jene Szene, wo sie den Pack begierig
+öffnen und den greulichen Kopf erblicken. Und nachher glaubt man ihn
+nicht zu sehen und zu hören, wie er auf dem Minarett umherschleicht,
+die Gläubigen mit meckernder Stimme zum Gebet ruft und bei Erblickung
+des Sklaven plötzlich, wie vom Donner gerührt, verstummt? Dann der
+Barbier! Sehet ihr ihn nicht vor euch, den alten Sünder, der,
+während er die Seife anrührt, viel schwatzt und gerne verbotenen Wein
+trinkt? Sehet ihr ihn nicht, wie er dem sonderbaren Kunden das
+Barbierschüsselchen unterhält und--den kalten Schädel berührt? Nicht
+minder gut, wenn auch nur angedeutet, ist der Sohn des Bäckers, der
+verschmitzte Junge, und der Bratenmacher Yanakil. Ist nicht das
+Ganze eine ununterbrochene Reihe komischer Szenen, scheint nicht der
+Gang der Geschichte, so ungewöhnlich er ist, sich ganz natürlich zu
+fügen? Und warum? Weil die einzelnen Figuren richtig gezeichnet
+sind und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muß, wie es wirklich
+geschieht."
+
+"Wahrlich, Ihr habt recht!" erwiderte der junge Kaufmann, "ich habe
+mir nie Zeit genommen, so recht darüber nachzudenken, habe alles nur
+so gesehen und an mir vorübergehen lassen, habe mich an dem einen
+ergötzt, das andere langweilig gefunden, ohne gerade zu wissen, warum.
+Aber Ihr gebt uns da einen Schlüssel, der uns das Geheimnis öffnet,
+einen Probierstein, worauf wir die Probe machen und richtig urteilen
+können."
+
+"Tuet das immer", antwortete der Alte, "und euer Genuß wird sich
+vergrößern, wenn ihr nachdenken lernet über das, was ihr gehört.
+Doch siehe, dort erhebt sich wieder ein neuer, um zu erzählen."
+
+So war es, und der fünfte Sklave begann:
+
+
+
+
+Der arme Stephan
+
+Gustav Adolf Schöll
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der arme Stephan"
+von Gustav Adolf Schöll.
+
+
+
+
+
+
+Der gebackene Kopf
+
+James Justinian Morier
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Der gebackene
+Kopf" von James Justinian Morier.
+
+
+
+
+
+
+Der Affe als Mensch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+"Herr! ich bin ein Deutscher von Geburt und habe mich in Euren Landen
+zu kurz aufgehalten, als daß ich ein persisches Märchen oder eine
+ergötzliche Geschichte von Sultanen und Wesiren erzählen könnte. Ihr
+müßt mir daher schon erlauben, daß ich etwas aus meinem Vaterland
+erzähle, was Euch vielleicht auch einigen Spaß macht. Leider sind
+unsere Geschichten nicht immer so vornehm wie die Euren, das heißt,
+sie handeln nicht von Sultanen oder unseren Königen, nicht von
+Wesiren und Paschas, was man bei uns Justiz- und Finanzminister, auch
+Geheimräte und dergleichen nennt, sondern sie leben, wenn sie nicht
+von Soldaten handeln, gewöhnlich ganz bescheiden und unter den
+Bürgern.
+
+Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel, wo
+ich geboren und erzogen bin. Es ist ein Städtchen, wie sie alle sind.
+In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite
+ein kleines, altes Rathaus, umher auf dem Markt die Häuser des
+Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar
+engen Straßen wohnen die übrigen Menschen. Alles kennt sich,
+jedermann weiß, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer
+oder der Bürgermeister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel
+hat, so weiß es schon am Mittagessen die ganze Stadt. Nachmittags
+kommen dann die Frauen zueinander in die Visite, wie man es nennt,
+besprechen sich bei starkem Kaffee und süßem Kuchen über diese große
+Begebenheit, und der Schluß ist, daß der Oberpfarrer wahrscheinlich
+in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel gewonnen habe, daß der
+Bürgermeister sich 'schmieren' lasse oder daß der Doktor vom
+Apotheker einige Goldstücke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu
+verschreiben. Ihr könnet Euch denken, Herr, wie unangenehm es für
+eine so wohleingerichtete Stadt wie Grünwiesel sein mußte, als ein
+Mann dorthin zog, von dem niemand wußte, woher er kam, was er wollte,
+von was er lebte. Der Bürgermeister hatte zwar seinen Paß gesehen,
+ein Papier, das bei uns jedermann haben muß"
+
+"Ist es denn so unsicher auf den Straßen", unterbrach den Sklaven der
+Scheik, "daß Ihr einen Ferman Eures Sultans haben müsset, um die
+Räuber in Respekt zu setzen?"
+
+"Nein, Herr", entgegnete jener, "diese Papiere halten keinen Dieb von
+uns ab, sondern es ist nur der Ordnung wegen, daß man überall weiß,
+wen man vor sich hat."
+
+Nun, der Bürgermeister hatte den Paß untersucht und in einer
+Kaffeegesellschaft bei Doktors geäußert, der Paß sei zwar ganz
+richtig visiert von Berlin bis Grünwiesel, aber es stecke doch was
+dahinter; denn der Mann sehe etwas verdächtig aus. Der Bürgermeister
+hatte das größte Ansehen in der Stadt, kein Wunder, daß von da an der
+Fremde als eine verdächtige Person angesehen wurde. Und sein
+Lebenswandel konnte meine Landsleute nicht von dieser Meinung
+abbringen. Der fremde Mann mietete sich für einige Goldstücke ein
+ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen ganzen Wagen voll
+sonderbarer Gerätschaften, als Öfen, Kunstherde, große Tiegel und
+dergleichen hineinschaffen und lebte von da an ganz für sich allein.
+Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele
+in sein Haus als ein alter Mann aus Grünwiesel, der ihm seine
+Einkäufe in Brot, Fleisch und Gemüse besorgen mußte. Doch auch
+dieser durfte nur in den Flur des Hauses kommen, und dort nahm der
+fremde Mann das Gekaufte in Empfang.
+
+Ich war ein Knabe von zehn Jahren, als der Mann in meiner Vaterstadt
+einzog, und ich kann mir noch heute, als wäre es gestern geschehen,
+die Unruhe denken, die dieser Mann im Städtchen verursachte. Er kam
+nachmittags nicht, wie andere Männer, auf die Kegelbahn, er kam
+abends nicht ins Wirtshaus, um, wie die übrigen, bei einer Pfeife
+Tabak über die Zeitung zu sprechen. Umsonst luden ihn nach der Reihe
+der Bürgermeister, der Friedensrichter, der Doktor und der
+Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein, er ließ sich immer
+entschuldigen. Daher hielten ihn einige für verrückt, andere für
+einen Juden, eine dritte Partie behauptete steif und fest, er sei ein
+Zauberer oder Hexenmeister. Ich wurde achtzehn, zwanzig Jahre alt,
+und noch immer hieß der Mann in der Stadt der fremde Herr.
+
+Es begab sich aber eines Tages, daß Leute mit fremden Tieren in die
+Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat,
+welches sich verbeugen kann, einen Bären, der tanzt, einige Hunde und
+Affen, die in menschlichen Kleidern komisch genug aussehen und
+allerlei Künste machen. Diese Leute durchziehen gewöhnlich die Stadt,
+halten an den Kreuzstraßen und Plätzen, machen mit einer kleinen
+Trommel und einer Pfeife eine übeltönende Musik, lassen ihre Truppe
+tanzen und springen und sammeln dann in den Häusern Geld ein. Die
+Truppe aber, die diesmal sich in Grünwiesel sehen ließ, zeichnete
+sich durch einen ungeheuren Orang-Utan aus, der beinahe Menschengröße
+hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Künste zu machen
+verstand. Diese Hunds- und Affenkomödie kam auch vor das Haus des
+fremden Herrn; er erschien, als die Trommel und Pfeife ertönten, von
+Anfang ganz unwillig hinter den dunklen, vom Alter angelaufenen
+Fenstern; bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns
+Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich über die Künste des
+Orang-Utans; ja, er gab für den Spaß ein so großes Silberstück, daß
+die ganze Stadt davon sprach.
+
+Am anderen Morgen zog die Tierbande weiter; das Kamel mußte viele
+Körbe tragen, in welchen die Hunde und Affen ganz bequem saßen, die
+Tiertreiber aber und der große Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum
+aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde
+Herr auf die Post, verlangte zu großer Verwunderung des Postmeisters
+einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus den Weg
+hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Städtchen ärgerte sich,
+daß man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon
+Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam; es saß
+aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrückt
+und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der
+Torschreiber hielt es für seine Pflicht, den anderen Fremden
+anzureden und um seinen Paß zu bitten; er antwortete aber sehr grob,
+indem er in einer ganz unverständlichen Sprache brummte.
+
+"Es ist mein Neffe", sagte der fremde Mann freundlich zum
+Torschreiber, indem er ihm einige Silbermünzen in die Hand drückte,
+"es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig Deutsch; er hat
+soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, daß wir hier aufgehalten
+werden."
+
+"Ei, wenn es Dero Neffe ist", antwortete der Torschreiber, "so kann
+er wohl ohne Paß hereinkommen; er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen
+wohnen?"
+
+"Allerdings", sagte der Fremde, "und hält sich wahrscheinlich längere
+Zeit hier auf."
+
+Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde
+Herr und sein Neffe fuhren ins Städtchen. Der Bürgermeister und die
+ganze Stadt waren übrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber.
+Er hätte doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen
+sich merken sollen; daraus hätte man dann leicht erfahren, was für
+ein Landeskind er und der Onkel wären. Der Torschreiber versicherte
+aber, daß es weder Französisch oder Italienisch sei, wohl aber habe
+es so breit geklungen wie Englisch, und wenn er nicht irre, so habe
+der junge Herr gesagt: "Goddam!" So half der Torschreiber sich selbst
+aus der Not und dem jungen Manne zu einem Namen; denn man sprach
+jetzt nur von dem jungen Engländer im Städtchen.
+
+Aber auch der junge Engländer wurde nicht sichtbar, weder auf der
+Kegelbahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere
+Weise viel zu schaffen.--Es begab sich nämlich oft, daß von dem sonst
+so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Lärm
+ausging, daß die Leute haufenweise vor dem Hause stehenblieben und
+hinaufsahen. Man sah dann den jungen Engländer, angetan mit einem
+roten Frack und grünen Beinkleidern, mit struppichtem Haar und
+schrecklicher Miene unglaublich schnell an den Fenstern hin und her
+durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten
+Schlafrock, eine Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft,
+aber einigemal kam es doch der Menge auf der Straße vor, als müsse er
+den Jungen erreicht haben; denn man hörte klägliche Angsttöne und
+klatschende Peitschenhiebe die Menge. An dieser grausamen Behandlung
+des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Städtchens so
+lebhaften Anteil, daß sie endlich den Bürgermeister bewogen, einen
+Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein
+Billett, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in
+ziemlich derben Ausdrücken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner
+solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen
+Schutz zu nehmen.
+
+Wer war aber mehr erstaunt als der Bürgermeister, wie er den Fremden
+selbst, zum erstenmal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah. Der
+alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der
+Eltern des Jünglings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei
+sonst ein kluger, anstelliger Junge, äußerte er, aber die Sprachen
+erlerne er sehr schwer; er wünsche so sehnlich, seinem Neffen das
+Deutsche recht geläufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu
+nehmen, ihn in die Gesellschaft von Grünwiesel einzuführen, und
+dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, daß man oft
+nichts Besseres tun könne, als ihn gehörig durchzupeitschen. Der
+Bürgermeister fand sich durch diese Mitteilung völlig befriedigt,
+riet dem Alten zur Mäßigung und erzählte abends im Bierkeller, daß er
+selten einen so unterrichteten, artigen Mann gefunden als den Fremden;
+"es ist nur schade", setzte er hinzu, "daß er so wenig in
+Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig
+Deutsch spricht, besucht er meine Cercles öfter."
+
+Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Städtchens völlig
+umgeändert. Man hielt den Fremden für einen artigen Mann, sehnte
+sich nach seiner näheren Bekanntschaft und fand es ganz in der
+Ordnung, wenn hier und da in dem öden Hause ein gräßliches Geschrei
+aufging. "Er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen
+Sprachlehre", sagten die Grünwiesler und blieben nicht mehr stehen.
+Nach einem Vierteljahr ungefähr schien der Unterricht im Deutschen
+beendigt; denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es
+lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen
+Leuten Unterricht im Tanzen gab. Diesen ließ der Fremde zu sich
+rufen und sagte ihm, daß er seinen Neffen im Tanzen unterrichten
+lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, daß derselbe zwar sehr
+gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er
+habe nämlich früher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und
+zwar nach so sonderbaren Touren, daß er sich nicht füglich in der
+Gesellschaft produzieren könne; der Neffe halte sich aber eben
+deswegen für einen großen Tänzer, obgleich sein Tanz nicht die
+entfernteste Ähnlichkeit mit Walzer oder Galopp (Tänze, die man in
+meinem Vaterlande tanzt, o Herr!), nicht einmal Ähnlichkeit mit
+Ekossaise oder Française habe. Er versprach übrigens einen Taler für
+die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnügen bereit, den
+Unterricht des eigensinnigen Zöglings zu übernehmen.
+
+Es gab, wie der Franzose unterderhand versicherte, auf der Welt
+nichts Sonderbareres als diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich
+großer, schlanker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte,
+erschien in einem roten Frack, schön frisiert, in grünen, weiten
+Beinkleidern und glasierten Handschuhen. Er sprach wenig und mit
+fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann
+verfiel er aber oft plötzlich in fratzenhafte Sprünge, tanzte die
+kühnsten Touren, wobei er Entrechats machte, daß dem Tanzmeister
+Hören und Sehen verging; wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die
+zierlichen Tanzschuhe von den Füßen, warf sie dem Franzosen an den
+Kopf und setzte nun auf allen Vieren im Zimmer umher. Bei diesem
+Lärm fuhr dann der alte Herr plötzlich in einem weiten, roten
+Schlafrock, eine Mütze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer
+heraus und ließ die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des
+Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an, schrecklich zu heulen,
+sprang auf Tische und hohe Kommoden, ja selbst an den Kreuzstöcken
+der Fenster hinauf und sprach eine fremde, seltsame Sprache. Der
+Alte im roten Schlafrock aber ließ sich nicht irremachen, faßte ihn
+am Bein, riß ihn herab, bleute ihn durch und zog ihm mittels einer
+Schnalle die Halsbinde fester an, worauf er immer wieder artig und
+manierlich wurde und die Tanzstunde ohne Störung weiterging.
+
+Als aber der Tanzmeister seinen Zögling so weit gebracht hatte, daß
+man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie
+umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des öden
+Hauses auf einen Tisch sich setzen mußte. Der Tanzmeister stellte
+dann die Dame vor, indem ihm der alte Herr einen Frauenrock von Seide
+und einen ostindischen Schal anziehen ließ; der Neffe forderte ihn
+auf und fing nun an, mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein
+unermüdlicher, rasender Tänzer, er ließ den Meister nicht aus seinen
+langen Armen; ob er ächzte und schrie, er mußte tanzen, bis er
+ermattet umsank oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der
+Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe
+unter den Boden, aber der Taler, den er jedesmal richtig ausbezahlt
+bekam, der gute Wein, den der Alte aufwartete, machten, daß er immer
+wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte,
+nicht mehr in das öde Haus zu gehen.
+
+Die Leute in Grünwiesel sahen aber die Sache ganz anders an als der
+Franzose. Sie fanden, daß der junge Mann viele Anlagen zum
+Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Städtchen freuten
+sich, bei dem großen Mangel an Herren einen so flinken Tänzer für den
+nächsten Winter zu bekommen.
+
+Eines Morgens berichteten die Mägde, die vom Markte heimkehrten,
+ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem öden Hause sei
+ein prächtiger Glaswagen gestanden, mit schönen Pferden bespannt, und
+ein Bediensteter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei
+die Türe des öden Hauses aufgegangen und zwei schön gekleidete Herren
+herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere
+wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt
+und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der
+Bedienstete hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle
+sich vor, sei geradezu auf Bürgermeisters Haus zugefahren.
+
+Als die Frauen solches von ihren Mägden erzählen hörten, rissen sie
+eilends die Küchenschürzen und die etwas unsauberen Hauben ab und
+versetzten sich in Staat; "es ist nichts gewisser", sagten sie zu
+ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchszimmer, das
+zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuräumen, "es ist nichts
+gewisser, als daß der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einführt.
+Der alte Narr war seit zehn Jahren nicht so artig, einen Fuß in
+unser Haus zu setzen, aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der
+ein charmanter Mensch sein soll." So sprachen sie und ermahnten ihre
+Söhne und Töchter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden
+kämen, sich gerade zu halten und sich auch einer besseren Aussprache
+zu bedienen als gewöhnlich. Und die klugen Frauen im Städtchen
+hatten nicht unrecht geraten; denn nach der Reihe fuhr der alte Herr
+mit seinem Neffen umher; sich und ihn in die Gewogenheit der Familien
+zu empfehlen.
+
+Man war überall ganz erfüllt von den beiden Fremden und bedauerte,
+nicht schon früher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben.
+Der alte Herr zeigte sich als ein würdiger, sehr vernünftiger Mann,
+der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig lächelte, so daß man
+nicht gewiß war, ob es ihm Ernst sei oder nicht, aber er sprach über
+das Wetter, über die Gegend, über das Sommervergnügen auf dem Keller
+am Berge so klug und durchdacht, daß jedermann davon bezaubert war.
+Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er gewann alle Herzen für sich.
+
+Man konnte zwar, was sein Äußeres betraf, sein Gesicht nicht schön
+nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzusehr
+hervor, und der Teint war sehr bräunlich; auch machte er zuweilen
+allerlei sonderbare Grimassen, drückte die Augen zu und fletschte mit
+den Zähnen; aber dennoch fand man den Schnitt seiner Züge ungemein
+interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als
+seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib,
+aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit großer Lebendigkeit im
+Zimmer umher, warf sich hier aufs Sofa, dort in einen Lehnstuhl und
+streckte die Beine von sich; aber was man bei einem anderen jungen
+Mann höchst gemein und unschicklich gefunden hätte, galt bei dem
+Neffen für Genialität.
+
+"Er ist ein Engländer", sagte man, "so sind sie alle; ein Engländer
+kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, während zehn Damen
+keinen Platz haben und umherstehen müssen, einem Engländer kann man
+so etwas nicht übelnehmen." Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war
+er sehr fügsam; denn wenn er anfing, im Zimmer umherzuhüpfen oder,
+wie er gerne tat, die Füße auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte
+ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie
+konnte man ihm so etwas übelnehmen, als vollends der Onkel in jedem
+Haus zu der Dame sagte: "Mein Neffe ist noch ein wenig roh und
+ungebildet; aber ich verspreche mir viel von der Gesellschaft, die
+wird ihn gehörig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich
+Ihnen aufs angelegenste."
+
+So war der Neffe also in die Welt eingeführt, und ganz Grünwiesel
+sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von
+diesem Ereignis. Der alte Herr blieb aber hierbei nicht stehen; er
+schien seine Denk- und Lebensart gänzlich geändert zu haben.
+Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berg,
+wo die vornehmeren Herren von Grünwiesel Bier tranken und sich am
+Kegelschieben ergötzten. Der Neffe zeigte sich dort als ein flinker
+Meister im Spiel; denn er warf nie unter fünf oder sechs; hier und da
+schien zwar ein sonderbarer Geist über ihn zu kommen; es konnte ihm
+einfallen, daß er pfeilschnell mit der Kugel hinaus- und unter die
+Kegel hineinfuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder
+wenn er den Kranz oder den König geworfen, stand er plötzlich auf
+seinem schön frisierten Haar und streckte die Beine in die Höhe, oder
+wenn ein Wagen vorbeifuhr, saß er, ehe man sich's dessen versah, oben
+auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr so ein
+Stückchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.
+
+Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Bürgermeister und
+die anderen Männer sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der
+Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner
+Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfüßig gewesen
+zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten,
+ungemein.
+
+Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig über ihn ärgerten
+und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Engländer
+allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte
+Herr pflegte nämlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen
+Hirsch, das Wirtshaus des Städtchens, zu kommen. Obgleich der Neffe
+noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein Alter,
+setzte sich hinter sein Glas, tat eine ungeheure Brille auf, zog
+eine gewaltige Pfeife heraus, zündete sie an und dampfte unter allen
+am ärgsten. Wurde nun über die Zeitungen, über Krieg und Frieden
+gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Bürgermeister jene, waren
+die anderen Herren ganz erstaunt über so tiefe politische Kenntnisse,
+so konnte es dem Neffen plötzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu
+sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe
+ablegte, auf den Tisch und gab dem Bürgermeister und dem Doktor nicht
+undeutlich zu verstehen, daß sie von diesem allem nichts genau wüßten,
+daß er diese Sachen ganz anders gehört habe und tiefere Einsicht
+besitze. Er gab dann in einem sonderbar gebrochenen Deutsch seine
+Meinung preis, die alle, zum großen Ärgernis des Bürgermeisters, ganz
+trefflich fanden; denn er mußte als Engländer natürlich alles besser
+wissen.
+
+Setzten sich dann der Bürgermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den
+sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so
+rückte der Neffe hinzu, schaute dem Bürgermeister mit seiner großen
+Brille über die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug,
+sagte dem Doktor, so und so müsse er ziehen, so daß beide Männer
+heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Bürgermeister
+ärgerlich eine Partie an, um ihn gehörig matt zu machen, denn er
+hielt sich für einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem
+Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und
+manierlich wurde und den Bürgermeister matt machte.
+
+Man hatte bisher in Grünwiesel beinahe jeden Abend Karten gespielt,
+die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbärmlich,
+setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so
+fein wie er, söhnte aber die beleidigten Herren gewöhnlich dadurch
+wieder aus, daß er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich
+auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen; denn
+"er ist ja ein Engländer, also von Hause aus reich", sagten sie und
+schoben die Dukaten in die Tasche.
+
+So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und
+Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit
+Menschengedenken nicht erinnern, einen jungen Mann dieser Art in
+Grünwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung,
+die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, daß der Neffe irgend
+etwas gelernt hätte als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm,
+wie man zu sagen pflegt, böhmische Dörfer. Bei einem
+Gesellschaftsspiel in Bürgermeisters Hause sollte er etwas schreiben,
+und es fand sich, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte;
+in der Geographie machte er die auffallendsten Schnitzer; denn es kam
+ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich oder eine
+dänische nach Polen zu versetzen, er hatte nichts gesehen, nichts
+studiert, und der Oberpfarrer schüttelte oft bedenklich den Kopf über
+die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles
+trefflich, was er tat oder sagte; denn er war so unverschämt, immer
+recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: "Ich
+verstehe das besser!"
+
+So kam der Winter heran, und jetzt erst trat der Neffe mit noch
+größerer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht
+er zugegen war, man gähnte, wenn ein vernünftiger Mann etwas sagte;
+wenn aber der Neffe selbst das törichteste Zeug in schlechtem Deutsch
+vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, daß der treffliche
+junge Mann auch ein Dichter war; denn nicht leicht verging ein Abend,
+an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der
+Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die
+von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht
+und ohne Sinn, einen anderen Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt
+gelesen haben; aber der Neffe ließ sich nicht irremachen, er las und
+las, machte dann auf die Schönheiten seiner Verse aufmerksam, und
+jedesmal erfolgte rauschender Beifall.
+
+Sein Triumph waren aber die Grünwieseler Bälle. Es konnte niemand
+anhaltender, schneller tanzen als er; keiner machte so kühne und
+ungemein zierliche Spränge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel
+immer aufs prächtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm
+die Kleider nicht recht am Leibe sitzen wollten, fand man dennoch,
+daß ihn alles allerliebst kleide. Die Männer fanden sich zwar bei
+diesen Tänzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat.
+Sonst hatte immer der Bürgermeister in eigener Person den Ball
+eröffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die übrigen
+Tänze anzuordnen aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies
+alles ganz anders. Ohne viel zu fragen, nahm er die nächste beste
+Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr oben an, machte alles, wie es
+ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkönig. Weil aber die
+Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften
+die Männer nichts dagegen einwenden, und der Neffe blieb bei seiner
+selbstgewählten Würde.
+
+Das größte Vergnügen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu
+gewähren; er verwandte kein Auge von seinem Neffen, lächelte immer in
+sich hinein, und wenn alle Welt herbeiströmte, um ihm über den
+anständigen, wohlgezogenen Jüngling Lobsprüche zu erteilen, so konnte
+er sich vor Freude gar nicht fassen; er brach dann in ein lustiges
+Gelächter aus und bezeugte sich wie närrisch; die Grünwieseler
+schrieben diese sonderbaren Ausbrüche der Freude seiner großen Liebe
+zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hier und da
+mußte er auch sein väterliches Ansehen gegen den Neffen anwenden.
+Denn mitten in den zierlichsten Tänzen konnte es dem jungen Mann
+einfallen, mit einem kühnen Sprung auf die Tribüne, wo die
+Stadtmusikanten saßen, zu setzen, dem Organisten den Kontrabaß aus
+der Hand zu reißen und schrecklich darauf umherzukratzen; oder er
+wechselte auf einmal und tanzte auf den Händen, indem er die Beine in
+die Höhe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu
+nehmen, machte ihm dort ernstliche Vowürfe und zog ihm die Halsbinde
+fester an, daß er wieder ganz gesittet wurde.
+
+So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Bällen. Wie es
+aber mit den Sitten zu geschehen pflegt, die schlechten verbreiten
+sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode,
+wenn sie auch höchst lächerlich sein solle, hat etwas Ansteckendes an
+sich für junge Leute, die noch nicht über sich selbst und die Welt
+nachgedacht haben. So war es auch in Grünwiesel mit dem Neffen und
+seinen sonderbaren Sitten. Als nämlich die junge Welt sah, wie
+derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und
+Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen Ältere eher geschätzt
+als getadelt werde, daß man dies alles sogar sehr geistreich finde,
+so dachten sie bei sich: "Es ist mir ein leichtes, auch solch ein
+geistreicher Schlingel zu werden." Sie waren sonst fleißige,
+geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: "Zu was hilft
+Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkömmt?" Sie
+ließen die Bücher liegen und trieben sich überall umher auf Plätzen
+und Straßen. Sonst waren sie artig gewesen und höflich gegen
+jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anständig und
+bescheiden geantwortet; jetzt standen sie in die Reihe der Männer,
+schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis und lachten selbst dem
+Bürgermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten,
+alles viel besser zu wissen.
+
+Sonst hatten die jungen Grünwieser Abscheu gehegt gegen rohes und
+gemeines Wesen. Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten
+aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen
+umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, große
+Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten nun, gemachte Leute
+zu sein; denn sie sahen ja aus wie der berühmte Neffe. Zu Hause oder
+wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefeln und Sporen auf dem
+Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft oder
+stützten die Wangen in beide Fäuste, die Ellbogen aber auf den Tisch,
+was nun überaus reizend anzusehen war. Umsonst sagten ihnen ihre
+Mütter und Freunde, wie töricht, wie unschicklich dies alles sei, sie
+beriefen sich auf das glänzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte
+man ihnen vor, daß man dem Neffen, als einem jungen Engländer, eine
+gewisse Nationalroheit verzeihen müsse, die jungen Grünwieseler
+behaupteten, ebensogut als der beste Engländer das Recht zu haben,
+auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie
+durch das böse Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten
+in Grünwiesel völlig untergingen.
+
+Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben
+dauerte nicht lange; denn folgender Vorfall veränderte auf einmal die
+ganze Szene: Die Wintervergnügungen sollte ein großes Konzert
+beschließen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten
+Musikfreunden in Grünwiesel aufgeführt werden sollte. Der
+Bürgermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz
+vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte,
+blies die Flöte, einige Jungfrauen aus Grünwiesel hatten Arien
+einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da äußerte der
+alte Fremde, daß zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden
+würde, es fehle aber offenbar an einem Duett, und ein Duett müsse in
+jedem ordentlichen Konzert notwendigerweise vorkommen. Man war etwas
+betreten über diese Äußerung; die Tochter des Bürgermeisters sang
+zwar wie eine Nachtigall; aber wo einen Herrn herbekommen, der mit
+ihr ein Duett singen könnte? Man wollte endlich auf den alten
+Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Baß gesungen hatte;
+der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht nötig, indem sein
+Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt über
+diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes; er mußte zur
+Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die
+man für englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in
+der Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem
+die Ohren der Grünwieseler durch das Konzert erquickt werden sollten.
+
+Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht
+beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn
+eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln über seinen Neffen
+auf. "Er ist eine gute Seele, mein Neffe", sagte er, "aber hier und
+da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles
+Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, daß ich dem Konzert nicht
+beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß
+wohl, warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht
+geistiger Mutwillen ist, sondern es ist körperlich, es liegt in
+seiner Natur. Wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in
+solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte oder
+daß er durchaus den Kontrabaß streichen wollte oder dergleichen,
+wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen
+oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen,
+Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird."
+
+Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach,
+im Fall der Not also zu tun, wie er ihm geraten.
+
+Der Konzertsaal war gedrängt voll; denn ganz Grünwiesel und die
+Umgegend hatten sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute,
+Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit
+zahlreicher Familie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den
+Grünwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich
+vortrefflich; nach ihnen trat der Bürgermeister auf, der das
+Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies;
+nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall,
+und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem
+Fagott sich hören ließ.
+
+Die erste Abteilung des Konzertes war vorbei, und jedermann war nun
+auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des
+Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in
+einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die
+Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich
+nämlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der
+für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er
+streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein
+ungeheueres Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille
+gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er trotz
+des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte.
+Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien; aber
+wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen,
+war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und
+niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darüber zu sagen; die
+vornehme Dame aber mußte auf einem ganz gemeinen Strohsessel mitten
+unter den übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht
+wenig geärgert haben.
+
+Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des
+Organisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem
+Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der
+Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut
+mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die
+absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.
+
+Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett
+vortragen würde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten
+hatten etwas weniges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit
+seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und
+sprach: "Mosjöh, wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?"
+Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die
+beiden anderen folgten ihm an das Notenpult, und die ganze
+Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und
+winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen
+Brillengläser in die Noten und stieß greuliche, jämmerliche Töne aus.
+Der Organist aber schrie ihm zu: "Zwei Töne tiefer, Wertester, C
+müssen Sie singen, C!"
+
+Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf
+ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als
+dies der Bürgermeister sah, dachte er. "Ha, jetzt hat er wieder
+seine körperlichen Zufälle!", sprang hinzu, packte ihn am Hals und
+band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch
+schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr Deutsch, sondern
+eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte große
+Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese
+unangenehme Störung; er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann,
+dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch
+vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor
+Schrecken wie erstarrt stehen; denn statt menschlicher Haut und Farbe
+umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und
+alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und
+sonderbarer fort, fuhr sich mit den glasierten Handschuhen in die
+Haare, zog diese ab, und o Wunder, diese schönen Haare waren eine
+Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf
+erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.
+
+Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat
+Geigen und Klarinette und erschien wie ein Rasender. "Fangt ihn,
+fangt ihn!" rief der Bürgermeister ganz außer sich, "er ist von
+Sinnen, fangt ihn!" Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte
+die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen
+er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich
+gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßte
+ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte
+und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich
+umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar
+nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der
+Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei
+ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief
+dann voll Verwunderung: "Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie
+bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft, das ist ja ein
+Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler für
+ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und balge ihn aus für mein Kabinett."
+
+Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten!
+"Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge
+Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe?" riefen sie und sahen einander
+ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute
+seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es
+war und blieb ein ganz natürlicher Affe.
+
+"Aber, wie ist dies möglich!" rief die Frau Bürgermeister. "Hat er
+mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein
+anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?"
+
+"Was?" eiferte die Frau Doktorin. "Wie? Hat er nicht oft und viel
+den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen
+und geraucht?"
+
+"Wie! Ist es möglich!" riefen die Männer. "Hat er nicht mit uns am
+Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie
+unsereiner?"
+
+"Und wie?" klagten sie alle. "Hat er nicht sogar vorgetanzt auf
+unseren Bällen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist
+Zauberei!" sagten die Bürger. "Ja, es ist Zauberei und teuflischer
+Spuk", sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder
+Affen herbeibrachte. "Seht! In diesem Tuch steckte der ganze Zauber,
+der ihn in unseren Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter
+Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen
+beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand
+lesen?"
+
+Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie
+Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und
+sprach: "Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:
+
+DER--AFFE--SEHR--POSSIERLICH--IST--ZUMAL--WANN--ER--VOM--APFEL--FRISST
+-Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei", fuhr er
+fort, "und es muß exemplarisch bestraft werden."
+
+Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf
+den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs
+Stadtsoldaten trugen den Affen; denn der Fremde sollte sogleich ins
+Verhör genommen werden.
+
+Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde
+Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben
+würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich,
+es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die
+Türe einschlagen und begab sich hierauf in die Zimmer des Fremden.
+Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde
+Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein
+großer, versiegelter Brief, an den Bürgermeister überschrieben, den
+dieser auch sogleich öffnete. Er las:
+
+"Meine lieben Grünwieseler!
+
+Wenn Ihr dies leset, bin ich nicht mehr in Eurem Städtchen, und Ihr
+werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein
+lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mit Euch erlaubte, als
+eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in
+Eure Gesellschaft zu nötigen. Ich selbst fühlte mich zu gut, um Euer
+ewiges Klatschen, um Eure schlechten Sitten und Euer lächerliches
+Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den Ihr
+als meinen Stellvertreter so liebgewonnen habt. Lebet wohl und
+benützet diese Lehre nach Kräften!"
+
+Die Grünwieseler schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr
+Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sei.
+Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil
+sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt
+hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie
+schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt
+wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie
+zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechten, lächerlichen
+Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseler: "Es ist ein Affe." Der
+Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt
+hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß,
+überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn
+und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den
+heutigen Tag zu sehen ist.
+
+Es entstand ein Gelächter im Saal, als der Sklave geendet hatte, und
+auch die jungen Männer lachten mit. "Es muß doch sonderbare Leute
+geben unter diesen Franken, und wahrhaftig, da bin ich lieber beim
+Scheik und Mufti in Alessandria als in Gesellschaft des Oberpfarrers,
+des Bürgermeisters und ihrer törichten Frauen in Grünwiesel!"
+
+"Da hast du gewiß recht gesprochen", erwiderte der junge Kaufmann.
+"In Frankistan möchte ich nicht tot sein. Die Franken sind ein rohes,
+wildes, barbarisches Volk, und für einen gebildeten Türken oder
+Perser müßte es schrecklich sein, dort zu leben."
+
+"Das werdet ihr bald hören", versprach der Alte, "so viel mir der
+Sklavenaufseher sagte, wird der schöne junge Mann dort vieles von
+Frankistan erzählen; denn er war lange dort und ist doch seiner
+Geburt nach ein Muselmann."
+
+"Wie, jener, der zuletzt sitzt in der Reihe? Wahrlich, es ist eine
+Sünde, daß der Herr Scheik diesen losgibt! Es ist der schönste
+Sklave im ganzen Land; schaut nur dieses mutige Gesicht, dieses kühne
+Auge, diese schöne Gestalt! Er kann ihm ja leichte Geschäfte geben;
+er kann ihn zum Fliegenwedeler machen oder zum Pfeifenträger; es ist
+ein Spaß, ein solches Amt zu versehen, und wahrlich, ein solcher
+SkIave ist die Zierde von einem ganzen Haus. Und erst drei Tage hat
+er ihn und gibt ihn weg? Es ist Torheit, es ist Sünde!"
+
+"Tadelt ihn doch nicht, ihn, der weiser ist als ganz Ägypten!" sprach
+der Alte mit Nachdruck. "Sagte ich euch nicht schon, daß er ihn
+losläßt, weil er glaubt, den Segen Allahs dadurch zu verdienen? Ihr
+sagt, er ist schön und wohlgebildet, und ihr sprecht die Wahrheit.
+Aber der Sohn des Scheik, den der Prophet in sein Vaterhaus
+zurückbringen möge, der Sohn des Scheik war ein schöner Knabe und muß
+jetzt auch groß sein und wohlgebildet. Soll er also das Gold sparen
+und einen wohlfeilen, verwachsenen Sklaven hingeben in der Hoffnung,
+seinen Sohn dafür zu bekommen? Wer etwas tun will in der Welt, der
+tut es lieber gar nicht oder--recht!"
+
+"Und sehet, des Scheik Augen sind immer auf diesen Sklaven geheftet;
+ich bemerkte es schon den ganzen Abend. Während der Erzählungen
+streifte oft sein Blick dorthin und verweilte auf den edlen Zügen des
+Freigelassenen. Es muß ihn doch ein wenig schmerzen, ihn freizugeben."
+
+"Denke nicht also von dem Mann! Meinst du, tausend Tomans schmerzen
+ihn, der jeden Tag das Dreifache einnimmt?" sagte der alte Mann.
+"Aber wenn sein Blick mit Kummer auf dem Jüngling weilt, so denkt er
+wohl an seinen Sohn, der in der Fremde schmachtet; er denkt wohl, ob
+dort vielleicht ein barmerziger Mann wohne, der ihn loskaufe und
+zurückschicke zum Vater. "
+
+"Ihr mögt recht haben", erwiderte der junge Kaufmann, "und ich schäme
+mich, daß ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke,
+während Ihr lieber eine schöne Gesinnung unterlegt. Und doch sind
+die Menschen in der Regel schlecht, habt Ihr dies nicht auch gefunden,
+Alter?"
+
+"Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von
+den Menschen", antwortete dieser, "es ging mir gerade wie euch; ich
+lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen,
+mußte selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die
+Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir
+bei, daß Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte,
+daß ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich
+dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und
+siehe--ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich
+hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit
+übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft
+lebten und gerecht waren; so oft ich aber Böses, Schlechtes hörte,
+hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an,
+mit ganz anderen Augen um mich zu schauen; es freute mich, wenn ich
+das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich
+bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so
+lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken und
+habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes
+sprach, als wenn ich ihn für geizig oder gemein oder gottlos hielt."
+
+Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven
+unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: "Mein Herr, der Scheik von
+Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale
+bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu
+setzen."
+
+Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt über die Ehre, die dem
+Alten widerfahren sollte, den sie für einen Bettler gehalten, und als
+dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den
+Sklavenaufseher zurück, und der Schreiber fragte ihn: "Beim Bart des
+Propheten beschwöre ich dich, sage uns, wer ist dieser alte Mann, mit
+dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?"
+
+"Wie!" rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die
+Hände zusammen. "Diesen Mann kennet ihr nicht?"
+
+"Nein, wir wissen nicht, wer er ist."
+
+"Aber ich sah euch doch schon einigemal mit ihm auf der Straße
+sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst
+letzthin gesagt: 'Das müssen wackere junge Leute sein, die dieser
+Mann eines Gespräches würdigt.'"
+
+"Aber, so sage doch, wer er ist!" rief der junge Kaufmann in höchster
+Ungeduld.
+
+"Gehet, Ihr wollet mich nur zum Narren haben", antwortete der
+Sklavenaufseher. "In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht
+ausdrücklich eingeladen ist, und heute ließ der Alte dem Scheik sagen,
+er werde einige junge Männer in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm
+nicht ungelegen sei, und Ali Banu ließ ihm sagen, er habe über sein
+Haus zu gebieten."
+
+"Lasse uns nicht länger in Ungewißheit; so wahr ich lebe, ich weiß
+nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufällig kennen und
+sprachen mit ihm."
+
+"Nun, dann dürfet ihr euch glücklich preisen; denn ihr habt mit einem
+gelehrten, berühmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und
+bewundern euch deshalb; es ist niemand anders als Mustapha, der
+gelehrte Derwisch."
+
+"Mustapha, der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat?
+Der viele gelehrte Bücher schrieb, der große Reisen machte in alle
+Weltteile! Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als
+wär' er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?" So sprachen die
+jungen Männer untereinander und waren sehr beschämt; denn der
+Derwisch Mustapha galt damals für den weisesten und gelehrtesten Mann
+im ganzen Morgenland.
+
+"Tröst' euch darüber", antwortete der Sklavenaufseher, seid froh, daß
+ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt,
+und hättet ihr ihn ein einziges Mal die Sonne der Gelehrsamkeit oder
+das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebräuchlich ist bei Männern
+dieser Axt, er hätte euch von Stund' an verlassen. Doch ich muß
+jetzt zurück zu den Leuten, die heute erzählen. Der, der jetzt kommt,
+ist tief hinten in Frankistan gebürtig, wollen sehen, was er weiß."
+
+So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe
+zu erzählen kam, stand auf und sprach: "Herr! ich bin aus einem Lande,
+das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne
+nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht,
+wo sie nur wenige Monde über die grüne Erde scheint und ihr im Flug
+sparsame Blüten und Früchte entlockt. Du sollst, wenn es dir
+angenehm ist, ein paar Märchen hören, wie man sie bei uns in den
+warmen Stuben erzählt, wenn das Nordlicht über die Schneefelder
+flimmert." (Im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 standen hier "Das
+Fest der Unterirdischen" (norwegisches Märchen nach mündlicher
+Überlieferung) und "Schneeweißchen und Rosenrot" von Wilhelm Grimm)
+
+Noch waren die jungen Männer im Gespräch über diese Märchen und über
+den Alten, den Derwisch Mustapha; sie fühlten sich nicht wenig geehrt,
+daß ein so alter und berühmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit
+gewürdigt und sogar öfters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte.
+Da kam plötzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein,
+ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle.
+
+Den Jünglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so
+vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so
+großer Gesellschaft. Doch sie faßten sich, um nicht als Toren zu
+erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali
+Banu saß auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu
+seiner Rechten saß der Alte, sein dürftiges Kleid ruhte auf
+herrlichen Polstern, seine ärmlichen Sandalen hatte er auf einen
+reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schöner
+Kopf, sein Auge voll Würde und Weisheit zeigten an, daß er würdig sei,
+neben einem Mann wie dem Scheik zu sitzen.
+
+Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut
+zuzusprechen. Die Jünglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das
+Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der
+wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespräch mit ihnen
+zerstreuen wollte.
+
+"Willkommen, ihr jungen Männer", sprach der Scheik, "willkommen in
+dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank
+verdient, daß er euch hier einführte; doch zürnte ich ihm ein wenig,
+daß er mich nicht früher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist
+denn der junge Schreiber?"
+
+"Ich, o Herr und zu Euren Diensten!" sprach der junge Schreiber,
+indem er die Arme über der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.
+
+"Ihr hört also gerne Geschichten und leset gerne Bücher mit schönen
+Versen und Denksprüchen?"
+
+Der junge Mensch erschrak und errötete; denn ihm fiel bei, wie er
+damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seine
+Stelle würde er sich erzählen oder aus Büchern vorlesen lassen. Er
+war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiß alles verraten
+hatte, in diesem Augenblicke recht gram, warf ihm einen bösen Blick
+zu und sprach dann: "O Herr! Allerdings kenne ich für meinen Teil
+keine angenehmere Beschäftigung, als mit dergleichen den Tag
+zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder
+nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiß keinen, der nicht--"
+
+"Schon gut, schon gut", unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte
+den zweiten herbei.
+
+"Wer bist denn du?" fragte er ihn.
+
+"Herr, ich bin meines Amtes der Gehilfe eines Arztes und habe selbst
+schon einige Kranke geheilt."
+
+"Richtig", erwiderte der Scheik, "und Ihr seid es auch, der das
+Wohlleben liebet; Ihr möchtet gerne mit guten Freunden hier und da
+tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?"
+
+Der junge Mann war beschämt; er fühlte, daß er verraten war und daß
+der Alte auch von ihm gebeichtet haben mußte. Er faßte sich aber ein
+Herz und antwortete: "O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens
+Glückseligkeiten, hier und da mit guten Freunden fröhlich sein zu
+können. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine
+Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu
+bewirten; doch sind wir auch dabei fröhlich, und es läßt sich denken,
+daß wir es noch um ein gutes Teil mehr wären, wenn ich mehr Geld
+hätte."
+
+Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich nicht
+enthalten, darüber zu lachen. "Welcher ist denn der junge Kaufmann?"
+fragte er weiter.
+
+Der junge Kaufmann verbeugte sich mit freiem Anstand vor dem Scheik;
+denn er war ein Mensch von guter Erziehung; der Scheik aber sprach:
+"Und Ihr? Ihr habt Freude an Musik und Tanz? Ihr höret es gerne,
+wenn gute Künstler etwas spielen und singen und sehet gerne Tänzer
+künstliche Tänze ausführen?" Der junge Kaufmann antwortete: "Ich sehe
+wohl, o Herr, daß jener alte Mann, um Euch zu belustigen, unsere
+Torheiten insgesamt verraten hat. Wenn es ihm gelang, Euch dadurch
+aufzuheitern, so habe ich gerne zu Eurem Scherz gedient. Was aber
+Musik und Tanz betrifft, so gestehe ich, es gibt nicht leicht etwas,
+was mein Herz also vergnügt. Doch glaubet nicht, daß ich deswegen
+Euch tadle, o Herr, wenn Ihr nicht ebenfalls--"
+
+"Genug, nicht weiter!" rief der Scheik, lächelnd mit der Hand
+abwehrend. "Jeder nach seiner Weise, wollet Ihr sagen; aber dort
+steht ja noch einer; das ist wohl der, welcher so gerne reisen
+möchte? Wer seid denn Ihr, junger Herr?"
+
+"Ich bin ein Maler, o Herr", antwortete der junge Mann, "ich male
+Landschaften teils an die Wände der Säle, teils auf Leinwand. Fremde
+Länder zu sehen, ist allerdings mein Wunsch; denn man sieht dort
+allerlei schöne Gegenden, die man wieder anbringen kann; und was man
+sieht und abzeichnet, ist doch in der Regel immer schöner, als was
+man nur so selbst erfindet."
+
+Der Scheik betrachtete jetzt die schönen jungen Leute, und sein Blick
+wurde ernst und düster. "Ich hatte einst auch einen lieben Sohn",
+sagte er, "und er müßte nun auch so herangewachsen sein wie ihr. Da
+solltet ihr seine Genossen und Begleiter sein, und jeder eurer
+Wünsche würde von selbst befriedigt werden. Mit jenem würde er lesen,
+mit diesem Musik hören, mit dem anderen würde er gute Freunde
+einladen und fröhlich und guter Dinge sein, und mit dem Maler ließe
+ich ihn ausziehen in schöne Gegenden und wäre dann gewiß, daß er
+immer wieder zu mir zurückkehrte. So hat es aber Allah nicht gewollt,
+und ich füge mich in seinen Willen ohne Murren. Doch es steht in
+meiner Macht, eure Wünsche dennoch zu erfüllen, und ihr sollt
+freudigen Herzens von Ali Banu gehen. Ihr, mein gelehrter Freund",
+fuhr er fort, indem er sich zu dem Schreiber wandte, "wohnt von jetzt
+an in meinem Hause und seid über meine Bücher gesetzt. Ihr könnet
+noch dazu anschaffen, was Ihr wollet und für gut haltet, und Euer
+einziges Geschäft sei, mir, wenn Ihr etwas recht Schönes gelesen habt,
+zu erzählen. Ihr, der Ihr eine gute Tafel unter Freunden liebet,
+Ihr sollet der Aufseher über meine Vergnügungen sein. Ich selbst
+zwar lebe einsam und ohne Freude, aber es ist meine Pflicht, und mein
+Amt bringt es mit sich, hier und da viele Gäste einzuladen. Dort
+sollet Ihr an meiner Stelle alles besorgen und könnet von Euren
+Freunden dazu einladen, wen Ihr nur wollet; versteht sich, auf etwas
+Besseres als Wassermelonen. Den jungen Kaufmann da darf ich freilich
+seinem Geschäft nicht entziehen, das ihm Geld und Ehre bringt; aber
+alle Abende stehen Euch, mein junger Freund, Tänzer, Sänger und
+Musikanten zu Dienste, so viel Ihr wollet. Lasset Euch aufspielen
+und tanzen nach Herzenslust. Und Ihr", sprach er zu dem Maler, "Ihr
+sollet fremde Länder sehen und das Auge durch Erfahrung schärfen.
+Mein Schatzmeister wird Euch zu der ersten Reise, die Ihr morgen
+antreten könnet, tausend Goldstücke reichen nebst zwei Pferden und
+einem Sklaven. Reiset, wohin Euch das Herz treibt, und wenn Ihr
+etwas Schönes sehet, so malet es für mich!"
+
+Die jungen Leute waren außer sich vor Erstaunen, sprachlos vor Freude
+und Dank. Sie wollten den Boden vor den Füßen des gültigen Mannes
+küssen; aber er ließ es nicht zu. "Wenn ihr einem zu danken habt",
+sprach er, "so ist es diesem weisen Mann hier, der mir von euch
+erzählte. Auch mir hat er dadurch Vergnügen gemacht, vier so muntere
+junge Leute eurer Art kennenzulernen."
+
+Der Derwisch Mustapha aber wehrte den Dank der Jünglinge ab. "Sehet",
+sprach er, "wie man nie voreilig urteilen muß; habe ich euch zuviel
+von diesem edlen Manne gesagt?"
+
+"Lasset uns nun noch den letzten meiner Sklaven, die heute frei sind,
+erzählen hören", unterbrach ihn Ali Banu.
+
+Jener junge Sklave, der die Aufmerksamkeit aller durch seinen Wuchs,
+durch seine Schönheit und seinen mutigen Blick auf sich gezogen hatte,
+stand jetzt auf, verbeugte sich vor dem Scheik und fing wohltönend
+also zu sprechen an:
+
+
+
+
+Das Fest der Unterirdischen
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Das Fest der
+Unterirdischen" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Schneeweißchen und Rosenrot
+
+Wilhelm Grimm
+
+
+Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Schneeweißchen und
+Rosenrot" von Wilhelm Grimm.
+
+
+
+
+
+
+Die Geschichte Almansors
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+O Herr! Die Männer, die vor mir gesprochen haben, erzählten
+mancherlei wunderbare Geschichten, die sie gehört hatten in fremden
+Ländern; ich muß mit Beschämung gestehen, daß ich keine einzige
+Erzählung weiß, die Eurer Aufmerksamkeit würdig wäre. Doch wenn es
+Euch nicht langweilt, will ich Euch die wunderbaren Schicksale eines
+meiner Freunde vortragen.
+
+Auf jenem algerischen Kaperschiff, von welchem mich Eure milde Hand
+befreit hat, war ein junger Mann in meinem Alter, der mir nicht für
+das Sklavenkleid geboren schien, das er trug. Die übrigen
+Unglücklichen auf dem Schiffe waren entweder rohe Menschen, mit denen
+ich nicht leben mochte, oder Leute, deren Sprache ich nicht verstand;
+darum fand ich mich zu der Zeit, wo wir ein Stündchen frei hatten,
+gerne zu dem jungen Mann. Er nannte sich Almansor und war seiner
+Aussprache nach ein Ägypter. Wir unterhielten uns recht angenehm
+miteinander und kamen eines Tages auch darauf, uns unsere Geschichte
+zu erzählen, da dann die meines Freundes allerdings bei weitem
+merkwürdiger war als die meinige.
+
+Almansors Vater war ein vornehmer Mann in einer ägyptischen Stadt,
+deren Namen er mir nicht nannte. Er lebte die Tage seiner Kindheit
+vergnügt und froh und umgeben von allem Glanz und aller
+Bequemlichkeit der Erde. Aber er wurde dabei doch nicht weichlich
+erzogen, und sein Geist wurde frühzeitig ausgebildet; denn sein Vater
+war ein weiser Mann, der ihm Lehren der Tugend gab, und überdies
+hatte er zum Lehrer einen berühmten Gelehrten, der ihn in allem
+unterrichtete, was ein junger Mensch wissen muß--Almansor war etwa
+zehn Jahre alt, als die Franken über das Meer her in das Land kamen
+und Krieg mit seinem Volke führten.
+
+Der Vater des Knaben mußte aber den Franken nicht sehr günstig
+gewesen sein; denn eines Tages, als er eben zum Morgengebet gehen
+wollte, kamen sie und verlangten zuerst seine Frau als Geisel seiner
+treuen Gesinnungen gegen das Frankenvolk, und als er sie nicht geben
+wollte, schleppten sie seinen Sohn mit Gewalt ins Lager.
+
+Als der junge Sklave also erzählte, verhüllte der Scheik sein
+Angesicht, und es entstand ein Murren des Unwillens im Saal. "Wie",
+riefen die Freunde des Scheik, "wie kann der junge Mann dort so
+töricht handeln und durch solche Geschichten die Wunden Ali Banus
+aufreißen, statt sie zu mildern? Wie kann er ihm seinen Schmerz
+erneuern, statt ihn zu zerstreuen?" Der Sklavenaufseher selbst war
+voll Zorn über den unverschämten Jüngling und gebot ihm zu schweigen.
+
+Der junge Sklave aber war sehr erstaunt über dies alles und fragte
+den Scheik, ob denn in seiner Erzählung etwas liege, das sein
+Mißfallen erregt habe. Der Scheik richtete sich auf und sprach:
+"Seid doch ruhig, Freunde; wie kann denn dieser Jüngling etwas von
+meinem betrübten Schicksal wissen, da er nur kaum drei Tage unter
+diesem Dache ist! Kann es denn bei den Greueln, die diese Franken
+verübten, nicht ein ähnliches Geschick wie das meine geben? Kann
+nicht vielleicht selbst jener Almansor--doch erzähle immer weiter,
+mein junger Freund!" Der junge Sklave verbeugte sich und fuhr fort:
+
+Der junge Almansor wurde also in das fränkische Lager geführt. Es
+erging ihm dort im ganzen gut; denn einer der Feldherrn ließ ihn in
+sein Zelt kommen und hatte seine Freude an den Antworten des Knaben,
+die ihm ein Dragoman übersetzen mußte; er sorgte für ihn, daß ihm an
+Speise und Kleidung nichts abginge; aber die Sehnsucht nach Vater und
+Mutter machte dennoch den Knaben höchst unglücklich. Er weinte viele
+Tage lang, aber seine Tränen rührten diese Männer nicht. Das Lager
+wurde aufgebrochen, und Almansor glaubte jetzt wieder zurückkehren zu
+dürfen; aber es war nicht so; das Heer zog hin und her, führte Krieg
+mit den Mamelucken, und den jungen Almansor schleppten sie immer mit
+sich. Wenn er dann die Hauptleute und Feldherren anflehte, ihn doch
+wieder heimkehren zu lassen, so verweigerten sie es und sagten, er
+müsse ein Unterpfand von seines Vaters Treue sein. So war er viele
+Tage lang auf dem Marsch.
+
+Auf einmal aber entstand eine Bewegung im Heere, die dem Knaben nicht
+entging; man sprach von Einpacken, von Zurückziehen, vom Einschiffen,
+und Almansor war außer sich vor Freude; denn jetzt, wenn die Franken
+in ihr Land zurückkehrten, jetzt mußte er ja frei werden. Man zog
+mit Roß und Wagen rückwärts gegen die Küste, und endlich war man so
+weit, daß man die Schiffe vor Anker liegen sah. Die Soldaten
+schifften sich ein; aber es wurde Nacht, bis nur ein kleiner Teil
+eingeschifft war. So gerne Almansor gewacht hätte, weil er jede
+Stunde glaubte, freigelassen zu werden, so verfiel er doch endlich in
+einen tiefen Schlaf, und er glaubte, die Franken haben ihm etwas
+unter das Wasser gemischt, um ihn einzuschläfern. Denn als er
+aufwachte, schien der helle Tag in eine kleine Kammer, worin er nicht
+gewesen war, als er einschlief. Er sprang auf von seinem Lager, aber
+als er auf den Boden kam, fiel er um; denn der Boden schwankte hin
+und wieder, und es schien sich alles zu bewegen und im Kreis um ihn
+her zu tanzen. Er raffte sich auf, hielt sich an den Wänden fest, um
+aus dem Gemach zu kommen, worin er sich befand.
+
+Ein sonderbares Brausen und Zischen war um ihn her; er wußte nicht,
+ob er träume oder wache; denn er hatte nie Ähnliches gesehen oder
+gehört. Endlich erreichte er eine kleine Treppe, mit Mühe klimmte er
+hinauf, und welcher Schrecken befiel ihn! Ringsumher war nichts als
+Himmel und Meer, er befand sich auf einem Schiffe. Da fing er
+kläglich an zu weinen. Er wollte zurückgebracht werden, er wollte
+ins Meer sich stürzen und hinüberschwimmen nach seiner Heimat; aber
+die Franken hielten ihn fest, und einer der Befehlshaber ließ ihn zu
+sich kommen, versprach ihm, wenn er gehorsam sei, solle er bald
+wieder in seine Heimat zurück, und stellte ihm vor, daß es nicht mehr
+möglich gewesen wäre, ihn vom Land aus nach Hause zu bringen, dort
+aber hätte er, wenn man ihn zurückgelassen, elendiglich umkommen
+müssen.
+
+Wer aber nicht Wort hielt, waren die Franken; denn das Schiff segelte
+viele Tage lang weiter, und als es endlich landete, war man nicht an
+Ägyptens Küste, sondern in Frankistan! Almansor hatte während der
+langen Fahrt und schon im Lager einiges von der Sprache der Franken
+verstehen und sprechen gelernt, was ihm in diesem Lande, wo niemand
+seine Sprache kannte, sehr gut zustatten kam. Er wurde viele Tage
+lang durch das Land in das Innere geführt, und überall strömte das
+Volk zusammen, um ihn zu sehen; denn seine Begleiter sagten aus, er
+wäre der Sohn des Königs von Ägypten, der ihn zu seiner Ausbildung
+nach Frankistan schicke.
+
+So sagten aber die Soldaten nur, um das Volk glauben zu machen, sie
+haben Ägypten besiegt und stehen in tiefem Frieden mit diesem Land.
+Nachdem die Reise zu Land mehrere Tage gedauert hatte, kamen sie in
+eine große Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Dort wurde er einem Arzt
+übergeben, der ihn in sein Haus nahm und in allen Sitten und
+Gebräuchen von Frankistan unterwies.
+
+Er mußte vor allem fränkische Kleider anlegen, die sehr enge und
+knapp waren und bei weitem nicht so schön wie seine ägyptischen.
+Dann durfte er nicht mehr seine Verbeugung mit gekreuzten Armen
+machen, sondern wollte er jemand seine Ehrerbietung bezeugen, so
+mußte er mit der einen Hand die ungeheure Mütze von schwarzem Filz,
+die alle Männer trugen und die man auch ihm aufgesetzt hatte, vom
+Kopfe reißen, mit der anderen Hand mußte er auf die Seite fahren und
+mit dem rechten Fuß auskratzen. Er durfte auch nicht mehr mit
+überschlagenen Beinen sitzen, wie es angenehme Sitte ist im
+Morgenlande, sondern auf hochbeinige Stühle mußte er sich setzen und
+die Füße herabhängen lassen auf den Boden. Das Essen machte ihm auch
+nicht geringe Schwierigkeit; denn alles, was er zum Munde bringen
+wollte, mußte er zuvor auf eine Gabel von Eisen stecken.
+
+Der Doktor aber war ein strenger, böser Mann, der den Knaben plagte:
+Denn wenn er sich jemals vergaß und zu einem Besuch sagte: "Salem
+aleikum", so schlug er ihn mit dem Stock; denn er sollte sagen:
+"Votre serviteur!" Er durfte auch nicht mehr in seiner Sprache denken
+und sprechen oder schreiben, höchstens durfte er darin träumen, und
+er hätte vielleicht seine Sprache gänzlich verlernt, wenn nicht ein
+Mann in jener Stadt gelebt hätte, der ihm von großem Nutzen war.
+
+Es war dies ein alter, aber sehr gelehrter Mann, der viele
+morgenländische Sprachen verstand. Arabisch, Persisch, Koptisch,
+sogar Chinesisch, von jedem etwas; er galt in jenem Land für ein
+Wunder von Gelehrsamkeit, und man gab ihm viel Geld, daß er diese
+Sprachen andere Leute lehrte. Dieser Mann ließ nun den jungen
+Almansor alle Wochen einigemal zu sich kommen, bewirtete ihn mit
+seltenen Früchten und dergleichen, und dem Jüngling war es dann, als
+wäre er zu Haus. Denn der alte Herr war gar ein sonderbarer Mann.
+Er hatte Almansor Kleider machen lassen, wie sie vornehme Leute in
+Ägypten tragen. Diese Kleider bewahrte er in seinem Hause in einem
+besonderen Zimmer auf. Kam nun Almansor, so schickte er ihn mit
+einem Bediensteten in jenes Zimmer und ließ ihn ganz nach seiner
+Landessitte ankleiden. Von da ging es dann nach "Kleinarabien"; so
+nannte man einen Saal im Hause des Gelehrten.
+
+Dieser Saal war mit allerlei künstlich aufgezogenen Bäumen, als
+Palmen, Bambus, jungen Zedern und dergleichen, und mit Blumen
+ausgeschmückt, die nur im Morgenland wachsen. Persische Teppiche
+lagen auf dem Fußboden, und an den Wänden waren Polster, nirgends
+aber ein fränkischer Stuhl oder Tisch. Auf einem dieser Polster saß
+der alte Professor; er sah aber ganz anders aus als gewöhnlich; um
+den Kopf hatte er einen feinen türkischen Schal als Turban gewunden,
+er hatte einen grauen Bart umgeknüpft, der ihm bis zum Gürtel reichte
+und aussah wie ein natürlicher, ehrwürdiger Bart eines gewichtigen
+Mannes. Dazu trug er einen Talar, den er aus einem brokatnen
+Schlafrock hatte machen lassen, weite türkische Beinkleider, gelbe
+Pantoffeln, und so friedlich er sonst war, an diesen Tagen hatte er
+einen türkischen Säbel umgeschnallt, und im Gürtel stak ein Dolch,
+mit falschen Steinen besetzt. Dazu rauchte er aus einer zwei Ellen
+langen Pfeife und ließ sich von seinen Leuten bedienen, die ebenfalls
+persisch gekleidet waren und wovon die Hälfte Gesicht und Hände
+schwarz gefärbt hatte.
+
+Von Anfang wollte dies alles dem jungen Almansor gar wunderlich
+bedünken; aber bald sah er ein, daß solche Stunden, wenn er in die
+Gedanken des Alten sich fügte, sehr nützlich für ihn seien. Durfte
+er beim Doktor kein ägyptisches Wort sprechen, so war hier die
+fränkische Sprache sehr verboten. Almansor mußte beim Eintreten den
+Friedensgruß sprechen, den der alte Perser sehr feierlich erwiderte;
+dann winkte er dem Jüngling, sich neben ihn zu setzen, und begann
+Persisch, Arabisch, Koptisch und alle Sprachen untereinander zu
+sprechen und nannte dies eine gelehrte morgenländische Unterhaltung.
+Neben ihm stand ein Bediensteter oder, was sie an diesem Tage
+vorstellten, ein Sklave, der ein großes Buch hielt; das Buch war aber
+ein Wörterbuch, und wenn dem Alten die Worte ausgingen, winkte er dem
+Sklaven, schlug flugs auf, was er sagen wollte, und fuhr dann zu
+sprechen fort.
+
+Die Sklaven aber brachten in türkischem Geschirr Sorbet und
+dergleichen, und wollte Almansor dem Alten ein großes Vergnügen
+machen, so mußte er sagen, es sei alles bei ihm angeordnet wie im
+Morgenland. Almansor las sehr schön Persisch, und das war der
+Hauptvorteil für den Alten. Er hatte viele persische Manuskripte;
+aus diesen ließ er sich von dem Jüngling vorlesen, las aufmerksam
+nach und merkte sich auf diese Art die richtige Aussprache.
+
+Das waren die Freudentage des armen Almansor; denn nie entließ ihn
+der alte Professor unbeschenkt, und oft trug er sogar kostbare Gaben
+an Geld und Leinenzeug oder anderen notwendigen Dingen davon, die ihm
+der Doktor nicht geben wollte. So lebte Almansor einige Jahre in der
+Hauptstadt des Frankenlandes, und nie wurde seine Sehnsucht nach der
+Heimat geringer. Als er aber etwa fünfzehn Jahre alt war, begab sich
+ein Vorfall, der auf sein Schicksal großen Einfluß hatte.
+
+Die Franken nämlich wählten ihren ersten Feldherrn, denselben, mit
+welchem Almansor so oft in Ägypten gesprochen hatte, zu ihrem König
+und Beherrscher; Almansor wußte zwar und erkannte es an den großen
+Festlichkeiten, daß etwas dergleichen in dieser großen Stadt geschehe;
+doch konnte er sich nicht denken, daß der König derselbe sei, den er
+in Ägypten gesehen; denn jener Feldherr war noch ein sehr junger Mann.
+Eines Tages aber ging Almansor über eine jener Brücken, die über
+den breiten Fluß fahren, der die Stadt durchströmt; da gewahrte er in
+dem einfachen Kleid eines Soldaten einen Mann, der am Brückengeländer
+lehnte und in die Wellen sah. Die Züge des Mannes fielen ihm auf,
+und er erinnerte sich, ihn schon gesehen zu haben. Er ging also
+schnell die Kammern seiner Erinnerung durch, und als er an die Pforte
+der Kammer von Ägypten kam, da eröffnete sich ihm plötzlich das
+Verständnis, daß dieser Mann jener Feldherr der Franken sei, mit
+welchem er oft im Lager gesprochen und der immer gütig für ihn
+gesorgt hatte. Er wußte seinen rechten Namen nicht genau; er faßte
+sich daher ein Herz, trat zu ihm, nannte ihn, wie ihn die Soldaten
+unter sich nannten, und sprach, indem er nach seiner Landessitte die
+Arme über der Brust kreuzte: "Salem aleikum, Petit-Caporal!"
+
+Der Mann sah sich erstaunt um, blickte den jungen Menschen mit
+scharfen Augen an, dachte über ihn nach und sagte dann: "Himmel, ist
+es möglich! Du hier, Almansor? Was macht dein Vater? Wie geht es
+in Ägypten? Was führt dich zu uns hierher?"
+
+Da konnte sich Almansor nicht länger halten; er fing an, bitterlich
+zu weinen, und sagte zu dem Mann: "So weißt du also nicht, was die
+Hunde, deine Landsleute, mit mir gemacht haben, Petit-Caporal? Du
+weißt nicht, daß ich das Land meiner Väter nicht mehr gesehen habe
+seit vielen Jahren?"
+
+"Ich will nicht hoffen", sagte der Mann, und seine Stirne wurde
+finster, "ich will nicht hoffen, daß man dich mit hinwegschleppte."
+
+"Ach, freilich", antwortete Almansor, "an jenem Tage, wo Eure
+Soldaten sich einschifften, sah ich mein Vaterland zum letztenmal;
+sie nahmen mich mit sich hinweg, und ein Hauptmann, den mein Elend
+rührte, zahlt ein Kostgeld für mich bei einem verwünschten Doktor,
+der mich schlägt und halb Hungers sterben läßt. Aber höre,
+Petit-Caporal", fuhr er ganz treuherzig fort, "es ist gut, daß ich
+dich hier traf, du mußt mir helfen."
+
+Der Mann, zu welchem er dies sprach, lächelte und fragte, auf welche
+Weise er denn helfen sollte.
+
+"Siehe", sagte Almansor, "es wäre unbillig, wollte ich von dir etwas
+verlangen; du warst von jeher so gütig gegen mich, aber ich weiß, du
+bist auch ein armer Mensch, und wenn du auch Feldherr warst, gingst
+du nie so schön gekleidet wie die anderen; auch jetzt mußt du, nach
+deinem Rock und Hut zu urteilen, nicht in den besten Umständen sein.
+Aber da haben ja die Franken letzthin einen Sultan gewählt, und ohne
+Zweifel kennst du Leute, die sich ihm nahen dürfen, etwa seinen
+Janitscharen-Aga oder den Reis-Effendi oder seinen Rapudan-Pascha;
+nicht?"
+
+"Nun ja", antwortete der Mann, "aber wie weiter?"
+
+"Bei diesen könntest du ein gutes Wort für mich einlegen,
+Petit-Caporal, daß sie den Sultan der Franken bitten, er möchte mich
+freilassen; dann brauche ich auch etwas Geld zur Reise übers Meer;
+vor allem aber mußt du mir versprechen, weder dem Doktor noch dem
+arabischen Professor etwas davon zu sagen."
+
+"Wer ist denn der arabische Professor?" fragte jener. "Ach, das ist
+ein sonderbarer Mann; doch von diesem erzähle ich dir ein andermal.
+Wenn es die beiden hörten, dürfte ich nicht mehr aus Frankistan weg.
+Aber willst du für mich sprechen bei den Agas? Sage es mir
+aufrichtig!"
+
+"Komm mit mir", sagte der Mann, "vielleicht kann ich dir jetzt gleich
+nützlich sein."
+
+"Jetzt?" rief der Jüngling mit Schrecken. "Jetzt um keinen Preis, da
+würde mich der Doktor prügeln; ich muß eilen, daß ich nach Hause
+komme."
+
+"Was trägst du denn in diesem Korb?" fragte jener, indem er ihn
+zurückhielt.
+
+Almansor errötete und wollte es anfangs nicht zeigen; endlich aber
+sagte er: "Siehe, Petit- Caporal, ich muß hier Dienste tun wie der
+geringste Sklave meines Vaters. Der Doktor ist ein geiziger Mann und
+schickt mich alle Tage von unserem Hause eine Stunde weit auf den
+Gemüse- und Fischmarkt; da muß ich dann unter den schmutzigen
+Marktweibern einkaufen, weil es dort um einige Kupfermünzen
+wohlfeiler ist als in unserem Stadtteil. Siehe, wegen dieses
+schlechten Herings, wegen dieser Handvoll Salat, wegen dieses
+Stückchens Butter muß ich alle Tage zwei Stunden gehen. Ach, wenn es
+mein Vater wüßte!"
+
+Der Mann, zu welchem Almansor dies sprach, war gerührt über die Not
+des Knaben und antwortete: "Komm nur mit mir und sei getrost; der
+Doktor soll dir nichts anhaben dürfen, wenn er auch heute weder
+Hering noch Salat verspeist! Sei getrosten Mutes und komm!" Er nahm
+bei diesen Worten Almansor bei der Hand und führte ihn mit sich, und
+obgleich diesem das Herz pochte, wenn er an den Doktor dachte, so lag
+doch so viel Zuversicht in den Worten und Mienen des Mannes, daß er
+sich entschloß, ihm zu folgen. Er ging also, sein Körbchen am Arm,
+neben dem Soldaten viele Straßen durch, und wunderbar wollte es ihm
+bedünken, daß alle Leute die Hüte vor ihnen abnahmen und
+stehenblieben und ihnen nachschauten. Er äußerte dies auch gegen
+seinen Begleiter, dieser aber lachte und sagte nichts darüber.
+
+Sie gelangten endlich an ein prachtvolles Schloß, auf welches der
+Mann zuging. "Wohnst du hier, Petit-Caporal?" fragte Almansor.
+
+"Hier ist meine Wohnung", entgegnete jener, "und ich will dich zu
+meiner Frau führen."
+
+"Ei, da wohnst du schön!" fahr Almansor fort. "Gewiß hat dir der
+Sultan hier freie Wohnung gegeben?"
+
+"Diese Wohnung habe ich vom Kaiser, du hast recht", antwortete sein
+Begleiter und führte ihn in das Schloß. Dort stiegen sie eine breite
+Treppe hinan, und in einem schönen Saal hieß er ihn seinen Korb
+absetzen und trat dann mit ihm in ein prachtvolles Gemach, wo eine
+Frau auf einem Diwan saß. Der Mann sprach mit ihr in einer fremden
+Sprache, worauf sie beide nicht wenig lachten, und die Frau fragte
+dann Almansor in fränkischer Sprache vieles über Ägypten. Endlich
+sagte Petit-Caporal zu dem Jüngling: "Weißt du, was das beste ist?
+Ich will dich gleich selbst zum Kaiser führen und bei ihm für dich
+sprechen."
+
+Almansor erschrak sehr; aber er gedachte an sein Elend und seine
+Heimat. "Dem Unglücklichen", sprach er zu den beiden, "dem
+Unglücklichen verleiht Allah einen hohen Mut in der Stunde der Not;
+er wird auch mich armen Knaben nicht verlassen. Ich will es tun, ich
+will zu ihm gehen. Aber sage, Caporal, muß ich vor ihm niederfallen?
+Muß ich die Stirne mit dem Boden berühren? Was muß ich tun?"
+
+Die beiden lachten von neuem und versicherten, dies alles sei nicht
+nötig.
+
+"Sieht er schrecklich und majestätisch aus?" fragte er weiter, "hat
+er einen langen Bart? Macht er feurige Augen? Sage, wie sieht er
+aus?"
+
+Sein Begleiter lachte von neuem und sprach dann: "Ich will dir ihn
+lieber gar nicht beschreiben, Almansor, du selbst sollst erraten,
+welcher es ist. Nur das will ich dir als Kennzeichen angeben: Alle
+im Saale des Kaisers werden, wenn er da ist, die Hüte ehrerbietig
+abnehmen; der, welcher den Hut auf dem Kopf behält, der ist der
+Kaiser." Bei diesen Worten nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm
+nach dem Saal des Kaisers. Je näher er kam, desto lauter pochte ihm
+das Herz, und die Knie fingen ihm an zu zittern, als sie sich der
+Türe näherten. Ein Bediensteter öffnete die Türe, und da standen in
+einem Halbkreis wenigstens dreißig Männer, alle prächtig gekleidet
+und mit Gold und Sternen überdeckt, wie es Sitte ist im Lande der
+Franken bei den vornehmsten Agas und Bassas der Könige; und Almansor
+dachte, sein Begleiter, der so unscheinbar gekleidet war, müsse der
+Geringsten einer sein unter diesen. Sie hatten alle das Haupt
+entblößt, und Almansor fing nun an, nach dem zu suchen, der den Hut
+auf dem Kopfe hätte; denn dieser mußte der Kaiser sein. Aber
+vergebens war sein Suchen. Alle hatten den Hut in der Hand, und der
+Kaiser mußte also nicht unter ihnen sein; da fiel kein Blick zufällig
+auf seinen Begleiter, und siehe--dieser hatte den Hut auf dem Kopfe
+sitzen!
+
+Der Jüngling war erstaunt, betroffen. Er sah seinen Begleiter lange
+an und sagte dann, indem er selbst seinen Hut abnahm: "Salem aleikum,
+Petit-Caporal! Soviel ich weiß, bin ich selbst nicht der Sultan der
+Franken, also kommt es mir nicht zu, mein Haupt zu bedecken; doch du
+bist der, der den Hut trägt--Petit-Caporal, bist denn du der Kaiser?".
+
+"Du hast's erraten", antwortete jener, "und überdies bin ich dein
+Freund. Schreibe dein Unglück nicht mir, sondern einer unglücklichen
+Verwirrung der Umstände zu, und sei versichert, daß du mit dem ersten
+Schiff in dein Vaterland zurücksegelst. Gehe jetzt wieder hinein zu
+meiner Frau, erzähle ihr vom arabischen Professor und was du weißt.
+Die Heringe und den Salat will ich dem Doktor schicken; du aber
+bleibst für deinen Aufenthalt in meinem Palast."
+
+So sprach der Mann, der Kaiser war; Almansor aber fiel vor ihm nieder,
+küßte seine Hand und bat ihn um Verzeihung, daß er ihn nicht erkannt
+habe; er habe es ihm gewiß nicht angesehen, daß er Kaiser sei.
+
+"Du hast recht", erwiderte jener lachend, "wenn man nur wenige Tage
+Kaiser ist, kann man es nicht an der Stirne geschrieben haben." So
+sprach er und winkte ihm, sich zu entfernen.
+
+Seit diesem Tage lebte Almansor glücklich und in Freuden.
+
+Den arabischen Professor, von welchem er dem Kaiser erzählte, durfte
+er noch einigemal besuchen den Doktor aber sah er nicht mehr. Nach
+einigen Wochen ließ ihn der Kaiser zu sich rufen und kündigte ihm an,
+daß ein Schiff vor Anker liege, mit dem er ihn nach Ägypten senden
+wolle. Almansor war außer sich vor Freude; wenige Tage reichten hin,
+um ihn auszurüsten, und mit einem Herzen voll Dankes und mit Schätzen
+und Geschenken reich beladen, reiste er vom Kaiser ab ans Meer und
+schiffte sich ein.
+
+Aber Allah wollte ihn noch länger prüfen, wollte seinen Mut im
+Unglück noch länger stählen und ließ ihn die Küste seiner Heimat noch
+nicht sehen. Ein anderes fränkisches Volk, die Engländer, führten
+damals Krieg mit dem Kaiser auf der See. Sie nahmen ihm alle Schiffe
+weg, die sie besiegen konnten, und so kam es, daß am sechsten Tage
+der Reise das Schiff, auf welchem sich Almansor befand, von
+englischen Schiffen umgeben und beschossen wurde; es mußte sich
+ergeben, und die ganze Mannschaft wurde auf ein kleineres Schiff
+gebracht, das mit den anderen weitersegelte. Doch auf der See ist es
+nicht weniger unsicher als in der Wüste, wo unversehens die Räuber
+auf die Karawanen fallen und totschlagen und plündern. Ein Kaper von
+Tunis überfiel das kleine Schiff, das der Sturm von den größeren
+Schiffen getrennt hatte, und--es wurde genommen und alle Mannschaft
+nach Algier geführt und verkauft.
+
+Almansor kam zwar nicht in so harte Sklaverei als die Christen, weil
+er ein rechtgläubiger Muselmann war, aber dennoch war jetzt alle
+Hoffnung verschwunden, die Heimat und den Vater wiederzusehen. Dort
+lebte er bei einem reichen Manne fünf Jahre und mußte die Blumen
+begießen und den Garten bauen. Da starb der reiche Mann ohne nahe
+Erben, seine Besitzungen wurden zerrissen, seine Sklaven geteilt, und
+Almansor fiel in die Hände eines Sklavenmaklers. Dieser rüstete um
+diese Zeit ein Schiff aus, um seine Sklaven anderwärts teurer zu
+verkaufen. Der Zufall wollte, daß ich selbst ein Sklave dieses
+Händlers war und auf dasselbe Schiff kam, wo auch Almansor sich
+befand. Dort lernten wir uns kennen, und dort erzählte er mir seine
+wunderbaren Schicksale. Doch--als wir landeten, war ich Zeuge der
+wunderbarsten Fügung Allahs; es war die Küste seines Vaterlandes, an
+welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt,
+wo wir öffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr, daß ich es kurz
+sage, es war sein eigener, sein teurer Vater, der ihn kaufte!
+
+Der Scheik Ali Banu war in tiefes Nachdenken versunken über diese
+Erzählung; sie hatte ihn unwillkürlich mit sich fortgerissen, seine
+Brust hob sich, sein Auge glühte, und er war oft nahe daran, seinen
+jungen Sklaven zu unterbrechen; aber das Ende der Erzählung schien
+ihn nicht zu befriedigen.
+
+"Er könnte jetzt einundzwanzig Jahre haben, sagst du?" so fing er an
+zu fragen.
+
+"Herr, er ist in meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre."
+
+"Und welche Stadt nannte er seine Geburtsstadt? Das hast du uns noch
+nicht gesagt."
+
+"Wenn ich nicht irre", antwortete jener, "so war es Alessandria!"
+
+"Alessandria!" rief der Scheik. "Es ist mein Sohn; wo ist er
+geblieben? Sagtest du nicht, daß er Kairam hieß? Hat er dunkle
+Augen und braunes Haar?"
+
+"Er hat es, und in traulichen Stunden nannte er sich Kairam und nicht
+Almansor."
+
+"Aber, Allah! Allah! Sage mir doch, sein Vater hätte ihn vor deinen
+Augen gekauft, sagst du? Sagte er, es sei sein Vater? Also ist er
+doch nicht mein Sohn!"
+
+Der Sklave antwortete: "Er sprach zu mir: "Allah sei gepriesen nach
+so langem Unglück: Das ist der Marktplatz meiner Vaterstadt." Nach
+einer Weile aber kam ein vornehmer Mann um die Ecke; da rief er: "Oh,
+was für ein teures Geschenk des Himmels sind die Augen! Ich sehe
+noch einmal meinen ehrwürdigen Vater!" Der Mann aber trat zu uns,
+betrachtet diesen und jenen und kauft endlich den, dem dies alles
+begegnet ist. Da rief er Allah an, sprach ein heißes Dankgebet und
+flüsterte mir zu: "Jetzt gehe ich wieder ein in die Hallen meines
+Glückes, es ist mein eigener Vater, der mich gekauft hat.""
+
+"Es ist also doch nicht mein Sohn, mein Kairam!" sagte der Scheik,
+von Schmerz bewegt.
+
+Da konnte sich der Jüngling nicht mehr zurückhalten; Tränen der
+Freude entstürzten seinen Augen, er warf sich nieder vor dem Scheik
+und rief: "Und dennoch ist es Euer Sohn, Kairam: Almansor; denn Ihr
+seid es, der ihn gekauft hat." "Allah, Allah! Ein Wunder, ein großes
+Wunder!" riefen die Anwesenden und drängten sich herbei; der Scheik
+aber stand sprachlos und staunte den Jüngling an, der sein schönes
+Antlitz zu ihm aufhob. "Mein Freund Mustapha!" sprach er zu dem
+alten Derwisch, "vor meinen Augen hängt ein Schleier von Tränen, daß
+ich nicht sehen kann, ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug,
+auf seinem Gesicht eingegraben sind. Trete du her und schaue ihn an!"
+
+Der Alte trat herzu, sah ihn lange an, legte seine Hand auf die
+Stirne des jungen Mannes und sprach: "Kairam! Wie hieß der Spruch,
+den ich dir am Tage, des Unglücks mitgab ins Lager der Franken?"
+
+"Mein teurer Lehrer!" antwortete der Jüngling, indem er die Hand des
+Alten an seine Lippen zog, "er hieß: So einer Allah liebt und ein
+gutes Gewissen hat, ist er auch in der Wüste des Elends nicht allein;
+denn er hat zwei Gefährten, die ihm tröstend zur Seite gehen."
+
+Da hob der Alte seine Augen dankend auf zum Himmel, zog den Jüngling
+herauf an seine Brust und gab ihn dem Scheik und sprach: "Nimm ihn
+hin! So gewiß du zehn Jahre um ihn trauertest, so gewiß ist es dein
+Sohn Kairam."
+
+Der Scheik war außer sich vor Freude und Entzücken; er betrachtete
+immer von neuem wieder die Züge des Wiedergefundenen, und unleugbar
+fand er das Bild seines Sohnes wieder, wie er ihn verloren hatte.
+Und alle Anwesenden teilten seine Freude; denn sie liebten den Scheik,
+und jedem unter ihnen war es, als wäre ihm heute ein Sohn geschenkt
+worden.
+
+Jetzt füllte wieder Gesang und Jubel diese Halle wie in den Tagen des
+Glückes und der Freude. Noch einmal mußte der Jüngling, und noch
+ausführlicher, seine Geschichte erzählen, und alle priesen den
+arabischen Professor und den Kaiser und jeden, der sich Kairams
+angenommen hatte. Man war beisammen bis in die Nacht, und als man
+aufbrach, beschenkte der Scheik jeden seiner Freunde reichlich, auf
+daß er immer dieses Freudentages gedenke.
+
+Die vier jungen Männer aber stellte er seinem Sohne vor und lud sie
+ein, ihn immer zu besuchen, und es war ausgemachte Sache, daß er mit
+dem Schreiber lesen, mit dem Maler kleine Reisen machen sollte, daß
+der Kaufmann Gesang und Tanz mit ihm teile und der andere alle
+Vergnügungen für sie bereiten solle. Auch sie wurden reich beschenkt
+und traten freudig aus dem Hause des Scheik.
+
+"Wem haben wir dies alles zu verdanken", sprachen sie untereinander,
+"wem anders als dem Alten? Wer hätte dies damals gedacht, als wir
+vor diesem Hause standen und über den Scheik loszogen?"
+
+"Und wie leicht hätte es uns einfallen können, die Lehren des alten
+Mannes zu überhören", sagte ein anderer, "oder ihn gar zu verspotten?
+Denn er sah doch recht zerrissen und ärmlich aus, und wer könne
+denken, daß dies der weise Mustapha sei?" "Und wunderbar! War es
+nicht hier, wo wir unsere Wünsche laut werden ließen?" sprach der
+Schreiber. "Da wollte der eine reisen, der andere singen und tanzen,
+der dritte gute Gesellschaft haben und ich--Geschichten lesen und
+hören, und sind nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung gegangen?
+Darf ich nicht alle Bücher des Scheik lesen und kaufen, was ich
+will?" "Und darf ich nicht seine Tafel zurichten und seine schönsten
+Vergnügen anordnen und selbst dabeisein?" sagte der andere.
+
+"Und ich, so oft mich mein Herz gelüstet, Gesang und Saitenspiel zu
+hören oder einen Tanz zu sehen, darf ich nicht hingehen und mir seine
+Sklaven ausbitten?"
+
+"Und ich", rief der Maler, "vor diesem Tage war ich arm und konnte
+keinen Fuß aus dieser Stadt setzen, und jetzt kann ich reisen, wohin
+ich will."
+
+"Ja", sprachen sie alle, "es war doch gut, daß wir dem Alten folgten,
+wer weiß, was aus uns geworden wäre!"
+
+So sprachen sie und gingen freudig und glücklich nach Hause.
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Märchen-Almanach auf das Jahr
+1827", von Wilhelm Hauff.
+
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1827 ***
+
+This file should be named 8alm210.txt or 8alm210.zip
+Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 8alm211.txt
+VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8alm210a.txt
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
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+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
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+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
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+and editing by those who wish to do so.
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+as it appears in our Newsletters.
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+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
+
+We need your donations more than ever!
+
+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
+International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
+
+Donations by check or money order may be sent to:
+
+Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+PMB 113
+1739 University Ave.
+Oxford, MS 38655-4109
+
+Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
+method other than by check or money order.
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
+the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
+tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising
+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
+
+We need your donations more than ever!
+
+You can get up to date donation information online at:
+
+http://www.gutenberg.net/donation.html
+
+
+***
+
+If you can't reach Project Gutenberg,
+you can always email directly to:
+
+Michael S. Hart <hart@pobox.com>
+
+Prof. Hart will answer or forward your message.
+
+We would prefer to send you information by email.
+
+
+**The Legal Small Print**
+
+
+(Three Pages)
+
+***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START***
+Why is this "Small Print!" statement here? You know: lawyers.
+They tell us you might sue us if there is something wrong with
+your copy of this eBook, even if you got it for free from
+someone other than us, and even if what's wrong is not our
+fault. So, among other things, this "Small Print!" statement
+disclaims most of our liability to you. It also tells you how
+you may distribute copies of this eBook if you want to.
+
+*BEFORE!* YOU USE OR READ THIS EBOOK
+By using or reading any part of this PROJECT GUTENBERG-tm
+eBook, you indicate that you understand, agree to and accept
+this "Small Print!" statement. If you do not, you can receive
+a refund of the money (if any) you paid for this eBook by
+sending a request within 30 days of receiving it to the person
+you got it from. If you received this eBook on a physical
+medium (such as a disk), you must return it with your request.
+
+ABOUT PROJECT GUTENBERG-TM EBOOKS
+This PROJECT GUTENBERG-tm eBook, like most PROJECT GUTENBERG-tm eBooks,
+is a "public domain" work distributed by Professor Michael S. Hart
+through the Project Gutenberg Association (the "Project").
+Among other things, this means that no one owns a United States copyright
+on or for this work, so the Project (and you!) can copy and
+distribute it in the United States without permission and
+without paying copyright royalties. Special rules, set forth
+below, apply if you wish to copy and distribute this eBook
+under the "PROJECT GUTENBERG" trademark.
+
+Please do not use the "PROJECT GUTENBERG" trademark to market
+any commercial products without permission.
+
+To create these eBooks, the Project expends considerable
+efforts to identify, transcribe and proofread public domain
+works. Despite these efforts, the Project's eBooks and any
+medium they may be on may contain "Defects". Among other
+things, Defects may take the form of incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other
+intellectual property infringement, a defective or damaged
+disk or other eBook medium, a computer virus, or computer
+codes that damage or cannot be read by your equipment.
+
+LIMITED WARRANTY; DISCLAIMER OF DAMAGES
+But for the "Right of Replacement or Refund" described below,
+[1] Michael Hart and the Foundation (and any other party you may
+receive this eBook from as a PROJECT GUTENBERG-tm eBook) disclaims
+all liability to you for damages, costs and expenses, including
+legal fees, and [2] YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE OR
+UNDER STRICT LIABILITY, OR FOR BREACH OF WARRANTY OR CONTRACT,
+INCLUDING BUT NOT LIMITED TO INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE
+OR INCIDENTAL DAMAGES, EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE
+POSSIBILITY OF SUCH DAMAGES.
+
+If you discover a Defect in this eBook within 90 days of
+receiving it, you can receive a refund of the money (if any)
+you paid for it by sending an explanatory note within that
+time to the person you received it from. If you received it
+on a physical medium, you must return it with your note, and
+such person may choose to alternatively give you a replacement
+copy. If you received it electronically, such person may
+choose to alternatively give you a second opportunity to
+receive it electronically.
+
+THIS EBOOK IS OTHERWISE PROVIDED TO YOU "AS-IS". NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, ARE MADE TO YOU AS
+TO THE EBOOK OR ANY MEDIUM IT MAY BE ON, INCLUDING BUT NOT
+LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A
+PARTICULAR PURPOSE.
+
+Some states do not allow disclaimers of implied warranties or
+the exclusion or limitation of consequential damages, so the
+above disclaimers and exclusions may not apply to you, and you
+may have other legal rights.
+
+INDEMNITY
+You will indemnify and hold Michael Hart, the Foundation,
+and its trustees and agents, and any volunteers associated
+with the production and distribution of Project Gutenberg-tm
+texts harmless, from all liability, cost and expense, including
+legal fees, that arise directly or indirectly from any of the
+following that you do or cause: [1] distribution of this eBook,
+[2] alteration, modification, or addition to the eBook,
+or [3] any Defect.
+
+DISTRIBUTION UNDER "PROJECT GUTENBERG-tm"
+You may distribute copies of this eBook electronically, or by
+disk, book or any other medium if you either delete this
+"Small Print!" and all other references to Project Gutenberg,
+or:
+
+[1] Only give exact copies of it. Among other things, this
+ requires that you do not remove, alter or modify the
+ eBook or this "small print!" statement. You may however,
+ if you wish, distribute this eBook in machine readable
+ binary, compressed, mark-up, or proprietary form,
+ including any form resulting from conversion by word
+ processing or hypertext software, but only so long as
+ *EITHER*:
+
+ [*] The eBook, when displayed, is clearly readable, and
+ does *not* contain characters other than those
+ intended by the author of the work, although tilde
+ (~), asterisk (*) and underline (_) characters may
+ be used to convey punctuation intended by the
+ author, and additional characters may be used to
+ indicate hypertext links; OR
+
+ [*] The eBook may be readily converted by the reader at
+ no expense into plain ASCII, EBCDIC or equivalent
+ form by the program that displays the eBook (as is
+ the case, for instance, with most word processors);
+ OR
+
+ [*] You provide, or agree to also provide on request at
+ no additional cost, fee or expense, a copy of the
+ eBook in its original plain ASCII form (or in EBCDIC
+ or other equivalent proprietary form).
+
+[2] Honor the eBook refund and replacement provisions of this
+ "Small Print!" statement.
+
+[3] Pay a trademark license fee to the Foundation of 20% of the
+ gross profits you derive calculated using the method you
+ already use to calculate your applicable taxes. If you
+ don't derive profits, no royalty is due. Royalties are
+ payable to "Project Gutenberg Literary Archive Foundation"
+ the 60 days following each date you prepare (or were
+ legally required to prepare) your annual (or equivalent
+ periodic) tax return. Please contact us beforehand to
+ let us know your plans and to work out the details.
+
+WHAT IF YOU *WANT* TO SEND MONEY EVEN IF YOU DON'T HAVE TO?
+Project Gutenberg is dedicated to increasing the number of
+public domain and licensed works that can be freely distributed
+in machine readable form.
+
+The Project gratefully accepts contributions of money, time,
+public domain materials, or royalty free copyright licenses.
+Money should be paid to the:
+"Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+If you are interested in contributing scanning equipment or
+software or other items, please contact Michael Hart at:
+hart@pobox.com
+
+[Portions of this eBook's header and trailer may be reprinted only
+when distributed free of all fees. Copyright (C) 2001, 2002 by
+Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
+used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be
+they hardware or software or any other related product without
+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
+
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