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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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-The Project Gutenberg EBook of Fritzchen, by Marie Diers
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll
-have to check the laws of the country where you are located before using
-this ebook.
-
-
-
-Title: Fritzchen
- Die Geschichte einer Einsamen
-
-Author: Marie Diers
-
-Release Date: July 14, 2020 [EBook #62645]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRITZCHEN ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net (This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.)
-
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-
- Fritzchen
-
- Die Geschichte einer Einsamen
-
-
- von
-
- Marie Diers
-
-
- [Illustration]
-
- Dresden 1907.
-
- Max Seyfert, Verlagsbuchhandlung.
-
-
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-
-Erstes Kapitel.
-
-
-Aus dem Dorfe Hohen-Leucken, das seinen Namen seinem höher gelegenen
-Herrschaftshause zu Ehren, sonst aber nur wie zum Spotte führte, kam der
-Doktor das ganze Jahr nicht heraus. Zwischen Moor und sumpfigen Wiesen lag
-es arglos eingebettet, und am Abend, wenn die Nebel stiegen, wogte
-eine weiße Mauer bis an die Schwellen der niedrigen Häuser. Typhus,
-Schwindsucht, epidemische Hals- und Rachenkrankheiten gehörten hier mit
-zu dem gewohnten Lebensbilde der Leuckener Bewohner, man begrub hier
-seine kleinen Kinder, man siechte selber, man starb, ohne sich viel um die
-Ursachen zu bekümmern, oder gar ihnen den Krieg zu erklären. Der Doktor,
-der viele Meilen über Land durch Lehmboden, durch Sand, über schwanken
-Moorgrund herkutschierte, fluchte zwar jedesmal von neuem über den
-Nebelring, der dieses Dorf umzog, aber er war selbst ein Kind dieses
-Landes, in dem man zwar flucht, im übrigen aber alle Unbill ruhig beläßt,
-wie sie nun einmal ist, und ihr höchstens mit einem kräftigen Bittren zu
-Leibe geht.
-
-Der baufällige Krug am Anfang des langgestreckten Dorfes wurde die ganzen
-Abende nicht leer, sogar bei Tage bevölkerten ihn zweifelhafte Gestalten.
-Das bißchen Bargeld, das sich der Tagelöhner und auch der Kossat
-errackerte, wenn er zu Hofe ging, wurde hier wieder vertrunken. Es lag so
-in der feuchten Luft und dem schlottrigen Gefühl, das man den ganzen Tag
-in den Knochen hatte. Der Pastor konnte das nicht verstehen, er hatte ein
-massives Haus und brauchte den ganzen Tag nicht aus seiner warmen Stube
-heraus. Darin war der gnädige Herr besser, er begriff sehr gut, daß man
-bisweilen »saufen« müßte, um sich aufrecht zu halten.
-
-Übrigens kam es ihm auch gar nicht darauf an, selbst wenn es sich gerade so
-machte, mit leuchtendem Beispiel voranzugehen.
-
-Sonst hatte er es gerade nicht nötig, ins Herrenhaus krochen die Nebel
-nicht herauf. Dies lag auf einem Hügel, der überdies noch künstlich erhöht
-war, und war von den Vorfahren dieser Dörfflins, die sicherlich mehr
-Geld gehabt hatten, als die jetzigen, außerordentlich solide und fest
-aufgeführt. Ein breiter, chaussierter Fahrweg führte aus dem armseligen
-Dorfe in sanfter, bequemer Steigung bis an das Tor, ein prachtvolles
-Steinmonument vergangener Jahrhunderte, von dem noch verwitterte Ritter-
-und Engelfiguren und noch mehr verwitterte fromme und auch trotzige Sprüche
-die späten Enkel grüßten.
-
-Von hier aus ging es in den steingepflasterten Hof und vor die niedrige
-Einfahrtsrampe.
-
-Was das stolze alte Tor versprach, wurde von dem Schlosse freilich nur
-recht ungenügend gehalten. Es war ein nüchterner und kahler Bau, an dem
-nur das Alter interessant war, sonstige Erinnerungen an verklungene
-Ritterzeiten, die ohne Zweifel vorhanden gewesen waren, mußten
-verschleudert worden oder sonstwie zu Grunde gegangen sein. Es ging
-eine trübe und schändliche Sage um, daß der Großvater des jetzigen Herrn
-v. Dörfflin aus einem zwar erklärlichen, aber wenig ehrwürdigen Grunde
-einen schwungvollen Handel mit diesen alten, geheiligten Dingen getrieben
-habe. Aber man redete nicht laut darüber.
-
-Das Schloß war breit angelegt, dauerhaft, aber häßlich und unwohnlich.
-Auf den breiten Treppen zog es beständig, und wer über die unendlichen
-Bodenräume ging, mußte mitten im Sommer ein Frieren bekommen, wenn er daran
-dachte, wie es sein müsse, hier zur Winterszeit in den unzähligen Kammern
-zu tun zu haben.
-
-Frau v. Dörfflin, ein verwöhntes und verzärteltes Großstadtpüppchen, hatte
-diese Zustände vier bis fünf Jahre treulich durchgemacht und dann gründlich
-darüber quittiert, indem sie die Augen zumachte und sich in ihr letztes
-Bett tragen ließ. Sie war eine gute Seele und fand ihr Heil und ihre
-Pflichterfüllung in unentwegten Krankenbesuchen im nebligen Dorf, auf denen
-sie sich wie ein rührend unpraktisches liebes Kind benahm. Aber ihr zarter
-Körper mußte den Luxus, den ihre Seele trieb, bezahlen. In all dem
-Nebel, dem Zugwind und der Anstrengung ging sie ein wie ein Pflänzchen in
-verkehrter Pflege und löschte aus, wie von jeher ihre Lichter ausgelöscht
-waren, mit denen sie über die zugige Treppe in das obere Stockwerk hatte
-gehen wollen.
-
-Herr v. Dörfflin war ein ziemlich roher und ungebildeter Junker, der von
-Pferden, Hunden, Jagd- und Landwirtschaft, auch vom Weinkeller zwar so
-viel wußte, als er brauchte, aber von Frauen, Kindern und den feineren
-Lebensfragen recht wenig. Er war trotzdem ein Mensch, den man lieb haben
-konnte, gutmütig, ehrlich und ritterlich aus Gewohnheit. An Herzenskummer
-starb seine Frau nicht, wenn auch vielleicht ein brillanterer Geist als der
-ihres guten Ludwig sie in eine andere Bahn des Lebens, Wirkens und Heiles
-geführt hätte als diese selbsterwählte, bei dem sie aus dem Husten und
-Frösteln gar nicht herauskam und auf der sie zum Schluß doch kaum mehr
-hinterließ als den halb mitleidigen Ruhm:
-
-»Joa, se is gaud, uns' gnä Fru. Äwer äten kann ein' doch nich, wat se
-koakt.«
-
-Tot war sie, dahin, erloschen. Und um die Sache noch gründlicher zu machen,
-zog sie sich ihren ältesten Jungen, ein schönes zartes Kind von fast vier
-Jahren, noch in demselben Winter nach. Ludwig v. Dörfflin saß in seinem
-kalten, ungemütlichen, einsamen Herrenhaus auf Hohen-Leucken, mochte nicht
-mehr jagen, noch zechen, noch meilenweit zu Bekannten fahren und konnte nur
-in die Hinterstube gehen und seinem kleinsten Mädchen, dem Fritzchen, dem
-unruhigsten und wildesten aller Säuglinge, verzagt in den Wagen und in
-das ewig schreiend aufgerissene Mäulchen gucken. Oder er konnte seine
-Zweijährige, die artige blonde kleine Gisela, an das Händchen fassen, sich
-krampfhaft besinnen, was man mit solchem Wurm spricht, der Bonne ein paar
-dumme Regeln geben, die entweder falsch oder selbstverständlich waren, und
-sich dann mit dem fatalen Gefühl seines Nichts wieder davon heben.
-
-Mit der Zeit wuchs Gras über das stille Grab der stillen törichten kleinen
-Frau, und Herr v. Dörfflin ließ das Gras auch wachsen. Er »ließ« überhaupt
-meist alles, und nur seine Reitknechte wußten es (weil sie es fühlten), daß
-er unter Umständen auch sehr aktiv und selbsttätig sein könne.
-
-Wie es zog auf den Treppen und dem langen kahlen, in seinen Ecken finsteren
-Boden! Es war jetzt auch immer schmutzig hier oben. Wer sollte reinmachen,
-wenn keine Hausfrau da war, es zu befehlen? Das Zimmermädchen schob es auf
-den Jakob, der die Stiefel putzte, der Jakob auf die Kartoffelschäl-Weiber,
-und die wiederum fanden, daß das Zimmermädchen auch für den Boden nicht
-zu feine Hände habe. So ging der Tanz immer fröhlich reihum, schlief auch
-dazwischen monatelang ein, bis zum großen Frühjahrsreinemachen oder zu
-Weihnachten auch wieder die Bodenfrage aktuell wurde. Die Wirtschafterin,
-die hier eigentlich das Machtwort hätte sprechen müssen, hatte ein zartes
-Verhältnis mit dem Inspektor, ein allzu zartes, das wie sie fürchtete,
-mit ihrem Abgang reißen könnte. Deshalb wollte sie sich lieber mit den
-Dienstboten nicht verfeinden, denn die vorige hatte gehen müssen, als eine
-allgemeine Petition deswegen an Herrn v. Dörfflin erging.
-
-So war der Boden staubig und wurde immer staubiger, und in den Kammern
-häuften sich zerrissene und schadhafte Wäsche und Kleidungsstücke auf, die
-man nur »aus der Hand« legte, um sie »nächstens« auszubessern.
-
-Die feine kleine Gisela mit dem schmalen hochmütigen Gesicht nahm ihr
-Kleidchen eng zusammen, wenn sie über den Boden ging, und ging dort auch
-nur, wenn es durchaus nötig war. Fritzchen aber war hier zu Hause, und da
-kümmerte sie weder der Staub, noch die Lumpen, noch all das zerbrochene
-Hausgerät in den Ecken.
-
-Fritzchen schloß Freundschaft hier oben mit den Balken, den Brettern, den
-Sonnenstäubchen, selbst mit zerbrochenen Stühlen und alten Bettlaken. Wenn
-man das kleine wilde Ding suchte, so brauchte man nur nach oben zu laufen.
-Dann fand man sie in irgend einer tollen Maskerade und sich bewegend,
-murmelnd oder auch ganz laut diskutierend, als sei sie in einer großen
-Gesellschaft.
-
-Der Bonne war es schon recht. Unten konnte man mit diesem Quirlchen doch
-nichts anfangen. Da war sie ungebärdig, höchst unbequem zu haben, oder sie
-langweilte sich und plärrte. Hier oben konnte man sie stundenlang allein
-lassen, es geschah ihr ja auch nichts, nur mußte man ihr ein graues
-Kittelchen anziehen, wenn man den Schmutz nicht sehen wollte, den sie sich
-hier oben holte.
-
-Bis dahin war alles sehr schön. Gisela zwar zog ein Mäulchen, wenn
-Fritzchen mit glühenden Backen, die kurzgeschorenen braunen Härchen mit
-Spinnweben umflort, ins Spielzimmer zurückkam. Sie hatte unterdes Perlen
-aufgezogen, ihr Püppchen geputzt oder bei dem Fräulein in der Fibel
-gelernt. Aber das störte Fritzchen nicht, das kannte sie nicht anders. Sie
-kannte es auch nicht anders, als daß der Papa sich nicht im geringsten
-um seine Kinder kümmerte. Oft sahen sie ihn tagelang nicht, denn auch
-bei seinen Mahlzeiten durften sie noch nicht sein. Sie hatte ihre eigene
-Ritter-, Feen- und Koboldwelt zwischen den dunklen Balken auf dem Boden.
-
- * * *
-
-Unterdessen, ganz für sich und unabhängig von den kleinen Kinderherzen und
-Gesichterchen, machte der Papa seine Dummheiten. Er ging, sich zu verloben.
-
-Er hatte aber auch einen Freund, noch aus seiner schönen, lustigen
-Leutnantszeit her, den Freiherrn Fritz v. Zülchow. Der hatte sein Besitztum
-auf Rummelshof, das ungefähr drei Meilen entfernt lag. Schon als Knaben
-und dann als Jünglinge waren die beiden trotz großer Verschiedenheiten die
-besten Kameraden gewesen. Später war das anders geworden. Die Frau, die
-Herr v. Zülchow sich nahm, war ein stolzes, feines Geschöpf, das eine
-Abneigung gegen den kleinen derben Ludwig v. Dörfflin hatte. Dadurch wurde
-der Verkehr zu einer etwas peinlichen Sache und drohte, ganz auseinander zu
-fallen. Nur hin und wieder auf Jagden, Gesellschaften oder bei den seltenen
-Besuchen sah man sich. Aber man war sich von Herzen gut wie nur je zuvor.
-
-Jetzt als Herr v. Dörfflin ein unverhülltes Interesse an einem etwas
-zweifelhaften hereingeschneiten Frauenzimmer zu nehmen begann, wachte alle
-alte Kameradschaft mit erneuter Stärke in Fritz v. Zülchow auf. »Sieh Dich
-vor, Lutz!« drängte er. »Es ist nichts damit. Ein weißes Gesicht und ein
-schwarzes Herz. Du wirst es bereuen.«
-
-»Ach was, dummes Zeug«, sagte Ludwig v. Dörfflin.
-
-Einmal war der Freiherr v. Zülchow wieder in Hohen-Leucken. Es war zur
-Sommerszeit. Als er mit dem Freunde durch den verwilderten Garten ging, sah
-er die Kinder hinten durch die Büsche laufen, er rief sie an. Gisela kam
-gleich, Fritzchen versteckte sich. Der Freiherr war ein kräftiger, froher
-und sehr wacher Mensch, der nicht, wie sein guter Lutz, auch im Gehen und
-Stehen halb schlief. Er setzte dem scheuen, wilden Dingelchen nach, faßte
-es, und während er es festhielt und sich mit ihm auf eine Bank setzte,
-erzählte er ihm von seinen Hunden, Pferden und seinen zwei großen Jungen,
-Gregor und Hans Henning, die reiten, schießen und schwimmen könnten wie die
-Teufel. Dabei sah er Fritzchen unverwandt ins Gesicht und sah, wie sich der
-scheue, trotzige Ausdruck des schmutzigen kleinen Gesichtes löste und ein
-süßes, weiches und verlassenes kleines Kindergesicht zum Vorschein kam.
-
-»Bring sie mal mit, die Jungens --«, sagte der kleine Mund.
-
-»Ja, wenn ich wiederkomme«, sagte der Freiherr, und er nahm es von jeher
-ernst mit dem, was er versprach.
-
-Unterdes war der Vater des kleinen Mädels herangekommen. Der Fremde setzte
-das Kind ab und behielt es an der Hand, als er sehr ernst, aber gedämpft
-sagte:
-
-»Ludwig, kannst Du Dir Fräulein Wurach hier als Stiefmutter vorstellen?«
-
-In Herrn v. Dörfflins rundes rotes Junkergesicht kam ein ehrlich ratloser
-Ausdruck.
-
-»Ja nu -- ja nu --«, brummte er.
-
-»Ich nicht«, sagte Herr v. Zülchow ziemlich hart.
-
-»Ja nu -- was weißt Du denn von ihr? Sie ist -- ach, was geht's Dich an.
-Lassen wir das. Sowas verträgt keine Einmischungen. Du verstehst mich,
-Fritz, nimm's nicht übel.«
-
-Als der Freiherr fort war, trank Ludwig Dörfflin die halbe Nacht durch in
-Gesellschaft seines Försters, und mehr als ihm gut war. Er liebte seinen
-Freund über alles, und nichts war ihm fataler, als den zu erzürnen.
-
-Aber das sieht doch ein Kind ein, daß man sich in Liebessachen nichts
-vorreden lassen kann. Was war das für eine Anstellerei, das Fritzchen aus
-dem Gebüsch zu ziehen! Als ob die Anneliese Wurach ein Drache wäre. Pfui,
-pfui, solchen Engel zu beleidigen.
-
-Es war drei Uhr in der Nacht, er schlug auf den Tisch, daß die Gläser
-tanzten.
-
-»Märzmüller«, sagte er lärmend zu seinem Getreuen. »Sind Sie lieber ein
-Packesel für andere Leute, oder nehmen Sie lieber selber den Gaul zwischen
-die Schenkel?«
-
-»Ich nehme lieber selber den Gaul zwischen die Schenkel«, sagte der grüne
-Zechgenosse.
-
-»He, so mach ich's auch! Was meinen Sie, ob ich wohl noch so 'ne Hecke
-nehmen kann? So 'ne ganz hohe, wissen Sie?«
-
-Er war noch nicht so betrunken, daß er den Untergebenen in seine Pläne
-wirklich und deutlich eingeführt hätte. -- --
-
-Ja, diese Pläne! Sie konnten den Leuten, die ihn oder sein Haus lieb
-hatten, schon Sorgen machen. Anneliese Wurach, eine hübsche, sehr gewandte
-Person, war seit einigen Wochen bei einem einfachen Gutspächter der Gegend
-zu Besuch. Keinem Haus der höheren Kreise fiel es ein, sie heranzuziehen.
-Aber Ludwig Dörfflin war in Liebessachen nicht so ganz zurechnungsfähig.
-Daß er solche liebe kleine Frau gehabt hatte, war ein freundlicher Zufall,
-ein bißchen hatte er auch an ihr das Robuste, die Fähigkeit, sich in
-Szene zu setzen, vermißt. Auf dem Gutspächterhofe kam man ihm mit Handkuß
-entgegen, und das war er in seinen Kreisen nicht gewöhnt. An Fräulein
-Wurach lag es nicht, daß er die Werbung verzögerte, sondern nur an der
-(unter diesen Umständen) lächerlichen Zaghaftigkeit und Hochachtung vor
-seiner Erwählten.
-
-Es war jetzt November geworden. Man mußte schon wissen, was der November
-bedeutete auf dem Wege durch die Ebene zwischen Hohen-Leucken und dem
-Rummelshofe, auf dem die Zülchows saßen. Die Winde hatten sich hier
-festgesetzt in den Buschgräben und hinter den kleinen Maulwurfshügeln von
-Anhöhen, an denen bergauf, bergab die Pflüger hinter dem Gespann gingen.
-Die Pferde, die den offenen Rummelshöfer Herrenwagen zogen, legten sich
-schief, um von dem gewalttätigen Blasius nicht aus dem Gleise gedrängt zu
-werden. »Haltet die Mützen fest, Jungens!« Hui, da flog dem Hans Henning
-seine schon über den Graben. »Spring nach, dummer Bengel, halt aber auch
-Deine Nase fest!«
-
-Schwer, dick, massig hingen die Wolken am düsteren Himmel, der Wind kam
-ihnen kaum bei. »Wenn sich das ausschüttet, ist es Schnee«, sagte der
-Freiherr. »Wie lange sind wir gefahren, Jochen?«
-
-»Zwei und eine halbe Stunde, Herr Baron.«
-
-»So. Macht auf Hin- und Rückfahrt fünf Stunden. Jungens, daß Ihr zu meinem
-Patchen, dem kleinen Mädels-Fritz, gut seid! Sonst wäre es nicht fünf
-Minuten Fahrt wert gewesen. Dir besonders, Gregor, sag ich's. Tu Du heute
-nicht so ungeheuer zwölfjährig und untertertianerhaft, mein Sohn.«
-
-Der Gregor, ein langer, feiner, blonder Junge, wollte wohl antworten, aber
-der Wind riß ihm die Worte vom Munde ab und hätte beinahe auch noch die
-Nase mitgenommen. Es war eine stolze Nase -- um die von Hans Henning wäre
-es nicht so schade gewesen.
-
-»Vater, das ist ein Wind!« prustete er nun bloß.
-
-Ja, der Wind, der war schon etwas für deutsche Jungens, die sich von ihm
-fünf Meilen lang im offenen Wagen um die Ohren pfeifen lassen.
-
-»Da ist Hohen-Leucken.«
-
-Das Herrenhaus sah vom Hügel herunter, grau unter dem schweren,
-wetterdrohenden Himmel. Die Jungen sahen es aufmerksam und mit der
-ungeheuer sachlichen Abschätzung an, auf die man sich in diesem Alter so
-viel zugute tut. Aber die Hauptsache an dem alten häßlichen einsamen Hause
-sahen sie doch nicht: ein braunes, sehnsüchtiges Struwwelköpfchen, das
-schon seit geschlagenen zwei Stunden durch die eine der Dachluken auf den
-Weg spähte, der übers Moor ging.
-
-»Gisa, Gisa, sie kommen, sie kommen!«
-
-Des Hauses jüngstes Kind poltert die Treppe hinunter, daß man es bis ins
-entfernteste Zimmer hört, stolpert, fällt, poltert weiter, schreit: »Sie
-kommen, sie kommen!«
-
-Gisa war blutrot vor Ärger. »Dumme Jöre, man schreit nicht so! Was ist denn
-dabei? Geh lieber und kämme Dich!«
-
-Sie liebte solch kindisches Getue nicht. Sie genierte sich wegen des dummen
-Fritzchen, die feine kleine Gisela im hellblauen Kleidchen.
-
-Als es nun wirklich so weit war und Herr v. Zülchow mit seinen großen
-Jungen in der Halle stand, steckte Fritzchen die Finger in den Mund und
-hätte sich am liebsten verkrochen. Ach ja, sie war auch zu nichts zu
-gebrauchen.
-
-Gregor war auch ganz anders, wie sie sich gedacht hatte, viel größer und
-stolzer. Er sah über ihre Köpfe fort und redete zum Papa, als wäre er ein
-ganz Großer. Er wäre auch am liebsten nicht mit an den Kinderkaffeetisch
-gegangen, aber das war nun mal so eingerichtet. Fritzchen steckte aus
-lauter Verlegenheit ein so großes Stück Kuchen in ihre volle Tasse, daß
-alles überplantschte. Gisa ärgerte sich wieder, aber Hans Henning lachte
-darüber.
-
-»Grad' wie ich's immer mach', Fritz. Kriegst Du dann auch immer Stripse auf
-die Finger?«
-
-»Nein.«
-
-»Aber ich. Von Herrn Ritter. Weißt, wer das ist? Unser Hauslehrer. Weißt Du
-auch, warum er immer so mager ist?«
-
-»Nein.«
-
-»Weil wir ihn immer ärgern. So sagt er. Wie findest Du das?«
-
-»Ach!« Sie sah auf, ganz staunende Bewunderung. Dann leiser, mit ihren
-winzigen Fingerchen verstohlen auf Gregor deutend: »Der auch?«
-
-»Na! Und ob der nicht! Ich sage Dir, Fritz! Na, ich werd' Dir noch viel
-erzählen.«
-
-Er sah zu dem Bruder hinüber, daß der sich auch über das liebe kleine Ding
-freue. Aber der saß da und sah sehr kühl aus, ungeheuer zwölfjährig.
-
-Gisela machte die Wirtin. Sie hatte wunderfeine, geschickte Fingerchen
-dabei. Sie war lange nicht so hübsch wie das Feuerfünkchen drüben, aber sie
-sah viel aristokratischer, mädchenhafter und wohlerzogener aus. Als Gregor
-trotz seiner Untertertianerwürde sechs Stücke Blechkuchen hinter sich
-hatte, bequemte er sich, das kleine Fräulein anzureden, und fand ihre
-Antworten und Bemerkungen über Haus, Garten und Viehstand hier, nach denen
-er sich erkundigte, »gar nicht so dumm.«
-
-Fritzchen war ein Querkopf. Sie hätte sich an der Freundschaft mit Hans
-Henning genügen lassen sollen. Der Junge war reizend zu ihr, lief mit
-ihr herum, selbst auf den Boden zu den alten Laken und den Spinneweben,
-bequemte sich ihren verschrobenen kleinen Ideen an, schwatzte ihr
-amüsierliches Zeug vor und versprach ihr tausend Wunder, wenn sie einmal
-nach Rummelshof käme. Sie mochte ihn auch gern leiden, diesen lustigen,
-rundköpfigen Jungen mit der aufgestülpten Nase, den Schelmaugen und der
-Mischung von schlingelhafter Frechheit und treuherziger Zartheit. Aber
-sowie sie konnte, schlüpfte sie immer wieder in die Richtung, in der
-sie Gregor vermutete, und obwohl er sie kaum ansah und ihre täppischen
-Bestrebungen, sich bemerklich zu machen, fast niemals wahrnahm, so lief sie
-doch immer wieder hinter ihm drein und war froh, ihn nur zu sehen.
-
-Jetzt wußte sie mit einem Male, wie die Ritter und stolzen Könige ihrer
-Spielträume aussahen, und sie faßte eine stille und tiefe Verachtung für
-die bunten Bilder aus ihren Büchern, die ihr bisher maßgebend gewesen
-waren.
-
- * * *
-
-Herr v. Zülchow schob seine Kaffeetasse fort, ihm war nicht sehr zum
-Trinken und zum Rauchen. Als er die Kinder durch die Halle und nach draußen
-laufen hörte, verschärfte sich die unliebe Empfindung in ihm so stark, daß
-sein Gesicht sich rötete.
-
-»Ich bin hauptsächlich heute aus einem bestimmten Grunde gekommen, Ludwig«,
-sagte er.
-
-Die Einleitung war ungeschickt genug. Herr v. Dörfflin warf seine Zigarre
-fort. »Wenn es Dir um meine inneren Angelegenheiten zu tun ist, so spare
-den Versuch!« brauste er auf. »Ich lasse mich nicht bevormunden.«
-
-»Ach Gott!« sagte Herr v. Zülchow tief ärgerlich. »Innere Angelegenheiten!
-Lassen wir doch diese Redensarten. Du hast ja keine Ahnung, wer die Dame
-ist, die Du Dir zur Frau und den Kindern zur Mutter geben willst.«
-
-»Hast Du etwa die Ahnung?« höhnte der große Junge mit seinem
-treuherzigsten, dümmsten und impertinentesten Gesicht. Er blickte so
-impertinent, weil es ihm vor Unbehagen in allen Adern prickelte. Einen
-Disput hatte er noch nie bestehen können.
-
-»Ahnung, Ludwig? Die ganze Gegend schwatzt davon und lacht über Dich. Als
-Fräulein Wurach im Sommer nach Lanzow kam, war sie mit einem Schreiber
-verlobt. Dem hat sie jetzt abgeschrieben, weil es hübscher für sie ist,
-Deine Gemahlin zu werden. Na ja, darauf kannst Du allerhand entgegnen, ich
-weiß schon. Aber was meinst Du zu dem allerliebsten Geschichtchen, das die
-Pastorin Barthold von ihr erzählt? Im vorigen Sommer war sie dort, da die
-Tochter ihre Schulfreundin war, dort ist sie Hals über Kopf fortgekommen,
-weil sie ihren ganzen Koffer voll gestohlener Zwiebäcke hatte! Nun, wenn
-sie Deine Frau ist, gibt sich das vielleicht.«
-
-Im Lampenschein sah Fritz Zülchow jetzt das Gesicht, es sah so
-jammerwürdig verblüfft und hilflos aus. »Gib mir Beweise für diese albernen
-Klatschereien«, bullerte Ludwig Dörfflin heraus.
-
-Beweise? Ach lieber Gott, die waren nicht so schwer zu erlangen. Aber er
-hatte so ein verdammtes Mitleid mit dem runden roten lieben Gesicht, das
-in die freiesten und lustigsten Stunden seines Lebens hineingehörte wie die
-Lichter an dem Christbaum.
-
-Er schwieg; ihm selber, nun er das schwere Amt hinter sich hatte, da die
-Komik verflogen war, stieg Schmerz und Traurigkeit bis in die Kehle. Es
-soll ja schon manchmal vorgekommen sein, daß in solcher Stunde aus einer
-alten Liebe ein tödlicher Haß geworden ist.
-
-Ludwig Dörfflin sah auch eigentlich nicht darnach aus, als ob er solche
-Lehre still in die Tasche stecken und in Tapferkeit und ehrlicher
-Selbstüberwindung darüber fortkommen würde. Von solch einem Ding wie
-Selbstüberwindung hatte dieser kleine trink- und hiebfeste Gutsherr sein
-Lebtag noch nichts gehört, wenigstens war ihm das nur etwas für seinen
-Reitknecht.
-
-»Soll ich lieber jetzt die Jungen rufen und fahren?« fragte Herr
-v. Zülchow.
-
-»Ach was. Wozu? Bleibt nur ruhig!«
-
-Das sprach die Wirtspflicht aus ihm, die gute Manier, die den armen Kauz
-auch zu schlimmster Stunde nicht verließ. Nicht einmal der Gedanke kam ihm,
-sich mit dem Beleidiger seiner Dame zu schlagen. Er hatte ja recht. Jedes
-Pünktchen glaubte er. Er sah Fräulein Anneliese in der allerschlechtesten
-Beleuchtung, die nur möglich war. -- Aber, was nun weiter?
-
-Herr v. Zülchow wandte sich von dem kläglichen Bilde ab und ging hinaus,
-durch eine Seitentür in den novemberkahlen Garten. Man hatte das letzte
-Laub noch nicht weggeharkt, es rauschte unter seinen Füßen. Der lustige
-Wind von da unten, der mit Hans Hennings Mütze über den Graben gesprungen
-war, brach auch hier oben ein, über die Backsteinmauer mit ihren dürren
-Efeuranken fort, durch die Stämme der alten Bäume. Er blies auch die letzte
-schwere Stunde dem einsamen Wanderer vom heißen Kopfe fort.
-
-Nun weiß er wenigstens Bescheid, dachte der. Mag sein, daß es zwischen uns
-aus ist, aber eine schreckliche und jämmerliche Zukunft habe ich diesem
-Hause und den kleinen Kindern, dem kleinen Fritzel, erspart.
-
-Als er zurückkam, stand Ludwig Dörfflin mitten in der Stube und sah so
-erhitzt und abgespannt aus, als habe er eben zu wohltätiger Körperübung
-über alle Stühle gesetzt.
-
-»Morgen fahre ich nach Lanzow und sage ihr alles!« rief er dem Freund zu.
-
-Der dachte: man muß auf jeden Fall verhindern, daß er jetzt gleich mit ihr
-spricht. Er ist zu unselbstständig in dieser Angelegenheit, und sie würde
-ihn wieder bestricken. Ein großer Geist ist er ja nicht, aber so dumm doch
-auch nicht, daß er in Wahrheit diesem Frauenzimmer mehr glauben sollte als
-mir! Und auf dieses große schöne und berechtigte Vertrauen setzte er sich
-so fest und solide nieder wie jetzt auf das breite braune Ledersofa, auf
-dem er mit seinem Freunde schon mancher edlen Flasche den Hals gebrochen
-hatte.
-
-Es war am Ende dann nicht so schwierig, ihn zu bewegen, diese Angelegenheit
-erst einmal schriftlich anzufassen. Mit Herrn v. Zülchows Hilfe entstand
-ein Brief, der deutlich genug war, selbst von Fräulein Wurach verstanden
-zu werden, und der doch Lutzens gequältem Herzen die Hoffnung ließ, eine
-tröstliche und alle Verleumdungen zerschmetternde Antwort zu erhalten.
-
- * * *
-
-Aber die Zeit verging, eine Antwort traf nicht ein, und in der Gegend
-erzählte man, daß Fräulein Wurach abgereist sei.
-
-Herr v. Dörfflin war darnach eine lange Zeit blaß und schlottrig, und als
-er sich wieder erholte, verfiel er aufs Trinken.
-
-Das Schlimmste dabei war, daß er sich genierte, mit den alten Freunden
-zusammen zu sein und lieber in die weit entfernte größere Stadt fuhr, wo er
-in einen Trink- und Spielklub niederen Ranges geriet.
-
-Sein Freund, Herr v. Zülchow, machte sich anfangs keine Gedanken hierüber.
-Diese wüste Periode war vielleicht ein ganz begreiflicher Abschluß. Aber es
-blieb dabei. Die schlechten Gesellen, die ihn ausbeutelten, wußten, was sie
-an ihm hatten, wie Fräulein Wurach es gewußt hatte, und sie fesselten ihn
-durch Schmeicheleien, auch wie sie.
-
-Der Rummelshöfer versuchte schriftlich und mündlich sein Möglichstes.
-Aber der von Hohen-Leucken war nicht mehr für ihn zu sprechen, er wurde
-beleidigend in seinen Ausfällen. Er hatte schon Schule gemacht in seiner
-neuen Umgebung und hatte Ausdrücke an sich, denen man nur aus dem Wege
-gehen oder sie blutig rächen mußte.
-
-Die große Stadt lag von Hohen-Leucken drei gute Stunden Wagenfahrt
-entfernt. Die Leuckener Kutschpferde mußten sich schon an diesen Weg
-gewöhnen. Oft, wenn Herr v. Dörfflin ungnädig und durch irgend etwas an
-seinen Kumpanen geärgert war, konnten sie sogar ohne Rast wieder umkehren
-und die drei Meilen wieder zurückjagen. Zu Hause aber mußten die Bonne und
-die Mädchen nur bemüht sein, die Kinder aus der Nähe ihres Vaters fern zu
-halten.
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
-
-Wenn in diesem Witwerhaus schon früher ein Besuch eine Seltenheit gewesen
-war, so blieb er jetzt ganz aus. Das sehnsüchtige Struwwelköpfchen brauchte
-nicht mehr stundenlang aus der Dachluke zu spähen, es kam doch kein Wagen
-übers Moor, der so lustige und reizvolle Fracht trug wie der Rummelshöfer
-am Novembertage.
-
-»Warum kommen die Jungens gar nicht wieder?« fragte Fritzchen Tag für Tag
-die Schwester. Die zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Aber sie hatte
-dabei einen scharfen, unkindlichen Zug um den Mund, der von aufgeschnapptem
-Mägdeklatsch herrührte.
-
-Fritzchen sehnte sich nur, aber Gisa litt an der Vereinsamung ihres Hauses
-als unter einer Schande.
-
-»Warum kommen die Jungens gar nicht wieder?« fragte Fritzchen ihre Bonne,
-fragte sie ihr Mädchen, das sie zu Bett brachte.
-
-»Sie werden schon wiederkommen«, war die eine Auskunft. Sie ging von der
-Bonne aus, die es sich gern bequem machte.
-
-»Herr v. Zülchow ist bös mit Papa«, war die andere Auskunft.
-
-»Warum ist er bös?«
-
-»Na -- Papa ist doch manchmal grob und schimpft.«
-
-»Ich will ihm sagen, daß er mit Herrn v. Zülchow wieder gut sein soll.«
-
-»Das tu Du nur«, sagte das Mädchen und lachte.
-
-Fritzchen hatte eine unruhige Nacht voll wilder Träume, ein paarmal wachte
-sie auf, in Schweiß gebadet. Sie hatte mit Ungeheuern gekämpft, aber das
-Ungeheuer hatte plötzlich Papas Gesicht gehabt.
-
-Früh stand sie auf und zog sich an, schnell, schnell und im Dunkeln.
-Draußen schneite es, und der Wind klapperte mit den Läden.
-
-Die Bonne lag noch im Bett und schlief. Plötzlich fuhr sie auf. »Fritzchen
--- was willst Du?«
-
-»Nichts.« Damit raffte sie das Kleidchen, das sie noch nicht angezogen
-hatte, zusammen und huschte hinaus, es im Korridor anzuziehen.
-
-Wie seltsam das Haus aussah zu dieser Zeit. Alle Türen standen auf, der
-Wind fuhr klappernd durch die Gänge. Die Mägde liefen mit Besen und Eimern
-herum, in den Öfen bullerte das Feuer, aber überall war es noch bitterkalt.
-
-»Fritzchen! Was willst Du denn?« rief Jakob, der eben die geputzten Stiefel
-des Herrn in dessen Schlafstube bringen wollte.
-
-»Wacht Papa schon?«
-
-»Jawohl. Aber er liegt noch im Bett und trinkt Kaffee.«
-
-»Jakob, nimm mich mit 'rein!«
-
-»Du bist jawoll -- was würde er da für Augen machen!«
-
-»Laß ihn doch. Aber geh Du nur, ich komme schon mit.«
-
-»Na, mir kann's ja egal sein.«
-
-Dicht an die Beine des stämmigen Burschen geschmiegt, wie ein Mäuschen, das
-sich unversehens mit einschleicht, drang der kleine Abenteurer ungekämmt,
-mit hinten offenstehendem Kleidchen in das Zimmer ein. Der Papa saß
-aufrecht im Bett, neben sich das Kaffeegerät und las die Zeitung. Er sah
-gar nicht auf, bis ein winziges Geschöpf an seinem Bettrande auftauchte.
-
-»Na nu!«
-
-Er ließ die Zeitung fallen. Sein Gesicht erschien in dem Rahmen der weißen
-Kissen noch röter als zuvor. »Was fällt Dir ein? Was willst Du hier? Ist
-jemand krank?«
-
-»Papa -- warum kommen die Jungens gar nicht wieder?«
-
-»Welche Jungens?«
-
-»Gregor und Hans Henning.«
-
-»Teufel!« Er nahm die Zeitung wieder auf. »Was geht's mich an? Geh' raus!
--- Was geht's mich an, sage ich!« Er ließ das Blatt wieder sinken und
-schrie das blasse kleine Gesicht wütend an.
-
-Das blieb wie es war, wich und wankte nicht. »Du sollst gut sein mit Herrn
-v. Zülchow. Die Jungens sollen wiederkommen. Du sollst's machen!«
-
-»Was ist denn das für eine Verrücktheit! Jakob, schaff das Mädel fort! Was
-sind denn das für neue Moden!«
-
-Jakob grinste innerlich und auch ein bißchen äußerlich. Als er die kleine
-Hand anfaßte, geschah es sehr behutsam, er zupfte auch nur, ein wenig
-mahnend, in der Gegend nach der Tür zu.
-
-»Du sollst's machen!« rief Fritzchen laut. Ihre Augen loderten, das ganze
-eben noch blasse kleine Gesicht war von Glut überzogen.
-
-»Du sollst gut sein! Die Jungens sollen wiederkommen!«
-
-Da hatte Jakob sie glücklich bis an die Tür. »Papa! Du sollst's
-machen!« Sie hob sich noch einmal auf die Zehen -- dann verschwand das
-feuersprühende kleine Bild.
-
-»Nee, sowas -- nee, sowas --« murmelte Herr v. Dörfflin. Er saß noch ein
-Weilchen, wie er saß, aber er las keine Zeile mehr, und auch sein Kaffee
-blieb stehen.
-
-»Jakob, zum Donner, so gib mir doch endlich die Stiefel! Was wollte denn
-das Balg? Wie kam's hier herein?«
-
-»Ich weiß nicht, gnädiger Herr.«
-
-»Ist sie denn ganz -- --«
-
-Unter beständigem Brummen und mancher unwirschen Frage an Jakob, die der
-stets mit Unwissenheit ablehnte, zog Herr v. Dörfflin sich an. Es war noch
-viel zu früh für seine Gewohnheit. In seiner Stube scheuchte er die Mädchen
-heraus, schloß die Fenster, in die der Schnee wehte, und im Schein der
-Küchenlampe, die das Mädchen hatte stehen lassen, schrieb er auf ein
-Notizblatt:
-
- »Lieber Fritz, so komme doch endlich wieder und stelle Dich nicht an
- wie eine alte Jungfer.
-
- L. D.«
-
-Dann steckte er den Brief in einen Umschlag, aber schickte keinen Boten
-damit ab, sondern lauerte selber dem Briefträger auf, damit das alberne
-Gesinde nicht mit ansähe, was er für ein weichherziger Narr war.
-
- * * *
-
-Hätte Fritz v. Zülchow das kleine mutige Ding im offenen Kleidchen und mit
-seinem Struwwelköpfchen an des Vaters Bett gesehen, so hätte er wahrlich
-nicht geschrieben, wie er schrieb.
-
- »Lieber Lutz! Du begreifst, daß Du durch Deine Auffassung von Deiner
- Würde und Deines Hauses Würde, die mich auf das schmerzlichste
- überrascht hat, einen so dicken Strich zwischen Dich und mich gezogen
- hast, daß er nicht so einfach, wie Du meinst, übersprungen werden kann.
- Es müßten andere Dinge geschehen, ehe ich wieder meinen Fuß über Deine
- Schwelle setzen könnte oder Dich bitten könnte, in mein Haus, in die
- Nähe meiner Frau zu kommen. Nimm die aufrichtige Versicherung meiner
- tiefen Betrübnis über diese Lage der Dinge.«
-
-Herr v. Dörfflin wurde fahl, als er dies las. Er fiel in den Stuhl vor
-seinem Schreibtisch nieder und starrte vor sich hin. Es wühlte, es wühlte
-in ihm, daß er bebte.
-
-Ja ja -- er hat schon recht. Es ist vielleicht so. Ich hätte es auch nicht
-getan, früher --
-
-Fritz -- so ist's mit uns geworden -- --
-
-Er stand auf, schleppte sich durch die Wirtschaft. Die Knechte rissen die
-Mützen ab, als er vorüberging, er sah (zum ersten Male beachtete er das)
-einen heiligen Schrecken vor sich her fliegen. Das half ihm, das hob seinen
-jämmerlichen Mut.
-
-Pah, was geht's Euch alle an? Ich tue, was ich will. Noch schöner, mich in
-meinen Jahren meistern zu lassen! Albernes Getue! Komm doch nicht, Kerl,
-wenn Du nicht willst. Ich werde mich noch davon nicht umwerfen lassen!
-
-Als er zurückkam, draußen vor der Einfahrt, zog Fritzchen einen kleinen
-Schlitten. Sie hatte ein schäbiges Mützchen auf, aber es stand ihr gut. Sie
-blieb stehen und sah den Vater an.
-
-Da ging ihm eine heiße Welle übers Herz. »Fritzel --« sagte er unbeholfen
-und streckte seine Hand aus. Sie ließ die Leine, an der sie den Schlitten
-zog, fallen und kam zu ihm. Wie ihre großen ernsthaften Augen blickten!
-
-»Fritzel -- ich wollte schon -- aber er will nicht -- Fritzel --«
-
-»Hat er Dich abgeschlagen?« fragte sie, blaß vor Spannung.
-
-»Ja ja -- er hat's -- er hat's -- ja Fritzchen --«
-
-»Wein' doch nicht, Papa. Ich weine ja auch nicht. Guck!« Sie glühte vor
-Trotz.
-
-»Ich wein' doch nicht, dumme Jöre. Weinen! Noch schöner! Nee, nee, lassen
-wir diese Leute laufen. Wer nicht will, der hat schon. -- Magst Du denn
-diese Jungens -- wie heißen sie doch? -- so fürchterlich gern?«
-
-»Das ist nun ganz egal!« sagte Fritzchen. Sie wandte sich um und lief ins
-Haus. Sie wußte, daß sie nun zum zweiten Male ihre Ritter- und Königslisten
-einer großen Umänderung unterwerfen müsse.
-
- * * *
-
-Wie einsam zogen die Tage und Jahre über das Hohen-Leuckener Herrenhaus!
-Der Papa fuhr in die große Stadt, jahraus, jahrein. Er verlor seinen besten
-Freund, und er verlor auch seine anderen Freunde, die ihm gleichwertig
-waren.
-
-Er hätte es wahrlich besser haben können, dieser traurige Ritter. Er hatte
-Haus und Hof, gute Freunde und Nachbarn und zwei liebe kleine Mädel. Was
-aber hatte er jetzt?
-
-Sein kleines Fritzchen mit den großen Augen unter der schäbigen Mütze,
-seine feine stolze kleine Gisa -- die zogen wie Nebelbilder an ihm vorüber.
-Es war hier ein Quell für ihn aufgesprungen, am Schneemorgen vor der
-Haustür, als sein Kind die Schlittenleine fallen ließ und zu ihm gelaufen
-kam -- ein Quell, so heiß und tief und stark, wie er nur in einem
-sehnsüchtigen, leidenschaftlichen Kinderherzen entspringen kann.
-
-Vielleicht, wenn dieser Mensch, der sich selbst verlor, ein klein wenig
-besser aufgepaßt hätte, sein Fritzchen bei Tisch oder beim Vorbeihuschen
-ein ganz klein wenig sich angesehen, ihren Ausdruck, den Sinn ihrer
-Bemerkungen hin und wieder mit offenen Ohren und Augen aufgenommen hätte
--- so hätte das für ihn die beste Erziehung werden können, die je das Leben
-ihm anbot. Diese Zuversicht, diese Erwartung (wenn auch oft allzu hoch
-gespannt), das lächerliche Vertrauen, das dies phantastische Kind auf ihn
-setzte, das sollte ihm wohl Peitsche und Sporn sein. Aber was war dies
-alles nütz, da er gar nicht einmal hinsah?
-
-Es ist nicht wahrscheinlich, daß Gisa ihm viel geholfen hätte. Die hatte
-nie diese reine und ungetrübte Kindlichkeit besessen, wie sie bei Fritzchen
-fast zu sehr vertreten war. Sie konnte nichts dafür, daß sie so feine
-Öhrchen hatte, daß sie das Piepen in den Ecken, unter den Dielen, durch die
-Türritzen und Schlüssellöcher vernahm. Sie spann kein goldenes Gewebe
-um den armseligen Papa, an dessen Maschen er sich hätte festhalten und
-emporklettern können. Sie war die strenge Tugend, die den glimmenden Docht
-vollends austritt. Denn sie war eine hochmütige kleine Person, und ihr
-Stolz war verwundbarer als ihr Herz.
-
-Darum darbte sie bitter alle die Kindheitsjahre über, während Fritzchen,
-das verträumte Närrchen, neben ihr schwelgte. Aber wer versteht diese
-Geheimnisse? Sand wird zu Gold, die Winde werden zu der wilden Jagd der
-Geister, und Blumen sprossen am dürrsten Stab. Oder: Sand wird zu Schmutz,
-die Winde löschen Deine Lichter aus und blasen Dir ins Gebein, und der
-dürre Stab zerbricht Dir in der Hand. Wer versteht das und kann das deuten?
-
-Die verdrossenen Mägde auf Hohen-Leucken? Oder die verbildete und verdorrte
-Gouvernante, die im Laufe der Zeit die Bonne ablöste?
-
-Jedermann trägt sein Erbteil mit sich, und wenn er auch nur erst ein
-kleines, halbvernachlässigtes Fräulein im einsamen Gutshause ist. Gisela
-versteinte, sie wurde immer vornehmer, immer feiner, immer klüger und immer
-kälter. Fritzchen lebte immer stärker und weiter, aber sie verwilderte
-dabei immer mehr, verstrickte sich immer hoffnungsloser in ihre Traumwelt.
-Sie saß mit Gespenstern zu Tisch und lief mit leichten und seligen Geistern
-über die Baumkronen dahin und bis in ihr Wolkenschloß hinauf. Sie wurde
-blaß und ihre Augen immer größer. Wenn man die beiden Schwestern einmal in
-der Stadt zu Besorgungen erblickte, sah sich alle Welt neugierig, mitleidig
-und auch wohlwollend nach ihnen um.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-
-An einem heißen Junitage kam ein reitender Bote aus Rummelshof durch das
-steinerne Tor der Hohen-Leuckener geritten. Herr v. Dörfflin stand zufällig
-im Hofe. Wieviele Jahre waren vergangen, seit der Rummelshöfer und all sein
-Zeug für ihn versunken war, und nun erkannte er auf den ersten Blick Mann,
-Livree, ja das Reitpferd wieder! Ein Ruck fuhr ihm durch's Gebein, er blieb
-stehen mit halboffenem Munde, atemlos. Der Knecht sah ihn, er sprang vom
-Pferde und nestelte einen Brief aus der Rocktasche.
-
-»An -- -- soll's an mich --?«
-
-Ja, so stammelte er, der Fassungslose, der Ausgehungerte.
-
-Es sollte an ihn, aber die Handschrift kannte er nicht. Seine dicken Finger
-flogen, als er den Umschlag auseinander reißen wollte. Endlich gelang es.
-Der Bote stand stumm zuschauend vor ihm.
-
-»Es ist vom jungen Herrn Baron Gregor.«
-
-»Gregor --?«
-
- »Sehr geehrter Herr v. Dörfflin! Vater ist sehr krank, und der Arzt
- gibt seit gestern wenig Hoffnung. Er wünscht Sie noch einmal zu sehen.
- Wir bitten Sie, zu eilen.
-
- Hochachtend Gregor v. Zülchow.«
-
-»Zu eilen!« Als ihn Liebesstunden riefen, als ihn Jagdfreuden riefen, da
-hatte er auch eilen können, aber so in den Stall gestürzt, so auf's Pferd
-gekommen, so über das in Juniglut zitternde ausgetrocknete Moor gejagt wie
-heute, das war er noch nie. Der Rummelshöfer Knecht bemühte sich vergebens,
-Schritt zu halten, es ging nicht, er blieb zurück, immer weiter, am Rande
-des nächsten Busches hatte er auf diesem Ritt Herrn v. Dörfflin zuletzt
-gesehen.
-
-Ein armer Kerl, ein Verwaister, Verirrter, Verlorener, so stand er an
-seines Freundes Fritz Sterbebett. Der machte grimmigen Ernst mit seinem
-Vorhaben. In Rummelshof herrschte der Typhus, die besten Männer gingen
-daran ein; er, der wohl der allerbeste war, auch. Es ließ sich mit guten
-Wünschen und heißem Jammer und starrer Hilflosigkeit nichts mehr dagegen
-ausrichten.
-
-Ach, es war ein grausames Elend! Frau und Söhne standen herum und konnten
-zusehen, wie sie mit ihrem Schmerz fertig wurden. Das war gar nichts, fand
-in seinem Jammer Ludwig Dörfflin. Das war ein Schicksalsschlag, wie er
-jeden auf Erden trifft. Hatte er nicht vor einem Dutzend Jahren das Gleiche
-erlebt? Das hockt man aus und trägt's, so gut es geht. -- Aber _er_, mit
-_seiner_ Not! Jahre, Jahre, Jahre verloren, um solchen elenden Zankes
-willen! Ihn wiedersehen, nach dem er immer gehungert hatte -- jetzt wußte
-er es erst, seit er den Pferdekopf aus Rummelshof unter seinem Tor hatte
-auftauchen sehen -- und ihn wie wiedersehen! Dasselbe Gesicht -- ach ja,
-aber wie bleich und lebenslos, entstellt und fremd! Und doch und doch
-dasselbe Gesicht!
-
-Er fiel, ungeschickt und klotzig wie er war, vor diesem entsetzlichen
-Sterbelager in die Knie.
-
-»Fritz -- Fritze -- vergib mir das --«
-
-»Ja -- aber tausendmal, mein alter Lutz --«
-
-Was hilft's, was hilft's, er geht doch fort! Ihr, Frau v. Zülchow und Ihr
-großen, langen Menschen, Ihr könnt' ihn wohl ruhig fahren lassen. Ihr habt
-nichts mit ihm versäumt. Alle die Jahre, die Jahre! Wo sind sie nun? Nach
-der Stadt hin -- zurück, hin -- zurück -- -- pfui, dies Lotterleben, wie
-ist es mir verhaßt, wie ist es mir zuwider!
-
-»Fritz! Fritz! Wenn's geht, bleib' doch noch!«
-
-»Ich habe alle Tage an Dich gedacht, mein alter Junge. Im Grunde war ich
-Dir nie böse. Siehst Du, ich wollte Dich nur zur Besinnung bringen. Es tut
-mir leid, daß ich so hart war. Laß, heul doch nicht, alter Bursche! Wir
-sind ja nie auseinander gewesen. Willst Du, wenn ich tot bin, meine
-Jungens öfter bei Dir haben? Ist Dir das lieb? Du siehst doch, daß ich Dir
-vertraue!«
-
-»Ja, ja!« schluchzte der Gutsherr von Hohen-Leucken und trocknete sich mit
-Herrn v. Zülchows Bettzipfel die Augen.
-
-»Fritz, mir ist alles bis zum Halse hinauf zuwider! Gib mir die Hand. Hier
-schwöre ich Dir, daß alles aus ist mit dem schlechten Leben. -- Ach, ich
-möchte mit Dir tauschen. Du darfst doch noch nicht sterben, Du, so klug und
-gut und groß. Was liegt an mir altem Sünder, altem Lumpen --?«
-
-Am Ende stand Gregor auf, nahm ihn am Arm und führte ihn fort. Um Frau
-v. Zülchows willen war das dringend nötig. Man konnte diesen fremden, etwas
-verrufenen Menschen hier in den letzten Stunden nicht lärmen lassen, als
-sei er der einzige Zugehörige.
-
-Der arme Herr Ludwig ließ sich stumm fortziehen. Im Nebenzimmer sah er
-scheu in des Jünglings eisiges Gesicht.
-
-»Ich weiß«, sagte er bedrückt, »ich war wohl zu laut --?«
-
-»Es geht bald zu Ende mit unserem Vater. Wir müssen ihn allein haben.
-Wollen Sie jetzt fahren, Herr v. Dörfflin? Sie haben ja Abschied genommen.«
-
-»Allein haben --. Ja, Ihr seid die Glücklichen --« murmelte der verstörte
-Mensch. Aber das schmale kühle Gesicht vor ihm bewegte sich nicht.
-
-»Herr Gregor, lassen Sie mich hier!« flehte er plötzlich außer sich. »Ich
-geh nicht mehr hinein, ich mache auch keinen Lärm. Lassen Sie mich hier an
-der Tür sitzen, ich werde mich nicht rühren. Und wenn, können Sie mich ja
-noch immer fortschicken. Herr Gregor, ich habe Ihren Vater über alles
-lieb gehabt, schon ehe ein Mensch an Sie dachte, und auch ehe er Ihre Frau
-Mutter kannte, die nun den größten Platz und das größte Recht bei ihm hat.
-Ich red' ja nichts davon, ich bin ja schuld, aber lassen Sie mich hier.
-Sehen Sie, seinen Hund lassen Sie ja auch hier. Tell -- kennst Du mich
-noch? Wahrhaftig, Herr Gregor, er kennt mich noch! Sehen Sie, ich bin hier
-doch nicht so ganz ohne jedes Recht.«
-
-»Wie Sie es wünschen, Herr v. Dörfflin«, sagte Gregor v. Zülchow, holte ihm
-einen Stuhl, ging in das Nebenzimmer hinein und machte die Tür hinter sich
-zu.
-
-Der Mann und der Hund saßen miteinander noch sechzehn Stunden, ohne daß
-sich jemand um die beiden kümmerte oder auch nur durch das Zimmer kam. Sie
-saßen auf der Schwelle und hörten den harten Todeskampf des Mannes, der
-ihnen beiden der Liebste war.
-
-Am anderen Vormittag um neun war es vorüber. Unter den Dienstboten, die
-hereingeführt wurden, war auch Herr v. Dörfflin. Aber er kehrte nach dem
-ersten Blick auf das wachsbleiche Gesicht in der Tür schon wieder um,
-liebkoste noch einmal den braunen Kopf von Tell, seinem Leidensgefährten
-dieser Nacht, ging in den Stall, sattelte sich selbst sein Pferd und ritt
-zurück, den einst so wohl vertrauten Weg.
-
-Was er in dieser Nacht gewonnen hatte, war ein starker Ekel an den Lüsten
-dieses Lebens und rechts und links am Kopfe ein Büschel grauer Haare.
-
- * * *
-
-Das kleine Fritzchen hat einst geweint, daß »die Jungens« nicht wieder
-kamen. Nun sind sie plötzlich wieder da, aber es sind jetzt wohl keine
-Jungens mehr.
-
-Der junge Gregor hat vor einigen Wochen das Abiturium bestanden. Er
-studiert jetzt, er ist Theologe. Fritzchen starrte ihn ungläubig an. _Der_
-will Pastor werden? Ja, wie der alte freundliche und gemütliche Pastor
-unten im Dorfe sieht er nicht aus. Kannst Du Dir Gregor v. Zülchow im
-Schlafrock mit einer langen Pfeife denken? So müssen Pastoren doch immer
-aussehen. Oder bei einer Taufe in der niedrigen Dorfstube?
-
-Fritzchen sagt so etwas zu Gisela. Die sieht sehr verächtlich aus. »Gott,
-was für 'ne Idee! Der wird doch natürlich Professor oder Hofprediger oder
-so etwas.«
-
-Gregor war damals noch siebzehn Jahre, und Fritzchen war eben zwölf
-geworden. Sie spielte jetzt nur noch selten auf dem Boden herum
-und brauchte auch gar keinen Boden. Sie hatte all das Gerümpel, die
-Sonnenstäubchen, den Mummenschanz sicher genug auf ihrem ureigensten
-Dachboden, unter ihrem rotbraunen Jungenshaar.
-
-Ach Gregor! Welch ein Held war er doch!
-
-Der Jüngling sah das kleine tolle Ding heute so wenig an, wie er sie vor
-Jahren angesehen hatte. Was wollte er überhaupt in Hohen-Leucken? Er stand
-mit seinen langen Beinen herum, sah aus wie ein Eiszapfen und guckte an
-allen Menschen und Dingen vorbei, als wären sie Luft.
-
-Herr v. Dörfflin -- na ja, aber mit dem redet man doch nicht. Vater hat's
-so gewollt, da fährt man eben mal herüber, zeigt sich, steht ein Stündchen
-hier herum, dann ist es aber auch übergenug.
-
-»Hans, laß den Wagen wieder vorfahren, ja?«
-
-Hans Henning, der Schlingel in der Kadettenuniform, wurde blutrot. Das
-geschah ihm überhaupt leicht, schon weil er fast immer ein schlechtes
-Gewissen hatte. »Ich habe Jochen gesagt, daß er ausspannen soll --«
-stotterte er betreten.
-
-Über Gregors weiße Stirn flog eine zornige Röte. Wenn schon einmal
-ausgespannt war, mußte auch gefüttert werden. Da konnte man sich noch ein
-gutes Stündchen hier um die Ohren schlagen.
-
-»Tollpatsch!« Das ging direkt an Hans Hennings Adresse. Machte dem aber
-nicht viel aus. Er war an kräftigere Dinge als an Benennungen gewöhnt und
-hatte sich für solche Lagen ein wundervolles dickes Fell angezogen.
-
-»Fritz, wollen wir mal zur Schaukel?«
-
-Das mit dem Schaukeln war so: der, welcher schaukelte, und die,
-welche geschaukelt wurde, kamen durch den Schwung der Bewegung und das
-fortwährende Abreißen der Unterhaltung in eine amüsante Zwiesprache, die
-selber leicht wie der Flug auf dem Schaukelbrett und kräftig wie der Stoß
-von unten war.
-
-»Vor sechs Jahren waren wir hier, Fritz, weißt Du noch? Damals warst Du ein
-wilder Käfer im roten Kleidchen.«
-
-»Du bist auch schrecklich gewachsen, Hans Henning.«
-
-»Nu ja. Sechzehn Jahre. Gregor ist nun schon aus der Schule.«
-
-»Du willst Offizier werden?«
-
-»Na, natürlich. Aber nur ein paar Jahre, dann nehme ich das Gut.«
-
-»Ach! Gregor ist wohl schrecklich klug?«
-
-»Na, weißt Du, Fritz, der steckt bald alle Professoren in die Tasche. Der
-wird nochmal ein Licht. Aber ich! -- Na, ich möcht' gar nicht so sein.«
-
-Fritzchen war wieder oben im Blättergewirr.
-
-»Möchtest Du fliegen können, Hans Henning?«
-
-»Fliegen? Nein. Wozu?«
-
-»Ich möchte. Über die Bäume. Hoch auf die Wolken. Bis an die Sterne! Nein,
-bis in die Sonne. Ich möchte mal sehen, wie es da ist!«
-
-»Da verbrennst Du ja. Oder nein -- Du kriegst keine Luft. So ist's. Aber
-wenn Du fliegst, Fritz, muß ich auch fliegen. Man kann Dich doch nicht
-allein zu den Trampeltieren da oben lassen.«
-
-»Was für Trampeltiere?«
-
-»Na, auf dem Mars. Aber zuerst kommst Du mal nach Rummelshof. Mama läßt es
-heute sagen, ich soll's mit Deinem Papa verabreden.« -- --
-
-Dichter Staub flog hinter dem Wagen her, der im raschen Trabe durch die
-sandige Dorfstraße dem Moorweg zufuhr. Hans Hennings bunte Mütze leuchtete
-noch ein paarmal durch die Staubwolken, auch Gregors Strohhut -- nun
-fort -- --
-
-»Du, Gisa -- wir sollen nach Rummelshof kommen!«
-
-Gisa war wieder so hübsch und fein angezogen, daß man ihr Kleid jetzt bald
-lieber ansah als ihr Gesicht. Es war auch so lang geworden.
-
-»Ja, ja -- aber das ist ja doch nur alles Schein«, sagte sie bitter. Es
-war beinahe, als kämpfe sie mit Tränen. Auch mit ihr hatte Gregor nur das
-Alleroberflächlichste gesprochen wie ein gut erzogener Mensch, der seine
-Verachtung zu verbergen weiß.
-
-»Schein --?« sprach Fritzchen verständnislos nach. Nein, sie war noch zu
-dumm, es ließ sich mit ihr nichts bereden, noch ganz kindisch. -- Aber wozu
-auch bereden. Es war schon, wie es war.
-
-Es wurde nun auch wirklich Weihnachten, bis die Hohen-Leuckener Kinderfuhre
-nach Rummelshof abging. Die Blätter, in die das Fritzchen auf der Schaukel
-hoch hineingeflogen war, waren gefallen, ein rauher, nebliger Herbst war um
-das alte Herrenhaus gezogen. Es war hier immer rauher, nebliger, dunstiger
-als sonstwo im Lande. Die Gouvernante hatte alle Tage Schnupfen und
-Halsweh, sie lag in einem Hinterzimmer auf dem Sofa oder saß mürrisch und
-reizbar den Kindern gegenüber am Tisch.
-
-»Gott sei Dank, Ostern werde ich eingesegnet«, sagte Gisela. »Dann muß Papa
-mich in eine Pension geben. Ich sag's ihm oder der Pastor sagt's ihm.«
-
-»Ach --« staunte Fritzchen nur ganz verblüfft. Ja, das Fritzchen kann schon
-hier bleiben, was versteht das dumme Kind von der großen Welt. Für die ist
-es in Hohen-Leucken noch immer gut genug.
-
-Grau, dunstig, wolkenschwer. Was die Wolken doch nur für seltsame Gebilde
-sind! Fritzchen hatte ihren Arbeitstisch an dem einen Turmfenster, das aufs
-Moor hinausging. Der alte klobige Turm enthielt vier Stübchen und unten den
-großen runden Schulraum. Der war gut für die Geographie, aber schlecht für
-Fräulein Millers Schnupfen. Es war hier aber alles so, wie es immer war, da
-konnte der schönste Schnupfen nichts dagegen tun. -- Fritzchen wußte auch,
-warum ihr alter, gelber, zerschnitzter und tintenbeklexter Schreibtisch
-gerade an dem Südfenster stehen mußte. Hier ging der Weg übers Moor. Es
-fuhren jetzt nur noch Feldgespanne darauf, aber es war doch einmal -- und
-es würde wieder -- -- und wenn die Weihnachtsferien kamen und die Jungens
-zu Hause waren, dann -- dann -- dann fuhr man dort selber entlang -- --
-
-»Fritzchen, träum' nicht. Mach' Deine Arbeiten!«
-
-»Ja -- ja!«
-
-Siehst Du da hinten den Schornstein, den Fabrikschornstein. Der ist von der
-Zuckerfabrik des Herrn August Schultze. Herr Schultze hat vor zehn Jahren
-dem Baron Laue das Gut Böllingen abgenommen, der Baron hat fort müssen,
-erzählten die Mädchen, er hatte so viel Schulden. Er soll Agent in Berlin
-geworden sein, und seine Töchter arbeiten in Geschäften. Mit Herrn Schultze
-verkehrt kein Mensch. »Das gehört sich so«, hat Fritzchen von klein auf
-gehört. Es gehört sich auch wirklich so.
-
-Weißt Du, wozu der Schornstein gut ist? Man sieht immer gleich, woher der
-Wind kommt. Ach, was macht der Rauch manchmal für tolle Kapriolen! Er weiß
-nicht, wohin, so fährt's von allen Seiten auf ihn los. Hast Du ihn wohl je
-gerade in die Luft steigen sehen? Kaum, es ist hier immer Wind.
-
-Aber die Wolken sind doch noch mächtiger und stolzer als der Rauch. Wie sie
-lagern übereinander, man meint, sie wären aus blaugrauem Granit und sind
-doch so leicht! Vorn schiffen ein paar hellere, fast weiße Massen, erst
-waren sie zusammengeballt, aber der Wind läßt sie nicht, schon sind sie
-auseinandergerissen, flattern, andere folgen nach.
-
-Sieh, der Rauch schreibt eine schwarze wunderliche Schrift an die bleierne
-Wand. Lies sie nur schnell, es sind schon wieder andere Formen. O dies
-Fließende, Ziehende, Vergehende, ewig Neue!
-
-Wie soll das Kind am Turmfenster nicht den Wind lieben? Er baut ihm ja
-Märchen und Geschichten am Himmel auf, er spielt mit ihm so wunderbare
-Spiele. Mit ihm allein, für es ganz allein, denn wer sieht sonst dahin? --
-
-»Aber Fritzchen, Du träumst ja immer noch! Wie weit ist denn Dein Thème?
-Was, noch keine Zeile weiter? Na warte, Du faules Kind, jetzt gebe ich Dir
-die doppelte Arbeit auf!«
-
-Ach, Fräulein Miller -- sehen _Sie_ denn die Wolken nicht? Freilich,
-Fräulein Miller trägt einen Kneifer und hat schwache Augen. Armes Fräulein!
-
-»Ja, jetzt will ich auch die doppelte Arbeit machen!«
-
-Das Fritzchen hat sich so voller Farben und Wunder getrunken, daß es auch
-die dreifache Arbeit leicht gemacht hätte.
-
-Und zu Weihnachten geht's übers Moor!
-
-»Weeste, der Weg übers Moor ist hundeschlecht, hat der Herr gesagt. Fahr'
-Du man die Fräuleins um die Eiche 'rum, sonst steckt Ihr am End' noch alle
-drin wie die Dummen.« Also sprach Jakob zu dem Kutscher, der mit der alten
-Halbchaise vor der Rampe hielt.
-
-Trostlos war das Wetter. Regen mit Schnee fuhr durch die Luft daher,
-klatschte auf das Verdeckleder, schlug dem Kutscher in das verdrießliche
-Gesicht.
-
-»Auch noch!« fuhr er den Jakob an. »An dreiviertel Stunden Umweg. Du hast
-schön predigen, kannst in der warmen Stube bleiben. Mir fällt's nicht ein,
-mögen die Racker sich ins Zeug legen.«
-
-Die Racker waren die beiden Kutschbraunen. Die hatten sich schon ein halbes
-Jahr lang gewundert, daß sie nicht mehr die sechs Meilen Stadtfahrt zu
-machen hatten. Durchs Moor brachten sie die alte Chaise wohl immer noch.
-Der Jakob war ein Pessimist.
-
-Fräulein Miller fuhr auch mit, das schickte sich so, und sie wollte doch
-auch einmal einen Weihnachtsspaß haben. Aber der Papa blieb zu Hause in
-seiner verräucherten Stube, er hatte nichts in Rummelshof zu suchen.
-
-»Adieu, Papa!« Fein erzogen wurden diese Kinder nicht, aber Gisela hatte so
-etwas im Gefühl. Fritzchen hatte auch etwas im Gefühl, aber etwas anderes:
-es kam ihr so traurig vor, den Papa allein zu lassen, während sie in lauter
-Lust und Seligkeit hinauskutschierte.
-
-»Adieu, Kinder. Grüßt -- -- nein, laßt lieber. Bedankt Euch auch bei Frau
-Baronin, wenn Ihr wegfahrt. Adieu, geh' doch, Fritzchen. Die Pferde dürfen
-nicht so lange stehen.«
-
-Fritzchen drehte sich in der Tür noch einmal um. Was macht er nun alle die
-Stunden über? Er war doch eigentlich immer zuviel allein. Er kann doch
-auch von hier die Wolken gar nicht ordentlich sehen, und lesen mag er auch
-nicht.
-
-»Papa, ich erzähl' Dir alles, wenn ich zurückkomme!«
-
-»Ja ja, nun geh' doch. Die Pferde --«
-
-»Fritzchen, kommst Du denn nun endlich?«
-
-Was war das für eine Fahrt. Fräulein Miller wollte, daß man das Fensterchen
-vom Verdeck herunterließe, um sich vor Regen und Schnee zu schützen, und
-Gisa wollte es auch. Schade! Der Regen, der Wind, alles draußen war so wild
-und lustig!
-
-»Laßt mich auf dem Bock sitzen!«
-
-»I Gott bewahre, Dein Kleid, Dein Haar! Auf keinen Fall. Sitze Du nur
-still.«
-
-Es ging Schritt für Schritt. Der Boden schwankte unter den Rädern. Fräulein
-Miller ängstigte sich, klopfte ans Fenster und schrie. Sie stellte sich
-jedesmal beim Fahren so an, weil sie ein Stadtkind war, der Kutscher
-grinste auch nur und machte beruhigende Kopfbewegungen.
-
-Fritzchen sah und hörte das alles nur halb. »Nun ist's so weit, nun ist's
-so weit!«
-
-»Du bist noch sehr kindisch!« sagte Gisa. Denn sie freute sich, halb
-widerwillig, zwar auch, aber sie fand, man müsse sich solches nie merken
-lassen, sobald man »erwachsen« sei. Ach, sie war ein rechter Herzenstrost
-für Fräulein Miller.
-
-»Jetzt brauchen Sie sich nicht mehr zu ängstigen, Fräulein Miller«, sagte
-Fritzchen mit funkelnden Augen nach einer Schüttelei von fast drei Stunden.
-»Da ist die Mauer -- da sind wir. O, nun machen wir aber das Fenster auf.«
-
-Fräulein Miller erholte sich. »Gott sei Dank! Ja, ja! Aber nun in der Nacht
-die Rückfahrt!«
-
-»Wir haben Mondschein«, sagte Gisela.
-
-Fritzchen aber dachte: Nacht und Rückfahrt! Wer denkt daran! Das sind ja
-noch hundert Jahre hin!
-
-Hans Henning und ein alter Diener standen auf der Steintreppe. Wer sollte
-auch sonst noch da stehen! Was ging den Herrn Gregor die Hohen-Leuckener
-Chaise mit ihrem Inhalt an?
-
-Fritzchens kleines Herz fiel bei jedem Schritt in das vornehme weite Haus.
-Hier war alles anders als zu Hause, ach, so groß und schön und fein!
-Einen Augenblick herrschte das jähe, wilde Gefühl in ihr, auszureißen,
-fortzulaufen, sich in die Kutsche zu verkriechen. Sie fürchtete den Schall
-der eigenen Schritte.
-
-»Gisa« --, sie wollte sich der an die Hand hängen, die schüttelte sie ab.
-»Laß das!« Möglichst, als kenne sie das Fritzchen gar nicht, habe es nie
-mit Augen gesehen, so tat sie.
-
-Da stand eine große, feine, stolze Dame. Sie begrüßte Fräulein Miller,
-die einen tiefen Knix machte, und reichte den Mädchen die Hand. Fritzchen
-blickte auf und vergaß alle Verzagtheit. Sie sah aus wie Gregor.
-
-»Wo ist Gregor?« fragte die schöne, stolze Frau.
-
-»Oben in seiner Stube, Mama. Er wird wohl kommen.«
-
-»Nun, Ihr kleinen Fräulein, so richtige Spielgefährten kann ich Euch hier
-gar nicht geben. Aber Hans Henning hat sich schon sehr auf Euch gefreut, er
-wird sich nach Kräften bemühen, Euch gut zu unterhalten.«
-
-Und so weiter, was eine liebenswürdige Frau eben so hin sagt, wenn ein paar
-kleine Mädel vor ihr stehen, die ihretwegen ebenso gut hätten fortbleiben
-können. Aber es war ihres Fritz letzte Bestimmung, das Haus mit diesen
-Dörfflins zu belasten. Was sie so hin sagte aber kam als lieblichste Musik
-in Fritzchens Ohren an. Als ein Klingen und Tönen aus einer anderen Welt.
-Lag nicht hier ein Hauch, ein Duft über allem? O -- so schön hatten doch
-alle Träume ihr dieses hier nicht gezeigt.
-
-Waren dies Tassen aus Porzellan? War dies Schokolade? War dies Kuchen, den
-eine derbe Küchenfaust gerührt und geformt hatte? War dies ein Tisch aus
-Holz? Ging man hier überhaupt, wie man anderswo geht? Klang, leuchtete,
-stand und bewegte sich hier nicht alles unter ganz anderen als den
-irdischen, gewöhnlichen Gesetzen?
-
-Aber unter welchem Gesetz stand das Fritzchen, als es die überirdische
-Schokolade auf die buntgestickte Decke schwippte? Nun -- das ging
-keineswegs anders. Wie kann das Fritzchen unter einem solchen Ansturm der
-Gefühle auch ihre Tasse gerade halten?
-
-»Fritzchen!« Armes Fräulein Miller, arme Gisela! Es ist auch unangenehm,
-immer an solchen Unband gekettet und für ihn verantwortlich zu sein.
-
-»Was das wohl tut!« sagte Hans Henning ungeheuer verächtlich und warf mit
-der Miene eines Großfürsten seine Serviette auf den Fleck. »Nun brauchst Du
-es nicht mehr zu sehen, Fritz.« Im Grunde fand er es reizend, daß sie immer
-noch ihre Tasse übergoß.
-
-Der Glanz dieser, seiner Welt umfloß auch Hans Henning. Sein rotblondes
-Haar, militärisch verschnitten, seine kurze aufgeworfene Nase, seine
-unverschämt lustigen Augen -- alles war mit von dem Zauber umsponnen und
-verklärt. Auch er war ein Held, aber natürlich einer niederen Grades.
-Gregor und die Mutter -- die, ach die -- --
-
-Es kam ein Schritt, vor dem zitterten zwei dumme kleine Mädchenherzen. Auch
-Gisela wurde rot vor Erwartung und Bängnis. Ach sie war auch nur ein armes,
-sehnsüchtiges Kind, mit der Last ihrer vertrauerten Jahre -- daran änderte
-das feinste Kleid und der herbste junge Mund nichts.
-
-Was hatte man von diesem Gregor? Er ging umher, warf ein paar Bemerkungen
-hin, wie sie ihm gerade kamen, und ließ die kleinen Mädchen aus
-Hohen-Leucken danach springen und damit zurecht kommen. Hatten wohl je
-blaue Augen einen kälteren Blick? Und um diesen war man drei Stunden
-gefahren und hatte lange Monate hindurch auf das Moor gesehen!
-
-Was tut es? Er ist doch schön und gut!
-
-Fritzchen, Du kleiner Affe, was tust Du da in der Ecke? -- Nein, das sagt
-man nicht. Sie hat eben den Schatten ihres Helden, den er im Schein der
-großen Stehlampe da hinten an die Wand geworfen hat, mit spitzem, übermütig
-seligem Mündchen ganz flüchtig geküßt.
-
-Hinten in einem großen Zimmer steht der Weihnachtsbaum, er ist nicht bunt
-wie sonst. Nur Lichter, ein wenig glitzernde Schneewatte und Eiszapfen
-schmücken ihn. Frau v. Zülchow mag ihn nicht gern sehen, aber sie hat
-ihn doch für ihre Jungens, vornehmlich für den »noch so kindischen Hans«
-zurecht gemacht. Gregor hätte wohl nicht so viel darnach gefragt. Gerade
-in seiner ernsten Pracht wirkt nun der Baum um so stärker auf die beiden
-Schwestern.
-
-Was ist es nur für ein wunderbares Erleben, das jede neue Minute bringt!
-
-Hans Henning zeigt ihnen allerhand Geschenke, die herumliegen und noch
-nicht fortgenommen sind. Es gibt nichts Interessanteres als das. Jawohl,
-es sind ja auch Schlipse, Krawattennadeln, Zigarren, große unverständliche
-Bücher und lauter Dinge, die von Rechts wegen so ein Fritzchen angähnen
-müßten. Aber alle sonstigen Berechnungen stimmen nicht mehr, wenn man schon
-spitzbübisch den Schatten an der Wand küßt.
-
-Das sollte der Gregor wissen! Fritzchen sah ihn von der Seite an, und
-plötzlich, aus dem Verborgenen, fletschte sie ihm die Zähne entgegen. O
-diese Lust, diese Lust, solchen Triumph über ihn zu haben! Sie suchte immer
-wieder mit den Augen seinen Schatten, den alten Bekannten aus der Ecke. Ja,
-ja, er glaubte, das wäre seiner, und er ahnte nicht, was der für Streiche
-hinter seinem Rücken trieb!
-
-Alle Abende war hier ein Familienstündchen Mode. Frau v. Zülchow saß im
-Zimmer bei verhängter Lampe, ihre Jungens bei ihr (früher hatte ihr Fritz
-nie gefehlt), und sie sprachen miteinander, wie sie es sonst im Treiben des
-Tages nie konnten. Besuche unterbrachen dies Familienstündchen, aber die
-Hohen-Leuckener Kinder und ihre Gouvernante galten kaum als Besuch, darum
-konnten sie daran teilnehmen.
-
-Das Zimmer der Baronin im gedämpften Licht des gelben Lampenschleiers
-erschien Fritzchen wie ein Märchentraum. Es war ein lieber, wohnlicher
-und auch gut ausgestatteter Raum, mit schönen hellen Möbeln, Pflanzen,
-Kunstwerken und Teppichen, jedes gute Haus hat wohl seinesgleichen. Das
-konnte das Fritzchen nicht wissen. Sie kauerte auf einem Schemel, sah die
-Freifrau an, die an dem kleinen Kamin saß und von dem flackernden Feuer
-magisch beleuchtet wurde, und sie glaubte, diese Stunde sei die schönste
-und die stolzeste ihres Lebens, wenn auch ihr kleines Persönchen so viel
-wie gar keine Geltung in dieser Stunde hatte.
-
-Fräulein Miller unterstand sich auch nicht recht, etwas zu sagen, sie saß
-irgendwo im Dunkeln. Für Gisela hatte Gregor ein Sesselchen an den Kamin
-gerückt und stand daneben. Hans Henning lag wie ein junger Jagdhund seiner
-Mutter zu Füßen.
-
-Gregor redete viel kluges Zeug. Ach, er tat seinen stolzen Mund auf, und
-das Fritzchen hörte von da an nur noch Töne -- kaum Worte. Aber auch das
-war schön. Eines merkte auch ihr zerfahrener kleiner Kopf: die schöne,
-feine Mutter dachte sehr hoch von Gregor, ihr Ton war ein ganz anderer,
-als wenn sie zu Hans Henning sprach. Den tat sie oft ab, wie man eben einen
-täppischen Hund abtut, den man im übrigen aber sehr gern hat.
-
-»Ach -- Hans« darin war immer so ein bißchen liebevoller Spott. Was der
-Junge doch immer für Unsinn treibt -- so ähnlich. Dagegen:
-
-»Ja Gregor. Meinst Du nicht auch -- wie denkst Du darüber --«
-
-Dann kamen große Fragen, die man sonst nur im Katechismus lernt. Ach ja, es
-war ein gar wunderbares Gespräch!
-
-Einmal sagte Gisela etwas. Mitten hinein! Ach, daß sie solchen Mut hatte!
-Es war aber schön von ihr. Von der Notlüge, und daß die ihre Berechtigung
-habe. Aber da sagte Gregor:
-
-»Nein, Fräulein v. Dörfflin, sie hat niemals Berechtigung!« Und darnach
-sprach er noch weiter und sehr viel in sehr hartem Ton. Frau v. Zülchow
-wollte mildern, aber er widersprach auch ihr. Einmal bewegte er sich dabei,
-so daß der Feuerschein auf sein Gesicht fiel, es sah aus wie aus Stein
-gehauen.
-
-Er sagte, jede Lüge sei ein Mangel an Stolz und Kraft, er würde sich vor
-sich selber schämen, wenn er, sich aus seiner Not zu ziehen, zu solchem
-feigen Mittel greifen würde.
-
-»Aber um andere aus der Not zu ziehen?« fragte die Baronin sehr leise.
-
-Ihr Sohn entgegnete ihr hart: »Auch um der Not anderer Leute willen lasse
-ich mich nicht zerbrechen.«
-
-Noch viel leiser sagte sie: »Gregor -- das tote Prinzip und das lebendige
-Leben! Vielleicht -- nach zwanzig Jahren -- der Gang über diese Erde ist
-weit und lang -- --«
-
-Es klang so rührend und weh, wie sie sprach, es drang durchs Herz. Aber
-Fritzchens Herz empörte sich und rief ihren Helden an: Gregor, steh' fest!
-Was Du einmal gesagt hast, soll gelten! Laß Dich nicht rühren!
-
-Freilich, Helden lassen sich auch nicht rühren. In diesem, in Fritzchens
-Sinne, war Gregor auch wahrlich ein ganzer Held. Er stand fest, er ließ
-nicht ab, er antwortete mit heller, klingender Härte.
-
-Was -- darauf kam es für Fritzchen nicht mehr an. Sie glühte, sie bebte,
-sie verschrieb sich diesem Stolzen, Harten, Eiseskalten mit Leben und Blut.
-
-»Ich werde nie wieder lügen -- und ob mein Leben oder das Leben anderer
-Menschen (sie dachte in diesem Moment an Gisa und Fräulein Miller) davon
-abhängt.«
-
-Diese beiden waren sehr ahnungslos, daß eben ein feuriges Gelöbnis abgelegt
-wurde, das unter allerhand wunderbaren Umständen ihnen das Leben kosten
-konnte! --
-
-Dann ging auch dieser Abend zu Ende, und dann kam die lange, lange,
-traumesheiße Rückfahrt, mit dem Mondschein auf den Wegen und auf der
-leichten trügerischen Schneedecke des heimatlichen Moores.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-
-Gisela saß beim Pastor und sagte: »Bitte, reden Sie doch einmal mit Papa,
-daß er mich Ostern in eine Pension gibt. Ich werde im April fünfzehn Jahre,
-und Sie meinen doch auch, daß ich einmal fortmüsse.«
-
-»Ja, ja, es wird Zeit, Gisela, Kind, es wird Zeit«, sagte der alte Mann
-unruhig und ging in seiner engen, von hohen Bücherborden verstellten Stube
-hin und her. Gisela nahm ihre Bücher zusammen, denn ihre Konfirmandenstunde
-war beendigt, und folgte ihm mit den Augen.
-
-Draußen war ein klarer Frosttag. Ging denn wirklich der Wind auch einmal
-schlafen auf Hohen-Leucken? Wie die Sonne auf dem Schnee glitzerte! Wie
-still die kahlen Bäume standen mit ihrer schweren weißen Last!
-
-Pastor Baumann blieb stehen und sah hinaus auf die Tannen vor seiner
-Haustür, auf die steinerne Gartenmauer mit ihren wunderlichen Kronen aus
-Schnee. Ein Ackerwagen fuhr vorüber, der Dung drauf dampfte in weißen
-Wolken, die Räder knirschten auf dem gefrorenen Boden.
-
-»Ich will's schon für Dich besprechen, Kind«, sagte der alte Pastor. Er
-nannte sie aus alter Gewohnheit noch immer Du. »Aber leicht wird's ihm
-nicht werden, fürchte ich.«
-
-»Ach!« sagte Gisela wegwerfend.
-
-»Ich meine --« sagte er hastig -- »in anderer Hinsicht, meine ich. So ein
-Pensionsleben ist teuer --«
-
-»Ach so --!« Gisela zog ein äußerst hochmütiges Gesicht. »Nun, daran wird
-es wohl nicht zu scheitern brauchen!«
-
-»Nein, nein, gewiß nicht«, sagte der Pastor begütigend. Er sah wieder
-hinaus und verfiel in Gedanken. Man mag es ja den armen Kindern nicht
-sagen, was doch das ganze Land umher weiß. Wieviel Hypotheken mag er jetzt
-haben auf Hohen-Leucken? Ist denn das nur möglich, daß ein Mensch so seine
-Ehre und Pflicht vergißt?
-
-Als Gisela hinaus war, sah er ihr nach, dann tat er Schlafrock, Käppchen
-und Pfeife ab und unternahm den sauren Gang. Wie selten gingen seine Füße
-über den ansteigenden Steindamm und durch das alte Tor! Und es war doch
-auch sein Beichtkind, das hier oben hauste. Freilich, das unhandlichste von
-allen, aber auch vielleicht das bedürftigste! Ja, aber Patronatsherr und
-Beichtkind in einer Person, das faßt sich oft schlecht zusammen. Herr
-v. Dörfflin war seit langen Jahren -- seit den sechs verfluchten Jahren
--- weder für das eine noch für das andere zu sprechen. Mochte sein wegen
-schlecht bestellten Gewissens!
-
-Die Sonne schien gerade in sein Arbeitszimmer, als der Pastor eingelassen
-wurde. (Arbeit? Drei Fragezeichen. -- Na ja!) Die Luft war voll
-Zigarrenrauch und Weindunst.
-
-»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Pastor?« So formell wie möglich.
-
-Das alte Männchen war hochfahrendes Wesen nicht gewöhnt. Er konnte es nicht
-vertragen, er verstand es nicht. Er konnte nur zu den armen, kranken oder
-sündhaften Leuten gehen, dort fühlte er sich sicher in der Kraft seines
-Amtes. Sie liebten ihn dort, ehrten ihn und steckten willig seine
-Strafreden ein. Die störrigsten Böcke hatte er schon zahm gekriegt. Aber
-dies ist hier so anderes Holz, man weiß nicht, es anzufassen. Die Formen
-der guten Gesellschaft haben so etwas Lähmendes für den alten Pastor, der
-selbst ein Handwerkersohn war und sie nicht zu handhaben weiß. Sie kommen
-ihm dadurch so ungeheuer und wichtig vor. Ja, das ist eine traurige
-Geschichte. Herr v. Dörfflin, der Sünder, sitzt oben, und Pastor Baumann,
-der Gerechte, sitzt unten.
-
-Was das nun für ein elendes Gestöckere wird wegen Gisela! Verächtlich
-schaut der Gutsherr drein. »Deshalb kommen Sie her, mein Herr Pastor? Aber
-natürlich kommt das Mädchen fort. Nach Berlin wahrscheinlich. Wie kamen Sie
-auf die Idee, daß ich sie hier behalten wollte? Übrigens danke ich Ihnen
-für die Teilnahme. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«
-
-»Danke, Herr v. Dörfflin, ich vertrage so starke Zigarren nicht.«
-
-»So? Schade. Na, also nochmals besten Dank.«
-
-Das war die ganze Unterredung. Er geht wieder den Steindamm herab durch's
-Tor, auf die Dorfstraße. -- Sie sind kurz, diese Wintertage! Sieh, welchen
-Schatten schon wieder die Scheune wirft! Und da ist er ja auch wieder, der
-kalte Blasius aus dem Böllinger Steinloch, der über die kahle Ebene kommt,
-dem Pastor in die Rockärmel fährt und wie ein frecher Bube mit seinen
-weißen Haaren spielt.
-
-Ach, altes Herz, Du bist unwürdig Deines Amtes! Wie lange Jahre wird es nun
-wieder dauern, daß Du Dich in Dein Häuschen verkriechst und nicht wieder in
-die Region des Herrenhauses hinaufsteigst!
-
-_Der_ Gedanke klopfte freilich in dem überbescheidenen, eingeschüchterten
-alten Herrn nicht an, daß er seinem Patronatsherrn eine viel größere
-Respektsperson sei, als er sich jemals träumen ließe. Daß sein Amt, sein
-weißes Haar und sein reiner Wandel dem leichtfertigen Sünder da oben gar
-mächtig imponierte und ihn sich sehr klein fühlen ließ -- und daß in diesem
-speziellen Falle Gisela nie aus dem Hause gekommen wäre, wenn er nicht
-diesen Gang unternommen hätte, der anscheinend so nutzlos wie möglich
-war. -- --
-
-Nun ging Gisela fort, nach Berlin, zu weitläufigen, reichen Verwandten,
-aber man hörte auf Hohen-Leucken oft von ihr. Bald fehlte es an einem
-Gesellschaftskleid, bald am Taschengeld, bald berichtete sie von
-notwendigen Verpflichtungen und forderte schleunigst eine hohe Summe.
-
-Diese Briefe blieben keine Geheimnisse. Herr v. Dörfflin riß sie auf, meist
-morgens am Kaffeetisch, überflog sie, fluchte leise vor sich hin und ließ
-sie dann offen liegen. Fritzchen las sie alle.
-
-Da begriff sie plötzlich, was Geld eigentlich sei. Wie eine neue,
-unheimliche Macht drängte das in ihr Leben. Geld! Soviel auf einmal!
-Hundert Mark, zweihundert Mark wie für nichts. Und Papa war so bleich
-geworden, biß an seinem Schnurrbart und hatte verstörte Augen.
-
-Waren sie denn nicht reich? Sie hatten ja solch großes Haus, Hof und
-Äcker, mehr als zwanzig Pferde und all das Rindvieh und die Schweine. Dazu
-Kutschen, Knechte, Mägde und waren im ganzen Dorf als die Herren geehrt.
-Für ein einziges Schwein bekam Papa mehrere hundert Mark, also was war
-eigentlich dabei?
-
-Aber der dunkle Geist war angerufen und drückte ihr auf der Brust, flog
-an dem Turmfenster vorbei, wenn sie nach den Wolken sah, vergällte ihre
-Träume.
-
-Einmal sprang es aus ihr heraus. Papa las gerade die Zeitung, und ein
-Brief von Gisa war gar nicht einmal in Sicht. Fritzchen saß vor ihrem
-Kakaotäßchen, aber sie mochte nicht trinken.
-
-»Papa!«
-
-»Was gibt's?«
-
-Es war mehr ein Anfahren als eine Frage, er war in letzter Zeit etwas
-nervös geworden, dieser Herr. Sah er denn nicht, daß sein Kind mit ihm
-reden wollte? Was hatte er von der Zeitung? Er war ja doch nur ein halb
-verkommener alter Landjunker, was hatte er noch mit Politik zu tun oder
-der Welt da draußen? Sie hatte ja mit ihm auch nichts zu tun. Aber sein
-braunäugiges Kind, das wartete noch auf ihn.
-
-Das junge Herz so einschüchtern, daß es nicht wieder kommt, das wäre
-vielleicht für beide Teile das Beste.
-
-»Was willst Du? Was stierst Du mich an?«
-
-»Papa -- ich meine nur -- nicht wahr, wir haben doch sehr viel Geld?«
-
-Famos! Das war die Frage, die ihm am besten passen konnte. Er wurde blutrot
-über und über.
-
-»Was geht's Dich an! Was fragst Du so dummes Zeug? Wer hat Dich aufgehetzt?
-Was geht's Dich an? Verhungern wirst Du wohl nicht, Mamsell Naseweis. Wer
-hat Dich aufgehetzt, wer hat Dir diese dumme Frage eingetrichtert?«
-
-»Niemand. Ich frage aus mir selbst«, sagte Fritzchen.
-
-»So schweige künftig aus Dir selbst!« brüllte er sie an. Damit versteckte
-er sich wieder hinter seiner Zeitung, er hatte keine Lust, zu sehen, was
-sie für ein Gesicht dazu machte. Aber seine Finger, die das Blatt hielten,
-zuckten, und wie ein kurzer Pistolenschuß kam hin und wieder hinter dem
-Papier ein grollendes Gemurr heraus.
-
-»Solche Sache! Albernheit! Möcht' nur wissen, ob wir als Kinder -- Na ja,
-überall neue Moden --«
-
-Das Fritzchen war ganz still geworden, es sah unverwandt auf den Papa,
-wenn es auch vor der Zeitungsmauer nicht mehr sehen konnte als die nervös
-zuckenden dicken Finger und oben darüber einen Busch des struppigen Haares.
-
-Es gibt Erlebnisse, die fliehen vorüber wie die Wolken draußen, wenn der
-Wind sie jagt, sie huschen auch über den Kaffeetisch, springen aus
-dem Knistern der Zeitung, fletschen koboldhaft aus den Spitzen des
-struppigblonden Haarbusches, man kann sie nicht festhalten, sie sind da und
-doch nicht da -- und sind doch mächtige Geister, die das Heute vom Gestern
-scheiden. Ein zwölfjähriges Fritzchen hat gefragt, hat kindisch eine
-ausfüllende Antwort verlangt -- und eine erwachende junge Menschenseele
-schaut jählings in den aufgerissenen Abgrund von Schein und Sein, von Trug,
-Jammer, Lebensangst und unlöslicher Wirrnis.
-
-Der Wind jagt die Wolken vorüber, und es weiß keiner mehr, woher sie kamen
-und wohin sie gegangen sind. Fräulein Miller kommt, das Kind in die
-große Schulstube abzuholen mit den acht Turmfenstern. Es ist jetzt Sommer
-geworden, aber Fräulein Miller hat noch immer den Schnupfen. »Wird es auch
-wohl jemals so recht heißer, schöner Sommer auf Hohen-Leucken?« so lautet
-eine immer wiederkehrende Passage in ihren Briefen an ihre Angehörigen. Das
-ist übertrieben, aber unten im Dorf, im Banne des Nebelrings, ist auch die
-Hitze nur dumpf, lastend und ermattend.
-
-Fritzchen wurde plötzlich fleißiger. Sie sah nicht mehr nach den Wolken
-aus, sie arbeitete wie noch nie. Fräulein Miller vergaß selbst ihren
-Schnupfen. »Aber liebes Fritzchen, das geht mit einem Male alles! Willst Du
-mir die liebe Gisa ersetzen?«
-
-Fritzchen sah sie nur stumm an. Das Fräulein mußte gerade ihr Nastüchlein
-brauchen, darum konnte sie diesen Blick nicht sehen. Er war klar und still,
-aber dunkel.
-
-Man will manchmal, wenn man noch zwölf Jahre alt ist und vor einer jähen
-Kluft steht, mit eigenen Armen Steine tragen und die Kluft damit füllen.
-Man hält das in allem Ernst für möglich. Man glaubt auch ohne weiteres, daß
-französische Vokabeln, Dezimalaufgaben und ein paar Touren am Strickstrumpf
-solche Steine wären.
-
-Warum soll man es auch nicht glauben? Hilft es nicht, so schadet es
-doch auch nicht. Es ist ein solch' jauchzendes, stolzes Ding um ein sich
-spannendes Kraftgefühl!
-
-Hin und wieder kam Gisela zum Besuch, erst zu Weihnachten, dann fand sie
-auch dies Fest draußen schöner als hier. Sie wurde immer fremder und immer
-feiner. Was sollte sie mit dem unwissenden, schlecht erzogenen kleinen
-Struwwelkopf anfangen, der immer noch seinen zerschnitzten Arbeitstisch am
-Turmfenster in der großen Schulstube hatte und am Ende sein höchstes Ideal
-im Rummelshof und seinen Bewohnern sah?
-
-Wenn sie wieder fortfuhr in ihrem neuen, schönen Reisekleid, kam es
-Fritzchen doch manchmal als ein wunderliches, verkehrtes Ding vor, daß sie
-dableiben müsse, und daß nun wieder der alte Tageslauf anging, von vorn an,
-immer derselbe. Da wurde ihr heiß, und sie lief zum Papa.
-
-»Ich möchte auch fort. Papa. Wie Gisa!«
-
-»Ja doch. Wirst es wohl noch abwarten können. Nächstes Jahr.«
-
-Das kam ein paarmal vor, dann stellte Fritzchen das Fragen ein. Das nächste
-Jahr kam bald, aber es sah genau aus wie das vorige. Papa hatte das wohl
-vorausgewußt und nur gelogen, um sie los zu werden.
-
-Versprechungen nicht halten ist so gut wie lügen. -- Was hatte doch einmal
-Gregor v. Zülchow über das Lügen gesagt?
-
-Das ist schon lange her, aber seine Worte stehen mit Flammenschrift an
-allen Wänden. Fritzchen kann nichts anderes tun, als das, das ihr allein
-als Heiligtum geblieben ist, anzubeten und die von Phantasien überfüllte
-Seele am starren Werkdienst aufzurichten. Es ist kein Mensch in
-Hohen-Leucken, der dem Fritzchen v. Dörfflin die kleinste Lüge nachweisen
-könnte.
-
-Es lag freilich auch kaum ein Grund vor, um jemals zu lügen, leider. Es
-gab keine großen Versuchungen. Fräulein Miller -- ach, um die hätte es sich
-wohl kaum gelohnt, und der Papa --
-
-War es wohl Tatsache, was die Leute sich erzählten, daß Herr v. Dörfflin
-mit seiner Tochter oft in Wochen kaum zehn Worte wechselte? Die Leute
-mußten es wohl wissen, er wußte es nicht und Fritzchen auch nicht. Trotzdem
-waren sie jetzt viel zusammen. Das ergab sich immer so, wenn der Sommer
-vorüber war, die Abende lang wurden und die Herbststürme um das Haus
-heulten.
-
-Fräulein Miller hatte sich das kleinste Stübchen, das zu finden war,
-ausgesucht. Dort stand ein großmächtiger Kachelofen, und in dem bullerten
-die dicken Buchenkloben. Da war ihr und ihren hageren Gliedmaßen wohl.
-Da las sie Gedichte, Romane und schrieb an ihre Verwandten, daß in
-Hohen-Leucken schlechtes Wetter wäre.
-
-In diesem Stübchen war kein Aufenthalt für Fritzchen. Für sich allein
-durfte sie auch kein Petroleum verbrennen, da zog sie mit ihren Büchern,
-Schulheften und dem ganzen Krimskrams ihrer bunten Traumwelt in des Papas
-nach Zigarren und Wein duftendes Zimmer.
-
-Nein, sie sprachen nicht zusammen. Keins von beiden dachte daran. Sie
-trieben jedes sein Werk, eines vielleicht so nützlich oder so unnützlich
-wie das andere. Was der alternde, in Stumpfheit leise versinkende Mann für
-sich im Rauch seiner Zigarre, im Wein, in den Jagd- und Pferdebüchern
-und Zeitungen noch festhielt an Lebenswerten oder was er aus dem jungen,
-feinen, trotzigen Gesichtchen für sich noch ablas und neu gewann -- das
-waren dunkle Geschichten, die keiner enträtselte, weil keiner sich darum
-bemühte, der, den sie am meisten angingen, vielleicht am wenigsten.
-
-»Die Gisela hat es doch viel besser!« sagten die Leute. Jawohl, sie lebte
-da draußen, sah viele Gesichter, hörte Musik, bekam neue Kleider -- und
-das Fritzchen lebte hier mit dem alten mürrischen Papa, wurde von seinem
-Zigarrenrauch eingesponnen, las ihre alten Märchen und baute sich selbst
-neue und schönere --
-
-Es ist ein wunderliches Ding um das »besser haben« in der Welt. Es scheint
-oft so leicht zu berechnen und ist doch eines der schwierigsten Exempel,
-die wir uns aufstellen können.
-
-Der Papa sollte sich eigentlich über Fräulein Miller wundern, sie gab doch
-dem Kinde unerhört viel Schreibereien auf. Manchmal schrieb Fritzchen den
-ganzen langen Abend. Aber Fräulein Miller war nicht schuld daran.
-
-Wenn Herr v. Dörfflin einmal seine Zeitung oder sonstige Lektüre fortgelegt
-und über den Tisch sich das Schreibheft seines Mädchens gelangt hätte, so
-hätte er so etwas wie ein kleines Wunder erlebt. Statt der Ausarbeitung
-oder des Aufsatzes hätte er eine seltsame, phantastische Geschichte in
-Händen gehalten, ein Märchen, wie er in seiner Kinderzeit es nie gehört
-hatte, und er wäre unmittelbar in dem Land drinnen gewesen, in dem sein
-Fritzchen lebte, webte und sich selber die ganze übrige Welt ersetzte, in
-dem es sie schuf. Er hätte auch auf bekannte Gestalten getroffen, denen
-nur ein Panzer oder ein Gewand flüchtig übergeworfen war: auf sich selbst
-vielleicht, vor allem aber auf die Jungens vom Rummelshof und wieder
-und wieder, von strahlendem Licht umleuchtet, auf Herrn Gregors kühle,
-hochmütige Erscheinung.
-
-Fritzchen aber war im Laufe der Wochen und Monate todsicher geworden,
-daß die väterliche Hand niemals herübergreifen werde, und sie baute
-ihre Märchen, spielte mit ihren Gestalten und schüttete in königlicher
-Verschwendung den Farbenreichtum ihrer ganzen Seele in diese Gebilde aus.
-
-Dadurch wurde aber auch ihres Vaters verqualmtes Zimmer ihr lieb und
-unentbehrlich. Und dadurch wurde ihr gesenktes Köpfchen mit dem rotbraunen
-Haar, dem trotzigen Mund, der herrisch verzogenen Stirn dem armen alten
-Landjunker auch lieb und unentbehrlich. Es kam einmal vor, daß Fritzchen
-Husten hatte und von Fräulein Miller zwei Tage lang ins Bett gesteckt
-wurde. Da dünkte ihm seine Stube leer, und die beiden Abende waren lang und
-langweilig ohne Ende. Er fühlte sich gequält und gejagt und wußte nicht,
-wovon. Die Zigarre ging ihm beständig aus, und der Wein widerte ihn an.
-Endlich stand er auf und tappte die dunkle, zugige Treppe hinan in das
-obere Zimmer, in dem Fritzchen lag. Dort brannte eine verhängte Lampe,
-am Bett stand ein Krug heißer, dampfender Milch und eine Selterflasche.
-Fräulein Miller war nicht da, sie war wohl gelaufen, eine Tasse oder sonst
-etwas zu holen. Fritzchen lag im fiebrigen Halbschlaf. Sie hob die Augen
-nur ein wenig, als er herankam.
-
-»Na -- Fritz? Fritzel -- was machst denn für Sachen?«
-
-Er legte seine breite massige Hand auf ihr fieberheißes Händchen. Sie
-fühlte die Berührung als etwas Gutes.
-
-»Faß mir den Kopf an, Papa. Du bist so schön kühl.«
-
-Er tat's und stand neben ihr, bis Schritte kamen. Da zog er die Hand
-zurück, als fühle er sich auf einem Unrecht ertappt. »Du mußt bald wieder
-nach unten kommen«, sagte er.
-
-Fritzchen blinzelte der schwerfälligen Gestalt nach, die sich zur Tür
-bewegte.
-
-»Sieh' auch nach der Lampe unten, daß sie nicht blakt. Sie tut's immer.«
-
-»Ja, ja, Fritzel, ich werd' schon.«
-
-Am dritten Abend war sie wieder unten, und alles ging wie vorher. Nur war
-es jetzt, als wenn ein Lichtschein in des verwüsteten Mannes verräucherten
-Kopf gefallen wäre, nun, da es ihm bewußt geworden war, wieviel ihm daran
-lag, daß sein kleiner Struwwelkopf ihm abends gegenüber saß. Fritzchen
-selbst aber hatte gar keine Lust auf Giselas Bälle und Gesellschaften, wenn
-sie jetzt wieder ihre Märchenabende hatte, an denen im ganzen Erdgeschoß
-außer ein paar Wirtschaftsräumen nur des Vaters Stube erhellt war und die
-schwarze Winternacht draußen wie ein Ungeheuer lag, das auf Beute lauerte
-und von schimmernden Helden bekämpft wurde.
-
- * * *
-
-Ja -- ihr schimmernder Held -- wo blieb er?
-
-Wenn sie ihn finden wollte, mußte sie zu ihren Märchengeschichten gehen,
-denn in Wirklichkeit zeigte sich Gregor nicht auf Hohen-Leucken. Er war ja
-dort gewesen, dem Willen seines Vaters gemäß; mehr zu tun dünkte ihm wohl
-überflüssig. So kam nur Hans Henning hin und wieder, brachte viel Freude
-und Lustigkeit mit und auch den Schimmer aus der anderen Welt, in der
-Fritzchen so Großes vermutete und nach der sie sich sehnte.
-
-Gregor aber hatte wahrlich andere Dinge, die ihn beschäftigten. Es tat sich
-vor ihm das unermeßliche Seelenleben der Völker und Zeiten auf, das
-Ringen um Gotteserkenntnis und eine objektive Wahrheit -- so alt wie die
-Menschheit selbst. Das tödliche Ringen mit der Erkenntnis von der ewigen
-Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit. Licht und Finsternis untrennbar
-verwoben. Das ewige Rätsel von dem Sein, in dem alle Rätsel von Woher und
-Wohin, von Gut und Böse, von Werden und Vergehen zusammenlaufen.
-
-Es saß ein kleines Mädchen und dichtete tolle Märchen von ihm. Aber er ging
-in der Fülle des Lebens, trank von allen Bornen und zeigte keinem, auch den
-Freunden nicht, auch Mutter und Bruder nicht, die Erschütterungen, die ihn
-durchwühlten.
-
-Einmal vor vielen Jahren, als die Jungens noch klein waren, hatte Herr
-v. Zülchow unter dem Weihnachtsbaum zu seiner Frau gesagt: »Sieh' Dir doch
-mal die beiden bei dem Schaukelpferd an! Hans der Schlingel, kann sich doch
-freuen wie ein Wilder, aber Gregor bleibt immer gelassen. Wo hat nur der
-Junge diesen Schuß Eiswasser im Blute her?«
-
-Was tut nun der Junge mit dem Eiswasser im Blute, als er den heiligen
-Weltgeheimnissen dicht gegenübersteht?
-
-Wenn er, der Hohe und Stolze, von seinem kühnen Sattel einmal
-herunterspränge und in das verqualmte Herrenzimmer in Hohen-Leucken überm
-Moor zu dem armen kleinen törichten Fritzchen ginge und ihm sagte: Du
-reiches, heißes, junges Kind, gib mir ein wenig von dem, was Du zu viel
-hast! -- ja, dann könnte etwas Großes und Schönes sich vollziehen. Dann
-könnten die tiefen und echten Erschütterungen, die dieses Menschen Wesen
-ergreifen, den Frühlingsstürmen gleich sein. Dann könnte über dem ewigen
-Menschheitsdrang ins Dunkle, Unerklärte hinein, die klar-eisige, kühle
-Vornehmheit einer adligen Gesinnung, die ihre Grenzen kennt, wie ein
-Königszepter stehen. Dann ist der Priester der Vermittler, der Sprecher
-Gottes unter den Menschen, in seiner höchsten Idee erreicht.
-
-Aber es ist ein weiter dunkler Gang, der über so ein Moor führt, und es
-hängt vielleicht eine Lächerlichkeit an solch einer Art von Bittgang.
-Gregor v. Zülchow kann viel, und die Menschen wissen es und staunen ihn an
--- aber etwas, das sehr dazu gehört, wenn man ein tüchtiger Mensch werden
-will, das kann er nicht und wird es nie können: sich lächerlich machen, sei
-es vor anderen, sei es vor sich selbst.
-
-»Er hatte keine Gestalt nach Schöne«, wird nie von ihm gelten. _Er_ hatte
-große Gestalt und Schöne! Ach ja, er war ein schimmernder Held.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-
-Als Fritzchen siebzehn Jahre alt war, kam sie doch einmal für den Winter in
-die Welt. Die reichen Verwandten, bei denen Gisela jetzt schon fünf Jahre
-war, zogen ins Ausland und wollten zum Schluß, ehe sie auch Gisa wieder
-abgaben, die beiden Schwestern einmal bei sich haben.
-
-Fritzchen freute sich lange vorher wie toll auf diesen Winter. Sie träumte
-sich die wunderbarsten Abenteuer zurecht, die ihr dort begegnen würden. Mit
-ihrem Kopf, der an Märchen und Phantastereien gewöhnt war, malte sie sich
-das kommende Leben aus, als sei es nur eine Fortsetzung ihrer eigenen
-bunten Geschichte.
-
-Das wurde nun anders. In den hellen, überhellen Räumen, unter den leichten,
-lauten, eleganten Menschen stand das Kind aus dem öden, entlegenen
-Moorwinkel wie verwirrt da. Man redete hier von Dingen, Büchern, Menschen,
-Ereignissen, von denen sie nichts wußte. Man lachte über Scherze, die sie
-nicht verstand. Man versuchte flüchtig, sie ins Gespräch zu ziehen und ließ
-sie dann wieder beiseite liegen.
-
-Mit Gisa war es die alte Geschichte wie vor Jahren, als sie noch Kinder
-waren. Wenn Fritzchen sich bei ihr verkriechen oder sich an sie hängen
-wollte, schüttelte die sie heftig ab und tat, als kenne sie sie nicht. Sie
-war auch wie eine Fremde, beständig in lebhafter Unterhaltung mit Herren
-und Damen, elegant, gewandt, und wie es dem armen Fritzchen erschien,
-geistreich wie sie alle.
-
-Auch die liebenswürdige Tante, bei der sie wohnten, schüttelte ein wenig
-den Kopf über dies verirrte Kind. »Aber Frida --« so hieß Fritzchen
-plötzlich -- »Du mußt Dir doch wohl eigentlich noch einige Fertigkeiten und
-Kenntnisse aneignen.« Das entschlüpfte ihr eines Abends in der Kutsche, als
-sie von einer kleinen Teegesellschaft heimkehrten.
-
-»Ja, es ist wirklich unglaublich!« sagte Gisela.
-
-Fritzchen wurde trotz des Dunkels blutrot. Sie fand jede Empörung, auch
-die von Gisela, gerechtfertigt. Wie konnte sie nur so dumm und ungeschickt
-sein!
-
-Am anderen Morgen nahm die Tante sich das verstörte Kind vor, ihm wieder
-Anweisungen zu geben. Aber wo war der Anfang zu finden? Die Tante war im
-Gesellschaftsleben aufgewachsen, sie kam mit einem Menschenkinde, dem diese
-äußeren Bedingungen fehlten, was es auch dafür einzusetzen haben mochte,
-nicht zurecht. Die Unterrichtsstunde verlief in peinlicher Unsicherheit
-auf beiden Seiten, sie brachte außer einigen ganz kleinen Erfolgen noch
-Mißverständnisse hervor und wurde klüglich nicht wiederholt.
-
-Von nun an galt Fritzchen als die Einfalt vom Lande, die zu dem Amüsement
-der anderen berufen sei. Sie wußte das nicht, und durch die Schicht der
-Höflichkeit fühlte sie das nicht hindurch. Dazu war sie in Wahrheit
-noch allzu dumm auf diesem Felde. Aber das Gefühl endloser Fremdheit und
-Verirrtheit blieb.
-
-Allerlei an der Luftveränderung bekam ihr nicht. Sie fühlte sich matt und
-fieberhaft und durfte mit ihrem Kopfweh ein paarmal zu Hause bleiben. Da
-erfand es sich, daß dies wieder ihre schönsten Abende wurden. Sie saß in
-einem traulichen kleinen Seitenzimmerchen und hatte das elektrische Licht
-ausgedreht, so daß nur der Laternenschein von unten ins Gemach fiel.
-Alle Gegenstände nahmen unbestimmte Formen an. Da kauerte sie sich voll
-glückseliger Behaglichkeit zusammen, und hier im fremden, beängstigenden
-Berlin, an fremder Stätte, wo ihr Herz trotz aller Mühe nicht warm werden
-wollte, fing sie wieder an, ihre bunten Bilder zu weben und zu spinnen. Der
-Abend verflog ihr unter den Händen, und sie erwachte wie aus einem schönen
-Traum, als es draußen lebendig wurde und die Ausgeflogenen heimkehrten.
-
-»Aber Frida! Da sitzt Du noch! Es ist ja Mitternacht vorbei, weißt Du das
-nicht?«
-
-Sie bekam freundliche Schelte, nur Gisela sah entrüstet aus. »Wäre sie mit
-uns gewesen, Tante, so wäre sie schon längst müde geworden.«
-
-Sie war in einen liebenswürdigen, lustigen und eleganten Kreis geraten, der
-kleine Märchenfritz aus dem Wind- und Wolkenturm von Hohen-Leucken -- aber
-sie hätte wohl noch in einen besseren geraten können. Es kamen hin und
-wieder Leute in den ihren hinein, die sahen sich nach ihr um und konnten
-sie danach eine ganze Zeitlang nicht vergessen. Und das nicht darum, weil
-sie sie als die Einfalt vom Lande amüsierte.
-
-Im ganzen spielte sie ja hier die unvorteilhafteste Rolle, die solch ein
-unbehauener junger Menschenblock zwischen all den gehobelten, glatten und
-strahlenden Figuren und Figürchen spielt. Es ist eine gar ehrliche Tragik
-um diese Rolle.
-
-Wo sollte sie nun hin? Wo paßte sie nun hin? Immer nur in ihr altes ödes
-Heimatshaus, das hier so sichtlich verachtet wurde? Was jeder hier konnte:
-glatt in dieser Gesellschaft aufgehen, das konnte nur sie nicht? Woran
-konnte es nur liegen als an ihrer hoffnungslosen Dummheit, daß sie sich
-hier stets zur Freude gewaltsam zwingen mußte und erst wieder los und ledig
-fühlte, wenn sie allein mit sich war wie an den schönen Kopfwehabenden?
-
-Der kleine Märchenfritz konnte es nicht wissen, daß er nur falsch gelaufen
-war, daß es für ihn noch schöne und lustige Wege gab, auch außerhalb
-des Nebelrings von Hohen-Leucken. Er kam im nächsten Frühjahr, ziemlich
-zerbrochen in seinem Selbstgefühl und zerfallen mit sich und der ganzen
-Welt ins Vaterhaus zurück.
-
- * * *
-
-Gisela war mitgekommen. Deren glänzendes Leben hatte jetzt vielleicht für
-immer ein Ende. Das war eine harte Nuß für das verwöhnte Kind der Welt.
-
-Drei Menschen sitzen im kalten, mürrischen Hause und warten, daß es Sommer
-wird über dem Moor. Für Fritzchen freilich ist der Sommer im Grunde heute
-schon da, trotz Schnee, Hagel, Aprilsturm und Nässe. Aber sie will es nicht
--- nichts will sie wissen, hören, fühlen. Sie will hier nicht glücklich
-sein, weil es doch nur ein neues Zeugnis ihrer Dummheit ist. Aber was
-hilft's, daß sie nicht will? Sie sieht das Moor und sieht die Wolken, sie
-riecht Papas Zigarren und sieht sein rundes, rotes, brummiges Gesicht, sie
-rennt durchs Haus und über die zugigen Treppen, es zieht und pfeift aus
-allen Ecken, Jakob klappert mit dem Mittagsgeschirr, ihr alter Tisch steht
-noch am Fenster -- alles ist, wie es war -- ach Fritz, Fritz, was tut man
-mit all der Freude, und wenn man auch noch so klug sein möchte!
-
-»Papa, was hast Du den ganzen Winter angefangen?«
-
-Herr v. Dörfflin sieht nicht wohler aus seit dem Herbst, als Fritzchen
-abreiste, auch durchaus nicht lustiger. Ja, was hat er angefangen?
-
-»Nichts, Fritz.«
-
-Nichts. Der Fritz wird langsam ernst und seine Blicke werden verwirrt. Was
-weiß ein siebzehnjähriges Geblüt von dem Nichts, in das ein armseliges,
-verloddertes Leben versinkt?
-
-Fräulein Miller war nicht mehr da, ihr Amt in diesem Hause war beschlossen.
-Sie war nie eine liebenswürdige, weitherzige Gefährtin gewesen, aber nun
-fehlte sie Fritzchen doch. Sie sollte ja nun vollständig erwachsen sein.
-Ach, dieser Wirrkopf hatte wohl noch manches Jahr vor sich, ehe man ihn für
-erwachsen nehmen konnte.
-
-Also sprach auch Fräulein Gisela. Sie hatte hier keine Freude an dem
-klappernden Jakob, an Zigarrenrauch und Wolken. Sie nahm Anstoß an allem,
-besonders auch an Fritzchen. Es verging kein Tag, an dem sie nicht um die
-versunkene Herrlichkeit klagte.
-
-Wie fein war sie geworden! Ja, sie hatte schon Grund, hier unzufrieden zu
-sein. Ihre kühlen, schlanken Hände waren so weiß, ihr blondes schlichtes
-Haar hatte durch sorgsame Pflege einen sanften Glanz erhalten, auch
-verstand sie, sich prächtig zu frisieren. Alle ihre Kleider hatten einen
-eleganten Sitz, ihre Bewegungen, ihre Sprechweise waren klar, vornehm und
-ruhig. Was war dagegen der Struwwelkopf aus der Turmstube?
-
-Fritzchen bewunderte dies feine, sichere Wesen. Ach, wer jemals so werden
-könnte! Aber das zu wünschen, war wohl hoffnungslos. Der schlimme Winter
-saß noch wie brennendes Gift im Blut. Aber nun kam der Sommer über das
-Moor.
-
-Wißt Ihr denn, wie der Sumpf blühen kann, Ihr Stadtmenschen, ihr
-Lampenmenschen! Wie es sich da liegt, da hinten in der Lichtung hinter dem
-alten Graben, wo man sich im Gras verstecken kann, so hoch steht es. Kennt
-Ihr das Zirpen und Schwirren und tausendfache Leben um einen her, und die
-Sonnenstrahlen flirrend durch die Zweige?
-
-»Gisa, willst Du mit an den alten Graben?«
-
-»Was willst Du da?«
-
-»Im Gras liegen. Seerosen bring' ich auch mit.«
-
-Die Frage war recht überflüssig. Gisa -- Gisa sollte in den durchlöcherten
-Kahn steigen, der bei jeder Fahrt rapide Wasser zog, dann landen --
-Fritzchen nannte das nämlich landen! -- an einer sumpfigen Stelle, wo man
-nur von einer Baumwurzel zur anderen springend, schließlich auf eine
-feste Grasfläche gelangen konnte -- und das alles, um schließlich ein paar
-Stunden im Gras zu liegen mit krabbelnden Würmern und Ameisen im traulichen
-Bunde. »Danke, liebe Frida. Fahre nur allein.«
-
-Ja, Gisa, Prinzessin Unmut, wie soll denn das werden? Das sind doch
-die höchsten Freuden, die Hohen-Leucken bieten kann! Fritzchen
-grübelte angestrengt. Sie ehrte Giselas Unmut und fühlte sich brennend
-verantwortlich, ihn zu zerstreuen.
-
-»Gisa, soll ich Wilhelm sagen, daß er anspannt? Ich kutschiere Dich über
-die Felder.«
-
-»Bei diesem ewigen Wind? Und meine Haare? Und immer nur über die Felder?
-Nein, Fritzchen, Du meinst es gut, aber das ist wirklich kein Vergnügen.«
-
-»O, jetzt weiß ich etwas! Willst Du bei mir reiten lernen?«
-
-Bei Fritzchen reiten lernen. Eine zweifelhafte Gunst. »Bei wem hast Du es
-denn gelernt?«
-
-»Bei mir selbst, natürlich.«
-
-»So? Und welches Pferd hast Du dazu?«
-
-»Ach, Möt. Eigentlich heißt es Erdmuthe. Papa hat sie mal als
-zurückgesetztes Remontepferd gekauft, aber sie geht nicht an der Deichsel.
-Wilhelm sagt, es ist nichts mit ihr zu machen, sie ist verdammelt. Da habe
-ich voriges Jahr mit ihr losgelegt. Aber fein! Über den Graben hinter dem
-Böllinger Kreuzweg setzt sie wie ein Pfeil. O, wenn Du mal mitkönntest. Du
-nimmst vorläufig den Schecken vom zweiten Gespann. Der geht wie ein Lamm
-und hat keine Mucken.«
-
-»Ja, wenn ich einen richtigen Reitlehrer hier hätte! Aber auch dann! Es
-muß doch schrecklich stuckern! Nein, laß mich nur. Das ist alles nichts für
-mich. Aber da nun die Leute wissen, daß ich wieder hier bin, muß sich doch
-am Ende wohl etwas Verkehr hier anfinden auf dem alten Räubernest.«
-
-Fritzchen schlich sich zum Papa. »Papa, Gisa langweilt sich hier so. Kannst
-Du es nicht machen, daß manchmal wieder Besuch herkommt?«
-
-»Ja, wie soll ich das machen?«
-
-»Wenn Du es nur willst, kannst Du es schon machen.«
-
-Es war ein sonnenleuchtender Junitag. Vor dem Fenster im Hof blühten die
-alten Linden und ihr Duft strömte in die beiden offenen Fenster herein.
-Herr v. Dörfflin war in Joppe und Reitstiefeln, er wollte auf die Entenjagd
-gehen. Was ist es für ein anderes Ding um solch ein Landjunkergesicht zur
-Sommers- als zur Winterszeit! Heute sieht es frisch, gespannt, gebräunt,
-unternehmend aus und hockt nicht in Dumpfheit und im Gefühl des Nichts.
-
-»Ja, Fritz, das denkst Du Dir so.«
-
-Am Abend kam er zurück, und beim Abendessen warf er hin, als mache er
-eine Bemerkung über das Wetter: »Morgen kommt Hans Henning v. Zülchow. Die
-Tannenwalder wollen nächste Woche auch einmal kommen.«
-
-Die Tannenwalder waren im Grunde ziemlich langweilige und herkömmliche
-Leute. Aber es war ein junger Sohn dabei, der Jura studiert hatte und sich
-jetzt in das väterliche Gut einarbeitete, und eine Tochter, die gleich
-Gisela mehrere Jahre in Berlin gewesen war. Das Ding legte sich also recht
-vielversprechend an.
-
-Fritzchen blieb der Mund offen stehen. »Wie hast Du das so schnell gemacht,
-Papa?«
-
-Diese Fragerei paßte ihm nicht. »Ich hab' gar nichts gemacht!« schnauzte
-er sie an. »Wir haben uns getroffen, wo der alte Graben in den Tannenwalder
-See geht. Der Zülchow war mit dem alten und dem jungen Euler da auf
-Entenjagd.«
-
-So weit ist er wegen der Enten gerudert? dachte Fritzchen, aber sie hütete
-ihre Zunge. Nach dem Abendessen ging sie in die Küche, die Enten zu sehen,
-die der Herr geschossen hatte.
-
-»Er hat gar keine abgegeben, gnädiges Fräulein«, sagte die Mamsell.
-
- * * *
-
-Damit fing der Verkehr im Herrenhause von Hohen-Leucken wieder an.
-
-Es war jetzt doch alles anders wie ehedem. Alte, unliebsame Geschichten
-waren vergessen, Herr v. Dörfflin erschien als völlig unschädlich, und zwei
-junge, aufblühende Töchter waren im Hause. Giselas Ruf als Weltdame machte
-Karriere, sie hatte die Art, gleichzeitig zu imponieren und zu gefallen.
-Trotz ihrer Sicherheit und Gewandtheit war sie auch für die plumpesten
-Junker handlich, verstand auf die trivialsten Gegenstände mit entzückender
-Leichtigkeit einzugehen und ihnen dadurch den Glanz von etwas ganz
-Besonderem zu verleihen.
-
-Es blieb nicht bei Hans Henning und den Eulers aus Tannenwalde. Es kamen
-die Bärs, die Leisewitzens, die Winkels dazu, ja eines Tages hatten Herr
-und Frau August Schultze mit dem Sohn und Erben Leopold, die drüben das
-Böllinger Rittergut dem verschuldeten Baron Laue abgenommen hatten, Besuch
-gemacht und waren nicht wieder los zu werden. Herrn v. Dörfflins Adelsstolz
-entsetzte sich, er war geradezu schmählich ungezogen zu diesem Besuch.
-Aber es war, als ob er mit aller Wucht seines Knüppels auf eine leere Haut
-schlüge, statt auf den Esel, so unschuldig blickte Herr Schultze drein.
-Nachher -- lange Auseinandersetzungen mit Gisela. Die hatte sich mit Herrn
-Leopold sehr nett unterhalten, fühlte sich von seinen großen Reisen und
-seinem flotten Weltleben angeheimelt und wünschte durchaus, diesen Verkehr
-festzuhalten und: »lächerlich veraltete Vorurteile« beseitigt zu sehen.
-
-Jawohl, es kam denn auch zu Tage, daß dieser Prozeß beseitigter Vorurteile
-und demnach einer Aufnahme Herrn Schultzes in den Verkehrskreis bei den
-Winkels, den Leisewitzens und verschiedenen anderen bereits längst in aller
-Stille vor sich gegangen sei, und Herr v. Dörfflin hatte jetzt nicht
-mehr Mark und Ausdauer genug, um eine so völlig isolierte Wut- und
-Abwehrstellung festzuhalten. Herr August Schultze mit Familie gehörte
-danach also auch zu den Besuchern von Hohen-Leucken.
-
-Es kam noch bunter. Die beiden jungen Töchter wurden eingeladen, und
-Gisela fand, obwohl es ihr selber Unbequemlichkeiten machte, daß eine
-Gesellschaftsdame hier jetzt unumgänglich nötig sei. Herr v. Dörfflin
-sagte: »Verdammter Unsinn, da wird nichts draus!« Fritzchen machte ganz
-entsetzte Augen und rebellierte dagegen. Aber Gisela war die einzige, die
-etwas von solchen Dingen verstand, die Dame wurde verschrieben, und im
-nächsten Winter war sie da. Es war die Witwe eines Offiziers, von Adel
-und außerordentlich mit den Formen der feinen Welt vertraut. Sie hieß Frau
-v. Pohle, war energisch und trotz aller Weltförmigkeit voll tiefer, ruhiger
-Güte. Ein stürmisches Leben hatte sie hart geschüttelt, so daß sie nicht
-mit den Ansprüchen eines verwöhnten Herzens nach Hohen-Leucken kam. Das
-nüchterne, häßliche Haus, der verbummelte Mensch, der hier Hausherr war,
-die beiden verschieden gearteten und verschieden geleiteten Töchter, die
-stumme, kahle Einsamkeit der Gegend, alles sprach ihr stark zum Herzen
-und bewog sie, hier ihre beste Kraft und Liebe, ihren feinsten Takt
-einzusetzen, um auf diesem verwilderten Felde doch noch eine gute Saat zu
-ziehen.
-
-Fritzchen begriff es schlecht, was für sie da kam. Sie hatte bisher auch
-nur dürftige Erfahrungen mit den Gestalten ihrer Umgebung gemacht. Es war
-ein zur Not mit ihnen Fertigwerden gewesen, sonst nichts. Wo war die Hand,
-die sie behütet hatte, als sie ihren Träumen bis in die Wolken nachlief,
-oder ihnen auf einem unerzogenen Pferde über Gräben und Brachen nachjagte
--- die ihr gegeben hätte, als sie hungrig und durstig war, die ihr den
-wirren Kopf mit seinem tollen Phantastenkram gestreichelt hätte, die sie
-geführt hätte, als die Wege sich verwirrten?
-
-Immer sich selbst war dieser junge Vogel überlassen worden. Nun duckt er
-sich, nun huscht er davon, als eine feine Hand ihn fangen möchte. Er haßt
-die Käfige, die er vom vorigen Winter her kennt.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
-
-Gregor v. Zülchow trat aus Fritzchens Märchenbüchern heraus und stand in
-Fleisch und Blut vor ihr da.
-
-In der Stunde, da dies geschah, da sie ihn, der ihr schon fast zu einer
-Sagengestalt verschollen war, in der Blüte seiner jungen Herrlichkeit
-wiedersah, da fielen alle ihre selbsterdichteten Märchen und Träume wie
-Schatten hin, wie Nebel, wenn der Morgen der leuchtenden Wirklichkeit
-kommt. Und von dieser Stunde an bis zu den Jahren, die ganz, ganz anders
-aussahen, dichtete sie kein Geschichtchen mehr.
-
-Es war in Rummelshof zur Sommerszeit. Seit Frau v. Pohle im Hause war,
-hatte sich in der Auffassung der Gegend viel verändert. Selbst die Freifrau
-v. Zülchow, diese exklusiveste und empfindlichste aller Landedeldamen, fand
-es jetzt ganz natürlich, mit den Dörfflins zu verkehren, und sie selber
-betrat dieses Haus, das sie einst so tief mißachtet hatte, mit ihrem Sohn
-Hans Henning, dem jungen Offizier.
-
-Hans Henning war gerade wie Fritzchen seiner ersten Kinderliebe treu
-geblieben, nur daß es bei ihm etwas weniger phantastisch zuging, aber nicht
-sehr viel. Er war ein offener, liebenswürdiger und starker Junge, mit
-der Einseitigkeit und dem Idealismus eines kräftig empfindenden, wenig
-philosophisch angelegten Gemüts. Er liebte mit großer Hingabe und
-stürmischer, vollkommen blinder Parteinahme alles, was ihm Natur und
-Verhältnisse nahegebracht hatten: seinen Beruf, seine Mutter, den
-Rummelshof und über alles seinen klugen, stolzen Bruder. Aber seine Liebe
-war von der Art, daß sie denen, die ihre Bequemlichkeit lieben, manchmal
-lästig fallen konnte. Er war zu gern in ihrem Dienst ein Raufbold. Es
-war vorgekommen, daß er einem Jungen, der das theologische Studium seines
-Bruders verspottet hatte, das Nasenbein eingeschlagen hatte. Seine Mutter
-hatte eine Menge Unannehmlichkeiten, Ängste und Kosten davon. Seine Lehrer
-klagten häufig über ihn, er war faul, wild und händelsüchtig.
-
-Die Baronin Zülchow liebte solche Berührungen mit der Außenwelt nicht. Sie
-bekam dadurch eine Gereiztheit gegen ihren tollen Hans. Daß er im Grunde
-der weichherzigste Junge und der liebevollste Sohn war, konnte sie nicht
-recht versöhnen. Ihr wäre es angenehmer gewesen, er hätte ihr seine Liebe
-in Gehorsam und Wohlverhalten bewiesen, statt sie nur wie eine Sonne über
-seine Untaten leuchten zu lassen.
-
-Für Fritzchen war er immer der beste Herzenskamerad und Mitwisser all
-ihrer Erlebnisse, Betrachtungen und Phantastereien. Nur um ihr schönstes
-Märchenland, in dem Gregor regierte, hing sie einen dichten Schleier.
-
-Da kam der Sommertag auf dem Rummelshof.
-
-Es war eine große Gesellschaft dort. Zwischen den Bäumen des Gartens waren
-Drähte gezogen, denn am Abend sollte Feuerwerk sein. Die Dienerschaft
-war verstärkt, aus dem tiefsten Dunkel des Kellers kamen die ältesten
-Weinflaschen ans Tageslicht. Die Baronin trug violette Seide, sie sah wie
-eine Königsmutter aus.
-
-Alles war zu Ehren ihres ältesten Sohnes Gregor, der vor einigen Monaten in
-das Predigtamt in einer kleinen Residenz eingeführt war und heute zu seinem
-ersten Besuch seit Jahresfrist kam.
-
-Wie es so kommt, der erste Moment, als Fritzchen ihn wiedersah, war ein
-Erstaunen: Ach -- so sieht er aus? Das ist er?
-
-Es ist wie eine leise Enttäuschung, oder wie eine Erlösung, ein Abfinden
-zwischen »war« und »ist«, zwischen Traum und Wirklichkeit. Es ist kein
-Wunder, wenn das Alte, das so strahlend und herrschend war, sich wehrt,
-zuckt, das Neue schlägt. Aber das Neue ist doch mächtiger. Es hat Klang und
-Farbe und Raum. Du stutzest, du läßt die alten Fäden fahren und schaust nur
-und schaust -- und dein Herz, nach einem kurzen leeren Stillstand, setzt
-jählings mit einem Wirbel wieder ein. --
-
-»Gnädiges Fräulein --«
-
-Das war der junge Pfarrer, Gregor v. Zülchow, der im Gesellschaftsrock in
-einem der Rummelshöfer Zimmer ihr seine Verbeugung machte. »Ich habe schon
-die Ehre der Bekanntschaft aus früheren Jahren.«
-
-»Ja gewiß --«, stammelte Fritzchen.
-
-Sie schämte sich plötzlich zum Umfallen. Von diesem feinen, kühlen,
-wildfremden Herrn hatte sie Märchen ohne Ende gedichtet und noch dazu
-aufgeschrieben? O nein, o nein, das war ja ein ganz anderer!
-
-Sie ging umher wie wirr unter all den Menschen. Vielleicht hatte sie in
-ihrem Leben noch nicht so reizend ausgesehen. Sie trug ein weißes Kleid mit
-Matrosenbluse, als sollte immer noch das Jungenshafte an ihr betont werden,
-aber ihr rotbraunes Knabenhaar hatte man jetzt wachsen lassen und es war
-in einen Knoten geschlungen. Nur zwei, drei rote Röschen aus dem Garten zu
-Hause steckten ihr im Haar und vor der Brust. Im ganzen sah sie zwischen
-all den sorgsam angezogenen Damen aus, als habe man sie eben in der Wiese
-eingefangen und mit hergebracht.
-
-Sie sah und hörte nichts von all den Leuten um sie her. Wenn man sie
-ansprach, mußte sie sich erst besinnen, ehe sie eine Antwort zustande
-brachte. Auch das stand ihr reizend, es gab ihr den Anflug einer süßen
-Verträumtheit, der ihr ganzes Wesen dämpfte und reizvoll verschleierte.
-
-Die wundersame Umwandlung der Traumwelt in die Wirklichkeit hatte sich
-vollzogen. Alles Vergangene war versunken und verhallt. Er trug keinen
-Panzer und keinen Helm, sondern einen schwarzen Theologenrock und einen
-hohen weißen Kragen mit schwarzem Schlips. Er hatte ein kühnes, schmales,
-bartloses Gesicht von niederländischem oder englischem Typus, und vor den
-düster ernsten, durchdringenden Augen trug er eine goldene Brille.
-
-Nachdem der erste Wirbel vorüber war, fühlte Fritzchen sich unter all den
-Menschen so geborgen wie in einer lichten, goldnen Wolke. Sie schwatzte,
-lachte, und wußte schon in nächster Minute nicht mehr, was sie gesagt
-hatte. All ihr Tun war wie das Schwirren eines fröhlichen kleinen Vogels,
-der eben fliegen lernt. Es lag ihr gar nichts daran, immer in Gregors Nähe
-zu sein. Ja, sie spielte mit ihrem Glück, indem sie mit Hans Henning
-oder sonst einem lustigen Menschen viertelstundenlang in den Garten lief,
-Erdbeeren naschte oder in dem romantischen Parkteich herumruderte. Das
-bloße Gefühl, daß er ja da war, daß sie ihn in jedem Augenblicke, wenn sie
-nur wollte, sehen konnte, das krönte alles mit überirdischem Glanz.
-
-Herr Pfarrer Gregor war ja auch der Mittelpunkt des ganzen Festes. Wie sehr
-ihm alles huldigte, und wie wichtig er, der blutjunge Mensch, hier genommen
-wurde, das erschien Fritzchen als die natürlichste Sache von der Welt.
-
-Beim Abendessen wurden pompöse Toaste ausgebracht, alle auf den jungen
-Pfarrer. Es war im Grunde eine ziemlich alberne Lobhudelei, die man teils
-der Mutter, teils seiner allerdings stark verheißungsvollen Karriere wegen
-in Szene setzte. Fritzchen hätte zu jedem Toast jauchzen mögen, nur war
-ihr es immer noch nicht genug. Der Umschmeichelte dagegen sah unter
-seiner tadellosen Maske der Höflichkeit ein wenig gelangweilt und
-leicht angewidert aus. Er hatte ein Lächeln um den Mund, das nicht jeder
-vierundzwanzigjährige Junge hat.
-
-Nach dem Essen wurde das Feuerwerk abgebrannt. Das war für die junge Welt
-ein großes Entzücken. Aber Gregor gehörte nicht zu der jungen Welt, er
-stand und saß bei den Alten auf der Terrasse oder in den Zimmern. Hans
-Henning sollte das Abbrennen besorgen, und Fritzchen, die für allen
-Firlefanz des Lebens sehr veranlagt war, bewies sich als unentbehrlichste
-Hilfskraft. Was hatte sie auch vom Zuschauen? Selber das Feuer wecken,
-die Spiel-, Sprüh- und Lärmgeister des Feuers wecken, daß sie hoch in den
-stillen Nachthimmel auffliegen, prasselnd niederstürzen, ihm, dem Herrn des
-Tages zur Ehre!
-
-Sie verbrannte sich ein paarmal die Fingerspitzen; was tat das? Bebend, mit
-glühenden Wangen sah sie ihren Raketen, Leuchtkugeln und farbigen Garben
-nach. »Heil Gregor!« rief ihr Herz. O, hätte sie es nur laut rufen dürfen.
-
-»Seht die beiden Feuergeister!« wurde gerufen. Damit meinte man Hans
-Henning und Fritzchen. Sie sehen auch wohl geisterhaft genug aus. Hans, der
-selige Narr, strahlte. »Hören Sie das, Fräulein Fritz?«
-
-Es stieg viel Torheit, Unsinn und Gaukelei mit diesen Leuchtkugeln und
-Raketen auf. Man könnte sich wohl ebenso gut an eine Feuergarbe hängen,
-um mit ihr in die Luft zu gehen, als sich von seiner Liebe und ihren
-Verheißungen betören zu lassen. Aber die Beiden wollten nicht hören, was
-ihr feuriges Spielzeug sie lehren möchte.
-
-Aus, vorbei. Der letzte Effektknall verhallt, dunkle Nacht. Lachend und
-tappend suchen die Gäste in den Steigen des großen Gartens sich den Weg,
-um ins Haus zu kommen, oder auch nicht ins Haus zu kommen. Die Feuergeister
-haben manch tollen Spuk geweckt. Herr Gregor, der junge Pfarrer, ist nun
-doch nicht nur für alle der Mittelpunkt und der Zweck dieses Festes.
-
-»Fräulein Fritz«, sagte Hans Henning. »Ich glaube gar, Sie haben sich die
-Finger verbrannt.«
-
-»Ja, das habe ich!« sagte sie mit der Verzückung eines Märtyrers.
-
-»Ach! Tut es Ihnen weh?«
-
-»Ja, fürchterlich!«
-
-Er geriet gebührendermaßen außer sich. »Wir müssen sofort Öl anwenden!«
-rief er.
-
-»Nehmen Sie bitte meinen Arm, Fräulein Fritzchen. Sie stolpern sonst über
-die eingeschlagenen Pflöcke. Ach, wie war ich ungeschickt, das zuzulassen!«
-
-Sie ließ ihn jammern, und überlegte dabei, wie es anzustellen wäre, daß
-Gregor ihre Verletzung sähe. Ihr Mut war jetzt so ungeheuer geschwellt,
-daß sie seine Ansprache, sein Staunen, sein Bemitleiden gut hätte ertragen
-können, ohne umzufallen. Ja, sie wünschte sich nichts heißer als das.
-
-Aber als sie auf die erhellte Terrasse kamen, fing ihr Herz doch wieder
-an zu klopfen. Da stand er, und gerade in der Glastür, durch die sie gehen
-mußte!
-
-»Fräulein v. Dörfflin hat sich beim Feuerwerk verbrannt«, sagte Hans in
-aufgeregtem Ton zu ihm.
-
-»Verbrannt«, rief Gregor. »Hans, wie konntest Du das zulassen? Darf ich
-einmal sehen, gnädiges Fräulein? Da muß aber gleich für Hilfe gesorgt
-werden.«
-
-Fritzchen reichte ihm mit einem entzückten Lachen ihre Hände hin, die
-Brandstellen waren in der Tat sichtbar. Aber sie wünschte sich, daß ihre
-ganzen Hände verbrannt sein möchten, damit er doch auch etwas Rechtes zu
-sehen bekomme. Doch es war schon vorbei, ein paar Damen hatten sich
-sofort herangeschoben, sie wurde von mehreren Armen umschlungen, geküßt,
-getröstet, bedauert bis zur Unerträglichkeit. Selbst Hans Henning
-hatten sie von ihr fortgedrängt, und in dieser Kohorte gelangte sie
-ins Schlafzimmer, Öl, Watte, Läppchen waren da, Frau v. Zülchow, die
-Königin-Mutter, rauschte auch herein und verband sie sorglich mit eigener
-Hand.
-
-Solche Anstellerei um das bißchen Verbrennen! dachte Fritzchen entsetzt.
-
-Ja, aber wer hatte sich denn angestellt da draußen im Garten und als man
-die Terrasse heraufkam?
-
-Na, es ist auch so ganz gut. Nun hat man zwei verbundene Hände, das sieht
-entsetzlich großartig aus und muß unendliches Mitleid wecken!
-
-Förmlich strahlend vor Prahlerei betrat das blessierte Fritzchen wieder den
-hellen Bannkreis der Gesellschaft. Gregor kam zu ihr, bedauerte sie, daß
-sie um seinetwillen leide, faßte ihre Hand und berührte mit den Lippen
-die freie Stelle oberhalb der Verbandlappen. Da wurde das Glücksgefühl so
-übermächtig in ihr, daß sie am liebsten die Arme ausgebreitet hätte und ihm
-um den Hals geflogen wäre.
-
- * * *
-
-Eine lange Rückfahrt im stockdunklen Wagen durch die graue Sommernacht, die
-eintönig auf den weiten Feldern lag, nur am Rande in dämmernden Strahlen
-umspielte das Sonnenlicht, das um diese Jahreszeit nie ganz verlischt, den
-Horizont.
-
-Man hatte die große Kutsche genommen, weil Gisela bei der Fahrt durch den
-Wind Haar und Toilette geschont haben wollte. Nun sah man nur durch
-die Glasfenster die grauen Felder vorübergleiten. Fritzchen saß auf dem
-Rücksitz; sie hätte ihren heißen Kopf gerne draußen in der kühlen Nachtluft
-gebadet, aber auch daß sie dies nicht konnte, bedrückte sie heute nicht.
-Sie nahm den Hut ab, lehnte den Kopf in die Ecke, und so zurückgezogen ins
-Dunkel, hörte sie, was Frau v. Pohle und Gisa miteinander sprachen.
-
-Frau v. Pohle sagte: »Welch ein eigentümlicher frühreifer Mensch dieser
-älteste Sohn ist!«
-
-Gisela fragte, ob er ihr gefiele. In der Betonung der Frage lag schon die
-Annahme, daß jeder unbedingt Ja sagen müsse. Aber Frau v. Pohle zögerte.
-
-»Gefallen? Liebe Gisela, ich möchte das kaum sagen. Es ist mir zu wenig
-Einfachheit und Lebensfrische an diesem jungen Menschen. Er kommt mir vor,
-wie ein künstliches, wunderschönes Gebäude aus Eis, das aber nur in einer
-Eisatmosphäre existieren kann. Vor der Sonne müßte er schmelzen.«
-
-Fritzchen fuhr auf, doch Gisela nahm ihr schon das Wort aus dem Munde.
-
-»Aber Frau v. Pohle! Er hat doch so viel Sonne um sich. Seine Mutter, seine
-Freunde --«
-
-»Nein, mein Kind, das ist nichts, das durchdringt seine Atmosphäre nicht.
-Es ist eine seltsame Tragik um diesen jungen Pfarrer, aber freilich fühlt
-er sie selber wohl am wenigsten.«
-
-»Tragik?« sagte Gisela lächelnd. Sie fühlte sich manchmal bewogen, über
-Frau v. Pohle zu lächeln. »Die wäre doch wohl nur konstruiert. Haben Sie
-gehört, daß die Möglichkeit vorliegt, daß er nächstens Hofprediger wird?«
-
-»Hofprediger?«
-
-»Ja, man sagte allgemein so. Das heißt, man flüsterte es sich zu. Die
-jüngste Prinzessin, Maria, soll eine starke Vorliebe für ihn haben, und sie
-vermag alles über ihren Vater. Sie hat Gregor Zülchow einige Male predigen
-gehört und ihn auch zu sich befohlen. Sie soll ihm große Avancen machen,
-man spricht in der ganzen Residenz davon.«
-
-»Man spricht in der Residenz wohl so gern und viel wie überall«, sagte
-die alte Dame leise mahnend. »Doch kann es ja so sein. Der Weg, den
-Herr v. Zülchow geht, wird sicherlich nicht der gewöhnliche aller
-Alltagsmenschen sein. Er wird viele Abenteuer haben, die ihn »interessant«
-machen. Ach, meine lieben, jungen Freundinnen, es ist eine bange Sache um
-einen Menschen, der sich also vermißt, mit dem Leben und seinen Gestalten
-zu spielen, wie dieser Freiherr und Pfarrer! Denn im letzten Grunde läßt
-das Leben doch nicht mit sich spielen!«
-
-Fritzchens Gesicht glühte. Hatte sie es nicht gewußt? Prinzessinnen kamen
-und suchten seine Gunst! Ja, wohl war sein Weg nicht der, den andere Leute
-gingen. Frau v. Pohles sonstige Randglossen hörte sie nicht. In ihren Ohren
-klang es wie süße, rauschende Musik.
-
-»Der liebste aus diesem Rummelshöfer Hause ist mir der junge Leutnant«,
-sagte Frau v. Pohle. »Da ist Frische und lebendige Kraft. Der stellt sich
-des Lebens Dinge nicht wie Schachfiguren hin, damit beliebig nach rechts
-oder links, vor- oder rückwärts zu ziehen. Der lebt seinen Tag als
-frischer, unbekümmerter Junge. Der nimmt sich nicht selbst auseinander und
-setzt sich wieder zusammen. Der ist aus einem Guß!«
-
-»Ach -- Hans Henning«, sagte Gisela wegwerfend, in dem üblichen Ton, in dem
-man gewöhnlich von ihm sprach, von der Mutter herab bis zu den Bekannten
-des Hauses und den Reitknechten im Stall.
-
-Frau v. Pohle lachte. »Das ist eine Geschichte zum Händeringen«, rief
-sie aus. »Wißt Ihr wohl, woran es liegt? Diesem Jungen schadete die
-Nachbarschaft seines glänzenden Bruders! Ihr alle habt, wenn Ihr ihn
-ansaht, noch das Blenden im Auge von dem anderen. Ja -- Gregor! heißt es,
-und dann ganz sanft und barmherzig: Ach, der Hans! Ich möchte Euch hier
-wohl mal ein bißchen eine Predigt halten über Menschen und Menschenwert.
-Ich sage Euch, meine Lieben, dieser Herr Gregor, so totenernst, würdevoll,
-eisig und alt er aussieht, der versteht das Leben nicht und nimmt es im
-Grunde nicht so ernst wie dieser lustige, prachtvolle Schlingel, der Hans.
-Der wird seinerzeit verstehen, damit zu ringen und es sich untertan zu
-machen. Was dieser künftige Hofprediger damit anfangen wird -- ach ja,
-da wird das Zuschauen kein großes Vergnügen sein. Er wird sich daran
-vorbeidrücken, denke ich.«
-
-»So denken Sie?« rief Fritzchen mit ausbrechender Wildheit. Sie
-zerknitterte ihren Hut, daß das arme Stroh laut krachte und knirschte.
-»Ich denke anders! Alle denken anders! Herr Gregor wird sich nie an etwas
-vorbeidrücken! Sie haben ihn einmal gesehen, ich kenne ihn, als er noch
-Junge war. Er ist der bedeutendste und größte Mensch auf Erden! Ich lasse
-kein Wort auf ihn kommen. Ich habe ihn lieber als Himmel und Erde!«
-
-Da war's heraus! Was tat es? Die ganze Welt konnte es hören, daß sie hier
-stand, bereit zu leben und zu sterben für ihn.
-
-Sie hatte auch bei ihrem letzten Ruf aufrecht gestanden in der Kutsche,
-aber das Rad fuhr über einen Stein, da fiel sie unrühmlich auf ihren Sitz.
-Das machte nichts aus. Sie gab noch einen flammenden Satz dazu:
-
-»Ich verlache jede Beschuldigung über ihn!«
-
-»Aber Fritzchen! Wie ungezogen!« rief Gisela entsetzt. »Wie kannst Du so zu
-Frau v. Pohle sprechen! Da sehen Sie wieder, wie sie ist!«
-
-»Lassen Sie doch, Kind«, sprach Frau v. Pohle. »Liebes Fritzchen, ich habe
-nicht gedacht, Ihr Herz zu kränken. Um Gott, Kind, nein. Sehen Sie einer
-alten Frau solche Gedankenspielerei nach. Das Leben wird ja erst beweisen,
-was richtig und was barer Unsinn an meinem Geschwätz war.«
-
-»Aber wie kannst Du Deine Neigung so ausschreien!« rief Gisela, noch immer
-aufgeregt vor Entrüstung. »Das tut man doch nicht. Du blamierst Dich ja
-grenzenlos, Frida!«
-
-»Was kümmert's mich!« entgegnete Fritzchen trotzig.
-
-Frau v. Pohle dachte: Jawohl -- Dich, starkes, junges Herz, kümmert's in
-der Tat nicht, ob Du Dich blamierst. Das ist das zweifelhafte Vorrecht
-derer, die Dich tadeln. Glückauf, Du freie Menschenseele!
-
-Aber sie sagte das nicht. Für alle ihre Predigten war ihre Zuhörerschaft in
-der dunklen Kutsche doch noch nicht reif genug.
-
-Behalte Du nur Deinen Gregor! dachte sie ohne Sorge, solange wie Dein Herz
-dieses Bild tragen mag, Du schönes, wildes Kind. Ich traue: eines Tages
-siehst Du Dich verwundert um, wo es geblieben ist.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-
-Aber es ist ein undankbares Amt, Prophet zu sein.
-
-Fritzchen schloß ihre Blumenblätter fester um sich zusammen. -- Hier war
-eine Gelegenheit, so groß und stark, so weit und sonnig, eine Mutter zu
-haben, eine edle Freundin, ein fröhliches und doch weises Herz, stets
-aufmerksam und zur Stelle.
-
-Nein, Fritzchen will das nicht. Sie geht in ihre Turmstube und spricht
-mit den Wolken, die über das Moor gehen. Das sind ihre Freunde und
-Gesellschafter.
-
-Sie gehen massig, grauschwarz, mit hellen, blendenden Rändern. Unten sind
-es nur noch ziehende Schneeberge. Sie ziehen vorüber, andere kommen und
-ziehen auch. Schon wieder ist das Bild verändert. Die Sonne kämpft mit der
-schwarzen Wand, sie kämpft umsonst, sie erlischt. Horch, wie der Wind in
-Stößen kommt!
-
-Dies Kind kennt die Wolken wie keines und den Wind ebenso. Ist es nicht mit
-ihm um die Wette geritten über die bräunliche Ebene?
-
-Vielleicht ist es Gregor v. Zülchows eigenes Leben, sein kräftigstes,
-schönstes Leben, das da mit fliegendem Haar auf der schwarzen Möt über den
-Graben setzt hinter dem Böllinger Kreuzweg! Halt fest! -- Oder läßt er es
-vorbei?
-
-Nun ja, der Hans muß ja auch etwas haben, wenn er Hofprediger wird!
-
-Gregor steht am Graben neben dem Kreuzweg. Welcher Teufel oder welcher
-Engel führte ihn hierher, da der Wind sauste und dies tolle, herrliche Bild
-heranführte?
-
-Er stand still, am Fußsteige neben einem Baum.
-
-»Hussa, Möt!«
-
-Er aber war nicht mehr als ein Baum am Wege. Herrin, Königin in diesem
-Bilde war sie, die daher kam, sie, die Schwester und Braut des Sturmwinds!
-
-Sie war vorüber, ohne ihn gesehen zu haben!
-
-Wer sieht die Bäume an, wenn er mit den Wolken Haschen spielt? Er stand und
-sah ihr nach, der Staub flog hinter ihr auf.
-
- * * *
-
-Hans Henning kam zu seiner Mutter, die mit Gregor auf der Veranda saß.
-Morgen hieß es für beide Söhne wieder scheiden. Hans Henning mußte, Gregor
-wollte, so war es schon manch liebes Mal gewesen.
-
-Der Abend dämmerte. Der Himmel stand regendrohend über den Bäumen des
-Gartens, sie raunten leise wie in bangem Vorgefühl. So bange war auch
-der Baronin zu Mut. Ach, dies immer neue Scheideweh! Und wer hielt des
-Scheidenden Herz, daß ihr wenigstens das blieb?
-
-Ja, Gregor lieben, das hieß, täglich sterben. Liebte sie diesen Sohn am
-höchsten auf der Welt, so litt sie auch um ihn am tiefsten. Er rächte
-unbewußt den anderen, den Übersehenen, den immer matt und halb Geliebten.
-
-Wie war dieses Jüngeren Herz jetzt voll! Stand es nicht auf seiner Stirn
-geschrieben, auf seinem Mund, seinen Augen, seinen Händen, in jeder
-Bewegung, die er tat? Aber man hatte keine Zeit, diese Ziffern zu lesen. Es
-war ja nur Hans!
-
-Die Mutter sprach mit Gregor. Sie tippte an etwas, das auch sie hatte von
-fern nur läuten hören, ohne daß er ein Wort darüber verloren hatte: an
-seine Hofprediger-Aussichten.
-
-»Gregor -- ist etwas daran? Ist das möglich?«
-
-Wie kalt und stolz blickten die blauen Augen! »Möglich? Ja, Mama. Aber
-lassen wir das, Du erfährst jede Tatsache, sobald sie vollendet ist!«
-
-Gewiß, gewiß, sie erfuhr jede vollendete Tatsache. Das war die Speise, die
-ihr bester Sohn ihr gab, wenn ihr Mutterherz verhungern wollte.
-
-Hans Henning aber brannte das Herz in der Brust. Ach, er wollte etwas
-anderes geben, als eine vollendete Tatsache. Ihn riß es, vor der Mutter
-hinzuknien, den Blondkopf in ihren Schoß zu legen. Mutter, bist Du
-zufrieden und froh, wenn ich mir das Fritzchen hole?
-
-Leg' mir Deine kühle, weiße Hand auf, Mutter. Ich will reiten, morgen früh,
-ehe wir reisen, und das Fritzchen im Garten, oder in der Wiese oder in der
-Turmstube suchen und es nach seinen verbrannten Fingerchen fragen. Und dann
-auch noch nach etwas anderem. Gib mir einen Kuß, liebe Mutter, ich brauche
-sehr viel Mut. Mein kleiner Fritz träumt und fabuliert noch gar soviel, der
-merkt noch gar nichts von dem großen wilden Strom. Mutter, Du bist so klug,
-sage mir doch, ob es schon Zeit ist, sie aufzuwecken, oder ob es noch zu
-früh ist --.
-
-»Lieber Gregor, wenn Du hin und wieder ein klein wenig mehr schreiben
-könntest -- ich meine natürlich nur, wenn Du Zeit und Lust hast -- aber
-manchmal ein bißchen ausführlicher, weißt Du. Ich kann mir oft so gar kein
-Bild von Deinem Leben machen. Nur so manchmal erzählen: Ich war dort
-oder dort, und wir haben dies und das gesprochen. Oder von dem, was Dich
-innerlich beschäftigt, Gregor, daß ich ein ganz klein wenig teilnehmen
-kann --«
-
-Gregor lächelte. Es war ein flüchtiges, durchaus höfliches Lächeln, aber
-seine Mutter fürchtete sich davor. Auch jetzt wieder stieg es ihr heiß in
-die Wangen.
-
-»So wird es sich schwer machen lassen, liebe Mama. Es fehlt die Zeit und
-die Unbeschäftigtheit, auf Deine Ideen einzugehen. Aber ich will möglichst
-daran denken.«
-
-Er stand auf und sah über die Brüstung auf den umzogenen Himmel. In der
-Ferne wetterleuchtete es. Er dachte an ein anderes fernes Wetterleuchten,
-das an ihm vorbeigefahren war, heute am Kreuzweg, wo der breite Graben war.
-
-Hans Henning sagte leise: »Mutter!«
-
-Die fuhr aus schwerem Sinnen auf. »Ja, was willst Du?«
-
-Der Ton der Frage war scharf und klar. Er klang nach einer Antwort wie die:
-»Mir fehlt noch Geld, Mutter.« Oder: »Ich brauche noch dies und das, wenn
-ich in die Garnison zurückkomme.« Aber nimmermehr nach einer so leisen,
-unbeholfenen Bitte: »Mutter, gib mir Rat. Ich bin Dein dummer, kleiner
-Junge und weiß nicht, wie ich mein Glück anfassen soll.«
-
-Er war neben sie getreten, auch sie stand auf. Die Luft wehte kühler und
-schärfer, sie zog fröstelnd ihr leichtes Tuch über den Schultern zusammen.
-Sie war sehr groß, schlank und von stolzer Haltung wie ihr anderer Sohn.
-
-Als Hans nicht gleich antwortete, sagte sie nervös: »Nun, was gibt's denn?
-Sprich doch schnell.«
-
-In dem großen Jungen stieg eine jähe Bitterkeit auf. Noch nie hatte er
-empfunden wie heute, daß seine Mutter eigentlich niemals Zeit für ihn
-hatte. »Sprich schnell!« Ja, so war es immer gewesen. Ihm war ja auch sonst
-damit gedient, lang schleppende Auseinandersetzungen waren wahrlich nicht
-sein Fach.
-
-Heute abend hätten sie vielleicht doch gepaßt. Oder auch nicht. Vielleicht
-hätten drei Worte es getan, aber davon konnte er im voraus nichts wissen.
-Doch dazu muß man stillsitzen und Zeit haben. Aber wer hat für ihn Zeit, er
-ist ja nur der Hans.
-
-»Laß nur, Mama. Es war nichts.«
-
-Sie sah schon wieder von ihm fort. »Kommst Du mit herein, Gregor?« bat sie.
-
-Der kam von der Brüstung der Veranda, wo er in die Blitze gesehen hatte.
-
-»Das Gewitter kommt nicht herauf«, sagte er in einem beruhigenden Tone.
-
-Wen beruhigte er denn? Die Mutter und Hans hatten andere Dinge im Kopf, als
-ein Gewitter, das kommen könnte. Ach ja, es ist ein wunderlich trauriges
-Ding um solch einsames Nebeneinander, wo der eine Blitze sieht, der andere
-aber in den Blitzen ein schönes wildes Kind, oder wo eine arme Seele stumm
-ihr Leid anschaut, und es nicht verstehen kann. --
-
-Hans Henning sah den beiden nach, wie sie durch die Glastüren gingen. Der
-helle Schein der Zimmerlampen überströmte sie. Da ging die kurze Bitterkeit
-in dem Jüngling unter.
-
-Wem gab er denn Schuld, wenn er nur der dumme, lustige, beiseite geschobene
-Hans war? Wollte er mit dem Bruder hadern, weil er größer war, oder mit der
-Mutter, weil sie das fühlte und sah?
-
-Such' Dir doch Deine Wege selber, Narr. Wer heißt Dich, noch an der Mutter
-Schürzenband zu hängen?
-
-Er blieb auf der dunklen Veranda allein. Die Bäume rauschten stärker,
-Träume umfingen ihn. -- Morgen in der Frühe, Du, mein wilder kleiner Vogel,
-werde ich Dich da fangen können? O, habe nicht Angst, ich will Dein feines
-Gefieder nicht zerdrücken und verletzen. Wie wir gelacht und fabuliert
-haben als Kinder, so wollen wir es weiter tun. Weißt Du noch die Schaukel
-in Eurem Garten, Fritz? Du wolltest ja immer so gerne fliegen. O, Du mein
-Prinzeßchen, ich könnte die Welt zerschlagen, um sie nach Deinem Gefallen
-aufzubauen. Und weißt Du noch, wie wir gestern abend die Feuergeister
-waren? Liebling, kleiner, Deine verbrannten Fingerchen möchte ich
-wiedersehen!
-
-Sieh mal die Blitze da hinten, wie sie den Himmel aufreißen. Wollen wir
-hineingehen, Frida? Ach, wie ist das Glück so bange -- ich habe es nie
-gewußt.
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-»Hans, sage mal, was treibst Du hier draußen! Mama ist schon zu Bett. Seit
-einer Stunde sitzest Du hier!«
-
-Hans Henning fuhr auf. »Seit seiner Stunde --?«
-
-»Junge, fehlt Dir etwas? Wie Deine Hände heiß sind! Warum kamst Du nicht
-mit herein?«
-
-»Ich -- weiß nicht. Ich habe mich wohl hier verträumt.«
-
-»Hans -- sag mir mal die Wahrheit. Du bist wohl verliebt?«
-
-Sie standen jetzt beide beieinander. Es war zu dunkel, als daß sie ihre
-Gesichter sehen konnten. Wie stark der Wind gewachsen war! Es war ein
-Sausen und Brausen in den Bäumen des Gartens.
-
-»Ich bin Dein Bruder, mein Junge«, sagte Gregor. »Du kannst Dich mir
-vertrauen.«
-
-»Ja!« rief Hans Henning aus. Es war ein Ton des lautersten Frohlockens.
-
-»Gregor -- ich -- siehst Du --«
-
-Nein, es ging doch nicht. Hans sah verzweifelt zur Seite. Wie macht man es
-denn, daß man so etwas sagt?
-
-»Es ist wohl Frida Dörfflin, um die es sich handelt«, sagte Gregor in
-völliger Gelassenheit.
-
-Hans Henning antwortete nicht, das Herz schlug ihm bis zum Halse. Wie hatte
-die Nennung dieses Namens ihn durchschnitten! Wie konnte es nur so unsinnig
-weh tun, den Namen so kühl wie geschäftsmäßig nennen zu hören.
-
-Gregor genügte wohl diese stumme Antwort. Er schwieg einen Moment.
-
-»Das Kind!« sagte er dann in wegwerfendem Ton.
-
-Hans Henning schoß das Blut wild ins Gesicht.
-
-»Was meinst Du damit? Ich lasse nicht an ihr rühren.«
-
-»Wer tut denn das?« sagte Gregor nachlässig. »Meinst Du etwa, sie sei kein
-Kind mehr? Verstehst Du Dich so wenig auf Menschenaugen? Bei diesem Mädchen
-ist alles noch Klarheit, Harmlosigkeit und ein vollständiges Spielen dem
-Leben gegenüber. Ich spreche das nicht als Tadel aus, sondern nenne es
-einen Vorzug.«
-
-»Ich habe das auch schon gedacht«, murmelte Hans. Da stand er ja mit einem
-Male mitten in Frage und Antwort, Bitte und Rat, wie er es sich noch vorhin
-so sehr gewünscht hatte. Nur daß es nicht die Mutter war. Aber vielleicht
-wußte Gregor noch mehr von diesen Dingen.
-
-»Ich dachte sonst -- ich wollte morgen, vor der Abreise --«, stotterte der
-große Junge. »Ich will ja auch gar nichts an ihr zerstören, Gregor. Ich
-will ihr gar nicht viel von Liebe vorschwatzen. Nur wissen -- ob sie mein
-Kamerad sein will -- diese Ungewißheit, Gregor, die ist ja zu gräßlich --«
-
-Gregor wandte sich ab und ging mit starken Schritten zweimal die Veranda
-auf und nieder. Dann blieb er vor Hans stehen, und als er sprach, klang
-seine Stimme wie geschliffener Stahl.
-
-»Ihr seid beide noch Kinder. Durchbrich diesen Zustand nicht aus Übermut.
-Du schadest ihr und Eurem ganzen Verhältnis, Du veranlassest sie, sich zu
-verschenken, ehe sie sich kennt. Glaubst Du nicht, Hans, daß das eine Sünde
-an ihrem Geist und Wesen ist? Lerne warten, mein Junge, überlaß diese Sache
-der Zeit, bis die Blumen von selber aufbrechen.«
-
-»Ist das so --?« stotterte Hans.
-
-»Ja, Hans Henning, das ist so!« sagte Gregor.
-
-Sein Ton legte sich wie eine eiskalte Hand dem Jüngling aufs Herz. -- Hatte
-er vielleicht doch nur nach Hilfe verlangt, um die Antwort zu hören, die er
-wünschte?
-
-Oder ahnte sein erwachtes Herz das Schwert in des Bruders weisem und
-wohlbegründetem Rat? Seine Lippen bebten, als er sagte: »Ich danke Dir. Ich
-will jetzt schlafen gehen!«
-
-Er ging. Die Sporen klirrten leise. In dem erleuchteten Zimmer sah er im
-Spiegel sein Bild vorübergleiten. -- »Überlaß es der Zeit --«
-
-Vielleicht hat er recht, und ich handle verrucht, seine Worte zu verachten.
-Vielleicht bin ich ein Narr, wenn ich es nicht tue. Ich bin nicht weiter
-als zuvor.
-
-Überlaß es der Zeit!
-
-Ja, Du kaltes Herz, Dir steht es wohl an, so zu sprechen. -- Aber hat ein
-heißes Herz mehr Recht und weiteren Blick?
-
-Das wird heute eine friedvolle Nacht!
-
-Gregor stand noch draußen. Das Gewitter hatte sich verzogen oder war
-landeinwärts niedergegangen. Es blitzte nicht mehr. Nur ein leichter Regen,
-durch den Wind hin- und hergetrieben, sprühte durch die Bogenöffnung der
-Veranda und tanzte oben auf dem Glasdach. Die Luft war stark abgekühlt.
-
-Er stand eine kurze Weile und sah hinaus. Noch lagen seine eigenen
-klingenden Worte ihm im Ohr. »Überlaß es der Zeit, bis die Blumen von
-selber aufbrechen.«
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-Als er nach oben kam, fand er die Verbindungstür nach Hans Hennings
-Schlafzimmer geschlossen. Der Knabe grollt, dachte er, weil ich ihm sein
-Spielzeug fortnahm. Aber es ist nun einmal so. Ich tat recht, den Fuß
-darauf zu setzen. Das alles muß erst werden, und die Zeit ist mächtig.
-Gute Nacht, mein trotziger Junge, es kann sein, daß wir uns noch einmal an
-dieser Stelle treffen.
-
-Vielleicht! Wer weiß es?
-
-Er legte noch die letzte Hand an seinen Koffer. Den Rock, den er heute
-getragen hatte, zog er aus und packte ihn dazu. Dabei nahm er seine
-Brieftasche heraus und öffnete sie. Nur eine Kerze brannte auf dem Tische.
-An die Fenster trieb der Regen und die seitwärts geschlossenen Läden
-klapperten im Wind.
-
-Gregor trat an das Licht und sah auf das Mädchenbild nieder, das er in
-Händen hielt. Es war ein feines Gesicht mit nervösem Mund und großen Augen:
-Prinzessin Maria, sie hatte es ihm selber geschenkt.
-
-Nun beginnt das wieder! dachte der junge Pfarrer. Ja, die Erde ist weit,
-und wir haben Zeit zu vielen Dingen. Aber sie sollen mir alle dem größesten
-dienen!
-
- * * *
-
-Hans Henning hatte nicht aus Groll und Trotz die Verbindungstür zugemacht.
-Aber er empfand ein unklares, quälendes Gefühl der Furcht dem Bruder
-gegenüber, ein eisiges Widerstreben und Ablehnen, das er früher nie gekannt
-hatte. Eine Art Mißtrauen, das er sich dennoch nicht erklären konnte.
-Es wäre ihm fürchterlich gewesen, ihn heute noch sehen oder sprechen zu
-müssen.
-
-Aber was nun weiter? Er hat gesprochen wie einer, der die Menschen und
-Dinge kennt. Ach ja, er wußte immer von jeher Bescheid.
-
-Tue ab diesen miserablen Wust eigenen Wünschens und Parteinahme für Dich
-selbst! sagte Hans Henning zu sich und drückte die heiße Stirn an die
-beregnete Fensterscheibe. Mach's gefällig ein bißchen klar in Dir, oder Du
-bist ein Hund! Es kommt hierbei doch auf das Wohl, das Glück und die Seele
-meines kleinen Fritz an -- sonst auf nichts. Und warum wollte ich sie
-fragen? Um mich zu beruhigen!
-
-Also gut. Gregor hat recht. Gregor hat recht. Ganz egal, wie's mir eingeht
-oder einleuchtet, Gregor und die Vernunft haben recht.
-
-Ach ja. Man muß auch manchmal Steine auf der Brust haben, das wird wohl
-nicht anders gehen.
-
-Ich reite also morgen früh nicht. Nein -- nicht. Laß es doch brennen.
-
-Nein, jetzt nicht wieder anders denken. Ruhe!! Ich reite nicht.
-
-Aber eins kann ich doch noch.
-
-Er ging an einen alten Sekretär, schloß ihn auf, und aus dem
-hintersten Geheimfach, das wohl sonst schon Gott mochte wissen, welchen
-Familiengeheimnissen gedient hatte, holte er ein altes, verblichenes
-Kinderbildchen hervor. So hatte der Fritz ausgesehen, als er ihn zum ersten
-Male sah.
-
-Hans hatte das Bild in einer Rumpelkammer auf Hohen-Leucken gefunden und
-ohne Gewissensbisse gestohlen. Wie zärtlich er es liebte! Es war sein
-kostbarster Schatz.
-
-Die Augen sahen etwas trotzig und düster drein. Es war dem kleinen Kopf wie
-eine arge Zumutung erschienen, sich so dem Photographen hinzustellen.
-Sogar der süße Kindermund schien leise zu zucken. Das Hälschen, die runden
-kleinen Arme waren bloß, ein einfaches schottisches Kleidchen hing bis auf
-die Knie nieder.
-
-»Damals hast Du die Tasse auch schon übergeschwappt, Fritz!« sagte Hans
-Henning.
-
-Er küßte das liebe kleine Bild.
-
-»Leb wohl, mein Liebling. Du mußt noch ein bißchen wachsen. Hörst Du,
-Unband, wachse schnell. Sonst halte ich das Warten doch nicht aus.«
-
-Tür an Tür waren sie miteinander, und jeder hielt ein Bild. Der Hans mit
-seiner einzigen armen, starken jungen Liebe, dieser Hans, der nicht warten
-konnte, der mit seiner wilden, herrlichen Ungeduld rang wie mit einem
-durchgehenden Pferde -- und der andere, der durch Blumenbeete ging und zu
-den Knospen sagte: Blüht nur erst auf, dann werden wir sehen. Es ist Zeit
-da zu vielen Dingen -- --
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
--- -- -- -- Fritzchen saß bei der schwarzen Hede Marusch im Dorf, die im
-Bett lag und die Auszehrung hatte. Vor zehn Jahren und mehr hatte sie auf
-dem Schlosse gedient, Fritzchens schmutzige Kleider gewaschen und den Boden
-auch nicht reinmachen wollen. Sie war gerade so brav und nichtsnutzig,
-geschäftig und faul gewesen, wie die anderen Mägde auf Hohen-Leucken auch.
-Jetzt hatte sie einen Hofgänger geheiratet, hatte vier lebendige und
-zwei tote Kinder, und ging mit eiligen Schritten, als könne sie es kaum
-abwarten, dem Sterben zu. Sie hustete sich die arme Lunge heraus, und
-Fritzchen hatte Gelegenheit, in ein Bild des Jammers zu sehen, das von
-keinem freudigen Strahl erhellt wurde.
-
-Sie kannte aus ihrem trübseligen Dorf diese Bilder von Jugend auf. Da
-liefen diese Mädchen und Frauen herum, arbeiteten sich ab, fingen an zu
-husten, und dann sahen sie mit heißen, starren, verzweifelten Augen aus
-ihren bunten Federkissen heraus.
-
-Solange noch Lebenshoffnung glimmte, waren sie untertänig und voll
-schmeichelnder Dankbarkeit gegen ihr junges Fräulein, das sie zu besuchen
-und ihnen Erfrischungen zu bringen kam. Alte Frauen erzählten ihr geläufig
-von der Engelsgüte ihrer seligen Mutter. Aber wenn die Hoffnung erlosch,
-hörte dies alles auf. Dann sah der nackte Menschheitsjammer, dem hoch und
-niedrig zu leeren Lauten werden, ihr unverhüllt in das junge Gesicht.
-
-»Wissen Sie noch, Fräulein«, sagte Hede Marusch, »als man mir meinen
-lütten Auta begrub? Da habe ich immerfort gebarmt, ich wollt mit. Nee, nee,
-Fräulein, man soll sich das nicht wünschen. Das Grab ist kalt, und all die
-Leute, die hier schon unter die Erde gebracht sind, machen es nicht warm.
-Und gucken Sie mal, die da --« sie wies auf zwei Kinder, die unten am Bett
-standen. »Wenn's mir auch noch so warm wäre, davon will ich ja gar nichts
-sagen -- aber darum kriegen sie doch eine Stiefmutter -- und es geht ihnen
-so, wie der Mine Schulzen ihren Kindern -- --«
-
-Sie brachte die Worte vor lautem Weinen kaum heraus.
-
-Das Fritzchen war einer harten Wirklichkeit gegenüber aufgewachsen, in der
-Krankheit, Tod, Verlassenheit, Stiefmutterschaft und alles Elend unserer
-armen Erde in dichtgedrängter Fülle saß. Da verlernt man es, oder gewöhnt
-es sich gar nicht erst an, schöne Worte zu machen. Man könnte sie ja billig
-haben, wenn man sie wollte, und würde sich selbst wahrscheinlich recht
-getröstet von dannen heben. Aber Fritzchen war dafür verloren. Sie kannte
-hier die Leute, ihr Leben und ihre Leiden zu genau, um nicht zu wissen,
-daß Hede Marusch, und ob sie ihr jetzt die süßesten Worte sagte, doch starr
-daran festhalten würde, daß ihr Mann sich eine andere Frau nehme, und ihre
-Kinder in der Armeleutshütte, in der das Elend die Menschen hart machte,
-eine schlechte Stiefmutter und boshafte Stiefgeschwister bekommen würden.
-
-»Arme Hede!« sagte sie. Sie kniete am Bett nieder und streichelte die
-magere, weiß-gelbe Hand. »Du hast es schwer auf dieser Erde!«
-
-»Ja, da haben gnädiges Fräulein wohl recht«, klagte die arme Person. »Was
-ist's mit uns und unserm Leben? Arbeit und Schläge, wenn wir noch lütt
-sind. Arbeit und Sorgen, wenn wir groß sind und Hunger und Krankheit noch
-obendrein. Gnädiges Fräulein brauchen nicht weinen, die können wohl lachen.
-Da oben im Schloß tanzen und lachen sie, und zu essen ist noch alle Tage
-da, und dann haben sie auch nicht den Husten und die Beklemmung, und daß
-die lütten Jören dableiben müssen, wenn's nu alle ist. O Gott, o Gott, wenn
-ich nur einmal könnte aufstehen, ich wollte arbeiten wie nie! Aber sehen,
-gnädiges Fräulein, wie's damit ist: Gebetet hab' ich Tag und Nacht zum
-lieben Gott. Aber der hört nicht zu, der hört bloß auf die Reichen.«
-
-Fritzchen kannte das alles: die Bitterkeit, die Anklage, die verstockte
-Verzweiflung. Man schifft nicht immer auf Wolken, man kriecht auch ganz
-unten und hört das Stöhnen der ärmsten Kreatur. Sie nahm Pastor Baumann
-nicht sein Amt ab, Ergebung zu predigen, oder stand ihm dabei zur Seite.
-
-Ergebung! Nein, danach stand ihr bei Gott nicht der Sinn. Es mochte wohl
-ein weiches Kissen sein, auf das man sich hinlegt, und die Schmerzen und
-Stöße und den Jammer um die eignen kleinen Kinder besser erträgt. Es mochte
-wohl ein Helfer sein, der dies Kissen unterschob, der die wilden Klagen zu
-bändigen verstand.
-
-Dafür war der Pastor Baumann allezeit gut. Er war selber schon alt und
-schwach, und wenn sein Leben auch arm an Ereignissen und großen Eindrücken
-gewesen war, so hatte es ihn doch reich und reif gemacht. Da legt man der
-armen Kreatur seine Hand auf und sagt: »Glaube nur und ergib Dich. Die
-Liebe ist größer als alle Not.«
-
-Für Fritzchen Dörfflin aber war diese erste und letzte Weisheit nichts. Der
-alte Pastor war vor einer Stunde hier gewesen, er hatte anders geredet
-und gehandelt als das törichte, wilde Kind. Ein Gefäß mit Balsam hatte er
-stehen lassen, aber sie warf es mit trotziger Hand um.
-
-»Ja, Hede Marusch, es ist ein verzweifelter Jammer um Dich und
-Deinesgleichen! Ich will ja ein Auge auf die Kinder haben, wenn Du tot
-bist, aber wieviel hilft das? Ich bin nicht allmächtig und allgegenwärtig,
-und ich habe auch nicht viel Geld. Es ist ja auch noch viel andere Not im
-Dorf, nicht Deine allein. Was ist das für eine Ordnung in dieser Welt.«
-
-»O Gott, gnädiges Fräulein«, sagte die alte Maruschen, die herangehumpelt
-kam. »Machen Sie doch man die Hede nicht wieder aufsätzig. Heute abend soll
-sie noch das Abendmahl kriegen. Ach Gott, ach Gott, war haben's ja sauer,
-aber wir sollen uns doch man ergeben. Was hilft das Murren? Und stirbt sie
-unbußfertig, so fährt sie in die Hölle. Gnädiges Fräulein sind noch jung
-und schön, aber wir Alten müssen das bedenken.«
-
-»Das ist feige!« sagte das herrische, junge Menschenkind und richtete
-sich mit blitzenden Augen auf. »Aus Angst sich vor dem Mächtigen ducken!
-Maruschen, ich sag' Euch: Ich möchte lieber in die Hölle, als mich schlagen
-lassen und noch dazu Demut heucheln!«
-
-»O Gott, gnädiges Fräulein!«
-
-»Jawohl, Mutter, Fräulein Fritzchen hat am End' wohl recht! Ich will auch
-nicht heucheln und schön tun. Schick zum Pastor, bestell' ihn ab. Ich will
-lieber zur Hölle, ich will's nicht gut haben, wenn Wilhelm und Mariek und
-die beiden Lütten es schlecht kriegen --«
-
-Sie saß hochauf, ihr fieberisches Gesicht stand in Flammen, die schwarzen
-Haare hingen ihr wirr um Kopf und Schultern, die schwarzen Augen brannten.
-Sie war von einer schauerlichen, jung-hexenhaften Schönheit. Fritzchen
-stand und sah auf ihr Werk, ein Beben durchglitt sie. Sie sagte nichts.
-
-Aber die Alte jammerte: »Hede! Hede!« und die beiden Kinder fingen laut zu
-heulen an.
-
-»Heult nicht!« sagte Frida v. Dörfflin mit starker Stimme.
-
-Sie sah sich in dem niedrigen bedrückten Raum um, in dem einem das Atmen
-verging, und in dem das Elend hauste. Es würde noch viel nackter hausen,
-wenn der fiebernde Leib dort hinten an der Wand starr und kalt sein würde.
-
-Gebt mir erst eine Auflösung zu diesen grausigen Rätseln, und ich will Euch
-auch Ergebung predigen! dachte das trotzige Herz.
-
-Sie hat recht, daß sie unter diesen Bedingungen nicht in den Himmel will!
-
-Frida kam wieder dicht an das Bett. »Hede«, sagte sie, »ich habe Achtung
-vor Dir, Du arme Seele! Andre Leute werden sagen, Du frevelst, aber ich
-sage, Du hast einen großen Mut. Dicht vor dem Tode Rebellion zu machen,
-das ist tapfer! Wie es Dir bezahlt werden wird, weiß ich nicht. Vielleicht
-bekommst Du wieder Angst, das ist wohl nicht zu vermeiden. Aber das soll
-nichts daran ändern, daß ich Dir hier die Hand gegeben habe, Hede.«
-
-Die Kranke faßte mit beiden Händen nach der Mädchenhand, die sich ihr bot.
-Ihr abgezehrtes Gesicht glühte unheimlich.
-
-»Ich krieg' keine Angst, Fräulein Fritzchen. Nun ist alles gut. Ich glaub'
-auch, daß nach dem Tod alles aus ist. Otto sagt's auch immer. Es wird mir
-schon nichts passieren. Mir ist so leicht, daß ich nu nicht immer mehr
-beten brauch', während die Lütten doch in Jammer geraten.«
-
-»O Gott, Hede, Hede, besinn' Dich!« jammerte die alte Frau. »Es geht zu
-Ende mit Dir! O Gott, gnädiges Fräulein, erbarmen Sie sich!«
-
-»Ich kann mich nicht erbarmen«, sagte Fritzchen.
-
-Draußen fuhr eine Kutsche vorüber, man erkannte sie nicht durch die
-beschlagenen Scheiben. Ein regenschwerer Oktobertag war es. Sonst stürzte
-alt und jung an die Fenster, wenn ein fremder Wagen vorüberfuhr, heute
-wendete kaum das Jüngste der Kinder halb mechanisch das verweinte Gesicht.
-
-»Fräulein Fritzchen, verlassen Sie mich nicht«, schrie Hede qualvoll auf,
-als das Mädchen eine Bewegung machte. »Nee, nee, allein bleiben kann ich
-nicht! Ich muß die Hand von Fräulein haben, sonst fall' ich. Nee, nee,
-hierbleiben müssen Sie --«
-
-Das waren ihre letzten bewußten Worte, von da ab verfiel sie ins Delirium.
-
-Das Schloßkind vom Lande hatte schon vieles sterben sehen, Mensch und Tier,
-und manches davon hatte sie sehr lieb gehabt. Keine sorgende Mutter hatte
-hinter ihr gestanden, und sie von den schreckensvollen und traurigen
-Bildern des Lebens ferngehalten. Aber noch nie hatte sie gesessen wie
-heute, mit ihrem kindischen Trotz, mit ihrem tollen Wagemut, der gegen das
-Ewige, Unerfaßliche anrennt, als einziger Halt und Hort der geängstigten
-fliehenden Seele.
-
-Die heißen feuchten Finger der Sterbenden krallten sich in ihre Hand. Wirre
-Worte von Teufeln, Höllenfeuer, von Spuk und Entsetzen schwirrten durch
-den Raum. Die Alte lag am Boden und betete, bald zu Gott, bald zu dem
-Schloßfräulein.
-
-»Ach, süßestes, gnädigstes Fräulein, helfen Sie ihr doch -- helfen Sie ihr
-doch -- erbarmen Sie sich.«
-
-Fritzchen legte der Irren die Hand auf die Stirn, sprach auf sie ein, aber
-das Delirium ging weiter, die verkrallten, heißen Finger ließen sie los,
-Hede Marusch wußte von ihrer Gegenwart nichts mehr.
-
-Da stand Fritzchen auf. »Ich will Euch zum Trost den Pastor holen«,
-sagte sie. »Er kann vielleicht auch der Hede noch helfen. Er hat ein paar
-Beruhigungsmittel in seiner Apotheke.«
-
-»Lebe wohl, meine arme Hede!«
-
-Sie stolperte durch den halbdunklen, lehmgestampften Hausflur, in dem Kraut
-und Kartoffeln lagen, und stand draußen. Es regnete jetzt nicht. Still,
-tot und feuchtschwer war die Luft. Auf der Dorfstraße lag das letzte nasse
-Laub.
-
-Fritzchen trug einen kurzen Rock, in dem sie gewöhnlich zu Pferde saß, ein
-rundes Mützchen und eine alte braune Jacke. Ihre Wangen glühten, ihr war,
-als habe sie mit dem Gott da droben um eine arme Seele gerungen und habe
-obgesiegt.
-
-»Was nun aus ihr wird? Gleichviel. In den Himmel wäre sie sowieso nicht
-gekommen mit ihrer elenden Heuchelei.«
-
-Sie ging die öde Straße entlang zwischen den kleinen Häusern und bog um die
-Gartenecke, hinter der das Pfarrhaus lag. Hier hörte der holprige Steindamm
-auf. Im aufgeweichten Wege vor dem Gattertor hielt eine Kutsche. Sie mußte
-erst zweimal hinsehen, ehe sie begriff: es war Rummelshöfer Livree, es
-waren die Rummelshöfer Rappen.
-
-Sie erblaßte vor Schreck. Wer war hier? Jetzt, zu dieser Jahreszeit, und
-bei dem Pastor? -- Der Kutscher grüßte sie, sie brachte die Frage nicht
-heraus, die ihr in der Kehle würgte. Einen Moment riß es an ihr, umzukehren
-und davonzulaufen, sie fühlte sich plötzlich so unfähig, ein Gesicht
-und vielleicht gar das eine, aus diesem Hause zu sehen. Ihre ganze am
-Sterbebett gerüttelte und durchglühte Stimmung paßte jetzt nicht zu solchem
-neuen Eindruck.
-
-In einem Gefühl der Schwäche und Abwehr lehnte sie sich an die Gartenmauer.
-Von den Zweigen fielen ein paar naßkalte Tropfen in ihr Gesicht. Sie dachte
-an Hede Marusch. »Ich muß die Arznei holen«, sie straffte sich, öffnete das
-Holzpförtchen, ging durch den kleinen zerzausten Vorgarten und ins Haus.
-
-Seit einiger Zeit hatte Pastor Baumann die große Kuhschelle, die an der
-Haustür hing und ohrenzerreißend gellte, sobald jemand die Schwelle betrat,
-abnehmen lassen. Er war hinfälliger geworden und konnte den Lärm nicht mehr
-vertragen. Fritzchen wußte das noch nicht. Als der Lärm ausblieb, wurde ihr
-unheimlich, fast gespensterhaft zu Mute. Sie fürchtete sich vor dem Hall
-der eigenen Schritte. Auf Fußspitzen schlich sie und klopfte an.
-
-»Noch nicht«, sagte des Pastors Stimme drinnen. »Setz' Dich auf einen Stuhl
-und warte ein Weilchen.« Er glaubte wohl, es sei ein Gemeindekind.
-
-Aber dem Schloßfräulein kam diese Verwechslung recht. Sie setzte sich auf
-einen Brettstuhl, unweit der Tür, strich das nasse, wirre Haar glatt und
-wartete.
-
-Drin klangen Stimmen. Die eine, das war die von Herrn Gregor.
-
-Es berührte sie kaum. Ihr war, als habe sie das erwartet, als könne es
-auf der Welt überhaupt nicht anders sein, als daß draußen die Rummelshöfer
-Kutsche stände, sie hier auf dem Brettstuhl säße und drinnen Gregor sprach.
-
-Wie lange? Ja, wer konnte das wissen. Frida Dörfflin wenigstens hatte jeden
-Maßstab für die Zeit verloren. Es war ja das Schönste im ganzen Leben so:
-still dazusitzen, müde, halb im Traum und dem Hall der Stimme zu lauschen,
-die die herrlichste auf der ganzen Erde war. -- --
-
-Irgendwo klappte eine Tür, des Pastors Mamsell stand plötzlich da. Eine
-Frau hatte er schon längst nicht mehr. Sie blieb mit offenem Munde stehen,
-als sie Frida sah.
-
-»Herr Gott, das Fräulein vom Schloß! Und hier im Flur! Und so kalt!
-Herrjeh, weiß denn der Pastor das?«
-
-»Still, Reuter! Es ist jemand drin.«
-
-»Und wenn auch! Und wenn auch der Kaiser! Das gnädige Fräulein darf hier
-nicht so sitzen. Drüben ist man bloß nicht geheizt. Nee, das geht aber ganz
-und gar nicht.«
-
-Sie war schon an der Tür, mit Eisenfäusten schlug sie daran. »Herr Pastor!
-Fräulein v. Dörfflin sitzt hier draußen und wartet. Im Flur! Machen Sie
-doch man bloß auf!«
-
-Fritzchen war empört zugesprungen, aber es war schon zu spät. Alles war
-jetzt das Werk eines Augenblicks. Ein »Ach!« von innen, ein eilfertiges
-Heranschlurfen, Aufriegeln, Aufstoßen der Tür. -- »Aber Fritzchen, daß Du
-es bist, ahnte ich ja nicht --« Das Auftauchen eines Gesichts, eine Gestalt
-im Hintergrund, vom Sofatisch her -- --
-
-»Das ist die Schuld von der Reuter«, sagte Fritzchen in trotzigem Ton. »Ich
-kann und will noch warten --«
-
-»Meinetwegen auf keinen Fall«, sagte Gregor v. Zülchow und stand auf. »Wir
-sind ohnedies fertig. Es tut mir außerordentlich leid, gnädiges Fräulein.«
-
-»Komm herein, liebes Fritzchen«, sagte der alte Herr.
-
-Es war eine seltsame Stimmung im Raum. Gregors Gesicht war bleich und hatte
-einen finstern Ausdruck. Der Pastor sah rot und sehr erregt aus.
-
-»Was wolltest Du von mir?« fragte er.
-
-»Geben Sie mir beruhigende Tropfen für Hede Marusch mit«, sagte Fritzchen,
-immer noch in demselben, etwas steifnackigen Ton, in dem sie angefangen
-hatte, zu sprechen. »Sie ist jetzt ohne Besinnung und wird wohl sterben!«
-
-»Ach, Kind, warst Du bei ihr? Das ist gut von Dir. So schnell geht es mit
-ihr zu Ende? Ich wollte ihr heute noch das Abendmahl geben, dann will ich
-doch lieber gleich --«
-
-»Sie will es nicht mehr, selbst wenn sie bei Bewußtsein wäre«, sagte
-Fritzchen mit klingender Stimme. »Vielleicht fordert sie es sich noch in
-der Angst, aber was hat das für Wert! Was hat dies Ducken, Betteln und
-Winseln überhaupt für Wert!«
-
-»Frida!« rief der alte Herr in großer Bekümmernis. »Ich will nicht glauben,
-daß Du so zu ihr gesprochen hast.«
-
-»Doch!« rief das wilde Kind. Ihre roten Lippen zuckten vor Kriegslust.
-
-»Das hast Du getan? Und gerade bei der? Meine ganze schwere Arbeit wieder
-zerstört? O Kind, Gott vergebe Dir Deine Unwissenheit und Deinen Trotz
-und Deine fürchterliche Vermessenheit. -- O sieh, mir fehlen die Worte für
-Dich! Und das unglückliche Geschöpf, das Du in die Verdammnis getrieben
-hast, und das Dich verklagen wird vor Gottes Richterstuhl --«
-
-»So sagen Sie mir das eine!« rief Frida in ausbrechender Heftigkeit, »warum
-Gott sich immer nur Sklaven wünscht und lieber eine geheuchelte Demut will
-als eine gerade und offene Rebellion?«
-
-Ihre Worte klangen und verhallten, dann wurde es seltsam stumm im Raum. Der
-alte Pastor griff hinter sich an eine Stuhllehne, als müsse er sich halten,
-und tappte sich mühsam bis zu dem Rohrsessel vor seinem alten gelben
-Schreibtisch. Er kehrte sein Gesicht Herrn v. Zülchow zu, der stumm dem
-wunderlichen Auftritte zugesehen hatte.
-
-»Das ist es, was ich hinterlasse --«, sagte er in gebrochenem Ton. »Das
-habe ich als Resultat meines ganzen Lebens erreicht. Jetzt seh' ich's:
-ich war immer ein unnützer Knecht. Sie werden mehr erreichen mit Gottes
-Hilfe --«
-
-Er bedeckte das Gesicht mit der Hand, und es schien, als ob er schluchze.
-
-Gregor v. Zülchow sah das Kind an, das den Jammer dieses Greises
-verschuldet hatte. Wie es dastand, war es zugleich schön und wild, ein Bild
-des rücksichtslosen Lebens.
-
-»Seien Sie doch nicht betrübt«, sagte sie. »Sie haben hier das ganze Reich
-erobert und Gott zu Füßen gelegt. Die Kirche ist immer voll, die Leute
-beten und glauben Ihnen alles aufs Wort. Was tut da ein schwarzes Schaf!
-Verdammen Sie es, aber seien Sie nicht plötzlich so verzweifelt. Herr
-v. Zülchow, helfen Sie ihm!«
-
-»Das ist das Ende. So ist das Ende --« murmelte Pastor Baumann.
-
-»Seit wann wollen wir denn glänzende Früchte sehen?« sagte der junge
-Hofprediger. Es war ein herber Ton in seinen Worten. »Kampf ist unser
-Weg, und auch das Ende ist kein Friede. Wollte ich ein vollkommenes Erbe
-antreten, ein geglättetes Reich? Legen Sie ruhig Ihr Handwerkszeug aus den
-Händen, Sie haben getan, was Sie konnten, und ich werde tun, was ich kann.«
-
-»Ja -- ja -- ich danke Ihnen --«, sagte der alte Pastor. Er strich sich
-über Stirn und Augen, dann griff er in ein Fach zur linken Hand. »Hier,
-Frida. Die alte Marusch soll der Hede davon jede Viertelstunde sechs
-Tropfen geben. Jede Viertelstunde sechs Tropfen. Aber gib's nur ab, halte
-Dich dort nicht mehr auf. Es ist nicht gut, ich verbiete es Dir. Ich will
-mir nur Stiefel und den Talar anziehen, dann komme ich hin. Sag' den Leuten
-das. Nun geh. -- Versprichst Du mir, so zu tun?«
-
-»Ja.«
-
-Er hielt ihre Hand fest, die sich nach dem Fläschchen streckte. »Lebe wohl,
-Fritzchen. Armes Kind. Du hast keine Mutter gehabt. So wild aufgewachsen
-wie ein Füllen, nicht wie eine kostbare Seele, die behütet werden muß. Lebe
-wohl, ich kann Dir jetzt nichts mehr sein. Ein andrer wird mir diese Sorge
-abnehmen. Nun geh. Die Zeit drängt, sie drängt, sie drängt --«
-
-»Ich werde mitgehen«, sagte Gregor. »Für heute leben Sie wohl, Herr
-Pfarrer, und vielen herzlichen Dank. Auf Wiedersehen, es ist ja noch
-manches zu erledigen.«
-
-»Auf Wiedersehen!« sagte der alte Mann.
-
-Draußen im Vorgarten sagte Gregor: »Wollen wir hinauf fahren? Ich muß noch
-zu Ihrem Herrn Vater. Oder gehen Sie lieber?«
-
-»Ich gehe lieber«, sagte Fritzchen. »Ich muß Luft haben.«
-
-»Wo wohnt die Kranke, von der Sie sprachen?«
-
-»Bald um die Ecke herum, das fünfte Haus.«
-
-»Tragen Sie öfter die Fackel der Empörung in die Sterbestuben?« fragte er
-spöttisch.
-
-»Es war das erste Mal, aber vielleicht nicht das letzte.«
-
-Er blieb einen Augenblick stehen und sah sie an. Das rotbraune Haar hing
-ihr schon wieder über die Schläfen und über die Ohren. Die Wangen blühten,
-das ganze Bild in der braunen Jacke, dem kurzen Rock, den derben Stiefeln,
-blühte.
-
-Du bist bizarr und rebellisch, dachte er, aber Du bist voller Kraft und
-Leben wie der Sturmvogel über dem toten Moor!
-
-»Wenn es wieder geschieht, werden Sie einen anderen Feind finden, als den
-guten alten Herrn da hinten im Schlafrock.«
-
-»Wen denn?« fragte sie mit einer aufblitzenden Ahnung im Gesicht.
-
-»Mich -- wenn Ihr Vater nicht nein dazu sagt.«
-
-»Wie kann das geschehen?«
-
-In der Stube des Pastors war es dämmerig gewesen, hier sah sie im fahlen
-Tagesschein ihm zum ersten Male ins Gesicht. Es war verändert in den kurzen
-Monaten seit dem Sommer, es sah schärfer und älter aus mit harten Linien.
-
-»Was ist geschehen?« rief sie mit plötzlicher Angst.
-
-Er lächelte flüchtig. Dir, Du wildes Kind, soll ich hier auf der Dorfstraße
-erzählen, was mir geschehen ist? dachte er. -- Aber bei Gott, ich glaube,
-ich erzähle es Dir früher als all den anderen Leuten, die mir mit dem
-verbrieften Recht auf Vertrauen zu Leibe gehen.
-
-»Hier wohnt die Hede Marusch«, sagte Fritzchen.
-
-»Ich will Posten stehen, damit Sie gleich wieder herauskommen«, sagte er
-lächelnd.
-
-Im Hausflur hörte sie schon das wüste Schreien der armen Hede. Sie stand
-in der Stubentür und sah einige Augenblicke den Todeskampf mit an. Wie eine
-starke Woge stürzte sich alles über ihr Herz. Der Tod hier drinnen und das
-Leben da draußen --
-
-Sie kam wie schwindelnd heraus.
-
-Der junge Geistliche bot ihr seinen Arm. »Wollen wir nicht lieber doch
-fahren? Es geht ja nun gleich so stark bergan.«
-
-»Nein, nicht in die Kutsche, das ist so eng.«
-
-Ja, Du brauchst viel Raum, Du unbändiger Vogel! dachte er. -- Aber siehe,
-ich brauche ihn auch und muß und kann ihn doch entbehren. --
-
-So führte Gregor v. Zülchow das Fritzchen Dörfflin am Arm durch das
-Steintor in ihres Vaters Hause.
-
- * * *
-
-Die Kutsche fuhr fort. Herr v. Dörfflin ging ins Wohnzimmer, fand dort
-niemand, fragte nach Gisela und Fritzchen. Die eine sollte in ihrem Zimmer
-sein, das nach dem Garten lag, die andere hatte man in die Turmstube gehen
-sehen. »Holt sie her.« Gisela kam, Fritzchen nicht. »Warum nicht, Jakob?«
-»Sie will nicht«, sagte Jakob. Er war immer für das Prägnante und alt
-genug, sich das zu leisten.
-
-»Was willst Du uns denn sagen, Papa?« drängte Gisela. Sie hatte in einem
-ganz entlegenen Winkel des weitläufigen Hauses gesessen und von dem
-aufregenden Besuch erst eben durch Jakob gehört.
-
-»Nein, Fritzchen muß dabei sein«, beharrte Herr v. Dörfflin mit seinem
-rötesten und eigensinnigsten Gesicht.
-
-Herr Gott im Himmel! dachte Gisela, plötzlich wie entgeistert. Was kann das
-sein -- hat Gregor Zülchow vielleicht wegen Fritzchen --
-
-Ihr wich das Blut aus dem Gesicht.
-
-»Na --«, sagte Herr v. Dörfflin mürrisch -- »dann will ich mal nach oben
-klappern und dem dummen Balg meine Meinung sagen. Das sind mir ja neue
-Moden! Kinder müssen gehorchen, und wenn's durch Feuer und Wasser geht. Na
--- ich werd's ihr schon einfüllen!«
-
-Eine mühselige Steigerei über die enge krumme Treppe. Alle Augenblicke
-blieb er stehen und pustete. Donner, und hier war er doch in früheren
-Jahren wie ein Jagdhund auf und ab gerannt. Ja, ja, man wird immer älter
-und dicker und jedes Jahr geht's schwerer und hat weniger Zweck.
-
-Als er ganz oben war, war's gar zu Ende mit seinem Selbstgefühl. Er hatte
-vergessen, daß er dem Fritzchen das vierte Gebot einpauken wollte.
-Ach Gott, dies bißchen kümmerliche Leben! Wozu schleppt man nur diesen
-ungefügen Ballen, der nicht einmal die Turmstiege hinauf kam, noch immer
-durch die Welt?
-
-Fritzchen hatte das Pusten und Poltern gehört, sie stand schon in der
-offenen Tür ihres Schlafstübchens, zu dem noch eine weitere Stiege über die
-Schulstube hinaus führte.
-
-»Papa, Du kommst hier herauf?«
-
-»Na, was soll ich denn sonst. Laß mich doch die Stiege steigen, denkst
-wohl, ich kann's nicht mehr. Wollt Euch nur sagen -- puh --«
-
-»Setz' Dich doch, Papa.«
-
-»Ach was. Wollt Euch sagen, der Zülchow -- der war eben hier -- komische
-Geschichte -- will hier -- hier im Dorf Pfarrer werden -- na meinetwegen
-mag er, wenn Baumann einpacken will --«
-
-»Papa!« Gisela war im Ernst besorgt um seinen Verstand. »Du machst doch nur
-Spaß. Der Freiherr v. Zülchow ist Hofprediger -- Du weißt doch --«
-
-»Was geht's mich an. Weiß der Kuckuck, was da für Geschichten brodeln. Er
-will hier Hals über Kopf Pastor werden. Nee, nee, Gisela, ich bin nicht
-verrückt, wenn Du mich auch so anguckst. Er mag's vielleicht sein. Na,
-meinetwegen, ich geh doch nicht in die Kirche, ist mir zu feucht, hab'
-ohnedies das Reißen. So -- das war's. Nun kann ich ja wieder 'runter.«
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Die Kutsche fuhr in die Rummelshöfer Einfahrt. Der alte Brunswig, der
-Diener, stand draußen. »Der Herr Baron möchten doch gleich zur Frau Baronin
-kommen.«
-
-»Ja, ja, ich weiß.«
-
-Er war erst heute morgen nach nächtlicher Eisenbahnfahrt hier angekommen
-und hatte sich dann gleich den Wagen nach Hohen-Leucken bestellt.
-
-Nun kam wieder eine bittere Pille, die Aussprache mit der Mutter. Ihm
-graute davor.
-
-In ihrem Zimmer, das von hundert Erinnerungen und leisen Huldigungen für
-ihren vergötterten Sohn voll war, erwartete sie ihn. Auf dem Schreibtisch
-lag -- vielleicht absichtlich? -- noch die Depesche, in der er vor etwa
-acht Wochen ihr seine Ernennung zum Hofprediger mitgeteilt hatte.
-
-Unfähig, auf einem Sitz zu verharren, mit verkrampften Händen, nach Luft
-ringend, ging Frau v. Zülchow auf und ab, ein entsetzlicher, elender
-Anblick.
-
-»Gregor! sitze da nicht wie ein Stein. Gib mir Auskunft, Du bist es mir
-schuldig. Sage mir, warum dies alles, und wie es kam?«
-
-»Laß es Dir von der Welt erzählen, Mutter. Sie weiß es vielleicht besser
-als ich.«
-
-Da blieb sie stehen, flammenden Gesichts. »O Du! Von der Welt erzählen!
-Jawohl, an die hast Du mich oft genug verwiesen! Von der Welt und ihrem
-Geschwätz mußte ich mir Kunde holen über Dich und Dein Leben. Gregor --
-es war oft zum Wahnsinnigwerden, aber ich habe es getragen. Ich habe
-meine Liebe nicht anfechten lassen von Bitterkeit und fortwährenden
-Entsagungsschmerzen. Ich wußte Dich glücklich und nahm still das geringe
-Teil, das Du für mich abfallen ließest. -- Aber das war zur Zeit Deines
-Glücks und Hochgangs. Jetzt -- da plötzlich alles zusammenbricht, da
-Du kommst und mir sagst: Mit dem Glanz ist es aus, ich werde Pfarrer im
-Moordorf da drüben -- da selbst schiebst Du mich, Deine Mutter, beiseite.
-Frage die Welt! Gregor, das ist empörend! Hier, ich, ich habe Dich geboren
-und aufgezogen mit unendlicher Liebe, ich habe Dich auf Händen getragen,
-verwöhnt, überschüttet -- ich habe --«
-
-»Laß das, ich weiß es alles«, sagte Gregor und stand auf. Es war ein
-gequälter Zug in seinem Gesicht. »Glaubst Du, ich habe nie gesehen, daß ich
-Dein Schoßkind war? Wir, Deine Söhne, wir wissen es alle beide. Ob es recht
-oder falsch war, kann und mag ich nicht untersuchen. Darauf kommt es jetzt
-auch gar nicht an. Hast Du meine Zurückhaltung zu Zeiten meines Glückes
-ertragen, so sollte doch der Wechsel der Tatsachen nichts daran ändern. Was
-daran zu wissen ist, weiß alle Welt, wozu es noch erörtern, es macht mich
-überdrüssig und krank. War in Deiner Liebe ein so fester Grund, daß Du mir
-vertraust, auch hier meinen und unseren Namen reingehalten zu haben, so
-wirst Du die guten und die schlechten Gerüchte von selber auseinander
-halten können. Wenn nicht, so ist diese Liebe ein schwankender Grund und
-keines Rühmens wert.«
-
-Sonst hatte die Kälte seines Wesens sie bezaubert, trotz des Leidens, das
-sie ihr auflud. Heute reizte sie sie nur.
-
-»Genug der Worte!« rief sie außer sich. »Ich will keine Predigt von Dir,
-wenigstens heute nicht. Du bist mir schuldig, mir Rede zu stehen. Bei
-Deiner Kindespflicht und Mannesehre rufe ich Dich an. Ich stehe auch im
-Namen Deines Vaters hier. Ja -- überdrüssig mag es Dir wohl sein, aber ich
-kann Dir diesen Überdruß nicht ersparen, mein Sohn!«
-
-Sie war so schön und hatte eine solche große, stolze Gestalt, daß auch
-dieser Zorn- und Grollausbruch einen majestätischen Anflug hatte. Aber um
-Gregors Mund ging ein leises, böses Zucken. Innerlich lachte er verächtlich
-über das, was er als Komödie empfand, um eine mütterliche Neugier,
-Eifersucht und Empfindlichkeit zu bemänteln.
-
-Er lehnte sich an das Fensterbrett und kreuzte die Arme. »Gut, Mama, wenn
-Du es so wichtig nimmst, will ich Dir antworten. Was wolltest Du erfahren?
-Ohne Zweifel weißt Du schon das meiste.«
-
-»Ich weiß nichts«, sagte sie und setzte sich in einen Lehnstuhl. Mit einem
-Tüchlein trocknete sie das brennende Gesicht, kühlte die heißen Augen. »Es
-handelt sich um die Prinzessin Maria, nicht wahr, Gregor?«
-
-»Ich denke«, sagte er kühl.
-
-»Ihr wart -- viel zusammen --? Ihr -- hattet miteinander ein -- ein -- eine
-Verständigung?«
-
-»Ich weiß nicht, was Du damit meinst. Sie ist ein kluges und feines
-Mädchen, wir haben über des Lebens größeste Fragen miteinander gesprochen.
-Dann kam auf ihrer Seite das Persönliche. Sie war ein verwöhntes Kind.«
-
-Er schwieg wieder. Seine Mutter sah nicht, daß sie ihn quälte. Auch ihm war
-unter diesen Trümmern ein Reich begraben worden, das wohl größer war, als
-sie je ermessen konnte. Aber sie stieß und zerrte ihn weiter.
-
-»Hast Du ihr -- Gregor -- hast Du ihr von Liebe gesprochen? Ging es
-soweit?«
-
-»Mutter --«, sagte er mit eiskalten Augen. »Dieses sind Fragen, deren
-Beantwortung Du in besserer Stunde selbst verurteilen würdest. -- Verzeih
-mir, aber ich würde Dich und mich erniedrigen, wenn ich über den Inhalt
-jener Stunde plaudern könnte. Wenn Du noch weiteres willst, so ist es dies:
-die Prinzessin hat ihrem Vater selber Mitteilung gemacht. Nicht als Buße,
-sondern in einer törichten Hoffnung. Dann kam ein Sturm, der sehr kurz und
-stark vorüberbrauste. -- -- Es haben oft in einem Konflikt alle recht, aber
-einer muß die Zeche bezahlen. Das ist nun einmal so.«
-
-»Und der eine mußtest Du sein!«
-
-»Gewiß. Übrigens trägt hier doch jeder seinen Teil.«
-
-»Und jetzt gehst Du als armseliger Dorfpastor unter das Patronat dieses
-Dörfflin? Gregor, Du warst nie unüberlegt, aber dies ist unermeßlich
-überstürzt. War es Dir so schnell um eine andere Stelle zu tun?«
-
-»Ja!« sagte er.
-
-Eine bange, schwere Pause trat ein, sie sah ihn an und erschauerte.
-
-Du, mein Sohn -- dachte sie -- jetzt habe ich an Dir gerissen, wie nur
-eine verzweifelte Mutter es vermag. Was hat es genützt? Tropfen hast Du in
-meinen leeren Becher fallen lassen: Da stehst Du und siehst an mir vorbei
-ins Leere. War es die Wahrheit, was Du sagtest? Oder ein Teil der Wahrheit
--- oder vielleicht nur ihr Schein?
-
-Und muß ich mich hier vor Dir winden im irren Fragen, Forschen, Verzweifeln
-und hoffnungslos in Dein Gesicht sehen?
-
-Bin ich dazu Mutter geworden?
-
- * * *
-
-Die Dinge nahmen ihren schleunigen Lauf. Pastor Baumann verabschiedete
-sich von seiner Gemeinde. »Es ist gut, Kinder, daß ich gehe. Einen zweiten
-Winter auf Eurem windigen Kirchhof überstände ich wohl nicht mehr. Und ich
-muß noch ein Weilchen leben bleiben mit meiner Pension und meinen Kindern
-aushelfen. Es ist ganz gut so. Ihr kriegt einen vornehmen, gelehrten
-Pfarrherrn. Nehmt Euch die Ehre nur recht zu Herzen und gebt ihm keinen
-Anlaß zum Tadeln. Die arme Hede Marusch wird wohl die Letzte gewesen sein,
-die ich unserem allbarmherzigen Vater in die Arme gelegt habe.«
-
-Ihm zitterte die Stimme und das rauhstopplige Kinn nun aber doch, wenn er
-von Haus zu Haus ging und Abschied nahm. Ein paarmal sah er sich um und
-schüttelte den Kopf, wie einer, der nicht begreift. Durch diese niedrigen
-Türen soll der gehen?
-
-»O nee, o nee --« sagten die Leute, »dat ward jawoll nu all verkiehrt!« Sie
-kamen sich vor wie verraten und verkauft. Mit tausend Tränen ward dem guten
-alten Pastor, der schon die bejahrten Leute bei ihnen eingesegnet hatte und
-jedes Leben ein- und ausgeleitet hatte, das Lebewohl gegeben.
-
-Nun war das altvertraute Pfarrhaus unter den entblätterten Ahornen und
-Lindenbäumen leer. All der klapprige liebe alte Hausrat war auf ein paar
-Leiterwagen zum Dorf hinausgefahren. Herr v. Dörfflin schickte Maler,
-Tapezierer, Glaser, viel beflissene Hände, die sich Pastor Baumann in
-seiner langen Amtszeit auch wohl manch liebes Mal gewünscht hätte. Hier das
-Loch in der Diele, über das man immer stolperte, dort das schadhafte Dach,
-in das Regen und Schnee trieb, die abgerissenen Tapeten, die rauchenden
-Öfen, die schiefe Gartentüre, das zerbrochene Fensterglas im Schlafzimmer,
-alles ward gründlich repariert. Die verblichenen und abgetretenen Farben
-wurden erneuert, es roch bis auf die Straße hinaus nach Lack, Terpentin und
-vielen hoffnungsvollen Dingen. Bis in die tiefe Abenddunkelheit hinein
-ging das Klopfen, Hämmern und all das vielfältige Geräusch neu aufbauenden
-Lebens.
-
-Dann kam das Fräulein vom Schloß, Fräulein Fritzchen, und ging durch alle
-Stuben, in Boden und Keller. Sie trug den kurzen Reitrock, ihr rundes
-Mützchen und ihre alte braune Jacke. Wie ein Feldherr ging sie von Raum zu
-Raum, übersah, was noch mangelte, gab knappe Befehle, und alles an ihr war
-Licht und Klang.
-
-»Paß up!« sagte ein Maurer zum andern. Sie sahen ihr nach und blinzelten
-sich zu.
-
--- -- Nun aber war es schon November geworden, und der erste Schnee war
-gefallen. Es waren Gregors Möbel gekommen in einem großen geschlossenen
-Möbelwagen aus der Residenz. Die ganze Dorfbewohnerschaft hatte
-sie staunend umstanden. Dann war in der Kutsche die Baronin Zülchow
-vorgefahren, hatte auf die respektvollen Grüße nicht gedankt, nicht
-gelächelt, einen alten Diener hatte sie bei sich, dem sie in Eile angab,
-wie sie die Möbel gestellt wünschte, er schrieb beständig auf, während
-sie sprach. Dazwischen hatte sie sich stumm, mit verbissener Lippe in den
-Räumen umgesehen. Dann war sie wieder gefahren, und die Aufstellung hatte
-begonnen. Es war auch ein Dienstmädchen eingetroffen, eine ältere, tüchtige
-Person, Frau v. Zülchows bestes »Stück.« Wenn es nach ihr gegangen wäre,
-hätte sie ihrem Sohn einen ganzen Stab von Dienerschaft mitgegeben, aber es
-ging nicht nach ihr.
-
-Am Ende November, als der Abend fiel, kam der neue Pfarrherr im offenen
-Wägelchen. Sein eigenes ehemaliges Reitpferd war davorgespannt. Die wenigen
-Leute, die dies beobachteten (denn der dichte Schnee machte das Geräusch
-der Räder fast unhörbar), dachten, er würde das Gespann behalten, es
-war Stallung genug da von einer, früher mit der Pfarre verbundenen
-Ackerwirtschaft her. Aber der Wagen kehrte gleich um und fuhr wieder
-zurück.
-
-Gregor stand auf der Schwelle der Gartentür, und mit einem langen
-Blick umfaßte er das graugelbe Häuschen, den kahlen Garten, in dem eine
-Schneedecke lag, die schweren Wolkenschichten, die sich darüber türmten.
-Alle Fenster waren dunkel, kalt und unwirtlich sah ihn seine neue Heimat
-an. Nur hinter der einen Scheibe zur rechten Hand glühte es, wie ein
-kleiner Feuerschein im Innern.
-
-Er stand lange still, obwohl ihn fröstelte. Dann schüttelte er die
-Schultern, als schüttle er etwas ab, und trat ins Haus.
-
-Dunkel und kalt. Er hatte es ja nicht anders gewollt, nicht einmal dem
-Dienstmädchen seine Ankunft gemeldet. Nicht mit Pomp sollte dies neue Leben
-wieder anfangen, davon war viel und zuviel dagewesen.
-
-»Hier rechts die Amtsstube, sie wird erwärmt sein.« Er klinkte die Tür auf.
-Im Ofen bullerte wirklich das Feuer, das Eisentürchen stand auf, eine junge
-Gestalt im runden Mützchen kniete davor und stocherte in den Flammen.
-
-»Justine, nun brennt's«, sagte sie. »In einer halben Stunde schrauben Sie
-zu, dann wird es hier warm.«
-
-»Ich danke Ihnen, Fräulein v. Dörfflin«, sagte der Pfarrer.
-
-Sie fuhr herum. »Sie sind's? Ja, wie kommt denn das? Heute schon? Und alles
-ist noch kalt!«
-
-Sie war aufgesprungen. -- Das ist nun doch ein Willkommen geworden! dachte
-er.
-
-»Ich habe Sie auch gar nicht kommen hören«, sagte sie.
-
-»Das macht der Schnee«, gab er zur Antwort.
-
-»Ich begrüße Sie hier!« sagte sie mit einer schönen Feierlichkeit, und
-reichte ihm die Hand, die noch ganz heiß vom Ofenfeuer war.
-
-»Danke, Fräulein v. Dörfflin.« Er fühlte, wie das stürmische Leben bis in
-die Fingerspitzen hinein in seiner kalten Hand glühte.
-
-»Aber warum bemühen Sie sich um meinen Ofen?« fragte er in demselben herben
-Ton, den sie schon einmal von ihm gehört hatte.
-
-»Weil es mir Freude macht«, sagte sie einfach.
-
-Du freies Seelchen! dachte er staunend.
-
-»Jetzt soll Justine mit der Lampe kommen und den Tisch decken!« rief sie
-voller Eifer. »Es ist noch nicht alles so, wie es müßte, aber es wird schon
-gehen. Ich freue mich so, daß ich heute schon auf den Gedanken kam, zu
-heizen, sonst wäre hier alles finster und eisig gewesen.«
-
-»Ja, das hatte ich mir eigentlich so ausgesucht«, entgegnete er. »Aber es
-geht auch so!«
-
-Sie konnte seine Züge nicht mehr erkennen, aber in seiner Stimme lachte es,
-das machte sie selig.
-
-»Leben Sie wohl, Herr Pfarrer. Ich sage es im Vorbeigehen der Justine.«
-
-Ihm schwebte es auf den Lippen, ihr zu sagen, ihm bei dem Abendessen
-Gesellschaft zu leisten. Sie war ja doch der freie Vogel hier im Schloß und
-Dorf -- sie war keine Prinzessin mit einem Krönchen im Haar, das ja
-nicht verschoben werden durfte. Sie hatte ihm den Ofen geheizt und weder
-gezittert, noch sich geschämt, als er sie ertappte.
-
-Solch ein frischklares junges Kind, das tat gut nach all den wirren
-schwülen Tagen.
-
-Warum sollte sie nicht mit an seinem Tisch sitzen, dieses freie Herz?
-
-Ja, der Vogel war wohl frei, aber der Jäger nicht.
-
-Er ließ ihre Hand los. »Auf Wiedersehen und Dank.«
-
-»Gute Nacht, Herr Pfarrer.«
-
-Sie war schon in der Tür, da wandte sie sich noch einmal um. Ihr Gesicht
-war jetzt ganz unkenntlich in der Dunkelheit, aber ihre Stimme klang
-schwer.
-
-»Es ist für Sie -- kein leichter Tausch. Ich weiß nicht, wie es Ihnen sein
-wird. Sie müssen so viel vermissen, nicht nur im Hause, sondern auch in
-der Gemeinde. Unsere Bauern sind sehr dumm, und sie sind durch alle die
-Krankheiten auch sehr heruntergekommen. Und Sie waren immer so verwöhnt.
-Ich kann das ja nicht durchsehen, aber es ist gewiß viel Stärke nötig --«
-
-»Ich bin ein Diener der Kirche!« sagte er mit starker Stimme und mit
-jener klingenden Kälte im Ton, die von jeher zu seinem Wesen gehörte. »Es
-existiert für mich nicht die Frage nach bequem oder unbequem, sondern ganz
-andere Gesichtspunkte kommen hier in Frage. Ich hatte Grund, diesen Weg zu
-wählen. Glauben Sie mir das.«
-
-»Ja«, sagte sie still und fest. »Ich habe es immer geglaubt. Muß man denn
-immer wissen: Warum und wozu und woher und alles? Jeder hat doch seinen Weg
-für sich, den er im Grunde nur allein kennt. Das ist ja so langweilig und
-unnütz, wenn alle die anderen Leute daran herumzupfen und fragen und reden,
-was gar nicht dazu paßt.«
-
-»So ist es, mein guter Kamerad!« rief er froh.
-
-Er kam zu ihr, und sie, in ihrem inneren Jubel, hob die Arme auf zu ihm. Da
-nahm er erschüttert ihren heißen jungen Kopf in seine Hände und sah ihr in
-die Augen.
-
-»Jetzt sind wir verbündet, mein Kamerad!« rief er voller Übermut.
-
-»Ja!! Auf Tod und Leben!« -- -- -- -- --
-
-Dann wandte sie sich um, die Tür klappte, ihre Schritte klangen auf der
-Steintreppe und verhallten im weichen stillen Schnee.
-
-Nun hatte sie es doch vergessen, der Justine von Lampe und Abendbrot zu
-sagen.
-
-Es war schon recht. Er blieb allein in der dunklen Stube mit dem
-Feuerschein, der auf die Diele fiel.
-
-Das war ein Nachhausekommen! dachte er.
-
-Eines Tages wird dieses herrliche Kind zu meinen Füßen sitzen, und
-ich werde ihr meine Prinzessinnen-Liebe erzählen, all den flirrenden,
-glitzernden Kram ihr zeigen, der die Augen blendet. Meine große Eitelkeit
-und des Fürstenkindes arme Menschlichkeit. Mein kleiner junger Kamerad, der
-soll das alles sehen und wissen. Er ist weiser als wir alle, weil er frei
-und kühn ist. Seine dumme kleine Mädchenliebe will ich nicht, ich habe
-genug von diesen Tränken. Aber ich will und liebe sein kluges Herz.
-
-Er zog ein elektrisches Lämpchen aus der Tasche und beleuchtete den Raum,
-in dem er stand. Da war der Schreibtisch, Stühle mit Lederpolster,
-lichte Gardinen von schönem Fall. Vielleicht sah alles bei Tage hier
-unharmonischer aus bei den kleinen Fenstern, der nicht sehr hohen Decke und
-den niedrigen Türen. Hohe, leere Büchergestelle waren an der Wand, seine
-Bücher hatte er nicht auspacken lassen. Ein breites Sofa, ein moderner
-Eichentisch mit glatten Linien und allerhand Beiwerk füllte den Raum.
-
-Alles sprach eine Sprache. Wie laut sie tönte in der tiefen Stille, von
-rauschenden Tagen! Auf diesem Divan hatte das blasse Fürstenkind gesessen.
-»Gregor, ich kann nicht ohne Dich leben. Nimm mich mit und sei es ins
-ärmste Haus --«
-
-Sein Mund verzog sich, noch immer hielt er das elektrische Lämpchen in die
-Höhe. Durchlaucht, es ist besser so. --
-
-Du blasses Gebilde, verzärteltes Herz, unter dies Dach will ich Dein weißes
-Gesichtchen nicht haben. Hier will ich einen Strom von Sonne und Herbheit
-und Kraft und Kälte. Alles, was die Glieder wieder stark macht nach dem
-lauen Rosenwasser.
-
-Kennst Du den Reiz der Askese, Durchlaucht Maria? Du nicht.
-
- * * *
-
-Die Dorfkirche war überfüllt, selbst in den Gängen standen die Leute. Auch
-Herr v. Dörfflin war ehrenhalber heute erschienen. Es war ihm ein bißchen
-komisch zu Mut, daß er der Patronatsherr sein sollte von dem ältesten Sohne
-seines Fritz. Es gelang ihm auch nicht so recht, die Würde, die ihm zukam,
-zu markieren. Er rückte nach rechts und links und machte beklommene Augen,
-als sei er in seinem vergitterten Herrenstuhl derjenige, der heute eine
-Probe abzulegen habe, und nicht der junge blonde Geistliche im Talar, mit
-der goldenen Brille vor den blauen Augen.
-
-Zu Hause bei ihm, im Eßzimmer, hatte es einen kleinen Strauß gegeben.
-Gisela fand es nicht richtig, daß Fritzchen auch zur Kirche ginge. »Sonst
-ist immer nur höchstens einer in unserem Stuhl, und heute tritt die ganze
-Familie an. Das ist ja unerhört, das fällt ja rasend auf.«
-
-Fritzchen sagte: »Aber Gisa, natürlich gehe ich zur Kirche. Wem von allen
-Menschen soll ich es verbergen, daß ich Gregor Zülchow lieber anhöre als
-den alten Baumann?«
-
-»Aber so begreife doch!« schalt Gisa.
-
-Frau v. Pohle half Fritzchen. Es sei doch ganz natürlich, daß bei einem
-Amtswechsel sich das allgemeine Interesse zeige. Herr v. Dörfflin half
-ihr auch. Wenn er schon gehen müßte, sollte Fritzchen auch, das war ihm
-gemütlicher.
-
-So saß alles in gespannter Erwartung.
-
-Wie hell und kalt und gebieterisch die junge Stimme durch den Raum
-schallte! Die Leute sahen sich an und schüttelten leise die Köpfe. Nein,
-das war nichts, ihr alter Pastor war's nicht. Herr v. Dörfflin rutschte
-von neuem hin und her, ihm kam vor, als sei jedes Wort der Liturgie und der
-Vorlesung mahnend und tadelnd an ihn gerichtet und er sei dazu ausersehen,
-heute eine Moralische zu kriegen.
-
-Es war am 23. Sonntag nach Trinitatis.
-
--- -- -- »die Feinde des Kreuzes Christi, welcher Ende ist die Verdammnis,
-welchen der Bauch ihr Gott ist, und ihre Ehre zu schanden wird, derer, die
-irdisch gesinnt sind. Unser Wandel aber ist im Himmel --«
-
-Er stand auf der Kanzel. Über ihm und zu seinen Seiten waren die
-pausbackigen, graugewordenen Engel- und Apostelfratzen, die ein
-längstvergangenes Jahrhundert hier geschaffen hatte. An den Fenstern trieb
-ein wirres Schneegestöber. Es war kalt, und der Dampf flog vom Munde.
-
-Er stand da oben, mit seiner goldenen Brille, mit seinem schmalen Gesicht,
-kein Helfer und Tröster und liebevoll strenger Vater seiner armen Gemeinde
-auf den harten Bänken da unten und in den steinkalten Gängen.
-
-Er mochte wohl ein Führer sein, denn er wußte den Weg, aber er sah sich
-nicht um nach denen, die ihm folgten. Ob sie mitkonnten, ob sie stolperten,
-ob sie hilfsbedürftige Hände ausstreckten, was ging es ihn an. Er war
-von herrlicher Gestalt und herrlichem Wort, aber die unbeholfenen Seelen
-fürchteten sich vor ihm und krochen in sich zusammen.
-
-Es war keine Strafrede, die heute von der Kanzel kam, wenigstens keine, wie
-der alte Pastor sie hielt und wie sie den Leuten lieb und nützlich war.
-Es seufzten keine Klagen über ihre Verderbtheit, es fielen keine groben
-Vergleiche und plumpen Beschuldigungen. Alles war messerscharf,
-voll wissenschaftlicher Klarheit, leuchtend und doch kalt, wie ein
-beängstigendes Spiel mit blanken Schwertern.
-
-Noch war es eine Predigt für den Hof und die Hofkreise, und einige halb
-mitleidige, hingeworfene Erklärungen, die er seinen Auseinandersetzungen
-anhing, um sie den Köpfen da unten verständlich zu machen, änderten nicht
-viel.
-
-Da empfand Fritzchen zum ersten Mal als schmerzend den Eishauch, der von
-ihm ausging. Die Not ihres Völkchens, das da stand und harrte und nun
-glänzende Steine statt einfachen, kräftigen Brots empfing, ging ihr zu
-Herzen.
-
-Wie hatte sie sich oft über den alten Baumann empört mit seinen
-Himmelreichsversprechungen als Antwort auf die irdische Mühsal und mit
-seinen Keulenschlägen! Hier war nichts von dem, sondern eine Fülle von
-Geist und Studium spielend heruntergeworfen. Eine verblüffend glänzende
-Form für den alten, ihr längst unscheinbar gewordenen Inhalt.
-
-Es ging dem Mädchen wunderlich. Was hätte sie sich Schöneres wünschen
-können? Ihre ganze kindischtolle Rebellion konnte hier ihre Antwort finden.
-Alte, auswendig gelernte Worte erschienen plötzlich in neuer Beleuchtung,
-wurden lebendig, traten dem Herzen greifbar nahe. Ach -- so ist es gemeint?
-Ein Ahnen von dem ewig Gültigen in der alten Form, die von trotzigen Händen
-als abgegriffen fortgeschoben ist, durchschauerte die junge lebensfremde
-Seele.
-
-Aber all das flog nur vorüber, vom Bewußtsein kaum aufgenommen, wie die
-Flocken des Schneegestöbers draußen vor dem Fenster. Wirklichkeit blieb
-das armselige Dorfvolk da unten, das ängstlich, leer und enttäuscht zu der
-Kanzel aufsah.
-
-Was sollte das werden an den Krankenbetten, bei Geburt und Tod, bei all den
-tausendfältigen Nöten des Leibes und der Seele? Man mußte nur wissen, was
-hier in den entlegenen Dörfern der Pastor bedeutete.
-
-Immer war des alten Mannes Sorgen und Mühen für seine Gemeinde als
-etwas Selbstverständliches hingenommen. Jetzt ging sein Geist durch die
-dichtgedrängte atemlose Kirche.
-
-Wird der da mit der Brille, zu meinem Lisching kommen, wenn es Krämpfe hat?
-Wird er unserm Jochen den Kopf zurechtsetzen, wenn er Späne macht und nicht
-arbeiten will? Wird der uns oll Mudder trösten in ihrem Husten? Wird der
-bei unsern »Kinddöps« sitzen und lustige Toaste ausbringen?
-
-Ich bin sein Kamerad und wir haben einen Bund gemacht! dachte Fritzchen.
-Der Gedanke durchglühte sie wie edler Wein, sie gab ihn weiter als ein
-stummes Versprechen an die Menge unten.
-
-Ihr Herz hatte keine Furcht mehr vor dem fremden Manne.
-
- * * *
-
-An demselben Nachmittag kam er zu ihnen aufs Schloß. Er hatte noch über
-Land in zwei Filialkirchen zu predigen gehabt, ein Wagen vom Gut hatte ihn
-nach alter Überlieferung gefahren.
-
-Er war das nicht gewöhnt, der Hofprediger, in Wetter und Wind, wirbelnden
-Schnee ums Gesicht zwei Stunden weit auf schlechten Landwegen zu fahren,
-um dann abermals in einer ungeheizten Kirche zu predigen. Ihn fror, und
-der Kopf schmerzte ihn. Außerdem saß ihm ein fades Gefühl in der Brust.
-Die Leute glaubten mit Unrecht, daß er zu hochmütig sei, um verständlich
-zu reden, er hatte sich Mühe gegeben, sich ihnen anzupassen, aber Ton und
-Äußeres für einen Landpfarrer war ihm nicht gegeben. Er sah die gespannten
-Gesichter enttäuscht und leer werden. Er wußte auch: Heute sind die Kirchen
-voll, bald werde ich vor leeren Bänken reden können.
-
-Ich glaubte mit meinem Geschick schalten zu können, aber da stehe ich
-unversehens an meiner Grenze.
-
-Der Schulz im nächsten Dorf, ein auf seine Bildung stolzer Herr, sah
-ihn mit unverhohlener und etwas frecher Neugier an. Es fielen ein paar
-zudringliche Worte, ob dem Herrn Pastor die Luft in der Residenz nicht
-zuträglich gewesen sei, man höre ja so oft von dumpfer Großstadtluft.
-Der Schulz im dritten Dorf und der Förster waren bäurischer, aber um so
-deutlicher. Sie fragten geradezu, wie der Herr Pastor solchen schlechten
-Tausch machen könne.
-
-In vornehmen Kreisen war Gregor bekannt für die außerordentlich feine
-und kühle Art, in der er sich Zudringlichkeiten fern hielt. Bei diesen
-Landbären verfing das nicht. Denen mußte man klobig kommen, wenn sie
-verstehen sollten. In tiefer Verstimmung trat Gregor die Rückfahrt an.
-
--- -- -- Es laufen die Gerüchte durchs Land wie mit Spinnenbeinen. Überall,
-wo er künftig hinkommen wird, sind sie schon längst vor ihm dagewesen. Im
-öden Weg, wo die Wolken über den grauen Himmel jagen und die Schneewehen
-über die Felder treiben, wo der Wind bis in die Knochen kältet und
-einförmig die kämpfenden Pferdeköpfe da vorne nicken, da horcht man auf die
-Stimmen, die raunen, schwatzen, lachen hinter Biertisch und Kaffeetassen.
-
-»Gregor v. Zülchow hat wirklich die Hofpredigerstelle Hals über Kopf
-niedergelegt.« »Ja, oder vielmehr, er mußte sie niederlegen.« »Wie lange
-hat er sie denn gehabt?« »Sechs ganze Wochen.« »Nein, kaum fünf.« »Er soll
-der Allerhöchsten Entschließung zuvorgekommen sein.« »Die Prinzessin Maria
-soll ins Ausland geschickt sein, ist das wahr?« »Na, man konnte das
-ja voraussehen.« »Der Vater ist außer sich, eine wilde Szene mit dem
-Hofprediger hat stattgefunden.« »Ach, das ist Gerücht.« »Nicht mehr als
-alles andere. Jeder weiß, wie die Prinzessin ihn vergöttert hat.«
-»Dieser kühle Weltmann! Man sollte ihm mehr Takt oder wenigstens Vorsicht
-zutrauen.« »Ja, das ist leicht gesagt --«
-
-»Haben Sie gehört, daß er jetzt in Hohen-Leucken Pastor ist?« »Ist denn
-Baumann pensioniert?« »Er muß doch wohl.« »Wie lächerlich! Warum gerade in
-Hohen-Leucken?« »Ja, das ist unbegreiflich!«
-
-So durchschüttelt, durchfroren, nervös unter dem Gefühl eines verfehlten
-Entschlusses, kam Gregor in sein stilles Pfarrhaus. Justine hatte ihm gut
-und sorglich gekocht, aber er achtete es nicht. Wein aus dem Rummelshöfer
-Keller stand auf dem Tisch, der lockte ihn, aber in einer Art gewaltsamer
-Askese schob er ihn ungekostet fort.
-
-Keine Hilfsmittel! Aus mir selbst mich zurechtfinden.
-
-Am liebsten wäre er in der jetzigen Verfassung auch nicht aufs Schloß
-gegangen. Er wollte seinen jungen Kameraden heute nicht, gerade darum
-nicht, weil er in seiner verquälten, hilflosen Stimmung sich nach ihm und
-seinem klaren Gesicht sehnte. Er hätte gern mit seiner Schwäche verächtlich
-gespielt und sie niedergetreten wie das Verlangen nach dem Wein. Aber er
-hatte mit Herrn v. Dörfflin besprochen, daß er heute kommen werde, und nun
-drehte sich die Geschichte herum, und ein nachträgliches Absagen wäre erst
-recht Schwäche gewesen.
-
--- Im Wohnzimmer des Herrenhauses. Gisela hat das Wort. Herr Gott, wie
-sie zu plaudern versteht. Das ist ein Ton aus verklungenen Welten für den
-verschlagenen Landpfarrer. Man geht wie auf Fittigen über das Kraut- und
-Rübenfeld dieser Erde. Man streift überall so ein weniges an die Spitzen
-und Kronen. Man sagt alles und hat doch nichts gesagt. Man regt an und auf,
-sprüht, gaukelt und berührt doch kein Ding so nah, daß es stechen könnte.
-
-Famos. Man merkt jetzt erst, wie einem diese Art Unterhaltung gefehlt hat.
-Ist denn das schon so lange her, daß man sie entbehrte? Jawohl, man ist ja
-eben zehn Jahre über den wüsten Schneeweg gefahren.
-
-Er war schon so nervös empfindlich geworden, daß er bestimmt erwartete,
-wieder gestochen und verletzt zu werden. Da fuhr Giselas leichte
-Unterhaltung wie ein lauer kosender Wind über seine wunde Haut. Er war drin
-im Ton, ohne es zu merken.
-
-Frau v. Pohle schloß sich an. Sie wußte, wie man in Gesellschaft spricht,
-und erwartete zudem nichts anderes von dem Manne, den sie als Modeprediger
-empfand und dessen Kommen aufs Dorf sie entweder für eine spielerische
-Laune oder für irgend einen Verlegenheitscoup nahm. Sie hatte keine große
-Sympathie für ihn und bestärkte ihn absichtlich in dem leichten Ton, um
-Fritzchens willen.
-
-Verdirb Dir nicht länger Deine hellen jungen Augen an diesem Trugbild der
-Herrlichkeit! dachte sie bei sich im Herzen.
-
-Herr v. Dörfflin spielte eine Null. Das war nicht gut für ihn, noch für
-seinen Gutspfarrer. Diese Einführung war die allerschlechteste: Mit der
-Weltdame des Hauses im Gesellschaftston verkehren und rechts und links jede
-tiefere, kräftigere Saite unangeschlagen zu lassen.
-
-Fritzchen aber saß in der tiefen Fensterecke, sprach gar nicht mit, sondern
-sah nach ihren Freunden, den Wolken.
-
-Es hatte aufgehört zu schneien. Eine dunstige gelbgraue Schicht umschloß
-den Horizont. Darüber zogen wie ungeordnete Scharen, die sich eine neue
-Heimat suchten, zerrissene und geballte, dünne und massige Wolkengebilde.
-
-Seine Stimme klang im Raum, aber so, wie sie klang, hatte sie keine Macht
-über dies unabhängige Herz. Es ging davon, zu den Wolken hinauf. Nicht
-betrübt, nicht im Groll, aber in einer Träumerei, die vielleicht die
-schlechteste Huldigung war, die jemals dem Freiherrn und Pfarrer Gregor
-v. Zülchow dargebracht war.
-
-Ein paarmal sah er zu ihr hin. Welch ein Kind sie doch noch war, sich
-abseits zu setzen und aus dem Fenster zu gucken. Er lächelte. Er dachte an
-den Wein, den er fortgeschoben hatte --
-
-Gisela sprach von seiner Predigt. Sie hatte gut aufgemerkt und spielte
-mit religiösen Schlagworten wie mit einer ganz besonders graziösen,
-gesellschaftlichen Attraktion. Diese Handhabung war er gewöhnt. Ganz wie
-etwas Selbstverständliches sprach sie es aus, daß er sich in die ländliche
-Stille zurückgezogen habe, um ungestört für seine Professur zu arbeiten.
-
-»Ich bewundere Ihren Scharfblick!« sagte er ernst mit einer Verbeugung.
-
-In Wahrheit war ihm diese Lösung nicht fremd, er hatte sie schon vor
-diesem Sonntag erwogen, und die heutige Erkenntnis, wie schlecht er für das
-Predigtamt tauge, wenn er es nicht als glänzende Draperie für seine
-Person gebrauchte, hatte ihm den Gedanken befestigt, diese neue und
-aussichtsreiche Laufbahn einer Art Sühne vorzuziehen, die ihm in ihrer
-herben und erlösenden Asketenhaftigkeit heute doch schon phantastisch
-vorkam.
-
-Es ist ein anderes Ding, nach ein paar rauschvollen Monaten, in denen man
-sein heiliges Amt in Eitelkeit und Genußsucht entweihte, sich von der
-Welt abzukehren und mit einem strengen Leben, das ohne Lohn nur dem Dienst
-geweiht ist, die innere Ehre vor sich selber herzustellen -- oder: an
-einem falschen Platz mit ungenügender Kraft und verzagendem Willen eine
-aussichtslose Arbeit zu tun.
-
-Gregor v. Zülchow -- der Sohn eines alten Herrenhauses unter alten,
-rauschenden Bäumen am stillen See, der Sohn eines strengen, kräftigen
-Vaters und einer feinen, phantastischen Mutter, Gregor, der Schüler der
-Gottesweisheit, jung eingeführt in das Ringen, Sehnen und Suchen der
-Kreatur, berufen, ein Führer zu sein aus dem sichtbaren, greifbaren
-Tagesleben heraus -- der konnte wohl eine Entsühnung finden, die feurig,
-phantastisch und töricht war, und die der fade, eisige, nüchterne Mensch in
-ihm verneinen mußte, sobald es ging.
-
-Darum hatte Gisela, das Weltkind, recht.
-
-Aber es hatte doch noch jemand anders recht!
-
-Ein Wort hatte Fritzchen geweckt. Sie kam mit einem jähen Ruck in die
-Gegenwart, in das Zimmer, in dem die anderen saßen, zurück. Sie wandte sich
-herum.
-
-»Sie wollen hier nur für die Professur arbeiten?« rief sie.
-
-»Ich kann heute noch keine Auskunft darüber geben«, sagte er kühl
-ablehnend.
-
-Da sprang sie auf, so daß die anderen erschraken. »Es ist nicht möglich,
-daß Sie Ihr Amt hier nur als Übergang auffassen!« Sie stand schon vor
-ihm, die beiden geballten Hände vor der Brust zusammengedrückt. Ihr ganzer
-Anblick war eine stürmische Bitte: Laß es nicht möglich sein!
-
-»Aber Fritzchen!« rief Gisela.
-
-»Na nu, Fritz!« sagte Herr v. Dörfflin.
-
-Frau v. Pohle dachte: Wieviel verlorene Liebesmüh'!
-
-Gregors Lächeln war verflogen, er sah voll Ernst und Überraschung in das
-ungestüme, ehrliche Gesicht. Wie seltsam dieser volle, starke Ton in das
-halbe Gezwitscher klang, das bisher den Raum gefüllt hatte!
-
-»Übergang ist alles, auch unser bestes«, sagte er, halb unbewußt die
-Worte formend und doch mit einem tiefen Interesse und einer Gier auf ihre
-Erwiderung.
-
-Ihre Augen wurden ungeduldig. »Wir wissen es dann aber nicht, während wir
-drin sind«, sagte sie zu ihm.
-
-»Du verstehst einfach nichts davon, Frida!« sagte Gisela mißächtlich.
-»Wie kannst Du abmessen, was für Herrn Baron v. Zülchow die entsprechende
-Laufbahn ist!«
-
-»Ich weiß aber, daß man sein Wort halten muß!« rief Fritzchen flammend.
-»Und das haben Sie den Leuten hier im Dorf gegeben. Alle warten auf Sie,
-Sie haben es getan!«
-
-Er stand auf. Was war es, das ihn anrief? Sein eignes stärkeres, edleres,
-freieres Herz! Halte auch Dir Dein Wort! Laß Dir genügen an der armen,
-herben, unberühmten Arbeit. In dem Kind ruft Gott Dich an.
-
-Unter dem Durcheinander von Stimmen, das sich jetzt erhob, da Gisela und
-auch der Gutsherr und auch Frau v. Pohle alle etwas eilig und heftig zu
-sagen hatten, auf das er nicht hörte und das er nicht verstand, sah er dem
-jungen Geist in die Augen, mit dem er jählings eine Verwandtschaft entdeckt
-hatte, von der er bisher nichts wußte.
-
-»Es ist vielleicht nicht alles so, wie Sie denken«, sagte er zu ihr.
-»Sie schlagen wohl manchmal das Fenster ein, wo Sie zur Tür hineingehen
-könnten --«
-
-Ihm war, als müsse er sich wehren gegen diese Überfülle von Leben und
-Forderung, die hier auf ihn einstürmte.
-
--- Es geht ein Wanderer am Meeresstrande, da kommt der wilde Seewind und
-fährt ihm in den Mantel, und der Wanderer wehrt sich verdrießlich und
-wickelt den Mantel fester.
-
-Es ist aber noch ein Stück Jungenstollheit in ihm, das hat plötzlich, er
-weiß nicht wie, einen Bund mit dem Seewind gemacht. Das möchte am liebsten
-den dummen, lästigen Mantel von sich werfen und mit dem Winde um die Wette
-jagen und tollen. Aber schau: der Mantel ist wertvoll und sehr notwendig!
-
-Gregor v. Zülchow machte ein kühles Gesicht. Mein Seewind, ich habe doch
-wohl keine Zeit für Dich.
-
-Er nahm Abschied. Da, wie er schon draußen war, ohne Besinnen, ohne Fragen,
-ohne ein Tuch umzubinden, jagte das Fritzchen hinter ihm drein.
-
-»Aber Frida, wohin willst Du? Bleib' hier!« schrie Gisela außer sich.
-
-»So laß sie doch!« sagte Herr v. Dörfflin barsch, obwohl er nicht wußte,
-was sie vorhatte und ob es etwas taugte, was sie vorhatte.
-
-Am Ende ist Herr v. Dörfflin, der arme alte Junker, doch der einzige auf
-der Welt, der den richtigen Instinkt in dieser Sache hat. »Laß sie doch«,
-das ist heute noch das beste für solch windwildes Herz. Laß sie nur,
-sie muß doch ihre eignen Wege laufen. Sie an Rockzipfeln festhalten, ist
-verlorene Mühe. Laß sie hineinlaufen in ihr Glück und ihr Unheil, in ihr
-Feuer und Wasser, in all ihr eigenstes, lebendigstes Leben!
-
-Der Wind pfiff um die Hausecke und Vaters zwei große Jagdhunde fuhren mit
-wildem Freudengeheul auf sie ein, daß sie sie beinahe umwarfen. Gregor
-blieb erstarrt stehen.
-
-Wollte es ihn doch nicht loslassen?
-
-»Sie haben gesagt, ich wäre Ihr Kamerad!« sagte Fritzchen trotzig. Sie
-hatte die Hand auf den Kopf der braunen Leda gelegt, der Wind riß an ihrem
-Kleid und ihrem Haar, aber sie merkte es nicht, sie war mit dem Winde
-aufgewachsen wie mit den Hunden.
-
-Ja -- solche Kameradschaft, ist sie wirklich für Gregor v. Zülchow, den
-Weltmann und Professor?
-
-Durch die kahlen Bäume und durch das hallende Steintor fährt der Junker
-Wind, er fährt dem Wanderer in sein Kleid. Vielleicht ist diesmal doch der
-Mann noch kostbarer als der Mantel? --
-
-»Du wildes Leben -- schöner Sturmvogel!« sagte Gregor laut.
-
-Das war der Wind, der ihm die Worte gab, das war der Wind, der sie
-weitertrug. Im verschneiten Herrenhof von Hohen-Leucken stand der junge
-Pfarrer mit dem schmalen, kühnen Gesicht, und die Augen waren heiß geworden
-hinter der goldenen Brille.
-
-»Ja, wir wollen leben! Sehr, sehr viel leben!« sagte Fritzchen. Es war
-keine Furcht an ihr, sie stand noch immer mit der Hand auf dem Kopf des
-Hundes. Aber sie schien plötzlich wie gewachsen, ihr Blick weiter, die
-Stirn edler, der Mund stolzer.
-
-Sie näherte sich ihm nicht, und doch hatte dieser Mann noch nie ein
-herrlicheres Bild der Selbstübergabe gesehen. Es war so herrlich, daß er
-für einen Moment die Augen senkte wie vor einem allzu hellen Licht.
-
-Dann gingen sie stumm auseinander. Der seltsame Bund war geschlossen.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-Die kahlen Bäume standen still um den vereisten See. Hier und da hing noch
-ein gelbbraunes Blatt, das bei dem großen Begräbnis übersehen wurde, in
-den Ästen. Die Weidenbäume streckten ihre dürren Ruten gen Himmel, und der
-Schnee lag wie ein weißes Tuch, von keinem Menschenfuß betreten.
-
-Fritzchen ging am Ufer entlang mit Leda an der Seite. Es war der Montag
-Vormittag, und die Sonne schien nach dem gestrigen Schneetreiben. Auch der
-Wind war schlafen gegangen, es war fast warm im Sonnenschein.
-
-Seit gestern hatte der junge Mund nicht viel gesprochen. Eine erhabene
-Stille war auf ihr Herz gesunken. In ihr war ein Bangen, daß sie nun nicht
-mehr allein war im Leben, und eine große Freude, so hell wie die Sonne am
-Himmel. Aber beides so tief und still, daß kein Wort, kaum ein Gedanke es
-berührte.
-
-Leda war jetzt ihre Beste. Mit der ging sie seit dem frühen Morgen herum.
-Sie hatte die rote Sonne über den Schneefeldern gesehen, sie hatten sich
-durch angewehte Wälle hindurchgearbeitet, jetzt stand die Sonne hoch und
-sie waren am klaren eisbezogenen See.
-
-Alles war hier, wie es immer gewesen war, wie sie es kannte, seit sie
-laufen konnte: jeder Baum, jedes Gebüsch, jeder Knick und Graben, der See,
-der da hinten durch allerlei Gräben mit dem von Tannenwalde und Rummelshof
-in Verbindung stand. Wieviel Schritte und Schrittchen von ihr lagen hier
-am Ufer und querfeldein, rechts und links, über den Sandhügel weg, am Moor
-entlang.
-
-Aber Himmel und Erde haben sich verwandelt, wie sollte da Busch und See
-noch derselbe sein und die alte Waschbank, die jetzt unter Eis steht und
-auf der in wärmerer Zeit die Wäsche geklopft wird, daß der Schall von der
-Waldwand zurückkommt? Selbst die Sonne ist neu, und das eigne Herz ist neu
-geworden in dieser einen stillen, großen Nacht. --
-
-Wohl ist es die schönste Brautfeier an der klaren, glitzernden Eisfläche,
-Sonne und Schnee und die große Einsamkeit um sich her.
-
-Der Hundekopf drängte sich an ihr Kleid, sie streichelte ihn. »Ja, Leda, Du
-weißt.«
-
-Es war noch keine Sehnsucht in ihr. Alles war still, weit und hell wie das
-Winterbild um sie her.
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-Auch er hatte die Nacht nicht geschlafen, erst als der Morgen kam, befiel
-ihn eine schwere, wie tote Müdigkeit. Aber seine Nacht war nicht still und
-hell gewesen, sondern voller Stürme und Unruhe.
-
-Ich habe Dich lieb -- und ich habe Dich nicht lieb. Du bist mir alles --
-und Du bist mir nichts. Ich will Dich -- und ich will Dich nicht!
-
-Noch hielt er den Mantel fest. Ach ja, es ist ein atemloses Ding um den
-Sturm, der über die Ebene kommt. Man ist nicht immer bereit, mit allen
-seinen Registern zu leben und zu klingen.
-
-Gregor! rief es in seinem Herzen: Hüte Dich! Um das Feuer einer Mußestunde
-verleugne nicht die feinen und kühlen Instinkte Deiner Natur. Lade Dir
-nicht den Wind vom Felde in Dein Haus. Du verstehst und liebst ihn, aber
-seine Gemeinschaft müßtest Du vielleicht zu teuer bezahlen.
-
-Ach -- ob ich ihn verstehe!
-
-Ob ich je eine schönere Stunde hatte und beglückter fühlte, als einmal hier
-in dunkler Stube, bei meinem Einzug, als das Feuer im Ofen knatterte -- als
-gestern, auf dem verschneiten Hof, unter Wolken, im Wind.
-
-Weißt Du noch, Herz, die beiden Hunde und das starke, junge Menschenkind?
-
-Suchst Du noch etwas Stolzeres und Süßeres für Dich im Leben? Da -- Herz!
-Wirf den Mantel weg!
-
-Es kroch schon der erste graue Dezemberschein über die weißen Felder, als
-der hin- und hergerissene Mensch in einen steinschweren Schlaf verfiel.
-
-Wie weit ist das Fritzchen schon über die Felder gelaufen mit ihrer Leda,
-ihrer Liebe und ihrer großen schönen Ruhe? Wie lang hat sie schon am Eis
-gestanden, da ist der Pfarrer endlich aufgewacht.
-
-Justine ist besorgt und glaubt, er hat sich gestern erkältet. Um Gottes
-willen, das darf ihr nicht passieren! Was sollte die Frau Baronin sagen! Es
-ist zu Hause immer viel Wesens gemacht um den Herrn Baron Gregor, da ist er
-wohl von klein auf etwas verzärtelt, aber, das gehört sich auch so. Er ist
-doch ein gar zu feiner Herr!
-
-Nun schleicht sie sich ein bei ihm und heizt, ohne daß er es merkt. Wie ein
-Dieb, so leise hantiert sie mit den ungefügen Buchenkloben.
-
-Als er erwacht, ist die ganze Stube voll Sonne, und im Ofen brennt ein
-helles Feuer. Er hat die Arme unter dem Kopf und sieht sich um. Wo war er
-doch? Wie Schatten fliegen die wilden Gestalten der Nacht an ihm vorüber.
-Ein leises Abwehren, ein Murren der Bequemlichkeit ist in ihm.
-
-Hell ist das Leben und sein Tag, man überwindet auch seine Tiefgänge.
-Verstricke Dich nicht in Unruhen und Wirren. Nimm des Lebens Süßigkeiten
-nicht ernster, als Dir und ihnen taugt.
-
-Er stand auf, badete sich ab, brauchte wie immer mehr als eine Stunde zur
-Toilette, und ging dann in sein Eßzimmer, das nach hinten hinaus zum Garten
-lag. Das Frühstück stand wie durch unsichtbare Geisterhände gebracht
-auf dem zierlich gedeckten Tisch. Die Kakaokanne dampfte, Zwieback,
-eigengebackenes Weißbrot, Butter, gebratenes Fleisch, Schweizerkäse,
-alles stand bereit. Die Zeitung lag neben seinem Platz, auch ein Brief aus
-Rummelshof und einige Geschäftssachen aus der Residenz.
-
-Wie die Sonne draußen auf dem Schnee in tausend und abertausend glitzernden
-Sternchen funkelte! Wie die Bäume feierlich standen, die Zweige gesenkt
-unter der weichen, weißen Last. Durch die unberührte weiße Decke lief nur
-eine winzige Spur von einem Kätzchen oder Hasen.
-
--- Ich will Dich doch! sagte der aufblühende, starke, lebendige Mensch in
-ihm. Er ließ den Frühstückstisch, Briefe, Zeitungen stehen und liegen
-und ging an das Fenster. Es rief die Sonne, es rief der weite, leuchtende
-Schnee: Das Leben ist eine Feier, eine starke Tat! Du Narr, mit Deiner
-Angst und Deinem Vorbeidrücken! Packe es an, da wo es am tollsten schäumt!
-
-Danach kam einer seiner vielen überlichten Momente. Er sah sich selbst wie
-eine Figur, an der er keinen anderen Teil hatte, als den des interessierten
-Zuschauers. Er wußte, er konnte auch diese -- diese Sache auf die eine
-Weise so gut wie auf die andre behandeln. Er konnte es tun oder lassen,
-erfassen oder liegen lassen, alles war bei ihm möglich und begründet. Er
-war der Mensch der bewußten Zwiespältigkeit, weil seine Intelligenz weit
-über seinen Instinkt hinausgewachsen war. Dies machte ihn zu gleicher Zeit
-klug und unschlüssig, fein und schwach, kalt und nervös. Es bedurfte bei
-ihm nur des bewußten Anrufs an den Willen, um die eine oder die andre Seite
-zur Geltung und Herrschaft zu bringen.
-
-Er war nicht frei, insofern das Wissen ihn band. Aber er war mächtig, weil
-das Wissen ihm den Schlüssel zu der Gewalt über sich, das Leben und seine
-Dinge in die Hand gegeben hatte, und weil seine Instinkte ohnmächtig waren.
-
-Er konnte nicht bezaubert werden, sobald er selbst es nicht wollte.
-
-Das war fade, aber praktisch.
-
--- Nachdem er diesen Überblick über sich selbst wieder einmal
-gewonnen hatte, drehte er sich vom Fenster ab und setzte sich an den
-Frühstückstisch. Das blendende Schneelicht war ihm noch in den Augen, so
-daß sich vor alle Gegenstände ein Flimmern zog, erst allmählich erkannte er
-alles wieder richtig.
-
-Er aß und trank von allem wenig, aber mit Verstand, wie seine Art war. Auch
-dabei sah er sich selber heute zu.
-
-Er hatte ein stolzes und doch trübes Gefühl in der Brust. Das Leben
-beherrschen heißt meist, ihm entsagen und sich von ihm absondern, und die
-Heiligen sind oft nur die Toten.
-
- * * *
-
-Gregor machte seinen ersten Krankenbesuch bei der Frau seines alten
-Küsters, einem gebrechlichen Weibchen, das sonst hustend und flennend in
-ihren buntkarierten Betten lag. Damit fing sein wunderliches Seelsorgeramt
-an. Es war eine stickige Luft in der engen Kammer, die dem verwöhnten
-Mann der Welt auf Lunge und Nerven fiel. Aber er bezwang sich, weil er mit
-diesen Dingen nicht gleich sein Amt beginnen wollte.
-
-Er saß am Bett, sah die alte Jammergestalt durch seine Brille an, sagte
-Worte, die sehr schön und richtig waren, und an dieser Stelle höchst
-nutzlos, und die Alte lag da in tausend Ängsten, verbiß sich vor lauter
-Genieren ihren Husten und schwitzte am ganzen Leibe.
-
-»Ja, Herr Pastor. Ja, Herr Pastor« -- das war alles, was sie überstürzt
-hervorbrachte, um ihn nur ja nicht zu beleidigen. Der Küster hatte drüben
-Schule abzuhalten, und wußte nichts von dem hohen Besuche. Es war am
-Nachmittag gegen vier desselben Montags. Die Sonne war eben herunter
-und damit aller Glanz. Graue Schatten krochen über den Schnee, und das
-Tageslicht in dem niedrigen Raum nahm rapide ab.
-
-Nebenan in der Küche polterte es. Die Alte horchte ein paarmal hin, wollte
-wohl etwas sagen, aber getraute es sich dann doch immer nicht. Plötzlich
-ein lauter, ungeduldiger, heller Ausruf:
-
-»Solch verrückter alter Herd!«
-
-Was für eine Stimme?
-
-Gregors Gesicht sah wohl plötzlich wie eine einzige Frage aus, so daß die
-Alte stotternd sagte: »Das ist -- das ist man bloß das Fräulein Fritzchen,
-Herr Pastor, ich mein': das gnädige Fräulein. Ach Gott, wir sagen noch
-immer so aus alter Gewohnheit, und weil wir sie kannten, als sie noch in
-der Wiege lag, und ihre selige Frau Mutter --«
-
-»Was tut denn das Fräulein hier?« rief er aus.
-
-»Ach Gott, Herr Pastor, man bloß die Supp'. Sie macht mir die Supp' von
-Mittag nochmal warm, weil ich vorher nicht essen mochte. Und der alte
-dammlige Herd, Herr Pastor, der will oft nicht so, wer ihn nicht kennt.
-Dann qualmt er bloß und kochen tut's nicht.«
-
-Gregor war aufgestanden und stieß die wacklige Brettertür auf. Da war eine
-große, niedrige Küche mit einem einzigen klimperkleinen Fensterchen über
-dem Abwaschfaß. Auf dem Ziegelsteinboden, in lauter Qualm gehüllt, stand
--- -- wer war es?
-
-Wollte er, der Spieler in dem großen Krieg der Erde, wieder fortschieben,
-wieder umrütteln, was das lebendige Leben ihm zeigte, daß dies seine kleine
-Braut war, die da stand, in der gräßlichen Küchenschürze der Frau Küstern,
-mit rauchgeschwärzten Fingerchen und rotem, zornigem Gesicht!
-
-Da stand er, so erfaßt und überschüttet von Glück, wie er noch nie gewesen
-war.
-
-Sie hob den Topf vom Feuer und sah ihn an. Flammen schlugen aus dem Herd
-und beleuchteten ihr Gesicht. Da wußte sie nichts mehr von Qualm und
-Ärgernis.
-
-»Jetzt ist die Suppe fertig!« sagte sie, und weiter nichts. Sie goß sie in
-eine irdene Schale und goß einiges vorbei. Die Schürze der Frau Küstern
-war heute schwärzer geworden, als ihre Besitzerin sie sonst in einer Woche
-machte.
-
-Er kam zu ihr. Der junge, heiße, verantwortungslose Mensch, der in sich
-drin sitzt und nicht nebenbei steht, ging mit ihm durch. Da faßte er das
-Bild seines Glückes, das schönste, beste Bild, das es für ihn geben konnte,
-um, drückte es an sich und küßte es auf den Mund.
-
-»Mein Fritz -- mein süßes Leben!« murmelte er.
-
-Sie hielt noch immer den rußigen Suppentopf. Die Flammen schlugen aus dem
-Herd, das war ein heißes, jauchzendes Bild!
-
-»O lieber, lieber Gregor --«, sagte sie.
-
-Es war so weich, so hold und demütig. Mit ganz vorsichtigen Fingerchen
-stellte sie den Topf auf die Steine neben das Feuerloch.
-
-»Ich kann Dich nicht anrühren, ich bin überall schwarz.«
-
-»So gib mir davon ab!« sagte er voller Übermut.
-
-Er umschloß sie und drückte ihr heißes, tolles, geliebtes Köpfchen an seine
-Schulter, küßte ihr Haar, ihre Stirn, und dachte: So ist es doch am besten!
-Was soll alles andere!
-
-Fritzchen sagte gar nichts zu alledem, sie lag eine Weile ganz still. Dann
-hob sie ihr Köpfchen auf, legte es etwas hintenüber an seine Schulter und
-küßte ihn von selbst auf den Mund.
-
-»Lieber Gregor --«, sagte sie nur wieder ganz leise, aber was Himmel und
-Erde umfassen kann, war darin.
-
--- -- »Ach, Du leiwer Gott, leiwer Gott«, stöhnte es aus der Kammer.
-
-»Ich muß ihr ihre Suppe bringen«, sagte Fritzchen. »Gib mir, bitte, einen
-Blechlöffel aus dem Schrankfach. Nein, rechts. Ja, da, danke.«
-
-Sie hatte mit beiden Händen die heiße Schüssel zu halten. Als er den Löffel
-hineinlegte, wuschelte sie für einen Moment ihren Kopf an seinen Arm und
-küßte seinen Rockärmel.
-
-»Nachher gießen wir das Feuer zusammen aus, ja?« bat sie.
-
-Hatte er je auf Erden solche leuchtenden Augen gesehen?
-
-»Ja, Frida! Komm bald zurück!«
-
-Er blieb an der Feuerstelle allein. Über dem Herd war ein mächtiger
-Rauchfang, unter dem stand er und sah in die Flammen. Er war nichts als der
-selige Bursche, der am Herd hockt und auf seine kleine Dirn wartet.
-
-Ach, was hat das Leben doch für süße Stunden!
-
-Drinnen hörte er hin und wieder ihr Stimmchen, den goldenen Klang.
-
-Es stand mitten in der Küche ein dicker, blaugetünchter Pfeiler, der die
-Decke stützte. An ihm hingen allerlei Feuerhaken, Zangen und sonstige
-Geräte. Der lange schwarze Schatten von Gregor, den er vor der Flamme
-stehend, warf, fiel auf diesen Pfeiler. Das war's, was Fritzchen zuerst
-sah, als sie zurückkam.
-
-Da kam der tolle Übermut ihres Glückes über sie.
-
-»Der da ist mein Bundesgenosse, viel länger schon als Du!« sagte sie.
-
-»Wer?«
-
-»Der da, der sich bewegt.«
-
-»Mein Schatten?«
-
-»Den hab' ich heimlich geküßt, in Rummelshof, als ich noch klein war.«
-
-»Damals warst Du nicht Du und ich nicht ich«, sagte Gregor. Er war beinah
-eifersüchtig auf den Schatten früherer Zeiten.
-
-Draußen auf der Diele entstand ein Gepolter, die Schulkinder kamen
-heraus. Als der Küster die Küche betrat, fand er den Herrn Pastor und
-das Schloßfräulein einig und eifrig bemüht, das Feuer auf seinem Herde
-auszugießen.
-
-Er tat aufs äußerste erstaunt, aber er war ein alter, heller Kopf. Er
-dachte: Hier gießt ihr es aus, und anderswo werdet ihr es euch anstecken.
-Na, mög' es euch viel Glück bringen!
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-
-Sie traten beide zusammen auf die Dorfstraße. Es war hier draußen noch
-vollkommen hell. Hinten um eine Scheunenecke herum schneeballierten sich
-die letzten der Schulkinder, unterm Arm ihren zerplieserten Katechismus und
-ihre Rechenbücher.
-
-»Kommst Du mit nach oben?« fragte Fritzchen.
-
-Über den alten Kirchhof, der mitten im Dorf lag und nicht mehr benutzt
-wurde, mit seinen eingefallenen Holzkreuzen, versunkenen Gräbern und
-der bröckligen Mauer, auf der das junge Geschlecht Haschen und Anschlag
-spielte, ging jetzt der Blick durch kahle Bäume auf den Hügel mit dem
-Herrenhaus. Es lag still und grau unter seiner Schneekappe, trotzig und
-häßlich in seiner nüchternen Einfachheit.
-
-Da stand der Mensch, der große Gaben hatte und eine kleine Kraft, der
-viele Kräfte hatte und eine matte Hand, und es packte ihn wieder sein alter
-verfluchter Zweifel. Der Zauber der schummrigen Küche, des Feuers im Herd,
-des Feuers im Herzen sank herab.
-
-»Geh mit mir durchs Steintor und dann kehr um«, sagte Fritzchen. Sie wollte
-noch nicht Papa und Gisela und tausenderlei Geschwätz da mit hinein haben,
-aber sie wollte durchs Steintor mit ihm gehen, wie schon einmal.
-
-Sie war in einem schottischen Kleid mit einem hellgrauen Tüchelchen um die
-Schultern. So lief sie oft, wenn sie es eilig hatte, vom Schloß ins Dorf.
-Ihr Gesicht war so schön in seiner Freiheit und Kühnheit wie je, ihr Mund
-so weich, ihre Stimme so ganz voll von Klang -- aber es berückte ihn nicht
-mehr. Er erschrak vor sich selbst, als er das leise pressende Gefühl von
-Überlast und Abwehr in sich empfand.
-
-Wenn er aber jetzt nicht wollte noch mochte wie sie, so war er ihr doch
-kein ebenbürtiger Gegner. Was sollte er ihr sagen, daß er sie nicht ans
-Steintor bringen wollte? Was sollte er ihr dafür anführen, daß sie ihn noch
-nicht -- oder gar nicht -- Du nennen dürfe?
-
-Es war schon einmal so, daß ich mich verspielte -- dachte er in dumpfer
-Not. Bin ich denn ein Narr, so wollte ich lieber ein ganzer sein, dem seine
-Narrheit süß bleibt bis ans Ende.
-
-»So wollen wir gehen«, sagte er.
-
-Fritzchen fühlte seine plötzliche Verstimmung, die sie sich nicht erklären
-konnte. Sie wollte ihn fragen, aber es war ein eisiger und abweisender
-Ausdruck in seinem Gesicht, der ihr jählings die ganze Furcht und Scheu
-ihrer Kinderzeit zurückbrachte. Sie lachte selbst darüber. »Wie bin ich
-dumm!« Leicht schüttelte sie das dunkle Grauen von sich ab und fing an, ihm
-zu erzählen, wie sie heute früh über die weißen Schneefelder gelaufen war
-und am See gestanden hatte, mit Leda.
-
-Sie sagte nicht, daß dies ihre Brautfeier gewesen sei, aber er fühlte es.
-
-Trotzdem -- denn das lächerliche Menschenherz hat immer neue Schutzmittel
-für sich selbst und das liebe Wohl bereit -- empfand er dafür kein
-quälendes Mitleid mit ihr, sondern eher eine Art Unwillen und Haß gegen
-ihre frohe, stolze, klare Sicherheit.
-
-Hinter ihnen knirschte der Schnee, an einem hervorspringenden Stein klang
-es, das Schnauben eines Pferdes ertönte. Es war ein Reiter, der auf der
-Mitte der Fahrstraße in raschem Tempo dahersetzte. Sie traten beiseite, ihn
-vorüber zu lassen, da war er auch schon vom Pferde.
-
-Hans Henning in Joppe und hohen Stiefeln, frisch und warm vom scharfen Ritt
-in der Winterluft.
-
-»Na, Junge, wo kommst Du her?«
-
-»Ja, ja, für Weihnachten noch ein bißchen früh, was?« Er begrüßte Fritzchen
-voller Freude. »Daß ich Sie aber auch gleich hier mit meinem Bruder treffen
-muß! Ich wollte Dir nämlich unversehens ins Haus brechen, Gregor.«
-
-»Aber wie kommt das?«
-
-»Ach, ein kleines liebenswürdiges Malheur. Da, sieh, meine linke Hand ist
-neulich beim Reiten verknaxelt. Habe dafür vier Wochen Urlaubszeit. Muß
-alle Tage zum Doktor und massieren lassen. Scheußliche Geduldsprobe, aber
-im übrigen bin ich gar nicht böse. Wo kommt Ihr denn her und wo wollt Ihr
-hin?«
-
-Sie gaben beide keine rechte Antwort. Fritzchen dachte: Ich will ihm alles
-sagen! Sie öffnete schon den Mund, aber plötzlich durchfuhr sie ein neuer
-seltsamer Gedanke.
-
-Diese Sache gehörte nicht ihr allein. Gregor mußte es auch wollen. Und
-Gregor --
-
-Sie sah ihn an. Es war noch immer das wunderlich fremde Gesicht, das er
-hatte, als ob er eine Maske trüge.
-
-Eine Angst überfiel sie. Was war das mit ihm? Wo war er? Was dachte er?
-
-Sie schloß den Mund wieder. Sie fror, und ein unbestimmtes Bangen
-schüttelte sie.
-
-»Wir waren bei der kranken Küsterfrau«, sagte Gregor endlich, als das
-Schweigen anfing, auffallend zu werden. »Ich habe auch noch andere
-Krankenbesuche vor. Willst Du auf mich warten, Hans. In einer guten halben
-Stunde bin ich da.«
-
-»Natürlich, gern. Unterdes begleite ich Fräulein v. Dörfflin, wenn ich
-darf.«
-
-So kam es nun. Gregor ging nun doch nicht mit bis zum Steintor. Er küßte
-die kleine kalte Mädchenhand, die in der Kälte rot wurde und nicht einmal
-einen Handschuh anhatte.
-
-Hans Henning und das Pferd kamen mit.
-
-»Tut Ihre Hand weh?« fragte Fritzchen. Aber ihre Stimme war so beschwert,
-als könne sie den eigenen Klang nicht tragen. Nach all dem Jubel rang ihr
-ein Weinen in der Brust.
-
-»Nun ja, das geht an«, sagte der junge Mensch und sah mit schiefem Mund auf
-das umwickelte Bündel, das er in einer schwarzen Binde trug. »Es ist nur
-gut, daß Sie nicht sahen, wie plumpsackmäßig ich vom Pferde kam. Es
-sollte schnell gehen, ehe Sie sich umkehrten, und wurde dafür ein schöner
-Kladderadatsch!«
-
-»Ja, ich erinnere mich, daß ich umsah, weil es so plumpste«, sagte
-Fritzchen, aber in ihrem Lächeln war ein Schatten, der dem Hans auffiel,
-wie ihm, seit er die beiden getroffen, eigentlich alles auffiel.
-
-Es war zuviel, daß er sie gleich getroffen hatte. Nur ihr Haus zu sehen,
-hatte er heute gedacht, oder, bei großem Glück, irgendwo einen Schimmer von
-ihr. Nun war sie da und war sonderbar verändert. Ihm kam vor, als ob sie
-noch gewachsen wäre, oder ihre Augen waren größer oder ihr Mund oder ihre
-Stirn anders. Jedenfalls etwas war geschehen, etwas Großes und Starkes.
-
-Im Dorfe sprachen sie gar nicht mehr miteinander, aber als sie den
-ansteigenden Weg hinaufschritten, an einer ganz bestimmten Stelle, an
-einem Heckbusch, den das Pferd streifte und der eine Last von Schnee leise
-rutschend abgleiten ließ, überfiel ihn plötzlich ein Gedanke, so jäh und
-leuchtend, daß ihm für einen Moment der Atem aussetzte und er stehen blieb.
-
-Ein Sommerabend zog im Fluge an ihm vorbei. Da hatte er mit zentnerschwerem
-Herzen sein Glücksköfferchen wieder eingepackt.
-
-»Überlaß es der Zeit, bis die Blumen von selber aufbrechen --«
-
-Sehen vielleicht so -- die aufgeblühten Rosen aus?
-
-Warum noch dies ewige Zagen und Beben? Ein Kind geht nicht und blickt
-nicht, wie sie es tut! Jetzt ab und los! Jetzt frage ich nicht mehr herum
-bei Mutter und großen Brüdern. Hei, wie der Schnee voll Blumen steht! Seht
-Ihr's nicht? Fitzliputzli, mein Brauner, mein braver Junge -- was? Das war
-ein Reiten heut! Du weißt von den Blumen auf dem Schnee, ja?
-
-Er hatte die Zügel durch den lahmen Arm gezogen. Mit der rechten Hand griff
-er sich jetzt, weil er kaum wußte, wohin mit seinen Gliedern, so grundlos
-und wildfroh an den Kopf, daß sich die Mütze ihm verschob und er ein
-lächerlich lustiges und verwegenes Aussehen bekam.
-
-»Fräulein Fritzchen, kennen Sie noch meinen Fitzliputzli?«
-
-So fängt man gewöhnlich keine Liebeserklärungen an, aber es kommt manchmal
-nicht auf den Anfang an, wenn der Schluß nur taugt. Aber hier war der
-Schluß noch schlechter wie der Anfang.
-
-»Ja«, sagte sie, »den kenn' ich natürlich noch. Er hat sich doch immer mit
-Möt gebissen, als wir zusammen ritten.«
-
-»Hat er das? Ja, richtig! Dann ist er ein ganz dummer Affe. Ein Pferd muß
-seines Herrn Gefühle nachfühlen. Das vergeb' ich ihm nie. Ich werde von
-nun an auf Frithjof reiten, den hat Gregor früher gehabt, der ist
-feinfühliger.«
-
-Warum ist sie so still geworden, das wilde Ding? dachte er.
-
-»Wenn Sie wissen wollen, an was ich die ganze Zeit gedacht habe, als
-ich fort war, auch als ich mir das Handgelenk verknaxte, auch wenn der
-Schinderhannes, der Doktor, mich massiert -- dann will ich es Ihnen sagen.«
-
-»An was denn?« fragte Fritzchen.
-
-»An mein Liebstes auf der Welt, und ob mein Wunsch in Erfüllung geht!«
-sagte der schöne, freie Junge. Er stand und sah sie an, so stolz und selig,
-wie kein König seine Krone ansehen kann.
-
-»An mich --?« sagte sie.
-
-Er sah den Weg hinan, hinab, er lag leer und still in der fallenden
-Dämmerung.
-
-»Sie haben es geraten --«, sagte er leise.
-
-Er hatte sie Du nennen wollen, und wagte es doch noch nicht.
-
-Sie dünkte ihn so heilig wie lieb.
-
-Sie aber stand und starrte. Vielleicht hätte sie ihn noch vor kurzem nicht
-so schnell verstanden, wie sie nun tat.
-
-»Was soll das?« rief sie aus. »Ich gehöre ja Gregor.«
-
-»Gregor --?«
-
-Er sprach es nach, noch ehe er es gefaßt hatte.
-
-»Ja«, sagte sie.
-
-An dieser Stelle des Weges begann rechts die Mauer des Herrengartens. Sie
-hatte der Löcher und Lücken viel, dürres Gras hing aus den Ritzen, und wo
-es nur irgend ging, hatte sich der Schnee eingenistet.
-
-Fritzchen, wie im Traum, fuhr mit der Hand über die Mauer, spielte mit dem
-Schnee, formte Kügelchen daraus und wußte dabei nicht, was sie tat.
-
-Hans Henning fühlte plötzlich, als ob sich alles um ihn drehe. Damit er
-einen Halt habe, lehnte er sich an das Pferd. Er sah es, und es brannte
-sich in sein Herz ein, als das grausigste Bild seines Lebens: Fritzchen
-an der Mauer stehend und die kleinen Schneebällchen formend, die sie dann
-wieder an die Mauer zurückwarf. Er folgte jeder Bewegung und wußte schon
-immer im voraus, wie jeder neue kleine Ball aussehen würde.
-
-Dann kam jäh ein rasender Sturm über ihn. Blutrot färbte sich sein
-Gesicht. Er stürzte vor, so ruckhaft, daß das Pferd, aufgeschreckt, einen
-Seitensprung machte und an dem Zügel riß, der um den lahmen Arm geschlungen
-war. Ein wilder körperlicher Schmerz raste durch das kranke Handgelenk,
-aber er fühlte es nur so fernab, wie in der Narkose. Er packte Fritzchens
-Hand, die wieder eine der verfluchten Schneekügelchen zwischen den
-Fingern hatte, schüttelte sie so heftig, als käme es darauf an, den Schnee
-herauszuschütteln, als sei der die Ursache des ganzen Entsetzens.
-
-»Laß los! Laß los!«
-
-»Laß Du los!« sagte Fritzchen in großem Zorn. Sie nannten sich Du, es kam
-von selbst, wie sie sich früher genannt hatten. »Was willst Du von mir?«
-
-Der Schnee war heraus -- was nun noch? Hans Henning gab ihre Hand nicht
-frei.
-
-»Das ist ja Unsinn, das ist ja Wahnsinn! Wie kommst Du zu Gregor? Was will
-er von Dir? Er weiß es ja! Er weiß es ja!«
-
-Sie sah sein entstelltes, wild gerötetes Gesicht, die Augen, den
-knirschenden Mund, im nächsten Moment konnte der Tobende sie an die Mauer
-werfen und erwürgen -- sie sah das ganz klar, aber sie hatte gar keine
-Angst, keine Spur von Angst um ihr Leben.
-
-Das war also damit gemeint! dachte sie klar und ganz überlegt.
-
-Sie meinte damit ihr schönes, einsames Traumleben, ihr plötzliches Glück,
-die Betrübnis heute und das Ende hier am Bergweg, an der Gartenmauer.
-Es erschien ihr alles so außerordentlich folgerichtig und gut. Beinahe
-verwunderlich, daß sie das nicht schon vorher gewußt hatte, daß so ihr Weg
-und dessen Ende sein würde.
-
-Aber es war dann doch die Täuschung einer über das Maß hinaus gespannten
-Gehirnerregung. Der Wilde, in dessen Hand sie war, war kein Tier, das
-Blut vergießt, um sich Erleichterung zu schaffen, es war nur ein gequälter
-Mensch, dessen Herz in seiner Not wohl einen Moment lauter schrie, als
-zur guten Manier gehört, der aber schließlich doch noch Du und ich
-unterscheiden konnte.
-
-Er ließ sie los. Es wäre für ihn schöner gewesen, jetzt einfach das Letzte
-zu tun und mitsamt seinem lieben Mädchen hier am Weg rasch und wild zu
-sterben. Er war ein allzu konzentrierter Junge. Es war für ihn jetzt nicht
-mehr viel wert, was nun noch kommen konnte.
-
-Er hatte auch das Fragen vergessen nach Wann, Warum und Wie. Es stand ja
-auch nichts mehr in Frage, es war eine zu müde Sache, jetzt noch den Mund
-aufzutun. Er ließ sie los, ordnete mechanisch etwas am Reitzeug, fühlte
-wieder, etwas bewußter, wie in seinem Arm tobende Schmerzen wüteten,
-schnallte den Zaum los, nahm ihn in die rechte Hand und ging gerade vor
-sich den Weg hinab.
-
-Das Pferd stieß an einen Stein, es gab einen klingenden Ton. Unten am Wege
-stand wieder der Heckbusch, von dem vorhin der Schnee abgerutscht war. Hans
-Henning faßte das Pferd kürzer, damit es nicht noch einmal daran streife,
-denn es war noch einiger Schnee auf dem Busche, der auch noch hätte
-abgleiten können. Das wäre schrecklich gewesen. Weiter wußte er nichts.
-
-Unten ging er gerade vor sich hin weiter, wie er heruntergegangen war. Die
-Dorfstraße entlang bis an den Pfarrgarten. Da wandte er sich rechts und
-stand vor seines Bruders Hause.
-
- * * *
-
-Justine stand vor der Haustür und lugte aus, denn ihr guter Kaffee konnte
-das Warten nicht vertragen. Da kam Hans Henning um die Ecke, den Arm in der
-Binde, das Pferd zerrend wie ein abgeworfener, maroder Reiter.
-
-»Herrjeh, der Herr Baron! Nein, aber so 'ne Überraschung! Der Herr Pastor
-ist noch im Dorfe, aber er kommt gewiß sogleich.«
-
-»Ich werde warten«, sagte Baron Hans.
-
-»Ja, natürlich. O Gott, wird er sich freuen!«
-
-Sie kam herunter, ihm das Pferd abzunehmen und ihn hereinzulassen. Aber sie
-hatte seine Meinung nicht verstanden.
-
-»Ich will hier warten«, sagte Hans Henning.
-
-»Aber doch man nicht draußen, im Schnee.«
-
-»Ja. Es ist gut, Justine, lassen Sie nur.«
-
-Man sieht nicht gern das Trübe, wenn man selber froh gestimmt ist, darum
-kostete es der Justine erst einen kleinen inneren Ruck, ehe sie sagen
-konnte: »Aber, Herr Baron sehen so anders aus -- ist was passiert?« Jetzt
-sah sie auch den verbundenen Arm.
-
-Der Hans machte eine so wütend ungeduldige Schulterbewegung, daß ihr jedes
-weitere Wort auf den Lippen erstarb. Sie öffnete zwar noch einmal den Mund,
-sie wollte doch noch etwas sagen vom Arm und dem Pferde oder dem Kaffee
-und sonst etwas Tüchtiges und Richtiges, aber sie war im Dienst alt genug
-geworden, um Herrenlaunen zu kennen, sie klappte den Mund wieder zu und
-schlich bedrückt hinein. Doch dann ging drinnen ein wildes Kaffeemahlen
-los, an dem sie sich tröstete und erhob.
-
-Hans Henning stand draußen und dachte nur das eine: Ich muß Gregor
-sprechen. Aber danach war alles stumpf und dumpf in ihm. Nur sein Arm und
-Gelenk wütete wie wahnsinnig.
-
-Er streifte den Zügel über eine Zaunlatte an der hölzernen Pforte und
-strich und drückte leise an dem Arm, um die Schmerzen etwas zu mäßigen. Es
-half nicht viel, es schien sogar immer grimmiger zu werden. Er hatte eine
-Anwandlung von Ohnmacht und lehnte sich gegen die Mauer.
-
-Gregor kam, ihm war zu unruhig zumute, um lange in Krankenstuben
-auszuhalten. Da fand er seinen jungen Bruder an der Gartenmauer, er regte
-sich nicht, als er näher kam. Er hatte den Kopf etwas hintenüber angelehnt
-wie ein halb Ohnmächtiger, und Gregor sah trotz der Dämmerung, daß das
-Gesicht totenähnlich blaß war.
-
-»Hans! Warum stehst Du hier draußen? Ist Dir schlecht, Junge?«
-
-Hans Henning öffnete die Augen, mit einer großen Willensanstrengung
-sammelte er sich. Das große Schmerzgefühl innen und außen verzog seinen
-Mund, so daß er wunderlich fremd für den Bruder aussah.
-
-»Hans, ist Deine Hand so schlimm? Komm herein!«
-
-»Laß das!«
-
-Mit einer Kraft, die in gar keinem Verhältnis zu der hilflosen Stellung
-war, in der Gregor ihn gefunden hatte, stieß er mit der gesunden Faust den
-Bruder zurück, der ihn anfassen wollte, um ihn zu geleiten.
-
-»Denkst Du, ich gehe in Dein Haus?«
-
-Er stand jetzt ganz aufrecht, und sein Gesicht fing an, wie im Fieber zu
-glühen.
-
-»Rühr' mich nicht an! Viel haben wir nicht mehr miteinander zu tun. Weißt
-Du noch, im Sommer auf der Veranda? Herrgott, Mensch, da hast Du Dir wohl
-selbst den Weg freihalten wollen? _So_ bist Du? _So_ bist Du? Und ich
-Schaf, ich Esel, ich Narr! Natürlich -- wenn der Hofprediger kommt -- mehr
-als ich hast Du ja immer gegolten. Meinetwegen, nehmt doch dem Hans seine
-Blume weg, was braucht er eine Blume! -- Du! Weißt Du, was heute passiert
-ist? Zwei Menschen hab' ich verloren, die mir die liebsten waren. Na, man
-immer zu, was macht das auch aus --«
-
-Er ging zur Seite, wo das Pferd stand. Der körperliche Schmerz ließ ihn
-einen Augenblick taumeln, dann hielt er sich am Pferderücken und versuchte
-aufzusteigen.
-
-Gregor hatte wie erstarrt gestanden, jetzt stürzte er ihm nach. »Hans, Du
-bist ja von Sinnen. Du darfst so nicht fort. Um Gotteswillen, Dir passiert
-ein Unglück, mein Junge. Sei doch nicht so außer Dir, laß uns über die
-Sache reden. Steige nicht auf, Hans, ich lasse Dich so nicht fort --«
-
-»Du läßt mich nicht?« hohnlachte der andere. »Von jetzt ab wirst Du mir
-wohl nichts mehr zu lassen oder nicht zu lassen haben. Das ist vorbei,
-Bruder Pfaff!«
-
-Die Wut spannte seine Sehnen. Er, der noch eben halb bewußtlos an der Mauer
-gelehnt hatte, flog mit einem einzigen Schwung in den Sattel. Dabei hatte
-er sich ohne Besinnen auf die linke Hand gestemmt. Ein wilder Fluch und
-Aufschrei entfuhr ihm, er riß den Zügel so heftig von der Latte, daß das
-Leder zerriß, das Pferd setzte in die Höhe und im Galopp flog es mit seinem
-verzweifelten Reiter davon. Noch von fern, auf der Dorfstraße hörte man hin
-und wieder einen kurzen, klingenden Ton vom Hufschlag.
-
-Da stand der andere! Da stand er in seiner ganzen Herrlichkeit!
-
-»Hans!« rief er noch einmal in die leere Luft.
-
-Leer, still, tot. Tiefe, regungslose Winterstille hier, wo noch eben die
-wilden Worte brausten. War das noch einmal ein Hufschlag? Vorbei -- --
-jetzt mußte er schon zum Dorfe hinaus sein.
-
-Der wahnsinnige Junge! Es muß ihn jemand aufhalten! Wie sah er denn aus?
-Er stürzt ja. Aber wer will diesem Sturmritt nach? Nur für den Fall, daß er
-gestürzt ist und irgendwo liegt --
-
-»He, Michael Krauthammer!«
-
-Da hinten, wo die Dorfstraße weiter läuft, guckt ein altes Bäuerlein über
-den Zaun. Es ist taub und versteht nicht. Gregor winkt wie ein Rasender, da
-klettert es über die Latten und kommt gelaufen, daß der lockere Schnee an
-der Oberfläche in kleinen Ballen hinter ihm auffliegt.
-
-»Michael, ist Dein Schimmel im Stalle?« Er muß mit voller Lunge schreien,
-sonst kann er es sechzehnmal sagen.
-
-»Jawohl, Herr Pastuhr. Jawohl, jawohl.«
-
-»Willst Du mich fahren, in dieser Minute nach Rummelshof?«
-
-»Nach Rummelshof? Jawohl. Morgen früh, Herr Pastuhr?«
-
-»Rasender Unsinn! Jetzt! Sofort, auf die Minute. Jetzt!«
-
-»Jetzt? Aber -- nun ja --«, er wiegt das graue Köpfchen. »Nu ja, Herr
-Pastuhr, zu gern will ich das. Nur mein' Kaffig erst austrinken, der steht
-in der Röhre.«
-
-Ja ja, laß Deinen Führer nur erst seinen Kaffig noch austrinken. So
-schnell, wie Dein wilder Bruder kommst Du doch nicht fort. Nur sachte,
-kühler Gregor, es ziemt sich nicht für Dich, überzukochen. Fahr Du sachte
-der wilden Spur nach, lies die zerbrochenen Leute auf, das ist ja ein
-heiliges Amt. Oder ist das vielleicht noch heiliger, die Leute erst zu
-zerbrechen?
-
-Er stand im Stall, im Mist und legte selbst dem Schimmel das Geschirr auf.
-Das Bäuerchen weinte beinahe, weil es so schnell fertig sein sollte. Aber
-den Kaffig wenigstens, den ließ es sich doch nicht nehmen.
-
-Wenn ich aufs Gut ginge, bekäme ich schneller ein Fuhrwerk, dachte Gregor.
-Aber ich gehe nicht da hin, und mittlerweile ist's ja auch hier so weit.
-
-Er saß auf dem Strohsacke des Leiterschlittens, und als eben das gemütliche
-Getrotte losgehen sollte, riß er dem Alten die Leine fort. »Es handelt sich
-um Tod und Leben!« schrie er ihn an, »hier heißt's Galopp.«
-
-»O je, o je!« schluchzte das Männchen. »Dat end't jawoll nich gaud!«
-
-Der Schimmel bekam die Peitsche, er dachte, das wäre ein Mißverständnis,
-aber es war keins. Sie sauste wieder und wieder. Da wurde ihm so
-himmelangst wie seinem alten Herrn, und der Schlitten flog durchs Dorf und
-draußen über den höckrigen Weg.
-
-Auf freiem Felde war es noch wieder ein Stückchen heller als im Dorfe.
-Gregor spähte den flachen Weg entlang übers Moor. Jawohl, es flogen Krähen
-auf, wenn er nach denen suchte. Da tanzten in der Luft auch schon wieder
-Schneeflocken.
-
-»Dat ward jawoll 'n Gestiewe«, klagte Michael Krauthammer besorgt. »Am End'
-finden wir unsern Weg noaher nich wedder.«
-
-Gregor antwortete nicht. Die freie Luft hier draußen auf der raschen Fahrt
-tat ihm gut. Ihm wurde klarer im Kopfe.
-
-Sie hat dem tollen Jungen unsere Sache verraten! dachte er voll wilden
-Zornes. Was fällt ihr ein? Wer gab ihr das Recht? Ja, so ist sie: mit
-dem Kopf durch alle Wände, unbekümmert, rücksichtslos. Was macht ihr mein
-Wunsch und Wille aus? Was macht ihr das Unheil aus, das sie stiftet? Sollte
-ich mein Lebelang mich mit dem Löschen abgeben, wo sie Feuer angelegt
-hat? --
-
-Eintönig klapperten ein paar klanglose Schellen am Sielengeschirr des
-Schimmels. Hin und wieder flog der Schlitten über eine Unebenheit des Weges
-heftig zur Seite, daß die Männer sich an dem Leitergerüst halten mußten.
-
-»Wi smieten üm, Herr Pastuhr!« gellte das Männchen.
-
-»Und wenn auch, das macht nicht viel aus«, sagte Gregor unwirsch.
-»Höchstens hält's uns auf.«
-
-Aber es war mit Sorgfalt nicht viel zu machen. Der Weg war so überweht vom
-Schnee, daß man seine Tücken nicht sehen konnte. Dazu schneite es immer
-heftiger und wurde rasch Nacht.
-
-»Sind da nicht Tappen vom Pferd? Ja, da ist er geritten. Aber wer kann's
-erkennen. Eine Laterne hast Du wohl natürlich nicht mit?«
-
-»Wat sall ick hem?«
-
-Schafskopf! dachte Gregor, aber er sagte es nicht laut, weil das nicht die
-geistliche Amtssprache ist.
-
-Je weiter der Weg und näher das Ziel, um so steinerner und kälter wurde das
-Herz in ihm. Die rasch aufgefahrene Angst um den Bruder, die ihm wie
-mit eisernen Händen das Herz gepackt hatte, ließ nach, je mehr die
-Wahrscheinlichkeit eines Unglücksfalles sank. Er hörte auf, das Pferd zu
-peitschen und zu jagen. Als er durch das Schneetreiben die Lichter von
-Rummelshof sah, erwog er schon, ob er nicht umkehren solle. Was er
-wollte, hatte er ja getan: dem Hans auf die Spuren gesehen, ob ihm nichts
-zugestoßen sei.
-
-Dennoch war die Beruhigung zu unsicher. Er konnte auf einem anderen Wege
-übers Moor geritten sein. So fuhr er weiter.
-
-Es war nicht tot zu machen, daß er vor einer Stunde mit einer wahnsinnigen
-Angst im Herzen im Pferdestall des alten Krauthammer gestanden hatte.
-Gregor v. Zülchow hatte nicht viele Stunden wie diese gehabt, sie zuckte
-ihm noch im Blute.
-
-Aber wer wenig Perlen hat, stellt sich um die, die er hat, auch ganz
-besonders gefährlich an. Gregor setzte den wilden Herzschlag, die tolle
-Fahrt, die Not dieser Stunde dem Bruder Hans dick unterstrichen aufs Konto.
-Da! das zahle Du mir erst mal wieder heraus!
-
-So klapperte er auf seinem Bauernschlitten auf den Hof seiner Väter ein.
-Er fuhr auf den Laternenschein zu, der durch entlaubtes Gebüsch von den
-Stallgebäuden her kam. Da stand ein Knecht und rieb Hans Hennings Pferd ab.
-
-»Na also --«, sagte Gregor nur. Er tat keine weitere Frage und wandte den
-Schlitten wieder um.
-
-»Herr Pastuhr, Sei führen ja wedder rut!«
-
-Laß das Bäuerchen schreien, so viel es will. Es hat hier wohl auf einen
-heißen Grog gehofft.
-
-»Da, Michel, nun kannst Du auch wieder fahren.«
-
-»O je, o je -- nee, de Geschicht' begriep ick mien Läwdag nich --«
-
-»Ich habe Dich nicht umgeschmissen, nun schmeiß Du mich auch nicht um«,
-sagte Gregor. Er hatte nicht Lust, um diese Sache nun noch naß zu werden.
-
-Wenn der dumme Junge zur Ruhe gekommen ist, wird sich schon alles
-arrangieren, dachte er.
-
- * * *
-
-Danach kam der Dienstag Morgen. Die Sonne schien wieder, aber blaß aus
-blassem, nichtssagendem Himmel. Der Ostwind strich scharf durch die kahlen
-Bäume, in der Nacht war der Schnee von gestern abend festgefroren.
-
-Gregor hatte einen schweren Kopf. Er saß am Schreibtisch, um eine
-wissenschaftliche Arbeit für eines der theologischen Blätter zu beenden,
-für die er hin und wieder schrieb. Aber er konnte heute nicht. Man räumt
-auch erst bei sich zu Hause auf, ehe man anderen Leuten die Stühle und
-Tische für dieses Lebens Gebrauch zurechtstellt.
-
-Aber er hatte von dieser unpersönlichen Arbeit Klärung und Beruhigung
-erwartet, die blieb nun völlig aus.
-
-Daß ich mich mit dem Kinde nicht verbinden kann, ist mir jetzt ohne
-Zweifel, dachte er. Es ist meine Schmach und Erniedrigung, daß ich dies
-für ein paar tolle Viertelstunden vergaß. Ein boshaftes Geschick oder eine
-absonderliche Schwäche meiner Nerven ließ mich zweimal in derselben Sache
-einen so argen Fehlgriff tun. Bei der kleinen Durchlaucht war es vielleicht
-schlechter, berechnender. Ich hätte schon ihr Gemahl werden wollen, was tat
-mir ihr süßes Schmachten zu Leide? Bei diesem Kinde -- ach, da kann ich
-nur bitten: Erscheine mir nicht! Bleib fern, damit ich so stark und kühl
-bleibe, wie ich muß.
-
-Die Sache ist nicht am Ende. O, wäre sie es! Was steht noch alles bevor!
-Ich kann es nicht vermeiden, was nun kommt. Sie glaubt an mich. Sie kennt
-keine Schwäche und keine Kälte. Sie ist in jeder Stunde das, was sie
-wirklich ist, nicht nur ein abgeblitzter Funke ihrer selbst.
-
-Was noch bevorsteht, ist dieses: Ich muß sie an die Hand nehmen -- ich
-sie! und das ist mein Büßen -- und sie durch das dunkle Tal menschlicher
-Kompliziertheiten führen, das sie noch nie gesehen hat. Ich muß das Grauen
-und die Verachtung in ihren Augen wecken. Das muß ich tun. Sie muß mich
-als Schwächling und Egoisten sehen. Wenn sie weniger unwissend, stark und
-einfach wäre, könnte sie auch die feineren Fäden sehen. So wird sie es
-nicht, und es ist nicht meine Sache, es sie zu lehren. Ich kann an ihrer
-Verachtung und ihrem Grauen nichts ändern.
-
-Hans Henning -- das ist Art von ihrer Art. -- Warum soll das nicht werden?
-
-Er stand auf, ging durchs Zimmer und setzte sich wieder. Am blassen Himmel
-war die Sonne fortgegangen, man sah kaum wohin, so gleichförmig fade und
-weißgrau legten sich die Wolkenstreifen darüber.
-
-Warum soll das nicht werden?
-
-So laß sie beide doch -- und gib der Vernunft Raum und sei kein Narr, der
-eine schlechte Tat auf die andere häuft.
-
-Ja ja, so ist es gut. Keiner braucht sich dabei das Genick zu brechen.
-
-Aber ich, der ich nur die Hand zu öffnen brauche, wo andere kämpfen und
-ringen, ich soll als der einzig Hungrige vom Tische aufstehen? --
-
-Ich _will_ es ja so! Ich _will_ den Wein nicht. Warum kann man ihn nicht
-umstoßen, daß auch andere nicht zu trinken brauchen? Das Königlichste auf
-Erden ist Verschwendung.
-
-Was ist das? Bewegt sich da etwas in der Ofenecke hinter dem Schlot? Diener
-der Kirche, kennst Du denn nicht die grinsende Fratze?
-
-»Was wäre es gewesen, wenn jemand gestern vom Pferde gefallen wäre -- --?«
-
-Weg Satanas! Du hast gesprochen, nicht ich!
-
-Satanas -- ja kommst Du jetzt da herum? Bist licht und schön und frei von
-Gang und hast ein rotbraunes Struwwelköpfchen?
-
-Geist, zerrinne wieder! O Du mein liebes Gesicht -- erscheine mir nicht!
-Erscheine mir nicht!
-
-Die Gartenpforte klinkt. Der Schnee knirscht unter den Tritten.
-
-Jag sie doch hinaus, wenn Du Angst hast!
-
-Nein, nein. Die Entscheidung soll kommen.
-
-Fritzchen, ja -- so etwas wagst Du wieder? Das tut keine sittsame Jungfrau,
-Du wildes, unbedachtes Kind!
-
-O Gregor, das starke Herz, das Männerherz! Reiße es rasch heraus, in den
-Winkel damit, sonst -- -- rasch!
-
-Da klopft es schon.
-
-Da steht sie in der Tür. Wie ist sie blaß geworden in dieser einen
-schlimmen Nacht!
-
-»Gregor«, sagte sie leise, »ich suche Dich.« Es war ein krankes, bittendes
-Lächeln um ihren Mund, das machte sie für ihn noch schöner, als sie je
-zuvor in ihrer lachenden Kraft gewesen war.
-
-Er stand ihr gegenüber -- ihr Sklave.
-
-»Nein!! Es kommt die Reue!« rief er jählings so wild, daß sie
-zusammenschrak. Er hatte es nur sich sagen wollen, nun hatte er es auch ihr
-gesagt.
-
-»Die Reue?« fragte sie zitternd und bange.
-
-»Du bist ein Kind und weißt nichts von mir und Dir!« rief er in demselben
-wilden, starken Tone. »Geh hinaus von hier, geh! Es kommt nichts wie
-Unglück hierbei heraus. Ich weiß das, ich wußte das immer, aber ich hatte
-es in einer törichten Stunde vergessen.«
-
-Damit war sein hoher, starker Ton erschöpft. Er sah, wie sie fahl bleich
-geworden war. Sie bot einen solchen Anblick, daß er glaubte, sie werde im
-nächsten Moment umsinken. Er eilte herbei, ihr einen Stuhl zu geben.
-
-»Nein, danke«, sagte sie, stützte sich aber doch auf die Lehne und sah ihn
-mit den Augen an, die übergroß in dem blassen Gesichtchen standen.
-
-»Du hast mich also nicht lieb?« fragte sie in einem seltsam hohen, wie
-fragend klingenden Tonfall.
-
-Er spielte jetzt wahrlich nicht. Es war eine Schmerzüberwindung, wie dieser
-Mensch sie in seinem ganzen bisherigen Leben noch nicht vollbracht hatte.
-Er gab der Wahrheit, die über Ja und Nein steht, die Ehre und sagte hart
-und stark wie klingender Stahl:
-
-»Nein.«
-
-Ihre Blicke verwirrten sich einen Moment und wurden völlig leer, so daß
-ihn ein kurzes Grausen und gleich darauf ein unendliches Mitleid faßte. Er
-griff nach ihrer Hand und zog sie sanft an sich.
-
-Die Versuchung für ihn war überwunden.
-
-»Es war eine sehr süße und holde Täuschung«, sagte er. »Wir kommen beide
-wohl darüber fort.«
-
-Was hatte er ihr doch erklären wollen von der komplizierten Maschinerie
-seines Seelenlebens? Ach, vor diesen Augen versagen noch ganz andere
-und viel einfachere Erklärungen. Da steht der schlichte, große, starke
-Menschenjammer vor dem ganzen Prunk der analytischen Erklärungskunst, und
-die Kunst fällt zusammen und wird zum Häuflein Schmutz.
-
-Das Leben aber wendet sich und geht hinaus.
-
-»Adieu, Gregor.«
-
-Sie geht hinaus. Es sind nur Minuten verstrichen, wieder klinkt das
-Gartentor. Sie trägt den Kopf geneigt, wie ein freier Vogel, den man
-angeschossen hat, sie schleppt ihre Füße.
-
-Ach ja, das wird ein saurer Gang.
-
-Er, der Pfarrer, steht in seinem Zimmer. Er ist nicht zum Sklaven und zum
-Verräter der eigenen Kraft geworden. Er hat gebüßt, was zu büßen war.
-
-Jetzt schließt er seinen ehrlichen Bund mit der Einsamkeit und mit der
-Kälte.
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-
-Was ist geschehen? Verstehst Du es, Herz? Verstehst Du es, Kopf?
-
-Sie kommt in ihrem Schloßhof oben an. Da steht der alte klobige Turm mit
-seinen vielen Fenstern.
-
-Ein Entsetzen packt sie. Da hinein? Da sitzen wie gestern und alle Tage?
-Einfach weiterleben hinter diesen Mauern?
-
-Es zuckt ihr in den Füßen. Fort, ins Feld hinaus, weit weg. Nur nicht
-wieder hier hinein!
-
-Ins Feld? Ja, da ist Weg und Steg und jeder Stein noch wie er immer war.
-Übers Moor? Oder an den See?
-
-An den See? Weißt Du noch?
-
-Mit einer wilden, hilflosen Bewegung drückt sie die beiden Fäuste vor die
-Augen. Schwarz -- schwarz -- schwarz --
-
-Ins Dunkle! Verkriechen! Das ist das beste!
-
-Hinein.
-
-Wie die Haustür knarrt mit dem altbekannten Ton! Da ist Jakob auf der
-Treppe.
-
-Jakob? Gibt es denn noch Menschen?
-
-»Was gibt's heut' wohl zu Mittag, gnädiges Fräulein?« sagt Jakob, der alte
-Schelm.
-
-Sie steht in der Schulstube und weiß nicht, wie sie hereinkam. Es ist
-eiskalt hier, sie graut sich vor den acht Fenstern.
-
-Da bleibt sie stehen, mitten im Raum, und schreit laut auf. -- --
-
-Das hat geholfen. Das starre, steife Entsetzen ist gelöst. Sie atmet
-wieder.
-
-Sie weiß plötzlich alles -- sie lächelt -- sie glaubt plötzlich nichts.
-Welch ein Schreckbild hat sie geängstigt!
-
-Sie geht an ihren alten zerschnitzten, staubigen Fenstertisch. Ein halb
-zerrissener Zettel liegt herum, sie nimmt ihn und schreibt darauf mit
-Bleistift.
-
-»Ich habe Dich nicht verstanden. Meintest Du so, daß wir uns nichts mehr
-angingen? Aber das gibt es ja nicht. Du kannst mich doch nicht den einen
-Tag lieb haben und den anderen nicht? Bist Du mir über etwas böse, das ich
-getan habe? Warum sagtest Du das nicht --«
-
-Plötzlich hielt sie inne. Sie fühlte es im Nacken, es stand jemand in der
-Tür. Mit einem Erbeben des Grauens kehrte sie sich um.
-
-Da war er. -- Schwarz, stumm, mit demselben eiskalten Gesicht von gestern,
-von der Dorfstraße her, mit einem geisterhaft schrecklichen Blick durch die
-Brillengläser. Er rührte sich nicht, er öffnete nur langsam die Lippen --
-er würde ihr antworten --
-
-»Nein! Nein! Ich will nichts! Ich will nichts!« schrie sie wie von Sinnen.
-Sie sprang auf, der Stuhl fiel um, sie stolperte über eins der Holzbeine,
-die ganze Stube drehte sich, er mit, sie fühlte ein namenloses Entsetzen,
-wie einen Fall in eine unendliche Leere --
-
-»Geh fort! Geh fort --«
-
-Dann wurde es Nacht und stumm.
-
--- -- -- Es stand niemand in der Tür. Nur die acht Fenster, von dem
-einförmigen grauen Weiß des sonnenlosen Schneetages gefüllt, sahen auf das
-bewußtlose Kind am Fußboden.
-
- * * *
-
--- Aber es kamen Schritte. Frau v. Pohle suchte nach Fritzchen. Sie hatte
-im Vorbeigehen Jakob gefragt, der kratzte sich im Kopf.
-
-»Mit der ist wohl was los, gnädige Frau. Die guckte mich eben an, als ob
-sie ihren Klug nicht hätte. Am End' ist sie krank, sie ist wohl zu Bett
-gegangen.«
-
-Im Bett war sie nicht. In der Schulstube war sie.
-
-Ein brennender Schreck durchzuckte die Frau, im Moment war sie neben der
-Gestalt, die wie zusammengeschossen mit dem Gesicht auf der Erde neben dem
-umgestürzten Stuhle lag.
-
-Sie kniete neben ihr. »Fritzchen!« Aber sie konnte den starken jungen
-Körper nicht mit ihren schwachen Armen bewegen. Sie stand auf, um Hilfe zu
-holen, da sah sie den Zettel auf dem Tische.
-
-Sie nahm und las ihn und fühlte einen Moment, wie das Herz in ihr still
-stand. Ihr Gesicht bedeckte sich mit brennender Röte der Not, der Scham,
-um dies junge, herrliche Menschenbild, das hier in Schmach und Jammer vor
-ihren Füßen lag.
-
-Den Zettel steckte sie zu sich.
-
-Auch das noch! Er hat auch mit ihr zu spielen gewagt! Ein kraftschönes
-Leben zerrissen in Eitelkeit und Herzenskälte. O Gott, o Du Gott der
-Gerechtigkeit, triff ihn! Höre mich! Mann und Kinder und all mein
-Lebensglück hast Du mir genommen. Ich stehe in einer Wüste. Ich will nichts
-für mich. Aber höre den Schrei nach Gerechtigkeit. Triff ihn! Vernichte
-ihn, den Vernichter!!
-
- * * *
-
-Es kam über Nacht ein Westwind übers Land in großen, langen Stößen. Die
-Temperatur stieg um mehrere Grade. Als wieder neuer Schnee zur Erde nieder
-wollte, wurde er zu Regen. Es leckte von den Dächern und rutschte von den
-Bäumen. Große häßliche löcherige Vertiefungen fraß das laue Naß in die
-zarte weiße Schneedecke. Auf der Dorfstraße patschten die Pferdehufe,
-schlammten die Räder.
-
-Die Kalesche des Doktors fuhr durch das Dorf. Sie kam von draußen herein,
-wo auf freiem Felde das Werk des Zertauens noch nicht so vorgeschritten
-war, aber hier auf dem höckrigen Pflaster spritzte der Schmutz bis hoch an
-das Verdeckleder hinan.
-
-Überall steckten besorgte Gesichter aus den Türen und hinter dem
-Fensterglas. Um das Fritzchen war der Doktor doch noch nie geholt.
-
-»Was ist denn los?« »Fräulein Fritzchen ist krank.« »Na nu! Uns' Fräulein?
-Aber nee!«
-
-Es wußte es niemand, was in Wahrheit geschehen war, außer Frau v. Pohle --
-und vielleicht noch einem, wenn man es dem zufällig im Dorfe erzählte. Aber
-mit dem redet man doch nicht wie mit einem gewöhnlichen Menschen.
-
-Frau v. Pohle sagte dem Doktor, daß Fritzchen gestern in Ohnmacht gefallen
-sei, eine unruhige fieberische Nacht gehabt habe und heute sehr matt und
-beängstigend teilnahmslos daläge. Sie sah auch den Doktor, dessen Assistent
-sie manches Mal im Dorf gewesen war, leer und gleichgültig an, erwiderte
-seine Begrüßung nicht und gab ihm keine Antwort.
-
-»Laßt mich doch schlafen«, war das einzige, was sie in einer Art von müder
-Verzweiflung sagte.
-
-»Sie muß einen kolossalen Nervenschok gehabt haben«, sagte der Doktor. »Sie
-haben keine Ahnung, gnädige Frau?«
-
-»Nein, nein«, sagte Frau v. Pohle, aber so hastig, daß er ihr die Lüge von
-der Stirn ablas.
-
-»Mit Vater -- Schwester -- es ist nichts passiert?« fragte er.
-
-»O, nicht im geringsten.«
-
-»Es wird sich augenblicklich nicht viel tun lassen«, sagte er. -- »Sie muß
-sich gesund schlafen. Aber sowie sie wieder auf ihren Füßen stehen kann,
-muß sie eine Luftveränderung haben.«
-
-»Jawohl, eine Luftveränderung!« rief Frau v. Pohle in lebhafter Zustimmung.
-
-Na, da kann man sich's ja schon denken, Ihr Heimlichtuer! dachte der alte
-Doktor bei sich. Lieber Gott, menschliche Sachen. Zwanzig Lenze zählt das
-Wurm. Sowas geht vorüber.
-
-»Und mal ein bißchen tanzen, Menschen sehen, Theater, Musik, all solch' ein
-Kram. Sie verstehen mich, gnädige Frau, sorgen Sie dafür.«
-
-»Soviel ich kann!« sagte Frau v. Pohle.
-
-Im Fortfahren dachte der Doktor: Ob es nicht der hochnäsige Laffe im Talar
-ist, der auch hier das Unheil angerichtet hat? Möge ihn der Teufel holen!
-
-Der Fluch des kräftigen alten Doktors und das Gebet der feinen alten Dame
-schloß eine seltsame Verbrüderung. Es haben schon andere Throne gewackelt,
-als man sie niederbetete und niederfluchte. Denn auf Erden sind Mächte am
-Werk, die mächtiger sind als der Westwind über den Schneemassen.
-
-Der Westwind ging um das Pfarrhaus und rüttelte an der Haustür und den
-Läden. Ein Reitpferd stand draußen angebunden, es war ungeduldig und
-stampfte, daß der Schmutz hoch aufspritzte. Ein Mann kam aus dem Hause in
-hohen Stiefeln, er ging durch den Garten, setzte sich zu Pferde und ritt
-davon. Nur der Wind war noch in der Straße. Er trieb den Regen durch die
-Luft und riß den letzten Schnee von den Bäumen.
-
-Jawohl, es ist auch eine Lust, Schönheit zu zerstören! Der Wind löst die
-weiße Decke auf und stößt die phantastischen Kronen von den Mauerköpfen.
-Ihr habt genug bewundert! Hussa, merkt Ihr, wie es trieft, leckt, pfeift,
-klappert, und wie alle Herrlichkeit zufließt?
-
-Der Pfarrer steht im Zimmer und liest einen Brief. »Mein Gregor, denke
-Dir, seit gestern ist Hans fort. Ich glaubte, er wäre zum Arzt geritten,
-es hatte sich mit seiner Hand so außerordentlich verschlimmert. Ich wartete
-ängstlich auf seine Rückkehr und schickte ihm dann einen Boten nach.
-Sein Pferd hat er eingestellt und nur dem Wirt -- denk' Dir, Gregor, dem
-Hotelwirt! -- den Bescheid für mich hinterlassen, daß er schreiben würde.
-Er war schon vorher so seltsam, sonst würde ich mich ja nicht ängstigen.
-Und dann der kranke Arm. Bei dem Arzt ist er gar nicht gewesen! Lieber
-Gregor, wenn Du Zeit hast, komm herüber. Laß mir durch den Boten sagen, ob
-ich Dir den Wagen schicken soll. Oder wenn Du Nachricht von Hans hast, gib
-sie ihm gleich mit.«
-
-»Der Wagen soll kommen!« hatte Gregor bestellt.
-
-Er kannte seine Mutter, sie hatte nicht gewagt, den gleich mitzuschicken.
-Was sollte er auch dort? Ihr sagen, daß er etwas mehr wisse, als sie -- und
-daß auch er eine unbestimmte Angst in sich hege?
-
-Aber er konnte drüben wohl noch Näheres erfahren, er konnte des wütenden
-Jungen Spuren verfolgen. Das würde nicht allzu schwer sein. Er konnte ihn
-in seinem sinnlosen Hinausstürmen aufhalten und ihm sagen: Du hast keinen
-Schmerz und keine Bitterkeit nötig. Was Du für meine Rechte hieltest,
-übergehe ich alles Dir. Und das Weitere besorge Du Dir selbst.
-
-Wie ist solche närrische Verzweiflung doch noch voll Glück, Kraft,
-klopfendem Leben. Um eines kleinen Mädchens willen sich Herz und Genick
-zerbrechen, die Welt einschlagen und nichts sehen, hören, fühlen außerdem,
-das ist wild und frisch wie Jagdlust und ein scharfes Reiten.
-
-Sieh, wie ist der Schnee getaut seit gestern. Wo ist die leuchtende
-Herrlichkeit hin? Der Wind pfeift und der Regen rinnt, es wird eine
-schlimme Fahrt übers Moor.
-
-Justine sagt, es ist Krankheit im Schloß. Es ist schon möglich, daß es hier
-an zwei Enden auf Tod und Leben geht. Laß es gehen, laß es ziehen, rinnen
-und vorüberpfeifen, wie der Westwind, der den Schnee zerschmilzt. Ich stehe
-daneben!
-
-Stolzer Mensch, der also sprechen kann! Tausendmal armer Mensch, der also
-sprechen muß! Es gibt ein Königtum unter den Menschen, das ihre Fesseln
-nicht trägt, nicht den Schutz ihres Daches und die Wärme ihres Herdes
-teilt. Das selbst von dem Schmerz, der ihm Fessel sein könnte, unabhängig
-ist.
-
-Der Ärmste ist zugleich der Mächtigste. König Gregor, es beneiden Dich wohl
-wenige um Deine Krone.
-
-
-
-
-Dreizehntes Kapitel.
-
-
-Damals war die Stunde noch nicht gekommen, daß Fritzchen ihre alte Heimat
-verließ. Es ging nicht. So wie der Doktor und Frau v. Pohle sich das
-zurecht gestellt hatten, ließen sich dieses Kindes Wege nicht ordnen.
-
-Frau v. Pohle hatte heftige Szenen mit dem Papa wegen der
-»Luftveränderung«. Der Papa wurde zum ersten Male ausfallend gegen die
-feine alte Dame. Fritzchen kroch nicht an ihn heran, um Schutz zu suchen,
-sie fühlte sich nicht von ihm beschützt. Sie stand blaß und still und kalt
-und sagte: »Ich reise nicht fort.«
-
-Als sie kaum aufgestanden war, ging sie nach oben, sie wußte, daß sie hier
-einen Zettel geschrieben hatte. Er war fort.
-
-Hatte Gregor wirklich in der Tür gestanden? Oder hatte sie Geister gesehen?
-
-Sie fragte nicht. Ein kaltes Schauern ergriff sie. Nicht mehr daran denken!
-Schon wieder kam das Gefühl des Entsetzens über sie, das mit diesem Raum
-verbunden war. Da stürzte sie hinaus und zitterte an allen Gliedern. Es war
-vorbei für sie mit der Turmstube auf immer.
-
--- Das Grausen verließ sie lange nicht. Sie konnte sich Gregor nicht anders
-denken als mit dem toten kalten Angesicht und dem Gespensterblick
-hinter den Brillengläsern. Sie zürnte ihm nicht, sie suchte nicht nach
-Erklärungen, und niemals, zu keiner Stunde, hoffte sie auf ihn und die
-Wiederkehr von Liebe und Glück.
-
-Nichts -- nichts. Sie graute sich nur. Diese Trennung war in Wirklichkeit
-auf Tod und Leben gegangen.
-
-Aber sie wollte nicht fort. Nicht aus Liebe oder Hoffnung oder Kraft
-geschah das, sondern aus der großen Lähmung heraus, die diesen freigebornen
-und abgeschossenen Vogel befallen hatte.
-
-Am Sonntag hörte sie die Kirchenglocken läuten. Gisela kam in Hut und
-Mantel herein, heute war sie die einzige aus der Familie, die ging.
-
-War das erst der vorige Sonntag, als sie alle dort gewesen waren? _Der_
-Sonntag -- das war erst eine Woche her --?
-
-Fritzchen saß im allgemeinen Wohnzimmer. Sie staunte nur und dabei fror
-sie über und über trotz des warmen Raumes. Sie war in ein großes Tuch
-gewickelt. Wenn sie unter den anderen war, dann graute ihr nicht, nur
-allein mußte man sie nicht lassen.
-
-Herr v. Dörfflin ging an ihr vorbei und streichelte ihr mit seiner breiten
-Hand über den Kopf. »Fritz, was ist's mit Dir? Wo tut's Dir weh?«
-
-»Weh? Gar nicht«, sagte Fritzchen, verwundert über diese Frage.
-
-»Du wirst hier gesund, ja? Du läufst nicht fort?« brummelte er weiter.
-
-»Nein, warum sollte ich fort? Ich bin ja hier ganz gut.«
-
-Mehr wollte er gar nicht wissen, er ging zufrieden seines Weges.
-
-Am Nachmittag kam Besuch. Leopold Schultze, der Sohn des Fabrikbesitzers
-vom Laueschen Familiengut, und seine Schwester Melitta. Sie kamen wegen
-Gisela, sonst aus keinem Grunde. Herr Schultze jun. hatte eine aufrichtige,
-etwas weichliche Schwärmerei für sie, die zwar von seinem Vater, der
-mißlichen Geldverhältnisse auf Hohen-Leucken wegen, nicht mit Entzücken
-betrachtet, jedoch immerhin, aus Gründen einer Adelsverbindung durchaus
-gutgeheißen wurde. Nur hatte Herr Leopold, der ein sehr guter Sohn und
-ein weicher Mensch war, die strikte Weisung mitbekommen, nicht eher seine
-Wünsche in voller Deutlichkeit zu zeigen, als bis Giselas Zustimmung eine
-sichere Sache sei. Denn diese Familie war noch zu neu in dieser Gegend,
-um nicht eine solche Einführung, an der ein Korb hing, durchaus scheuen zu
-müssen.
-
-Gisela hatte seit den letzten Wochen schon den Kopf voll von dieser Werbung
-und der Aussicht, eine Frau Schultze zu werden. Daher war Fritzchens
-wunderliche Erkrankung ziemlich spurlos an ihr vorbeigegangen. Eigentlich
-stand ihr Sinn nach anderen Dingen. Sie hatte gedacht, die beiden
-Rummelshöfer Söhne unter sich und ihre Schwester zu verteilen. Wie -- daran
-war wohl kein Zweifel. Die verwandten Elemente zusammen, so daß nirgends
-Feuer und Wasser sich zu gesellen brauchten.
-
-Sie war ein gar kühles, weltförmiges Menschenkind, in dessen geschickten
-Händen viel Unmögliches möglich wurde. Aber sie hatte auch ihre
-Abhängigkeiten, die sie armselig, bedürftig und ohnmächtig machten. Gregor,
-in seiner dörflichen Pfarre, von der Professur abgesehen, die ihr ziemlich
-sicher schien, war ihr doch immer noch der Liebere und Interessantere und
-Glänzendere, als Herr Schultze mit seinem Geld.
-
-Wer zählt das Herzklopfen eines armen, auf Scheinbilder gestellten
-Mädchens, das zwischen der Frage: ob Schultze -- ob Zülchow in grausamer
-Schwebe hängt, während schon der Sperling in ihrer Hand pickt und droben
-auf dem Dache die schimmernde, flüchtige Taube sitzt?
-
-Auch der Sperling hat Flügel, er sitzt nicht ewig in Deiner Hand -- mahnte
-das geängstigte Herz.
-
-Wie sie dies Hohen-Leucken haßte in seiner kahlen Öde, wo man angewiesen
-war auf zwei, drei junge Leute, wo kein reizvolles Spiel der Eifersucht,
-kein keckes Wagen und Tändeln, kein prickelndes Wetterspiel von Gunst und
-Ungunst stattfinden konnte! Hier saß nur ein braver, langweiliger Freier
-in schwerfälligem Ernst: Nimmst Du mich -- oder nimmst Du mich nicht?
-Und dahinten in Wirrnis und im unbekannten Land flackerte ein helles,
-prächtiges, vielleicht trügerisches Licht.
-
-Sie fing an, nervös zu werden. Nur nicht allein mit ihm! Nur Aufschub,
-Aufschub! Es durfte nichts nach Ablehnung aussehen, und doch durfte auch
-nichts zu sehr ermutigen und dadurch beschleunigen.
-
-Ja -- das sind auch Kämpfe. Der eine hat es auf dieser Ecke, der andere
-auf jener. Tränen und Blut haben sie alle beide, und der Schein ist am Ende
-auch ein Sein.
-
-Im ganzen war es eine brillante Unterhaltung, leicht, graziös, mit
-geistreichem Geblitzel, wie immer, wenn Gisela regierte. Melitta Schultze
-war klug und lustig, sie sekundierte vorzüglich. Gisela war gar nicht
-hübsch, sie hatte ein langes kaltes Gesicht und einen verkniffenen Mund,
-aber sie verstand es so pompös, etwas aus sich zu machen, daß viele Männer
-schwuren, sie sei eine Schönheit.
-
-Ein ganz klein bißchen feiner Klatsch lief zuweilen auch mit unter, aber
-nur wie ein Körnchen Paprika. Gisela verpfefferte ihre Gerichte niemals.
-Heute gab es eine wirkliche plumpe Neuigkeit.
-
-»Der jüngste Zülchow ist verschwunden.«
-
-»Ach! Was heißt das: Verschwunden?«
-
-»Nein, in der Tat, mein gnädigstes Fräulein. Es sollen schon
-Nachforschungen angestellt sein, der Bruder hat auch bei seinem Regiment
-vergeblich angefragt.«
-
-Man lachte darüber. Der eifrige Bericht klang so ein bißchen kindlich. Herr
-Leopold war mit seiner Neuigkeit hereingefallen und schämte sich.
-
-Fritzchen hörte das alles mit an. Sie saß bald am Ofen, bald am Fenster,
-bald mit am Kaffeetisch. Sie sprach nicht mit, sie war blaß und ruhelos.
-Melitta versuchte ein paarmal, mit ihr zu reden, aber sie gab kaum eine
-Antwort, so traumhaft dumpf war ihr zu Mut. Die anderen beiden beachteten
-sie nicht viel. Herr v. Dörfflin hatte über Kopfweh geklagt und war
-fortgegangen.
-
-»Was soll denn mit Hans Henning sein?« fragte sie plötzlich und blieb
-hinter einem Stuhle stehen. Die Frage klang wie im Zorn gerufen.
-
-Herr Schultze sah sie beinahe erschrocken an. »Ach, jedenfalls nichts. So
-ein Streich, wie ein junger Mensch mal macht.«
-
-Wie aus unendlicher Vergangenheit stieg das Bild des stürmischen Jungen vor
-ihr auf. Sie mußte sich erst wieder zurechtfinden. Der erste Klang aus der
-alten lebendigen Welt!
-
-Hans Henning -- ja -- an der Gartenmauer --
-
-»Er hatte eine verstauchte Hand --«, sagte sie langsam, wie suchend.
-
-»Nun, das hindert nicht am Streichemachen«, sagte Gisela, und die drei
-lachten.
-
-Dem Mädchen wurde es plötzlich heiß in dem wollenen Tuch. Sie streifte es
-von sich, ging hin und her, ging zum Fenster und zurück. So war sie schon
-die ganze Zeit über gelaufen, aber in dumpfer Ruhelosigkeit. Jetzt bebte
-und klopfte alles in ihr. Eine unklare Angst hatte sie überfallen, es war
-nicht mehr das Grauen von vordem, sondern ein lebendiges, wildes Empfinden,
-so, als müsse im nächsten Moment die Tür aufgehen und ein Bote des
-Schreckens dort erscheinen.
-
-Es geschieht etwas! Es geschieht etwas! hämmerte es in ihr.
-
-Sie stand und starrte die Tür an: Jetzt muß es kommen!
-
-Es kam etwas. Die Tür ging auf. Es war Jakob in seiner Sonntagslivree.
-Leise, wie ein Schatten, die anderen sahen oder beachteten ihn gar nicht.
-Seine und Fritzchens Augen trafen sich unmittelbar bei seinem Eintritt. Er
-winkte ihr nur zu, sie verstand sofort. Es war gekommen!
-
-Draußen in der Halle sagte er zu ihr: »Der gnädige Herr ist unwohl
-geworden. Ich weiß nicht, was das ist, es sieht ganz doll aus.« Er war
-selber bleich und schlotterte an den Gliedern.
-
-»Wo ist er? Schnell --«
-
-Sie war schon davon, aufs Geratewohl in der Richtung seines Zimmers, er
-schoß ihr nach und hielt sie am Ärmel fest.
-
-»Gnädiges Fräulein -- Fräulein Fritzchen, ich denke -- kriegen Fräulein
-Fritzchen man keinen Schreck -- es ist am Ende wohl ein bißchen schlimm --«
-
-»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte Fritzchen.
-
-Es war so schlimm, wie es sein konnte. Herr v. Dörfflin war vom Sofa
-gefallen, auf das er sich wohl vorhin gelegt hatte. Er lag unten auf der
-Erde. Jakob hatte den Knall gehört, war herbeigestürzt, hatte sich
-die Sache angesehen, seinen Herrn ein bißchen herumgedreht und war
-davongelaufen. Es war doch eine grauliche Sache!
-
-Fritzchen kniete neben ihm.
-
-»Sofort den Doktor holen, Jakob. Sag's draußen. Und dann faß mit an, wir
-müssen Papa zu Bett bringen.«
-
-Sie beugte sich tief über ihn. »Papa!«
-
-Es kam keine Antwort zurück, nicht einmal ein Zucken. Sein Gesicht war
-wunderlich entstellt. Aber er lebte noch.
-
-Ehe der Mensch wiederkam, kauerte sie neben ihm, den Arm unter dem schweren
-Kopf mit den blauroten, gedunsenen Zügen, mit der anderen Hand tastete sie
-ihm nach dem Puls, befühlte die feuchtkalte Stirn.
-
-»Papa, mein Papa --«, murmelte sie immer wieder auf das leblose Gesicht
-nieder.
-
-Es kam Leben in das Haus, die Kunde flog wie ein wilder Vogel durch
-alle Räume. Es kam Hilfe, mehr als nötig war. Draußen wurde nach dem
-Schultzeschen Wagen gerufen.
-
-»Ein Schlaganfall --«, sagte Frau v. Pohle leise. »Ihr armen Kinder --«
-
-Wer findet sich im Wirbel solcher Schreckensstunde zurecht? Alles geht im
-Fluge, und doch kommt nichts von der Stelle. Man macht lauter Hantierungen,
-die nichts nützen. Man versucht dies und das, man steht beiseite und graut
-sich, oder man ringt die Hände und weint, was noch am wenigsten nützt. Da
-läuft Gisela durch das grüne Zimmer, wo sie vorhin gesessen haben, um
-aus Frau v. Pohles Stube Tropfen zu holen, sie sieht noch all das
-Kaffeegeschirr, die halbgeleerten Tassen, sie steht schaudernd still, da
-hört sie Herrn Schultzes Stimme einen ganzen wohllautenden Satz sagen. O
-schrecklich, schrecklich.
-
-Frau v. Pohle hatte in allem Schrecken und Wirrwarr eine stille Freude
-am Fritzchen. Die hatte wohl vergessen, daß sie fror, und all das leere
-Blicken war fort. Sie hatte warme, ruhige, treue Hände. Sie grauste sich
-nicht und schüttelte sich nicht. Sie heulte auch nicht, wie das dumme
-Mägdevolk in den Korridoren. Sie tat, was sie hierbei wußte und konnte
-(viel war es ja nicht), und all ihr Empfinden war nur ein inbrünstiges
-Bitten: »Papa, bleibe hier, lieber Papa!«
-
-Es vergehen hier schon Stunden, ehe der Doktor kommen kann. Man kann
-getrost über das Warten sterben, das ist nun einmal nicht anders.
-Manch armer Schächer im Dorf hat das schon seinem gestrengen Gutsherrn
-vorgemacht. Selbst der Förster, keiner von den Weichsten, hat ihm ein
-paarmal vorgestellt: »Zum wenigsten eine Diakonissin müßte her, gnädiger
-Herr.«
-
-Jawohl! Wer soll das bezahlen? So ein Wesens um das bißchen Kranksein!
-
-Er hatte schon recht. So ein Wesens um das bißchen Leben und Sterben. Was
-nicht mehr halten will, das reißt eben. Er hat auch nie geflickte
-Hemden tragen mögen. Nun behält er auch bis zum Schluß recht: die ganze
-Anstellerei hätte sich ihm nicht rentiert. Eine Diakonissin hätte heute
-auch nur daneben gestanden und zugeguckt, gerade wie es am Ende der Doktor
-tat.
-
-Endlich war er da, aber zu sagen hatte er auch nichts. »Na ja -- das ist
-eben so. Hab's schon lang' erwartet. Wäre es heute nicht gekommen, so käm
-es morgen, bei dieser Konstitution.«
-
-Im Hof rannten die Leute, alle Ställe waren erleuchtet, keiner wußte warum.
-Das war auch »man eben so.« Im eisigen Winde wehte der Lichtschein aus den
-Wagenlaternen des Doktors.
-
-»Er wird nicht mehr zur Besinnung kommen, es geht so hin«, sagte der
-Doktor. »Ich komme im Frühesten noch einmal heran, bis Mittag hält er es
-wohl noch aus.«
-
-Man trug alle überflüssige Beleuchtung heraus, die letzte Nacht für diesen
-armseligen Erdensohn brach an.
-
-Es war Fritzchen, die am besten an dies Sterbebett paßte. Gisela nicht,
-und die Frau, die in dieser Stunde doch eine Fremde war, auch nicht. Diese
-verstand das am ehesten. »Wir wollen uns im Nebenzimmer setzen«, sagte sie
-zu Gisela.
-
-»Ja, ja, Frida war ja immer sein Liebling«, entgegnete Gisela mit etwas
-sentimentaler Betonung. Aber die Sentimentalität war in diesem Moment ganz
-ehrlich.
-
--- Noch gehen die Atemzüge. Noch stöhnt und gurgelt und grunzt es aus der
-Kehle. Noch zuckt und arbeitet das Leben in dem Körper. Fritzchen sitzt auf
-seiner Bettkante und hält seine Hände, streichelt sein Gesicht. Manchmal
-ist es, als ob eine Beruhigungsmacht von ihr ausginge auf den umflorten
-Geist.
-
-Nur eine verhängte Lampe brennt.
-
-Mein Vater -- was war denn unser Leben miteinander?
-
-Wie leidenschaftlich wird das Fragen. Vater, Vater, ich hätte mehr mit Dir
-sein müssen.
-
-Sie beugt sich über das Gesicht, es zu küssen, er merkt es nicht mehr.
-Die Abrechnung an Sterbebetten, das ist die bitterste, aber auch wohl die
-häufigste. Wenn der alltägliche Mensch, den man am Alltag vernachlässigt
-und nicht viel geachtet hat, plötzlich zur Erde stürzt und sein irdisch
-Teil zerbricht und aufgibt, dann steigt er wie im Nu in seinem Wert und
-Ansehen, dann sitzt der andere da und schlägt sich die leeren Hände vors
-Gesicht: Was habe ich verloren! Was habe ich versäumt!
-
-Das ist die alte, gewöhnliche Geschichte.
-
-Die Nacht ist lang, es kommt auch niemand, zu stören. Laß das Kind mit dem
-Vater allein einig werden. Es läuft am Ende doch nicht alles nur auf ein
-Abrechnen hinaus. Es ist doch noch ein vollerer Ton, der erklingt, wenn von
-zweien der eine gehen will. Viel Unbewußtes, das hier klar und hell wird,
-viel leuchtende, starke Liebe, die solange schlief, viel Herzenskraft, die
-niemand verlangte und niemand angerufen hat.
-
-Eine kleine arme Handreichung, ein Helfen und Stützen, ein Trunk Wasser,
-ein beruhigendes Streichen der Hand, das bloße Dabeisein -- das alles ist
-in dieser Stunde das Wirkliche, das Starke, das Einigende für ewige Zeit
-über die Kluft des Todes hinüber, das wiegt tausend Versäumnisse auf. So
-groß und so klein das Leben -- so groß und so klein sind seine Formen.
-Ewigkeit und Sekundenzeit untrennbar verwoben.
-
-Nicht im Jammer der Reue soll das Kind sich vom Vater scheiden. Mit den
-jungen, heißen, lebendigen Lippen küßte sie die zerfallende Form.
-
-»Papa, lebe wohl, mein lieber Papa.«
-
-Es kam schon jemand, aber der störte jetzt nicht mehr. Leben und Tod hatten
-schon ihren großen Bund geschlossen und saßen friedlich Hand in Hand.
-
-»Fritzchen --«, sagte leise die Eingetretene, Frau v. Pohle, »es ist Ihnen
-vielleicht nicht recht, aber Gisela hat gehandelt, ohne mich zu fragen.
-Sie meinte, es sei in der Ordnung, sie hat zu dem Pfarrer geschickt. Er ist
-schon hier und wartet.«
-
-Es war Morgen geworden, obwohl draußen noch Finsternis lag. Sie sah im
-schwachen Lampenschein die dämmernden Züge. »Er versteht ja doch nichts
-mehr, ich werde den Pfarrer zurückhalten.«
-
-Fritzchen sah zu ihr auf, sie ließ die sterbenden Hände nicht los. Ihr
-Gesicht hatte sich in diesem seltsamen Zusammensein verwandelt, es sah klar
-und groß aus. »Der Pfarrer kann kommen«, sagte sie.
-
-Frau v. Pohle ging und holte ihn herein. Sie war beklommen und bange wie
-das Kind dort nicht war. Sie wußte auch nicht, ob sie recht oder unrecht
-tat, sie konnte jetzt nichts als den großen, stillen Augen gehorchen und
-ihren Willen tun.
-
-Überall brannten Lampen, das ganze Herrenhaus war wie illuminiert. So hatte
-Gregor es gefunden, als er in eisiger Morgenfrühe den nächtlich dunklen Weg
-hinanging. Als ob es ihn zu einem hohen und strahlenden Feste grüßte.
-
-Er wartete in Herrn v. Dörfflins Zimmer. Noch hing alter Zigarrenrauch im
-Raum, eine halbgerauchte Zigarre lag im Aschbecher auf dem Sofatisch. Welch
-eine Sprache dies alles führte!
-
-Am Fenster stand Gisela und weinte. Seit er das Haus betreten hatte,
-war die Erschütterung übermächtig über sie gekommen. Es war wohl keine
-Spielerei, daß sie ihn gerufen hatte, wenn auch in ihrem tiefsten
-Winkel, wo die dunklen Motive lagern, solch ein Spielmotivchen vielleicht
-mitgefunden werden könnte. Aber sie hätte auch Pastor Baumann holen lassen.
-
-Unselig Herz, das zwischen Ernst und Spiel sich selbst nicht mehr
-zurechtfindet! Das sich immerdar so trefflich selber zu regieren wußte,
-bis nichts mehr übrig blieb, regiert zu werden, als ein Häufchen
-leichthandlicher und wechselbarer Wetterfähnchen.
-
-Gregor dachte nicht an sie.
-
-Er dachte an den Juni-Nachmittag, als er Herrn v. Dörfflin von dem
-Sterbebette seines Vaters hinausgeführt hatte, weil er kein Recht besaß,
-dort zu weilen.
-
-Mit welchem Rechte nun ging er an dieses Mannes letztes Bett?
-
-Er war im Talar. Jawohl, er kam in der Kraft seines Amtes, als Diener der
-Kirche. Er war nur der Träger seines heiligen Rockes, der Vollzieher eines
-Befehles.
-
-Er wußte, wen er dort finden würde und bebte nicht.
-
-Frau v. Pohle kam, ihn zu holen. Gisela schloß sich an. Da sah er das
-Sterbebett und daneben den Engel auf der Wacht.
-
-Er trat heran. Er sah, er konnte dem Bewußtlosen das Abendmahl nicht mehr
-reichen, noch ihm etwas sagen. Einen Augenblick stand er stumm, er dachte
-nun zu gehen.
-
-Da kam der Geist über ihn. Er öffnete den Mund und sprach mit gedämpfter
-Stimme in einem edlen, schönen Tonfall von dem Leben und seinem Wert, von
-dem Tode und seiner Macht und von ihrer beider Bund. Er sprach von der
-Fülle der Formen innerhalb des Lebenskreises, von der Unerschöpflichkeit
-und Unzerstörbarkeit des Lebens, dem selbst der Tod nur eine Form, seine
-Entwicklungsbedingung ist. Von der Unergründlichkeit des Werderätsels, das
-das Weltall umfaßt und an die Gottheit rührt.
-
-Es war keine Predigt, kühl abgewogen, auch keine Improvisation, bei
-der plötzlich der Gegenstand mit dem Redner durchgeht. Es war ein Anruf
-angesichts des Todes und seiner unabsehbaren Ufer. Gott! wo bist Du? Gott!
-laß uns Dich schauen! Mensch -- wohin gehst Du? Warum warst Du? Warum bin
-ich?
-
-Er hörte es nicht mehr, der Ziehende. Aber er war es doch, der in seiner
-dunklen Sterbestunde den vier Menschen, die ihn umstanden, eine große,
-starke Gnade gab. Noch nie war in diesem Sohn der Kirche das Herz so heiß,
-so voll und groß geworden, noch nie hatte es, den Eispanzer sprengend,
-in so starken Tönen sein dumpfes Ringen und seine helle Erkenntnis, sein
-dunkles Glauben und seine herrliche Anbetung so unbekümmert und ohne
-Zurückhaltung verschwenderisch ausgeströmt.
-
-Zum ersten Male in seinem Leben war er von sich selber frei.
-
-Dies war die größte Stunde seines Lebens, zu der hinein keine Verleugnung,
-von der hinaus keine Reue führte.
-
-Um ihn herum aber stand das Leben wie mit angehaltenem Atem. Sie fühlten
-alle, ob groß, ob gering, ob armselig, ob in der Fülle des eigenen
-Reichtums erbebend, die Schauer der Ewigkeit.
-
-Fritzchen war vom Bettrand hinunter leise, halb unbewußt, in die Knie
-gesunken. Ihr Kopf lag auf der Bettdecke.
-
-Ja -- wohl hielt ihr Leben den Atem an. Wo war er geblieben, ihr Spielgott,
-ihr Katechismusgott, mit dem sie haderte und dem sie an den Fingern seine
-Fehler herzählte? Gegen den sie ausschlug und andere arme Seelen zur
-Rebellion anstachelte? Dieser Vertreter einer menschlichen Mächtigkeit, von
-den Grenzen menschlicher Gesetze umzogen, der Verantwortung und Abrechnung
-unterworfen?
-
-Schauer der Ewigkeit. -- Gehen Dir die Augen auf, Kind der Erde?
-
-»Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein Sieg?«
-
-Die Worte waren verklungen. Noch mischte sich kaum in das Schwarz vor den
-Fenstern der graue Schein des Dezembermorgens. Still brannte die Lampe.
-Still war das Leben hier im Raum.
-
-Zu gleicher Zeit richteten sie sich beide auf und sahen einander an. Sie
-waren keine armen Menschen mehr, keine wirren und heißen Kämpfer um Mein
-und Dein, um Du und Ich, all die Angst und das Grauen und die schreckliche
-Not lag hinter ihnen. Als zwei erlöste Geister grüßten sie sich.
-
-Sie gaben sich die Hände und blickten sich lange an. Dann schieden sie.
-
-Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle -- Hölle, wo ist Dein Sieg?
-
-
-
-
-Vierzehntes Kapitel.
-
-
-Das Leben hatte in heiliger Stunde erschauernd angehalten, jetzt setzte es
-mit starkem Takt, mit Gewirr, Getön und Geklapper wieder ein.
-
-Ludwig v. Dörfflin war im Leben nicht viel gewesen. Nun er tot war, war
-der Mittelpfeiler aus dem Hohen-Leuckener Dasein herausgezogen, und alles
-drohte zusammenzufallen.
-
-Was nun? Wohin mit allem? Was wurde aus der Wirtschaft? Wer befahl jetzt im
-Hause? Wer gab Geld? Wer hatte Geld?
-
-Kaum war der Gutsherr unter der Erde, da liefen beängstigende Schreiben
-ein. Hypotheken, Ablösung, Kündigung, fällige Zinsen -- was schwirrte da
-alles durcheinander. Es war noch acht Tage vor Weihnachten, da kam der
-Inspektor und redete von rückständigem Gehalt. Wo waren die Papiere? Wo war
-Geld? Wer schaffte Klarheit und Ordnung in diesem entsetzlichen Wirrwarr?
-
-Von solchen Geschäften verstand Frau v. Pohle auch so gut wie gar nichts;
-die beiden Kinder ahnten nicht einmal etwas. »Ja, ja, so geht's öfter
-mit plötzlichen Todesfällen«, sagte Herr v. Leisewitz-Deechow, den Frau
-v. Pohle in ihrer Angst am Begräbnistage um Rat anging. Er hatte wohl
-nicht viel Lust, in diesen Kram die Hände zu stecken. »Nehmen Sie einen
-gerichtlichen Verwalter für die Sache«, schlug er vor.
-
-Ist ein Testament da? Ja, wo soll man suchen? In den Schränken liegen die
-Papiere herum wie Waschzettel, wer findet sich da hindurch?
-
-Jeder Briefträger bringt Rechnungen. Ein Zigarrenfabrikant schreibt einen
-groben Brief. Es ist eine heillose Wirtschaft, wohin man auch blickt. Frau
-v. Pohle schläft keine Nacht. Um Gott, die armen Kinder! Da kommt ja wohl
-eine Zwangsversteigerung dabei heraus.
-
-Gisela hat alle Farbe verloren und schleicht wie ein gescheuchtes Huhn
-einher. Den Schmerz will sie schon tragen, aber die Schande kann sie nicht!
-
-Aber es war noch nicht aller Tage Abend. Ein Ruck -- und die wirrtolle
-Jagd bergab stand plötzlich still. Wer hat sie aufgehalten? Von wem kam der
-kräftige Ruck?
-
-Es war Herr August Schultze. Der war von anderem Holz als Herr
-v. Leisewitz. Der stand mit seiner untersetzten, energischen Figur neben
-Frau v. Pohle am Aktenschrank, nahm ihr mit seinen fleischigen und doch
-festen Händen die häßlichen, schrecklichen Papiere fort und sagte in dem
-Ton, den gutwillige Plebejer an sich haben, wenn sie helfen wollen und ihre
-Unentbehrlichkeit durchaus nicht zu verschleiern sich bemühen:
-
-»Das ist nichts für Sie, gnädige Frau. Da finden Sie sich doch nicht durch.
-Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich den Krempel mal ein bißchen zur Hand und
-schaffe da erst Ordnung drein.«
-
-Ach ja, es mußte ihr ja schon recht sein. Sie konnte sich hier die Helfer
-nicht erst aus feinen Erziehungsinstituten verschreiben.
-
-Gisela konnte aus ihrem Winkel herauskommen. Herr Schultze verstand sich
-aufs Zaubern: von der Stunde seiner Ankunft an ging alles unhörbar und
-sicher wie auf Rollen. Alle Angst und Unklarheit war wie fortgewischt.
-
-Er hatte sich gleich zwei seiner Schreiber herüberkommen lassen und sich
-mit denen ein paar Stunden eingeschlossen. Dann kam er, glänzend vor
-Wohlwollen und Frische, mit dem vergnügten Händereiben des Mannes, der ein
-Stück Arbeit hinter sich hat, in das Eßzimmer, wo man mit dem Kaffee auf
-ihn wartete.
-
-Er redete unablässig, während er es sich hier im Kreise der Damen wohl sein
-ließ, aber nur von ganz außenliegenden Dingen. Von seinem Gut und
-seiner Fabrik und auch mit angenehmer Offenheit von seinem arbeits- und
-erfolgreichen Lebensgang, von seinen kleinen mühseligen Anfängen, die durch
-seine jetzige Stellung verklärt und gekrönt erschienen.
-
-Von nun an hielt er das Geschick der Kinder von Hohen-Leucken in seiner
-Hand. Man hätte sich in diesem Falle keine bessere Hand wünschen können.
-Keine Liebe und liebenswürdige Begeisterung, keine Weichheit und kein
-Mitleid konnte so sicher, klar und einzig richtig die verfahrenen
-Verhältnisse ordnen, als es dieser Mann mit dem geschäftsgewohnten Kopf und
-dem kühlen Herzen tat. Er behandelte alle Dinge mit der sachlichsten Ruhe,
-rettete der künftigen Braut seines Sohnes, was noch zu retten war, betrieb
-den Verkauf des Gutes nicht als eine Angstsache, sondern als die durch den
-Todesfall bedingte allernatürlichste Angelegenheit und band dabei durch all
-sein Vorgehen Gisela an Händen und Füßen für seinen Leopold fest.
-
-Frau v. Pohle merkte dies von der ersten Stunde an. Gisela wußte es auch.
-Danach wurde es auch Fritzchen klar.
-
-Es war am heiligen Abend. Kalt, still und dunkel war das ganze Haus. Kein
-Christbaum, keine Lichter, nur die Dienstboten hatten sich Kuchen backen
-dürfen. Herr Schultze hatte in seiner unzarten Manier gedrängt, den Abend
-in seinem Hause mitzufeiern, aber Frau v. Pohle hatte für sich und die
-beiden Kinder voll Bestimmtheit abgelehnt. Herr Schultze konnte es sich
-jetzt schon gestatten, eine starke Verstimmung an den Tag zu legen.
-
-»Gisa«, sagte Fritzchen, als sie beide allein im grünen Zimmer waren, »Du
-wirst den Sohn von da drüben heiraten sollen.«
-
-Gisela bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie fühlte alle diese Tage selbst
-eine Qual und Empörung über den Zwang, der sie in etwas hineinreißen
-wollte, was sie, als freie Gnade zu vollziehen, noch gar nicht entschlossen
-gewesen war.
-
-»Sollen?« erwiderte sie. »Man wirbt um mich, das ist gewiß.«
-
-Ihre Art war erkünstelt, sie hätte gern Kälte und Hoheit gefühlt und
-gezeigt. Aber sie fühlte nur die entsetzliche Frage: Wenn nicht -- was
-dann?
-
-»Tu es nicht!« rief Fritzchen.
-
-Sie stand auf, setzte sich zu ihr auf das Sofa und schmiegte sich an sie.
-
-»Gisa -- fort müssen wir ja nun beide. Hier ist's nun wohl aus. Wie es
-wird, weiß ich nicht. Aber geh nicht zu den Schultzes!«
-
-Matt -- nicht heftig und ohne sich von ihr loszumachen, entgegnete Gisela:
-»Ach, Frida, Du verstehst ja nichts. Du siehst nur den Augenblick, nicht
-das weite, lange Leben. Wenn alles geordnet sein wird, werden wir ein paar
-arme Mädchen sein, Fritz.«
-
-»Ja. Laß das doch. Was schadet es? Wir sind ja gesund. Andere Mädchen haben
-auch kein Geld. Besser, als aus Not und Angst irgend einen reichen Mann zu
-heiraten, ist das doch immer noch.«
-
-»Du verstehst nichts!« sagte Gisela noch einmal. »Wir haben ja nichts
-gelernt, willst Du Wirtschaftsstütze werden oder alten grilligen Damen
-vorlesen oder als Kinderbonne Dich plagen? Und wer weiß, ob wir auch davon
-etwas verstünden oder nur angenommen würden.«
-
-»Gisa!« rief Fritzchen mit wachsender Angst, umklammerte sie mit beiden
-Armen und rüttelte sie, als wolle sie sie aus einem schweren Schlaf
-aufrütteln, »es ist nicht möglich, Du kannst nicht, Du kannst nicht das
-wollen, aus bloßer Verzagtheit und Angst vor harten Stunden Dich selber
-einem Manne schenken, den Du gar nicht einmal lieb hast! O Gisa, besinn
-Dich doch nur, das ist ja grenzenlos schlecht und unwürdig! Du entehrst
-Dich und ihn! Was soll das werden Euer ganzes Leben hindurch -- Gisa, ich
-will für Dich mitarbeiten, Du sollst sehen, daß ich's kann! Ich habe Kräfte
-und mir ist jede Arbeit gleich. Ein bißchen Geld bekommen wir doch auch
-noch mit, wenn alles verkauft wird. Gisa, _das_ wäre die ärgste Rache,
-die Du an Papa nehmen könntest! Das ist überhaupt das Niedrigste und
-Schlechteste, was es auf Erden gibt --«
-
-»Laß los! Frida! Was fällt Dir ein! Du drückst mich ja! Laß los! Was weißt
-Du, Kind --«
-
-»Du bist auch nur augenblicklich in Sorge, und alles ist so dunkel. O tu
-nur das eine, Gisa, tu keinen übereilten Schritt. Laß Dir Zeit, dann wirst
-Du selber sehen --«
-
-»Gnädige Fräulein, da ist noch 'n Weihnachtsbesuch«, sagte Jakob in der
-Tür. Man hatte das Knirschen von Rädern im Kies nicht gehört. Er hielt die
-Tür auf als ein fühlender Sklave, der schon im voraus katzbuckelt, aus der
-Fülle seiner Ahnungen heraus.
-
-»Ach, Herr Schultze --«, sagte Gisela in grenzenloser Bestürzung und machte
-sich aus der Umschlingung der Schwester los.
-
-Es war der junge Herr, Leopold, und er kam als Freier. Das sah Jakob, das
-sah Gisela, das sah Fritzchen. Die Stufen vor der Haustür hätten es sehen
-müssen, so prangte es aus ihm heraus.
-
-Es war heiliger Abend, bei ihm zu Hause brannte der Christbaum, nun holte
-er sich nur noch die Braut dazu. Papa hatte es ihm geraten. So war alles in
-schönster Ordnung.
-
-»Ich erlaube mir, den Damen meine Weihnachtsgrüße --« Er kam ins Stottern,
-es wehte doch wie ein frostiger Empfang von der erschreckten Gisela her.
-Herr Leopold hatte schwache Instinkte, sonst hätte er gemerkt, daß jetzt
-der unpassendste Moment war, den es geben konnte, er hätte Kehrt gemacht
-und sich lieber der Blamage vor dem Papa ausgesetzt, als länger dazustehen
-und den unwillkommenen Liebhaber abzugeben.
-
-Da kam Frau v. Pohle herein. Sie hatte das Rädergeräusch gehört und nahm
-an, daß ihre Gegenwart jetzt nützlich sei. Im übrigen war sie in dieser
-Angelegenheit nicht leidenschaftlich und abwehrend wie Fritzchen. Sie fand:
-Wenn Gisela diesen Bund eingehen wollte, so war weiter nichts verloren, was
-man durch Hinderung ihres Vorhabens hätte retten können. Sie war eine kühle
-alte Dame, die die Dinge nicht mehr wichtiger nimmt, als sie sind. Will ein
-Mädchen lieber einen Geldsack heiraten, als arbeiten und Mühsal tragen,
-so soll man sie um Gottes willen lassen. An einer unwilligen und verzagten
-Mühsalträgerin gewinnt das Reich Gottes und das Menschenreich nicht viel.
-Laßt sie doch heiraten, zur Puppe werden und kleine Puppen kriegen. Wir
-sind auf Erden nicht so arm an guten, starken und blühenden Elementen,
-daß wir uns um die Masse der Zweifelhaften, Halben und Matten die Arme
-ausrenken müßten. »Wir« überhaupt! »Wir« können gar nichts. Gisela heiratet
-doch -- Fritzchen reißt doch Himmel und Erde ein, um es sich selber neu
-aufzubauen. -- »Wir« sind nur zum Zugucken da. Also ruhig Blut.
-
-Sie übersah sogleich die Sachlage. Der Liebhaber als etwas unglückliche
-Figur, Gisela betroffen und ein Bild der Unschlüssigkeit, Frida kriegerisch
-bis zum äußersten.
-
-Was ist es doch für eine treffliche Sache um die gute Erziehung! Man
-braucht gar keine geistige, seelische oder moralische Anstrengung, um als
-Frau von Welt solche Verlegenheitsbilder zurecht zu rücken. Frau v. Pohle
-bat, zu Tisch zu kommen. Sie war etwas stark »erstaunt« über den Besuch
-zu dieser Stunde, ließ ihn sanft und nachdrücklich fühlen, daß seine
-ungenügende Kenntnis der guten Form ihm hier einen kleinen Streich gespielt
-habe, begnadigte ihn dann aber immerhin wieder, indem sie ihn zu Tische
-lud. Die allgemeine Schwüle war abgelenkt, aber die Tatsachen blieben alle,
-wie sie waren.
-
-Folgendes war das Bild dieses Abends.
-
-Fritzchen, wie in Wehr und Waffen, bereit, jeden Augenblick loszuschießen,
-sobald eines von beiden dem Kernpunkt näherrücken würde. Herr Leopold,
-die Unglücksfigur des Abends, sich windend und würgend, als hätte er einen
-schlechtsitzenden Kragen um. Gisela, allmählich aus der Verwirrung zu sich
-kommend, ein Zwitter zwischen Trotz und Ergebung, und Frau v. Pohle, über
-dem allen, die Oberfläche beständig glättend und sich um das Brodeln der
-Tiefe kein Herzklopfen machend.
-
-Sie sah mit einem innigen Lachen des Herzens auf ihren jungen Liebling am
-Tisch. Ach, es ist so wonnig schön, wenn man noch nicht mit seiner Kraft
-herumpufft, als hätte man einen Vorrat von Ewigkeit daran! Wenn man sich um
-irgendeine wildfremde Sache, die man nicht kennt noch übersieht, mit seinem
-ganzen Menschen ins Zeug legt und mit so prachtvoller Zuversicht an den
-Sieg glaubt! Die Jahre des Lächelns und Müdewerdens und Stilleseins
-kommen immer noch früh genug. Heil und Leben, wenn ihnen solche unsinnige,
-gedankenlose Kraftverschwendung brausend erst voranging!
-
-Schlage Du Dich auch nur mit Deinen Enttäuschungen herum, Du, mein schönes
-Kind! Liege am Boden und schreie vor Wut, Empörung und Schmerz! Es gehört
-alles mit dazu. Wir sollen Dich alle beneiden um die Kraft, mit der Du Dein
-Leben lebst.
-
--- -- Und an dem Abend vollzog sich die Tatsache doch noch.
-
-Leopold Schultze fühlte sich beständig von der Erwartung seines Papas
-gejagt. Er hatte immer dessen Hand im Nacken, sonst wäre die Entscheidung
-doch wohl noch verschoben worden. Aber das stärkte seine Schüchternheit
-wie Alkohol, er rannte einfach, wie mit zugekniffenen Augen darauf los. Das
-Fritzchen, vor dem er sich fürchtete, brauchte nur einmal aus der Tür zu
-sein, Frau v. Pohle zur Seite zu gucken, da flüsterte er wie im Sturm seine
-auswendig gelernte Werbung her. Gisela wurde wie mit Blut übergossen,
-sie sagte nicht Ja, nicht Nein. Das war ja nun aber auch Nebensache, die
-Hauptsache, die Erklärung, war geschehen.
-
-So sicher ritt dieser schüchterne Jüngling auf seines Papas dickem Geldsack
-einher!
-
-Von nun an versank er in ein seliges, befriedigtes Schweigen. Nach Tische,
-beim Durchschreiten eines dunklen Zimmers, faßte er sie um und küßte ihren
-Mund. Sie wehrte sich, halb entsetzt, aber das ist ja immer so. »Süße
-Gisela --«, flüsterte er.
-
-Als sie in die Helle traten, strich sie sich mit einem tiefen Aufatmen über
-das Gesicht.
-
-Nun war es also doch so gekommen. Doch es konnte ja auch nicht anders sein.
-Gut, daß die Entscheidung vorüber war.
-
-»Noch nichts sagen!« bat sie ihn.
-
-»Aber bald -- bald!« flehte er dagegen.
-
-Frau v. Pohle sah sich nach ihnen um.
-
-»Na ja!« dachte sie nur.
-
-
-
-
-Fünfzehntes Kapitel.
-
-
-Schloß Hohen-Leucken, das Dorf, das Moor, der See, die Pferde und Hunde,
-die Leute, der alte klobige Turm -- das hat aufgehört zu existieren. Es ist
-wie ein Bild, das im Nebel zergeht.
-
-Es wird Sommer über dem Moor, das Gras steht hoch, die Käfer schwirren,
-der alte Kahn zieht sich ganz voll Wasser und liegt auf dem Grunde -- kommt
-denn das Fritzchen noch immer nicht, das hier zum Sommer gehört wie Gras
-und Käfer?
-
-Der alte wilde Garten ist neu angelegt, ein Tennisplatz ist darin
-abgezäunt. Darin spielen weißbeschuhte Herren und junge Damen den halben
-Tag. Es sind jetzt überall neue große Fensterscheiben eingesetzt, der Turm
-dient zu Logierzwecken und hat elektrische Leitung.
-
-Wie heißt die neue Herrschaft? Es kommt nicht darauf an, Schmidt oder
-Schneider oder noch anders. Wenn sie sonst nur gut sind, aber die Leute im
-Dorf merken nicht viel davon. Man kennt das nicht von der Stadt her, daß
-man sich persönlich um die Leute kümmert. Früher ist es nichts großes
-gewesen, wenn das Fräulein Fritzchen eine Suppe gebracht hat und selber
-am Herde gestanden hat und gekocht. Jetzt reden sie davon, wie wenn sie
-Märchen erzählen.
-
-Der Jakob kann einem leid tun. Ein Höhenmensch war er ja gerade nicht, aber
-doch ein alter braver Knecht. Er lief davon, wenn sein Herr vom Sofa fiel,
-aber die Stiefel hielt er noch immer blank und war so zuverlässig, wie ein
-alter Kettenhund. Der hatte sich auch wunders gedacht, was er war, und nun
-war er nichts. Der neue Herr Schneider oder Schmidt oder Sonstwie wollte
-ihn nicht haben, der hatte selber einen Diener, der anders fliegen konnte
-als dies Klappergestell. Am Ende konnte der Jakob ins Dorf gehen und sich
-von seiner alten Mutter füttern lassen, wenn er nicht auf Tagelohn gehen
-wollte. So ging er eben auf Tagelohn mit dem Dorfpack zusammen. Das war
-auch ein Trauerspiel aus unseres Herrgotts Druck und Verlag.
-
-Rechts herum geht's zum Pfarrhaus. Die jungen kichernden Töchter gehen mit
-ihren Freundinnen die Dorfstraße entlang und stoßen sich an.
-
-»Da wohnt »er«!«
-
-Das ist nämlich auch noch etwas, hier auf dem Lande, der interessante
-Prediger, mit der Hof-Vergangenheit! In den Einladungsbriefen der
-Backfische wird das besonders erwähnt.
-
-Viel Dorfleute sind Sonntags nicht in der Kirche, aber die rosa und
-hellblauen und weißen Backfische sind vollzählig. Ein paar junge Herrchen
-aus Eifersuchtsgründen sind auch regelmäßig dabei. Das ist ein Zublinzeln
-und verhaltenes Kittern, ein Augenverdrehen und Schmachten, daß die Leute
-heraufsehen und sich wundern.
-
-Das ist nun Herrn Gregors Arbeitsfeld!
-
-Wenn ihm übel werden will und matt bis zum Tode, geht er stundenlang über
-die Felder. Er kommt dann auch jedesmal über den Böllinger Kreuzweg, wo
-Möt über den Graben setzte. Möt ist jetzt zahm geworden und geht im
-Ackergeschirr.
-
-Ist das auch das Ende aller unserer Weisheit nach den Stürmen und tollen
-Sprüngen unserer schönen Zeit?
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-Aber es ist viel untergegangen, doch nicht die Kraft und die Herrschaft.
-
-Kennst Du den Rausch der Selbstüberwindung? Kennst Du den Triumph, der
-höher ist als alle Kränze des Lebens, wenn der Mensch von sich selber frei
-wird?
-
-Königlich ist die Unabhängigkeit von den eigenen Wünschen. Sie ist
-mächtiger als das Schwert in der Brust, und sie spottet der Dornen unter
-den Füßen.
-
-Die jungen Kinder eines hohlen Daseins schmachten ihn an und verdrehen sich
-nach ihm die Hälse. Sie wissen nicht, wen sie verehren. Seine Welt
-kennen sie nicht, und kennten sie sie, so würde ihnen grauen vor ihrer
-übermenschlich stolzen, kalten Einsamkeit.
-
- * * *
-
-Doch eine einsame alternde Frau, die Mutter dieses Mannes, konnte ihm auf
-dem schmalen Wege nicht folgen. Sie saß in ihrem leeren Hause und hielt nur
-abgerissene Fäden in ihrer Hand.
-
-Die beiden Söhne fort. Der eine, der nahe, den sie alle Tage sehen konnte,
-wohl noch am weitesten. Worte sind nichts, sie sind wie ein Schrei,
-ausgestoßen auf schwindelnder Bergeskuppe, verflatternd in der leeren,
-unendlichen, stummen Weite. Tränen sind nichts. Ach, was fragte dieser Sohn
-nach den Schmerzen der Zurückbleibenden da unten im Tal?
-
-Es war eine Mutterqual, die sich durch dies ganze Leben gezogen hatte. Nun
-war dies Leben müde davon. Es brachte kaum noch Angst und Erregung für den
-zweiten der Söhne auf.
-
-Hans Henning hatte geschrieben. Nach vielen Nachforschungen, Besorgnissen
-und Ratlosigkeiten wirkte der Brief fast wie eine Ernüchterung auf sie.
-Stempel Lissabon. Die Form kurz bis aufs äußerste. Er habe den Abschied
-schriftlich genommen und sei jetzt auf einer Reise um die Erde. Nach
-Jahresfrist oder etwas später werde er kommen und das Gut übernehmen.
-Geldmittel habe er sich bei dem Freunde des Vaters, Herrn So und so,
-verschafft, er bitte, sie ihm zurückzuerstatten. -- Weiter nichts.
-Nicht einmal den Namen seines Dampfers hatte er genannt, keine Adressen
-angegeben, jegliche Möglichkeit einer Verbindung bis zu seiner Rückkehr
-total abgeschnitten.
-
-Frau v. Zülchow fragte: »Gregor, hast Du einen Streit mit Hans gehabt?«
-
-»Ja«, entgegnete er. »Aber es war ein Mißverständnis von ihm.«
-
-Ein feines, brennendes Rot überzog ihr Gesicht, als sie mit großer
-Überwindung, und doch getrieben von ihrer Begier, nicht außen zu stehen,
-fragte: »Ist es -- Gregor, Du mußt diese Frage verstehen -- handelt es sich
-um die jüngste Dörfflin hierbei?«
-
-»Ja, Mama«, sagte Gregor ruhig.
-
-Sie wollte noch Tausendfaches fragen, aber sie wußte nicht wie, und sie
-blieb stumm. Das hatte sie jetzt gelernt in ihrer schweren Zeit.
-
-Abgerissene Fäden hielt sie in der Hand. Auch der Hans, dessen Liebe und
-fröhlicher Gegenwart sie so sicher, fast gleichgültig sicher gewesen war,
-hatte den seinen abgerissen. Der Mann, ihr Gatte, der ihr ganz zugehört
-hatte, war tot. Wo war all der Besitz hin, in dem man einst wie in einem
-blühenden Ährenfeld stand?
-
-Sehnsucht nach Hans -- das war jetzt wohl noch das einzige, was Sinn und
-Lebenszweck hatte. Diese Tränen brannten wenigstens das Herz nicht aus. Sie
-suchte die Erinnerungen an Hans zusammen, die Kinderbildchen und ähnlichen
-Kram. Sie saß stundenlang und grübelte, um sich seine Worte, Handlungen,
-Bewegungen ins Gedächtnis zurückzurufen und konnte es kaum fassen, wie
-verschwenderisch sie früher gewesen war.
-
- * * *
-
-Gisela v. Dörfflin gab es nicht mehr. Dafür eine junge Frau Schultze auf
-Gut Böllingen. Der Papa hatte seinem Sohn das Gut und auch die Zuckerfabrik
-überlassen und war mit Frau und Tochter zu einem seiner anderen
-Fabriketablissements übergesiedelt. Nun konnte das junge Paar nach einer
-oberitalienischen Hochzeitsreise »in ungestörtem Zusammensein seine
-Flitterwochen verleben.«
-
-Süße Zeit. Gisela fand sie auch süß genug. Ach, man mag die Seele
-aufspannen, wie man will, die sieben fetten Jahre nach den sieben mageren
-Jahren sind doch nicht nur ein Tand, den man sich ohne Zucken vom Ärmel
-schütteln kann. Fritzchen weiß so etwas noch nicht, es liegt auch zum
-großen Teil an ihrer mangelnden Weltbildung.
-
-Reisen -- reisen! wohin man will, immer in die besten Hotels, immer an
-gebückten Kellnerhäuptern vorüber. Kunstschätze, Naturschätze sehen, ohne
-auch nur an das Geld denken zu brauchen. Einkaufen nach Belieben und mehr
-als man beliebt, so beflissen kommt Leopold jedem Wunsch zuvor. Die ganze
-Welt in ihrer Schönheit steht plötzlich offen. Liebe Seele, es ist doch
-noch eine große Frage, ob Dein Handel so schlecht war und ob der Einsatz
-nicht reichlich den Gewinn lohnte!
-
-Ja, Gisela Schultze muß ja am besten wissen, wie hoch ihr Einsatz
-gilt. -- -- --
-
-Insofern hatte Frau v. Pohle recht: solch ein Handel geht meistens richtig
-auf, und der Verkäufer weiß schon so ungefähr, was seine Ware wert ist.
-
-Mit diesem Knalleffekt konnte Frau v. Pohle abgehen, die Rolle in diesem
-Hause, die sie so stark und mit ihrem ganzen Menschen gespielt hatte, war
-aus. Sie mußte sich eine neue Stellung suchen, das war für sie wohl eine
-leichtere Aufgabe als für ihr liebes Herzblatt, das Fritzchen, das jetzt in
-der gleichen Lage war. Sie hatte Referenzen und Erfahrungen, und Fritzchen
-hatte beides nicht.
-
-Vielleicht konnte diese als arme Verwandte bei den Schultzes bleiben?
-Inmitten ihres großen Schmerzes lachte Frau v. Pohle laut bei diesem
-Gedanken. Ja, da kennt Ihr mein Fritzchen schlecht! Arbeit und Mühsal kann
-sie viel ertragen und es wird denen, die sie lieb haben, weher tun als ihr,
-aber ein weiches Bett sucht sie sich nicht.
-
-Das war Frau v. Pohles Zuversicht und Stärkung in den schweren Tagen, als
-der Abschied kam und die Zukunft sich dunkel und verworren auftat.
-
-Herr v. Leisewitz-Deechow hatte in Berlin eine alte Cousine, die kränklich,
-halbblind und hilfsbedürftig war. Mit ihrer letzten Gesellschafterin hatte
-eben eine trubulöse Entzweiungs- und Verabschiedungsszene stattgefunden.
-Herr v. Leisewitz war noch etwas von seinem Gewissen geplagt, als er Herrn
-Schultzes rührige Helferschaft und den darauf eingeheimsten Heiratslohn
-gesehen hatte. Nun wollte er sich wenigstens um Fritzchen bemühen und
-verfiel als erstes Bestes auf diese Stellung bei seiner alten Cousine, die
-ein sehr hohes Gehalt zahlte und dafür sehr starke Anforderungen stellte,
-von denen er freilich nichts wußte. Sollte aber Fritzchen für ihre alten
-Tage sichergestellt sein, so mußte sie jetzt schon einige Jahre zusehen, wo
-sie Geld her bekam.
-
-Es war damals auch der Wundermut und die Begeisterungskraft in ihr, die
-oft aus der einfachen Gegensätzlichkeit entspringen. Daß Gisela solchen
-unwürdigen, armseligen Entschluß gefaßt hatte, straffte _ihr_ das Herz.
-Nun gerade! Sie hätte am liebsten Steine gekarrt in dieser brausewütigen
-Wallung.
-
-Aber der öde Werktag mit seiner unfruchtbaren Mühe hatte etwas
-Niederziehendes. Wie oft nachher, erst im heißen Sommer, dann im kalten
-Winter, wenn sie spät abends in ihrer schlechten, engen, fast unheizbaren
-Stube saß, todmüde vom vielen Laufen, Treppensteigen, Besorgen, heiser vom
-ewigen Vorlesen, dumpf vom leeren Geschwätz -- wollte ihr der Wundermut oft
-elend zusammensinken. Aber der große Sturm, der sie wachgerüttelt hatte,
-ließ sie auch hier, in der freudlosen Vereinsamung, nicht untergehen.
-
-Erst, als sie noch ein Kind an der Seele gewesen war dem Unbegreiflichen
-und Zermalmenden gegenüber, war das Grauen vor dem Tode über sie gefallen.
-Aber in jener wunderbaren Nacht hatte das allmächtige Leben es besiegt.
-
-Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein Sieg?
-
-Es ist keine Zeit da für andere Dinge. Unsere Wünsche, unsere Sehnsucht,
-unsere Schmerzen verstummen alle vor dem großen klaren Gesicht des Lebens.
-
-Das war die große Befreiung, die für diese arme Seele gekommen war. Nun
-brauchte sie keine Erfüllung mehr, noch Schutz, noch Hilfe, noch Trost. Sie
-hatte das Entsetzen verloren, nun sah sie in reinerem Licht unvergänglich
-und unverlierbar den wieder, dem ihr Herz seine junge starke Liebe gegeben
-hatte, jene stolze Liebe, die unabhängig ist vom Ja und Nein der Tatsachen,
-vom Echo des eigenen Schalls.
-
-
-
-
-Sechzehntes Kapitel.
-
-
-Es ging mehr als ein Jahr herum.
-
-Auch in der eisigklaren Region des Weltüberwinders, der in sich das Herz
-erfrieren ließ, um der Schmerzen spotten zu können, gab es noch Stufen der
-Entwicklung und Klärung.
-
-Wohl ist die Askese stark wie süßer Wein, aber Rausch ist nicht
-Wirklichkeit, und nur die Wirklichkeit befreit.
-
-Pfarrer Gregor hörte auf, sein Leben hier auf dem Dorfe als seinen Zweck
-und Abschluß anzusehen, wie man aufhört, Arznei zu trinken, wenn die
-Gesundheit kommt.
-
-Er war ein ungenügender Dorfprediger, das Volk verhungerte bei seiner
-nutzlosen Mühe. Sein Weg im Leben lag wo anders, da wo er seine Gaben und
-Kräfte in Wahrheit nutzbar machen konnte. Er arbeitete an einem Werk,
-das ihm die Professur einbringen würde, wie er, gestützt durch seine
-Verbindungen, ziemlich sicher annehmen konnte.
-
-Es war ein kühles, frisches Arbeiten. Er war erlöst von der Zwiespältigkeit
-in sich, von der Welt der Leidenschaften, von Liebe und Haß. Er stand,
-abgelöst von der Welt, wie ein hoher Berg mit Schnee auf dem Gipfel. So
-hatte er seines Wesens Art gefunden.
-
-Da kam ein leuchtender Septembertag. Gregor hatte fast die ganze Nacht
-gearbeitet, bis zum Morgen ein halb Fünf, als es schon hell zu werden
-begann. Da war sein Werk fertig und vollendet!
-
-Er hatte sich niedergelegt und zwei Stunden fest und tief geschlafen.
-
-Er erwachte. Die Sonne schien ihm bis auf das Bett, ein hohes Glücksgefühl
-war in ihm. Er kleidete sich an und ging hinaus.
-
-Weit und klar dehnte sich der Horizont. Es war eine Frische über dem Lande,
-die wie lauter Lebensodem in die Lungen drang. Er schritt durchs Dorf, er
-sah die Menschen nicht, die ihn grüßten.
-
-Und wieder kam er über den Böllinger Kreuzweg, aber er wußte nichts
-mehr von Möt und von dem wildschönen Bilde, das einstmals hier an ihm
-vorbeigebraust war.
-
-In der Morgensonne, von Tau übersät, blinkte das Moor. Dahinten lief der
-Fahrweg nach Rummelshof.
-
--- Rummelshof, Hohen-Leucken, die Mutter, Hans, Prinzeß Maria und Fritzchen
--- es sind alles zerflossene Bilder. Sie mußten zerfließen, damit das klare
-reine Bild des abgelösten Lebens entstand.
-
-Er ging lange umher, bewegt von seinem Siege, und doch schon zu frei,
-um noch stolz zu sein. Schon war das Errungene, das Gewordene: Das
-Selbstverständliche.
-
--- -- -- Was war es an der Zeit? Vielleicht schon gegen Mittag, er hatte
-seine Uhr vergessen.
-
-Da kam jemand über das Stoppelfeld daher, im Lauf. Wer läuft denn so? Vor
-Jahren hat es so einen gegeben. Jawohl, der ist nun wieder zurück: Hans
-Henning.
-
-Er blieb stehen. Willst Du zu mir? Es ist jetzt nicht mehr viel zu holen,
-von Bruder zu Bruder. Es ist mittlerweile der Frost übers Land gegangen.
-
-»Steh still! Steh still!« rief der von weitem. Nun ja, er stand ja schon
-lange still. »Laufe doch nicht so! Ich warte ja!«
-
-Es stand ein alter Weidenbaum am Feldweg, der war von oben bis unten
-aufgeschlissen, und die Hütekinder spielten darin Verstecken zur
-Sommerszeit. Es war an diesem Weidenbaum, daß sich die Brüder trafen.
-
-»So bist Du jetzt zurück, Hans?«
-
-Hans Henning war rot im Gesicht wie gesotten und er mußte nach Atem ringen,
-da er still stand. Er war sehr verändert, mager und verbrannt. Das Haar
-war lang gewachsen, und um den Mund hatte er einen wunderlich wilden Zug.
-Gregor sah auf die linke Hand, die so seltsam niederhing. »Hans, was ist
-mit der?«
-
-»Lahm geblieben von damals her. Rede nicht davon, ich habe andere Dinge
-vor.«
-
-»Hans, wir wollen uns doch erst begrüßen.«
-
-»Jawohl!« rief der andere überlaut in einem unheimlichen Ton. »Ich will
-Dich schon begrüßen, aber nicht mit Händedruck. Sage mir -- wo hast Du Dein
-Weib?«
-
-»Mein Weib?«
-
-»Wo hast Du Dein Weib -- -- Schuft! Bin ich darum im Jammer in die Welt
-gerannt als lächerlicher elender Liebhaber, dessen Schatz schon einem
-andern gehörte, daß ich nun wiederkomme und finde sie als Dienstmagd
-wieder, in einem Loch von Stube -- und der edle Herr, der sie geküßt hat
--- -- Gregor, mit welchem Recht hast Du sie geküßt?«
-
-Gregor trat einen Schritt zurück, seine Augen wurden nach dem ersten
-Aufleuchten wieder um einen Schein kälter. Was warf sich ihm hier von neuem
-in seinen Weg?
-
-»Ich brauche auch keine Antwort!« rief der andere mit wildem Lachen. »Ich
-wollte Dich nur noch einmal wiedersehen -- Dich Teufel, der mein und meines
-kleinen Fritz Leben zerstört hat --«
-
-Er verstummte einen Augenblick, überwältigt von alten Gefühlen. »Ich suche
-Dich schon lange --«, sagte er mit wankender Stimme. »Ich mußte Dir doch
-erzählen, was aus ihr geworden ist, seit Du sie fortgeworfen hast wie
-eine leere Nußschale. Gestern habe ich sie gesehen! Der Leisewitz von den
-Dragonern, den ich traf, hat es mir erzählt, wo sie ist und -- was sie ist.
-Willst Du's auch hören? Die Dienerin eines alten, grämlichen, kleinlichen
-Weibes! Aber eine stolze Dienerin, bei Gott! Die arme Hilfe, die ich ihr
-anbieten konnte -- na, lassen wir das. Ich konnte sie ihr ja auch nur mit
-der einen Hand anbieten -- Aber wem erzähle ich das, Du kaltes Gesicht --!«
-
-Gregors Ausdruck riß alles wieder um. Besinnungslos kam die Wut über
-den Jungen. »Du Gesicht -- Du Gesicht -- ich will Dich lehren, zu
-blicken -- --«
-
-Er ballte die Faust und schlug blindrasend dem Bruder ins Gesicht. Der
-taumelte zurück und schrie auf. Die Brille flog in Scherben nach allen
-Seiten.
-
-»Ei ja!« rief Hans Henning laut gellend. »Das kann ich doch noch mit der
-einen Hand! Wird Dir jetzt bei Deiner Gottähnlichkeit bange?«
-
-Dann warf er noch einen Blick auf ihn zurück, der wie ein Trunkener
-taumelte und sich Stirn und Augen mit den Händen bedeckte.
-
-»Jetzt habe ich genug --«, sagte Hans Henning mit veränderter, schwerer
-Stimme. »Jetzt gehe ich nach Hause und arbeite und mache aus meinem
-Leben das Anständigste, was ich noch kann. Lebwohl! Ich hasse nicht mehr.
-Vielleicht kommt auch noch einmal ein Tag, an dem ich nicht mehr liebe.«
-
-Er wandte sich ab und ging davon. Gregor nahm die Hände von der dröhnenden
-Stirn, von den matten Augen, die der Gläser beraubt waren, und sah ihm
-nach.
-
-Er fühlte nicht Schmach oder Zorn. Noch einmal hatte sich mit seiner ganzen
-Wucht das Leben über ihn geworfen, ehe es ging und ihn in der Eiswüste
-zurückließ.
-
-Bange vor der Gottähnlichkeit -- hatte Hans gesagt. O ja, dies Bangen
-wird aufwachen, noch immer wieder, je und je, mitten wohl in seinen
-Königsstunden -- eine niemals ganz verlöschende Erinnerung an das Leben,
-das er verraten und verleugnet hat.
-
-»Vielleicht hättest Du noch besser treffen sollen, mein wilder Hans!«
-dachte er.
-
-Dann wandte er sich und ging in entgegengesetzter Richtung davon.
-
- * * *
-
-Vor Zeiten gab es einmal eine verqualmte Herrenstube in einem
-windverlorenen alten Haus. Da saß ein rotes, rundes, schläfriges Gesicht
-und blinzelte verstohlen seine junge Gefährtin an. Jetzt ist kein Qualm
-in der Stube, auch kein rotes Junkergesicht, und der wilde Wind kann hier
-nicht herein. Aber Frida v. Dörfflin hört ihn doch, wie er über das Moor
-pfeift, und weiß, was er ihr zu sagen hat.
-
-O Du webende, wogende, wallende Phantasie! Bist Du noch dieselbe, die
-in der Turmstube mit am Fenster stand, als die Wolken gingen? Zeige Dein
-Gesicht!
-
-Die Frage kommt zurück: Bist denn Du noch dieselbe, Du Ungestüm?
-
-Das wird ein wunderbares Wiedersehen! Sie sind ja beide miteinander
-gegangen, denselben, steilen, schaurigen, mächtigen Weg, ohne sich
-anzusehen. Jetzt stehen sie staunend: Wie bist Du anders und doch so
-bekannt!
-
-Die Finger werden steif vor Kälte hier in der schlechten kleinen Stube, und
-der Kopf tut weh vor Müdigkeit. Aber das kommt alles kaum zum Bewußtsein.
-Ja, das hat sich der alte Junker auch wohl kaum gedacht, daß sein Fritzchen
-so verfroren und müde vom Dienst über denselben wunderlichen Schreibereien
-sitzen würde, die ihn einst ungerechterweise gegen Fräulein Miller
-aufbrachten.
-
-Als der Winter zu Ende ging, war es mit Fridas überlasteten Körperkräften
-auch am Rande. Sie fiel am hellen Tage vor Erschöpfung fast in Ohnmacht.
-Sie war mager geworden, und ihre Kopfschmerzen quälten sie. Schon die
-letzten vierzehn Tage über hatte sie abends sogleich zu Bett gehen müssen,
-ob es ihr gleich schwerer fiel als die sauerste Arbeit.
-
-Frau v. Leisewitz war halbblind und hörte nur durch andere Leute, daß ihre
-Gesellschafterin sehr elend aussähe. Das ärgerte sie. Es ärgerte sie auch,
-daß Fritzchen vergeßlich und langsam geworden war, es ärgerte sie mit
-Recht wegen des hohen Gehaltes. Sie ließ sich über diese Dinge aus in einem
-bissigen Ton.
-
-Da wachte der junge Menschengeist auf, der Winters über unter einem Bann
-weltentrückter Träumerei gestanden hatte. Da sah er, wo er war und wo sein
-Weg im Leben lief.
-
-Er konnte nicht Frau v. Leisewitz dienen, und der großen stummen Macht
-seiner Tage, der Königin Phantasie.
-
-Fritzchen fühlte sanft und reuig gegen die wütige alte Dame. Die war
-so hilflos und war so gründlich mit ihr hereingefallen! Als es an das
-Gehaltauszahlen kam, erschrak sie fast über die Hunderte, die sich vor
-ihr aufbauten. Sie wollte nicht so viel, das war ja wie ein Hohn auf ihre
-verträumte Lässigkeit. Frau v. Leisewitz fand dies verspätete Sträuben
-geschmacklos. Herr v. Leisewitz-Deechow bekam einen Brief seiner Cousine
-und konnte sich zum zweiten Male in der Dörfflinschen Sache verlegen den
-Kopf krauen.
-
-Fritzchen blieb in Berlin, mietete sich eine kleine hochgelegene Stube,
-packte ihre Sächelchen in die verquollene Kommode, die nie ganz zuging,
-schlief sich aus und fand sich dann allein mit ihrer rätselhaften
-Gefährtin.
-
- * * *
-
-Flatternde Vögel flogen aus der kleinen Schreibstube und setzten sich den
-Leuten auf die Köpfe, auf die Hände und auf die Herzen. An manchem flogen
-sie auch vorbei, ohne daß er sich umsah. Das waren die Träume, Gedanken
-und Gestalten von Fritzchen v. Dörfflin, die unter Wolken und Winden
-aufgewachsen und durch ein starkes Leben und ein starkes Sterben mitten
-hindurchgegangen war.
-
-Es waren gewißlich viele, an denen die Vögel vorbeiflogen und denen sich
-das Umsehen danach nicht lohnte. Was lag ihnen an Wolken und Winden und dem
-alten Sang von Tod und Auferstehung?
-
-Aber es gab viele verlorene Wanderer im Erdenleben, die froh und bang ihre
-Straße zogen, denen flog plötzlich so ein freier Vogel auf die Hand. Sie
-sahen ihn an und sagten: »Dich kenne ich doch schon lange und wußte nur
-nicht, wie Du heißest.«
-
-Aus diesen Leuten kam allmählich Fritzchens neue Welt zusammen.
-
-Eines Tages nahm sie ihre Sachen wieder aus der verquollenen Kommode heraus
-und zog in ein anderes Haus, und als ein paar Jahre vorüber waren, wußten
-es eine ganze Menge Leute, daß der kleine Märchenfritz ein heißes, stolzes
-Künstlerblut in sich hatte.
-
-Eine feine alte Dame, die wieder in einem verwaisten Haushalt das Zepter
-führte, sagte bei Tisch, als man begeistert von Frida v. Dörfflin und ihren
-Büchern sprach, ganz ruhig: »Das habe ich schon längst gewußt!« und bildete
-sich so viel darauf ein wie alle Leute, die etwas, »schon längst« gewußt
-haben. Am Ende aber kam es so weit, daß sie auch einen Umzug machen konnte
-und zu ihrem Fritzchen als treue und parteiisch verblendete Mutter ging.
-
-Sie nannte es Du, wie sie es seither in allen ihren Gedankengesprächen
-genannt hatte, und sagte zu ihm: »Es ist hohe Zeit, daß jemand nach Dir
-sieht!« Damit meinte sie noch etwas ganz Besonderes.
-
-In der ersten Zeit versuchte sie es auch noch mit Predigen: »Du bist ein
-phantastischer Narr! Steht Dir nicht die Welt, da sie am schönsten ist,
-weit offen? Du hast starke und feine Menschen zu Freunden. Was kostet es
-Dich, dies fließende, ziehende Leben voll schöner Bilder festzuhalten und
-es zu einem einzigen mächtigen Bilde zu verdichten, indem es in den Rahmen
-des Weibtums, des Muttertums eingeschlossen wird?«
-
-Fritzchen sagte nicht viel dazu, führte keine Dispute, sich zu verteidigen
-und andere Leute zu überzeugen. Sie sah nur aus so wundersam erstaunten
-Augen auf diese Darlegungen. Da wurde plötzlich Frau v. Pohle ganz von
-selbst nachdenklich. Es kam ihr ein Wort in den Sinn, das ließ sie nicht
-los.
-
-»Du hörest sein Sausen wohl, aber Du weißt nicht, von wannen er kommt und
-wohin er fährt.«
-
-Ihr wildes Fritzchen war am Ende auch so ein Bote Gottes über den Feldern.
-Dem kann man wohl nicht die üblichen Straßen und Wege zeigen, der geht,
-wie er gehen muß. Vielleicht war ihre arme junge Liebe, so traurig und
-kümmerlich sie aussah, doch zu groß und stark und mächtig gewesen, als daß
-ihre Kraft jemals sterben oder durch eine neue ersetzt werden konnte.
-
-Ach ja, man soll nur aufhören, alle Leute mit einem Maß zu messen. Der
-liebe Gott spricht doch zu einem jeden in einer besonderen Sprache.
-
-Noch einmal in ihrem Leben sah Fritzchen die Felder von Hohen-Leucken
-und das Moor wieder, und das hochgelegene Herrenhaus, das durch die Bäume
-blickte. Sie kam von einem Besuch bei Gisela und ging allein über das Feld.
-
-Ihr Bruder, der Wind, ging über die Stätte. Da breitete sie die Arme aus,
-als wollte sie ihn umfangen.
-
-»Der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft!«
-
-Höher als alle Vernunft -- -- sang der Wind über dem Moor.
-
-[Illustration]
-
-
-Druck von Petzschke & Gretschel, Dresden-A. 27
-
-
-
-
-[ Hinweise zur Transkription
-
-
-Der Schmutztitel wurde entfernt.
-
-Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.
-
-Darstellung gesperrter Schrift: _gesperrt_.
-
-Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
-Ausnahmen,
-
- Seite 12:
- "Struwelköpfchen" geändert in "Struwwelköpfchen"
- (ein braunes, sehnsüchtiges Struwwelköpfchen)
-
- Seite 21:
- "Aukunft" geändert in "Auskunft"
- (war die andere Auskunft)
-
- Seite 33:
- "sie" geändert in "Sie"
- (Wollen Sie jetzt fahren, Herr v. Dörfflin?)
-
- Seite 73:
- "." eingefügt
- (mit krabbelnden Würmern und Ameisen im traulichen Bunde.)
-
- Seite 86:
- "selbst" geändert in "Selbst"
- (Selbst Hans Henning hatten sie von ihr fortgedrängt)
-
- Seite 93:
- "," entfernt hinter "Fritzchen"
- (Nein, Fritzchen will das nicht.)
-
- Seite 111:
- "einen" geändert in "einem"
- (in dem einem das Atmen verging)
-
- Seite 112:
- "kam" geändert in "kaum"
- (heute wendete kaum das Jüngste der Kinder)
-
- Seite 135:
- "Nachhausekommn" geändert in "Nachhausekommen"
- (Das war ein Nachhausekommen! dachte er.)
-
- Seite 145:
- "eine" geändert in "einer"
- (aussichtsreiche Laufbahn einer Art Sühne vorzuziehen)
-
- Seite 159:
- "russigen" geändert in "rußigen"
- (Sie hielt noch immer den rußigen Suppentopf.)
-
- Seite 164:
- "verkraxelt" geändert in "verknaxelt"
- (meine linke Hand ist neulich beim Reiten verknaxelt)
-
- Seite 178:
- "," geändert in "."
- (Aber es war mit Sorgfalt nicht viel zu machen.)
-
- Seite 203:
- "kam" geändert in "käm"
- (Wäre es heute nicht gekommen, so käm es morgen)
-
- Seite 223:
- "," eingefügt
- (»Gregor, hast Du einen Streit mit Hans gehabt?«) ]
-
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Fritzchen, by Marie Diers
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRITZCHEN ***
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-
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-<title>The Project Gutenberg eBook of
-Fritzchen
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-The Project Gutenberg EBook of Fritzchen, by Marie Diers
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-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
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-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll
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-this ebook.
-
-
-
-Title: Fritzchen
- Die Geschichte einer Einsamen
-
-Author: Marie Diers
-
-Release Date: July 14, 2020 [EBook #62645]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRITZCHEN ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net (This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.)
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-
-
-<h1>Fritzchen</h1>
-
-<p class="ce fsxl">Die Geschichte einer Einsamen</p>
-
-
-<p class="ce lh2">von<br />
-
-<span class="fsl"><b>Marie Diers</b></span></p>
-
-
-<p class="ce mt2 mb2"><img src="images/deco1.jpg" alt="" /></p>
-
-<p class="ce"><b>Dresden 1907.</b><br />
-
-Max Seyfert, Verlagsbuchhandlung.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_001" title="1"> </a>
-Erstes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Aus dem Dorfe Hohen-Leucken, das seinen
-Namen seinem höher gelegenen Herrschaftshause zu
-Ehren, sonst aber nur wie zum Spotte führte, kam
-der Doktor das ganze Jahr nicht heraus. Zwischen
-Moor und sumpfigen Wiesen lag es arglos eingebettet,
-und am Abend, wenn die Nebel stiegen, wogte
-eine weiße Mauer bis an die Schwellen der niedrigen
-Häuser. Typhus, Schwindsucht, epidemische Hals- und
-Rachenkrankheiten gehörten hier mit zu dem gewohnten
-Lebensbilde der Leuckener Bewohner, man
-begrub hier seine kleinen Kinder, man siechte selber,
-man starb, ohne sich viel um die Ursachen zu bekümmern,
-oder gar ihnen den Krieg zu erklären. Der
-Doktor, der viele Meilen über Land durch Lehmboden,
-durch Sand, über schwanken Moorgrund herkutschierte,
-fluchte zwar jedesmal von neuem über den
-Nebelring, der dieses Dorf umzog, aber er war selbst
-ein Kind dieses Landes, in dem man zwar flucht, im
-übrigen aber alle Unbill ruhig beläßt, wie sie nun einmal
-ist, und ihr höchstens mit einem kräftigen Bittren
-zu Leibe geht.</p>
-
-<p>Der baufällige Krug am Anfang des langgestreckten
-Dorfes wurde die ganzen Abende nicht leer, sogar
-bei Tage bevölkerten ihn zweifelhafte Gestalten.
-<a class="pagenum" id="page_002" title="2"> </a>
-Das bißchen Bargeld, das sich der Tagelöhner und
-auch der Kossat errackerte, wenn er zu Hofe ging,
-wurde hier wieder vertrunken. Es lag so in der
-feuchten Luft und dem schlottrigen Gefühl, das man
-den ganzen Tag in den Knochen hatte. Der Pastor
-konnte das nicht verstehen, er hatte ein massives Haus
-und brauchte den ganzen Tag nicht aus seiner warmen
-Stube heraus. Darin war der gnädige Herr besser,
-er begriff sehr gut, daß man bisweilen »saufen«
-müßte, um sich aufrecht zu halten.</p>
-
-<p>Übrigens kam es ihm auch gar nicht darauf an,
-selbst wenn es sich gerade so machte, mit leuchtendem
-Beispiel voranzugehen.</p>
-
-<p>Sonst hatte er es gerade nicht nötig, ins Herrenhaus
-krochen die Nebel nicht herauf. Dies lag auf
-einem Hügel, der überdies noch künstlich erhöht war,
-und war von den Vorfahren dieser Dörfflins, die
-sicherlich mehr Geld gehabt hatten, als die jetzigen,
-außerordentlich solide und fest aufgeführt. Ein breiter,
-chaussierter Fahrweg führte aus dem armseligen
-Dorfe in sanfter, bequemer Steigung bis an das Tor,
-ein prachtvolles Steinmonument vergangener Jahrhunderte,
-von dem noch verwitterte Ritter- und
-Engelfiguren und noch mehr verwitterte fromme und
-auch trotzige Sprüche die späten Enkel grüßten.</p>
-
-<p>Von hier aus ging es in den steingepflasterten
-Hof und vor die niedrige Einfahrtsrampe.</p>
-
-<p>Was das stolze alte Tor versprach, wurde von
-dem Schlosse freilich nur recht ungenügend gehalten.
-Es war ein nüchterner und kahler Bau, an dem nur
-<a class="pagenum" id="page_003" title="3"> </a>
-das Alter interessant war, sonstige Erinnerungen an
-verklungene Ritterzeiten, die ohne Zweifel vorhanden
-gewesen waren, mußten verschleudert worden oder
-sonstwie zu Grunde gegangen sein. Es ging eine
-trübe und schändliche Sage um, daß der Großvater
-des jetzigen Herrn v.&nbsp;Dörfflin aus einem zwar erklärlichen,
-aber wenig ehrwürdigen Grunde einen
-schwungvollen Handel mit diesen alten, geheiligten
-Dingen getrieben habe. Aber man redete nicht laut
-darüber.</p>
-
-<p>Das Schloß war breit angelegt, dauerhaft, aber
-häßlich und unwohnlich. Auf den breiten Treppen
-zog es beständig, und wer über die unendlichen Bodenräume
-ging, mußte mitten im Sommer ein Frieren
-bekommen, wenn er daran dachte, wie es sein müsse,
-hier zur Winterszeit in den unzähligen Kammern zu
-tun zu haben.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Dörfflin, ein verwöhntes und verzärteltes
-Großstadtpüppchen, hatte diese Zustände vier bis
-fünf Jahre treulich durchgemacht und dann gründlich
-darüber quittiert, indem sie die Augen zumachte und
-sich in ihr letztes Bett tragen ließ. Sie war eine gute
-Seele und fand ihr Heil und ihre Pflichterfüllung in
-unentwegten Krankenbesuchen im nebligen Dorf, auf
-denen sie sich wie ein rührend unpraktisches liebes
-Kind benahm. Aber ihr zarter Körper mußte den
-Luxus, den ihre Seele trieb, bezahlen. In all dem
-Nebel, dem Zugwind und der Anstrengung ging sie
-ein wie ein Pflänzchen in verkehrter Pflege und löschte
-aus, wie von jeher ihre Lichter ausgelöscht waren,
-<a class="pagenum" id="page_004" title="4"> </a>
-mit denen sie über die zugige Treppe in das obere
-Stockwerk hatte gehen wollen.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin war ein ziemlich roher und ungebildeter
-Junker, der von Pferden, Hunden, Jagd-
-und Landwirtschaft, auch vom Weinkeller zwar so
-viel wußte, als er brauchte, aber von Frauen, Kindern
-und den feineren Lebensfragen recht wenig. Er
-war trotzdem ein Mensch, den man lieb haben konnte,
-gutmütig, ehrlich und ritterlich aus Gewohnheit. An
-Herzenskummer starb seine Frau nicht, wenn auch
-vielleicht ein brillanterer Geist als der ihres guten
-Ludwig sie in eine andere Bahn des Lebens, Wirkens
-und Heiles geführt hätte als diese selbsterwählte,
-bei dem sie aus dem Husten und Frösteln gar nicht
-herauskam und auf der sie zum Schluß doch kaum
-mehr hinterließ als den halb mitleidigen Ruhm:</p>
-
-<p>»Joa, se is gaud, uns' gnä Fru. Äwer äten kann
-ein' doch nich, wat se koakt.«</p>
-
-<p>Tot war sie, dahin, erloschen. Und um die Sache
-noch gründlicher zu machen, zog sie sich ihren ältesten
-Jungen, ein schönes zartes Kind von fast vier Jahren,
-noch in demselben Winter nach. Ludwig v.&nbsp;Dörfflin
-saß in seinem kalten, ungemütlichen, einsamen Herrenhaus
-auf Hohen-Leucken, mochte nicht mehr jagen,
-noch zechen, noch meilenweit zu Bekannten fahren
-und konnte nur in die Hinterstube gehen und seinem
-kleinsten Mädchen, dem Fritzchen, dem unruhigsten
-und wildesten aller Säuglinge, verzagt in den Wagen
-und in das ewig schreiend aufgerissene Mäulchen
-<a class="pagenum" id="page_005" title="5"> </a>
-gucken. Oder er konnte seine Zweijährige, die artige
-blonde kleine Gisela, an das Händchen fassen, sich
-krampfhaft besinnen, was man mit solchem Wurm
-spricht, der Bonne ein paar dumme Regeln geben,
-die entweder falsch oder selbstverständlich waren, und
-sich dann mit dem fatalen Gefühl seines Nichts wieder
-davon heben.</p>
-
-<p>Mit der Zeit wuchs Gras über das stille Grab
-der stillen törichten kleinen Frau, und Herr v.&nbsp;Dörfflin
-ließ das Gras auch wachsen. Er »ließ« überhaupt
-meist alles, und nur seine Reitknechte wußten
-es (weil sie es fühlten), daß er unter Umständen auch
-sehr aktiv und selbsttätig sein könne.</p>
-
-<p>Wie es zog auf den Treppen und dem langen
-kahlen, in seinen Ecken finsteren Boden! Es war
-jetzt auch immer schmutzig hier oben. Wer sollte reinmachen,
-wenn keine Hausfrau da war, es zu befehlen?
-Das Zimmermädchen schob es auf den Jakob, der die
-Stiefel putzte, der Jakob auf die Kartoffelschäl-Weiber,
-und die wiederum fanden, daß das Zimmermädchen
-auch für den Boden nicht zu feine Hände habe. So
-ging der Tanz immer fröhlich reihum, schlief auch
-dazwischen monatelang ein, bis zum großen Frühjahrsreinemachen
-oder zu Weihnachten auch wieder
-die Bodenfrage aktuell wurde. Die Wirtschafterin,
-die hier eigentlich das Machtwort hätte sprechen
-müssen, hatte ein zartes Verhältnis mit dem Inspektor,
-ein allzu zartes, das wie sie fürchtete, mit ihrem
-Abgang reißen könnte. Deshalb wollte sie sich lieber
-mit den Dienstboten nicht verfeinden, denn die vorige
-<a class="pagenum" id="page_006" title="6"> </a>
-hatte gehen müssen, als eine allgemeine Petition deswegen
-an Herrn v.&nbsp;Dörfflin erging.</p>
-
-<p>So war der Boden staubig und wurde immer
-staubiger, und in den Kammern häuften sich zerrissene
-und schadhafte Wäsche und Kleidungsstücke auf, die
-man nur »aus der Hand« legte, um sie »nächstens«
-auszubessern.</p>
-
-<p>Die feine kleine Gisela mit dem schmalen hochmütigen
-Gesicht nahm ihr Kleidchen eng zusammen,
-wenn sie über den Boden ging, und ging dort auch
-nur, wenn es durchaus nötig war. Fritzchen aber
-war hier zu Hause, und da kümmerte sie weder der
-Staub, noch die Lumpen, noch all das zerbrochene
-Hausgerät in den Ecken.</p>
-
-<p>Fritzchen schloß Freundschaft hier oben mit den
-Balken, den Brettern, den Sonnenstäubchen, selbst
-mit zerbrochenen Stühlen und alten Bettlaken. Wenn
-man das kleine wilde Ding suchte, so brauchte man
-nur nach oben zu laufen. Dann fand man sie in
-irgend einer tollen Maskerade und sich bewegend,
-murmelnd oder auch ganz laut diskutierend, als sei
-sie in einer großen Gesellschaft.</p>
-
-<p>Der Bonne war es schon recht. Unten konnte man
-mit diesem Quirlchen doch nichts anfangen. Da war
-sie ungebärdig, höchst unbequem zu haben, oder sie
-langweilte sich und plärrte. Hier oben konnte man
-sie stundenlang allein lassen, es geschah ihr ja auch
-nichts, nur mußte man ihr ein graues Kittelchen anziehen,
-wenn man den Schmutz nicht sehen wollte,
-den sie sich hier oben holte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_007" title="7"> </a>
-Bis dahin war alles sehr schön. Gisela zwar zog
-ein Mäulchen, wenn Fritzchen mit glühenden Backen,
-die kurzgeschorenen braunen Härchen mit Spinnweben
-umflort, ins Spielzimmer zurückkam. Sie hatte unterdes
-Perlen aufgezogen, ihr Püppchen geputzt oder bei
-dem Fräulein in der Fibel gelernt. Aber das störte
-Fritzchen nicht, das kannte sie nicht anders. Sie
-kannte es auch nicht anders, als daß der Papa sich
-nicht im geringsten um seine Kinder kümmerte. Oft
-sahen sie ihn tagelang nicht, denn auch bei seinen
-Mahlzeiten durften sie noch nicht sein. Sie hatte ihre
-eigene Ritter-, Feen- und Koboldwelt zwischen den
-dunklen Balken auf dem Boden.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Unterdessen, ganz für sich und unabhängig von
-den kleinen Kinderherzen und Gesichterchen, machte
-der Papa seine Dummheiten. Er ging, sich zu verloben.</p>
-
-<p>Er hatte aber auch einen Freund, noch aus seiner
-schönen, lustigen Leutnantszeit her, den Freiherrn Fritz
-v.&nbsp;Zülchow. Der hatte sein Besitztum auf Rummelshof,
-das ungefähr drei Meilen entfernt lag. Schon als
-Knaben und dann als Jünglinge waren die beiden
-trotz großer Verschiedenheiten die besten Kameraden
-gewesen. Später war das anders geworden. Die
-Frau, die Herr v.&nbsp;Zülchow sich nahm, war ein stolzes,
-feines Geschöpf, das eine Abneigung gegen den
-kleinen derben Ludwig v.&nbsp;Dörfflin hatte. Dadurch
-<a class="pagenum" id="page_008" title="8"> </a>
-wurde der Verkehr zu einer etwas peinlichen Sache
-und drohte, ganz auseinander zu fallen. Nur hin
-und wieder auf Jagden, Gesellschaften oder bei den
-seltenen Besuchen sah man sich. Aber man war sich
-von Herzen gut wie nur je zuvor.</p>
-
-<p>Jetzt als Herr v.&nbsp;Dörfflin ein unverhülltes Interesse
-an einem etwas zweifelhaften hereingeschneiten
-Frauenzimmer zu nehmen begann, wachte alle alte
-Kameradschaft mit erneuter Stärke in Fritz v.&nbsp;Zülchow
-auf. »Sieh Dich vor, Lutz!« drängte er. »Es ist
-nichts damit. Ein weißes Gesicht und ein schwarzes
-Herz. Du wirst es bereuen.«</p>
-
-<p>»Ach was, dummes Zeug«, sagte Ludwig v.&nbsp;Dörfflin.</p>
-
-<p>Einmal war der Freiherr v.&nbsp;Zülchow wieder in
-Hohen-Leucken. Es war zur Sommerszeit. Als er
-mit dem Freunde durch den verwilderten Garten
-ging, sah er die Kinder hinten durch die Büsche laufen,
-er rief sie an. Gisela kam gleich, Fritzchen versteckte
-sich. Der Freiherr war ein kräftiger, froher und sehr
-wacher Mensch, der nicht, wie sein guter Lutz, auch im
-Gehen und Stehen halb schlief. Er setzte dem scheuen,
-wilden Dingelchen nach, faßte es, und während er es
-festhielt und sich mit ihm auf eine Bank setzte, erzählte
-er ihm von seinen Hunden, Pferden und seinen
-zwei großen Jungen, Gregor und Hans Henning,
-die reiten, schießen und schwimmen könnten wie die
-Teufel. Dabei sah er Fritzchen unverwandt ins Gesicht
-und sah, wie sich der scheue, trotzige Ausdruck
-des schmutzigen kleinen Gesichtes löste und ein süßes,
-<a class="pagenum" id="page_009" title="9"> </a>
-weiches und verlassenes kleines Kindergesicht zum
-Vorschein kam.</p>
-
-<p>»Bring sie mal mit, die Jungens&nbsp;&ndash;«, sagte der
-kleine Mund.</p>
-
-<p>»Ja, wenn ich wiederkomme«, sagte der Freiherr,
-und er nahm es von jeher ernst mit dem, was er versprach.</p>
-
-<p>Unterdes war der Vater des kleinen Mädels herangekommen.
-Der Fremde setzte das Kind ab und
-behielt es an der Hand, als er sehr ernst, aber gedämpft
-sagte:</p>
-
-<p>»Ludwig, kannst Du Dir Fräulein Wurach hier
-als Stiefmutter vorstellen?«</p>
-
-<p>In Herrn v.&nbsp;Dörfflins rundes rotes Junkergesicht
-kam ein ehrlich ratloser Ausdruck.</p>
-
-<p>»Ja nu &ndash; ja nu&nbsp;&ndash;«, brummte er.</p>
-
-<p>»Ich nicht«, sagte Herr v.&nbsp;Zülchow ziemlich hart.</p>
-
-<p>»Ja nu &ndash; was weißt Du denn von ihr? Sie
-ist &ndash; ach, was geht's Dich an. Lassen wir das. Sowas
-verträgt keine Einmischungen. Du verstehst
-mich, Fritz, nimm's nicht übel.«</p>
-
-<p>Als der Freiherr fort war, trank Ludwig Dörfflin
-die halbe Nacht durch in Gesellschaft seines Försters,
-und mehr als ihm gut war. Er liebte seinen
-Freund über alles, und nichts war ihm fataler, als
-den zu erzürnen.</p>
-
-<p>Aber das sieht doch ein Kind ein, daß man sich in
-Liebessachen nichts vorreden lassen kann. Was war
-das für eine Anstellerei, das Fritzchen aus dem Gebüsch
-<a class="pagenum" id="page_010" title="10"> </a>
-zu ziehen! Als ob die Anneliese Wurach ein
-Drache wäre. Pfui, pfui, solchen Engel zu beleidigen.</p>
-
-<p>Es war drei Uhr in der Nacht, er schlug auf den
-Tisch, daß die Gläser tanzten.</p>
-
-<p>»Märzmüller«, sagte er lärmend zu seinem Getreuen.
-»Sind Sie lieber ein Packesel für andere
-Leute, oder nehmen Sie lieber selber den Gaul zwischen
-die Schenkel?«</p>
-
-<p>»Ich nehme lieber selber den Gaul zwischen die
-Schenkel«, sagte der grüne Zechgenosse.</p>
-
-<p>»He, so mach ich's auch! Was meinen Sie, ob ich
-wohl noch so 'ne Hecke nehmen kann? So 'ne ganz
-hohe, wissen Sie?«</p>
-
-<p>Er war noch nicht so betrunken, daß er den Untergebenen
-in seine Pläne wirklich und deutlich eingeführt
-hätte.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ja, diese Pläne! Sie konnten den Leuten, die
-ihn oder sein Haus lieb hatten, schon Sorgen machen.
-Anneliese Wurach, eine hübsche, sehr gewandte Person,
-war seit einigen Wochen bei einem einfachen
-Gutspächter der Gegend zu Besuch. Keinem Haus
-der höheren Kreise fiel es ein, sie heranzuziehen.
-Aber Ludwig Dörfflin war in Liebessachen nicht so
-ganz zurechnungsfähig. Daß er solche liebe kleine
-Frau gehabt hatte, war ein freundlicher Zufall, ein
-bißchen hatte er auch an ihr das Robuste, die Fähigkeit,
-sich in Szene zu setzen, vermißt. Auf dem Gutspächterhofe
-kam man ihm mit Handkuß entgegen, und
-das war er in seinen Kreisen nicht gewöhnt. An
-Fräulein Wurach lag es nicht, daß er die Werbung
-<a class="pagenum" id="page_011" title="11"> </a>
-verzögerte, sondern nur an der (unter diesen Umständen)
-lächerlichen Zaghaftigkeit und Hochachtung vor
-seiner Erwählten.</p>
-
-<p>Es war jetzt November geworden. Man mußte
-schon wissen, was der November bedeutete auf dem
-Wege durch die Ebene zwischen Hohen-Leucken und
-dem Rummelshofe, auf dem die Zülchows saßen. Die
-Winde hatten sich hier festgesetzt in den Buschgräben
-und hinter den kleinen Maulwurfshügeln von Anhöhen,
-an denen bergauf, bergab die Pflüger hinter dem
-Gespann gingen. Die Pferde, die den offenen Rummelshöfer
-Herrenwagen zogen, legten sich schief, um
-von dem gewalttätigen Blasius nicht aus dem Gleise
-gedrängt zu werden. »Haltet die Mützen fest,
-Jungens!« Hui, da flog dem Hans Henning seine
-schon über den Graben. »Spring nach, dummer
-Bengel, halt aber auch Deine Nase fest!«</p>
-
-<p>Schwer, dick, massig hingen die Wolken am düsteren
-Himmel, der Wind kam ihnen kaum bei. »Wenn
-sich das ausschüttet, ist es Schnee«, sagte der Freiherr.
-»Wie lange sind wir gefahren, Jochen?«</p>
-
-<p>»Zwei und eine halbe Stunde, Herr Baron.«</p>
-
-<p>»So. Macht auf Hin- und Rückfahrt fünf Stunden.
-Jungens, daß Ihr zu meinem Patchen, dem
-kleinen Mädels-Fritz, gut seid! Sonst wäre es nicht
-fünf Minuten Fahrt wert gewesen. Dir besonders,
-Gregor, sag ich's. Tu Du heute nicht so ungeheuer
-zwölfjährig und untertertianerhaft, mein Sohn.«</p>
-
-<p>Der Gregor, ein langer, feiner, blonder Junge,
-wollte wohl antworten, aber der Wind riß ihm die
-<a class="pagenum" id="page_012" title="12"> </a>
-Worte vom Munde ab und hätte beinahe auch noch
-die Nase mitgenommen. Es war eine stolze Nase
-&ndash; um die von Hans Henning wäre es nicht so schade
-gewesen.</p>
-
-<p>»Vater, das ist ein Wind!« prustete er nun bloß.</p>
-
-<p>Ja, der Wind, der war schon etwas für deutsche
-Jungens, die sich von ihm fünf Meilen lang im offenen
-Wagen um die Ohren pfeifen lassen.</p>
-
-<p>»Da ist Hohen-Leucken.«</p>
-
-<p>Das Herrenhaus sah vom Hügel herunter, grau
-unter dem schweren, wetterdrohenden Himmel. Die
-Jungen sahen es aufmerksam und mit der ungeheuer
-sachlichen Abschätzung an, auf die man sich in diesem
-Alter so viel zugute tut. Aber die Hauptsache an dem
-alten häßlichen einsamen Hause sahen sie doch nicht:
-ein braunes, sehnsüchtiges Struwwelköpfchen, das schon
-seit geschlagenen zwei Stunden durch die eine der
-Dachluken auf den Weg spähte, der übers Moor ging.</p>
-
-<p>»Gisa, Gisa, sie kommen, sie kommen!«</p>
-
-<p>Des Hauses jüngstes Kind poltert die Treppe
-hinunter, daß man es bis ins entfernteste Zimmer
-hört, stolpert, fällt, poltert weiter, schreit: »Sie kommen,
-sie kommen!«</p>
-
-<p>Gisa war blutrot vor Ärger. »Dumme Jöre, man
-schreit nicht so! Was ist denn dabei? Geh lieber
-und kämme Dich!«</p>
-
-<p>Sie liebte solch kindisches Getue nicht. Sie genierte
-sich wegen des dummen Fritzchen, die feine
-kleine Gisela im hellblauen Kleidchen.</p>
-
-<p>Als es nun wirklich so weit war und Herr v.&nbsp;Zülchow
-<a class="pagenum" id="page_013" title="13"> </a>
-mit seinen großen Jungen in der Halle stand,
-steckte Fritzchen die Finger in den Mund und hätte
-sich am liebsten verkrochen. Ach ja, sie war auch zu
-nichts zu gebrauchen.</p>
-
-<p>Gregor war auch ganz anders, wie sie sich gedacht
-hatte, viel größer und stolzer. Er sah über ihre
-Köpfe fort und redete zum Papa, als wäre er ein
-ganz Großer. Er wäre auch am liebsten nicht mit
-an den Kinderkaffeetisch gegangen, aber das war nun
-mal so eingerichtet. Fritzchen steckte aus lauter Verlegenheit
-ein so großes Stück Kuchen in ihre volle
-Tasse, daß alles überplantschte. Gisa ärgerte sich
-wieder, aber Hans Henning lachte darüber.</p>
-
-<p>»Grad' wie ich's immer mach', Fritz. Kriegst Du
-dann auch immer Stripse auf die Finger?«</p>
-
-<p>»Nein.«</p>
-
-<p>»Aber ich. Von Herrn Ritter. Weißt, wer das
-ist? Unser Hauslehrer. Weißt Du auch, warum er
-immer so mager ist?«</p>
-
-<p>»Nein.«</p>
-
-<p>»Weil wir ihn immer ärgern. So sagt er. Wie
-findest Du das?«</p>
-
-<p>»Ach!« Sie sah auf, ganz staunende Bewunderung.
-Dann leiser, mit ihren winzigen Fingerchen
-verstohlen auf Gregor deutend: »Der auch?«</p>
-
-<p>»Na! Und ob der nicht! Ich sage Dir, Fritz!
-Na, ich werd' Dir noch viel erzählen.«</p>
-
-<p>Er sah zu dem Bruder hinüber, daß der sich auch
-über das liebe kleine Ding freue. Aber der saß da
-und sah sehr kühl aus, ungeheuer zwölfjährig.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_014" title="14"> </a>
-Gisela machte die Wirtin. Sie hatte wunderfeine,
-geschickte Fingerchen dabei. Sie war lange nicht so
-hübsch wie das Feuerfünkchen drüben, aber sie sah
-viel aristokratischer, mädchenhafter und wohlerzogener
-aus. Als Gregor trotz seiner Untertertianerwürde
-sechs Stücke Blechkuchen hinter sich hatte, bequemte er
-sich, das kleine Fräulein anzureden, und fand ihre
-Antworten und Bemerkungen über Haus, Garten und
-Viehstand hier, nach denen er sich erkundigte, »gar
-nicht so dumm.«</p>
-
-<p>Fritzchen war ein Querkopf. Sie hätte sich an
-der Freundschaft mit Hans Henning genügen lassen
-sollen. Der Junge war reizend zu ihr, lief mit ihr
-herum, selbst auf den Boden zu den alten Laken und
-den Spinneweben, bequemte sich ihren verschrobenen
-kleinen Ideen an, schwatzte ihr amüsierliches Zeug vor
-und versprach ihr tausend Wunder, wenn sie einmal
-nach Rummelshof käme. Sie mochte ihn auch gern
-leiden, diesen lustigen, rundköpfigen Jungen mit der
-aufgestülpten Nase, den Schelmaugen und der Mischung
-von schlingelhafter Frechheit und treuherziger
-Zartheit. Aber sowie sie konnte, schlüpfte sie
-immer wieder in die Richtung, in der sie
-Gregor vermutete, und obwohl er sie kaum ansah und
-ihre täppischen Bestrebungen, sich bemerklich zu
-machen, fast niemals wahrnahm, so lief sie doch immer
-wieder hinter ihm drein und war froh, ihn nur zu
-sehen.</p>
-
-<p>Jetzt wußte sie mit einem Male, wie die Ritter
-und stolzen Könige ihrer Spielträume aussahen, und
-<a class="pagenum" id="page_015" title="15"> </a>
-sie faßte eine stille und tiefe Verachtung für die bunten
-Bilder aus ihren Büchern, die ihr bisher maßgebend
-gewesen waren.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Zülchow schob seine Kaffeetasse fort, ihm
-war nicht sehr zum Trinken und zum Rauchen. Als
-er die Kinder durch die Halle und nach draußen laufen
-hörte, verschärfte sich die unliebe Empfindung in ihm
-so stark, daß sein Gesicht sich rötete.</p>
-
-<p>»Ich bin hauptsächlich heute aus einem bestimmten
-Grunde gekommen, Ludwig«, sagte er.</p>
-
-<p>Die Einleitung war ungeschickt genug. Herr
-v.&nbsp;Dörfflin warf seine Zigarre fort. »Wenn es Dir
-um meine inneren Angelegenheiten zu tun ist, so
-spare den Versuch!« brauste er auf. »Ich lasse mich
-nicht bevormunden.«</p>
-
-<p>»Ach Gott!« sagte Herr v.&nbsp;Zülchow tief ärgerlich.
-»Innere Angelegenheiten! Lassen wir doch diese
-Redensarten. Du hast ja keine Ahnung, wer die
-Dame ist, die Du Dir zur Frau und den Kindern
-zur Mutter geben willst.«</p>
-
-<p>»Hast Du etwa die Ahnung?« höhnte der große
-Junge mit seinem treuherzigsten, dümmsten und impertinentesten
-Gesicht. Er blickte so impertinent, weil
-es ihm vor Unbehagen in allen Adern prickelte. Einen
-Disput hatte er noch nie bestehen können.</p>
-
-<p>»Ahnung, Ludwig? Die ganze Gegend schwatzt
-davon und lacht über Dich. Als Fräulein Wurach im
-<a class="pagenum" id="page_016" title="16"> </a>
-Sommer nach Lanzow kam, war sie mit einem Schreiber
-verlobt. Dem hat sie jetzt abgeschrieben, weil es
-hübscher für sie ist, Deine Gemahlin zu werden. Na
-ja, darauf kannst Du allerhand entgegnen, ich weiß
-schon. Aber was meinst Du zu dem allerliebsten Geschichtchen,
-das die Pastorin Barthold von ihr erzählt?
-Im vorigen Sommer war sie dort, da die
-Tochter ihre Schulfreundin war, dort ist sie Hals
-über Kopf fortgekommen, weil sie ihren ganzen Koffer
-voll gestohlener Zwiebäcke hatte! Nun, wenn sie
-Deine Frau ist, gibt sich das vielleicht.«</p>
-
-<p>Im Lampenschein sah Fritz Zülchow jetzt das Gesicht,
-es sah so jammerwürdig verblüfft und hilflos
-aus. »Gib mir Beweise für diese albernen Klatschereien«,
-bullerte Ludwig Dörfflin heraus.</p>
-
-<p>Beweise? Ach lieber Gott, die waren nicht so
-schwer zu erlangen. Aber er hatte so ein verdammtes
-Mitleid mit dem runden roten lieben Gesicht, das
-in die freiesten und lustigsten Stunden seines Lebens
-hineingehörte wie die Lichter an dem Christbaum.</p>
-
-<p>Er schwieg; ihm selber, nun er das schwere Amt
-hinter sich hatte, da die Komik verflogen war, stieg
-Schmerz und Traurigkeit bis in die Kehle. Es soll
-ja schon manchmal vorgekommen sein, daß in solcher
-Stunde aus einer alten Liebe ein tödlicher Haß geworden
-ist.</p>
-
-<p>Ludwig Dörfflin sah auch eigentlich nicht darnach
-aus, als ob er solche Lehre still in die Tasche stecken
-und in Tapferkeit und ehrlicher Selbstüberwindung
-darüber fortkommen würde. Von solch einem Ding
-<a class="pagenum" id="page_017" title="17"> </a>
-wie Selbstüberwindung hatte dieser kleine trink- und
-hiebfeste Gutsherr sein Lebtag noch nichts gehört,
-wenigstens war ihm das nur etwas für seinen Reitknecht.</p>
-
-<p>»Soll ich lieber jetzt die Jungen rufen und fahren?«
-fragte Herr v.&nbsp;Zülchow.</p>
-
-<p>»Ach was. Wozu? Bleibt nur ruhig!«</p>
-
-<p>Das sprach die Wirtspflicht aus ihm, die gute
-Manier, die den armen Kauz auch zu schlimmster
-Stunde nicht verließ. Nicht einmal der Gedanke
-kam ihm, sich mit dem Beleidiger seiner Dame zu
-schlagen. Er hatte ja recht. Jedes Pünktchen glaubte
-er. Er sah Fräulein Anneliese in der allerschlechtesten
-Beleuchtung, die nur möglich war. &ndash; Aber,
-was nun weiter?</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Zülchow wandte sich von dem kläglichen
-Bilde ab und ging hinaus, durch eine Seitentür in
-den novemberkahlen Garten. Man hatte das letzte
-Laub noch nicht weggeharkt, es rauschte unter seinen
-Füßen. Der lustige Wind von da unten, der mit
-Hans Hennings Mütze über den Graben gesprungen
-war, brach auch hier oben ein, über die Backsteinmauer
-mit ihren dürren Efeuranken fort, durch die
-Stämme der alten Bäume. Er blies auch die letzte
-schwere Stunde dem einsamen Wanderer vom heißen
-Kopfe fort.</p>
-
-<p>Nun weiß er wenigstens Bescheid, dachte der.
-Mag sein, daß es zwischen uns aus ist, aber eine
-schreckliche und jämmerliche Zukunft habe ich diesem
-<a class="pagenum" id="page_018" title="18"> </a>
-Hause und den kleinen Kindern, dem kleinen Fritzel,
-erspart.</p>
-
-<p>Als er zurückkam, stand Ludwig Dörfflin mitten
-in der Stube und sah so erhitzt und abgespannt aus,
-als habe er eben zu wohltätiger Körperübung über
-alle Stühle gesetzt.</p>
-
-<p>»Morgen fahre ich nach Lanzow und sage ihr
-alles!« rief er dem Freund zu.</p>
-
-<p>Der dachte: man muß auf jeden Fall verhindern,
-daß er jetzt gleich mit ihr spricht. Er ist zu unselbstständig
-in dieser Angelegenheit, und sie würde ihn
-wieder bestricken. Ein großer Geist ist er ja nicht, aber
-so dumm doch auch nicht, daß er in Wahrheit diesem
-Frauenzimmer mehr glauben sollte als mir! Und
-auf dieses große schöne und berechtigte Vertrauen
-setzte er sich so fest und solide nieder wie jetzt auf das
-breite braune Ledersofa, auf dem er mit seinem
-Freunde schon mancher edlen Flasche den Hals gebrochen
-hatte.</p>
-
-<p>Es war am Ende dann nicht so schwierig, ihn zu
-bewegen, diese Angelegenheit erst einmal schriftlich
-anzufassen. Mit Herrn v.&nbsp;Zülchows Hilfe entstand
-ein Brief, der deutlich genug war, selbst von Fräulein
-Wurach verstanden zu werden, und der doch Lutzens
-gequältem Herzen die Hoffnung ließ, eine tröstliche
-und alle Verleumdungen zerschmetternde Antwort
-zu erhalten.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_019" title="19"> </a>
-Aber die Zeit verging, eine Antwort traf nicht
-ein, und in der Gegend erzählte man, daß Fräulein
-Wurach abgereist sei.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin war darnach eine lange Zeit
-blaß und schlottrig, und als er sich wieder erholte, verfiel
-er aufs Trinken.</p>
-
-<p>Das Schlimmste dabei war, daß er sich genierte,
-mit den alten Freunden zusammen zu sein und lieber
-in die weit entfernte größere Stadt fuhr, wo er in
-einen Trink- und Spielklub niederen Ranges geriet.</p>
-
-<p>Sein Freund, Herr v.&nbsp;Zülchow, machte sich anfangs
-keine Gedanken hierüber. Diese wüste Periode war
-vielleicht ein ganz begreiflicher Abschluß. Aber es blieb
-dabei. Die schlechten Gesellen, die ihn ausbeutelten,
-wußten, was sie an ihm hatten, wie Fräulein Wurach
-es gewußt hatte, und sie fesselten ihn durch Schmeicheleien,
-auch wie sie.</p>
-
-<p>Der Rummelshöfer versuchte schriftlich und
-mündlich sein Möglichstes. Aber der von Hohen-Leucken
-war nicht mehr für ihn zu sprechen, er wurde
-beleidigend in seinen Ausfällen. Er hatte schon
-Schule gemacht in seiner neuen Umgebung und hatte
-Ausdrücke an sich, denen man nur aus dem Wege
-gehen oder sie blutig rächen mußte.</p>
-
-<p>Die große Stadt lag von Hohen-Leucken drei
-gute Stunden Wagenfahrt entfernt. Die Leuckener
-Kutschpferde mußten sich schon an diesen Weg gewöhnen.
-Oft, wenn Herr v.&nbsp;Dörfflin ungnädig und
-durch irgend etwas an seinen Kumpanen geärgert
-<a class="pagenum" id="page_020" title="20"> </a>
-war, konnten sie sogar ohne Rast wieder umkehren
-und die drei Meilen wieder zurückjagen. Zu Hause
-aber mußten die Bonne und die Mädchen nur bemüht
-sein, die Kinder aus der Nähe ihres Vaters
-fern zu halten.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_021" title="21"> </a>
-Zweites Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Wenn in diesem Witwerhaus schon früher ein
-Besuch eine Seltenheit gewesen war, so blieb er jetzt
-ganz aus. Das sehnsüchtige Struwwelköpfchen
-brauchte nicht mehr stundenlang aus der Dachluke zu
-spähen, es kam doch kein Wagen übers Moor, der so
-lustige und reizvolle Fracht trug wie der Rummelshöfer
-am Novembertage.</p>
-
-<p>»Warum kommen die Jungens gar nicht wieder?«
-fragte Fritzchen Tag für Tag die Schwester. Die
-zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Aber sie hatte
-dabei einen scharfen, unkindlichen Zug um den Mund,
-der von aufgeschnapptem Mägdeklatsch herrührte.</p>
-
-<p>Fritzchen sehnte sich nur, aber Gisa litt an der
-Vereinsamung ihres Hauses als unter einer Schande.</p>
-
-<p>»Warum kommen die Jungens gar nicht wieder?«
-fragte Fritzchen ihre Bonne, fragte sie ihr
-Mädchen, das sie zu Bett brachte.</p>
-
-<p>»Sie werden schon wiederkommen«, war die eine
-Auskunft. Sie ging von der Bonne aus, die es sich
-gern bequem machte.</p>
-
-<p>»Herr v.&nbsp;Zülchow ist bös mit Papa«, war die andere
-Auskunft.</p>
-
-<p>»Warum ist er bös?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_022" title="22"> </a>
-»Na &ndash; Papa ist doch manchmal grob und
-schimpft.«</p>
-
-<p>»Ich will ihm sagen, daß er mit Herrn v.&nbsp;Zülchow
-wieder gut sein soll.«</p>
-
-<p>»Das tu Du nur«, sagte das Mädchen und
-lachte.</p>
-
-<p>Fritzchen hatte eine unruhige Nacht voll wilder
-Träume, ein paarmal wachte sie auf, in Schweiß gebadet.
-Sie hatte mit Ungeheuern gekämpft, aber das
-Ungeheuer hatte plötzlich Papas Gesicht gehabt.</p>
-
-<p>Früh stand sie auf und zog sich an, schnell, schnell
-und im Dunkeln. Draußen schneite es, und der
-Wind klapperte mit den Läden.</p>
-
-<p>Die Bonne lag noch im Bett und schlief. Plötzlich
-fuhr sie auf. »Fritzchen &ndash; was willst Du?«</p>
-
-<p>»Nichts.« Damit raffte sie das Kleidchen, das
-sie noch nicht angezogen hatte, zusammen und huschte
-hinaus, es im Korridor anzuziehen.</p>
-
-<p>Wie seltsam das Haus aussah zu dieser Zeit. Alle
-Türen standen auf, der Wind fuhr klappernd durch
-die Gänge. Die Mägde liefen mit Besen und Eimern
-herum, in den Öfen bullerte das Feuer, aber überall
-war es noch bitterkalt.</p>
-
-<p>»Fritzchen! Was willst Du denn?« rief Jakob,
-der eben die geputzten Stiefel des Herrn in dessen
-Schlafstube bringen wollte.</p>
-
-<p>»Wacht Papa schon?«</p>
-
-<p>»Jawohl. Aber er liegt noch im Bett und trinkt
-Kaffee.«</p>
-
-<p>»Jakob, nimm mich mit 'rein!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_023" title="23"> </a>
-»Du bist jawoll &ndash; was würde er da für Augen
-machen!«</p>
-
-<p>»Laß ihn doch. Aber geh Du nur, ich komme
-schon mit.«</p>
-
-<p>»Na, mir kann's ja egal sein.«</p>
-
-<p>Dicht an die Beine des stämmigen Burschen geschmiegt,
-wie ein Mäuschen, das sich unversehens mit
-einschleicht, drang der kleine Abenteurer ungekämmt,
-mit hinten offenstehendem Kleidchen in das Zimmer
-ein. Der Papa saß aufrecht im Bett, neben sich das
-Kaffeegerät und las die Zeitung. Er sah gar nicht
-auf, bis ein winziges Geschöpf an seinem Bettrande
-auftauchte.</p>
-
-<p>»Na nu!«</p>
-
-<p>Er ließ die Zeitung fallen. Sein Gesicht erschien
-in dem Rahmen der weißen Kissen noch röter als zuvor.
-»Was fällt Dir ein? Was willst Du hier? Ist
-jemand krank?«</p>
-
-<p>»Papa &ndash; warum kommen die Jungens gar nicht
-wieder?«</p>
-
-<p>»Welche Jungens?«</p>
-
-<p>»Gregor und Hans Henning.«</p>
-
-<p>»Teufel!« Er nahm die Zeitung wieder auf.
-»Was geht's mich an? Geh' raus! &ndash; Was geht's
-mich an, sage ich!« Er ließ das Blatt wieder sinken
-und schrie das blasse kleine Gesicht wütend an.</p>
-
-<p>Das blieb wie es war, wich und wankte nicht.
-»Du sollst gut sein mit Herrn v.&nbsp;Zülchow. Die Jungens
-sollen wiederkommen. Du sollst's machen!«</p>
-
-<p>»Was ist denn das für eine Verrücktheit! Jakob,
-<a class="pagenum" id="page_024" title="24"> </a>
-schaff das Mädel fort! Was sind denn das für neue
-Moden!«</p>
-
-<p>Jakob grinste innerlich und auch ein bißchen
-äußerlich. Als er die kleine Hand anfaßte, geschah es
-sehr behutsam, er zupfte auch nur, ein wenig mahnend,
-in der Gegend nach der Tür zu.</p>
-
-<p>»Du sollst's machen!« rief Fritzchen laut. Ihre
-Augen loderten, das ganze eben noch blasse kleine Gesicht
-war von Glut überzogen.</p>
-
-<p>»Du sollst gut sein! Die Jungens sollen wiederkommen!«</p>
-
-<p>Da hatte Jakob sie glücklich bis an die Tür.
-»Papa! Du sollst's machen!« Sie hob sich noch einmal
-auf die Zehen &ndash; dann verschwand das feuersprühende
-kleine Bild.</p>
-
-<p>»Nee, sowas &ndash; nee, sowas&nbsp;&ndash;« murmelte Herr
-v.&nbsp;Dörfflin. Er saß noch ein Weilchen, wie er saß,
-aber er las keine Zeile mehr, und auch sein Kaffee
-blieb stehen.</p>
-
-<p>»Jakob, zum Donner, so gib mir doch endlich
-die Stiefel! Was wollte denn das Balg? Wie kam's
-hier herein?«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht, gnädiger Herr.«</p>
-
-<p>»Ist sie denn ganz&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Unter beständigem Brummen und mancher unwirschen
-Frage an Jakob, die der stets mit Unwissenheit
-ablehnte, zog Herr v.&nbsp;Dörfflin sich an. Es war
-noch viel zu früh für seine Gewohnheit. In seiner
-Stube scheuchte er die Mädchen heraus, schloß die
-Fenster, in die der Schnee wehte, und im Schein der
-<a class="pagenum" id="page_025" title="25"> </a>
-Küchenlampe, die das Mädchen hatte stehen lassen,
-schrieb er auf ein Notizblatt:</p>
-
-<p class="ci">»Lieber Fritz, so komme doch endlich wieder und
-stelle Dich nicht an wie eine alte Jungfer.</p>
-
-<p class="si">L.&nbsp;D.«</p>
-
-<p>Dann steckte er den Brief in einen Umschlag, aber
-schickte keinen Boten damit ab, sondern lauerte selber
-dem Briefträger auf, damit das alberne Gesinde nicht
-mit ansähe, was er für ein weichherziger Narr war.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Hätte Fritz v.&nbsp;Zülchow das kleine mutige Ding
-im offenen Kleidchen und mit seinem Struwwelköpfchen
-an des Vaters Bett gesehen, so hätte er wahrlich
-nicht geschrieben, wie er schrieb.</p>
-
-<p class="ci">»Lieber Lutz! Du begreifst, daß Du durch Deine
-Auffassung von Deiner Würde und Deines Hauses
-Würde, die mich auf das schmerzlichste überrascht hat,
-einen so dicken Strich zwischen Dich und mich gezogen
-hast, daß er nicht so einfach, wie Du meinst, übersprungen
-werden kann. Es müßten andere Dinge geschehen,
-ehe ich wieder meinen Fuß über Deine
-Schwelle setzen könnte oder Dich bitten könnte, in
-mein Haus, in die Nähe meiner Frau zu kommen.
-Nimm die aufrichtige Versicherung meiner tiefen Betrübnis
-über diese Lage der Dinge.«</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin wurde fahl, als er dies las. Er
-fiel in den Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder und
-starrte vor sich hin. Es wühlte, es wühlte in ihm,
-daß er bebte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_026" title="26"> </a>
-Ja ja &ndash; er hat schon recht. Es ist vielleicht so.
-Ich hätte es auch nicht getan, früher&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Fritz &ndash; so ist's mit uns geworden&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Er stand auf, schleppte sich durch die Wirtschaft.
-Die Knechte rissen die Mützen ab, als er vorüberging,
-er sah (zum ersten Male beachtete er das)
-einen heiligen Schrecken vor sich her fliegen. Das
-half ihm, das hob seinen jämmerlichen Mut.</p>
-
-<p>Pah, was geht's Euch alle an? Ich tue, was ich
-will. Noch schöner, mich in meinen Jahren meistern
-zu lassen! Albernes Getue! Komm doch nicht, Kerl,
-wenn Du nicht willst. Ich werde mich noch davon
-nicht umwerfen lassen!</p>
-
-<p>Als er zurückkam, draußen vor der Einfahrt, zog
-Fritzchen einen kleinen Schlitten. Sie hatte ein schäbiges
-Mützchen auf, aber es stand ihr gut. Sie blieb
-stehen und sah den Vater an.</p>
-
-<p>Da ging ihm eine heiße Welle übers Herz.
-»Fritzel&nbsp;&ndash;« sagte er unbeholfen und streckte seine
-Hand aus. Sie ließ die Leine, an der sie den Schlitten
-zog, fallen und kam zu ihm. Wie ihre großen
-ernsthaften Augen blickten!</p>
-
-<p>»Fritzel &ndash; ich wollte schon &ndash; aber er will nicht
-&ndash; Fritzel&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Hat er Dich abgeschlagen?« fragte sie, blaß vor
-Spannung.</p>
-
-<p>»Ja ja &ndash; er hat's &ndash; er hat's &ndash; ja Fritzchen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Wein' doch nicht, Papa. Ich weine ja auch
-nicht. Guck!« Sie glühte vor Trotz.</p>
-
-<p>»Ich wein' doch nicht, dumme Jöre. Weinen!
-<a class="pagenum" id="page_027" title="27"> </a>
-Noch schöner! Nee, nee, lassen wir diese Leute laufen.
-Wer nicht will, der hat schon. &ndash; Magst Du
-denn diese Jungens &ndash; wie heißen sie doch? &ndash; so
-fürchterlich gern?«</p>
-
-<p>»Das ist nun ganz egal!« sagte Fritzchen. Sie
-wandte sich um und lief ins Haus. Sie wußte, daß
-sie nun zum zweiten Male ihre Ritter- und Königslisten
-einer großen Umänderung unterwerfen müsse.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Wie einsam zogen die Tage und Jahre über das
-Hohen-Leuckener Herrenhaus! Der Papa fuhr in die
-große Stadt, jahraus, jahrein. Er verlor seinen
-besten Freund, und er verlor auch seine anderen
-Freunde, die ihm gleichwertig waren.</p>
-
-<p>Er hätte es wahrlich besser haben können, dieser
-traurige Ritter. Er hatte Haus und Hof, gute
-Freunde und Nachbarn und zwei liebe kleine Mädel.
-Was aber hatte er jetzt?</p>
-
-<p>Sein kleines Fritzchen mit den großen Augen
-unter der schäbigen Mütze, seine feine stolze kleine
-Gisa &ndash; die zogen wie Nebelbilder an ihm vorüber.
-Es war hier ein Quell für ihn aufgesprungen, am
-Schneemorgen vor der Haustür, als sein Kind die
-Schlittenleine fallen ließ und zu ihm gelaufen kam &ndash;
-ein Quell, so heiß und tief und stark, wie er nur in
-einem sehnsüchtigen, leidenschaftlichen Kinderherzen
-entspringen kann.</p>
-
-<p>Vielleicht, wenn dieser Mensch, der sich selbst verlor,
-<a class="pagenum" id="page_028" title="28"> </a>
-ein klein wenig besser aufgepaßt hätte, sein Fritzchen
-bei Tisch oder beim Vorbeihuschen ein ganz klein
-wenig sich angesehen, ihren Ausdruck, den Sinn
-ihrer Bemerkungen hin und wieder mit offenen
-Ohren und Augen aufgenommen hätte &ndash; so hätte
-das für ihn die beste Erziehung werden können, die
-je das Leben ihm anbot. Diese Zuversicht, diese Erwartung
-(wenn auch oft allzu hoch gespannt), das
-lächerliche Vertrauen, das dies phantastische Kind auf
-ihn setzte, das sollte ihm wohl Peitsche und Sporn
-sein. Aber was war dies alles nütz, da er gar nicht
-einmal hinsah?</p>
-
-<p>Es ist nicht wahrscheinlich, daß Gisa ihm viel geholfen
-hätte. Die hatte nie diese reine und ungetrübte
-Kindlichkeit besessen, wie sie bei Fritzchen fast
-zu sehr vertreten war. Sie konnte nichts dafür, daß
-sie so feine Öhrchen hatte, daß sie das Piepen in den
-Ecken, unter den Dielen, durch die Türritzen und
-Schlüssellöcher vernahm. Sie spann kein goldenes
-Gewebe um den armseligen Papa, an dessen Maschen
-er sich hätte festhalten und emporklettern können. Sie
-war die strenge Tugend, die den glimmenden Docht
-vollends austritt. Denn sie war eine hochmütige
-kleine Person, und ihr Stolz war verwundbarer als
-ihr Herz.</p>
-
-<p>Darum darbte sie bitter alle die Kindheitsjahre
-über, während Fritzchen, das verträumte Närrchen,
-neben ihr schwelgte. Aber wer versteht diese Geheimnisse?
-Sand wird zu Gold, die Winde werden
-zu der wilden Jagd der Geister, und Blumen sprossen
-<a class="pagenum" id="page_029" title="29"> </a>
-am dürrsten Stab. Oder: Sand wird zu Schmutz,
-die Winde löschen Deine Lichter aus und blasen Dir
-ins Gebein, und der dürre Stab zerbricht Dir in der
-Hand. Wer versteht das und kann das deuten?</p>
-
-<p>Die verdrossenen Mägde auf Hohen-Leucken?
-Oder die verbildete und verdorrte Gouvernante, die
-im Laufe der Zeit die Bonne ablöste?</p>
-
-<p>Jedermann trägt sein Erbteil mit sich, und wenn
-er auch nur erst ein kleines, halbvernachlässigtes Fräulein
-im einsamen Gutshause ist. Gisela versteinte,
-sie wurde immer vornehmer, immer feiner, immer
-klüger und immer kälter. Fritzchen lebte immer stärker
-und weiter, aber sie verwilderte dabei immer
-mehr, verstrickte sich immer hoffnungsloser in ihre
-Traumwelt. Sie saß mit Gespenstern zu Tisch und
-lief mit leichten und seligen Geistern über die Baumkronen
-dahin und bis in ihr Wolkenschloß hinauf.
-Sie wurde blaß und ihre Augen immer größer. Wenn
-man die beiden Schwestern einmal in der Stadt zu
-Besorgungen erblickte, sah sich alle Welt neugierig,
-mitleidig und auch wohlwollend nach ihnen um.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_030" title="30"> </a>
-Drittes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>An einem heißen Junitage kam ein reitender
-Bote aus Rummelshof durch das steinerne Tor der
-Hohen-Leuckener geritten. Herr v.&nbsp;Dörfflin stand
-zufällig im Hofe. Wieviele Jahre waren vergangen,
-seit der Rummelshöfer und all sein Zeug für ihn
-versunken war, und nun erkannte er auf den ersten
-Blick Mann, Livree, ja das Reitpferd wieder! Ein
-Ruck fuhr ihm durch's Gebein, er blieb stehen mit
-halboffenem Munde, atemlos. Der Knecht sah ihn,
-er sprang vom Pferde und nestelte einen Brief aus
-der Rocktasche.</p>
-
-<p>»An &ndash;&nbsp;&ndash; soll's an mich&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>Ja, so stammelte er, der Fassungslose, der Ausgehungerte.</p>
-
-<p>Es sollte an ihn, aber die Handschrift kannte er
-nicht. Seine dicken Finger flogen, als er den Umschlag
-auseinander reißen wollte. Endlich gelang es.
-Der Bote stand stumm zuschauend vor ihm.</p>
-
-<p>»Es ist vom jungen Herrn Baron Gregor.«</p>
-
-<p>»Gregor&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p class="ci">»Sehr geehrter Herr v.&nbsp;Dörfflin! Vater ist sehr
-krank, und der Arzt gibt seit gestern wenig Hoffnung.
-<a class="pagenum" id="page_031" title="31"> </a>
-Er wünscht Sie noch einmal zu sehen. Wir bitten
-Sie, zu eilen.</p>
-
-<p class="si">Hochachtend Gregor v.&nbsp;Zülchow.«</p>
-
-<p>»Zu eilen!« Als ihn Liebesstunden riefen, als
-ihn Jagdfreuden riefen, da hatte er auch eilen können,
-aber so in den Stall gestürzt, so auf's Pferd gekommen,
-so über das in Juniglut zitternde ausgetrocknete
-Moor gejagt wie heute, das war er noch nie.
-Der Rummelshöfer Knecht bemühte sich vergebens,
-Schritt zu halten, es ging nicht, er blieb zurück, immer
-weiter, am Rande des nächsten Busches hatte er auf
-diesem Ritt Herrn v.&nbsp;Dörfflin zuletzt gesehen.</p>
-
-<p>Ein armer Kerl, ein Verwaister, Verirrter, Verlorener,
-so stand er an seines Freundes Fritz Sterbebett.
-Der machte grimmigen Ernst mit seinem Vorhaben.
-In Rummelshof herrschte der Typhus, die
-besten Männer gingen daran ein; er, der wohl der
-allerbeste war, auch. Es ließ sich mit guten Wünschen
-und heißem Jammer und starrer Hilflosigkeit
-nichts mehr dagegen ausrichten.</p>
-
-<p>Ach, es war ein grausames Elend! Frau und
-Söhne standen herum und konnten zusehen, wie sie
-mit ihrem Schmerz fertig wurden. Das war gar
-nichts, fand in seinem Jammer Ludwig Dörfflin.
-Das war ein Schicksalsschlag, wie er jeden auf Erden
-trifft. Hatte er nicht vor einem Dutzend Jahren das
-Gleiche erlebt? Das hockt man aus und trägt's, so
-gut es geht. &ndash; Aber <em class="ge">er</em>, mit <em class="ge">seiner</em> Not! Jahre,
-Jahre, Jahre verloren, um solchen elenden Zankes
-willen! Ihn wiedersehen, nach dem er immer gehungert
-hatte &ndash; jetzt wußte er es erst, seit er den
-<a class="pagenum" id="page_032" title="32"> </a>
-Pferdekopf aus Rummelshof unter seinem Tor hatte
-auftauchen sehen &ndash; und ihn wie wiedersehen! Dasselbe
-Gesicht &ndash; ach ja, aber wie bleich und lebenslos,
-entstellt und fremd! Und doch und doch dasselbe Gesicht!</p>
-
-<p>Er fiel, ungeschickt und klotzig wie er war, vor
-diesem entsetzlichen Sterbelager in die Knie.</p>
-
-<p>»Fritz &ndash; Fritze &ndash; vergib mir das&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ja &ndash; aber tausendmal, mein alter Lutz&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Was hilft's, was hilft's, er geht doch fort! Ihr,
-Frau v.&nbsp;Zülchow und Ihr großen, langen Menschen,
-Ihr könnt' ihn wohl ruhig fahren lassen. Ihr habt
-nichts mit ihm versäumt. Alle die Jahre, die Jahre!
-Wo sind sie nun? Nach der Stadt hin &ndash; zurück,
-hin &ndash; zurück &ndash;&nbsp;&ndash; pfui, dies Lotterleben, wie ist es
-mir verhaßt, wie ist es mir zuwider!</p>
-
-<p>»Fritz! Fritz! Wenn's geht, bleib' doch noch!«</p>
-
-<p>»Ich habe alle Tage an Dich gedacht, mein alter
-Junge. Im Grunde war ich Dir nie böse. Siehst
-Du, ich wollte Dich nur zur Besinnung bringen. Es
-tut mir leid, daß ich so hart war. Laß, heul doch
-nicht, alter Bursche! Wir sind ja nie auseinander
-gewesen. Willst Du, wenn ich tot bin, meine Jungens
-öfter bei Dir haben? Ist Dir das lieb? Du siehst
-doch, daß ich Dir vertraue!«</p>
-
-<p>»Ja, ja!« schluchzte der Gutsherr von Hohen-Leucken
-und trocknete sich mit Herrn v.&nbsp;Zülchows
-Bettzipfel die Augen.</p>
-
-<p>»Fritz, mir ist alles bis zum Halse hinauf zuwider!
-Gib mir die Hand. Hier schwöre ich Dir,
-<a class="pagenum" id="page_033" title="33"> </a>
-daß alles aus ist mit dem schlechten Leben. &ndash; Ach,
-ich möchte mit Dir tauschen. Du darfst doch noch
-nicht sterben, Du, so klug und gut und groß. Was
-liegt an mir altem Sünder, altem Lumpen&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>Am Ende stand Gregor auf, nahm ihn am Arm
-und führte ihn fort. Um Frau v.&nbsp;Zülchows willen
-war das dringend nötig. Man konnte diesen fremden,
-etwas verrufenen Menschen hier in den letzten
-Stunden nicht lärmen lassen, als sei er der einzige
-Zugehörige.</p>
-
-<p>Der arme Herr Ludwig ließ sich stumm fortziehen.
-Im Nebenzimmer sah er scheu in des
-Jünglings eisiges Gesicht.</p>
-
-<p>»Ich weiß«, sagte er bedrückt, »ich war wohl zu
-laut&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>»Es geht bald zu Ende mit unserem Vater. Wir
-müssen ihn allein haben. Wollen Sie jetzt fahren,
-Herr v.&nbsp;Dörfflin? Sie haben ja Abschied genommen.«</p>
-
-<p>»Allein haben&nbsp;&ndash;. Ja, Ihr seid die Glücklichen&nbsp;&ndash;«
-murmelte der verstörte Mensch. Aber
-das schmale kühle Gesicht vor ihm bewegte sich nicht.</p>
-
-<p>»Herr Gregor, lassen Sie mich hier!« flehte er
-plötzlich außer sich. »Ich geh nicht mehr hinein, ich
-mache auch keinen Lärm. Lassen Sie mich hier an
-der Tür sitzen, ich werde mich nicht rühren. Und
-wenn, können Sie mich ja noch immer fortschicken.
-Herr Gregor, ich habe Ihren Vater über alles lieb
-gehabt, schon ehe ein Mensch an Sie dachte, und
-auch ehe er Ihre Frau Mutter kannte, die nun den
-<a class="pagenum" id="page_034" title="34"> </a>
-größten Platz und das größte Recht bei ihm
-hat. Ich red' ja nichts davon, ich bin ja schuld, aber
-lassen Sie mich hier. Sehen Sie, seinen Hund lassen
-Sie ja auch hier. Tell &ndash; kennst Du mich noch?
-Wahrhaftig, Herr Gregor, er kennt mich noch! Sehen
-Sie, ich bin hier doch nicht so ganz ohne jedes Recht.«</p>
-
-<p>»Wie Sie es wünschen, Herr v.&nbsp;Dörfflin«, sagte
-Gregor v.&nbsp;Zülchow, holte ihm einen Stuhl, ging in
-das Nebenzimmer hinein und machte die Tür hinter
-sich zu.</p>
-
-<p>Der Mann und der Hund saßen miteinander
-noch sechzehn Stunden, ohne daß sich jemand um die
-beiden kümmerte oder auch nur durch das Zimmer
-kam. Sie saßen auf der Schwelle und hörten den
-harten Todeskampf des Mannes, der ihnen beiden
-der Liebste war.</p>
-
-<p>Am anderen Vormittag um neun war es vorüber.
-Unter den Dienstboten, die hereingeführt
-wurden, war auch Herr v.&nbsp;Dörfflin. Aber er kehrte
-nach dem ersten Blick auf das wachsbleiche Gesicht
-in der Tür schon wieder um, liebkoste noch einmal
-den braunen Kopf von Tell, seinem Leidensgefährten
-dieser Nacht, ging in den Stall, sattelte sich selbst
-sein Pferd und ritt zurück, den einst so wohl vertrauten
-Weg.</p>
-
-<p>Was er in dieser Nacht gewonnen hatte, war ein
-starker Ekel an den Lüsten dieses Lebens und rechts
-und links am Kopfe ein Büschel grauer Haare.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_035" title="35"> </a>
-Das kleine Fritzchen hat einst geweint, daß »die
-Jungens« nicht wieder kamen. Nun sind sie plötzlich
-wieder da, aber es sind jetzt wohl keine Jungens
-mehr.</p>
-
-<p>Der junge Gregor hat vor einigen Wochen das
-Abiturium bestanden. Er studiert jetzt, er ist Theologe.
-Fritzchen starrte ihn ungläubig an. <em class="ge">Der</em> will
-Pastor werden? Ja, wie der alte freundliche und
-gemütliche Pastor unten im Dorfe sieht er nicht aus.
-Kannst Du Dir Gregor v.&nbsp;Zülchow im Schlafrock
-mit einer langen Pfeife denken? So müssen
-Pastoren doch immer aussehen. Oder bei einer
-Taufe in der niedrigen Dorfstube?</p>
-
-<p>Fritzchen sagt so etwas zu Gisela. Die sieht sehr
-verächtlich aus. »Gott, was für 'ne Idee! Der wird
-doch natürlich Professor oder Hofprediger oder so
-etwas.«</p>
-
-<p>Gregor war damals noch siebzehn Jahre, und
-Fritzchen war eben zwölf geworden. Sie spielte jetzt
-nur noch selten auf dem Boden herum und brauchte
-auch gar keinen Boden. Sie hatte all das Gerümpel,
-die Sonnenstäubchen, den Mummenschanz sicher genug
-auf ihrem ureigensten Dachboden, unter ihrem
-rotbraunen Jungenshaar.</p>
-
-<p>Ach Gregor! Welch ein Held war er doch!</p>
-
-<p>Der Jüngling sah das kleine tolle Ding heute
-so wenig an, wie er sie vor Jahren angesehen hatte.
-Was wollte er überhaupt in Hohen-Leucken? Er
-stand mit seinen langen Beinen herum, sah aus wie
-<a class="pagenum" id="page_036" title="36"> </a>
-ein Eiszapfen und guckte an allen Menschen und
-Dingen vorbei, als wären sie Luft.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin &ndash; na ja, aber mit dem redet
-man doch nicht. Vater hat's so gewollt, da fährt
-man eben mal herüber, zeigt sich, steht ein Stündchen
-hier herum, dann ist es aber auch übergenug.</p>
-
-<p>»Hans, laß den Wagen wieder vorfahren, ja?«</p>
-
-<p>Hans Henning, der Schlingel in der Kadettenuniform,
-wurde blutrot. Das geschah ihm überhaupt
-leicht, schon weil er fast immer ein schlechtes
-Gewissen hatte. »Ich habe Jochen gesagt, daß er ausspannen
-soll&nbsp;&ndash;« stotterte er betreten.</p>
-
-<p>Über Gregors weiße Stirn flog eine zornige
-Röte. Wenn schon einmal ausgespannt war, mußte
-auch gefüttert werden. Da konnte man sich noch ein
-gutes Stündchen hier um die Ohren schlagen.</p>
-
-<p>»Tollpatsch!« Das ging direkt an Hans Hennings
-Adresse. Machte dem aber nicht viel aus. Er
-war an kräftigere Dinge als an Benennungen gewöhnt
-und hatte sich für solche Lagen ein wundervolles
-dickes Fell angezogen.</p>
-
-<p>»Fritz, wollen wir mal zur Schaukel?«</p>
-
-<p>Das mit dem Schaukeln war so: der, welcher
-schaukelte, und die, welche geschaukelt wurde, kamen
-durch den Schwung der Bewegung und das fortwährende
-Abreißen der Unterhaltung in eine amüsante
-Zwiesprache, die selber leicht wie der Flug auf
-dem Schaukelbrett und kräftig wie der Stoß von
-unten war.</p>
-
-<p>»Vor sechs Jahren waren wir hier, Fritz, weißt
-<a class="pagenum" id="page_037" title="37"> </a>
-Du noch? Damals warst Du ein wilder Käfer im
-roten Kleidchen.«</p>
-
-<p>»Du bist auch schrecklich gewachsen, Hans Henning.«</p>
-
-<p>»Nu ja. Sechzehn Jahre. Gregor ist nun
-schon aus der Schule.«</p>
-
-<p>»Du willst Offizier werden?«</p>
-
-<p>»Na, natürlich. Aber nur ein paar Jahre, dann
-nehme ich das Gut.«</p>
-
-<p>»Ach! Gregor ist wohl schrecklich klug?«</p>
-
-<p>»Na, weißt Du, Fritz, der steckt bald alle Professoren
-in die Tasche. Der wird nochmal ein Licht.
-Aber ich! &ndash; Na, ich möcht' gar nicht so sein.«</p>
-
-<p>Fritzchen war wieder oben im Blättergewirr.</p>
-
-<p>»Möchtest Du fliegen können, Hans Henning?«</p>
-
-<p>»Fliegen? Nein. Wozu?«</p>
-
-<p>»Ich möchte. Über die Bäume. Hoch auf die
-Wolken. Bis an die Sterne! Nein, bis in die
-Sonne. Ich möchte mal sehen, wie es da ist!«</p>
-
-<p>»Da verbrennst Du ja. Oder nein &ndash; Du kriegst
-keine Luft. So ist's. Aber wenn Du fliegst, Fritz,
-muß ich auch fliegen. Man kann Dich doch nicht
-allein zu den Trampeltieren da oben lassen.«</p>
-
-<p>»Was für Trampeltiere?«</p>
-
-<p>»Na, auf dem Mars. Aber zuerst kommst Du
-mal nach Rummelshof. Mama läßt es heute sagen,
-ich soll's mit Deinem Papa verabreden.«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dichter Staub flog hinter dem Wagen her, der
-im raschen Trabe durch die sandige Dorfstraße dem
-Moorweg zufuhr. Hans Hennings bunte Mütze
-<a class="pagenum" id="page_038" title="38"> </a>
-leuchtete noch ein paarmal durch die Staubwolken,
-auch Gregors Strohhut &ndash; nun fort&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Du, Gisa &ndash; wir sollen nach Rummelshof
-kommen!«</p>
-
-<p>Gisa war wieder so hübsch und fein angezogen,
-daß man ihr Kleid jetzt bald lieber ansah als ihr Gesicht.
-Es war auch so lang geworden.</p>
-
-<p>»Ja, ja &ndash; aber das ist ja doch nur alles
-Schein«, sagte sie bitter. Es war beinahe, als
-kämpfe sie mit Tränen. Auch mit ihr hatte Gregor
-nur das Alleroberflächlichste gesprochen wie ein gut
-erzogener Mensch, der seine Verachtung zu verbergen
-weiß.</p>
-
-<p>»Schein&nbsp;&ndash;?« sprach Fritzchen verständnislos
-nach. Nein, sie war noch zu dumm, es ließ sich mit
-ihr nichts bereden, noch ganz kindisch. &ndash; Aber wozu
-auch bereden. Es war schon, wie es war.</p>
-
-<p>Es wurde nun auch wirklich Weihnachten, bis
-die Hohen-Leuckener Kinderfuhre nach Rummelshof
-abging. Die Blätter, in die das Fritzchen auf der
-Schaukel hoch hineingeflogen war, waren gefallen,
-ein rauher, nebliger Herbst war um das alte Herrenhaus
-gezogen. Es war hier immer rauher, nebliger,
-dunstiger als sonstwo im Lande. Die Gouvernante
-hatte alle Tage Schnupfen und Halsweh, sie lag in
-einem Hinterzimmer auf dem Sofa oder saß mürrisch
-und reizbar den Kindern gegenüber am Tisch.</p>
-
-<p>»Gott sei Dank, Ostern werde ich eingesegnet«,
-sagte Gisela. »Dann muß Papa mich in eine Pension
-<a class="pagenum" id="page_039" title="39"> </a>
-geben. Ich sag's ihm oder der Pastor sagt's
-ihm.«</p>
-
-<p>»Ach&nbsp;&ndash;« staunte Fritzchen nur ganz verblüfft.
-Ja, das Fritzchen kann schon hier bleiben, was versteht
-das dumme Kind von der großen Welt. Für
-die ist es in Hohen-Leucken noch immer gut genug.</p>
-
-<p>Grau, dunstig, wolkenschwer. Was die Wolken
-doch nur für seltsame Gebilde sind! Fritzchen hatte
-ihren Arbeitstisch an dem einen Turmfenster, das
-aufs Moor hinausging. Der alte klobige Turm enthielt
-vier Stübchen und unten den großen runden
-Schulraum. Der war gut für die Geographie, aber
-schlecht für Fräulein Millers Schnupfen. Es war
-hier aber alles so, wie es immer war, da konnte der
-schönste Schnupfen nichts dagegen tun. &ndash; Fritzchen
-wußte auch, warum ihr alter, gelber, zerschnitzter
-und tintenbeklexter Schreibtisch gerade an dem Südfenster
-stehen mußte. Hier ging der Weg übers
-Moor. Es fuhren jetzt nur noch Feldgespanne
-darauf, aber es war doch einmal &ndash; und es würde
-wieder &ndash;&nbsp;&ndash; und wenn die Weihnachtsferien kamen
-und die Jungens zu Hause waren, dann &ndash; dann &ndash;
-dann fuhr man dort selber entlang&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Fritzchen, träum' nicht. Mach' Deine Arbeiten!«</p>
-
-<p>»Ja &ndash; ja!«</p>
-
-<p>Siehst Du da hinten den Schornstein, den Fabrikschornstein.
-Der ist von der Zuckerfabrik des
-Herrn August Schultze. Herr Schultze hat vor zehn
-Jahren dem Baron Laue das Gut Böllingen abgenommen,
-<a class="pagenum" id="page_040" title="40"> </a>
-der Baron hat fort müssen, erzählten die
-Mädchen, er hatte so viel Schulden. Er soll Agent
-in Berlin geworden sein, und seine Töchter arbeiten
-in Geschäften. Mit Herrn Schultze verkehrt kein
-Mensch. »Das gehört sich so«, hat Fritzchen von
-klein auf gehört. Es gehört sich auch wirklich so.</p>
-
-<p>Weißt Du, wozu der Schornstein gut ist? Man
-sieht immer gleich, woher der Wind kommt. Ach,
-was macht der Rauch manchmal für tolle Kapriolen!
-Er weiß nicht, wohin, so fährt's von allen Seiten auf
-ihn los. Hast Du ihn wohl je gerade in die Luft
-steigen sehen? Kaum, es ist hier immer Wind.</p>
-
-<p>Aber die Wolken sind doch noch mächtiger und
-stolzer als der Rauch. Wie sie lagern übereinander,
-man meint, sie wären aus blaugrauem Granit und
-sind doch so leicht! Vorn schiffen ein paar hellere,
-fast weiße Massen, erst waren sie zusammengeballt,
-aber der Wind läßt sie nicht, schon sind sie auseinandergerissen,
-flattern, andere folgen nach.</p>
-
-<p>Sieh, der Rauch schreibt eine schwarze wunderliche
-Schrift an die bleierne Wand. Lies sie nur
-schnell, es sind schon wieder andere Formen. O dies
-Fließende, Ziehende, Vergehende, ewig Neue!</p>
-
-<p>Wie soll das Kind am Turmfenster nicht den
-Wind lieben? Er baut ihm ja Märchen und Geschichten
-am Himmel auf, er spielt mit ihm so
-wunderbare Spiele. Mit ihm allein, für es ganz
-allein, denn wer sieht sonst dahin?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Aber Fritzchen, Du träumst ja immer noch! Wie
-weit ist denn Dein Thème? Was, noch keine Zeile
-<a class="pagenum" id="page_041" title="41"> </a>
-weiter? Na warte, Du faules Kind, jetzt gebe ich Dir
-die doppelte Arbeit auf!«</p>
-
-<p>Ach, Fräulein Miller &ndash; sehen <em class="ge">Sie</em> denn die
-Wolken nicht? Freilich, Fräulein Miller trägt einen
-Kneifer und hat schwache Augen. Armes Fräulein!</p>
-
-<p>»Ja, jetzt will ich auch die doppelte Arbeit
-machen!«</p>
-
-<p>Das Fritzchen hat sich so voller Farben und Wunder
-getrunken, daß es auch die dreifache Arbeit leicht
-gemacht hätte.</p>
-
-<p>Und zu Weihnachten geht's übers Moor!</p>
-
-<p>»Weeste, der Weg übers Moor ist hundeschlecht,
-hat der Herr gesagt. Fahr' Du man die Fräuleins
-um die Eiche 'rum, sonst steckt Ihr am End' noch alle
-drin wie die Dummen.« Also sprach Jakob zu dem
-Kutscher, der mit der alten Halbchaise vor der Rampe
-hielt.</p>
-
-<p>Trostlos war das Wetter. Regen mit Schnee
-fuhr durch die Luft daher, klatschte auf das Verdeckleder,
-schlug dem Kutscher in das verdrießliche Gesicht.</p>
-
-<p>»Auch noch!« fuhr er den Jakob an. »An dreiviertel
-Stunden Umweg. Du hast schön predigen,
-kannst in der warmen Stube bleiben. Mir fällt's
-nicht ein, mögen die Racker sich ins Zeug legen.«</p>
-
-<p>Die Racker waren die beiden Kutschbraunen. Die
-hatten sich schon ein halbes Jahr lang gewundert, daß
-sie nicht mehr die sechs Meilen Stadtfahrt zu machen
-hatten. Durchs Moor brachten sie die alte Chaise
-wohl immer noch. Der Jakob war ein Pessimist.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_042" title="42"> </a>
-Fräulein Miller fuhr auch mit, das schickte sich
-so, und sie wollte doch auch einmal einen Weihnachtsspaß
-haben. Aber der Papa blieb zu Hause in seiner
-verräucherten Stube, er hatte nichts in Rummelshof
-zu suchen.</p>
-
-<p>»Adieu, Papa!« Fein erzogen wurden diese
-Kinder nicht, aber Gisela hatte so etwas im Gefühl.
-Fritzchen hatte auch etwas im Gefühl, aber etwas anderes:
-es kam ihr so traurig vor, den Papa allein zu
-lassen, während sie in lauter Lust und Seligkeit hinauskutschierte.</p>
-
-<p>»Adieu, Kinder. Grüßt &ndash;&nbsp;&ndash; nein, laßt lieber.
-Bedankt Euch auch bei Frau Baronin, wenn Ihr wegfahrt.
-Adieu, geh' doch, Fritzchen. Die Pferde dürfen
-nicht so lange stehen.«</p>
-
-<p>Fritzchen drehte sich in der Tür noch einmal um.
-Was macht er nun alle die Stunden über? Er war
-doch eigentlich immer zuviel allein. Er kann doch
-auch von hier die Wolken gar nicht ordentlich sehen,
-und lesen mag er auch nicht.</p>
-
-<p>»Papa, ich erzähl' Dir alles, wenn ich zurückkomme!«</p>
-
-<p>»Ja ja, nun geh' doch. Die Pferde&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Fritzchen, kommst Du denn nun endlich?«</p>
-
-<p>Was war das für eine Fahrt. Fräulein Miller
-wollte, daß man das Fensterchen vom Verdeck herunterließe,
-um sich vor Regen und Schnee zu schützen,
-und Gisa wollte es auch. Schade! Der Regen, der
-Wind, alles draußen war so wild und lustig!</p>
-
-<p>»Laßt mich auf dem Bock sitzen!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_043" title="43"> </a>
-»I Gott bewahre, Dein Kleid, Dein Haar! Auf
-keinen Fall. Sitze Du nur still.«</p>
-
-<p>Es ging Schritt für Schritt. Der Boden schwankte
-unter den Rädern. Fräulein Miller ängstigte sich,
-klopfte ans Fenster und schrie. Sie stellte sich jedesmal
-beim Fahren so an, weil sie ein Stadtkind war,
-der Kutscher grinste auch nur und machte beruhigende
-Kopfbewegungen.</p>
-
-<p>Fritzchen sah und hörte das alles nur halb. »Nun
-ist's so weit, nun ist's so weit!«</p>
-
-<p>»Du bist noch sehr kindisch!« sagte Gisa. Denn
-sie freute sich, halb widerwillig, zwar auch, aber sie
-fand, man müsse sich solches nie merken lassen, sobald
-man »erwachsen« sei. Ach, sie war ein rechter Herzenstrost
-für Fräulein Miller.</p>
-
-<p>»Jetzt brauchen Sie sich nicht mehr zu ängstigen,
-Fräulein Miller«, sagte Fritzchen mit funkelnden
-Augen nach einer Schüttelei von fast drei Stunden.
-»Da ist die Mauer &ndash; da sind wir. O, nun machen
-wir aber das Fenster auf.«</p>
-
-<p>Fräulein Miller erholte sich. »Gott sei Dank!
-Ja, ja! Aber nun in der Nacht die Rückfahrt!«</p>
-
-<p>»Wir haben Mondschein«, sagte Gisela.</p>
-
-<p>Fritzchen aber dachte: Nacht und Rückfahrt! Wer
-denkt daran! Das sind ja noch hundert Jahre hin!</p>
-
-<p>Hans Henning und ein alter Diener standen auf
-der Steintreppe. Wer sollte auch sonst noch da
-stehen! Was ging den Herrn Gregor die Hohen-Leuckener
-Chaise mit ihrem Inhalt an?</p>
-
-<p>Fritzchens kleines Herz fiel bei jedem Schritt in
-<a class="pagenum" id="page_044" title="44"> </a>
-das vornehme weite Haus. Hier war alles anders
-als zu Hause, ach, so groß und schön und fein! Einen
-Augenblick herrschte das jähe, wilde Gefühl in ihr,
-auszureißen, fortzulaufen, sich in die Kutsche zu verkriechen.
-Sie fürchtete den Schall der eigenen
-Schritte.</p>
-
-<p>»Gisa«&nbsp;&ndash;, sie wollte sich der an die Hand hängen,
-die schüttelte sie ab. »Laß das!« Möglichst, als
-kenne sie das Fritzchen gar nicht, habe es nie mit
-Augen gesehen, so tat sie.</p>
-
-<p>Da stand eine große, feine, stolze Dame. Sie
-begrüßte Fräulein Miller, die einen tiefen Knix
-machte, und reichte den Mädchen die Hand. Fritzchen
-blickte auf und vergaß alle Verzagtheit. Sie sah
-aus wie Gregor.</p>
-
-<p>»Wo ist Gregor?« fragte die schöne, stolze Frau.</p>
-
-<p>»Oben in seiner Stube, Mama. Er wird wohl
-kommen.«</p>
-
-<p>»Nun, Ihr kleinen Fräulein, so richtige Spielgefährten
-kann ich Euch hier gar nicht geben. Aber
-Hans Henning hat sich schon sehr auf Euch gefreut,
-er wird sich nach Kräften bemühen, Euch gut zu
-unterhalten.«</p>
-
-<p>Und so weiter, was eine liebenswürdige Frau
-eben so hin sagt, wenn ein paar kleine Mädel vor ihr
-stehen, die ihretwegen ebenso gut hätten fortbleiben
-können. Aber es war ihres Fritz letzte Bestimmung,
-das Haus mit diesen Dörfflins zu belasten. Was sie
-so hin sagte aber kam als lieblichste Musik in Fritzchens
-Ohren an. Als ein Klingen und Tönen aus
-<a class="pagenum" id="page_045" title="45"> </a>
-einer anderen Welt. Lag nicht hier ein Hauch, ein
-Duft über allem? O &ndash; so schön hatten doch alle
-Träume ihr dieses hier nicht gezeigt.</p>
-
-<p>Waren dies Tassen aus Porzellan? War dies
-Schokolade? War dies Kuchen, den eine derbe
-Küchenfaust gerührt und geformt hatte? War dies
-ein Tisch aus Holz? Ging man hier überhaupt, wie
-man anderswo geht? Klang, leuchtete, stand und
-bewegte sich hier nicht alles unter ganz anderen als
-den irdischen, gewöhnlichen Gesetzen?</p>
-
-<p>Aber unter welchem Gesetz stand das Fritzchen,
-als es die überirdische Schokolade auf die buntgestickte
-Decke schwippte? Nun &ndash; das ging keineswegs
-anders. Wie kann das Fritzchen unter einem
-solchen Ansturm der Gefühle auch ihre Tasse gerade
-halten?</p>
-
-<p>»Fritzchen!« Armes Fräulein Miller, arme
-Gisela! Es ist auch unangenehm, immer an solchen
-Unband gekettet und für ihn verantwortlich zu sein.</p>
-
-<p>»Was das wohl tut!« sagte Hans Henning ungeheuer
-verächtlich und warf mit der Miene eines
-Großfürsten seine Serviette auf den Fleck. »Nun
-brauchst Du es nicht mehr zu sehen, Fritz.« Im
-Grunde fand er es reizend, daß sie immer noch ihre
-Tasse übergoß.</p>
-
-<p>Der Glanz dieser, seiner Welt umfloß auch Hans
-Henning. Sein rotblondes Haar, militärisch verschnitten,
-seine kurze aufgeworfene Nase, seine unverschämt
-lustigen Augen &ndash; alles war mit von dem
-Zauber umsponnen und verklärt. Auch er war ein
-<a class="pagenum" id="page_046" title="46"> </a>
-Held, aber natürlich einer niederen Grades. Gregor
-und die Mutter &ndash; die, ach die&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Es kam ein Schritt, vor dem zitterten zwei dumme
-kleine Mädchenherzen. Auch Gisela wurde rot vor
-Erwartung und Bängnis. Ach sie war auch nur ein
-armes, sehnsüchtiges Kind, mit der Last ihrer vertrauerten
-Jahre &ndash; daran änderte das feinste Kleid
-und der herbste junge Mund nichts.</p>
-
-<p>Was hatte man von diesem Gregor? Er ging
-umher, warf ein paar Bemerkungen hin, wie sie ihm
-gerade kamen, und ließ die kleinen Mädchen aus
-Hohen-Leucken danach springen und damit zurecht
-kommen. Hatten wohl je blaue Augen einen kälteren
-Blick? Und um diesen war man drei Stunden gefahren
-und hatte lange Monate hindurch auf das
-Moor gesehen!</p>
-
-<p>Was tut es? Er ist doch schön und gut!</p>
-
-<p>Fritzchen, Du kleiner Affe, was tust Du da in der
-Ecke? &ndash; Nein, das sagt man nicht. Sie hat eben
-den Schatten ihres Helden, den er im Schein der
-großen Stehlampe da hinten an die Wand geworfen
-hat, mit spitzem, übermütig seligem Mündchen ganz
-flüchtig geküßt.</p>
-
-<p>Hinten in einem großen Zimmer steht der Weihnachtsbaum,
-er ist nicht bunt wie sonst. Nur Lichter,
-ein wenig glitzernde Schneewatte und Eiszapfen
-schmücken ihn. Frau v.&nbsp;Zülchow mag ihn nicht gern
-sehen, aber sie hat ihn doch für ihre Jungens, vornehmlich
-für den »noch so kindischen Hans« zurecht
-gemacht. Gregor hätte wohl nicht so viel darnach
-<a class="pagenum" id="page_047" title="47"> </a>
-gefragt. Gerade in seiner ernsten Pracht wirkt nun
-der Baum um so stärker auf die beiden Schwestern.</p>
-
-<p>Was ist es nur für ein wunderbares Erleben, das
-jede neue Minute bringt!</p>
-
-<p>Hans Henning zeigt ihnen allerhand Geschenke,
-die herumliegen und noch nicht fortgenommen sind.
-Es gibt nichts Interessanteres als das. Jawohl, es
-sind ja auch Schlipse, Krawattennadeln, Zigarren,
-große unverständliche Bücher und lauter Dinge, die
-von Rechts wegen so ein Fritzchen angähnen müßten.
-Aber alle sonstigen Berechnungen stimmen nicht
-mehr, wenn man schon spitzbübisch den Schatten an
-der Wand küßt.</p>
-
-<p>Das sollte der Gregor wissen! Fritzchen sah ihn
-von der Seite an, und plötzlich, aus dem Verborgenen,
-fletschte sie ihm die Zähne entgegen. O diese
-Lust, diese Lust, solchen Triumph über ihn zu
-haben! Sie suchte immer wieder mit den Augen
-seinen Schatten, den alten Bekannten aus der Ecke.
-Ja, ja, er glaubte, das wäre seiner, und er ahnte
-nicht, was der für Streiche hinter seinem Rücken
-trieb!</p>
-
-<p>Alle Abende war hier ein Familienstündchen Mode.
-Frau v.&nbsp;Zülchow saß im Zimmer bei verhängter
-Lampe, ihre Jungens bei ihr (früher hatte ihr Fritz
-nie gefehlt), und sie sprachen miteinander, wie sie es
-sonst im Treiben des Tages nie konnten. Besuche
-unterbrachen dies Familienstündchen, aber die
-Hohen-Leuckener Kinder und ihre Gouvernante
-<a class="pagenum" id="page_048" title="48"> </a>
-galten kaum als Besuch, darum konnten sie daran
-teilnehmen.</p>
-
-<p>Das Zimmer der Baronin im gedämpften Licht
-des gelben Lampenschleiers erschien Fritzchen wie ein
-Märchentraum. Es war ein lieber, wohnlicher und
-auch gut ausgestatteter Raum, mit schönen hellen
-Möbeln, Pflanzen, Kunstwerken und Teppichen,
-jedes gute Haus hat wohl seinesgleichen. Das konnte
-das Fritzchen nicht wissen. Sie kauerte auf einem
-Schemel, sah die Freifrau an, die an dem kleinen
-Kamin saß und von dem flackernden Feuer magisch
-beleuchtet wurde, und sie glaubte, diese Stunde sei
-die schönste und die stolzeste ihres Lebens, wenn
-auch ihr kleines Persönchen so viel wie gar keine Geltung
-in dieser Stunde hatte.</p>
-
-<p>Fräulein Miller unterstand sich auch nicht recht,
-etwas zu sagen, sie saß irgendwo im Dunkeln. Für
-Gisela hatte Gregor ein Sesselchen an den Kamin gerückt
-und stand daneben. Hans Henning lag wie ein
-junger Jagdhund seiner Mutter zu Füßen.</p>
-
-<p>Gregor redete viel kluges Zeug. Ach, er tat
-seinen stolzen Mund auf, und das Fritzchen hörte
-von da an nur noch Töne &ndash; kaum Worte. Aber auch
-das war schön. Eines merkte auch ihr zerfahrener
-kleiner Kopf: die schöne, feine Mutter dachte sehr
-hoch von Gregor, ihr Ton war ein ganz anderer, als
-wenn sie zu Hans Henning sprach. Den tat sie oft
-ab, wie man eben einen täppischen Hund abtut, den
-man im übrigen aber sehr gern hat.</p>
-
-<p>»Ach &ndash; Hans« darin war immer so ein bißchen
-<a class="pagenum" id="page_049" title="49"> </a>
-liebevoller Spott. Was der Junge doch immer für
-Unsinn treibt &ndash; so ähnlich. Dagegen:</p>
-
-<p>»Ja Gregor. Meinst Du nicht auch &ndash; wie
-denkst Du darüber&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Dann kamen große Fragen, die man sonst nur
-im Katechismus lernt. Ach ja, es war ein gar
-wunderbares Gespräch!</p>
-
-<p>Einmal sagte Gisela etwas. Mitten hinein!
-Ach, daß sie solchen Mut hatte! Es war aber schön
-von ihr. Von der Notlüge, und daß die ihre Berechtigung
-habe. Aber da sagte Gregor:</p>
-
-<p>»Nein, Fräulein v.&nbsp;Dörfflin, sie hat niemals
-Berechtigung!« Und darnach sprach er noch weiter
-und sehr viel in sehr hartem Ton. Frau v.&nbsp;Zülchow
-wollte mildern, aber er widersprach auch ihr. Einmal
-bewegte er sich dabei, so daß der Feuerschein auf
-sein Gesicht fiel, es sah aus wie aus Stein gehauen.</p>
-
-<p>Er sagte, jede Lüge sei ein Mangel an Stolz
-und Kraft, er würde sich vor sich selber schämen,
-wenn er, sich aus seiner Not zu ziehen, zu solchem
-feigen Mittel greifen würde.</p>
-
-<p>»Aber um andere aus der Not zu ziehen?«
-fragte die Baronin sehr leise.</p>
-
-<p>Ihr Sohn entgegnete ihr hart: »Auch um der
-Not anderer Leute willen lasse ich mich nicht zerbrechen.«</p>
-
-<p>Noch viel leiser sagte sie: »Gregor &ndash; das tote
-Prinzip und das lebendige Leben! Vielleicht &ndash;
-nach zwanzig Jahren &ndash; der Gang über diese Erde
-ist weit und lang&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_050" title="50"> </a>
-Es klang so rührend und weh, wie sie sprach, es
-drang durchs Herz. Aber Fritzchens Herz empörte
-sich und rief ihren Helden an: Gregor, steh' fest!
-Was Du einmal gesagt hast, soll gelten! Laß Dich
-nicht rühren!</p>
-
-<p>Freilich, Helden lassen sich auch nicht rühren. In
-diesem, in Fritzchens Sinne, war Gregor auch wahrlich
-ein ganzer Held. Er stand fest, er ließ nicht ab,
-er antwortete mit heller, klingender Härte.</p>
-
-<p>Was &ndash; darauf kam es für Fritzchen nicht mehr
-an. Sie glühte, sie bebte, sie verschrieb sich diesem
-Stolzen, Harten, Eiseskalten mit Leben und Blut.</p>
-
-<p>»Ich werde nie wieder lügen &ndash; und ob mein
-Leben oder das Leben anderer Menschen (sie dachte
-in diesem Moment an Gisa und Fräulein Miller)
-davon abhängt.«</p>
-
-<p>Diese beiden waren sehr ahnungslos, daß eben ein
-feuriges Gelöbnis abgelegt wurde, das unter allerhand
-wunderbaren Umständen ihnen das Leben
-kosten konnte!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dann ging auch dieser Abend zu Ende, und
-dann kam die lange, lange, traumesheiße Rückfahrt,
-mit dem Mondschein auf den Wegen und auf der
-leichten trügerischen Schneedecke des heimatlichen
-Moores.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_051" title="51"> </a>
-Viertes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Gisela saß beim Pastor und sagte: »Bitte, reden
-Sie doch einmal mit Papa, daß er mich Ostern in
-eine Pension gibt. Ich werde im April fünfzehn
-Jahre, und Sie meinen doch auch, daß ich einmal
-fortmüsse.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, es wird Zeit, Gisela, Kind, es wird
-Zeit«, sagte der alte Mann unruhig und ging in
-seiner engen, von hohen Bücherborden verstellten
-Stube hin und her. Gisela nahm ihre Bücher zusammen,
-denn ihre Konfirmandenstunde war beendigt,
-und folgte ihm mit den Augen.</p>
-
-<p>Draußen war ein klarer Frosttag. Ging denn
-wirklich der Wind auch einmal schlafen auf Hohen-Leucken?
-Wie die Sonne auf dem Schnee glitzerte!
-Wie still die kahlen Bäume standen mit ihrer schweren
-weißen Last!</p>
-
-<p>Pastor Baumann blieb stehen und sah hinaus
-auf die Tannen vor seiner Haustür, auf die steinerne
-Gartenmauer mit ihren wunderlichen Kronen aus
-Schnee. Ein Ackerwagen fuhr vorüber, der Dung
-drauf dampfte in weißen Wolken, die Räder knirschten
-auf dem gefrorenen Boden.</p>
-
-<p>»Ich will's schon für Dich besprechen, Kind«,
-<a class="pagenum" id="page_052" title="52"> </a>
-sagte der alte Pastor. Er nannte sie aus alter Gewohnheit
-noch immer Du. »Aber leicht wird's ihm
-nicht werden, fürchte ich.«</p>
-
-<p>»Ach!« sagte Gisela wegwerfend.</p>
-
-<p>»Ich meine&nbsp;&ndash;« sagte er hastig &ndash; »in anderer
-Hinsicht, meine ich. So ein Pensionsleben ist
-teuer&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ach so&nbsp;&ndash;!« Gisela zog ein äußerst hochmütiges
-Gesicht. »Nun, daran wird es wohl nicht zu scheitern
-brauchen!«</p>
-
-<p>»Nein, nein, gewiß nicht«, sagte der Pastor
-begütigend. Er sah wieder hinaus und verfiel in
-Gedanken. Man mag es ja den armen Kindern
-nicht sagen, was doch das ganze Land umher weiß.
-Wieviel Hypotheken mag er jetzt haben auf Hohen-Leucken?
-Ist denn das nur möglich, daß ein Mensch
-so seine Ehre und Pflicht vergißt?</p>
-
-<p>Als Gisela hinaus war, sah er ihr nach, dann
-tat er Schlafrock, Käppchen und Pfeife ab und unternahm
-den sauren Gang. Wie selten gingen seine
-Füße über den ansteigenden Steindamm und durch
-das alte Tor! Und es war doch auch sein Beichtkind,
-das hier oben hauste. Freilich, das unhandlichste
-von allen, aber auch vielleicht das bedürftigste!
-Ja, aber Patronatsherr und Beichtkind in einer
-Person, das faßt sich oft schlecht zusammen. Herr
-v.&nbsp;Dörfflin war seit langen Jahren &ndash; seit den sechs
-verfluchten Jahren &ndash; weder für das eine noch für
-das andere zu sprechen. Mochte sein wegen schlecht
-bestellten Gewissens!</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_053" title="53"> </a>
-Die Sonne schien gerade in sein Arbeitszimmer,
-als der Pastor eingelassen wurde. (Arbeit? Drei
-Fragezeichen. &ndash; Na ja!) Die Luft war voll
-Zigarrenrauch und Weindunst.</p>
-
-<p>»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Pastor?«
-So formell wie möglich.</p>
-
-<p>Das alte Männchen war hochfahrendes Wesen
-nicht gewöhnt. Er konnte es nicht vertragen, er
-verstand es nicht. Er konnte nur zu den armen,
-kranken oder sündhaften Leuten gehen, dort fühlte er
-sich sicher in der Kraft seines Amtes. Sie liebten
-ihn dort, ehrten ihn und steckten willig seine Strafreden
-ein. Die störrigsten Böcke hatte er schon
-zahm gekriegt. Aber dies ist hier so anderes Holz,
-man weiß nicht, es anzufassen. Die Formen der
-guten Gesellschaft haben so etwas Lähmendes für
-den alten Pastor, der selbst ein Handwerkersohn war
-und sie nicht zu handhaben weiß. Sie kommen ihm
-dadurch so ungeheuer und wichtig vor. Ja, das ist
-eine traurige Geschichte. Herr v.&nbsp;Dörfflin, der
-Sünder, sitzt oben, und Pastor Baumann, der Gerechte,
-sitzt unten.</p>
-
-<p>Was das nun für ein elendes Gestöckere wird
-wegen Gisela! Verächtlich schaut der Gutsherr
-drein. »Deshalb kommen Sie her, mein Herr
-Pastor? Aber natürlich kommt das Mädchen fort.
-Nach Berlin wahrscheinlich. Wie kamen Sie auf die
-Idee, daß ich sie hier behalten wollte? Übrigens
-danke ich Ihnen für die Teilnahme. Darf ich Ihnen
-eine Zigarre anbieten?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_054" title="54"> </a>
-»Danke, Herr v.&nbsp;Dörfflin, ich vertrage so starke
-Zigarren nicht.«</p>
-
-<p>»So? Schade. Na, also nochmals besten Dank.«</p>
-
-<p>Das war die ganze Unterredung. Er geht
-wieder den Steindamm herab durch's Tor, auf die
-Dorfstraße. &ndash; Sie sind kurz, diese Wintertage!
-Sieh, welchen Schatten schon wieder die Scheune
-wirft! Und da ist er ja auch wieder, der kalte
-Blasius aus dem Böllinger Steinloch, der über die
-kahle Ebene kommt, dem Pastor in die Rockärmel
-fährt und wie ein frecher Bube mit seinen weißen
-Haaren spielt.</p>
-
-<p>Ach, altes Herz, Du bist unwürdig Deines
-Amtes! Wie lange Jahre wird es nun wieder
-dauern, daß Du Dich in Dein Häuschen verkriechst
-und nicht wieder in die Region des Herrenhauses
-hinaufsteigst!</p>
-
-<p><em class="ge">Der</em> Gedanke klopfte freilich in dem überbescheidenen,
-eingeschüchterten alten Herrn nicht an,
-daß er seinem Patronatsherrn eine viel größere Respektsperson
-sei, als er sich jemals träumen ließe.
-Daß sein Amt, sein weißes Haar und sein reiner
-Wandel dem leichtfertigen Sünder da oben gar mächtig
-imponierte und ihn sich sehr klein fühlen ließ &ndash;
-und daß in diesem speziellen Falle Gisela nie aus
-dem Hause gekommen wäre, wenn er nicht diesen
-Gang unternommen hätte, der anscheinend so nutzlos
-wie möglich war.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nun ging Gisela fort, nach Berlin, zu weitläufigen,
-reichen Verwandten, aber man hörte auf
-<a class="pagenum" id="page_055" title="55"> </a>
-Hohen-Leucken oft von ihr. Bald fehlte es an einem
-Gesellschaftskleid, bald am Taschengeld, bald berichtete
-sie von notwendigen Verpflichtungen und forderte
-schleunigst eine hohe Summe.</p>
-
-<p>Diese Briefe blieben keine Geheimnisse. Herr
-v.&nbsp;Dörfflin riß sie auf, meist morgens am Kaffeetisch,
-überflog sie, fluchte leise vor sich hin und ließ
-sie dann offen liegen. Fritzchen las sie alle.</p>
-
-<p>Da begriff sie plötzlich, was Geld eigentlich sei.
-Wie eine neue, unheimliche Macht drängte das in
-ihr Leben. Geld! Soviel auf einmal! Hundert
-Mark, zweihundert Mark wie für nichts. Und Papa
-war so bleich geworden, biß an seinem Schnurrbart
-und hatte verstörte Augen.</p>
-
-<p>Waren sie denn nicht reich? Sie hatten ja solch
-großes Haus, Hof und Äcker, mehr als zwanzig
-Pferde und all das Rindvieh und die Schweine.
-Dazu Kutschen, Knechte, Mägde und waren im ganzen
-Dorf als die Herren geehrt. Für ein einziges
-Schwein bekam Papa mehrere hundert Mark, also
-was war eigentlich dabei?</p>
-
-<p>Aber der dunkle Geist war angerufen und drückte
-ihr auf der Brust, flog an dem Turmfenster vorbei,
-wenn sie nach den Wolken sah, vergällte ihre
-Träume.</p>
-
-<p>Einmal sprang es aus ihr heraus. Papa las
-gerade die Zeitung, und ein Brief von Gisa war gar
-nicht einmal in Sicht. Fritzchen saß vor ihrem
-Kakaotäßchen, aber sie mochte nicht trinken.</p>
-
-<p>»Papa!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_056" title="56"> </a>
-»Was gibt's?«</p>
-
-<p>Es war mehr ein Anfahren als eine Frage, er
-war in letzter Zeit etwas nervös geworden, dieser
-Herr. Sah er denn nicht, daß sein Kind mit ihm
-reden wollte? Was hatte er von der Zeitung? Er
-war ja doch nur ein halb verkommener alter Landjunker,
-was hatte er noch mit Politik zu tun oder der
-Welt da draußen? Sie hatte ja mit ihm auch nichts
-zu tun. Aber sein braunäugiges Kind, das wartete
-noch auf ihn.</p>
-
-<p>Das junge Herz so einschüchtern, daß es nicht
-wieder kommt, das wäre vielleicht für beide Teile das
-Beste.</p>
-
-<p>»Was willst Du? Was stierst Du mich an?«</p>
-
-<p>»Papa &ndash; ich meine nur &ndash; nicht wahr, wir
-haben doch sehr viel Geld?«</p>
-
-<p>Famos! Das war die Frage, die ihm am besten
-passen konnte. Er wurde blutrot über und über.</p>
-
-<p>»Was geht's Dich an! Was fragst Du so dummes
-Zeug? Wer hat Dich aufgehetzt? Was geht's
-Dich an? Verhungern wirst Du wohl nicht, Mamsell
-Naseweis. Wer hat Dich aufgehetzt, wer hat Dir
-diese dumme Frage eingetrichtert?«</p>
-
-<p>»Niemand. Ich frage aus mir selbst«, sagte
-Fritzchen.</p>
-
-<p>»So schweige künftig aus Dir selbst!« brüllte er
-sie an. Damit versteckte er sich wieder hinter seiner
-Zeitung, er hatte keine Lust, zu sehen, was sie für
-ein Gesicht dazu machte. Aber seine Finger, die das
-Blatt hielten, zuckten, und wie ein kurzer Pistolenschuß
-<a class="pagenum" id="page_057" title="57"> </a>
-kam hin und wieder hinter dem Papier ein
-grollendes Gemurr heraus.</p>
-
-<p>»Solche Sache! Albernheit! Möcht' nur wissen,
-ob wir als Kinder &ndash; Na ja, überall neue Moden&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Das Fritzchen war ganz still geworden, es sah
-unverwandt auf den Papa, wenn es auch vor der
-Zeitungsmauer nicht mehr sehen konnte als die nervös
-zuckenden dicken Finger und oben darüber einen
-Busch des struppigen Haares.</p>
-
-<p>Es gibt Erlebnisse, die fliehen vorüber wie die
-Wolken draußen, wenn der Wind sie jagt, sie huschen
-auch über den Kaffeetisch, springen aus dem Knistern
-der Zeitung, fletschen koboldhaft aus den Spitzen des
-struppigblonden Haarbusches, man kann sie nicht festhalten,
-sie sind da und doch nicht da &ndash; und sind doch
-mächtige Geister, die das Heute vom Gestern scheiden.
-Ein zwölfjähriges Fritzchen hat gefragt, hat kindisch
-eine ausfüllende Antwort verlangt &ndash; und eine erwachende
-junge Menschenseele schaut jählings in den
-aufgerissenen Abgrund von Schein und Sein, von
-Trug, Jammer, Lebensangst und unlöslicher Wirrnis.</p>
-
-<p>Der Wind jagt die Wolken vorüber, und es weiß
-keiner mehr, woher sie kamen und wohin sie gegangen
-sind. Fräulein Miller kommt, das Kind in die große
-Schulstube abzuholen mit den acht Turmfenstern.
-Es ist jetzt Sommer geworden, aber Fräulein Miller
-hat noch immer den Schnupfen. »Wird es auch wohl
-jemals so recht heißer, schöner Sommer auf Hohen-Leucken?«
-so lautet eine immer wiederkehrende Passage
-<a class="pagenum" id="page_058" title="58"> </a>
-in ihren Briefen an ihre Angehörigen. Das ist
-übertrieben, aber unten im Dorf, im Banne des
-Nebelrings, ist auch die Hitze nur dumpf, lastend und
-ermattend.</p>
-
-<p>Fritzchen wurde plötzlich fleißiger. Sie sah nicht
-mehr nach den Wolken aus, sie arbeitete wie noch nie.
-Fräulein Miller vergaß selbst ihren Schnupfen.
-»Aber liebes Fritzchen, das geht mit einem Male
-alles! Willst Du mir die liebe Gisa ersetzen?«</p>
-
-<p>Fritzchen sah sie nur stumm an. Das Fräulein
-mußte gerade ihr Nastüchlein brauchen, darum konnte
-sie diesen Blick nicht sehen. Er war klar und still,
-aber dunkel.</p>
-
-<p>Man will manchmal, wenn man noch zwölf Jahre
-alt ist und vor einer jähen Kluft steht, mit eigenen
-Armen Steine tragen und die Kluft damit füllen.
-Man hält das in allem Ernst für möglich. Man
-glaubt auch ohne weiteres, daß französische Vokabeln,
-Dezimalaufgaben und ein paar Touren am Strickstrumpf
-solche Steine wären.</p>
-
-<p>Warum soll man es auch nicht glauben? Hilft
-es nicht, so schadet es doch auch nicht. Es ist ein
-solch' jauchzendes, stolzes Ding um ein sich spannendes
-Kraftgefühl!</p>
-
-<p>Hin und wieder kam Gisela zum Besuch, erst zu
-Weihnachten, dann fand sie auch dies Fest draußen
-schöner als hier. Sie wurde immer fremder und
-immer feiner. Was sollte sie mit dem unwissenden,
-schlecht erzogenen kleinen Struwwelkopf anfangen, der
-immer noch seinen zerschnitzten Arbeitstisch am Turmfenster
-<a class="pagenum" id="page_059" title="59"> </a>
-in der großen Schulstube hatte und am Ende
-sein höchstes Ideal im Rummelshof und seinen Bewohnern
-sah?</p>
-
-<p>Wenn sie wieder fortfuhr in ihrem neuen, schönen
-Reisekleid, kam es Fritzchen doch manchmal als ein
-wunderliches, verkehrtes Ding vor, daß sie dableiben
-müsse, und daß nun wieder der alte Tageslauf anging,
-von vorn an, immer derselbe. Da wurde ihr
-heiß, und sie lief zum Papa.</p>
-
-<p>»Ich möchte auch fort. Papa. Wie Gisa!«</p>
-
-<p>»Ja doch. Wirst es wohl noch abwarten können.
-Nächstes Jahr.«</p>
-
-<p>Das kam ein paarmal vor, dann stellte Fritzchen
-das Fragen ein. Das nächste Jahr kam bald, aber
-es sah genau aus wie das vorige. Papa hatte das
-wohl vorausgewußt und nur gelogen, um sie los zu
-werden.</p>
-
-<p>Versprechungen nicht halten ist so gut wie lügen.
-&ndash; Was hatte doch einmal Gregor v.&nbsp;Zülchow über
-das Lügen gesagt?</p>
-
-<p>Das ist schon lange her, aber seine Worte stehen
-mit Flammenschrift an allen Wänden. Fritzchen
-kann nichts anderes tun, als das, das ihr allein als
-Heiligtum geblieben ist, anzubeten und die von
-Phantasien überfüllte Seele am starren Werkdienst
-aufzurichten. Es ist kein Mensch in Hohen-Leucken,
-der dem Fritzchen v.&nbsp;Dörfflin die kleinste Lüge nachweisen
-könnte.</p>
-
-<p>Es lag freilich auch kaum ein Grund vor, um
-jemals zu lügen, leider. Es gab keine großen Versuchungen.
-<a class="pagenum" id="page_060" title="60"> </a>
-Fräulein Miller &ndash; ach, um die hätte
-es sich wohl kaum gelohnt, und der Papa&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>War es wohl Tatsache, was die Leute sich erzählten,
-daß Herr v.&nbsp;Dörfflin mit seiner Tochter oft
-in Wochen kaum zehn Worte wechselte? Die Leute
-mußten es wohl wissen, er wußte es nicht und Fritzchen
-auch nicht. Trotzdem waren sie jetzt viel zusammen.
-Das ergab sich immer so, wenn der Sommer
-vorüber war, die Abende lang wurden und die
-Herbststürme um das Haus heulten.</p>
-
-<p>Fräulein Miller hatte sich das kleinste Stübchen,
-das zu finden war, ausgesucht. Dort stand ein großmächtiger
-Kachelofen, und in dem bullerten die dicken
-Buchenkloben. Da war ihr und ihren hageren Gliedmaßen
-wohl. Da las sie Gedichte, Romane und
-schrieb an ihre Verwandten, daß in Hohen-Leucken
-schlechtes Wetter wäre.</p>
-
-<p>In diesem Stübchen war kein Aufenthalt für
-Fritzchen. Für sich allein durfte sie auch kein Petroleum
-verbrennen, da zog sie mit ihren Büchern,
-Schulheften und dem ganzen Krimskrams ihrer bunten
-Traumwelt in des Papas nach Zigarren und
-Wein duftendes Zimmer.</p>
-
-<p>Nein, sie sprachen nicht zusammen. Keins von
-beiden dachte daran. Sie trieben jedes sein Werk,
-eines vielleicht so nützlich oder so unnützlich wie das
-andere. Was der alternde, in Stumpfheit leise versinkende
-Mann für sich im Rauch seiner Zigarre, im
-Wein, in den Jagd- und Pferdebüchern und Zeitungen
-noch festhielt an Lebenswerten oder was er aus
-<a class="pagenum" id="page_061" title="61"> </a>
-dem jungen, feinen, trotzigen Gesichtchen für sich noch
-ablas und neu gewann &ndash; das waren dunkle Geschichten,
-die keiner enträtselte, weil keiner sich darum
-bemühte, der, den sie am meisten angingen, vielleicht
-am wenigsten.</p>
-
-<p>»Die Gisela hat es doch viel besser!« sagten die
-Leute. Jawohl, sie lebte da draußen, sah viele Gesichter,
-hörte Musik, bekam neue Kleider &ndash; und das
-Fritzchen lebte hier mit dem alten mürrischen Papa,
-wurde von seinem Zigarrenrauch eingesponnen, las
-ihre alten Märchen und baute sich selbst neue und
-schönere&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Es ist ein wunderliches Ding um das »besser
-haben« in der Welt. Es scheint oft so leicht zu berechnen
-und ist doch eines der schwierigsten Exempel,
-die wir uns aufstellen können.</p>
-
-<p>Der Papa sollte sich eigentlich über Fräulein
-Miller wundern, sie gab doch dem Kinde unerhört
-viel Schreibereien auf. Manchmal schrieb Fritzchen
-den ganzen langen Abend. Aber Fräulein Miller
-war nicht schuld daran.</p>
-
-<p>Wenn Herr v.&nbsp;Dörfflin einmal seine Zeitung
-oder sonstige Lektüre fortgelegt und über den Tisch
-sich das Schreibheft seines Mädchens gelangt hätte,
-so hätte er so etwas wie ein kleines Wunder erlebt.
-Statt der Ausarbeitung oder des Aufsatzes hätte er
-eine seltsame, phantastische Geschichte in Händen gehalten,
-ein Märchen, wie er in seiner Kinderzeit es
-nie gehört hatte, und er wäre unmittelbar in dem
-Land drinnen gewesen, in dem sein Fritzchen lebte,
-<a class="pagenum" id="page_062" title="62"> </a>
-webte und sich selber die ganze übrige Welt ersetzte,
-in dem es sie schuf. Er hätte auch auf bekannte Gestalten
-getroffen, denen nur ein Panzer oder ein
-Gewand flüchtig übergeworfen war: auf sich selbst
-vielleicht, vor allem aber auf die Jungens vom Rummelshof
-und wieder und wieder, von strahlendem
-Licht umleuchtet, auf Herrn Gregors kühle, hochmütige
-Erscheinung.</p>
-
-<p>Fritzchen aber war im Laufe der Wochen und
-Monate todsicher geworden, daß die väterliche Hand
-niemals herübergreifen werde, und sie baute ihre
-Märchen, spielte mit ihren Gestalten und schüttete in
-königlicher Verschwendung den Farbenreichtum ihrer
-ganzen Seele in diese Gebilde aus.</p>
-
-<p>Dadurch wurde aber auch ihres Vaters verqualmtes
-Zimmer ihr lieb und unentbehrlich. Und
-dadurch wurde ihr gesenktes Köpfchen mit dem rotbraunen
-Haar, dem trotzigen Mund, der herrisch verzogenen
-Stirn dem armen alten Landjunker auch
-lieb und unentbehrlich. Es kam einmal vor, daß
-Fritzchen Husten hatte und von Fräulein Miller zwei
-Tage lang ins Bett gesteckt wurde. Da dünkte ihm
-seine Stube leer, und die beiden Abende waren lang
-und langweilig ohne Ende. Er fühlte sich gequält
-und gejagt und wußte nicht, wovon. Die Zigarre
-ging ihm beständig aus, und der Wein widerte ihn
-an. Endlich stand er auf und tappte die dunkle,
-zugige Treppe hinan in das obere Zimmer, in dem
-Fritzchen lag. Dort brannte eine verhängte Lampe,
-am Bett stand ein Krug heißer, dampfender Milch
-<a class="pagenum" id="page_063" title="63"> </a>
-und eine Selterflasche. Fräulein Miller war nicht
-da, sie war wohl gelaufen, eine Tasse oder sonst etwas
-zu holen. Fritzchen lag im fiebrigen Halbschlaf. Sie
-hob die Augen nur ein wenig, als er herankam.</p>
-
-<p>»Na &ndash; Fritz? Fritzel &ndash; was machst denn für
-Sachen?«</p>
-
-<p>Er legte seine breite massige Hand auf ihr fieberheißes
-Händchen. Sie fühlte die Berührung als
-etwas Gutes.</p>
-
-<p>»Faß mir den Kopf an, Papa. Du bist so schön
-kühl.«</p>
-
-<p>Er tat's und stand neben ihr, bis Schritte kamen.
-Da zog er die Hand zurück, als fühle er sich auf
-einem Unrecht ertappt. »Du mußt bald wieder nach
-unten kommen«, sagte er.</p>
-
-<p>Fritzchen blinzelte der schwerfälligen Gestalt nach,
-die sich zur Tür bewegte.</p>
-
-<p>»Sieh' auch nach der Lampe unten, daß sie nicht
-blakt. Sie tut's immer.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, Fritzel, ich werd' schon.«</p>
-
-<p>Am dritten Abend war sie wieder unten, und
-alles ging wie vorher. Nur war es jetzt, als wenn
-ein Lichtschein in des verwüsteten Mannes verräucherten
-Kopf gefallen wäre, nun, da es ihm bewußt
-geworden war, wieviel ihm daran lag, daß sein
-kleiner Struwwelkopf ihm abends gegenüber saß. Fritzchen
-selbst aber hatte gar keine Lust auf Giselas Bälle
-und Gesellschaften, wenn sie jetzt wieder ihre Märchenabende
-hatte, an denen im ganzen Erdgeschoß
-außer ein paar Wirtschaftsräumen nur des Vaters
-<a class="pagenum" id="page_064" title="64"> </a>
-Stube erhellt war und die schwarze Winternacht
-draußen wie ein Ungeheuer lag, das auf Beute
-lauerte und von schimmernden Helden bekämpft
-wurde.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Ja &ndash; ihr schimmernder Held &ndash; wo blieb er?</p>
-
-<p>Wenn sie ihn finden wollte, mußte sie zu ihren
-Märchengeschichten gehen, denn in Wirklichkeit zeigte
-sich Gregor nicht auf Hohen-Leucken. Er war ja
-dort gewesen, dem Willen seines Vaters gemäß; mehr
-zu tun dünkte ihm wohl überflüssig. So kam nur
-Hans Henning hin und wieder, brachte viel Freude
-und Lustigkeit mit und auch den Schimmer aus der
-anderen Welt, in der Fritzchen so Großes vermutete
-und nach der sie sich sehnte.</p>
-
-<p>Gregor aber hatte wahrlich andere Dinge, die
-ihn beschäftigten. Es tat sich vor ihm das unermeßliche
-Seelenleben der Völker und Zeiten auf, das
-Ringen um Gotteserkenntnis und eine objektive
-Wahrheit &ndash; so alt wie die Menschheit selbst. Das
-tödliche Ringen mit der Erkenntnis von der ewigen
-Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit. Licht und
-Finsternis untrennbar verwoben. Das ewige Rätsel
-von dem Sein, in dem alle Rätsel von Woher und
-Wohin, von Gut und Böse, von Werden und Vergehen
-zusammenlaufen.</p>
-
-<p>Es saß ein kleines Mädchen und dichtete tolle
-Märchen von ihm. Aber er ging in der Fülle des
-Lebens, trank von allen Bornen und zeigte keinem,
-<a class="pagenum" id="page_065" title="65"> </a>
-auch den Freunden nicht, auch Mutter und Bruder
-nicht, die Erschütterungen, die ihn durchwühlten.</p>
-
-<p>Einmal vor vielen Jahren, als die Jungens noch
-klein waren, hatte Herr v.&nbsp;Zülchow unter dem Weihnachtsbaum
-zu seiner Frau gesagt: »Sieh' Dir doch
-mal die beiden bei dem Schaukelpferd an! Hans
-der Schlingel, kann sich doch freuen wie ein Wilder,
-aber Gregor bleibt immer gelassen. Wo hat nur der
-Junge diesen Schuß Eiswasser im Blute her?«</p>
-
-<p>Was tut nun der Junge mit dem Eiswasser im
-Blute, als er den heiligen Weltgeheimnissen dicht
-gegenübersteht?</p>
-
-<p>Wenn er, der Hohe und Stolze, von seinem
-kühnen Sattel einmal herunterspränge und in das
-verqualmte Herrenzimmer in Hohen-Leucken überm
-Moor zu dem armen kleinen törichten Fritzchen ginge
-und ihm sagte: Du reiches, heißes, junges Kind, gib
-mir ein wenig von dem, was Du zu viel hast! &ndash; ja,
-dann könnte etwas Großes und Schönes sich vollziehen.
-Dann könnten die tiefen und echten Erschütterungen,
-die dieses Menschen Wesen ergreifen, den
-Frühlingsstürmen gleich sein. Dann könnte über
-dem ewigen Menschheitsdrang ins Dunkle, Unerklärte
-hinein, die klar-eisige, kühle Vornehmheit
-einer adligen Gesinnung, die ihre Grenzen kennt, wie
-ein Königszepter stehen. Dann ist der Priester der
-Vermittler, der Sprecher Gottes unter den Menschen,
-in seiner höchsten Idee erreicht.</p>
-
-<p>Aber es ist ein weiter dunkler Gang, der über so
-ein Moor führt, und es hängt vielleicht eine Lächerlichkeit
-<a class="pagenum" id="page_066" title="66"> </a>
-an solch einer Art von Bittgang. Gregor
-v.&nbsp;Zülchow kann viel, und die Menschen wissen es
-und staunen ihn an &ndash; aber etwas, das sehr dazu gehört,
-wenn man ein tüchtiger Mensch werden will,
-das kann er nicht und wird es nie können: sich lächerlich
-machen, sei es vor anderen, sei es vor sich selbst.</p>
-
-<p>»Er hatte keine Gestalt nach Schöne«, wird nie
-von ihm gelten. <em class="ge">Er</em> hatte große Gestalt und Schöne!
-Ach ja, er war ein schimmernder Held.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_067" title="67"> </a>
-Fünftes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Als Fritzchen siebzehn Jahre alt war, kam sie
-doch einmal für den Winter in die Welt. Die reichen
-Verwandten, bei denen Gisela jetzt schon fünf Jahre
-war, zogen ins Ausland und wollten zum Schluß,
-ehe sie auch Gisa wieder abgaben, die beiden
-Schwestern einmal bei sich haben.</p>
-
-<p>Fritzchen freute sich lange vorher wie toll auf
-diesen Winter. Sie träumte sich die wunderbarsten
-Abenteuer zurecht, die ihr dort begegnen würden.
-Mit ihrem Kopf, der an Märchen und Phantastereien
-gewöhnt war, malte sie sich das kommende Leben aus,
-als sei es nur eine Fortsetzung ihrer eigenen bunten
-Geschichte.</p>
-
-<p>Das wurde nun anders. In den hellen, überhellen
-Räumen, unter den leichten, lauten, eleganten
-Menschen stand das Kind aus dem öden, entlegenen
-Moorwinkel wie verwirrt da. Man redete hier von
-Dingen, Büchern, Menschen, Ereignissen, von denen
-sie nichts wußte. Man lachte über Scherze, die sie
-nicht verstand. Man versuchte flüchtig, sie ins Gespräch
-zu ziehen und ließ sie dann wieder beiseite
-liegen.</p>
-
-<p>Mit Gisa war es die alte Geschichte wie vor
-<a class="pagenum" id="page_068" title="68"> </a>
-Jahren, als sie noch Kinder waren. Wenn Fritzchen
-sich bei ihr verkriechen oder sich an sie hängen wollte,
-schüttelte die sie heftig ab und tat, als kenne sie sie
-nicht. Sie war auch wie eine Fremde, beständig in
-lebhafter Unterhaltung mit Herren und Damen,
-elegant, gewandt, und wie es dem armen Fritzchen
-erschien, geistreich wie sie alle.</p>
-
-<p>Auch die liebenswürdige Tante, bei der sie wohnten,
-schüttelte ein wenig den Kopf über dies verirrte
-Kind. »Aber Frida&nbsp;&ndash;« so hieß Fritzchen plötzlich
-&ndash; »Du mußt Dir doch wohl eigentlich noch einige
-Fertigkeiten und Kenntnisse aneignen.« Das entschlüpfte
-ihr eines Abends in der Kutsche, als sie von
-einer kleinen Teegesellschaft heimkehrten.</p>
-
-<p>»Ja, es ist wirklich unglaublich!« sagte Gisela.</p>
-
-<p>Fritzchen wurde trotz des Dunkels blutrot. Sie
-fand jede Empörung, auch die von Gisela, gerechtfertigt.
-Wie konnte sie nur so dumm und ungeschickt
-sein!</p>
-
-<p>Am anderen Morgen nahm die Tante sich das
-verstörte Kind vor, ihm wieder Anweisungen zu
-geben. Aber wo war der Anfang zu finden? Die
-Tante war im Gesellschaftsleben aufgewachsen, sie
-kam mit einem Menschenkinde, dem diese äußeren
-Bedingungen fehlten, was es auch dafür einzusetzen
-haben mochte, nicht zurecht. Die Unterrichtsstunde
-verlief in peinlicher Unsicherheit auf beiden Seiten,
-sie brachte außer einigen ganz kleinen Erfolgen noch
-Mißverständnisse hervor und wurde klüglich nicht
-wiederholt.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_069" title="69"> </a>
-Von nun an galt Fritzchen als die Einfalt vom
-Lande, die zu dem Amüsement der anderen berufen
-sei. Sie wußte das nicht, und durch die Schicht der
-Höflichkeit fühlte sie das nicht hindurch. Dazu war
-sie in Wahrheit noch allzu dumm auf diesem Felde.
-Aber das Gefühl endloser Fremdheit und Verirrtheit
-blieb.</p>
-
-<p>Allerlei an der Luftveränderung bekam ihr nicht.
-Sie fühlte sich matt und fieberhaft und durfte mit
-ihrem Kopfweh ein paarmal zu Hause bleiben. Da
-erfand es sich, daß dies wieder ihre schönsten Abende
-wurden. Sie saß in einem traulichen kleinen Seitenzimmerchen
-und hatte das elektrische Licht ausgedreht,
-so daß nur der Laternenschein von unten ins Gemach
-fiel. Alle Gegenstände nahmen unbestimmte Formen
-an. Da kauerte sie sich voll glückseliger Behaglichkeit
-zusammen, und hier im fremden, beängstigenden
-Berlin, an fremder Stätte, wo ihr Herz trotz
-aller Mühe nicht warm werden wollte, fing sie wieder
-an, ihre bunten Bilder zu weben und zu spinnen.
-Der Abend verflog ihr unter den Händen, und sie
-erwachte wie aus einem schönen Traum, als es draußen
-lebendig wurde und die Ausgeflogenen heimkehrten.</p>
-
-<p>»Aber Frida! Da sitzt Du noch! Es ist ja
-Mitternacht vorbei, weißt Du das nicht?«</p>
-
-<p>Sie bekam freundliche Schelte, nur Gisela sah
-entrüstet aus. »Wäre sie mit uns gewesen, Tante,
-so wäre sie schon längst müde geworden.«</p>
-
-<p>Sie war in einen liebenswürdigen, lustigen und
-<a class="pagenum" id="page_070" title="70"> </a>
-eleganten Kreis geraten, der kleine Märchenfritz aus
-dem Wind- und Wolkenturm von Hohen-Leucken &ndash;
-aber sie hätte wohl noch in einen besseren geraten
-können. Es kamen hin und wieder Leute in den
-ihren hinein, die sahen sich nach ihr um und konnten
-sie danach eine ganze Zeitlang nicht vergessen. Und
-das nicht darum, weil sie sie als die Einfalt vom
-Lande amüsierte.</p>
-
-<p>Im ganzen spielte sie ja hier die unvorteilhafteste
-Rolle, die solch ein unbehauener junger Menschenblock
-zwischen all den gehobelten, glatten und
-strahlenden Figuren und Figürchen spielt. Es ist
-eine gar ehrliche Tragik um diese Rolle.</p>
-
-<p>Wo sollte sie nun hin? Wo paßte sie nun hin?
-Immer nur in ihr altes ödes Heimatshaus, das hier
-so sichtlich verachtet wurde? Was jeder hier konnte:
-glatt in dieser Gesellschaft aufgehen, das konnte nur
-sie nicht? Woran konnte es nur liegen als an ihrer
-hoffnungslosen Dummheit, daß sie sich hier stets zur
-Freude gewaltsam zwingen mußte und erst wieder
-los und ledig fühlte, wenn sie allein mit sich war wie
-an den schönen Kopfwehabenden?</p>
-
-<p>Der kleine Märchenfritz konnte es nicht wissen,
-daß er nur falsch gelaufen war, daß es für ihn noch
-schöne und lustige Wege gab, auch außerhalb des
-Nebelrings von Hohen-Leucken. Er kam im nächsten
-Frühjahr, ziemlich zerbrochen in seinem Selbstgefühl
-und zerfallen mit sich und der ganzen Welt ins
-Vaterhaus zurück.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_071" title="71"> </a>
-Gisela war mitgekommen. Deren glänzendes
-Leben hatte jetzt vielleicht für immer ein Ende. Das
-war eine harte Nuß für das verwöhnte Kind der
-Welt.</p>
-
-<p>Drei Menschen sitzen im kalten, mürrischen Hause
-und warten, daß es Sommer wird über dem Moor.
-Für Fritzchen freilich ist der Sommer im Grunde
-heute schon da, trotz Schnee, Hagel, Aprilsturm und
-Nässe. Aber sie will es nicht &ndash; nichts will sie wissen,
-hören, fühlen. Sie will hier nicht glücklich sein, weil
-es doch nur ein neues Zeugnis ihrer Dummheit ist.
-Aber was hilft's, daß sie nicht will? Sie sieht das
-Moor und sieht die Wolken, sie riecht Papas Zigarren
-und sieht sein rundes, rotes, brummiges Gesicht, sie
-rennt durchs Haus und über die zugigen Treppen,
-es zieht und pfeift aus allen Ecken, Jakob klappert
-mit dem Mittagsgeschirr, ihr alter Tisch steht noch
-am Fenster &ndash; alles ist, wie es war &ndash; ach Fritz,
-Fritz, was tut man mit all der Freude, und wenn
-man auch noch so klug sein möchte!</p>
-
-<p>»Papa, was hast Du den ganzen Winter angefangen?«</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin sieht nicht wohler aus seit dem
-Herbst, als Fritzchen abreiste, auch durchaus nicht
-lustiger. Ja, was hat er angefangen?</p>
-
-<p>»Nichts, Fritz.«</p>
-
-<p>Nichts. Der Fritz wird langsam ernst und seine
-Blicke werden verwirrt. Was weiß ein siebzehnjähriges
-Geblüt von dem Nichts, in das ein armseliges,
-verloddertes Leben versinkt?</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_072" title="72"> </a>
-Fräulein Miller war nicht mehr da, ihr Amt in
-diesem Hause war beschlossen. Sie war nie eine liebenswürdige,
-weitherzige Gefährtin gewesen, aber
-nun fehlte sie Fritzchen doch. Sie sollte ja nun vollständig
-erwachsen sein. Ach, dieser Wirrkopf hatte
-wohl noch manches Jahr vor sich, ehe man ihn für erwachsen
-nehmen konnte.</p>
-
-<p>Also sprach auch Fräulein Gisela. Sie hatte hier
-keine Freude an dem klappernden Jakob, an Zigarrenrauch
-und Wolken. Sie nahm Anstoß an allem,
-besonders auch an Fritzchen. Es verging kein Tag,
-an dem sie nicht um die versunkene Herrlichkeit
-klagte.</p>
-
-<p>Wie fein war sie geworden! Ja, sie hatte schon
-Grund, hier unzufrieden zu sein. Ihre kühlen,
-schlanken Hände waren so weiß, ihr blondes schlichtes
-Haar hatte durch sorgsame Pflege einen sanften
-Glanz erhalten, auch verstand sie, sich prächtig zu
-frisieren. Alle ihre Kleider hatten einen eleganten
-Sitz, ihre Bewegungen, ihre Sprechweise waren klar,
-vornehm und ruhig. Was war dagegen der Struwwelkopf
-aus der Turmstube?</p>
-
-<p>Fritzchen bewunderte dies feine, sichere Wesen.
-Ach, wer jemals so werden könnte! Aber das zu
-wünschen, war wohl hoffnungslos. Der schlimme
-Winter saß noch wie brennendes Gift im Blut. Aber
-nun kam der Sommer über das Moor.</p>
-
-<p>Wißt Ihr denn, wie der Sumpf blühen kann,
-Ihr Stadtmenschen, ihr Lampenmenschen! Wie es
-sich da liegt, da hinten in der Lichtung hinter dem
-<a class="pagenum" id="page_073" title="73"> </a>
-alten Graben, wo man sich im Gras verstecken kann,
-so hoch steht es. Kennt Ihr das Zirpen und Schwirren
-und tausendfache Leben um einen her, und die
-Sonnenstrahlen flirrend durch die Zweige?</p>
-
-<p>»Gisa, willst Du mit an den alten Graben?«</p>
-
-<p>»Was willst Du da?«</p>
-
-<p>»Im Gras liegen. Seerosen bring' ich auch mit.«</p>
-
-<p>Die Frage war recht überflüssig. Gisa &ndash; Gisa
-sollte in den durchlöcherten Kahn steigen, der bei
-jeder Fahrt rapide Wasser zog, dann landen &ndash;
-Fritzchen nannte das nämlich landen! &ndash; an einer
-sumpfigen Stelle, wo man nur von einer Baumwurzel
-zur anderen springend, schließlich auf eine
-feste Grasfläche gelangen konnte &ndash; und das alles,
-um schließlich ein paar Stunden im Gras zu liegen
-mit krabbelnden Würmern und Ameisen im traulichen
-Bunde. »Danke, liebe Frida. Fahre nur allein.«</p>
-
-<p>Ja, Gisa, Prinzessin Unmut, wie soll denn das
-werden? Das sind doch die höchsten Freuden, die
-Hohen-Leucken bieten kann! Fritzchen grübelte angestrengt.
-Sie ehrte Giselas Unmut und fühlte sich
-brennend verantwortlich, ihn zu zerstreuen.</p>
-
-<p>»Gisa, soll ich Wilhelm sagen, daß er anspannt?
-Ich kutschiere Dich über die Felder.«</p>
-
-<p>»Bei diesem ewigen Wind? Und meine Haare?
-Und immer nur über die Felder? Nein, Fritzchen,
-Du meinst es gut, aber das ist wirklich kein Vergnügen.«</p>
-
-<p>»O, jetzt weiß ich etwas! Willst Du bei mir
-reiten lernen?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_074" title="74"> </a>
-Bei Fritzchen reiten lernen. Eine zweifelhafte
-Gunst. »Bei wem hast Du es denn gelernt?«</p>
-
-<p>»Bei mir selbst, natürlich.«</p>
-
-<p>»So? Und welches Pferd hast Du dazu?«</p>
-
-<p>»Ach, Möt. Eigentlich heißt es Erdmuthe.
-Papa hat sie mal als zurückgesetztes Remontepferd
-gekauft, aber sie geht nicht an der Deichsel. Wilhelm
-sagt, es ist nichts mit ihr zu machen, sie ist verdammelt.
-Da habe ich voriges Jahr mit ihr losgelegt.
-Aber fein! Über den Graben hinter dem Böllinger
-Kreuzweg setzt sie wie ein Pfeil. O, wenn Du mal
-mitkönntest. Du nimmst vorläufig den Schecken
-vom zweiten Gespann. Der geht wie ein Lamm
-und hat keine Mucken.«</p>
-
-<p>»Ja, wenn ich einen richtigen Reitlehrer hier
-hätte! Aber auch dann! Es muß doch schrecklich
-stuckern! Nein, laß mich nur. Das ist alles nichts
-für mich. Aber da nun die Leute wissen, daß ich
-wieder hier bin, muß sich doch am Ende wohl etwas
-Verkehr hier anfinden auf dem alten Räubernest.«</p>
-
-<p>Fritzchen schlich sich zum Papa. »Papa, Gisa
-langweilt sich hier so. Kannst Du es nicht machen,
-daß manchmal wieder Besuch herkommt?«</p>
-
-<p>»Ja, wie soll ich das machen?«</p>
-
-<p>»Wenn Du es nur willst, kannst Du es schon
-machen.«</p>
-
-<p>Es war ein sonnenleuchtender Junitag. Vor dem
-Fenster im Hof blühten die alten Linden und ihr
-Duft strömte in die beiden offenen Fenster herein.
-Herr v.&nbsp;Dörfflin war in Joppe und Reitstiefeln, er
-<a class="pagenum" id="page_075" title="75"> </a>
-wollte auf die Entenjagd gehen. Was ist es für ein
-anderes Ding um solch ein Landjunkergesicht zur
-Sommers- als zur Winterszeit! Heute sieht es
-frisch, gespannt, gebräunt, unternehmend aus und
-hockt nicht in Dumpfheit und im Gefühl des Nichts.</p>
-
-<p>»Ja, Fritz, das denkst Du Dir so.«</p>
-
-<p>Am Abend kam er zurück, und beim Abendessen
-warf er hin, als mache er eine Bemerkung über das
-Wetter: »Morgen kommt Hans Henning v.&nbsp;Zülchow.
-Die Tannenwalder wollen nächste Woche auch einmal
-kommen.«</p>
-
-<p>Die Tannenwalder waren im Grunde ziemlich
-langweilige und herkömmliche Leute. Aber es war
-ein junger Sohn dabei, der Jura studiert hatte und
-sich jetzt in das väterliche Gut einarbeitete, und eine
-Tochter, die gleich Gisela mehrere Jahre in Berlin
-gewesen war. Das Ding legte sich also recht vielversprechend
-an.</p>
-
-<p>Fritzchen blieb der Mund offen stehen. »Wie
-hast Du das so schnell gemacht, Papa?«</p>
-
-<p>Diese Fragerei paßte ihm nicht. »Ich hab' gar
-nichts gemacht!« schnauzte er sie an. »Wir haben
-uns getroffen, wo der alte Graben in den Tannenwalder
-See geht. Der Zülchow war mit dem alten
-und dem jungen Euler da auf Entenjagd.«</p>
-
-<p>So weit ist er wegen der Enten gerudert? dachte
-Fritzchen, aber sie hütete ihre Zunge. Nach dem
-Abendessen ging sie in die Küche, die Enten zu sehen,
-die der Herr geschossen hatte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_076" title="76"> </a>
-»Er hat gar keine abgegeben, gnädiges Fräulein«,
-sagte die Mamsell.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Damit fing der Verkehr im Herrenhause von
-Hohen-Leucken wieder an.</p>
-
-<p>Es war jetzt doch alles anders wie ehedem. Alte,
-unliebsame Geschichten waren vergessen, Herr
-v.&nbsp;Dörfflin erschien als völlig unschädlich, und zwei
-junge, aufblühende Töchter waren im Hause. Giselas
-Ruf als Weltdame machte Karriere, sie hatte die
-Art, gleichzeitig zu imponieren und zu gefallen. Trotz
-ihrer Sicherheit und Gewandtheit war sie auch für
-die plumpesten Junker handlich, verstand auf die
-trivialsten Gegenstände mit entzückender Leichtigkeit
-einzugehen und ihnen dadurch den Glanz von etwas
-ganz Besonderem zu verleihen.</p>
-
-<p>Es blieb nicht bei Hans Henning und den
-Eulers aus Tannenwalde. Es kamen die Bärs, die
-Leisewitzens, die Winkels dazu, ja eines Tages hatten
-Herr und Frau August Schultze mit dem Sohn und
-Erben Leopold, die drüben das Böllinger Rittergut
-dem verschuldeten Baron Laue abgenommen hatten,
-Besuch gemacht und waren nicht wieder los zu werden.
-Herrn v.&nbsp;Dörfflins Adelsstolz entsetzte sich, er
-war geradezu schmählich ungezogen zu diesem Besuch.
-Aber es war, als ob er mit aller Wucht seines
-Knüppels auf eine leere Haut schlüge, statt auf den
-Esel, so unschuldig blickte Herr Schultze drein. Nachher
-<a class="pagenum" id="page_077" title="77"> </a>
-&ndash; lange Auseinandersetzungen mit Gisela. Die
-hatte sich mit Herrn Leopold sehr nett unterhalten,
-fühlte sich von seinen großen Reisen und seinem
-flotten Weltleben angeheimelt und wünschte durchaus,
-diesen Verkehr festzuhalten und: »lächerlich veraltete
-Vorurteile« beseitigt zu sehen.</p>
-
-<p>Jawohl, es kam denn auch zu Tage, daß dieser
-Prozeß beseitigter Vorurteile und demnach einer
-Aufnahme Herrn Schultzes in den Verkehrskreis bei
-den Winkels, den Leisewitzens und verschiedenen
-anderen bereits längst in aller Stille vor sich gegangen
-sei, und Herr v.&nbsp;Dörfflin hatte jetzt nicht mehr Mark
-und Ausdauer genug, um eine so völlig isolierte
-Wut- und Abwehrstellung festzuhalten. Herr August
-Schultze mit Familie gehörte danach also auch zu den
-Besuchern von Hohen-Leucken.</p>
-
-<p>Es kam noch bunter. Die beiden jungen Töchter
-wurden eingeladen, und Gisela fand, obwohl es ihr
-selber Unbequemlichkeiten machte, daß eine Gesellschaftsdame
-hier jetzt unumgänglich nötig sei. Herr
-v.&nbsp;Dörfflin sagte: »Verdammter Unsinn, da wird
-nichts draus!« Fritzchen machte ganz entsetzte Augen
-und rebellierte dagegen. Aber Gisela war die einzige,
-die etwas von solchen Dingen verstand, die Dame
-wurde verschrieben, und im nächsten Winter war sie
-da. Es war die Witwe eines Offiziers, von Adel
-und außerordentlich mit den Formen der feinen Welt
-vertraut. Sie hieß Frau v.&nbsp;Pohle, war energisch
-und trotz aller Weltförmigkeit voll tiefer, ruhiger
-Güte. Ein stürmisches Leben hatte sie hart geschüttelt,
-<a class="pagenum" id="page_078" title="78"> </a>
-so daß sie nicht mit den Ansprüchen eines
-verwöhnten Herzens nach Hohen-Leucken kam. Das
-nüchterne, häßliche Haus, der verbummelte Mensch,
-der hier Hausherr war, die beiden verschieden gearteten
-und verschieden geleiteten Töchter, die stumme,
-kahle Einsamkeit der Gegend, alles sprach ihr stark
-zum Herzen und bewog sie, hier ihre beste Kraft und
-Liebe, ihren feinsten Takt einzusetzen, um auf diesem
-verwilderten Felde doch noch eine gute Saat zu
-ziehen.</p>
-
-<p>Fritzchen begriff es schlecht, was für sie da kam.
-Sie hatte bisher auch nur dürftige Erfahrungen mit
-den Gestalten ihrer Umgebung gemacht. Es war ein
-zur Not mit ihnen Fertigwerden gewesen, sonst nichts.
-Wo war die Hand, die sie behütet hatte, als sie ihren
-Träumen bis in die Wolken nachlief, oder ihnen auf
-einem unerzogenen Pferde über Gräben und Brachen
-nachjagte &ndash; die ihr gegeben hätte, als sie hungrig
-und durstig war, die ihr den wirren Kopf mit seinem
-tollen Phantastenkram gestreichelt hätte, die sie geführt
-hätte, als die Wege sich verwirrten?</p>
-
-<p>Immer sich selbst war dieser junge Vogel überlassen
-worden. Nun duckt er sich, nun huscht er davon,
-als eine feine Hand ihn fangen möchte. Er haßt
-die Käfige, die er vom vorigen Winter her kennt.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_079" title="79"> </a>
-Sechstes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Gregor v.&nbsp;Zülchow trat aus Fritzchens Märchenbüchern
-heraus und stand in Fleisch und Blut vor
-ihr da.</p>
-
-<p>In der Stunde, da dies geschah, da sie ihn, der
-ihr schon fast zu einer Sagengestalt verschollen war,
-in der Blüte seiner jungen Herrlichkeit wiedersah, da
-fielen alle ihre selbsterdichteten Märchen und Träume
-wie Schatten hin, wie Nebel, wenn der Morgen der
-leuchtenden Wirklichkeit kommt. Und von dieser
-Stunde an bis zu den Jahren, die ganz, ganz anders
-aussahen, dichtete sie kein Geschichtchen mehr.</p>
-
-<p>Es war in Rummelshof zur Sommerszeit. Seit
-Frau v.&nbsp;Pohle im Hause war, hatte sich in der Auffassung
-der Gegend viel verändert. Selbst die Freifrau
-v.&nbsp;Zülchow, diese exklusiveste und empfindlichste
-aller Landedeldamen, fand es jetzt ganz natürlich,
-mit den Dörfflins zu verkehren, und sie selber betrat
-dieses Haus, das sie einst so tief mißachtet hatte, mit
-ihrem Sohn Hans Henning, dem jungen Offizier.</p>
-
-<p>Hans Henning war gerade wie Fritzchen seiner
-ersten Kinderliebe treu geblieben, nur daß es bei
-ihm etwas weniger phantastisch zuging, aber nicht
-sehr viel. Er war ein offener, liebenswürdiger und
-<a class="pagenum" id="page_080" title="80"> </a>
-starker Junge, mit der Einseitigkeit und dem Idealismus
-eines kräftig empfindenden, wenig philosophisch
-angelegten Gemüts. Er liebte mit großer Hingabe
-und stürmischer, vollkommen blinder Parteinahme
-alles, was ihm Natur und Verhältnisse nahegebracht
-hatten: seinen Beruf, seine Mutter, den Rummelshof
-und über alles seinen klugen, stolzen Bruder. Aber
-seine Liebe war von der Art, daß sie denen, die ihre
-Bequemlichkeit lieben, manchmal lästig fallen konnte.
-Er war zu gern in ihrem Dienst ein Raufbold. Es
-war vorgekommen, daß er einem Jungen, der das
-theologische Studium seines Bruders verspottet hatte,
-das Nasenbein eingeschlagen hatte. Seine Mutter
-hatte eine Menge Unannehmlichkeiten, Ängste und
-Kosten davon. Seine Lehrer klagten häufig über
-ihn, er war faul, wild und händelsüchtig.</p>
-
-<p>Die Baronin Zülchow liebte solche Berührungen
-mit der Außenwelt nicht. Sie bekam dadurch eine
-Gereiztheit gegen ihren tollen Hans. Daß er im
-Grunde der weichherzigste Junge und der liebevollste
-Sohn war, konnte sie nicht recht versöhnen. Ihr
-wäre es angenehmer gewesen, er hätte ihr seine Liebe
-in Gehorsam und Wohlverhalten bewiesen, statt sie
-nur wie eine Sonne über seine Untaten leuchten zu
-lassen.</p>
-
-<p>Für Fritzchen war er immer der beste Herzenskamerad
-und Mitwisser all ihrer Erlebnisse, Betrachtungen
-und Phantastereien. Nur um ihr schönstes
-Märchenland, in dem Gregor regierte, hing sie einen
-dichten Schleier.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_081" title="81"> </a>
-Da kam der Sommertag auf dem Rummelshof.</p>
-
-<p>Es war eine große Gesellschaft dort. Zwischen
-den Bäumen des Gartens waren Drähte gezogen,
-denn am Abend sollte Feuerwerk sein. Die Dienerschaft
-war verstärkt, aus dem tiefsten Dunkel des
-Kellers kamen die ältesten Weinflaschen ans Tageslicht.
-Die Baronin trug violette Seide, sie sah wie
-eine Königsmutter aus.</p>
-
-<p>Alles war zu Ehren ihres ältesten Sohnes Gregor,
-der vor einigen Monaten in das Predigtamt
-in einer kleinen Residenz eingeführt war und heute zu
-seinem ersten Besuch seit Jahresfrist kam.</p>
-
-<p>Wie es so kommt, der erste Moment, als Fritzchen
-ihn wiedersah, war ein Erstaunen: Ach &ndash; so
-sieht er aus? Das ist er?</p>
-
-<p>Es ist wie eine leise Enttäuschung, oder wie eine
-Erlösung, ein Abfinden zwischen »war« und »ist«,
-zwischen Traum und Wirklichkeit. Es ist kein Wunder,
-wenn das Alte, das so strahlend und herrschend
-war, sich wehrt, zuckt, das Neue schlägt. Aber das
-Neue ist doch mächtiger. Es hat Klang und Farbe
-und Raum. Du stutzest, du läßt die alten Fäden
-fahren und schaust nur und schaust &ndash; und dein Herz,
-nach einem kurzen leeren Stillstand, setzt jählings
-mit einem Wirbel wieder ein.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Gnädiges Fräulein&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Das war der junge Pfarrer, Gregor v.&nbsp;Zülchow,
-der im Gesellschaftsrock in einem der Rummelshöfer
-Zimmer ihr seine Verbeugung machte. »Ich habe
-<a class="pagenum" id="page_082" title="82"> </a>
-schon die Ehre der Bekanntschaft aus früheren Jahren.«</p>
-
-<p>»Ja gewiß&nbsp;&ndash;«, stammelte Fritzchen.</p>
-
-<p>Sie schämte sich plötzlich zum Umfallen. Von
-diesem feinen, kühlen, wildfremden Herrn hatte sie
-Märchen ohne Ende gedichtet und noch dazu aufgeschrieben?
-O nein, o nein, das war ja ein ganz
-anderer!</p>
-
-<p>Sie ging umher wie wirr unter all den Menschen.
-Vielleicht hatte sie in ihrem Leben noch nicht
-so reizend ausgesehen. Sie trug ein weißes Kleid
-mit Matrosenbluse, als sollte immer noch das
-Jungenshafte an ihr betont werden, aber ihr rotbraunes
-Knabenhaar hatte man jetzt wachsen lassen
-und es war in einen Knoten geschlungen. Nur zwei,
-drei rote Röschen aus dem Garten zu Hause steckten
-ihr im Haar und vor der Brust. Im ganzen sah sie
-zwischen all den sorgsam angezogenen Damen aus,
-als habe man sie eben in der Wiese eingefangen und
-mit hergebracht.</p>
-
-<p>Sie sah und hörte nichts von all den Leuten um
-sie her. Wenn man sie ansprach, mußte sie sich erst
-besinnen, ehe sie eine Antwort zustande brachte. Auch
-das stand ihr reizend, es gab ihr den Anflug einer
-süßen Verträumtheit, der ihr ganzes Wesen dämpfte
-und reizvoll verschleierte.</p>
-
-<p>Die wundersame Umwandlung der Traumwelt
-in die Wirklichkeit hatte sich vollzogen. Alles Vergangene
-war versunken und verhallt. Er trug keinen
-Panzer und keinen Helm, sondern einen schwarzen
-<a class="pagenum" id="page_083" title="83"> </a>
-Theologenrock und einen hohen weißen Kragen mit
-schwarzem Schlips. Er hatte ein kühnes, schmales,
-bartloses Gesicht von niederländischem oder englischem
-Typus, und vor den düster ernsten, durchdringenden
-Augen trug er eine goldene Brille.</p>
-
-<p>Nachdem der erste Wirbel vorüber war, fühlte
-Fritzchen sich unter all den Menschen so geborgen wie
-in einer lichten, goldnen Wolke. Sie schwatzte, lachte,
-und wußte schon in nächster Minute nicht mehr, was
-sie gesagt hatte. All ihr Tun war wie das Schwirren
-eines fröhlichen kleinen Vogels, der eben fliegen lernt.
-Es lag ihr gar nichts daran, immer in Gregors Nähe
-zu sein. Ja, sie spielte mit ihrem Glück, indem sie
-mit Hans Henning oder sonst einem lustigen Menschen
-viertelstundenlang in den Garten lief, Erdbeeren
-naschte oder in dem romantischen Parkteich herumruderte.
-Das bloße Gefühl, daß er ja da war, daß
-sie ihn in jedem Augenblicke, wenn sie nur wollte,
-sehen konnte, das krönte alles mit überirdischem Glanz.</p>
-
-<p>Herr Pfarrer Gregor war ja auch der Mittelpunkt
-des ganzen Festes. Wie sehr ihm alles huldigte,
-und wie wichtig er, der blutjunge Mensch, hier
-genommen wurde, das erschien Fritzchen als die
-natürlichste Sache von der Welt.</p>
-
-<p>Beim Abendessen wurden pompöse Toaste ausgebracht,
-alle auf den jungen Pfarrer. Es war im
-Grunde eine ziemlich alberne Lobhudelei, die man
-teils der Mutter, teils seiner allerdings stark verheißungsvollen
-Karriere wegen in Szene setzte. Fritzchen
-hätte zu jedem Toast jauchzen mögen, nur war
-<a class="pagenum" id="page_084" title="84"> </a>
-ihr es immer noch nicht genug. Der Umschmeichelte
-dagegen sah unter seiner tadellosen Maske der Höflichkeit
-ein wenig gelangweilt und leicht angewidert
-aus. Er hatte ein Lächeln um den Mund, das nicht
-jeder vierundzwanzigjährige Junge hat.</p>
-
-<p>Nach dem Essen wurde das Feuerwerk abgebrannt.
-Das war für die junge Welt ein großes
-Entzücken. Aber Gregor gehörte nicht zu der jungen
-Welt, er stand und saß bei den Alten auf der Terrasse
-oder in den Zimmern. Hans Henning sollte das
-Abbrennen besorgen, und Fritzchen, die für allen
-Firlefanz des Lebens sehr veranlagt war, bewies sich
-als unentbehrlichste Hilfskraft. Was hatte sie auch
-vom Zuschauen? Selber das Feuer wecken, die
-Spiel-, Sprüh- und Lärmgeister des Feuers wecken,
-daß sie hoch in den stillen Nachthimmel auffliegen,
-prasselnd niederstürzen, ihm, dem Herrn des Tages
-zur Ehre!</p>
-
-<p>Sie verbrannte sich ein paarmal die Fingerspitzen;
-was tat das? Bebend, mit glühenden Wangen
-sah sie ihren Raketen, Leuchtkugeln und farbigen
-Garben nach. »Heil Gregor!« rief ihr Herz. O,
-hätte sie es nur laut rufen dürfen.</p>
-
-<p>»Seht die beiden Feuergeister!« wurde gerufen.
-Damit meinte man Hans Henning und Fritzchen.
-Sie sehen auch wohl geisterhaft genug aus. Hans, der
-selige Narr, strahlte. »Hören Sie das, Fräulein
-Fritz?«</p>
-
-<p>Es stieg viel Torheit, Unsinn und Gaukelei mit
-diesen Leuchtkugeln und Raketen auf. Man könnte
-<a class="pagenum" id="page_085" title="85"> </a>
-sich wohl ebenso gut an eine Feuergarbe hängen, um
-mit ihr in die Luft zu gehen, als sich von seiner Liebe
-und ihren Verheißungen betören zu lassen. Aber
-die Beiden wollten nicht hören, was ihr feuriges
-Spielzeug sie lehren möchte.</p>
-
-<p>Aus, vorbei. Der letzte Effektknall verhallt,
-dunkle Nacht. Lachend und tappend suchen die Gäste
-in den Steigen des großen Gartens sich den Weg,
-um ins Haus zu kommen, oder auch nicht ins Haus
-zu kommen. Die Feuergeister haben manch tollen
-Spuk geweckt. Herr Gregor, der junge Pfarrer, ist
-nun doch nicht nur für alle der Mittelpunkt und der
-Zweck dieses Festes.</p>
-
-<p>»Fräulein Fritz«, sagte Hans Henning. »Ich
-glaube gar, Sie haben sich die Finger verbrannt.«</p>
-
-<p>»Ja, das habe ich!« sagte sie mit der Verzückung
-eines Märtyrers.</p>
-
-<p>»Ach! Tut es Ihnen weh?«</p>
-
-<p>»Ja, fürchterlich!«</p>
-
-<p>Er geriet gebührendermaßen außer sich. »Wir
-müssen sofort Öl anwenden!« rief er.</p>
-
-<p>»Nehmen Sie bitte meinen Arm, Fräulein Fritzchen.
-Sie stolpern sonst über die eingeschlagenen
-Pflöcke. Ach, wie war ich ungeschickt, das zuzulassen!«</p>
-
-<p>Sie ließ ihn jammern, und überlegte dabei, wie
-es anzustellen wäre, daß Gregor ihre Verletzung sähe.
-Ihr Mut war jetzt so ungeheuer geschwellt, daß sie
-seine Ansprache, sein Staunen, sein Bemitleiden gut
-<a class="pagenum" id="page_086" title="86"> </a>
-hätte ertragen können, ohne umzufallen. Ja, sie
-wünschte sich nichts heißer als das.</p>
-
-<p>Aber als sie auf die erhellte Terrasse kamen, fing
-ihr Herz doch wieder an zu klopfen. Da stand er,
-und gerade in der Glastür, durch die sie gehen mußte!</p>
-
-<p>»Fräulein v.&nbsp;Dörfflin hat sich beim Feuerwerk
-verbrannt«, sagte Hans in aufgeregtem Ton zu ihm.</p>
-
-<p>»Verbrannt«, rief Gregor. »Hans, wie konntest
-Du das zulassen? Darf ich einmal sehen, gnädiges
-Fräulein? Da muß aber gleich für Hilfe gesorgt
-werden.«</p>
-
-<p>Fritzchen reichte ihm mit einem entzückten Lachen
-ihre Hände hin, die Brandstellen waren in der Tat
-sichtbar. Aber sie wünschte sich, daß ihre ganzen
-Hände verbrannt sein möchten, damit er doch auch
-etwas Rechtes zu sehen bekomme. Doch es war schon
-vorbei, ein paar Damen hatten sich sofort herangeschoben,
-sie wurde von mehreren Armen umschlungen,
-geküßt, getröstet, bedauert bis zur Unerträglichkeit.
-Selbst Hans Henning hatten sie von ihr fortgedrängt,
-und in dieser Kohorte gelangte sie ins Schlafzimmer,
-Öl, Watte, Läppchen waren da, Frau v.&nbsp;Zülchow,
-die Königin-Mutter, rauschte auch herein und verband
-sie sorglich mit eigener Hand.</p>
-
-<p>Solche Anstellerei um das bißchen Verbrennen!
-dachte Fritzchen entsetzt.</p>
-
-<p>Ja, aber wer hatte sich denn angestellt da draußen
-im Garten und als man die Terrasse heraufkam?</p>
-
-<p>Na, es ist auch so ganz gut. Nun hat man zwei
-<a class="pagenum" id="page_087" title="87"> </a>
-verbundene Hände, das sieht entsetzlich großartig aus
-und muß unendliches Mitleid wecken!</p>
-
-<p>Förmlich strahlend vor Prahlerei betrat das
-blessierte Fritzchen wieder den hellen Bannkreis der
-Gesellschaft. Gregor kam zu ihr, bedauerte sie, daß
-sie um seinetwillen leide, faßte ihre Hand und berührte
-mit den Lippen die freie Stelle oberhalb der
-Verbandlappen. Da wurde das Glücksgefühl so übermächtig
-in ihr, daß sie am liebsten die Arme ausgebreitet
-hätte und ihm um den Hals geflogen wäre.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Eine lange Rückfahrt im stockdunklen Wagen
-durch die graue Sommernacht, die eintönig auf den
-weiten Feldern lag, nur am Rande in dämmernden
-Strahlen umspielte das Sonnenlicht, das um diese
-Jahreszeit nie ganz verlischt, den Horizont.</p>
-
-<p>Man hatte die große Kutsche genommen, weil
-Gisela bei der Fahrt durch den Wind Haar und Toilette
-geschont haben wollte. Nun sah man nur durch
-die Glasfenster die grauen Felder vorübergleiten.
-Fritzchen saß auf dem Rücksitz; sie hätte ihren heißen
-Kopf gerne draußen in der kühlen Nachtluft gebadet,
-aber auch daß sie dies nicht konnte, bedrückte sie heute
-nicht. Sie nahm den Hut ab, lehnte den Kopf in die
-Ecke, und so zurückgezogen ins Dunkel, hörte sie, was
-Frau v.&nbsp;Pohle und Gisa miteinander sprachen.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle sagte: »Welch ein eigentümlicher
-frühreifer Mensch dieser älteste Sohn ist!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_088" title="88"> </a>
-Gisela fragte, ob er ihr gefiele. In der Betonung
-der Frage lag schon die Annahme, daß jeder unbedingt
-Ja sagen müsse. Aber Frau v.&nbsp;Pohle zögerte.</p>
-
-<p>»Gefallen? Liebe Gisela, ich möchte das kaum
-sagen. Es ist mir zu wenig Einfachheit und Lebensfrische
-an diesem jungen Menschen. Er kommt mir
-vor, wie ein künstliches, wunderschönes Gebäude aus
-Eis, das aber nur in einer Eisatmosphäre existieren
-kann. Vor der Sonne müßte er schmelzen.«</p>
-
-<p>Fritzchen fuhr auf, doch Gisela nahm ihr schon
-das Wort aus dem Munde.</p>
-
-<p>»Aber Frau v.&nbsp;Pohle! Er hat doch so viel
-Sonne um sich. Seine Mutter, seine Freunde&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Nein, mein Kind, das ist nichts, das durchdringt
-seine Atmosphäre nicht. Es ist eine seltsame Tragik
-um diesen jungen Pfarrer, aber freilich fühlt er sie
-selber wohl am wenigsten.«</p>
-
-<p>»Tragik?« sagte Gisela lächelnd. Sie fühlte sich
-manchmal bewogen, über Frau v.&nbsp;Pohle zu lächeln.
-»Die wäre doch wohl nur konstruiert. Haben Sie
-gehört, daß die Möglichkeit vorliegt, daß er nächstens
-Hofprediger wird?«</p>
-
-<p>»Hofprediger?«</p>
-
-<p>»Ja, man sagte allgemein so. Das heißt, man
-flüsterte es sich zu. Die jüngste Prinzessin, Maria,
-soll eine starke Vorliebe für ihn haben, und sie vermag
-alles über ihren Vater. Sie hat Gregor Zülchow
-einige Male predigen gehört und ihn auch zu sich befohlen.
-<a class="pagenum" id="page_089" title="89"> </a>
-Sie soll ihm große Avancen machen, man
-spricht in der ganzen Residenz davon.«</p>
-
-<p>»Man spricht in der Residenz wohl so gern und
-viel wie überall«, sagte die alte Dame leise mahnend.
-»Doch kann es ja so sein. Der Weg, den Herr v.&nbsp;Zülchow
-geht, wird sicherlich nicht der gewöhnliche
-aller Alltagsmenschen sein. Er wird viele Abenteuer
-haben, die ihn »interessant« machen. Ach, meine
-lieben, jungen Freundinnen, es ist eine bange Sache
-um einen Menschen, der sich also vermißt, mit dem
-Leben und seinen Gestalten zu spielen, wie dieser
-Freiherr und Pfarrer! Denn im letzten Grunde läßt
-das Leben doch nicht mit sich spielen!«</p>
-
-<p>Fritzchens Gesicht glühte. Hatte sie es nicht gewußt?
-Prinzessinnen kamen und suchten seine Gunst!
-Ja, wohl war sein Weg nicht der, den andere Leute
-gingen. Frau v.&nbsp;Pohles sonstige Randglossen hörte
-sie nicht. In ihren Ohren klang es wie süße,
-rauschende Musik.</p>
-
-<p>»Der liebste aus diesem Rummelshöfer Hause
-ist mir der junge Leutnant«, sagte Frau v.&nbsp;Pohle.
-»Da ist Frische und lebendige Kraft. Der stellt sich
-des Lebens Dinge nicht wie Schachfiguren hin, damit
-beliebig nach rechts oder links, vor- oder rückwärts
-zu ziehen. Der lebt seinen Tag als frischer, unbekümmerter
-Junge. Der nimmt sich nicht selbst auseinander
-und setzt sich wieder zusammen. Der ist aus
-einem Guß!«</p>
-
-<p>»Ach &ndash; Hans Henning«, sagte Gisela wegwerfend,
-<a class="pagenum" id="page_090" title="90"> </a>
-in dem üblichen Ton, in dem man gewöhnlich
-von ihm sprach, von der Mutter herab bis zu den
-Bekannten des Hauses und den Reitknechten im Stall.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle lachte. »Das ist eine Geschichte
-zum Händeringen«, rief sie aus. »Wißt Ihr wohl,
-woran es liegt? Diesem Jungen schadete die Nachbarschaft
-seines glänzenden Bruders! Ihr alle habt,
-wenn Ihr ihn ansaht, noch das Blenden im Auge
-von dem anderen. Ja &ndash; Gregor! heißt es, und
-dann ganz sanft und barmherzig: Ach, der Hans!
-Ich möchte Euch hier wohl mal ein bißchen eine Predigt
-halten über Menschen und Menschenwert. Ich
-sage Euch, meine Lieben, dieser Herr Gregor, so
-totenernst, würdevoll, eisig und alt er aussieht, der
-versteht das Leben nicht und nimmt es im Grunde
-nicht so ernst wie dieser lustige, prachtvolle Schlingel,
-der Hans. Der wird seinerzeit verstehen, damit zu
-ringen und es sich untertan zu machen. Was dieser
-künftige Hofprediger damit anfangen wird &ndash; ach
-ja, da wird das Zuschauen kein großes Vergnügen
-sein. Er wird sich daran vorbeidrücken, denke ich.«</p>
-
-<p>»So denken Sie?« rief Fritzchen mit ausbrechender
-Wildheit. Sie zerknitterte ihren Hut, daß das
-arme Stroh laut krachte und knirschte. »Ich denke
-anders! Alle denken anders! Herr Gregor wird
-sich nie an etwas vorbeidrücken! Sie haben ihn einmal
-gesehen, ich kenne ihn, als er noch Junge war.
-Er ist der bedeutendste und größte Mensch auf Erden!
-Ich lasse kein Wort auf ihn kommen. Ich habe ihn
-lieber als Himmel und Erde!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_091" title="91"> </a>
-Da war's heraus! Was tat es? Die ganze
-Welt konnte es hören, daß sie hier stand, bereit zu
-leben und zu sterben für ihn.</p>
-
-<p>Sie hatte auch bei ihrem letzten Ruf aufrecht gestanden
-in der Kutsche, aber das Rad fuhr über einen
-Stein, da fiel sie unrühmlich auf ihren Sitz. Das
-machte nichts aus. Sie gab noch einen flammenden
-Satz dazu:</p>
-
-<p>»Ich verlache jede Beschuldigung über ihn!«</p>
-
-<p>»Aber Fritzchen! Wie ungezogen!« rief Gisela
-entsetzt. »Wie kannst Du so zu Frau v.&nbsp;Pohle
-sprechen! Da sehen Sie wieder, wie sie ist!«</p>
-
-<p>»Lassen Sie doch, Kind«, sprach Frau v.&nbsp;Pohle.
-»Liebes Fritzchen, ich habe nicht gedacht, Ihr Herz
-zu kränken. Um Gott, Kind, nein. Sehen Sie einer
-alten Frau solche Gedankenspielerei nach. Das Leben
-wird ja erst beweisen, was richtig und was barer Unsinn
-an meinem Geschwätz war.«</p>
-
-<p>»Aber wie kannst Du Deine Neigung so ausschreien!«
-rief Gisela, noch immer aufgeregt vor Entrüstung.
-»Das tut man doch nicht. Du blamierst
-Dich ja grenzenlos, Frida!«</p>
-
-<p>»Was kümmert's mich!« entgegnete Fritzchen
-trotzig.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle dachte: Jawohl &ndash; Dich, starkes,
-junges Herz, kümmert's in der Tat nicht, ob Du Dich
-blamierst. Das ist das zweifelhafte Vorrecht derer,
-die Dich tadeln. Glückauf, Du freie Menschenseele!</p>
-
-<p>Aber sie sagte das nicht. Für alle ihre Predigten
-<a class="pagenum" id="page_092" title="92"> </a>
-war ihre Zuhörerschaft in der dunklen Kutsche
-doch noch nicht reif genug.</p>
-
-<p>Behalte Du nur Deinen Gregor! dachte sie ohne
-Sorge, solange wie Dein Herz dieses Bild tragen
-mag, Du schönes, wildes Kind. Ich traue: eines
-Tages siehst Du Dich verwundert um, wo es geblieben
-ist.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_093" title="93"> </a>
-Siebentes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Aber es ist ein undankbares Amt, Prophet zu
-sein.</p>
-
-<p>Fritzchen schloß ihre Blumenblätter fester um sich
-zusammen. &ndash; Hier war eine Gelegenheit, so groß
-und stark, so weit und sonnig, eine Mutter zu haben,
-eine edle Freundin, ein fröhliches und doch weises
-Herz, stets aufmerksam und zur Stelle.</p>
-
-<p>Nein, Fritzchen will das nicht. Sie geht in ihre
-Turmstube und spricht mit den Wolken, die über das
-Moor gehen. Das sind ihre Freunde und Gesellschafter.</p>
-
-<p>Sie gehen massig, grauschwarz, mit hellen, blendenden
-Rändern. Unten sind es nur noch ziehende
-Schneeberge. Sie ziehen vorüber, andere kommen
-und ziehen auch. Schon wieder ist das Bild verändert.
-Die Sonne kämpft mit der schwarzen Wand,
-sie kämpft umsonst, sie erlischt. Horch, wie der Wind
-in Stößen kommt!</p>
-
-<p>Dies Kind kennt die Wolken wie keines und den
-Wind ebenso. Ist es nicht mit ihm um die Wette
-geritten über die bräunliche Ebene?</p>
-
-<p>Vielleicht ist es Gregor v.&nbsp;Zülchows eigenes Leben,
-sein kräftigstes, schönstes Leben, das da mit fliegendem
-<a class="pagenum" id="page_094" title="94"> </a>
-Haar auf der schwarzen Möt über den Graben setzt
-hinter dem Böllinger Kreuzweg! Halt fest! &ndash; Oder
-läßt er es vorbei?</p>
-
-<p>Nun ja, der Hans muß ja auch etwas haben,
-wenn er Hofprediger wird!</p>
-
-<p>Gregor steht am Graben neben dem Kreuzweg.
-Welcher Teufel oder welcher Engel führte ihn hierher,
-da der Wind sauste und dies tolle, herrliche Bild
-heranführte?</p>
-
-<p>Er stand still, am Fußsteige neben einem Baum.</p>
-
-<p>»Hussa, Möt!«</p>
-
-<p>Er aber war nicht mehr als ein Baum am Wege.
-Herrin, Königin in diesem Bilde war sie, die daher
-kam, sie, die Schwester und Braut des Sturmwinds!</p>
-
-<p>Sie war vorüber, ohne ihn gesehen zu haben!</p>
-
-<p>Wer sieht die Bäume an, wenn er mit den Wolken
-Haschen spielt? Er stand und sah ihr nach, der
-Staub flog hinter ihr auf.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Hans Henning kam zu seiner Mutter, die mit
-Gregor auf der Veranda saß. Morgen hieß es für
-beide Söhne wieder scheiden. Hans Henning mußte,
-Gregor wollte, so war es schon manch liebes Mal gewesen.</p>
-
-<p>Der Abend dämmerte. Der Himmel stand regendrohend
-über den Bäumen des Gartens, sie raunten
-leise wie in bangem Vorgefühl. So bange war auch
-der Baronin zu Mut. Ach, dies immer neue Scheideweh!
-<a class="pagenum" id="page_095" title="95"> </a>
-Und wer hielt des Scheidenden Herz, daß ihr
-wenigstens das blieb?</p>
-
-<p>Ja, Gregor lieben, das hieß, täglich sterben. Liebte
-sie diesen Sohn am höchsten auf der Welt, so litt sie
-auch um ihn am tiefsten. Er rächte unbewußt den
-anderen, den Übersehenen, den immer matt und halb
-Geliebten.</p>
-
-<p>Wie war dieses Jüngeren Herz jetzt voll! Stand
-es nicht auf seiner Stirn geschrieben, auf seinem
-Mund, seinen Augen, seinen Händen, in jeder Bewegung,
-die er tat? Aber man hatte keine Zeit, diese
-Ziffern zu lesen. Es war ja nur Hans!</p>
-
-<p>Die Mutter sprach mit Gregor. Sie tippte an
-etwas, das auch sie hatte von fern nur läuten hören,
-ohne daß er ein Wort darüber verloren hatte: an
-seine Hofprediger-Aussichten.</p>
-
-<p>»Gregor &ndash; ist etwas daran? Ist das möglich?«</p>
-
-<p>Wie kalt und stolz blickten die blauen Augen!
-»Möglich? Ja, Mama. Aber lassen wir das, Du
-erfährst jede Tatsache, sobald sie vollendet ist!«</p>
-
-<p>Gewiß, gewiß, sie erfuhr jede vollendete Tatsache.
-Das war die Speise, die ihr bester Sohn ihr gab,
-wenn ihr Mutterherz verhungern wollte.</p>
-
-<p>Hans Henning aber brannte das Herz in der
-Brust. Ach, er wollte etwas anderes geben, als eine
-vollendete Tatsache. Ihn riß es, vor der Mutter
-hinzuknien, den Blondkopf in ihren Schoß zu legen.
-Mutter, bist Du zufrieden und froh, wenn ich mir
-das Fritzchen hole?</p>
-
-<p>Leg' mir Deine kühle, weiße Hand auf, Mutter.
-<a class="pagenum" id="page_096" title="96"> </a>
-Ich will reiten, morgen früh, ehe wir reisen, und das
-Fritzchen im Garten, oder in der Wiese oder in der
-Turmstube suchen und es nach seinen verbrannten
-Fingerchen fragen. Und dann auch noch nach etwas
-anderem. Gib mir einen Kuß, liebe Mutter, ich
-brauche sehr viel Mut. Mein kleiner Fritz träumt
-und fabuliert noch gar soviel, der merkt noch gar nichts
-von dem großen wilden Strom. Mutter, Du bist
-so klug, sage mir doch, ob es schon Zeit ist, sie aufzuwecken,
-oder ob es noch zu früh ist&nbsp;&ndash;.</p>
-
-<p>»Lieber Gregor, wenn Du hin und wieder ein
-klein wenig mehr schreiben könntest &ndash; ich meine natürlich
-nur, wenn Du Zeit und Lust hast &ndash; aber
-manchmal ein bißchen ausführlicher, weißt Du. Ich
-kann mir oft so gar kein Bild von Deinem Leben
-machen. Nur so manchmal erzählen: Ich war dort
-oder dort, und wir haben dies und das gesprochen.
-Oder von dem, was Dich innerlich beschäftigt, Gregor,
-daß ich ein ganz klein wenig teilnehmen kann&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Gregor lächelte. Es war ein flüchtiges, durchaus
-höfliches Lächeln, aber seine Mutter fürchtete sich
-davor. Auch jetzt wieder stieg es ihr heiß in die
-Wangen.</p>
-
-<p>»So wird es sich schwer machen lassen, liebe
-Mama. Es fehlt die Zeit und die Unbeschäftigtheit,
-auf Deine Ideen einzugehen. Aber ich will möglichst
-daran denken.«</p>
-
-<p>Er stand auf und sah über die Brüstung auf den
-umzogenen Himmel. In der Ferne wetterleuchtete
-es. Er dachte an ein anderes fernes Wetterleuchten,
-<a class="pagenum" id="page_097" title="97"> </a>
-das an ihm vorbeigefahren war, heute am Kreuzweg,
-wo der breite Graben war.</p>
-
-<p>Hans Henning sagte leise: »Mutter!«</p>
-
-<p>Die fuhr aus schwerem Sinnen auf. »Ja, was
-willst Du?«</p>
-
-<p>Der Ton der Frage war scharf und klar. Er
-klang nach einer Antwort wie die: »Mir fehlt noch
-Geld, Mutter.« Oder: »Ich brauche noch dies und
-das, wenn ich in die Garnison zurückkomme.« Aber
-nimmermehr nach einer so leisen, unbeholfenen Bitte:
-»Mutter, gib mir Rat. Ich bin Dein dummer, kleiner
-Junge und weiß nicht, wie ich mein Glück anfassen
-soll.«</p>
-
-<p>Er war neben sie getreten, auch sie stand auf. Die
-Luft wehte kühler und schärfer, sie zog fröstelnd ihr
-leichtes Tuch über den Schultern zusammen. Sie
-war sehr groß, schlank und von stolzer Haltung wie
-ihr anderer Sohn.</p>
-
-<p>Als Hans nicht gleich antwortete, sagte sie nervös:
-»Nun, was gibt's denn? Sprich doch schnell.«</p>
-
-<p>In dem großen Jungen stieg eine jähe Bitterkeit
-auf. Noch nie hatte er empfunden wie heute, daß
-seine Mutter eigentlich niemals Zeit für ihn hatte.
-»Sprich schnell!« Ja, so war es immer gewesen. Ihm
-war ja auch sonst damit gedient, lang schleppende Auseinandersetzungen
-waren wahrlich nicht sein Fach.</p>
-
-<p>Heute abend hätten sie vielleicht doch gepaßt. Oder
-auch nicht. Vielleicht hätten drei Worte es getan,
-aber davon konnte er im voraus nichts wissen. Doch
-<a class="pagenum" id="page_098" title="98"> </a>
-dazu muß man stillsitzen und Zeit haben. Aber wer
-hat für ihn Zeit, er ist ja nur der Hans.</p>
-
-<p>»Laß nur, Mama. Es war nichts.«</p>
-
-<p>Sie sah schon wieder von ihm fort. »Kommst
-Du mit herein, Gregor?« bat sie.</p>
-
-<p>Der kam von der Brüstung der Veranda, wo er
-in die Blitze gesehen hatte.</p>
-
-<p>»Das Gewitter kommt nicht herauf«, sagte er in
-einem beruhigenden Tone.</p>
-
-<p>Wen beruhigte er denn? Die Mutter und Hans
-hatten andere Dinge im Kopf, als ein Gewitter, das
-kommen könnte. Ach ja, es ist ein wunderlich trauriges
-Ding um solch einsames Nebeneinander, wo der
-eine Blitze sieht, der andere aber in den Blitzen ein
-schönes wildes Kind, oder wo eine arme Seele stumm
-ihr Leid anschaut, und es nicht verstehen kann.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Hans Henning sah den beiden nach, wie sie durch
-die Glastüren gingen. Der helle Schein der Zimmerlampen
-überströmte sie. Da ging die kurze Bitterkeit
-in dem Jüngling unter.</p>
-
-<p>Wem gab er denn Schuld, wenn er nur der
-dumme, lustige, beiseite geschobene Hans war? Wollte
-er mit dem Bruder hadern, weil er größer war, oder
-mit der Mutter, weil sie das fühlte und sah?</p>
-
-<p>Such' Dir doch Deine Wege selber, Narr. Wer
-heißt Dich, noch an der Mutter Schürzenband zu
-hängen?</p>
-
-<p>Er blieb auf der dunklen Veranda allein. Die
-Bäume rauschten stärker, Träume umfingen ihn. &ndash;
-Morgen in der Frühe, Du, mein wilder kleiner Vogel,
-<a class="pagenum" id="page_099" title="99"> </a>
-werde ich Dich da fangen können? O, habe nicht Angst,
-ich will Dein feines Gefieder nicht zerdrücken und
-verletzen. Wie wir gelacht und fabuliert haben als
-Kinder, so wollen wir es weiter tun. Weißt Du noch
-die Schaukel in Eurem Garten, Fritz? Du wolltest
-ja immer so gerne fliegen. O, Du mein Prinzeßchen,
-ich könnte die Welt zerschlagen, um sie nach Deinem
-Gefallen aufzubauen. Und weißt Du noch, wie wir
-gestern abend die Feuergeister waren? Liebling,
-kleiner, Deine verbrannten Fingerchen möchte ich wiedersehen!</p>
-
-<p>Sieh mal die Blitze da hinten, wie sie den Himmel
-aufreißen. Wollen wir hineingehen, Frida? Ach,
-wie ist das Glück so bange &ndash; ich habe es nie gewußt.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>»Hans, sage mal, was treibst Du hier draußen!
-Mama ist schon zu Bett. Seit einer Stunde sitzest
-Du hier!«</p>
-
-<p>Hans Henning fuhr auf. »Seit seiner Stunde&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>»Junge, fehlt Dir etwas? Wie Deine Hände
-heiß sind! Warum kamst Du nicht mit herein?«</p>
-
-<p>»Ich &ndash; weiß nicht. Ich habe mich wohl hier
-verträumt.«</p>
-
-<p>»Hans &ndash; sag mir mal die Wahrheit. Du bist
-wohl verliebt?«</p>
-
-<p>Sie standen jetzt beide beieinander. Es war zu
-dunkel, als daß sie ihre Gesichter sehen konnten. Wie
-stark der Wind gewachsen war! Es war ein Sausen
-und Brausen in den Bäumen des Gartens.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_100" title="100"> </a>
-»Ich bin Dein Bruder, mein Junge«, sagte Gregor.
-»Du kannst Dich mir vertrauen.«</p>
-
-<p>»Ja!« rief Hans Henning aus. Es war ein
-Ton des lautersten Frohlockens.</p>
-
-<p>»Gregor &ndash; ich &ndash; siehst Du&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Nein, es ging doch nicht. Hans sah verzweifelt
-zur Seite. Wie macht man es denn, daß man so etwas
-sagt?</p>
-
-<p>»Es ist wohl Frida Dörfflin, um die es sich handelt«,
-sagte Gregor in völliger Gelassenheit.</p>
-
-<p>Hans Henning antwortete nicht, das Herz schlug
-ihm bis zum Halse. Wie hatte die Nennung dieses
-Namens ihn durchschnitten! Wie konnte es nur so
-unsinnig weh tun, den Namen so kühl wie geschäftsmäßig
-nennen zu hören.</p>
-
-<p>Gregor genügte wohl diese stumme Antwort. Er
-schwieg einen Moment.</p>
-
-<p>»Das Kind!« sagte er dann in wegwerfendem
-Ton.</p>
-
-<p>Hans Henning schoß das Blut wild ins Gesicht.</p>
-
-<p>»Was meinst Du damit? Ich lasse nicht an ihr
-rühren.«</p>
-
-<p>»Wer tut denn das?« sagte Gregor nachlässig.
-»Meinst Du etwa, sie sei kein Kind mehr? Verstehst
-Du Dich so wenig auf Menschenaugen? Bei diesem
-Mädchen ist alles noch Klarheit, Harmlosigkeit und
-ein vollständiges Spielen dem Leben gegenüber. Ich
-spreche das nicht als Tadel aus, sondern nenne es
-einen Vorzug.«</p>
-
-<p>»Ich habe das auch schon gedacht«, murmelte Hans.
-<a class="pagenum" id="page_101" title="101"> </a>
-Da stand er ja mit einem Male mitten in Frage und
-Antwort, Bitte und Rat, wie er es sich noch vorhin
-so sehr gewünscht hatte. Nur daß es nicht die Mutter
-war. Aber vielleicht wußte Gregor noch mehr von
-diesen Dingen.</p>
-
-<p>»Ich dachte sonst &ndash; ich wollte morgen, vor der
-Abreise&nbsp;&ndash;«, stotterte der große Junge. »Ich will
-ja auch gar nichts an ihr zerstören, Gregor. Ich will
-ihr gar nicht viel von Liebe vorschwatzen. Nur wissen
-&ndash; ob sie mein Kamerad sein will &ndash; diese Ungewißheit,
-Gregor, die ist ja zu gräßlich&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Gregor wandte sich ab und ging mit starken
-Schritten zweimal die Veranda auf und nieder. Dann
-blieb er vor Hans stehen, und als er sprach, klang
-seine Stimme wie geschliffener Stahl.</p>
-
-<p>»Ihr seid beide noch Kinder. Durchbrich diesen
-Zustand nicht aus Übermut. Du schadest ihr und
-Eurem ganzen Verhältnis, Du veranlassest sie, sich zu
-verschenken, ehe sie sich kennt. Glaubst Du nicht, Hans,
-daß das eine Sünde an ihrem Geist und Wesen ist?
-Lerne warten, mein Junge, überlaß diese Sache der
-Zeit, bis die Blumen von selber aufbrechen.«</p>
-
-<p>»Ist das so&nbsp;&ndash;?« stotterte Hans.</p>
-
-<p>»Ja, Hans Henning, das ist so!« sagte Gregor.</p>
-
-<p>Sein Ton legte sich wie eine eiskalte Hand dem
-Jüngling aufs Herz. &ndash; Hatte er vielleicht doch nur
-nach Hilfe verlangt, um die Antwort zu hören, die
-er wünschte?</p>
-
-<p>Oder ahnte sein erwachtes Herz das Schwert in
-des Bruders weisem und wohlbegründetem Rat?
-<a class="pagenum" id="page_102" title="102"> </a>
-Seine Lippen bebten, als er sagte: »Ich danke Dir.
-Ich will jetzt schlafen gehen!«</p>
-
-<p>Er ging. Die Sporen klirrten leise. In dem
-erleuchteten Zimmer sah er im Spiegel sein Bild
-vorübergleiten. &ndash; »Überlaß es der Zeit&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Vielleicht hat er recht, und ich handle verrucht,
-seine Worte zu verachten. Vielleicht bin ich ein Narr,
-wenn ich es nicht tue. Ich bin nicht weiter als zuvor.</p>
-
-<p>Überlaß es der Zeit!</p>
-
-<p>Ja, Du kaltes Herz, Dir steht es wohl an, so zu
-sprechen. &ndash; Aber hat ein heißes Herz mehr Recht
-und weiteren Blick?</p>
-
-<p>Das wird heute eine friedvolle Nacht!</p>
-
-<p>Gregor stand noch draußen. Das Gewitter hatte
-sich verzogen oder war landeinwärts niedergegangen.
-Es blitzte nicht mehr. Nur ein leichter Regen, durch
-den Wind hin- und hergetrieben, sprühte durch die
-Bogenöffnung der Veranda und tanzte oben auf dem
-Glasdach. Die Luft war stark abgekühlt.</p>
-
-<p>Er stand eine kurze Weile und sah hinaus. Noch
-lagen seine eigenen klingenden Worte ihm im Ohr.
-»Überlaß es der Zeit, bis die Blumen von selber aufbrechen.«</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Als er nach oben kam, fand er die Verbindungstür
-nach Hans Hennings Schlafzimmer geschlossen.
-Der Knabe grollt, dachte er, weil ich ihm sein Spielzeug
-fortnahm. Aber es ist nun einmal so. Ich tat
-<a class="pagenum" id="page_103" title="103"> </a>
-recht, den Fuß darauf zu setzen. Das alles muß erst
-werden, und die Zeit ist mächtig. Gute Nacht, mein
-trotziger Junge, es kann sein, daß wir uns noch einmal
-an dieser Stelle treffen.</p>
-
-<p>Vielleicht! Wer weiß es?</p>
-
-<p>Er legte noch die letzte Hand an seinen Koffer.
-Den Rock, den er heute getragen hatte, zog er aus
-und packte ihn dazu. Dabei nahm er seine Brieftasche
-heraus und öffnete sie. Nur eine Kerze brannte auf
-dem Tische. An die Fenster trieb der Regen und die
-seitwärts geschlossenen Läden klapperten im Wind.</p>
-
-<p>Gregor trat an das Licht und sah auf das Mädchenbild
-nieder, das er in Händen hielt. Es war ein
-feines Gesicht mit nervösem Mund und großen
-Augen: Prinzessin Maria, sie hatte es ihm selber geschenkt.</p>
-
-<p>Nun beginnt das wieder! dachte der junge Pfarrer.
-Ja, die Erde ist weit, und wir haben Zeit zu vielen
-Dingen. Aber sie sollen mir alle dem größesten
-dienen!</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Hans Henning hatte nicht aus Groll und Trotz
-die Verbindungstür zugemacht. Aber er empfand
-ein unklares, quälendes Gefühl der Furcht dem Bruder
-gegenüber, ein eisiges Widerstreben und Ablehnen,
-das er früher nie gekannt hatte. Eine Art Mißtrauen,
-das er sich dennoch nicht erklären konnte. Es
-wäre ihm fürchterlich gewesen, ihn heute noch sehen
-oder sprechen zu müssen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_104" title="104"> </a>
-Aber was nun weiter? Er hat gesprochen wie
-einer, der die Menschen und Dinge kennt. Ach ja, er
-wußte immer von jeher Bescheid.</p>
-
-<p>Tue ab diesen miserablen Wust eigenen Wünschens
-und Parteinahme für Dich selbst! sagte Hans
-Henning zu sich und drückte die heiße Stirn an die
-beregnete Fensterscheibe. Mach's gefällig ein bißchen
-klar in Dir, oder Du bist ein Hund! Es kommt
-hierbei doch auf das Wohl, das Glück und die Seele
-meines kleinen Fritz an &ndash; sonst auf nichts. Und
-warum wollte ich sie fragen? Um mich zu beruhigen!</p>
-
-<p>Also gut. Gregor hat recht. Gregor hat recht.
-Ganz egal, wie's mir eingeht oder einleuchtet, Gregor
-und die Vernunft haben recht.</p>
-
-<p>Ach ja. Man muß auch manchmal Steine auf
-der Brust haben, das wird wohl nicht anders gehen.</p>
-
-<p>Ich reite also morgen früh nicht. Nein &ndash; nicht.
-Laß es doch brennen.</p>
-
-<p>Nein, jetzt nicht wieder anders denken. Ruhe!!
-Ich reite nicht.</p>
-
-<p>Aber eins kann ich doch noch.</p>
-
-<p>Er ging an einen alten Sekretär, schloß ihn auf,
-und aus dem hintersten Geheimfach, das wohl sonst
-schon Gott mochte wissen, welchen Familiengeheimnissen
-gedient hatte, holte er ein altes, verblichenes
-Kinderbildchen hervor. So hatte der Fritz ausgesehen,
-als er ihn zum ersten Male sah.</p>
-
-<p>Hans hatte das Bild in einer Rumpelkammer
-auf Hohen-Leucken gefunden und ohne Gewissensbisse
-<a class="pagenum" id="page_105" title="105"> </a>
-gestohlen. Wie zärtlich er es liebte! Es
-war sein kostbarster Schatz.</p>
-
-<p>Die Augen sahen etwas trotzig und düster drein.
-Es war dem kleinen Kopf wie eine arge Zumutung
-erschienen, sich so dem Photographen hinzustellen.
-Sogar der süße Kindermund schien leise zu zucken.
-Das Hälschen, die runden kleinen Arme waren bloß,
-ein einfaches schottisches Kleidchen hing bis auf die
-Knie nieder.</p>
-
-<p>»Damals hast Du die Tasse auch schon übergeschwappt,
-Fritz!« sagte Hans Henning.</p>
-
-<p>Er küßte das liebe kleine Bild.</p>
-
-<p>»Leb wohl, mein Liebling. Du mußt noch ein
-bißchen wachsen. Hörst Du, Unband, wachse schnell.
-Sonst halte ich das Warten doch nicht aus.«</p>
-
-<p>Tür an Tür waren sie miteinander, und jeder
-hielt ein Bild. Der Hans mit seiner einzigen armen,
-starken jungen Liebe, dieser Hans, der nicht warten
-konnte, der mit seiner wilden, herrlichen Ungeduld
-rang wie mit einem durchgehenden Pferde &ndash; und
-der andere, der durch Blumenbeete ging und zu den
-Knospen sagte: Blüht nur erst auf, dann werden wir
-sehen. Es ist Zeit da zu vielen Dingen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_106" title="106"> </a>
-Achtes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Fritzchen saß bei der schwarzen
-Hede Marusch im Dorf, die im Bett lag und die Auszehrung
-hatte. Vor zehn Jahren und mehr hatte sie
-auf dem Schlosse gedient, Fritzchens schmutzige Kleider
-gewaschen und den Boden auch nicht reinmachen wollen.
-Sie war gerade so brav und nichtsnutzig, geschäftig
-und faul gewesen, wie die anderen Mägde auf
-Hohen-Leucken auch. Jetzt hatte sie einen Hofgänger
-geheiratet, hatte vier lebendige und zwei tote Kinder,
-und ging mit eiligen Schritten, als könne sie es kaum
-abwarten, dem Sterben zu. Sie hustete sich die arme
-Lunge heraus, und Fritzchen hatte Gelegenheit, in ein
-Bild des Jammers zu sehen, das von keinem freudigen
-Strahl erhellt wurde.</p>
-
-<p>Sie kannte aus ihrem trübseligen Dorf diese Bilder
-von Jugend auf. Da liefen diese Mädchen und
-Frauen herum, arbeiteten sich ab, fingen an zu husten,
-und dann sahen sie mit heißen, starren, verzweifelten
-Augen aus ihren bunten Federkissen heraus.</p>
-
-<p>Solange noch Lebenshoffnung glimmte, waren sie
-untertänig und voll schmeichelnder Dankbarkeit gegen
-ihr junges Fräulein, das sie zu besuchen und ihnen Erfrischungen
-zu bringen kam. Alte Frauen erzählten
-<a class="pagenum" id="page_107" title="107"> </a>
-ihr geläufig von der Engelsgüte ihrer seligen Mutter.
-Aber wenn die Hoffnung erlosch, hörte dies alles
-auf. Dann sah der nackte Menschheitsjammer, dem
-hoch und niedrig zu leeren Lauten werden, ihr unverhüllt
-in das junge Gesicht.</p>
-
-<p>»Wissen Sie noch, Fräulein«, sagte Hede Marusch,
-»als man mir meinen lütten Auta begrub?
-Da habe ich immerfort gebarmt, ich wollt mit. Nee,
-nee, Fräulein, man soll sich das nicht wünschen. Das
-Grab ist kalt, und all die Leute, die hier schon unter
-die Erde gebracht sind, machen es nicht warm. Und
-gucken Sie mal, die da&nbsp;&ndash;« sie wies auf zwei Kinder,
-die unten am Bett standen. »Wenn's mir auch noch
-so warm wäre, davon will ich ja gar nichts sagen &ndash;
-aber darum kriegen sie doch eine Stiefmutter &ndash; und
-es geht ihnen so, wie der Mine Schulzen ihren Kindern&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Sie brachte die Worte vor lautem Weinen kaum
-heraus.</p>
-
-<p>Das Fritzchen war einer harten Wirklichkeit gegenüber
-aufgewachsen, in der Krankheit, Tod, Verlassenheit,
-Stiefmutterschaft und alles Elend unserer armen
-Erde in dichtgedrängter Fülle saß. Da verlernt man
-es, oder gewöhnt es sich gar nicht erst an, schöne
-Worte zu machen. Man könnte sie ja billig haben,
-wenn man sie wollte, und würde sich selbst wahrscheinlich
-recht getröstet von dannen heben. Aber Fritzchen
-war dafür verloren. Sie kannte hier die Leute,
-ihr Leben und ihre Leiden zu genau, um nicht zu
-wissen, daß Hede Marusch, und ob sie ihr jetzt die
-<a class="pagenum" id="page_108" title="108"> </a>
-süßesten Worte sagte, doch starr daran festhalten
-würde, daß ihr Mann sich eine andere Frau nehme,
-und ihre Kinder in der Armeleutshütte, in der das
-Elend die Menschen hart machte, eine schlechte Stiefmutter
-und boshafte Stiefgeschwister bekommen
-würden.</p>
-
-<p>»Arme Hede!« sagte sie. Sie kniete am Bett
-nieder und streichelte die magere, weiß-gelbe Hand.
-»Du hast es schwer auf dieser Erde!«</p>
-
-<p>»Ja, da haben gnädiges Fräulein wohl recht«,
-klagte die arme Person. »Was ist's mit uns und
-unserm Leben? Arbeit und Schläge, wenn wir noch
-lütt sind. Arbeit und Sorgen, wenn wir groß sind
-und Hunger und Krankheit noch obendrein. Gnädiges
-Fräulein brauchen nicht weinen, die können wohl
-lachen. Da oben im Schloß tanzen und lachen sie,
-und zu essen ist noch alle Tage da, und dann haben
-sie auch nicht den Husten und die Beklemmung, und
-daß die lütten Jören dableiben müssen, wenn's nu
-alle ist. O Gott, o Gott, wenn ich nur einmal könnte
-aufstehen, ich wollte arbeiten wie nie! Aber sehen,
-gnädiges Fräulein, wie's damit ist: Gebetet hab' ich
-Tag und Nacht zum lieben Gott. Aber der hört nicht
-zu, der hört bloß auf die Reichen.«</p>
-
-<p>Fritzchen kannte das alles: die Bitterkeit, die Anklage,
-die verstockte Verzweiflung. Man schifft nicht
-immer auf Wolken, man kriecht auch ganz unten und
-hört das Stöhnen der ärmsten Kreatur. Sie nahm
-Pastor Baumann nicht sein Amt ab, Ergebung zu
-predigen, oder stand ihm dabei zur Seite.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_109" title="109"> </a>
-Ergebung! Nein, danach stand ihr bei Gott nicht
-der Sinn. Es mochte wohl ein weiches Kissen sein,
-auf das man sich hinlegt, und die Schmerzen und
-Stöße und den Jammer um die eignen kleinen Kinder
-besser erträgt. Es mochte wohl ein Helfer sein,
-der dies Kissen unterschob, der die wilden Klagen
-zu bändigen verstand.</p>
-
-<p>Dafür war der Pastor Baumann allezeit gut.
-Er war selber schon alt und schwach, und wenn sein
-Leben auch arm an Ereignissen und großen Eindrücken
-gewesen war, so hatte es ihn doch reich und
-reif gemacht. Da legt man der armen Kreatur seine
-Hand auf und sagt: »Glaube nur und ergib Dich.
-Die Liebe ist größer als alle Not.«</p>
-
-<p>Für Fritzchen Dörfflin aber war diese erste und
-letzte Weisheit nichts. Der alte Pastor war vor einer
-Stunde hier gewesen, er hatte anders geredet und
-gehandelt als das törichte, wilde Kind. Ein Gefäß
-mit Balsam hatte er stehen lassen, aber sie warf es
-mit trotziger Hand um.</p>
-
-<p>»Ja, Hede Marusch, es ist ein verzweifelter Jammer
-um Dich und Deinesgleichen! Ich will ja ein
-Auge auf die Kinder haben, wenn Du tot bist, aber
-wieviel hilft das? Ich bin nicht allmächtig und allgegenwärtig,
-und ich habe auch nicht viel Geld. Es
-ist ja auch noch viel andere Not im Dorf, nicht Deine
-allein. Was ist das für eine Ordnung in dieser Welt.«</p>
-
-<p>»O Gott, gnädiges Fräulein«, sagte die alte Maruschen,
-die herangehumpelt kam. »Machen Sie doch
-man die Hede nicht wieder aufsätzig. Heute abend
-<a class="pagenum" id="page_110" title="110"> </a>
-soll sie noch das Abendmahl kriegen. Ach Gott, ach
-Gott, war haben's ja sauer, aber wir sollen uns doch
-man ergeben. Was hilft das Murren? Und stirbt
-sie unbußfertig, so fährt sie in die Hölle. Gnädiges
-Fräulein sind noch jung und schön, aber wir Alten
-müssen das bedenken.«</p>
-
-<p>»Das ist feige!« sagte das herrische, junge Menschenkind
-und richtete sich mit blitzenden Augen auf.
-»Aus Angst sich vor dem Mächtigen ducken! Maruschen,
-ich sag' Euch: Ich möchte lieber in die Hölle,
-als mich schlagen lassen und noch dazu Demut
-heucheln!«</p>
-
-<p>»O Gott, gnädiges Fräulein!«</p>
-
-<p>»Jawohl, Mutter, Fräulein Fritzchen hat am
-End' wohl recht! Ich will auch nicht heucheln und
-schön tun. Schick zum Pastor, bestell' ihn ab. Ich
-will lieber zur Hölle, ich will's nicht gut haben, wenn
-Wilhelm und Mariek und die beiden Lütten es schlecht
-kriegen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Sie saß hochauf, ihr fieberisches Gesicht stand in
-Flammen, die schwarzen Haare hingen ihr wirr um
-Kopf und Schultern, die schwarzen Augen brannten.
-Sie war von einer schauerlichen, jung-hexenhaften
-Schönheit. Fritzchen stand und sah auf ihr Werk,
-ein Beben durchglitt sie. Sie sagte nichts.</p>
-
-<p>Aber die Alte jammerte: »Hede! Hede!« und die
-beiden Kinder fingen laut zu heulen an.</p>
-
-<p>»Heult nicht!« sagte Frida v.&nbsp;Dörfflin mit starker
-Stimme.</p>
-
-<p>Sie sah sich in dem niedrigen bedrückten Raum
-<a class="pagenum" id="page_111" title="111"> </a>
-um, in dem einem das Atmen verging, und in dem
-das Elend hauste. Es würde noch viel nackter hausen,
-wenn der fiebernde Leib dort hinten an der Wand
-starr und kalt sein würde.</p>
-
-<p>Gebt mir erst eine Auflösung zu diesen grausigen
-Rätseln, und ich will Euch auch Ergebung predigen!
-dachte das trotzige Herz.</p>
-
-<p>Sie hat recht, daß sie unter diesen Bedingungen
-nicht in den Himmel will!</p>
-
-<p>Frida kam wieder dicht an das Bett. »Hede«,
-sagte sie, »ich habe Achtung vor Dir, Du arme Seele!
-Andre Leute werden sagen, Du frevelst, aber ich sage,
-Du hast einen großen Mut. Dicht vor dem Tode
-Rebellion zu machen, das ist tapfer! Wie es Dir
-bezahlt werden wird, weiß ich nicht. Vielleicht bekommst
-Du wieder Angst, das ist wohl nicht zu vermeiden.
-Aber das soll nichts daran ändern, daß ich
-Dir hier die Hand gegeben habe, Hede.«</p>
-
-<p>Die Kranke faßte mit beiden Händen nach der
-Mädchenhand, die sich ihr bot. Ihr abgezehrtes Gesicht
-glühte unheimlich.</p>
-
-<p>»Ich krieg' keine Angst, Fräulein Fritzchen. Nun
-ist alles gut. Ich glaub' auch, daß nach dem Tod
-alles aus ist. Otto sagt's auch immer. Es wird
-mir schon nichts passieren. Mir ist so leicht, daß ich
-nu nicht immer mehr beten brauch', während die Lütten
-doch in Jammer geraten.«</p>
-
-<p>»O Gott, Hede, Hede, besinn' Dich!« jammerte
-die alte Frau. »Es geht zu Ende mit Dir! O Gott,
-gnädiges Fräulein, erbarmen Sie sich!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_112" title="112"> </a>
-»Ich kann mich nicht erbarmen«, sagte Fritzchen.</p>
-
-<p>Draußen fuhr eine Kutsche vorüber, man erkannte
-sie nicht durch die beschlagenen Scheiben. Ein
-regenschwerer Oktobertag war es. Sonst stürzte alt
-und jung an die Fenster, wenn ein fremder Wagen
-vorüberfuhr, heute wendete kaum das Jüngste der
-Kinder halb mechanisch das verweinte Gesicht.</p>
-
-<p>»Fräulein Fritzchen, verlassen Sie mich nicht«,
-schrie Hede qualvoll auf, als das Mädchen eine Bewegung
-machte. »Nee, nee, allein bleiben kann ich
-nicht! Ich muß die Hand von Fräulein haben, sonst
-fall' ich. Nee, nee, hierbleiben müssen Sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Das waren ihre letzten bewußten Worte, von da
-ab verfiel sie ins Delirium.</p>
-
-<p>Das Schloßkind vom Lande hatte schon vieles
-sterben sehen, Mensch und Tier, und manches davon
-hatte sie sehr lieb gehabt. Keine sorgende Mutter
-hatte hinter ihr gestanden, und sie von den schreckensvollen
-und traurigen Bildern des Lebens ferngehalten.
-Aber noch nie hatte sie gesessen wie heute, mit
-ihrem kindischen Trotz, mit ihrem tollen Wagemut,
-der gegen das Ewige, Unerfaßliche anrennt, als einziger
-Halt und Hort der geängstigten fliehenden Seele.</p>
-
-<p>Die heißen feuchten Finger der Sterbenden krallten
-sich in ihre Hand. Wirre Worte von Teufeln,
-Höllenfeuer, von Spuk und Entsetzen schwirrten durch
-den Raum. Die Alte lag am Boden und betete, bald
-zu Gott, bald zu dem Schloßfräulein.</p>
-
-<p>»Ach, süßestes, gnädigstes Fräulein, helfen Sie
-ihr doch &ndash; helfen Sie ihr doch &ndash; erbarmen Sie sich.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_113" title="113"> </a>
-Fritzchen legte der Irren die Hand auf die Stirn,
-sprach auf sie ein, aber das Delirium ging weiter,
-die verkrallten, heißen Finger ließen sie los, Hede
-Marusch wußte von ihrer Gegenwart nichts mehr.</p>
-
-<p>Da stand Fritzchen auf. »Ich will Euch zum
-Trost den Pastor holen«, sagte sie. »Er kann vielleicht
-auch der Hede noch helfen. Er hat ein paar
-Beruhigungsmittel in seiner Apotheke.«</p>
-
-<p>»Lebe wohl, meine arme Hede!«</p>
-
-<p>Sie stolperte durch den halbdunklen, lehmgestampften
-Hausflur, in dem Kraut und Kartoffeln
-lagen, und stand draußen. Es regnete jetzt nicht.
-Still, tot und feuchtschwer war die Luft. Auf der
-Dorfstraße lag das letzte nasse Laub.</p>
-
-<p>Fritzchen trug einen kurzen Rock, in dem sie gewöhnlich
-zu Pferde saß, ein rundes Mützchen und
-eine alte braune Jacke. Ihre Wangen glühten, ihr
-war, als habe sie mit dem Gott da droben um eine
-arme Seele gerungen und habe obgesiegt.</p>
-
-<p>»Was nun aus ihr wird? Gleichviel. In den
-Himmel wäre sie sowieso nicht gekommen mit ihrer
-elenden Heuchelei.«</p>
-
-<p>Sie ging die öde Straße entlang zwischen den
-kleinen Häusern und bog um die Gartenecke, hinter
-der das Pfarrhaus lag. Hier hörte der holprige
-Steindamm auf. Im aufgeweichten Wege vor dem
-Gattertor hielt eine Kutsche. Sie mußte erst zweimal
-hinsehen, ehe sie begriff: es war Rummelshöfer
-Livree, es waren die Rummelshöfer Rappen.</p>
-
-<p>Sie erblaßte vor Schreck. Wer war hier? Jetzt,
-<a class="pagenum" id="page_114" title="114"> </a>
-zu dieser Jahreszeit, und bei dem Pastor? &ndash; Der
-Kutscher grüßte sie, sie brachte die Frage nicht heraus,
-die ihr in der Kehle würgte. Einen Moment riß
-es an ihr, umzukehren und davonzulaufen, sie fühlte
-sich plötzlich so unfähig, ein Gesicht und vielleicht gar
-das eine, aus diesem Hause zu sehen. Ihre ganze am
-Sterbebett gerüttelte und durchglühte Stimmung
-paßte jetzt nicht zu solchem neuen Eindruck.</p>
-
-<p>In einem Gefühl der Schwäche und Abwehr
-lehnte sie sich an die Gartenmauer. Von den Zweigen
-fielen ein paar naßkalte Tropfen in ihr Gesicht. Sie
-dachte an Hede Marusch. »Ich muß die Arznei
-holen«, sie straffte sich, öffnete das Holzpförtchen, ging
-durch den kleinen zerzausten Vorgarten und ins Haus.</p>
-
-<p>Seit einiger Zeit hatte Pastor Baumann die
-große Kuhschelle, die an der Haustür hing und ohrenzerreißend
-gellte, sobald jemand die Schwelle betrat,
-abnehmen lassen. Er war hinfälliger geworden und
-konnte den Lärm nicht mehr vertragen. Fritzchen
-wußte das noch nicht. Als der Lärm ausblieb, wurde
-ihr unheimlich, fast gespensterhaft zu Mute. Sie
-fürchtete sich vor dem Hall der eigenen Schritte. Auf
-Fußspitzen schlich sie und klopfte an.</p>
-
-<p>»Noch nicht«, sagte des Pastors Stimme drinnen.
-»Setz' Dich auf einen Stuhl und warte ein Weilchen.«
-Er glaubte wohl, es sei ein Gemeindekind.</p>
-
-<p>Aber dem Schloßfräulein kam diese Verwechslung
-recht. Sie setzte sich auf einen Brettstuhl, unweit der
-Tür, strich das nasse, wirre Haar glatt und wartete.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_115" title="115"> </a>
-Drin klangen Stimmen. Die eine, das war die
-von Herrn Gregor.</p>
-
-<p>Es berührte sie kaum. Ihr war, als habe sie das
-erwartet, als könne es auf der Welt überhaupt nicht
-anders sein, als daß draußen die Rummelshöfer
-Kutsche stände, sie hier auf dem Brettstuhl säße und
-drinnen Gregor sprach.</p>
-
-<p>Wie lange? Ja, wer konnte das wissen. Frida
-Dörfflin wenigstens hatte jeden Maßstab für die Zeit
-verloren. Es war ja das Schönste im ganzen Leben
-so: still dazusitzen, müde, halb im Traum und dem
-Hall der Stimme zu lauschen, die die herrlichste auf
-der ganzen Erde war.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Irgendwo klappte eine Tür, des Pastors Mamsell
-stand plötzlich da. Eine Frau hatte er schon längst
-nicht mehr. Sie blieb mit offenem Munde stehen,
-als sie Frida sah.</p>
-
-<p>»Herr Gott, das Fräulein vom Schloß! Und
-hier im Flur! Und so kalt! Herrjeh, weiß denn
-der Pastor das?«</p>
-
-<p>»Still, Reuter! Es ist jemand drin.«</p>
-
-<p>»Und wenn auch! Und wenn auch der Kaiser!
-Das gnädige Fräulein darf hier nicht so sitzen. Drüben
-ist man bloß nicht geheizt. Nee, das geht aber
-ganz und gar nicht.«</p>
-
-<p>Sie war schon an der Tür, mit Eisenfäusten schlug
-sie daran. »Herr Pastor! Fräulein v.&nbsp;Dörfflin sitzt
-hier draußen und wartet. Im Flur! Machen Sie
-doch man bloß auf!«</p>
-
-<p>Fritzchen war empört zugesprungen, aber es war
-<a class="pagenum" id="page_116" title="116"> </a>
-schon zu spät. Alles war jetzt das Werk eines Augenblicks.
-Ein »Ach!« von innen, ein eilfertiges Heranschlurfen,
-Aufriegeln, Aufstoßen der Tür. &ndash; »Aber
-Fritzchen, daß Du es bist, ahnte ich ja nicht&nbsp;&ndash;« Das
-Auftauchen eines Gesichts, eine Gestalt im Hintergrund,
-vom Sofatisch her&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Das ist die Schuld von der Reuter«, sagte Fritzchen
-in trotzigem Ton. »Ich kann und will noch warten&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Meinetwegen auf keinen Fall«, sagte Gregor v.&nbsp;Zülchow
-und stand auf. »Wir sind ohnedies fertig.
-Es tut mir außerordentlich leid, gnädiges Fräulein.«</p>
-
-<p>»Komm herein, liebes Fritzchen«, sagte der alte
-Herr.</p>
-
-<p>Es war eine seltsame Stimmung im Raum. Gregors
-Gesicht war bleich und hatte einen finstern Ausdruck.
-Der Pastor sah rot und sehr erregt aus.</p>
-
-<p>»Was wolltest Du von mir?« fragte er.</p>
-
-<p>»Geben Sie mir beruhigende Tropfen für Hede
-Marusch mit«, sagte Fritzchen, immer noch in demselben,
-etwas steifnackigen Ton, in dem sie angefangen
-hatte, zu sprechen. »Sie ist jetzt ohne Besinnung und
-wird wohl sterben!«</p>
-
-<p>»Ach, Kind, warst Du bei ihr? Das ist gut von
-Dir. So schnell geht es mit ihr zu Ende? Ich wollte
-ihr heute noch das Abendmahl geben, dann will ich
-doch lieber gleich&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Sie will es nicht mehr, selbst wenn sie bei Bewußtsein
-wäre«, sagte Fritzchen mit klingender
-Stimme. »Vielleicht fordert sie es sich noch in der
-<a class="pagenum" id="page_117" title="117"> </a>
-Angst, aber was hat das für Wert! Was hat dies
-Ducken, Betteln und Winseln überhaupt für Wert!«</p>
-
-<p>»Frida!« rief der alte Herr in großer Bekümmernis.
-»Ich will nicht glauben, daß Du so zu ihr gesprochen
-hast.«</p>
-
-<p>»Doch!« rief das wilde Kind. Ihre roten Lippen
-zuckten vor Kriegslust.</p>
-
-<p>»Das hast Du getan? Und gerade bei der? Meine
-ganze schwere Arbeit wieder zerstört? O Kind, Gott
-vergebe Dir Deine Unwissenheit und Deinen Trotz
-und Deine fürchterliche Vermessenheit. &ndash; O sieh, mir
-fehlen die Worte für Dich! Und das unglückliche Geschöpf,
-das Du in die Verdammnis getrieben hast,
-und das Dich verklagen wird vor Gottes Richterstuhl&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»So sagen Sie mir das eine!« rief Frida in ausbrechender
-Heftigkeit, »warum Gott sich immer nur
-Sklaven wünscht und lieber eine geheuchelte Demut
-will als eine gerade und offene Rebellion?«</p>
-
-<p>Ihre Worte klangen und verhallten, dann wurde
-es seltsam stumm im Raum. Der alte Pastor griff
-hinter sich an eine Stuhllehne, als müsse er sich halten,
-und tappte sich mühsam bis zu dem Rohrsessel
-vor seinem alten gelben Schreibtisch. Er kehrte sein
-Gesicht Herrn v.&nbsp;Zülchow zu, der stumm dem wunderlichen
-Auftritte zugesehen hatte.</p>
-
-<p>»Das ist es, was ich hinterlasse&nbsp;&ndash;«, sagte er in
-gebrochenem Ton. »Das habe ich als Resultat meines
-ganzen Lebens erreicht. Jetzt seh' ich's: ich war
-<a class="pagenum" id="page_118" title="118"> </a>
-immer ein unnützer Knecht. Sie werden mehr erreichen
-mit Gottes Hilfe&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er bedeckte das Gesicht mit der Hand, und es
-schien, als ob er schluchze.</p>
-
-<p>Gregor v.&nbsp;Zülchow sah das Kind an, das den
-Jammer dieses Greises verschuldet hatte. Wie es dastand,
-war es zugleich schön und wild, ein Bild des
-rücksichtslosen Lebens.</p>
-
-<p>»Seien Sie doch nicht betrübt«, sagte sie. »Sie
-haben hier das ganze Reich erobert und Gott zu
-Füßen gelegt. Die Kirche ist immer voll, die Leute
-beten und glauben Ihnen alles aufs Wort. Was tut
-da ein schwarzes Schaf! Verdammen Sie es, aber
-seien Sie nicht plötzlich so verzweifelt. Herr v.&nbsp;Zülchow,
-helfen Sie ihm!«</p>
-
-<p>»Das ist das Ende. So ist das Ende&nbsp;&ndash;« murmelte
-Pastor Baumann.</p>
-
-<p>»Seit wann wollen wir denn glänzende Früchte
-sehen?« sagte der junge Hofprediger. Es war ein
-herber Ton in seinen Worten. »Kampf ist unser
-Weg, und auch das Ende ist kein Friede. Wollte ich
-ein vollkommenes Erbe antreten, ein geglättetes Reich?
-Legen Sie ruhig Ihr Handwerkszeug aus den Händen,
-Sie haben getan, was Sie konnten, und ich werde
-tun, was ich kann.«</p>
-
-<p>»Ja &ndash; ja &ndash; ich danke Ihnen&nbsp;&ndash;«, sagte der
-alte Pastor. Er strich sich über Stirn und Augen,
-dann griff er in ein Fach zur linken Hand. »Hier,
-Frida. Die alte Marusch soll der Hede davon jede
-Viertelstunde sechs Tropfen geben. Jede Viertelstunde
-<a class="pagenum" id="page_119" title="119"> </a>
-sechs Tropfen. Aber gib's nur ab, halte Dich dort
-nicht mehr auf. Es ist nicht gut, ich verbiete es Dir.
-Ich will mir nur Stiefel und den Talar anziehen,
-dann komme ich hin. Sag' den Leuten das. Nun geh.
-&ndash; Versprichst Du mir, so zu tun?«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>Er hielt ihre Hand fest, die sich nach dem Fläschchen
-streckte. »Lebe wohl, Fritzchen. Armes Kind.
-Du hast keine Mutter gehabt. So wild aufgewachsen
-wie ein Füllen, nicht wie eine kostbare Seele, die behütet
-werden muß. Lebe wohl, ich kann Dir jetzt
-nichts mehr sein. Ein andrer wird mir diese Sorge
-abnehmen. Nun geh. Die Zeit drängt, sie drängt,
-sie drängt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich werde mitgehen«, sagte Gregor. »Für heute
-leben Sie wohl, Herr Pfarrer, und vielen herzlichen
-Dank. Auf Wiedersehen, es ist ja noch manches zu
-erledigen.«</p>
-
-<p>»Auf Wiedersehen!« sagte der alte Mann.</p>
-
-<p>Draußen im Vorgarten sagte Gregor: »Wollen
-wir hinauf fahren? Ich muß noch zu Ihrem Herrn
-Vater. Oder gehen Sie lieber?«</p>
-
-<p>»Ich gehe lieber«, sagte Fritzchen. »Ich muß
-Luft haben.«</p>
-
-<p>»Wo wohnt die Kranke, von der Sie sprachen?«</p>
-
-<p>»Bald um die Ecke herum, das fünfte Haus.«</p>
-
-<p>»Tragen Sie öfter die Fackel der Empörung in
-die Sterbestuben?« fragte er spöttisch.</p>
-
-<p>»Es war das erste Mal, aber vielleicht nicht das
-letzte.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_120" title="120"> </a>
-Er blieb einen Augenblick stehen und sah sie an.
-Das rotbraune Haar hing ihr schon wieder über die
-Schläfen und über die Ohren. Die Wangen blühten,
-das ganze Bild in der braunen Jacke, dem kurzen
-Rock, den derben Stiefeln, blühte.</p>
-
-<p>Du bist bizarr und rebellisch, dachte er, aber Du
-bist voller Kraft und Leben wie der Sturmvogel über
-dem toten Moor!</p>
-
-<p>»Wenn es wieder geschieht, werden Sie einen
-anderen Feind finden, als den guten alten Herrn da
-hinten im Schlafrock.«</p>
-
-<p>»Wen denn?« fragte sie mit einer aufblitzenden
-Ahnung im Gesicht.</p>
-
-<p>»Mich &ndash; wenn Ihr Vater nicht nein dazu sagt.«</p>
-
-<p>»Wie kann das geschehen?«</p>
-
-<p>In der Stube des Pastors war es dämmerig gewesen,
-hier sah sie im fahlen Tagesschein ihm zum
-ersten Male ins Gesicht. Es war verändert in den
-kurzen Monaten seit dem Sommer, es sah schärfer
-und älter aus mit harten Linien.</p>
-
-<p>»Was ist geschehen?« rief sie mit plötzlicher Angst.</p>
-
-<p>Er lächelte flüchtig. Dir, Du wildes Kind, soll
-ich hier auf der Dorfstraße erzählen, was mir geschehen
-ist? dachte er. &ndash; Aber bei Gott, ich glaube,
-ich erzähle es Dir früher als all den anderen Leuten,
-die mir mit dem verbrieften Recht auf Vertrauen zu
-Leibe gehen.</p>
-
-<p>»Hier wohnt die Hede Marusch«, sagte Fritzchen.</p>
-
-<p>»Ich will Posten stehen, damit Sie gleich wieder
-herauskommen«, sagte er lächelnd.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_121" title="121"> </a>
-Im Hausflur hörte sie schon das wüste Schreien
-der armen Hede. Sie stand in der Stubentür und
-sah einige Augenblicke den Todeskampf mit an. Wie
-eine starke Woge stürzte sich alles über ihr Herz. Der
-Tod hier drinnen und das Leben da draußen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Sie kam wie schwindelnd heraus.</p>
-
-<p>Der junge Geistliche bot ihr seinen Arm. »Wollen
-wir nicht lieber doch fahren? Es geht ja nun gleich
-so stark bergan.«</p>
-
-<p>»Nein, nicht in die Kutsche, das ist so eng.«</p>
-
-<p>Ja, Du brauchst viel Raum, Du unbändiger
-Vogel! dachte er. &ndash; Aber siehe, ich brauche ihn auch
-und muß und kann ihn doch entbehren.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>So führte Gregor v.&nbsp;Zülchow das Fritzchen Dörfflin
-am Arm durch das Steintor in ihres Vaters
-Hause.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Die Kutsche fuhr fort. Herr v.&nbsp;Dörfflin ging
-ins Wohnzimmer, fand dort niemand, fragte nach
-Gisela und Fritzchen. Die eine sollte in ihrem Zimmer
-sein, das nach dem Garten lag, die andere hatte
-man in die Turmstube gehen sehen. »Holt sie her.«
-Gisela kam, Fritzchen nicht. »Warum nicht, Jakob?«
-»Sie will nicht«, sagte Jakob. Er war immer für das
-Prägnante und alt genug, sich das zu leisten.</p>
-
-<p>»Was willst Du uns denn sagen, Papa?« drängte
-Gisela. Sie hatte in einem ganz entlegenen Winkel
-des weitläufigen Hauses gesessen und von dem aufregenden
-Besuch erst eben durch Jakob gehört.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_122" title="122"> </a>
-»Nein, Fritzchen muß dabei sein«, beharrte Herr
-v.&nbsp;Dörfflin mit seinem rötesten und eigensinnigsten
-Gesicht.</p>
-
-<p>Herr Gott im Himmel! dachte Gisela, plötzlich wie
-entgeistert. Was kann das sein &ndash; hat Gregor Zülchow
-vielleicht wegen Fritzchen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ihr wich das Blut aus dem Gesicht.</p>
-
-<p>»Na&nbsp;&ndash;«, sagte Herr v.&nbsp;Dörfflin mürrisch&nbsp;&ndash;
-»dann will ich mal nach oben klappern und dem dummen
-Balg meine Meinung sagen. Das sind mir ja
-neue Moden! Kinder müssen gehorchen, und wenn's
-durch Feuer und Wasser geht. Na &ndash; ich werd's ihr
-schon einfüllen!«</p>
-
-<p>Eine mühselige Steigerei über die enge krumme
-Treppe. Alle Augenblicke blieb er stehen und pustete.
-Donner, und hier war er doch in früheren Jahren
-wie ein Jagdhund auf und ab gerannt. Ja, ja, man
-wird immer älter und dicker und jedes Jahr geht's
-schwerer und hat weniger Zweck.</p>
-
-<p>Als er ganz oben war, war's gar zu Ende mit
-seinem Selbstgefühl. Er hatte vergessen, daß er dem
-Fritzchen das vierte Gebot einpauken wollte. Ach
-Gott, dies bißchen kümmerliche Leben! Wozu schleppt
-man nur diesen ungefügen Ballen, der nicht einmal
-die Turmstiege hinauf kam, noch immer durch die
-Welt?</p>
-
-<p>Fritzchen hatte das Pusten und Poltern gehört,
-sie stand schon in der offenen Tür ihres Schlafstübchens,
-zu dem noch eine weitere Stiege über die
-Schulstube hinaus führte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_123" title="123"> </a>
-»Papa, Du kommst hier herauf?«</p>
-
-<p>»Na, was soll ich denn sonst. Laß mich doch
-die Stiege steigen, denkst wohl, ich kann's nicht mehr.
-Wollt Euch nur sagen &ndash; puh&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Setz' Dich doch, Papa.«</p>
-
-<p>»Ach was. Wollt Euch sagen, der Zülchow &ndash;
-der war eben hier &ndash; komische Geschichte &ndash; will hier
-&ndash; hier im Dorf Pfarrer werden &ndash; na meinetwegen
-mag er, wenn Baumann einpacken will&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Papa!« Gisela war im Ernst besorgt um
-seinen Verstand. »Du machst doch nur Spaß. Der
-Freiherr v.&nbsp;Zülchow ist Hofprediger &ndash; Du weißt
-doch&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Was geht's mich an. Weiß der Kuckuck, was da
-für Geschichten brodeln. Er will hier Hals über Kopf
-Pastor werden. Nee, nee, Gisela, ich bin nicht verrückt,
-wenn Du mich auch so anguckst. Er mag's
-vielleicht sein. Na, meinetwegen, ich geh doch nicht
-in die Kirche, ist mir zu feucht, hab' ohnedies das
-Reißen. So &ndash; das war's. Nun kann ich ja wieder
-'runter.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_124" title="124"> </a>
-Neuntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Die Kutsche fuhr in die Rummelshöfer Einfahrt.
-Der alte Brunswig, der Diener, stand draußen. »Der
-Herr Baron möchten doch gleich zur Frau Baronin
-kommen.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, ich weiß.«</p>
-
-<p>Er war erst heute morgen nach nächtlicher Eisenbahnfahrt
-hier angekommen und hatte sich dann
-gleich den Wagen nach Hohen-Leucken bestellt.</p>
-
-<p>Nun kam wieder eine bittere Pille, die Aussprache
-mit der Mutter. Ihm graute davor.</p>
-
-<p>In ihrem Zimmer, das von hundert Erinnerungen
-und leisen Huldigungen für ihren vergötterten
-Sohn voll war, erwartete sie ihn. Auf dem
-Schreibtisch lag &ndash; vielleicht absichtlich? &ndash; noch die
-Depesche, in der er vor etwa acht Wochen ihr seine
-Ernennung zum Hofprediger mitgeteilt hatte.</p>
-
-<p>Unfähig, auf einem Sitz zu verharren, mit verkrampften
-Händen, nach Luft ringend, ging Frau v.&nbsp;Zülchow
-auf und ab, ein entsetzlicher, elender Anblick.</p>
-
-<p>»Gregor! sitze da nicht wie ein Stein. Gib mir
-Auskunft, Du bist es mir schuldig. Sage mir, warum
-dies alles, und wie es kam?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_125" title="125"> </a>
-»Laß es Dir von der Welt erzählen, Mutter.
-Sie weiß es vielleicht besser als ich.«</p>
-
-<p>Da blieb sie stehen, flammenden Gesichts. »O
-Du! Von der Welt erzählen! Jawohl, an die hast
-Du mich oft genug verwiesen! Von der Welt und
-ihrem Geschwätz mußte ich mir Kunde holen über
-Dich und Dein Leben. Gregor &ndash; es war oft zum
-Wahnsinnigwerden, aber ich habe es getragen. Ich
-habe meine Liebe nicht anfechten lassen von Bitterkeit
-und fortwährenden Entsagungsschmerzen. Ich wußte
-Dich glücklich und nahm still das geringe Teil, das
-Du für mich abfallen ließest. &ndash; Aber das war zur
-Zeit Deines Glücks und Hochgangs. Jetzt &ndash; da
-plötzlich alles zusammenbricht, da Du kommst und
-mir sagst: Mit dem Glanz ist es aus, ich werde Pfarrer
-im Moordorf da drüben &ndash; da selbst schiebst Du
-mich, Deine Mutter, beiseite. Frage die Welt! Gregor,
-das ist empörend! Hier, ich, ich habe Dich geboren
-und aufgezogen mit unendlicher Liebe, ich habe
-Dich auf Händen getragen, verwöhnt, überschüttet
-&ndash; ich habe&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Laß das, ich weiß es alles«, sagte Gregor und
-stand auf. Es war ein gequälter Zug in seinem Gesicht.
-»Glaubst Du, ich habe nie gesehen, daß ich
-Dein Schoßkind war? Wir, Deine Söhne, wir wissen
-es alle beide. Ob es recht oder falsch war, kann und
-mag ich nicht untersuchen. Darauf kommt es jetzt
-auch gar nicht an. Hast Du meine Zurückhaltung
-zu Zeiten meines Glückes ertragen, so sollte doch der
-Wechsel der Tatsachen nichts daran ändern. Was
-<a class="pagenum" id="page_126" title="126"> </a>
-daran zu wissen ist, weiß alle Welt, wozu es noch
-erörtern, es macht mich überdrüssig und krank. War
-in Deiner Liebe ein so fester Grund, daß Du mir vertraust,
-auch hier meinen und unseren Namen reingehalten
-zu haben, so wirst Du die guten und die
-schlechten Gerüchte von selber auseinander halten
-können. Wenn nicht, so ist diese Liebe ein schwankender
-Grund und keines Rühmens wert.«</p>
-
-<p>Sonst hatte die Kälte seines Wesens sie bezaubert,
-trotz des Leidens, das sie ihr auflud. Heute reizte sie
-sie nur.</p>
-
-<p>»Genug der Worte!« rief sie außer sich. »Ich
-will keine Predigt von Dir, wenigstens heute nicht.
-Du bist mir schuldig, mir Rede zu stehen. Bei Deiner
-Kindespflicht und Mannesehre rufe ich Dich an. Ich
-stehe auch im Namen Deines Vaters hier. Ja&nbsp;&ndash;
-überdrüssig mag es Dir wohl sein, aber ich kann Dir
-diesen Überdruß nicht ersparen, mein Sohn!«</p>
-
-<p>Sie war so schön und hatte eine solche große, stolze
-Gestalt, daß auch dieser Zorn- und Grollausbruch
-einen majestätischen Anflug hatte. Aber um Gregors
-Mund ging ein leises, böses Zucken. Innerlich lachte
-er verächtlich über das, was er als Komödie empfand,
-um eine mütterliche Neugier, Eifersucht und Empfindlichkeit
-zu bemänteln.</p>
-
-<p>Er lehnte sich an das Fensterbrett und kreuzte
-die Arme. »Gut, Mama, wenn Du es so wichtig
-nimmst, will ich Dir antworten. Was wolltest Du
-erfahren? Ohne Zweifel weißt Du schon das meiste.«</p>
-
-<p>»Ich weiß nichts«, sagte sie und setzte sich in einen
-<a class="pagenum" id="page_127" title="127"> </a>
-Lehnstuhl. Mit einem Tüchlein trocknete sie das
-brennende Gesicht, kühlte die heißen Augen. »Es
-handelt sich um die Prinzessin Maria, nicht wahr,
-Gregor?«</p>
-
-<p>»Ich denke«, sagte er kühl.</p>
-
-<p>»Ihr wart &ndash; viel zusammen&nbsp;&ndash;? Ihr &ndash; hattet
-miteinander ein &ndash; ein &ndash; eine Verständigung?«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht, was Du damit meinst. Sie ist
-ein kluges und feines Mädchen, wir haben über des
-Lebens größeste Fragen miteinander gesprochen.
-Dann kam auf ihrer Seite das Persönliche. Sie war
-ein verwöhntes Kind.«</p>
-
-<p>Er schwieg wieder. Seine Mutter sah nicht, daß
-sie ihn quälte. Auch ihm war unter diesen Trümmern
-ein Reich begraben worden, das wohl größer
-war, als sie je ermessen konnte. Aber sie stieß und
-zerrte ihn weiter.</p>
-
-<p>»Hast Du ihr &ndash; Gregor &ndash; hast Du ihr von
-Liebe gesprochen? Ging es soweit?«</p>
-
-<p>»Mutter&nbsp;&ndash;«, sagte er mit eiskalten Augen.
-»Dieses sind Fragen, deren Beantwortung Du in
-besserer Stunde selbst verurteilen würdest. &ndash; Verzeih
-mir, aber ich würde Dich und mich erniedrigen,
-wenn ich über den Inhalt jener Stunde plaudern
-könnte. Wenn Du noch weiteres willst, so ist es dies:
-die Prinzessin hat ihrem Vater selber Mitteilung gemacht.
-Nicht als Buße, sondern in einer törichten
-Hoffnung. Dann kam ein Sturm, der sehr kurz und
-stark vorüberbrauste. &ndash;&nbsp;&ndash; Es haben oft in einem
-<a class="pagenum" id="page_128" title="128"> </a>
-Konflikt alle recht, aber einer muß die Zeche bezahlen.
-Das ist nun einmal so.«</p>
-
-<p>»Und der eine mußtest Du sein!«</p>
-
-<p>»Gewiß. Übrigens trägt hier doch jeder seinen
-Teil.«</p>
-
-<p>»Und jetzt gehst Du als armseliger Dorfpastor
-unter das Patronat dieses Dörfflin? Gregor, Du
-warst nie unüberlegt, aber dies ist unermeßlich überstürzt.
-War es Dir so schnell um eine andere Stelle
-zu tun?«</p>
-
-<p>»Ja!« sagte er.</p>
-
-<p>Eine bange, schwere Pause trat ein, sie sah ihn an
-und erschauerte.</p>
-
-<p>Du, mein Sohn &ndash; dachte sie &ndash; jetzt habe ich
-an Dir gerissen, wie nur eine verzweifelte Mutter
-es vermag. Was hat es genützt? Tropfen hast Du
-in meinen leeren Becher fallen lassen: Da stehst Du
-und siehst an mir vorbei ins Leere. War es die
-Wahrheit, was Du sagtest? Oder ein Teil der Wahrheit
-&ndash; oder vielleicht nur ihr Schein?</p>
-
-<p>Und muß ich mich hier vor Dir winden im irren
-Fragen, Forschen, Verzweifeln und hoffnungslos in
-Dein Gesicht sehen?</p>
-
-<p>Bin ich dazu Mutter geworden?</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Die Dinge nahmen ihren schleunigen Lauf. Pastor
-Baumann verabschiedete sich von seiner Gemeinde.
-»Es ist gut, Kinder, daß ich gehe. Einen zweiten
-<a class="pagenum" id="page_129" title="129"> </a>
-Winter auf Eurem windigen Kirchhof überstände ich
-wohl nicht mehr. Und ich muß noch ein Weilchen
-leben bleiben mit meiner Pension und meinen Kindern
-aushelfen. Es ist ganz gut so. Ihr kriegt einen
-vornehmen, gelehrten Pfarrherrn. Nehmt Euch die
-Ehre nur recht zu Herzen und gebt ihm keinen Anlaß
-zum Tadeln. Die arme Hede Marusch wird wohl
-die Letzte gewesen sein, die ich unserem allbarmherzigen
-Vater in die Arme gelegt habe.«</p>
-
-<p>Ihm zitterte die Stimme und das rauhstopplige
-Kinn nun aber doch, wenn er von Haus zu Haus
-ging und Abschied nahm. Ein paarmal sah er sich
-um und schüttelte den Kopf, wie einer, der nicht begreift.
-Durch diese niedrigen Türen soll der gehen?</p>
-
-<p>»O nee, o nee&nbsp;&ndash;« sagten die Leute, »dat ward
-jawoll nu all verkiehrt!« Sie kamen sich vor wie verraten
-und verkauft. Mit tausend Tränen ward dem
-guten alten Pastor, der schon die bejahrten Leute bei
-ihnen eingesegnet hatte und jedes Leben ein- und ausgeleitet
-hatte, das Lebewohl gegeben.</p>
-
-<p>Nun war das altvertraute Pfarrhaus unter den
-entblätterten Ahornen und Lindenbäumen leer. All
-der klapprige liebe alte Hausrat war auf ein paar
-Leiterwagen zum Dorf hinausgefahren. Herr v.&nbsp;Dörfflin
-schickte Maler, Tapezierer, Glaser, viel beflissene
-Hände, die sich Pastor Baumann in seiner
-langen Amtszeit auch wohl manch liebes Mal gewünscht
-hätte. Hier das Loch in der Diele, über
-das man immer stolperte, dort das schadhafte Dach,
-in das Regen und Schnee trieb, die abgerissenen Tapeten,
-<a class="pagenum" id="page_130" title="130"> </a>
-die rauchenden Öfen, die schiefe Gartentüre,
-das zerbrochene Fensterglas im Schlafzimmer, alles
-ward gründlich repariert. Die verblichenen und abgetretenen
-Farben wurden erneuert, es roch bis auf
-die Straße hinaus nach Lack, Terpentin und vielen
-hoffnungsvollen Dingen. Bis in die tiefe Abenddunkelheit
-hinein ging das Klopfen, Hämmern und
-all das vielfältige Geräusch neu aufbauenden Lebens.</p>
-
-<p>Dann kam das Fräulein vom Schloß, Fräulein
-Fritzchen, und ging durch alle Stuben, in Boden und
-Keller. Sie trug den kurzen Reitrock, ihr rundes
-Mützchen und ihre alte braune Jacke. Wie ein Feldherr
-ging sie von Raum zu Raum, übersah, was noch
-mangelte, gab knappe Befehle, und alles an ihr war
-Licht und Klang.</p>
-
-<p>»Paß up!« sagte ein Maurer zum andern. Sie
-sahen ihr nach und blinzelten sich zu.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash; Nun aber war es schon November geworden,
-und der erste Schnee war gefallen. Es waren
-Gregors Möbel gekommen in einem großen geschlossenen
-Möbelwagen aus der Residenz. Die ganze Dorfbewohnerschaft
-hatte sie staunend umstanden. Dann
-war in der Kutsche die Baronin Zülchow vorgefahren,
-hatte auf die respektvollen Grüße nicht gedankt,
-nicht gelächelt, einen alten Diener hatte sie bei sich,
-dem sie in Eile angab, wie sie die Möbel gestellt
-wünschte, er schrieb beständig auf, während sie sprach.
-Dazwischen hatte sie sich stumm, mit verbissener Lippe
-in den Räumen umgesehen. Dann war sie wieder
-gefahren, und die Aufstellung hatte begonnen. Es
-<a class="pagenum" id="page_131" title="131"> </a>
-war auch ein Dienstmädchen eingetroffen, eine ältere,
-tüchtige Person, Frau v.&nbsp;Zülchows bestes »Stück.«
-Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihrem
-Sohn einen ganzen Stab von Dienerschaft mitgegeben,
-aber es ging nicht nach ihr.</p>
-
-<p>Am Ende November, als der Abend fiel, kam der
-neue Pfarrherr im offenen Wägelchen. Sein eigenes
-ehemaliges Reitpferd war davorgespannt. Die wenigen
-Leute, die dies beobachteten (denn der dichte
-Schnee machte das Geräusch der Räder fast unhörbar),
-dachten, er würde das Gespann behalten, es
-war Stallung genug da von einer, früher mit der
-Pfarre verbundenen Ackerwirtschaft her. Aber der
-Wagen kehrte gleich um und fuhr wieder zurück.</p>
-
-<p>Gregor stand auf der Schwelle der Gartentür, und
-mit einem langen Blick umfaßte er das graugelbe
-Häuschen, den kahlen Garten, in dem eine Schneedecke
-lag, die schweren Wolkenschichten, die sich darüber
-türmten. Alle Fenster waren dunkel, kalt und unwirtlich
-sah ihn seine neue Heimat an. Nur hinter
-der einen Scheibe zur rechten Hand glühte es, wie ein
-kleiner Feuerschein im Innern.</p>
-
-<p>Er stand lange still, obwohl ihn fröstelte. Dann
-schüttelte er die Schultern, als schüttle er etwas ab,
-und trat ins Haus.</p>
-
-<p>Dunkel und kalt. Er hatte es ja nicht anders
-gewollt, nicht einmal dem Dienstmädchen seine Ankunft
-gemeldet. Nicht mit Pomp sollte dies neue
-Leben wieder anfangen, davon war viel und zuviel
-dagewesen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_132" title="132"> </a>
-»Hier rechts die Amtsstube, sie wird erwärmt
-sein.« Er klinkte die Tür auf. Im Ofen bullerte
-wirklich das Feuer, das Eisentürchen stand auf, eine
-junge Gestalt im runden Mützchen kniete davor und
-stocherte in den Flammen.</p>
-
-<p>»Justine, nun brennt's«, sagte sie. »In einer
-halben Stunde schrauben Sie zu, dann wird es hier
-warm.«</p>
-
-<p>»Ich danke Ihnen, Fräulein v.&nbsp;Dörfflin«, sagte
-der Pfarrer.</p>
-
-<p>Sie fuhr herum. »Sie sind's? Ja, wie kommt
-denn das? Heute schon? Und alles ist noch kalt!«</p>
-
-<p>Sie war aufgesprungen. &ndash; Das ist nun doch ein
-Willkommen geworden! dachte er.</p>
-
-<p>»Ich habe Sie auch gar nicht kommen hören«,
-sagte sie.</p>
-
-<p>»Das macht der Schnee«, gab er zur Antwort.</p>
-
-<p>»Ich begrüße Sie hier!« sagte sie mit einer schönen
-Feierlichkeit, und reichte ihm die Hand, die noch ganz
-heiß vom Ofenfeuer war.</p>
-
-<p>»Danke, Fräulein v.&nbsp;Dörfflin.« Er fühlte, wie
-das stürmische Leben bis in die Fingerspitzen hinein
-in seiner kalten Hand glühte.</p>
-
-<p>»Aber warum bemühen Sie sich um meinen
-Ofen?« fragte er in demselben herben Ton, den sie
-schon einmal von ihm gehört hatte.</p>
-
-<p>»Weil es mir Freude macht«, sagte sie einfach.</p>
-
-<p>Du freies Seelchen! dachte er staunend.</p>
-
-<p>»Jetzt soll Justine mit der Lampe kommen und
-den Tisch decken!« rief sie voller Eifer. »Es ist noch
-<a class="pagenum" id="page_133" title="133"> </a>
-nicht alles so, wie es müßte, aber es wird schon gehen.
-Ich freue mich so, daß ich heute schon auf den Gedanken
-kam, zu heizen, sonst wäre hier alles finster
-und eisig gewesen.«</p>
-
-<p>»Ja, das hatte ich mir eigentlich so ausgesucht«,
-entgegnete er. »Aber es geht auch so!«</p>
-
-<p>Sie konnte seine Züge nicht mehr erkennen, aber
-in seiner Stimme lachte es, das machte sie selig.</p>
-
-<p>»Leben Sie wohl, Herr Pfarrer. Ich sage es im
-Vorbeigehen der Justine.«</p>
-
-<p>Ihm schwebte es auf den Lippen, ihr zu sagen,
-ihm bei dem Abendessen Gesellschaft zu leisten. Sie
-war ja doch der freie Vogel hier im Schloß und Dorf
-&ndash; sie war keine Prinzessin mit einem Krönchen im
-Haar, das ja nicht verschoben werden durfte. Sie
-hatte ihm den Ofen geheizt und weder gezittert, noch
-sich geschämt, als er sie ertappte.</p>
-
-<p>Solch ein frischklares junges Kind, das tat gut
-nach all den wirren schwülen Tagen.</p>
-
-<p>Warum sollte sie nicht mit an seinem Tisch sitzen,
-dieses freie Herz?</p>
-
-<p>Ja, der Vogel war wohl frei, aber der Jäger nicht.</p>
-
-<p>Er ließ ihre Hand los. »Auf Wiedersehen und
-Dank.«</p>
-
-<p>»Gute Nacht, Herr Pfarrer.«</p>
-
-<p>Sie war schon in der Tür, da wandte sie sich noch
-einmal um. Ihr Gesicht war jetzt ganz unkenntlich
-in der Dunkelheit, aber ihre Stimme klang schwer.</p>
-
-<p>»Es ist für Sie &ndash; kein leichter Tausch. Ich weiß
-nicht, wie es Ihnen sein wird. Sie müssen so viel
-<a class="pagenum" id="page_134" title="134"> </a>
-vermissen, nicht nur im Hause, sondern auch in der
-Gemeinde. Unsere Bauern sind sehr dumm, und sie
-sind durch alle die Krankheiten auch sehr heruntergekommen.
-Und Sie waren immer so verwöhnt. Ich
-kann das ja nicht durchsehen, aber es ist gewiß viel
-Stärke nötig&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich bin ein Diener der Kirche!« sagte er mit
-starker Stimme und mit jener klingenden Kälte im
-Ton, die von jeher zu seinem Wesen gehörte. »Es
-existiert für mich nicht die Frage nach bequem oder unbequem,
-sondern ganz andere Gesichtspunkte kommen
-hier in Frage. Ich hatte Grund, diesen Weg zu wählen.
-Glauben Sie mir das.«</p>
-
-<p>»Ja«, sagte sie still und fest. »Ich habe es immer
-geglaubt. Muß man denn immer wissen: Warum
-und wozu und woher und alles? Jeder hat doch
-seinen Weg für sich, den er im Grunde nur allein
-kennt. Das ist ja so langweilig und unnütz, wenn
-alle die anderen Leute daran herumzupfen und fragen
-und reden, was gar nicht dazu paßt.«</p>
-
-<p>»So ist es, mein guter Kamerad!« rief er froh.</p>
-
-<p>Er kam zu ihr, und sie, in ihrem inneren Jubel,
-hob die Arme auf zu ihm. Da nahm er erschüttert
-ihren heißen jungen Kopf in seine Hände und sah ihr
-in die Augen.</p>
-
-<p>»Jetzt sind wir verbündet, mein Kamerad!«
-rief er voller Übermut.</p>
-
-<p>»Ja!! Auf Tod und Leben!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dann wandte sie sich um, die Tür klappte, ihre
-<a class="pagenum" id="page_135" title="135"> </a>
-Schritte klangen auf der Steintreppe und verhallten
-im weichen stillen Schnee.</p>
-
-<p>Nun hatte sie es doch vergessen, der Justine von
-Lampe und Abendbrot zu sagen.</p>
-
-<p>Es war schon recht. Er blieb allein in der dunklen
-Stube mit dem Feuerschein, der auf die Diele fiel.</p>
-
-<p>Das war ein Nachhausekommen! dachte er.</p>
-
-<p>Eines Tages wird dieses herrliche Kind zu meinen
-Füßen sitzen, und ich werde ihr meine Prinzessinnen-Liebe
-erzählen, all den flirrenden, glitzernden Kram
-ihr zeigen, der die Augen blendet. Meine große
-Eitelkeit und des Fürstenkindes arme Menschlichkeit.
-Mein kleiner junger Kamerad, der soll das alles
-sehen und wissen. Er ist weiser als wir alle, weil er
-frei und kühn ist. Seine dumme kleine Mädchenliebe
-will ich nicht, ich habe genug von diesen Tränken.
-Aber ich will und liebe sein kluges Herz.</p>
-
-<p>Er zog ein elektrisches Lämpchen aus der Tasche
-und beleuchtete den Raum, in dem er stand. Da war
-der Schreibtisch, Stühle mit Lederpolster, lichte Gardinen
-von schönem Fall. Vielleicht sah alles bei Tage
-hier unharmonischer aus bei den kleinen Fenstern,
-der nicht sehr hohen Decke und den niedrigen Türen.
-Hohe, leere Büchergestelle waren an der Wand, seine
-Bücher hatte er nicht auspacken lassen. Ein breites
-Sofa, ein moderner Eichentisch mit glatten Linien
-und allerhand Beiwerk füllte den Raum.</p>
-
-<p>Alles sprach eine Sprache. Wie laut sie tönte
-in der tiefen Stille, von rauschenden Tagen! Auf diesem
-Divan hatte das blasse Fürstenkind gesessen.
-<a class="pagenum" id="page_136" title="136"> </a>
-»Gregor, ich kann nicht ohne Dich leben. Nimm mich
-mit und sei es ins ärmste Haus&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Sein Mund verzog sich, noch immer hielt er das
-elektrische Lämpchen in die Höhe. Durchlaucht, es
-ist besser so.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Du blasses Gebilde, verzärteltes Herz, unter dies
-Dach will ich Dein weißes Gesichtchen nicht haben.
-Hier will ich einen Strom von Sonne und Herbheit
-und Kraft und Kälte. Alles, was die Glieder wieder
-stark macht nach dem lauen Rosenwasser.</p>
-
-<p>Kennst Du den Reiz der Askese, Durchlaucht
-Maria? Du nicht.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Die Dorfkirche war überfüllt, selbst in den Gängen
-standen die Leute. Auch Herr v.&nbsp;Dörfflin war
-ehrenhalber heute erschienen. Es war ihm ein bißchen
-komisch zu Mut, daß er der Patronatsherr sein
-sollte von dem ältesten Sohne seines Fritz. Es gelang
-ihm auch nicht so recht, die Würde, die ihm zukam,
-zu markieren. Er rückte nach rechts und links
-und machte beklommene Augen, als sei er in seinem
-vergitterten Herrenstuhl derjenige, der heute eine
-Probe abzulegen habe, und nicht der junge blonde
-Geistliche im Talar, mit der goldenen Brille vor den
-blauen Augen.</p>
-
-<p>Zu Hause bei ihm, im Eßzimmer, hatte es einen
-kleinen Strauß gegeben. Gisela fand es nicht richtig,
-daß Fritzchen auch zur Kirche ginge. »Sonst ist immer
-<a class="pagenum" id="page_137" title="137"> </a>
-nur höchstens einer in unserem Stuhl, und heute tritt
-die ganze Familie an. Das ist ja unerhört, das fällt
-ja rasend auf.«</p>
-
-<p>Fritzchen sagte: »Aber Gisa, natürlich gehe ich
-zur Kirche. Wem von allen Menschen soll ich es verbergen,
-daß ich Gregor Zülchow lieber anhöre als den
-alten Baumann?«</p>
-
-<p>»Aber so begreife doch!« schalt Gisa.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle half Fritzchen. Es sei doch ganz
-natürlich, daß bei einem Amtswechsel sich das allgemeine
-Interesse zeige. Herr v.&nbsp;Dörfflin half ihr auch.
-Wenn er schon gehen müßte, sollte Fritzchen auch, das
-war ihm gemütlicher.</p>
-
-<p>So saß alles in gespannter Erwartung.</p>
-
-<p>Wie hell und kalt und gebieterisch die junge
-Stimme durch den Raum schallte! Die Leute sahen
-sich an und schüttelten leise die Köpfe. Nein, das war
-nichts, ihr alter Pastor war's nicht. Herr v.&nbsp;Dörfflin
-rutschte von neuem hin und her, ihm kam vor, als
-sei jedes Wort der Liturgie und der Vorlesung mahnend
-und tadelnd an ihn gerichtet und er sei dazu
-ausersehen, heute eine Moralische zu kriegen.</p>
-
-<p>Es war am 23. Sonntag nach Trinitatis.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; »die Feinde des Kreuzes Christi, welcher
-Ende ist die Verdammnis, welchen der Bauch ihr
-Gott ist, und ihre Ehre zu schanden wird, derer, die
-irdisch gesinnt sind. Unser Wandel aber ist im Himmel&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er stand auf der Kanzel. Über ihm und zu seinen
-Seiten waren die pausbackigen, graugewordenen
-<a class="pagenum" id="page_138" title="138"> </a>
-Engel- und Apostelfratzen, die ein längstvergangenes
-Jahrhundert hier geschaffen hatte. An den Fenstern
-trieb ein wirres Schneegestöber. Es war kalt, und
-der Dampf flog vom Munde.</p>
-
-<p>Er stand da oben, mit seiner goldenen Brille, mit
-seinem schmalen Gesicht, kein Helfer und Tröster und
-liebevoll strenger Vater seiner armen Gemeinde auf
-den harten Bänken da unten und in den steinkalten
-Gängen.</p>
-
-<p>Er mochte wohl ein Führer sein, denn er wußte
-den Weg, aber er sah sich nicht um nach denen, die ihm
-folgten. Ob sie mitkonnten, ob sie stolperten, ob sie
-hilfsbedürftige Hände ausstreckten, was ging es ihn
-an. Er war von herrlicher Gestalt und herrlichem
-Wort, aber die unbeholfenen Seelen fürchteten sich
-vor ihm und krochen in sich zusammen.</p>
-
-<p>Es war keine Strafrede, die heute von der Kanzel
-kam, wenigstens keine, wie der alte Pastor sie
-hielt und wie sie den Leuten lieb und nützlich war.
-Es seufzten keine Klagen über ihre Verderbtheit, es
-fielen keine groben Vergleiche und plumpen Beschuldigungen.
-Alles war messerscharf, voll wissenschaftlicher
-Klarheit, leuchtend und doch kalt, wie ein beängstigendes
-Spiel mit blanken Schwertern.</p>
-
-<p>Noch war es eine Predigt für den Hof und die
-Hofkreise, und einige halb mitleidige, hingeworfene
-Erklärungen, die er seinen Auseinandersetzungen anhing,
-um sie den Köpfen da unten verständlich zu
-machen, änderten nicht viel.</p>
-
-<p>Da empfand Fritzchen zum ersten Mal als schmerzend
-<a class="pagenum" id="page_139" title="139"> </a>
-den Eishauch, der von ihm ausging. Die Not
-ihres Völkchens, das da stand und harrte und nun
-glänzende Steine statt einfachen, kräftigen Brots empfing,
-ging ihr zu Herzen.</p>
-
-<p>Wie hatte sie sich oft über den alten Baumann
-empört mit seinen Himmelreichsversprechungen als
-Antwort auf die irdische Mühsal und mit seinen Keulenschlägen!
-Hier war nichts von dem, sondern eine
-Fülle von Geist und Studium spielend heruntergeworfen.
-Eine verblüffend glänzende Form für den
-alten, ihr längst unscheinbar gewordenen Inhalt.</p>
-
-<p>Es ging dem Mädchen wunderlich. Was hätte
-sie sich Schöneres wünschen können? Ihre ganze kindischtolle
-Rebellion konnte hier ihre Antwort finden.
-Alte, auswendig gelernte Worte erschienen plötzlich
-in neuer Beleuchtung, wurden lebendig, traten dem
-Herzen greifbar nahe. Ach &ndash; so ist es gemeint?
-Ein Ahnen von dem ewig Gültigen in der alten
-Form, die von trotzigen Händen als abgegriffen fortgeschoben
-ist, durchschauerte die junge lebensfremde
-Seele.</p>
-
-<p>Aber all das flog nur vorüber, vom Bewußtsein
-kaum aufgenommen, wie die Flocken des Schneegestöbers
-draußen vor dem Fenster. Wirklichkeit blieb
-das armselige Dorfvolk da unten, das ängstlich, leer
-und enttäuscht zu der Kanzel aufsah.</p>
-
-<p>Was sollte das werden an den Krankenbetten,
-bei Geburt und Tod, bei all den tausendfältigen Nöten
-des Leibes und der Seele? Man mußte nur wissen,
-<a class="pagenum" id="page_140" title="140"> </a>
-was hier in den entlegenen Dörfern der Pastor bedeutete.</p>
-
-<p>Immer war des alten Mannes Sorgen und
-Mühen für seine Gemeinde als etwas Selbstverständliches
-hingenommen. Jetzt ging sein Geist durch die
-dichtgedrängte atemlose Kirche.</p>
-
-<p>Wird der da mit der Brille, zu meinem Lisching
-kommen, wenn es Krämpfe hat? Wird er unserm
-Jochen den Kopf zurechtsetzen, wenn er Späne macht
-und nicht arbeiten will? Wird der uns oll Mudder
-trösten in ihrem Husten? Wird der bei unsern »Kinddöps«
-sitzen und lustige Toaste ausbringen?</p>
-
-<p>Ich bin sein Kamerad und wir haben einen
-Bund gemacht! dachte Fritzchen. Der Gedanke durchglühte
-sie wie edler Wein, sie gab ihn weiter als ein
-stummes Versprechen an die Menge unten.</p>
-
-<p>Ihr Herz hatte keine Furcht mehr vor dem fremden
-Manne.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>An demselben Nachmittag kam er zu ihnen aufs
-Schloß. Er hatte noch über Land in zwei Filialkirchen
-zu predigen gehabt, ein Wagen vom Gut hatte
-ihn nach alter Überlieferung gefahren.</p>
-
-<p>Er war das nicht gewöhnt, der Hofprediger, in
-Wetter und Wind, wirbelnden Schnee ums Gesicht
-zwei Stunden weit auf schlechten Landwegen zu fahren,
-um dann abermals in einer ungeheizten Kirche
-zu predigen. Ihn fror, und der Kopf schmerzte ihn.
-Außerdem saß ihm ein fades Gefühl in der Brust.
-<a class="pagenum" id="page_141" title="141"> </a>
-Die Leute glaubten mit Unrecht, daß er zu hochmütig
-sei, um verständlich zu reden, er hatte sich Mühe gegeben,
-sich ihnen anzupassen, aber Ton und Äußeres
-für einen Landpfarrer war ihm nicht gegeben. Er
-sah die gespannten Gesichter enttäuscht und leer werden.
-Er wußte auch: Heute sind die Kirchen voll,
-bald werde ich vor leeren Bänken reden können.</p>
-
-<p>Ich glaubte mit meinem Geschick schalten zu können,
-aber da stehe ich unversehens an meiner Grenze.</p>
-
-<p>Der Schulz im nächsten Dorf, ein auf seine Bildung
-stolzer Herr, sah ihn mit unverhohlener und
-etwas frecher Neugier an. Es fielen ein paar zudringliche
-Worte, ob dem Herrn Pastor die Luft in
-der Residenz nicht zuträglich gewesen sei, man höre
-ja so oft von dumpfer Großstadtluft. Der Schulz im
-dritten Dorf und der Förster waren bäurischer, aber
-um so deutlicher. Sie fragten geradezu, wie der Herr
-Pastor solchen schlechten Tausch machen könne.</p>
-
-<p>In vornehmen Kreisen war Gregor bekannt für
-die außerordentlich feine und kühle Art, in der er sich
-Zudringlichkeiten fern hielt. Bei diesen Landbären
-verfing das nicht. Denen mußte man klobig kommen,
-wenn sie verstehen sollten. In tiefer Verstimmung
-trat Gregor die Rückfahrt an.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Es laufen die Gerüchte durchs Land
-wie mit Spinnenbeinen. Überall, wo er künftig hinkommen
-wird, sind sie schon längst vor ihm dagewesen.
-Im öden Weg, wo die Wolken über den grauen Himmel
-jagen und die Schneewehen über die Felder treiben,
-wo der Wind bis in die Knochen kältet und einförmig
-<a class="pagenum" id="page_142" title="142"> </a>
-die kämpfenden Pferdeköpfe da vorne nicken,
-da horcht man auf die Stimmen, die raunen, schwatzen,
-lachen hinter Biertisch und Kaffeetassen.</p>
-
-<p>»Gregor v.&nbsp;Zülchow hat wirklich die Hofpredigerstelle
-Hals über Kopf niedergelegt.« »Ja, oder vielmehr,
-er mußte sie niederlegen.« »Wie lange hat er
-sie denn gehabt?« »Sechs ganze Wochen.« »Nein,
-kaum fünf.« »Er soll der Allerhöchsten Entschließung
-zuvorgekommen sein.« »Die Prinzessin Maria soll
-ins Ausland geschickt sein, ist das wahr?« »Na, man
-konnte das ja voraussehen.« »Der Vater ist außer
-sich, eine wilde Szene mit dem Hofprediger hat stattgefunden.«
-»Ach, das ist Gerücht.« »Nicht mehr als
-alles andere. Jeder weiß, wie die Prinzessin ihn vergöttert
-hat.« »Dieser kühle Weltmann! Man sollte
-ihm mehr Takt oder wenigstens Vorsicht zutrauen.«
-»Ja, das ist leicht gesagt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Haben Sie gehört, daß er jetzt in Hohen-Leucken
-Pastor ist?« »Ist denn Baumann pensioniert?«
-»Er muß doch wohl.« »Wie lächerlich! Warum gerade
-in Hohen-Leucken?« »Ja, das ist unbegreiflich!«</p>
-
-<p>So durchschüttelt, durchfroren, nervös unter dem
-Gefühl eines verfehlten Entschlusses, kam Gregor in
-sein stilles Pfarrhaus. Justine hatte ihm gut und
-sorglich gekocht, aber er achtete es nicht. Wein aus
-dem Rummelshöfer Keller stand auf dem Tisch, der
-lockte ihn, aber in einer Art gewaltsamer Askese schob
-er ihn ungekostet fort.</p>
-
-<p>Keine Hilfsmittel! Aus mir selbst mich zurechtfinden.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_143" title="143"> </a>
-Am liebsten wäre er in der jetzigen Verfassung
-auch nicht aufs Schloß gegangen. Er wollte seinen
-jungen Kameraden heute nicht, gerade darum nicht,
-weil er in seiner verquälten, hilflosen Stimmung sich
-nach ihm und seinem klaren Gesicht sehnte. Er hätte
-gern mit seiner Schwäche verächtlich gespielt und sie
-niedergetreten wie das Verlangen nach dem Wein.
-Aber er hatte mit Herrn v.&nbsp;Dörfflin besprochen, daß
-er heute kommen werde, und nun drehte sich die Geschichte
-herum, und ein nachträgliches Absagen wäre
-erst recht Schwäche gewesen.</p>
-
-<p>&ndash; Im Wohnzimmer des Herrenhauses. Gisela
-hat das Wort. Herr Gott, wie sie zu plaudern versteht.
-Das ist ein Ton aus verklungenen Welten für
-den verschlagenen Landpfarrer. Man geht wie auf
-Fittigen über das Kraut- und Rübenfeld dieser Erde.
-Man streift überall so ein weniges an die Spitzen
-und Kronen. Man sagt alles und hat doch nichts gesagt.
-Man regt an und auf, sprüht, gaukelt und berührt
-doch kein Ding so nah, daß es stechen könnte.</p>
-
-<p>Famos. Man merkt jetzt erst, wie einem diese
-Art Unterhaltung gefehlt hat. Ist denn das schon so
-lange her, daß man sie entbehrte? Jawohl, man ist
-ja eben zehn Jahre über den wüsten Schneeweg gefahren.</p>
-
-<p>Er war schon so nervös empfindlich geworden,
-daß er bestimmt erwartete, wieder gestochen und verletzt
-zu werden. Da fuhr Giselas leichte Unterhaltung
-wie ein lauer kosender Wind über seine wunde
-Haut. Er war drin im Ton, ohne es zu merken.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_144" title="144"> </a>
-Frau v.&nbsp;Pohle schloß sich an. Sie wußte, wie
-man in Gesellschaft spricht, und erwartete zudem nichts
-anderes von dem Manne, den sie als Modeprediger
-empfand und dessen Kommen aufs Dorf sie entweder
-für eine spielerische Laune oder für irgend einen Verlegenheitscoup
-nahm. Sie hatte keine große Sympathie
-für ihn und bestärkte ihn absichtlich in dem
-leichten Ton, um Fritzchens willen.</p>
-
-<p>Verdirb Dir nicht länger Deine hellen jungen
-Augen an diesem Trugbild der Herrlichkeit! dachte sie
-bei sich im Herzen.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin spielte eine Null. Das war nicht
-gut für ihn, noch für seinen Gutspfarrer. Diese Einführung
-war die allerschlechteste: Mit der Weltdame
-des Hauses im Gesellschaftston verkehren und rechts
-und links jede tiefere, kräftigere Saite unangeschlagen
-zu lassen.</p>
-
-<p>Fritzchen aber saß in der tiefen Fensterecke, sprach
-gar nicht mit, sondern sah nach ihren Freunden, den
-Wolken.</p>
-
-<p>Es hatte aufgehört zu schneien. Eine dunstige
-gelbgraue Schicht umschloß den Horizont. Darüber
-zogen wie ungeordnete Scharen, die sich eine neue
-Heimat suchten, zerrissene und geballte, dünne und
-massige Wolkengebilde.</p>
-
-<p>Seine Stimme klang im Raum, aber so, wie sie
-klang, hatte sie keine Macht über dies unabhängige
-Herz. Es ging davon, zu den Wolken hinauf. Nicht
-betrübt, nicht im Groll, aber in einer Träumerei, die
-vielleicht die schlechteste Huldigung war, die jemals
-<a class="pagenum" id="page_145" title="145"> </a>
-dem Freiherrn und Pfarrer Gregor v.&nbsp;Zülchow dargebracht
-war.</p>
-
-<p>Ein paarmal sah er zu ihr hin. Welch ein Kind
-sie doch noch war, sich abseits zu setzen und aus dem
-Fenster zu gucken. Er lächelte. Er dachte an den
-Wein, den er fortgeschoben hatte&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Gisela sprach von seiner Predigt. Sie hatte gut
-aufgemerkt und spielte mit religiösen Schlagworten
-wie mit einer ganz besonders graziösen, gesellschaftlichen
-Attraktion. Diese Handhabung war er gewöhnt.
-Ganz wie etwas Selbstverständliches sprach sie es
-aus, daß er sich in die ländliche Stille zurückgezogen
-habe, um ungestört für seine Professur zu arbeiten.</p>
-
-<p>»Ich bewundere Ihren Scharfblick!« sagte er
-ernst mit einer Verbeugung.</p>
-
-<p>In Wahrheit war ihm diese Lösung nicht fremd,
-er hatte sie schon vor diesem Sonntag erwogen, und
-die heutige Erkenntnis, wie schlecht er für das Predigtamt
-tauge, wenn er es nicht als glänzende Draperie
-für seine Person gebrauchte, hatte ihm den Gedanken
-befestigt, diese neue und aussichtsreiche Laufbahn
-einer Art Sühne vorzuziehen, die ihm in ihrer
-herben und erlösenden Asketenhaftigkeit heute doch
-schon phantastisch vorkam.</p>
-
-<p>Es ist ein anderes Ding, nach ein paar rauschvollen
-Monaten, in denen man sein heiliges Amt in
-Eitelkeit und Genußsucht entweihte, sich von der Welt
-abzukehren und mit einem strengen Leben, das ohne
-Lohn nur dem Dienst geweiht ist, die innere Ehre vor
-sich selber herzustellen &ndash; oder: an einem falschen
-<a class="pagenum" id="page_146" title="146"> </a>
-Platz mit ungenügender Kraft und verzagendem Willen
-eine aussichtslose Arbeit zu tun.</p>
-
-<p>Gregor v.&nbsp;Zülchow &ndash; der Sohn eines alten
-Herrenhauses unter alten, rauschenden Bäumen am
-stillen See, der Sohn eines strengen, kräftigen Vaters
-und einer feinen, phantastischen Mutter, Gregor, der
-Schüler der Gottesweisheit, jung eingeführt in das
-Ringen, Sehnen und Suchen der Kreatur, berufen,
-ein Führer zu sein aus dem sichtbaren, greifbaren
-Tagesleben heraus &ndash; der konnte wohl eine Entsühnung
-finden, die feurig, phantastisch und töricht
-war, und die der fade, eisige, nüchterne Mensch in
-ihm verneinen mußte, sobald es ging.</p>
-
-<p>Darum hatte Gisela, das Weltkind, recht.</p>
-
-<p>Aber es hatte doch noch jemand anders recht!</p>
-
-<p>Ein Wort hatte Fritzchen geweckt. Sie kam mit
-einem jähen Ruck in die Gegenwart, in das Zimmer,
-in dem die anderen saßen, zurück. Sie wandte sich
-herum.</p>
-
-<p>»Sie wollen hier nur für die Professur arbeiten?«
-rief sie.</p>
-
-<p>»Ich kann heute noch keine Auskunft darüber
-geben«, sagte er kühl ablehnend.</p>
-
-<p>Da sprang sie auf, so daß die anderen erschraken.
-»Es ist nicht möglich, daß Sie Ihr Amt hier nur als
-Übergang auffassen!« Sie stand schon vor ihm, die
-beiden geballten Hände vor der Brust zusammengedrückt.
-Ihr ganzer Anblick war eine stürmische Bitte:
-Laß es nicht möglich sein!</p>
-
-<p>»Aber Fritzchen!« rief Gisela.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_147" title="147"> </a>
-»Na nu, Fritz!« sagte Herr v.&nbsp;Dörfflin.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle dachte: Wieviel verlorene Liebesmüh'!</p>
-
-<p>Gregors Lächeln war verflogen, er sah voll Ernst
-und Überraschung in das ungestüme, ehrliche Gesicht.
-Wie seltsam dieser volle, starke Ton in das halbe
-Gezwitscher klang, das bisher den Raum gefüllt hatte!</p>
-
-<p>»Übergang ist alles, auch unser bestes«, sagte er,
-halb unbewußt die Worte formend und doch mit einem
-tiefen Interesse und einer Gier auf ihre Erwiderung.</p>
-
-<p>Ihre Augen wurden ungeduldig. »Wir wissen
-es dann aber nicht, während wir drin sind«, sagte sie
-zu ihm.</p>
-
-<p>»Du verstehst einfach nichts davon, Frida!« sagte
-Gisela mißächtlich. »Wie kannst Du abmessen, was
-für Herrn Baron v.&nbsp;Zülchow die entsprechende Laufbahn
-ist!«</p>
-
-<p>»Ich weiß aber, daß man sein Wort halten muß!«
-rief Fritzchen flammend. »Und das haben Sie den
-Leuten hier im Dorf gegeben. Alle warten auf Sie,
-Sie haben es getan!«</p>
-
-<p>Er stand auf. Was war es, das ihn anrief? Sein
-eignes stärkeres, edleres, freieres Herz! Halte auch
-Dir Dein Wort! Laß Dir genügen an der armen,
-herben, unberühmten Arbeit. In dem Kind ruft
-Gott Dich an.</p>
-
-<p>Unter dem Durcheinander von Stimmen, das sich
-jetzt erhob, da Gisela und auch der Gutsherr und auch
-Frau v.&nbsp;Pohle alle etwas eilig und heftig zu sagen
-hatten, auf das er nicht hörte und das er nicht verstand,
-<a class="pagenum" id="page_148" title="148"> </a>
-sah er dem jungen Geist in die Augen, mit
-dem er jählings eine Verwandtschaft entdeckt hatte,
-von der er bisher nichts wußte.</p>
-
-<p>»Es ist vielleicht nicht alles so, wie Sie denken«,
-sagte er zu ihr. »Sie schlagen wohl manchmal das
-Fenster ein, wo Sie zur Tür hineingehen könnten&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Ihm war, als müsse er sich wehren gegen diese
-Überfülle von Leben und Forderung, die hier auf ihn
-einstürmte.</p>
-
-<p>&ndash; Es geht ein Wanderer am Meeresstrande, da
-kommt der wilde Seewind und fährt ihm in den
-Mantel, und der Wanderer wehrt sich verdrießlich
-und wickelt den Mantel fester.</p>
-
-<p>Es ist aber noch ein Stück Jungenstollheit in
-ihm, das hat plötzlich, er weiß nicht wie, einen Bund
-mit dem Seewind gemacht. Das möchte am liebsten
-den dummen, lästigen Mantel von sich werfen und
-mit dem Winde um die Wette jagen und tollen. Aber
-schau: der Mantel ist wertvoll und sehr notwendig!</p>
-
-<p>Gregor v.&nbsp;Zülchow machte ein kühles Gesicht.
-Mein Seewind, ich habe doch wohl keine Zeit für Dich.</p>
-
-<p>Er nahm Abschied. Da, wie er schon draußen
-war, ohne Besinnen, ohne Fragen, ohne ein Tuch
-umzubinden, jagte das Fritzchen hinter ihm drein.</p>
-
-<p>»Aber Frida, wohin willst Du? Bleib' hier!«
-schrie Gisela außer sich.</p>
-
-<p>»So laß sie doch!« sagte Herr v.&nbsp;Dörfflin barsch,
-obwohl er nicht wußte, was sie vorhatte und ob es
-etwas taugte, was sie vorhatte.</p>
-
-<p>Am Ende ist Herr v.&nbsp;Dörfflin, der arme alte
-<a class="pagenum" id="page_149" title="149"> </a>
-Junker, doch der einzige auf der Welt, der den richtigen
-Instinkt in dieser Sache hat. »Laß sie doch«, das
-ist heute noch das beste für solch windwildes Herz.
-Laß sie nur, sie muß doch ihre eignen Wege laufen.
-Sie an Rockzipfeln festhalten, ist verlorene Mühe.
-Laß sie hineinlaufen in ihr Glück und ihr Unheil,
-in ihr Feuer und Wasser, in all ihr eigenstes, lebendigstes
-Leben!</p>
-
-<p>Der Wind pfiff um die Hausecke und Vaters zwei
-große Jagdhunde fuhren mit wildem Freudengeheul
-auf sie ein, daß sie sie beinahe umwarfen. Gregor
-blieb erstarrt stehen.</p>
-
-<p>Wollte es ihn doch nicht loslassen?</p>
-
-<p>»Sie haben gesagt, ich wäre Ihr Kamerad!«
-sagte Fritzchen trotzig. Sie hatte die Hand auf den
-Kopf der braunen Leda gelegt, der Wind riß an ihrem
-Kleid und ihrem Haar, aber sie merkte es nicht, sie
-war mit dem Winde aufgewachsen wie mit den Hunden.</p>
-
-<p>Ja &ndash; solche Kameradschaft, ist sie wirklich für
-Gregor v.&nbsp;Zülchow, den Weltmann und Professor?</p>
-
-<p>Durch die kahlen Bäume und durch das hallende
-Steintor fährt der Junker Wind, er fährt dem Wanderer
-in sein Kleid. Vielleicht ist diesmal doch der
-Mann noch kostbarer als der Mantel?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Du wildes Leben &ndash; schöner Sturmvogel!«
-sagte Gregor laut.</p>
-
-<p>Das war der Wind, der ihm die Worte gab, das
-war der Wind, der sie weitertrug. Im verschneiten
-Herrenhof von Hohen-Leucken stand der junge Pfarrer
-<a class="pagenum" id="page_150" title="150"> </a>
-mit dem schmalen, kühnen Gesicht, und die Augen
-waren heiß geworden hinter der goldenen Brille.</p>
-
-<p>»Ja, wir wollen leben! Sehr, sehr viel leben!«
-sagte Fritzchen. Es war keine Furcht an ihr, sie stand
-noch immer mit der Hand auf dem Kopf des Hundes.
-Aber sie schien plötzlich wie gewachsen, ihr Blick weiter,
-die Stirn edler, der Mund stolzer.</p>
-
-<p>Sie näherte sich ihm nicht, und doch hatte dieser
-Mann noch nie ein herrlicheres Bild der Selbstübergabe
-gesehen. Es war so herrlich, daß er für einen
-Moment die Augen senkte wie vor einem allzu hellen
-Licht.</p>
-
-<p>Dann gingen sie stumm auseinander. Der seltsame
-Bund war geschlossen.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_151" title="151"> </a>
-Zehntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Die kahlen Bäume standen still um den vereisten
-See. Hier und da hing noch ein gelbbraunes Blatt,
-das bei dem großen Begräbnis übersehen wurde, in
-den Ästen. Die Weidenbäume streckten ihre dürren
-Ruten gen Himmel, und der Schnee lag wie ein
-weißes Tuch, von keinem Menschenfuß betreten.</p>
-
-<p>Fritzchen ging am Ufer entlang mit Leda an der
-Seite. Es war der Montag Vormittag, und die
-Sonne schien nach dem gestrigen Schneetreiben. Auch
-der Wind war schlafen gegangen, es war fast warm
-im Sonnenschein.</p>
-
-<p>Seit gestern hatte der junge Mund nicht viel gesprochen.
-Eine erhabene Stille war auf ihr Herz gesunken.
-In ihr war ein Bangen, daß sie nun nicht
-mehr allein war im Leben, und eine große Freude,
-so hell wie die Sonne am Himmel. Aber beides so
-tief und still, daß kein Wort, kaum ein Gedanke es
-berührte.</p>
-
-<p>Leda war jetzt ihre Beste. Mit der ging sie seit
-dem frühen Morgen herum. Sie hatte die rote
-Sonne über den Schneefeldern gesehen, sie hatten
-sich durch angewehte Wälle hindurchgearbeitet, jetzt
-<a class="pagenum" id="page_152" title="152"> </a>
-stand die Sonne hoch und sie waren am klaren eisbezogenen
-See.</p>
-
-<p>Alles war hier, wie es immer gewesen war, wie
-sie es kannte, seit sie laufen konnte: jeder Baum, jedes
-Gebüsch, jeder Knick und Graben, der See, der da
-hinten durch allerlei Gräben mit dem von Tannenwalde
-und Rummelshof in Verbindung stand. Wieviel
-Schritte und Schrittchen von ihr lagen hier am
-Ufer und querfeldein, rechts und links, über den
-Sandhügel weg, am Moor entlang.</p>
-
-<p>Aber Himmel und Erde haben sich verwandelt,
-wie sollte da Busch und See noch derselbe sein und
-die alte Waschbank, die jetzt unter Eis steht und auf
-der in wärmerer Zeit die Wäsche geklopft wird, daß
-der Schall von der Waldwand zurückkommt? Selbst
-die Sonne ist neu, und das eigne Herz ist neu geworden
-in dieser einen stillen, großen Nacht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Wohl ist es die schönste Brautfeier an der klaren,
-glitzernden Eisfläche, Sonne und Schnee und die
-große Einsamkeit um sich her.</p>
-
-<p>Der Hundekopf drängte sich an ihr Kleid, sie
-streichelte ihn. »Ja, Leda, Du weißt.«</p>
-
-<p>Es war noch keine Sehnsucht in ihr. Alles war
-still, weit und hell wie das Winterbild um sie her.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Auch er hatte die Nacht nicht geschlafen, erst als
-der Morgen kam, befiel ihn eine schwere, wie tote
-Müdigkeit. Aber seine Nacht war nicht still und hell
-gewesen, sondern voller Stürme und Unruhe.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_153" title="153"> </a>
-Ich habe Dich lieb &ndash; und ich habe Dich nicht
-lieb. Du bist mir alles &ndash; und Du bist mir nichts.
-Ich will Dich &ndash; und ich will Dich nicht!</p>
-
-<p>Noch hielt er den Mantel fest. Ach ja, es ist
-ein atemloses Ding um den Sturm, der über die
-Ebene kommt. Man ist nicht immer bereit, mit allen
-seinen Registern zu leben und zu klingen.</p>
-
-<p>Gregor! rief es in seinem Herzen: Hüte Dich!
-Um das Feuer einer Mußestunde verleugne nicht die
-feinen und kühlen Instinkte Deiner Natur. Lade
-Dir nicht den Wind vom Felde in Dein Haus. Du
-verstehst und liebst ihn, aber seine Gemeinschaft müßtest
-Du vielleicht zu teuer bezahlen.</p>
-
-<p>Ach &ndash; ob ich ihn verstehe!</p>
-
-<p>Ob ich je eine schönere Stunde hatte und beglückter
-fühlte, als einmal hier in dunkler Stube, bei
-meinem Einzug, als das Feuer im Ofen knatterte
-&ndash; als gestern, auf dem verschneiten Hof, unter Wolken,
-im Wind.</p>
-
-<p>Weißt Du noch, Herz, die beiden Hunde und das
-starke, junge Menschenkind?</p>
-
-<p>Suchst Du noch etwas Stolzeres und Süßeres
-für Dich im Leben? Da &ndash; Herz! Wirf den Mantel
-weg!</p>
-
-<p>Es kroch schon der erste graue Dezemberschein
-über die weißen Felder, als der hin- und hergerissene
-Mensch in einen steinschweren Schlaf verfiel.</p>
-
-<p>Wie weit ist das Fritzchen schon über die Felder
-gelaufen mit ihrer Leda, ihrer Liebe und ihrer großen
-<a class="pagenum" id="page_154" title="154"> </a>
-schönen Ruhe? Wie lang hat sie schon am Eis
-gestanden, da ist der Pfarrer endlich aufgewacht.</p>
-
-<p>Justine ist besorgt und glaubt, er hat sich gestern
-erkältet. Um Gottes willen, das darf ihr nicht
-passieren! Was sollte die Frau Baronin sagen! Es
-ist zu Hause immer viel Wesens gemacht um den Herrn
-Baron Gregor, da ist er wohl von klein auf etwas
-verzärtelt, aber, das gehört sich auch so. Er ist doch
-ein gar zu feiner Herr!</p>
-
-<p>Nun schleicht sie sich ein bei ihm und heizt, ohne
-daß er es merkt. Wie ein Dieb, so leise hantiert sie
-mit den ungefügen Buchenkloben.</p>
-
-<p>Als er erwacht, ist die ganze Stube voll Sonne,
-und im Ofen brennt ein helles Feuer. Er hat die
-Arme unter dem Kopf und sieht sich um. Wo war er
-doch? Wie Schatten fliegen die wilden Gestalten der
-Nacht an ihm vorüber. Ein leises Abwehren, ein
-Murren der Bequemlichkeit ist in ihm.</p>
-
-<p>Hell ist das Leben und sein Tag, man überwindet
-auch seine Tiefgänge. Verstricke Dich nicht in Unruhen
-und Wirren. Nimm des Lebens Süßigkeiten
-nicht ernster, als Dir und ihnen taugt.</p>
-
-<p>Er stand auf, badete sich ab, brauchte wie immer
-mehr als eine Stunde zur Toilette, und ging dann
-in sein Eßzimmer, das nach hinten hinaus zum Garten
-lag. Das Frühstück stand wie durch unsichtbare
-Geisterhände gebracht auf dem zierlich gedeckten Tisch.
-Die Kakaokanne dampfte, Zwieback, eigengebackenes
-Weißbrot, Butter, gebratenes Fleisch, Schweizerkäse,
-alles stand bereit. Die Zeitung lag neben seinem
-<a class="pagenum" id="page_155" title="155"> </a>
-Platz, auch ein Brief aus Rummelshof und einige
-Geschäftssachen aus der Residenz.</p>
-
-<p>Wie die Sonne draußen auf dem Schnee in tausend
-und abertausend glitzernden Sternchen funkelte! Wie
-die Bäume feierlich standen, die Zweige gesenkt unter
-der weichen, weißen Last. Durch die unberührte weiße
-Decke lief nur eine winzige Spur von einem Kätzchen
-oder Hasen.</p>
-
-<p>&ndash; Ich will Dich doch! sagte der aufblühende,
-starke, lebendige Mensch in ihm. Er ließ den Frühstückstisch,
-Briefe, Zeitungen stehen und liegen und
-ging an das Fenster. Es rief die Sonne, es rief der
-weite, leuchtende Schnee: Das Leben ist eine Feier,
-eine starke Tat! Du Narr, mit Deiner Angst und
-Deinem Vorbeidrücken! Packe es an, da wo es am
-tollsten schäumt!</p>
-
-<p>Danach kam einer seiner vielen überlichten Momente.
-Er sah sich selbst wie eine Figur, an der er
-keinen anderen Teil hatte, als den des interessierten
-Zuschauers. Er wußte, er konnte auch diese &ndash; diese
-Sache auf die eine Weise so gut wie auf die andre
-behandeln. Er konnte es tun oder lassen, erfassen
-oder liegen lassen, alles war bei ihm möglich und begründet.
-Er war der Mensch der bewußten Zwiespältigkeit,
-weil seine Intelligenz weit über seinen
-Instinkt hinausgewachsen war. Dies machte ihn zu
-gleicher Zeit klug und unschlüssig, fein und schwach,
-kalt und nervös. Es bedurfte bei ihm nur des bewußten
-Anrufs an den Willen, um die eine oder die
-andre Seite zur Geltung und Herrschaft zu bringen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_156" title="156"> </a>
-Er war nicht frei, insofern das Wissen ihn band.
-Aber er war mächtig, weil das Wissen ihm den
-Schlüssel zu der Gewalt über sich, das Leben und
-seine Dinge in die Hand gegeben hatte, und weil seine
-Instinkte ohnmächtig waren.</p>
-
-<p>Er konnte nicht bezaubert werden, sobald er selbst
-es nicht wollte.</p>
-
-<p>Das war fade, aber praktisch.</p>
-
-<p>&ndash; Nachdem er diesen Überblick über sich selbst
-wieder einmal gewonnen hatte, drehte er sich vom
-Fenster ab und setzte sich an den Frühstückstisch. Das
-blendende Schneelicht war ihm noch in den Augen, so
-daß sich vor alle Gegenstände ein Flimmern zog, erst
-allmählich erkannte er alles wieder richtig.</p>
-
-<p>Er aß und trank von allem wenig, aber mit Verstand,
-wie seine Art war. Auch dabei sah er sich selber
-heute zu.</p>
-
-<p>Er hatte ein stolzes und doch trübes Gefühl in der
-Brust. Das Leben beherrschen heißt meist, ihm entsagen
-und sich von ihm absondern, und die Heiligen
-sind oft nur die Toten.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Gregor machte seinen ersten Krankenbesuch bei der
-Frau seines alten Küsters, einem gebrechlichen Weibchen,
-das sonst hustend und flennend in ihren buntkarierten
-Betten lag. Damit fing sein wunderliches
-Seelsorgeramt an. Es war eine stickige Luft in der
-engen Kammer, die dem verwöhnten Mann der Welt
-<a class="pagenum" id="page_157" title="157"> </a>
-auf Lunge und Nerven fiel. Aber er bezwang sich,
-weil er mit diesen Dingen nicht gleich sein Amt beginnen
-wollte.</p>
-
-<p>Er saß am Bett, sah die alte Jammergestalt durch
-seine Brille an, sagte Worte, die sehr schön und richtig
-waren, und an dieser Stelle höchst nutzlos, und die
-Alte lag da in tausend Ängsten, verbiß sich vor lauter
-Genieren ihren Husten und schwitzte am ganzen Leibe.</p>
-
-<p>»Ja, Herr Pastor. Ja, Herr Pastor« &ndash; das
-war alles, was sie überstürzt hervorbrachte, um ihn
-nur ja nicht zu beleidigen. Der Küster hatte drüben
-Schule abzuhalten, und wußte nichts von dem hohen
-Besuche. Es war am Nachmittag gegen vier desselben
-Montags. Die Sonne war eben herunter und
-damit aller Glanz. Graue Schatten krochen über den
-Schnee, und das Tageslicht in dem niedrigen Raum
-nahm rapide ab.</p>
-
-<p>Nebenan in der Küche polterte es. Die Alte
-horchte ein paarmal hin, wollte wohl etwas sagen,
-aber getraute es sich dann doch immer nicht. Plötzlich
-ein lauter, ungeduldiger, heller Ausruf:</p>
-
-<p>»Solch verrückter alter Herd!«</p>
-
-<p>Was für eine Stimme?</p>
-
-<p>Gregors Gesicht sah wohl plötzlich wie eine einzige
-Frage aus, so daß die Alte stotternd sagte: »Das
-ist &ndash; das ist man bloß das Fräulein Fritzchen, Herr
-Pastor, ich mein': das gnädige Fräulein. Ach Gott,
-wir sagen noch immer so aus alter Gewohnheit, und
-weil wir sie kannten, als sie noch in der Wiege lag,
-und ihre selige Frau Mutter&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_158" title="158"> </a>
-»Was tut denn das Fräulein hier?« rief er aus.</p>
-
-<p>»Ach Gott, Herr Pastor, man bloß die Supp'.
-Sie macht mir die Supp' von Mittag nochmal warm,
-weil ich vorher nicht essen mochte. Und der alte dammlige
-Herd, Herr Pastor, der will oft nicht so, wer ihn
-nicht kennt. Dann qualmt er bloß und kochen tut's
-nicht.«</p>
-
-<p>Gregor war aufgestanden und stieß die wacklige
-Brettertür auf. Da war eine große, niedrige Küche
-mit einem einzigen klimperkleinen Fensterchen über
-dem Abwaschfaß. Auf dem Ziegelsteinboden, in lauter
-Qualm gehüllt, stand &ndash;&nbsp;&ndash; wer war es?</p>
-
-<p>Wollte er, der Spieler in dem großen Krieg der
-Erde, wieder fortschieben, wieder umrütteln, was das
-lebendige Leben ihm zeigte, daß dies seine kleine Braut
-war, die da stand, in der gräßlichen Küchenschürze der
-Frau Küstern, mit rauchgeschwärzten Fingerchen und
-rotem, zornigem Gesicht!</p>
-
-<p>Da stand er, so erfaßt und überschüttet von Glück,
-wie er noch nie gewesen war.</p>
-
-<p>Sie hob den Topf vom Feuer und sah ihn an.
-Flammen schlugen aus dem Herd und beleuchteten
-ihr Gesicht. Da wußte sie nichts mehr von Qualm
-und Ärgernis.</p>
-
-<p>»Jetzt ist die Suppe fertig!« sagte sie, und weiter
-nichts. Sie goß sie in eine irdene Schale und goß
-einiges vorbei. Die Schürze der Frau Küstern war
-heute schwärzer geworden, als ihre Besitzerin sie sonst
-in einer Woche machte.</p>
-
-<p>Er kam zu ihr. Der junge, heiße, verantwortungslose
-<a class="pagenum" id="page_159" title="159"> </a>
-Mensch, der in sich drin sitzt und nicht nebenbei
-steht, ging mit ihm durch. Da faßte er das Bild
-seines Glückes, das schönste, beste Bild, das es für
-ihn geben konnte, um, drückte es an sich und küßte es
-auf den Mund.</p>
-
-<p>»Mein Fritz &ndash; mein süßes Leben!« murmelte er.</p>
-
-<p>Sie hielt noch immer den rußigen Suppentopf.
-Die Flammen schlugen aus dem Herd, das war ein
-heißes, jauchzendes Bild!</p>
-
-<p>»O lieber, lieber Gregor&nbsp;&ndash;«, sagte sie.</p>
-
-<p>Es war so weich, so hold und demütig. Mit ganz
-vorsichtigen Fingerchen stellte sie den Topf auf die
-Steine neben das Feuerloch.</p>
-
-<p>»Ich kann Dich nicht anrühren, ich bin überall
-schwarz.«</p>
-
-<p>»So gib mir davon ab!« sagte er voller Übermut.</p>
-
-<p>Er umschloß sie und drückte ihr heißes, tolles,
-geliebtes Köpfchen an seine Schulter, küßte ihr Haar,
-ihre Stirn, und dachte: So ist es doch am besten! Was
-soll alles andere!</p>
-
-<p>Fritzchen sagte gar nichts zu alledem, sie lag eine
-Weile ganz still. Dann hob sie ihr Köpfchen auf, legte
-es etwas hintenüber an seine Schulter und küßte ihn
-von selbst auf den Mund.</p>
-
-<p>»Lieber Gregor&nbsp;&ndash;«, sagte sie nur wieder ganz
-leise, aber was Himmel und Erde umfassen kann, war
-darin.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash; »Ach, Du leiwer Gott, leiwer Gott«,
-stöhnte es aus der Kammer.</p>
-
-<p>»Ich muß ihr ihre Suppe bringen«, sagte Fritzchen.
-<a class="pagenum" id="page_160" title="160"> </a>
-»Gib mir, bitte, einen Blechlöffel aus dem
-Schrankfach. Nein, rechts. Ja, da, danke.«</p>
-
-<p>Sie hatte mit beiden Händen die heiße Schüssel
-zu halten. Als er den Löffel hineinlegte, wuschelte
-sie für einen Moment ihren Kopf an seinen Arm und
-küßte seinen Rockärmel.</p>
-
-<p>»Nachher gießen wir das Feuer zusammen aus,
-ja?« bat sie.</p>
-
-<p>Hatte er je auf Erden solche leuchtenden Augen
-gesehen?</p>
-
-<p>»Ja, Frida! Komm bald zurück!«</p>
-
-<p>Er blieb an der Feuerstelle allein. Über dem
-Herd war ein mächtiger Rauchfang, unter dem stand
-er und sah in die Flammen. Er war nichts als der
-selige Bursche, der am Herd hockt und auf seine kleine
-Dirn wartet.</p>
-
-<p>Ach, was hat das Leben doch für süße Stunden!</p>
-
-<p>Drinnen hörte er hin und wieder ihr Stimmchen,
-den goldenen Klang.</p>
-
-<p>Es stand mitten in der Küche ein dicker, blaugetünchter
-Pfeiler, der die Decke stützte. An ihm hingen
-allerlei Feuerhaken, Zangen und sonstige Geräte. Der
-lange schwarze Schatten von Gregor, den er vor der
-Flamme stehend, warf, fiel auf diesen Pfeiler. Das
-war's, was Fritzchen zuerst sah, als sie zurückkam.</p>
-
-<p>Da kam der tolle Übermut ihres Glückes über sie.</p>
-
-<p>»Der da ist mein Bundesgenosse, viel länger schon
-als Du!« sagte sie.</p>
-
-<p>»Wer?«</p>
-
-<p>»Der da, der sich bewegt.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_161" title="161"> </a>
-»Mein Schatten?«</p>
-
-<p>»Den hab' ich heimlich geküßt, in Rummelshof,
-als ich noch klein war.«</p>
-
-<p>»Damals warst Du nicht Du und ich nicht ich«,
-sagte Gregor. Er war beinah eifersüchtig auf den
-Schatten früherer Zeiten.</p>
-
-<p>Draußen auf der Diele entstand ein Gepolter,
-die Schulkinder kamen heraus. Als der Küster die
-Küche betrat, fand er den Herrn Pastor und das
-Schloßfräulein einig und eifrig bemüht, das Feuer
-auf seinem Herde auszugießen.</p>
-
-<p>Er tat aufs äußerste erstaunt, aber er war ein
-alter, heller Kopf. Er dachte: Hier gießt ihr es aus,
-und anderswo werdet ihr es euch anstecken. Na, mög'
-es euch viel Glück bringen!</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_162" title="162"> </a>
-Elftes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Sie traten beide zusammen auf die Dorfstraße.
-Es war hier draußen noch vollkommen hell. Hinten
-um eine Scheunenecke herum schneeballierten sich die
-letzten der Schulkinder, unterm Arm ihren zerplieserten
-Katechismus und ihre Rechenbücher.</p>
-
-<p>»Kommst Du mit nach oben?« fragte Fritzchen.</p>
-
-<p>Über den alten Kirchhof, der mitten im Dorf lag
-und nicht mehr benutzt wurde, mit seinen eingefallenen
-Holzkreuzen, versunkenen Gräbern und der bröckligen
-Mauer, auf der das junge Geschlecht Haschen und Anschlag
-spielte, ging jetzt der Blick durch kahle Bäume
-auf den Hügel mit dem Herrenhaus. Es lag still
-und grau unter seiner Schneekappe, trotzig und häßlich
-in seiner nüchternen Einfachheit.</p>
-
-<p>Da stand der Mensch, der große Gaben hatte und
-eine kleine Kraft, der viele Kräfte hatte und eine matte
-Hand, und es packte ihn wieder sein alter verfluchter
-Zweifel. Der Zauber der schummrigen Küche, des
-Feuers im Herd, des Feuers im Herzen sank herab.</p>
-
-<p>»Geh mit mir durchs Steintor und dann kehr
-um«, sagte Fritzchen. Sie wollte noch nicht Papa
-und Gisela und tausenderlei Geschwätz da mit hinein
-<a class="pagenum" id="page_163" title="163"> </a>
-haben, aber sie wollte durchs Steintor mit ihm gehen,
-wie schon einmal.</p>
-
-<p>Sie war in einem schottischen Kleid mit einem
-hellgrauen Tüchelchen um die Schultern. So lief sie
-oft, wenn sie es eilig hatte, vom Schloß ins Dorf.
-Ihr Gesicht war so schön in seiner Freiheit und Kühnheit
-wie je, ihr Mund so weich, ihre Stimme so ganz
-voll von Klang &ndash; aber es berückte ihn nicht mehr.
-Er erschrak vor sich selbst, als er das leise pressende
-Gefühl von Überlast und Abwehr in sich empfand.</p>
-
-<p>Wenn er aber jetzt nicht wollte noch mochte wie
-sie, so war er ihr doch kein ebenbürtiger Gegner. Was
-sollte er ihr sagen, daß er sie nicht ans Steintor bringen
-wollte? Was sollte er ihr dafür anführen, daß
-sie ihn noch nicht &ndash; oder gar nicht &ndash; Du nennen
-dürfe?</p>
-
-<p>Es war schon einmal so, daß ich mich verspielte
-&ndash; dachte er in dumpfer Not. Bin ich denn ein Narr,
-so wollte ich lieber ein ganzer sein, dem seine Narrheit
-süß bleibt bis ans Ende.</p>
-
-<p>»So wollen wir gehen«, sagte er.</p>
-
-<p>Fritzchen fühlte seine plötzliche Verstimmung, die
-sie sich nicht erklären konnte. Sie wollte ihn fragen,
-aber es war ein eisiger und abweisender Ausdruck
-in seinem Gesicht, der ihr jählings die ganze Furcht
-und Scheu ihrer Kinderzeit zurückbrachte. Sie lachte
-selbst darüber. »Wie bin ich dumm!« Leicht schüttelte
-sie das dunkle Grauen von sich ab und fing an,
-ihm zu erzählen, wie sie heute früh über die weißen
-<a class="pagenum" id="page_164" title="164"> </a>
-Schneefelder gelaufen war und am See gestanden
-hatte, mit Leda.</p>
-
-<p>Sie sagte nicht, daß dies ihre Brautfeier gewesen
-sei, aber er fühlte es.</p>
-
-<p>Trotzdem &ndash; denn das lächerliche Menschenherz
-hat immer neue Schutzmittel für sich selbst und das
-liebe Wohl bereit &ndash; empfand er dafür kein quälendes
-Mitleid mit ihr, sondern eher eine Art Unwillen
-und Haß gegen ihre frohe, stolze, klare Sicherheit.</p>
-
-<p>Hinter ihnen knirschte der Schnee, an einem hervorspringenden
-Stein klang es, das Schnauben eines
-Pferdes ertönte. Es war ein Reiter, der auf der
-Mitte der Fahrstraße in raschem Tempo dahersetzte.
-Sie traten beiseite, ihn vorüber zu lassen, da war er
-auch schon vom Pferde.</p>
-
-<p>Hans Henning in Joppe und hohen Stiefeln,
-frisch und warm vom scharfen Ritt in der Winterluft.</p>
-
-<p>»Na, Junge, wo kommst Du her?«</p>
-
-<p>»Ja, ja, für Weihnachten noch ein bißchen früh,
-was?« Er begrüßte Fritzchen voller Freude. »Daß
-ich Sie aber auch gleich hier mit meinem Bruder
-treffen muß! Ich wollte Dir nämlich unversehens
-ins Haus brechen, Gregor.«</p>
-
-<p>»Aber wie kommt das?«</p>
-
-<p>»Ach, ein kleines liebenswürdiges Malheur. Da,
-sieh, meine linke Hand ist neulich beim Reiten verknaxelt.
-Habe dafür vier Wochen Urlaubszeit. Muß
-alle Tage zum Doktor und massieren lassen. Scheußliche
-Geduldsprobe, aber im übrigen bin ich gar nicht
-<a class="pagenum" id="page_165" title="165"> </a>
-böse. Wo kommt Ihr denn her und wo wollt Ihr
-hin?«</p>
-
-<p>Sie gaben beide keine rechte Antwort. Fritzchen
-dachte: Ich will ihm alles sagen! Sie öffnete
-schon den Mund, aber plötzlich durchfuhr sie ein neuer
-seltsamer Gedanke.</p>
-
-<p>Diese Sache gehörte nicht ihr allein. Gregor
-mußte es auch wollen. Und Gregor&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Sie sah ihn an. Es war noch immer das wunderlich
-fremde Gesicht, das er hatte, als ob er eine
-Maske trüge.</p>
-
-<p>Eine Angst überfiel sie. Was war das mit ihm?
-Wo war er? Was dachte er?</p>
-
-<p>Sie schloß den Mund wieder. Sie fror, und ein
-unbestimmtes Bangen schüttelte sie.</p>
-
-<p>»Wir waren bei der kranken Küsterfrau«, sagte
-Gregor endlich, als das Schweigen anfing, auffallend
-zu werden. »Ich habe auch noch andere Krankenbesuche
-vor. Willst Du auf mich warten, Hans. In
-einer guten halben Stunde bin ich da.«</p>
-
-<p>»Natürlich, gern. Unterdes begleite ich Fräulein
-v.&nbsp;Dörfflin, wenn ich darf.«</p>
-
-<p>So kam es nun. Gregor ging nun doch nicht
-mit bis zum Steintor. Er küßte die kleine kalte
-Mädchenhand, die in der Kälte rot wurde und nicht
-einmal einen Handschuh anhatte.</p>
-
-<p>Hans Henning und das Pferd kamen mit.</p>
-
-<p>»Tut Ihre Hand weh?« fragte Fritzchen. Aber
-ihre Stimme war so beschwert, als könne sie den eigenen
-<a class="pagenum" id="page_166" title="166"> </a>
-Klang nicht tragen. Nach all dem Jubel rang
-ihr ein Weinen in der Brust.</p>
-
-<p>»Nun ja, das geht an«, sagte der junge Mensch
-und sah mit schiefem Mund auf das umwickelte Bündel,
-das er in einer schwarzen Binde trug. »Es ist
-nur gut, daß Sie nicht sahen, wie plumpsackmäßig ich
-vom Pferde kam. Es sollte schnell gehen, ehe Sie sich
-umkehrten, und wurde dafür ein schöner Kladderadatsch!«</p>
-
-<p>»Ja, ich erinnere mich, daß ich umsah, weil es so
-plumpste«, sagte Fritzchen, aber in ihrem Lächeln
-war ein Schatten, der dem Hans auffiel, wie ihm,
-seit er die beiden getroffen, eigentlich alles auffiel.</p>
-
-<p>Es war zuviel, daß er sie gleich getroffen hatte.
-Nur ihr Haus zu sehen, hatte er heute gedacht, oder,
-bei großem Glück, irgendwo einen Schimmer von ihr.
-Nun war sie da und war sonderbar verändert. Ihm
-kam vor, als ob sie noch gewachsen wäre, oder ihre
-Augen waren größer oder ihr Mund oder ihre Stirn
-anders. Jedenfalls etwas war geschehen, etwas
-Großes und Starkes.</p>
-
-<p>Im Dorfe sprachen sie gar nicht mehr miteinander,
-aber als sie den ansteigenden Weg hinaufschritten,
-an einer ganz bestimmten Stelle, an einem Heckbusch,
-den das Pferd streifte und der eine Last von Schnee
-leise rutschend abgleiten ließ, überfiel ihn plötzlich
-ein Gedanke, so jäh und leuchtend, daß ihm für einen
-Moment der Atem aussetzte und er stehen blieb.</p>
-
-<p>Ein Sommerabend zog im Fluge an ihm vorbei.
-<a class="pagenum" id="page_167" title="167"> </a>
-Da hatte er mit zentnerschwerem Herzen sein Glücksköfferchen
-wieder eingepackt.</p>
-
-<p>»Überlaß es der Zeit, bis die Blumen von selber
-aufbrechen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Sehen vielleicht so &ndash; die aufgeblühten Rosen
-aus?</p>
-
-<p>Warum noch dies ewige Zagen und Beben? Ein
-Kind geht nicht und blickt nicht, wie sie es tut! Jetzt
-ab und los! Jetzt frage ich nicht mehr herum bei
-Mutter und großen Brüdern. Hei, wie der Schnee
-voll Blumen steht! Seht Ihr's nicht? Fitzliputzli,
-mein Brauner, mein braver Junge &ndash; was? Das
-war ein Reiten heut! Du weißt von den Blumen
-auf dem Schnee, ja?</p>
-
-<p>Er hatte die Zügel durch den lahmen Arm gezogen.
-Mit der rechten Hand griff er sich jetzt, weil
-er kaum wußte, wohin mit seinen Gliedern, so grundlos
-und wildfroh an den Kopf, daß sich die Mütze
-ihm verschob und er ein lächerlich lustiges und verwegenes
-Aussehen bekam.</p>
-
-<p>»Fräulein Fritzchen, kennen Sie noch meinen
-Fitzliputzli?«</p>
-
-<p>So fängt man gewöhnlich keine Liebeserklärungen
-an, aber es kommt manchmal nicht auf den Anfang
-an, wenn der Schluß nur taugt. Aber hier war der
-Schluß noch schlechter wie der Anfang.</p>
-
-<p>»Ja«, sagte sie, »den kenn' ich natürlich noch. Er
-hat sich doch immer mit Möt gebissen, als wir zusammen
-ritten.«</p>
-
-<p>»Hat er das? Ja, richtig! Dann ist er ein ganz
-<a class="pagenum" id="page_168" title="168"> </a>
-dummer Affe. Ein Pferd muß seines Herrn Gefühle
-nachfühlen. Das vergeb' ich ihm nie. Ich
-werde von nun an auf Frithjof reiten, den hat Gregor
-früher gehabt, der ist feinfühliger.«</p>
-
-<p>Warum ist sie so still geworden, das wilde Ding?
-dachte er.</p>
-
-<p>»Wenn Sie wissen wollen, an was ich die ganze
-Zeit gedacht habe, als ich fort war, auch als ich mir
-das Handgelenk verknaxte, auch wenn der Schinderhannes,
-der Doktor, mich massiert &ndash; dann will ich es
-Ihnen sagen.«</p>
-
-<p>»An was denn?« fragte Fritzchen.</p>
-
-<p>»An mein Liebstes auf der Welt, und ob mein
-Wunsch in Erfüllung geht!« sagte der schöne, freie
-Junge. Er stand und sah sie an, so stolz und selig,
-wie kein König seine Krone ansehen kann.</p>
-
-<p>»An mich&nbsp;&ndash;?« sagte sie.</p>
-
-<p>Er sah den Weg hinan, hinab, er lag leer und
-still in der fallenden Dämmerung.</p>
-
-<p>»Sie haben es geraten&nbsp;&ndash;«, sagte er leise.</p>
-
-<p>Er hatte sie Du nennen wollen, und wagte es doch
-noch nicht.</p>
-
-<p>Sie dünkte ihn so heilig wie lieb.</p>
-
-<p>Sie aber stand und starrte. Vielleicht hätte sie
-ihn noch vor kurzem nicht so schnell verstanden, wie
-sie nun tat.</p>
-
-<p>»Was soll das?« rief sie aus. »Ich gehöre ja
-Gregor.«</p>
-
-<p>»Gregor&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>Er sprach es nach, noch ehe er es gefaßt hatte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_169" title="169"> </a>
-»Ja«, sagte sie.</p>
-
-<p>An dieser Stelle des Weges begann rechts die
-Mauer des Herrengartens. Sie hatte der Löcher
-und Lücken viel, dürres Gras hing aus den Ritzen,
-und wo es nur irgend ging, hatte sich der Schnee eingenistet.</p>
-
-<p>Fritzchen, wie im Traum, fuhr mit der Hand über
-die Mauer, spielte mit dem Schnee, formte Kügelchen
-daraus und wußte dabei nicht, was sie tat.</p>
-
-<p>Hans Henning fühlte plötzlich, als ob sich alles
-um ihn drehe. Damit er einen Halt habe, lehnte er
-sich an das Pferd. Er sah es, und es brannte sich in
-sein Herz ein, als das grausigste Bild seines Lebens:
-Fritzchen an der Mauer stehend und die kleinen
-Schneebällchen formend, die sie dann wieder an die
-Mauer zurückwarf. Er folgte jeder Bewegung und
-wußte schon immer im voraus, wie jeder neue kleine
-Ball aussehen würde.</p>
-
-<p>Dann kam jäh ein rasender Sturm über ihn.
-Blutrot färbte sich sein Gesicht. Er stürzte vor, so
-ruckhaft, daß das Pferd, aufgeschreckt, einen Seitensprung
-machte und an dem Zügel riß, der um den
-lahmen Arm geschlungen war. Ein wilder körperlicher
-Schmerz raste durch das kranke Handgelenk, aber
-er fühlte es nur so fernab, wie in der Narkose. Er
-packte Fritzchens Hand, die wieder eine der verfluchten
-Schneekügelchen zwischen den Fingern hatte,
-schüttelte sie so heftig, als käme es darauf an, den
-Schnee herauszuschütteln, als sei der die Ursache des
-ganzen Entsetzens.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_170" title="170"> </a>
-»Laß los! Laß los!«</p>
-
-<p>»Laß Du los!« sagte Fritzchen in großem Zorn.
-Sie nannten sich Du, es kam von selbst, wie sie sich
-früher genannt hatten. »Was willst Du von mir?«</p>
-
-<p>Der Schnee war heraus &ndash; was nun noch? Hans
-Henning gab ihre Hand nicht frei.</p>
-
-<p>»Das ist ja Unsinn, das ist ja Wahnsinn! Wie
-kommst Du zu Gregor? Was will er von Dir? Er
-weiß es ja! Er weiß es ja!«</p>
-
-<p>Sie sah sein entstelltes, wild gerötetes Gesicht, die
-Augen, den knirschenden Mund, im nächsten Moment
-konnte der Tobende sie an die Mauer werfen und erwürgen
-&ndash; sie sah das ganz klar, aber sie hatte gar
-keine Angst, keine Spur von Angst um ihr Leben.</p>
-
-<p>Das war also damit gemeint! dachte sie klar und
-ganz überlegt.</p>
-
-<p>Sie meinte damit ihr schönes, einsames Traumleben,
-ihr plötzliches Glück, die Betrübnis heute und
-das Ende hier am Bergweg, an der Gartenmauer.
-Es erschien ihr alles so außerordentlich folgerichtig
-und gut. Beinahe verwunderlich, daß sie das nicht
-schon vorher gewußt hatte, daß so ihr Weg und dessen
-Ende sein würde.</p>
-
-<p>Aber es war dann doch die Täuschung einer über
-das Maß hinaus gespannten Gehirnerregung. Der
-Wilde, in dessen Hand sie war, war kein Tier, das
-Blut vergießt, um sich Erleichterung zu schaffen, es
-war nur ein gequälter Mensch, dessen Herz in seiner
-Not wohl einen Moment lauter schrie, als zur guten
-<a class="pagenum" id="page_171" title="171"> </a>
-Manier gehört, der aber schließlich doch noch Du und
-ich unterscheiden konnte.</p>
-
-<p>Er ließ sie los. Es wäre für ihn schöner gewesen,
-jetzt einfach das Letzte zu tun und mitsamt
-seinem lieben Mädchen hier am Weg rasch und wild
-zu sterben. Er war ein allzu konzentrierter Junge.
-Es war für ihn jetzt nicht mehr viel wert, was nun
-noch kommen konnte.</p>
-
-<p>Er hatte auch das Fragen vergessen nach Wann,
-Warum und Wie. Es stand ja auch nichts mehr in
-Frage, es war eine zu müde Sache, jetzt noch den
-Mund aufzutun. Er ließ sie los, ordnete mechanisch
-etwas am Reitzeug, fühlte wieder, etwas bewußter,
-wie in seinem Arm tobende Schmerzen wüteten,
-schnallte den Zaum los, nahm ihn in die rechte Hand
-und ging gerade vor sich den Weg hinab.</p>
-
-<p>Das Pferd stieß an einen Stein, es gab einen
-klingenden Ton. Unten am Wege stand wieder der
-Heckbusch, von dem vorhin der Schnee abgerutscht
-war. Hans Henning faßte das Pferd kürzer, damit
-es nicht noch einmal daran streife, denn es war noch
-einiger Schnee auf dem Busche, der auch noch hätte
-abgleiten können. Das wäre schrecklich gewesen. Weiter
-wußte er nichts.</p>
-
-<p>Unten ging er gerade vor sich hin weiter, wie er
-heruntergegangen war. Die Dorfstraße entlang bis
-an den Pfarrgarten. Da wandte er sich rechts und
-stand vor seines Bruders Hause.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_172" title="172"> </a>
-Justine stand vor der Haustür und lugte aus,
-denn ihr guter Kaffee konnte das Warten nicht vertragen.
-Da kam Hans Henning um die Ecke, den
-Arm in der Binde, das Pferd zerrend wie ein abgeworfener,
-maroder Reiter.</p>
-
-<p>»Herrjeh, der Herr Baron! Nein, aber so 'ne
-Überraschung! Der Herr Pastor ist noch im Dorfe,
-aber er kommt gewiß sogleich.«</p>
-
-<p>»Ich werde warten«, sagte Baron Hans.</p>
-
-<p>»Ja, natürlich. O Gott, wird er sich freuen!«</p>
-
-<p>Sie kam herunter, ihm das Pferd abzunehmen
-und ihn hereinzulassen. Aber sie hatte seine Meinung
-nicht verstanden.</p>
-
-<p>»Ich will hier warten«, sagte Hans Henning.</p>
-
-<p>»Aber doch man nicht draußen, im Schnee.«</p>
-
-<p>»Ja. Es ist gut, Justine, lassen Sie nur.«</p>
-
-<p>Man sieht nicht gern das Trübe, wenn man selber
-froh gestimmt ist, darum kostete es der Justine
-erst einen kleinen inneren Ruck, ehe sie sagen konnte:
-»Aber, Herr Baron sehen so anders aus &ndash; ist was
-passiert?« Jetzt sah sie auch den verbundenen Arm.</p>
-
-<p>Der Hans machte eine so wütend ungeduldige
-Schulterbewegung, daß ihr jedes weitere Wort auf
-den Lippen erstarb. Sie öffnete zwar noch einmal
-den Mund, sie wollte doch noch etwas sagen vom
-Arm und dem Pferde oder dem Kaffee und sonst etwas
-Tüchtiges und Richtiges, aber sie war im Dienst
-alt genug geworden, um Herrenlaunen zu kennen, sie
-klappte den Mund wieder zu und schlich bedrückt hinein.
-<a class="pagenum" id="page_173" title="173"> </a>
-Doch dann ging drinnen ein wildes Kaffeemahlen
-los, an dem sie sich tröstete und erhob.</p>
-
-<p>Hans Henning stand draußen und dachte nur
-das eine: Ich muß Gregor sprechen. Aber danach
-war alles stumpf und dumpf in ihm. Nur sein Arm
-und Gelenk wütete wie wahnsinnig.</p>
-
-<p>Er streifte den Zügel über eine Zaunlatte an der
-hölzernen Pforte und strich und drückte leise an dem
-Arm, um die Schmerzen etwas zu mäßigen. Es half
-nicht viel, es schien sogar immer grimmiger zu werden.
-Er hatte eine Anwandlung von Ohnmacht und
-lehnte sich gegen die Mauer.</p>
-
-<p>Gregor kam, ihm war zu unruhig zumute, um
-lange in Krankenstuben auszuhalten. Da fand er
-seinen jungen Bruder an der Gartenmauer, er regte
-sich nicht, als er näher kam. Er hatte den Kopf etwas
-hintenüber angelehnt wie ein halb Ohnmächtiger, und
-Gregor sah trotz der Dämmerung, daß das Gesicht
-totenähnlich blaß war.</p>
-
-<p>»Hans! Warum stehst Du hier draußen? Ist
-Dir schlecht, Junge?«</p>
-
-<p>Hans Henning öffnete die Augen, mit einer großen
-Willensanstrengung sammelte er sich. Das große
-Schmerzgefühl innen und außen verzog seinen Mund,
-so daß er wunderlich fremd für den Bruder aussah.</p>
-
-<p>»Hans, ist Deine Hand so schlimm? Komm herein!«</p>
-
-<p>»Laß das!«</p>
-
-<p>Mit einer Kraft, die in gar keinem Verhältnis
-zu der hilflosen Stellung war, in der Gregor ihn gefunden
-<a class="pagenum" id="page_174" title="174"> </a>
-hatte, stieß er mit der gesunden Faust den
-Bruder zurück, der ihn anfassen wollte, um ihn zu
-geleiten.</p>
-
-<p>»Denkst Du, ich gehe in Dein Haus?«</p>
-
-<p>Er stand jetzt ganz aufrecht, und sein Gesicht fing
-an, wie im Fieber zu glühen.</p>
-
-<p>»Rühr' mich nicht an! Viel haben wir nicht mehr
-miteinander zu tun. Weißt Du noch, im Sommer
-auf der Veranda? Herrgott, Mensch, da hast Du
-Dir wohl selbst den Weg freihalten wollen? <em class="ge">So</em>
-bist Du? <em class="ge">So</em> bist Du? Und ich Schaf, ich Esel,
-ich Narr! Natürlich &ndash; wenn der Hofprediger kommt
-&ndash; mehr als ich hast Du ja immer gegolten. Meinetwegen,
-nehmt doch dem Hans seine Blume weg, was
-braucht er eine Blume! &ndash; Du! Weißt Du, was heute
-passiert ist? Zwei Menschen hab' ich verloren, die
-mir die liebsten waren. Na, man immer zu, was
-macht das auch aus&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er ging zur Seite, wo das Pferd stand. Der
-körperliche Schmerz ließ ihn einen Augenblick
-taumeln, dann hielt er sich am Pferderücken und versuchte
-aufzusteigen.</p>
-
-<p>Gregor hatte wie erstarrt gestanden, jetzt stürzte
-er ihm nach. »Hans, Du bist ja von Sinnen. Du
-darfst so nicht fort. Um Gotteswillen, Dir passiert
-ein Unglück, mein Junge. Sei doch nicht so außer
-Dir, laß uns über die Sache reden. Steige nicht auf,
-Hans, ich lasse Dich so nicht fort&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Du läßt mich nicht?« hohnlachte der andere.
-»Von jetzt ab wirst Du mir wohl nichts mehr zu
-<a class="pagenum" id="page_175" title="175"> </a>
-lassen oder nicht zu lassen haben. Das ist vorbei,
-Bruder Pfaff!«</p>
-
-<p>Die Wut spannte seine Sehnen. Er, der noch
-eben halb bewußtlos an der Mauer gelehnt hatte, flog
-mit einem einzigen Schwung in den Sattel. Dabei
-hatte er sich ohne Besinnen auf die linke Hand gestemmt.
-Ein wilder Fluch und Aufschrei entfuhr
-ihm, er riß den Zügel so heftig von der Latte, daß
-das Leder zerriß, das Pferd setzte in die Höhe und
-im Galopp flog es mit seinem verzweifelten Reiter
-davon. Noch von fern, auf der Dorfstraße hörte man
-hin und wieder einen kurzen, klingenden Ton vom
-Hufschlag.</p>
-
-<p>Da stand der andere! Da stand er in seiner
-ganzen Herrlichkeit!</p>
-
-<p>»Hans!« rief er noch einmal in die leere Luft.</p>
-
-<p>Leer, still, tot. Tiefe, regungslose Winterstille
-hier, wo noch eben die wilden Worte brausten. War
-das noch einmal ein Hufschlag? Vorbei &ndash;&nbsp;&ndash; jetzt
-mußte er schon zum Dorfe hinaus sein.</p>
-
-<p>Der wahnsinnige Junge! Es muß ihn jemand
-aufhalten! Wie sah er denn aus? Er stürzt ja. Aber
-wer will diesem Sturmritt nach? Nur für den Fall,
-daß er gestürzt ist und irgendwo liegt&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»He, Michael Krauthammer!«</p>
-
-<p>Da hinten, wo die Dorfstraße weiter läuft, guckt
-ein altes Bäuerlein über den Zaun. Es ist taub und
-versteht nicht. Gregor winkt wie ein Rasender, da
-klettert es über die Latten und kommt gelaufen, daß
-<a class="pagenum" id="page_176" title="176"> </a>
-der lockere Schnee an der Oberfläche in kleinen Ballen
-hinter ihm auffliegt.</p>
-
-<p>»Michael, ist Dein Schimmel im Stalle?« Er
-muß mit voller Lunge schreien, sonst kann er es
-sechzehnmal sagen.</p>
-
-<p>»Jawohl, Herr Pastuhr. Jawohl, jawohl.«</p>
-
-<p>»Willst Du mich fahren, in dieser Minute nach
-Rummelshof?«</p>
-
-<p>»Nach Rummelshof? Jawohl. Morgen früh,
-Herr Pastuhr?«</p>
-
-<p>»Rasender Unsinn! Jetzt! Sofort, auf die Minute.
-Jetzt!«</p>
-
-<p>»Jetzt? Aber &ndash; nun ja&nbsp;&ndash;«, er wiegt das graue
-Köpfchen. »Nu ja, Herr Pastuhr, zu gern will ich
-das. Nur mein' Kaffig erst austrinken, der steht in
-der Röhre.«</p>
-
-<p>Ja ja, laß Deinen Führer nur erst seinen Kaffig
-noch austrinken. So schnell, wie Dein wilder Bruder
-kommst Du doch nicht fort. Nur sachte, kühler Gregor,
-es ziemt sich nicht für Dich, überzukochen. Fahr
-Du sachte der wilden Spur nach, lies die zerbrochenen
-Leute auf, das ist ja ein heiliges Amt. Oder ist das
-vielleicht noch heiliger, die Leute erst zu zerbrechen?</p>
-
-<p>Er stand im Stall, im Mist und legte selbst dem
-Schimmel das Geschirr auf. Das Bäuerchen weinte
-beinahe, weil es so schnell fertig sein sollte. Aber
-den Kaffig wenigstens, den ließ es sich doch nicht nehmen.</p>
-
-<p>Wenn ich aufs Gut ginge, bekäme ich schneller ein
-<a class="pagenum" id="page_177" title="177"> </a>
-Fuhrwerk, dachte Gregor. Aber ich gehe nicht da hin,
-und mittlerweile ist's ja auch hier so weit.</p>
-
-<p>Er saß auf dem Strohsacke des Leiterschlittens,
-und als eben das gemütliche Getrotte losgehen sollte,
-riß er dem Alten die Leine fort. »Es handelt sich
-um Tod und Leben!« schrie er ihn an, »hier heißt's
-Galopp.«</p>
-
-<p>»O je, o je!« schluchzte das Männchen. »Dat
-end't jawoll nich gaud!«</p>
-
-<p>Der Schimmel bekam die Peitsche, er dachte, das
-wäre ein Mißverständnis, aber es war keins. Sie
-sauste wieder und wieder. Da wurde ihm so himmelangst
-wie seinem alten Herrn, und der Schlitten flog
-durchs Dorf und draußen über den höckrigen Weg.</p>
-
-<p>Auf freiem Felde war es noch wieder ein Stückchen
-heller als im Dorfe. Gregor spähte den flachen
-Weg entlang übers Moor. Jawohl, es flogen Krähen
-auf, wenn er nach denen suchte. Da tanzten in der
-Luft auch schon wieder Schneeflocken.</p>
-
-<p>»Dat ward jawoll 'n Gestiewe«, klagte Michael
-Krauthammer besorgt. »Am End' finden wir unsern
-Weg noaher nich wedder.«</p>
-
-<p>Gregor antwortete nicht. Die freie Luft hier
-draußen auf der raschen Fahrt tat ihm gut. Ihm
-wurde klarer im Kopfe.</p>
-
-<p>Sie hat dem tollen Jungen unsere Sache verraten!
-dachte er voll wilden Zornes. Was fällt ihr
-ein? Wer gab ihr das Recht? Ja, so ist sie: mit
-dem Kopf durch alle Wände, unbekümmert, rücksichtslos.
-Was macht ihr mein Wunsch und Wille aus?
-<a class="pagenum" id="page_178" title="178"> </a>
-Was macht ihr das Unheil aus, das sie stiftet? Sollte
-ich mein Lebelang mich mit dem Löschen abgeben,
-wo sie Feuer angelegt hat?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Eintönig klapperten ein paar klanglose Schellen
-am Sielengeschirr des Schimmels. Hin und wieder
-flog der Schlitten über eine Unebenheit des Weges
-heftig zur Seite, daß die Männer sich an dem Leitergerüst
-halten mußten.</p>
-
-<p>»Wi smieten üm, Herr Pastuhr!« gellte das
-Männchen.</p>
-
-<p>»Und wenn auch, das macht nicht viel aus«, sagte
-Gregor unwirsch. »Höchstens hält's uns auf.«</p>
-
-<p>Aber es war mit Sorgfalt nicht viel zu machen.
-Der Weg war so überweht vom Schnee, daß man
-seine Tücken nicht sehen konnte. Dazu schneite es
-immer heftiger und wurde rasch Nacht.</p>
-
-<p>»Sind da nicht Tappen vom Pferd? Ja, da ist
-er geritten. Aber wer kann's erkennen. Eine Laterne
-hast Du wohl natürlich nicht mit?«</p>
-
-<p>»Wat sall ick hem?«</p>
-
-<p>Schafskopf! dachte Gregor, aber er sagte es nicht
-laut, weil das nicht die geistliche Amtssprache ist.</p>
-
-<p>Je weiter der Weg und näher das Ziel, um so
-steinerner und kälter wurde das Herz in ihm. Die
-rasch aufgefahrene Angst um den Bruder, die ihm wie
-mit eisernen Händen das Herz gepackt hatte, ließ nach,
-je mehr die Wahrscheinlichkeit eines Unglücksfalles sank.
-Er hörte auf, das Pferd zu peitschen und zu jagen.
-Als er durch das Schneetreiben die Lichter von Rummelshof
-sah, erwog er schon, ob er nicht umkehren
-<a class="pagenum" id="page_179" title="179"> </a>
-solle. Was er wollte, hatte er ja getan: dem Hans
-auf die Spuren gesehen, ob ihm nichts zugestoßen sei.</p>
-
-<p>Dennoch war die Beruhigung zu unsicher. Er
-konnte auf einem anderen Wege übers Moor geritten
-sein. So fuhr er weiter.</p>
-
-<p>Es war nicht tot zu machen, daß er vor einer
-Stunde mit einer wahnsinnigen Angst im Herzen
-im Pferdestall des alten Krauthammer gestanden hatte.
-Gregor v.&nbsp;Zülchow hatte nicht viele Stunden wie diese
-gehabt, sie zuckte ihm noch im Blute.</p>
-
-<p>Aber wer wenig Perlen hat, stellt sich um die,
-die er hat, auch ganz besonders gefährlich an. Gregor
-setzte den wilden Herzschlag, die tolle Fahrt, die
-Not dieser Stunde dem Bruder Hans dick unterstrichen
-aufs Konto. Da! das zahle Du mir erst
-mal wieder heraus!</p>
-
-<p>So klapperte er auf seinem Bauernschlitten auf
-den Hof seiner Väter ein. Er fuhr auf den Laternenschein
-zu, der durch entlaubtes Gebüsch von den Stallgebäuden
-her kam. Da stand ein Knecht und rieb
-Hans Hennings Pferd ab.</p>
-
-<p>»Na also&nbsp;&ndash;«, sagte Gregor nur. Er tat keine
-weitere Frage und wandte den Schlitten wieder um.</p>
-
-<p>»Herr Pastuhr, Sei führen ja wedder rut!«</p>
-
-<p>Laß das Bäuerchen schreien, so viel es will. Es
-hat hier wohl auf einen heißen Grog gehofft.</p>
-
-<p>»Da, Michel, nun kannst Du auch wieder fahren.«</p>
-
-<p>»O je, o je &ndash; nee, de Geschicht' begriep ick mien
-Läwdag nich&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich habe Dich nicht umgeschmissen, nun schmeiß
-<a class="pagenum" id="page_180" title="180"> </a>
-Du mich auch nicht um«, sagte Gregor. Er hatte nicht
-Lust, um diese Sache nun noch naß zu werden.</p>
-
-<p>Wenn der dumme Junge zur Ruhe gekommen ist,
-wird sich schon alles arrangieren, dachte er.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Danach kam der Dienstag Morgen. Die Sonne
-schien wieder, aber blaß aus blassem, nichtssagendem
-Himmel. Der Ostwind strich scharf durch die kahlen
-Bäume, in der Nacht war der Schnee von gestern
-abend festgefroren.</p>
-
-<p>Gregor hatte einen schweren Kopf. Er saß am
-Schreibtisch, um eine wissenschaftliche Arbeit für eines
-der theologischen Blätter zu beenden, für die er hin
-und wieder schrieb. Aber er konnte heute nicht. Man
-räumt auch erst bei sich zu Hause auf, ehe man anderen
-Leuten die Stühle und Tische für dieses Lebens
-Gebrauch zurechtstellt.</p>
-
-<p>Aber er hatte von dieser unpersönlichen Arbeit
-Klärung und Beruhigung erwartet, die blieb nun
-völlig aus.</p>
-
-<p>Daß ich mich mit dem Kinde nicht verbinden kann,
-ist mir jetzt ohne Zweifel, dachte er. Es ist meine
-Schmach und Erniedrigung, daß ich dies für ein paar
-tolle Viertelstunden vergaß. Ein boshaftes Geschick
-oder eine absonderliche Schwäche meiner Nerven ließ
-mich zweimal in derselben Sache einen so argen Fehlgriff
-tun. Bei der kleinen Durchlaucht war es vielleicht
-schlechter, berechnender. Ich hätte schon ihr
-<a class="pagenum" id="page_181" title="181"> </a>
-Gemahl werden wollen, was tat mir ihr süßes
-Schmachten zu Leide? Bei diesem Kinde &ndash; ach,
-da kann ich nur bitten: Erscheine mir nicht! Bleib
-fern, damit ich so stark und kühl bleibe, wie ich muß.</p>
-
-<p>Die Sache ist nicht am Ende. O, wäre sie es!
-Was steht noch alles bevor! Ich kann es nicht vermeiden,
-was nun kommt. Sie glaubt an mich. Sie
-kennt keine Schwäche und keine Kälte. Sie ist in
-jeder Stunde das, was sie wirklich ist, nicht nur ein
-abgeblitzter Funke ihrer selbst.</p>
-
-<p>Was noch bevorsteht, ist dieses: Ich muß sie an
-die Hand nehmen &ndash; ich sie! und das ist mein Büßen
-&ndash; und sie durch das dunkle Tal menschlicher Kompliziertheiten
-führen, das sie noch nie gesehen hat. Ich
-muß das Grauen und die Verachtung in ihren Augen
-wecken. Das muß ich tun. Sie muß mich als
-Schwächling und Egoisten sehen. Wenn sie weniger
-unwissend, stark und einfach wäre, könnte sie auch die
-feineren Fäden sehen. So wird sie es nicht, und es
-ist nicht meine Sache, es sie zu lehren. Ich kann an
-ihrer Verachtung und ihrem Grauen nichts ändern.</p>
-
-<p>Hans Henning &ndash; das ist Art von ihrer Art. &ndash;
-Warum soll das nicht werden?</p>
-
-<p>Er stand auf, ging durchs Zimmer und setzte sich
-wieder. Am blassen Himmel war die Sonne fortgegangen,
-man sah kaum wohin, so gleichförmig fade
-und weißgrau legten sich die Wolkenstreifen darüber.</p>
-
-<p>Warum soll das nicht werden?</p>
-
-<p>So laß sie beide doch &ndash; und gib der Vernunft
-<a class="pagenum" id="page_182" title="182"> </a>
-Raum und sei kein Narr, der eine schlechte Tat auf
-die andere häuft.</p>
-
-<p>Ja ja, so ist es gut. Keiner braucht sich dabei das
-Genick zu brechen.</p>
-
-<p>Aber ich, der ich nur die Hand zu öffnen brauche,
-wo andere kämpfen und ringen, ich soll als der einzig
-Hungrige vom Tische aufstehen?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ich <em class="ge">will</em> es ja so! Ich <em class="ge">will</em> den Wein nicht.
-Warum kann man ihn nicht umstoßen, daß auch andere
-nicht zu trinken brauchen? Das Königlichste auf
-Erden ist Verschwendung.</p>
-
-<p>Was ist das? Bewegt sich da etwas in der Ofenecke
-hinter dem Schlot? Diener der Kirche, kennst
-Du denn nicht die grinsende Fratze?</p>
-
-<p>»Was wäre es gewesen, wenn jemand gestern
-vom Pferde gefallen wäre&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>Weg Satanas! Du hast gesprochen, nicht ich!</p>
-
-<p>Satanas &ndash; ja kommst Du jetzt da herum? Bist
-licht und schön und frei von Gang und hast ein rotbraunes
-Struwwelköpfchen?</p>
-
-<p>Geist, zerrinne wieder! O Du mein liebes Gesicht
-&ndash; erscheine mir nicht! Erscheine mir nicht!</p>
-
-<p>Die Gartenpforte klinkt. Der Schnee knirscht
-unter den Tritten.</p>
-
-<p>Jag sie doch hinaus, wenn Du Angst hast!</p>
-
-<p>Nein, nein. Die Entscheidung soll kommen.</p>
-
-<p>Fritzchen, ja &ndash; so etwas wagst Du wieder? Das
-tut keine sittsame Jungfrau, Du wildes, unbedachtes
-Kind!</p>
-
-<p>O Gregor, das starke Herz, das Männerherz!
-<a class="pagenum" id="page_183" title="183"> </a>
-Reiße es rasch heraus, in den Winkel damit, sonst
-&ndash;&nbsp;&ndash; rasch!</p>
-
-<p>Da klopft es schon.</p>
-
-<p>Da steht sie in der Tür. Wie ist sie blaß geworden
-in dieser einen schlimmen Nacht!</p>
-
-<p>»Gregor«, sagte sie leise, »ich suche Dich.« Es
-war ein krankes, bittendes Lächeln um ihren Mund,
-das machte sie für ihn noch schöner, als sie je zuvor
-in ihrer lachenden Kraft gewesen war.</p>
-
-<p>Er stand ihr gegenüber &ndash; ihr Sklave.</p>
-
-<p>»Nein!! Es kommt die Reue!« rief er jählings
-so wild, daß sie zusammenschrak. Er hatte es nur
-sich sagen wollen, nun hatte er es auch ihr gesagt.</p>
-
-<p>»Die Reue?« fragte sie zitternd und bange.</p>
-
-<p>»Du bist ein Kind und weißt nichts von mir und
-Dir!« rief er in demselben wilden, starken Tone.
-»Geh hinaus von hier, geh! Es kommt nichts wie
-Unglück hierbei heraus. Ich weiß das, ich wußte das
-immer, aber ich hatte es in einer törichten Stunde vergessen.«</p>
-
-<p>Damit war sein hoher, starker Ton erschöpft. Er
-sah, wie sie fahl bleich geworden war. Sie bot einen
-solchen Anblick, daß er glaubte, sie werde im nächsten
-Moment umsinken. Er eilte herbei, ihr einen Stuhl
-zu geben.</p>
-
-<p>»Nein, danke«, sagte sie, stützte sich aber doch auf
-die Lehne und sah ihn mit den Augen an, die übergroß
-in dem blassen Gesichtchen standen.</p>
-
-<p>»Du hast mich also nicht lieb?« fragte sie in einem
-seltsam hohen, wie fragend klingenden Tonfall.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_184" title="184"> </a>
-Er spielte jetzt wahrlich nicht. Es war eine
-Schmerzüberwindung, wie dieser Mensch sie in seinem
-ganzen bisherigen Leben noch nicht vollbracht hatte.
-Er gab der Wahrheit, die über Ja und Nein steht,
-die Ehre und sagte hart und stark wie klingender
-Stahl:</p>
-
-<p>»Nein.«</p>
-
-<p>Ihre Blicke verwirrten sich einen Moment und
-wurden völlig leer, so daß ihn ein kurzes Grausen
-und gleich darauf ein unendliches Mitleid faßte. Er
-griff nach ihrer Hand und zog sie sanft an sich.</p>
-
-<p>Die Versuchung für ihn war überwunden.</p>
-
-<p>»Es war eine sehr süße und holde Täuschung«,
-sagte er. »Wir kommen beide wohl darüber fort.«</p>
-
-<p>Was hatte er ihr doch erklären wollen von der
-komplizierten Maschinerie seines Seelenlebens? Ach,
-vor diesen Augen versagen noch ganz andere und viel
-einfachere Erklärungen. Da steht der schlichte, große,
-starke Menschenjammer vor dem ganzen Prunk der
-analytischen Erklärungskunst, und die Kunst fällt zusammen
-und wird zum Häuflein Schmutz.</p>
-
-<p>Das Leben aber wendet sich und geht hinaus.</p>
-
-<p>»Adieu, Gregor.«</p>
-
-<p>Sie geht hinaus. Es sind nur Minuten verstrichen,
-wieder klinkt das Gartentor. Sie trägt den
-Kopf geneigt, wie ein freier Vogel, den man angeschossen
-hat, sie schleppt ihre Füße.</p>
-
-<p>Ach ja, das wird ein saurer Gang.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_185" title="185"> </a>
-Er, der Pfarrer, steht in seinem Zimmer. Er
-ist nicht zum Sklaven und zum Verräter der eigenen
-Kraft geworden. Er hat gebüßt, was zu büßen war.</p>
-
-<p>Jetzt schließt er seinen ehrlichen Bund mit der
-Einsamkeit und mit der Kälte.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_186" title="186"> </a>
-Zwölftes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Was ist geschehen? Verstehst Du es, Herz? Verstehst
-Du es, Kopf?</p>
-
-<p>Sie kommt in ihrem Schloßhof oben an. Da steht
-der alte klobige Turm mit seinen vielen Fenstern.</p>
-
-<p>Ein Entsetzen packt sie. Da hinein? Da sitzen
-wie gestern und alle Tage? Einfach weiterleben hinter
-diesen Mauern?</p>
-
-<p>Es zuckt ihr in den Füßen. Fort, ins Feld hinaus,
-weit weg. Nur nicht wieder hier hinein!</p>
-
-<p>Ins Feld? Ja, da ist Weg und Steg und jeder
-Stein noch wie er immer war. Übers Moor? Oder
-an den See?</p>
-
-<p>An den See? Weißt Du noch?</p>
-
-<p>Mit einer wilden, hilflosen Bewegung drückt sie
-die beiden Fäuste vor die Augen. Schwarz &ndash; schwarz
-&ndash; schwarz&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ins Dunkle! Verkriechen! Das ist das beste!</p>
-
-<p>Hinein.</p>
-
-<p>Wie die Haustür knarrt mit dem altbekannten
-Ton! Da ist Jakob auf der Treppe.</p>
-
-<p>Jakob? Gibt es denn noch Menschen?</p>
-
-<p>»Was gibt's heut' wohl zu Mittag, gnädiges
-Fräulein?« sagt Jakob, der alte Schelm.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_187" title="187"> </a>
-Sie steht in der Schulstube und weiß nicht, wie
-sie hereinkam. Es ist eiskalt hier, sie graut sich vor
-den acht Fenstern.</p>
-
-<p>Da bleibt sie stehen, mitten im Raum, und schreit
-laut auf.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Das hat geholfen. Das starre, steife Entsetzen
-ist gelöst. Sie atmet wieder.</p>
-
-<p>Sie weiß plötzlich alles &ndash; sie lächelt &ndash; sie glaubt
-plötzlich nichts. Welch ein Schreckbild hat sie geängstigt!</p>
-
-<p>Sie geht an ihren alten zerschnitzten, staubigen
-Fenstertisch. Ein halb zerrissener Zettel liegt herum,
-sie nimmt ihn und schreibt darauf mit Bleistift.</p>
-
-<p>»Ich habe Dich nicht verstanden. Meintest Du
-so, daß wir uns nichts mehr angingen? Aber das
-gibt es ja nicht. Du kannst mich doch nicht den einen
-Tag lieb haben und den anderen nicht? Bist Du mir
-über etwas böse, das ich getan habe? Warum sagtest
-Du das nicht&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Plötzlich hielt sie inne. Sie fühlte es im Nacken,
-es stand jemand in der Tür. Mit einem Erbeben
-des Grauens kehrte sie sich um.</p>
-
-<p>Da war er. &ndash; Schwarz, stumm, mit demselben
-eiskalten Gesicht von gestern, von der Dorfstraße her,
-mit einem geisterhaft schrecklichen Blick durch die Brillengläser.
-Er rührte sich nicht, er öffnete nur langsam
-die Lippen &ndash; er würde ihr antworten&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Nein! Nein! Ich will nichts! Ich will nichts!«
-schrie sie wie von Sinnen. Sie sprang auf, der Stuhl
-fiel um, sie stolperte über eins der Holzbeine, die
-<a class="pagenum" id="page_188" title="188"> </a>
-ganze Stube drehte sich, er mit, sie fühlte ein namenloses
-Entsetzen, wie einen Fall in eine unendliche
-Leere&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Geh fort! Geh fort&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Dann wurde es Nacht und stumm.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Es stand niemand in der Tür. Nur
-die acht Fenster, von dem einförmigen grauen Weiß
-des sonnenlosen Schneetages gefüllt, sahen auf das bewußtlose
-Kind am Fußboden.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>&ndash; Aber es kamen Schritte. Frau v.&nbsp;Pohle suchte
-nach Fritzchen. Sie hatte im Vorbeigehen Jakob
-gefragt, der kratzte sich im Kopf.</p>
-
-<p>»Mit der ist wohl was los, gnädige Frau. Die
-guckte mich eben an, als ob sie ihren Klug nicht hätte.
-Am End' ist sie krank, sie ist wohl zu Bett gegangen.«</p>
-
-<p>Im Bett war sie nicht. In der Schulstube war
-sie.</p>
-
-<p>Ein brennender Schreck durchzuckte die Frau, im
-Moment war sie neben der Gestalt, die wie zusammengeschossen
-mit dem Gesicht auf der Erde neben dem
-umgestürzten Stuhle lag.</p>
-
-<p>Sie kniete neben ihr. »Fritzchen!« Aber sie
-konnte den starken jungen Körper nicht mit ihren
-schwachen Armen bewegen. Sie stand auf, um Hilfe
-zu holen, da sah sie den Zettel auf dem Tische.</p>
-
-<p>Sie nahm und las ihn und fühlte einen Moment,
-wie das Herz in ihr still stand. Ihr Gesicht bedeckte
-<a class="pagenum" id="page_189" title="189"> </a>
-sich mit brennender Röte der Not, der Scham, um
-dies junge, herrliche Menschenbild, das hier in
-Schmach und Jammer vor ihren Füßen lag.</p>
-
-<p>Den Zettel steckte sie zu sich.</p>
-
-<p>Auch das noch! Er hat auch mit ihr zu spielen
-gewagt! Ein kraftschönes Leben zerrissen in Eitelkeit
-und Herzenskälte. O Gott, o Du Gott der Gerechtigkeit,
-triff ihn! Höre mich! Mann und Kinder
-und all mein Lebensglück hast Du mir genommen.
-Ich stehe in einer Wüste. Ich will nichts für mich.
-Aber höre den Schrei nach Gerechtigkeit. Triff ihn!
-Vernichte ihn, den Vernichter!!</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Es kam über Nacht ein Westwind übers Land in
-großen, langen Stößen. Die Temperatur stieg um
-mehrere Grade. Als wieder neuer Schnee zur Erde
-nieder wollte, wurde er zu Regen. Es leckte von den
-Dächern und rutschte von den Bäumen. Große häßliche
-löcherige Vertiefungen fraß das laue Naß in die
-zarte weiße Schneedecke. Auf der Dorfstraße patschten
-die Pferdehufe, schlammten die Räder.</p>
-
-<p>Die Kalesche des Doktors fuhr durch das Dorf.
-Sie kam von draußen herein, wo auf freiem Felde
-das Werk des Zertauens noch nicht so vorgeschritten
-war, aber hier auf dem höckrigen Pflaster spritzte der
-Schmutz bis hoch an das Verdeckleder hinan.</p>
-
-<p>Überall steckten besorgte Gesichter aus den Türen
-<a class="pagenum" id="page_190" title="190"> </a>
-und hinter dem Fensterglas. Um das Fritzchen war
-der Doktor doch noch nie geholt.</p>
-
-<p>»Was ist denn los?« »Fräulein Fritzchen ist
-krank.« »Na nu! Uns' Fräulein? Aber nee!«</p>
-
-<p>Es wußte es niemand, was in Wahrheit geschehen
-war, außer Frau v.&nbsp;Pohle &ndash; und vielleicht noch
-einem, wenn man es dem zufällig im Dorfe erzählte.
-Aber mit dem redet man doch nicht wie mit einem
-gewöhnlichen Menschen.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle sagte dem Doktor, daß Fritzchen
-gestern in Ohnmacht gefallen sei, eine unruhige
-fieberische Nacht gehabt habe und heute sehr matt und
-beängstigend teilnahmslos daläge. Sie sah auch den
-Doktor, dessen Assistent sie manches Mal im Dorf gewesen
-war, leer und gleichgültig an, erwiderte seine
-Begrüßung nicht und gab ihm keine Antwort.</p>
-
-<p>»Laßt mich doch schlafen«, war das einzige, was
-sie in einer Art von müder Verzweiflung sagte.</p>
-
-<p>»Sie muß einen kolossalen Nervenschok gehabt
-haben«, sagte der Doktor. »Sie haben keine Ahnung,
-gnädige Frau?«</p>
-
-<p>»Nein, nein«, sagte Frau v.&nbsp;Pohle, aber so hastig,
-daß er ihr die Lüge von der Stirn ablas.</p>
-
-<p>»Mit Vater &ndash; Schwester &ndash; es ist nichts
-passiert?« fragte er.</p>
-
-<p>»O, nicht im geringsten.«</p>
-
-<p>»Es wird sich augenblicklich nicht viel tun lassen«,
-sagte er. &ndash; »Sie muß sich gesund schlafen. Aber
-sowie sie wieder auf ihren Füßen stehen kann, muß sie
-eine Luftveränderung haben.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_191" title="191"> </a>
-»Jawohl, eine Luftveränderung!« rief Frau v.&nbsp;Pohle
-in lebhafter Zustimmung.</p>
-
-<p>Na, da kann man sich's ja schon denken, Ihr
-Heimlichtuer! dachte der alte Doktor bei sich. Lieber
-Gott, menschliche Sachen. Zwanzig Lenze zählt das
-Wurm. Sowas geht vorüber.</p>
-
-<p>»Und mal ein bißchen tanzen, Menschen sehen,
-Theater, Musik, all solch' ein Kram. Sie verstehen
-mich, gnädige Frau, sorgen Sie dafür.«</p>
-
-<p>»Soviel ich kann!« sagte Frau v.&nbsp;Pohle.</p>
-
-<p>Im Fortfahren dachte der Doktor: Ob es nicht
-der hochnäsige Laffe im Talar ist, der auch hier das
-Unheil angerichtet hat? Möge ihn der Teufel holen!</p>
-
-<p>Der Fluch des kräftigen alten Doktors und das
-Gebet der feinen alten Dame schloß eine seltsame Verbrüderung.
-Es haben schon andere Throne gewackelt,
-als man sie niederbetete und niederfluchte. Denn auf
-Erden sind Mächte am Werk, die mächtiger sind als
-der Westwind über den Schneemassen.</p>
-
-<p>Der Westwind ging um das Pfarrhaus und rüttelte
-an der Haustür und den Läden. Ein Reitpferd
-stand draußen angebunden, es war ungeduldig und
-stampfte, daß der Schmutz hoch aufspritzte. Ein Mann
-kam aus dem Hause in hohen Stiefeln, er ging durch
-den Garten, setzte sich zu Pferde und ritt davon. Nur
-der Wind war noch in der Straße. Er trieb den
-Regen durch die Luft und riß den letzten Schnee von
-den Bäumen.</p>
-
-<p>Jawohl, es ist auch eine Lust, Schönheit zu zerstören!
-Der Wind löst die weiße Decke auf und stößt
-<a class="pagenum" id="page_192" title="192"> </a>
-die phantastischen Kronen von den Mauerköpfen. Ihr
-habt genug bewundert! Hussa, merkt Ihr, wie es
-trieft, leckt, pfeift, klappert, und wie alle Herrlichkeit
-zufließt?</p>
-
-<p>Der Pfarrer steht im Zimmer und liest einen
-Brief. »Mein Gregor, denke Dir, seit gestern ist
-Hans fort. Ich glaubte, er wäre zum Arzt geritten,
-es hatte sich mit seiner Hand so außerordentlich verschlimmert.
-Ich wartete ängstlich auf seine Rückkehr
-und schickte ihm dann einen Boten nach. Sein Pferd
-hat er eingestellt und nur dem Wirt &ndash; denk' Dir,
-Gregor, dem Hotelwirt! &ndash; den Bescheid für mich
-hinterlassen, daß er schreiben würde. Er war schon
-vorher so seltsam, sonst würde ich mich ja nicht ängstigen.
-Und dann der kranke Arm. Bei dem Arzt ist
-er gar nicht gewesen! Lieber Gregor, wenn Du Zeit
-hast, komm herüber. Laß mir durch den Boten sagen,
-ob ich Dir den Wagen schicken soll. Oder wenn Du
-Nachricht von Hans hast, gib sie ihm gleich mit.«</p>
-
-<p>»Der Wagen soll kommen!« hatte Gregor bestellt.</p>
-
-<p>Er kannte seine Mutter, sie hatte nicht gewagt,
-den gleich mitzuschicken. Was sollte er auch dort?
-Ihr sagen, daß er etwas mehr wisse, als sie &ndash; und
-daß auch er eine unbestimmte Angst in sich hege?</p>
-
-<p>Aber er konnte drüben wohl noch Näheres erfahren,
-er konnte des wütenden Jungen Spuren verfolgen.
-Das würde nicht allzu schwer sein. Er konnte
-ihn in seinem sinnlosen Hinausstürmen aufhalten
-und ihm sagen: Du hast keinen Schmerz und keine
-Bitterkeit nötig. Was Du für meine Rechte hieltest,
-<a class="pagenum" id="page_193" title="193"> </a>
-übergehe ich alles Dir. Und das Weitere besorge Du
-Dir selbst.</p>
-
-<p>Wie ist solche närrische Verzweiflung doch noch
-voll Glück, Kraft, klopfendem Leben. Um eines
-kleinen Mädchens willen sich Herz und Genick zerbrechen,
-die Welt einschlagen und nichts sehen, hören,
-fühlen außerdem, das ist wild und frisch wie Jagdlust
-und ein scharfes Reiten.</p>
-
-<p>Sieh, wie ist der Schnee getaut seit gestern. Wo
-ist die leuchtende Herrlichkeit hin? Der Wind pfeift
-und der Regen rinnt, es wird eine schlimme Fahrt
-übers Moor.</p>
-
-<p>Justine sagt, es ist Krankheit im Schloß. Es ist
-schon möglich, daß es hier an zwei Enden auf Tod und
-Leben geht. Laß es gehen, laß es ziehen, rinnen und
-vorüberpfeifen, wie der Westwind, der den Schnee
-zerschmilzt. Ich stehe daneben!</p>
-
-<p>Stolzer Mensch, der also sprechen kann! Tausendmal
-armer Mensch, der also sprechen muß! Es gibt
-ein Königtum unter den Menschen, das ihre Fesseln
-nicht trägt, nicht den Schutz ihres Daches und die
-Wärme ihres Herdes teilt. Das selbst von dem
-Schmerz, der ihm Fessel sein könnte, unabhängig ist.</p>
-
-<p>Der Ärmste ist zugleich der Mächtigste. König
-Gregor, es beneiden Dich wohl wenige um Deine
-Krone.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_194" title="194"> </a>
-Dreizehntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Damals war die Stunde noch nicht gekommen,
-daß Fritzchen ihre alte Heimat verließ. Es ging
-nicht. So wie der Doktor und Frau v.&nbsp;Pohle sich
-das zurecht gestellt hatten, ließen sich dieses Kindes
-Wege nicht ordnen.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle hatte heftige Szenen mit dem
-Papa wegen der »Luftveränderung«. Der Papa
-wurde zum ersten Male ausfallend gegen die feine
-alte Dame. Fritzchen kroch nicht an ihn heran, um
-Schutz zu suchen, sie fühlte sich nicht von ihm beschützt.
-Sie stand blaß und still und kalt und sagte: »Ich
-reise nicht fort.«</p>
-
-<p>Als sie kaum aufgestanden war, ging sie nach
-oben, sie wußte, daß sie hier einen Zettel geschrieben
-hatte. Er war fort.</p>
-
-<p>Hatte Gregor wirklich in der Tür gestanden?
-Oder hatte sie Geister gesehen?</p>
-
-<p>Sie fragte nicht. Ein kaltes Schauern ergriff
-sie. Nicht mehr daran denken! Schon wieder kam
-das Gefühl des Entsetzens über sie, das mit diesem
-Raum verbunden war. Da stürzte sie hinaus und
-zitterte an allen Gliedern. Es war vorbei für sie
-mit der Turmstube auf immer.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_195" title="195"> </a>
-&ndash; Das Grausen verließ sie lange nicht. Sie
-konnte sich Gregor nicht anders denken als mit dem
-toten kalten Angesicht und dem Gespensterblick hinter
-den Brillengläsern. Sie zürnte ihm nicht, sie suchte
-nicht nach Erklärungen, und niemals, zu keiner
-Stunde, hoffte sie auf ihn und die Wiederkehr von
-Liebe und Glück.</p>
-
-<p>Nichts &ndash; nichts. Sie graute sich nur. Diese
-Trennung war in Wirklichkeit auf Tod und Leben
-gegangen.</p>
-
-<p>Aber sie wollte nicht fort. Nicht aus Liebe oder
-Hoffnung oder Kraft geschah das, sondern aus der
-großen Lähmung heraus, die diesen freigebornen und
-abgeschossenen Vogel befallen hatte.</p>
-
-<p>Am Sonntag hörte sie die Kirchenglocken läuten.
-Gisela kam in Hut und Mantel herein, heute war
-sie die einzige aus der Familie, die ging.</p>
-
-<p>War das erst der vorige Sonntag, als sie alle
-dort gewesen waren? <em class="ge">Der</em> Sonntag &ndash; das war
-erst eine Woche her&nbsp;&ndash;?</p>
-
-<p>Fritzchen saß im allgemeinen Wohnzimmer. Sie
-staunte nur und dabei fror sie über und über trotz
-des warmen Raumes. Sie war in ein großes Tuch
-gewickelt. Wenn sie unter den anderen war, dann
-graute ihr nicht, nur allein mußte man sie nicht lassen.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Dörfflin ging an ihr vorbei und streichelte
-ihr mit seiner breiten Hand über den Kopf. »Fritz,
-was ist's mit Dir? Wo tut's Dir weh?«</p>
-
-<p>»Weh? Gar nicht«, sagte Fritzchen, verwundert
-über diese Frage.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_196" title="196"> </a>
-»Du wirst hier gesund, ja? Du läufst nicht
-fort?« brummelte er weiter.</p>
-
-<p>»Nein, warum sollte ich fort? Ich bin ja hier
-ganz gut.«</p>
-
-<p>Mehr wollte er gar nicht wissen, er ging zufrieden
-seines Weges.</p>
-
-<p>Am Nachmittag kam Besuch. Leopold Schultze,
-der Sohn des Fabrikbesitzers vom Laueschen Familiengut,
-und seine Schwester Melitta. Sie kamen
-wegen Gisela, sonst aus keinem Grunde. Herr
-Schultze jun. hatte eine aufrichtige, etwas weichliche
-Schwärmerei für sie, die zwar von seinem Vater, der
-mißlichen Geldverhältnisse auf Hohen-Leucken wegen,
-nicht mit Entzücken betrachtet, jedoch immerhin, aus
-Gründen einer Adelsverbindung durchaus gutgeheißen
-wurde. Nur hatte Herr Leopold, der ein
-sehr guter Sohn und ein weicher Mensch war, die
-strikte Weisung mitbekommen, nicht eher seine Wünsche
-in voller Deutlichkeit zu zeigen, als bis Giselas Zustimmung
-eine sichere Sache sei. Denn diese Familie
-war noch zu neu in dieser Gegend, um nicht eine solche
-Einführung, an der ein Korb hing, durchaus scheuen
-zu müssen.</p>
-
-<p>Gisela hatte seit den letzten Wochen schon den
-Kopf voll von dieser Werbung und der Aussicht, eine
-Frau Schultze zu werden. Daher war Fritzchens
-wunderliche Erkrankung ziemlich spurlos an ihr vorbeigegangen.
-Eigentlich stand ihr Sinn nach anderen
-Dingen. Sie hatte gedacht, die beiden Rummelshöfer
-Söhne unter sich und ihre Schwester zu
-<a class="pagenum" id="page_197" title="197"> </a>
-verteilen. Wie &ndash; daran war wohl kein Zweifel.
-Die verwandten Elemente zusammen, so daß nirgends
-Feuer und Wasser sich zu gesellen brauchten.</p>
-
-<p>Sie war ein gar kühles, weltförmiges Menschenkind,
-in dessen geschickten Händen viel Unmögliches
-möglich wurde. Aber sie hatte auch ihre Abhängigkeiten,
-die sie armselig, bedürftig und ohnmächtig
-machten. Gregor, in seiner dörflichen Pfarre, von
-der Professur abgesehen, die ihr ziemlich sicher schien,
-war ihr doch immer noch der Liebere und Interessantere
-und Glänzendere, als Herr Schultze mit seinem
-Geld.</p>
-
-<p>Wer zählt das Herzklopfen eines armen, auf
-Scheinbilder gestellten Mädchens, das zwischen der
-Frage: ob Schultze &ndash; ob Zülchow in grausamer
-Schwebe hängt, während schon der Sperling in ihrer
-Hand pickt und droben auf dem Dache die schimmernde,
-flüchtige Taube sitzt?</p>
-
-<p>Auch der Sperling hat Flügel, er sitzt nicht ewig
-in Deiner Hand &ndash; mahnte das geängstigte Herz.</p>
-
-<p>Wie sie dies Hohen-Leucken haßte in seiner kahlen
-Öde, wo man angewiesen war auf zwei, drei junge
-Leute, wo kein reizvolles Spiel der Eifersucht, kein
-keckes Wagen und Tändeln, kein prickelndes Wetterspiel
-von Gunst und Ungunst stattfinden konnte! Hier
-saß nur ein braver, langweiliger Freier in schwerfälligem
-Ernst: Nimmst Du mich &ndash; oder nimmst
-Du mich nicht? Und dahinten in Wirrnis und im
-unbekannten Land flackerte ein helles, prächtiges,
-vielleicht trügerisches Licht.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_198" title="198"> </a>
-Sie fing an, nervös zu werden. Nur nicht allein
-mit ihm! Nur Aufschub, Aufschub! Es durfte nichts
-nach Ablehnung aussehen, und doch durfte auch nichts
-zu sehr ermutigen und dadurch beschleunigen.</p>
-
-<p>Ja &ndash; das sind auch Kämpfe. Der eine hat
-es auf dieser Ecke, der andere auf jener. Tränen
-und Blut haben sie alle beide, und der Schein ist
-am Ende auch ein Sein.</p>
-
-<p>Im ganzen war es eine brillante Unterhaltung,
-leicht, graziös, mit geistreichem Geblitzel, wie immer,
-wenn Gisela regierte. Melitta Schultze war klug und
-lustig, sie sekundierte vorzüglich. Gisela war gar
-nicht hübsch, sie hatte ein langes kaltes Gesicht und
-einen verkniffenen Mund, aber sie verstand es so pompös,
-etwas aus sich zu machen, daß viele Männer
-schwuren, sie sei eine Schönheit.</p>
-
-<p>Ein ganz klein bißchen feiner Klatsch lief zuweilen
-auch mit unter, aber nur wie ein Körnchen
-Paprika. Gisela verpfefferte ihre Gerichte niemals.
-Heute gab es eine wirkliche plumpe Neuigkeit.</p>
-
-<p>»Der jüngste Zülchow ist verschwunden.«</p>
-
-<p>»Ach! Was heißt das: Verschwunden?«</p>
-
-<p>»Nein, in der Tat, mein gnädigstes Fräulein.
-Es sollen schon Nachforschungen angestellt sein, der
-Bruder hat auch bei seinem Regiment vergeblich angefragt.«</p>
-
-<p>Man lachte darüber. Der eifrige Bericht klang
-so ein bißchen kindlich. Herr Leopold war mit seiner
-Neuigkeit hereingefallen und schämte sich.</p>
-
-<p>Fritzchen hörte das alles mit an. Sie saß bald
-<a class="pagenum" id="page_199" title="199"> </a>
-am Ofen, bald am Fenster, bald mit am Kaffeetisch.
-Sie sprach nicht mit, sie war blaß und ruhelos. Melitta
-versuchte ein paarmal, mit ihr zu reden, aber
-sie gab kaum eine Antwort, so traumhaft dumpf war
-ihr zu Mut. Die anderen beiden beachteten sie nicht
-viel. Herr v.&nbsp;Dörfflin hatte über Kopfweh geklagt
-und war fortgegangen.</p>
-
-<p>»Was soll denn mit Hans Henning sein?« fragte
-sie plötzlich und blieb hinter einem Stuhle stehen.
-Die Frage klang wie im Zorn gerufen.</p>
-
-<p>Herr Schultze sah sie beinahe erschrocken an. »Ach,
-jedenfalls nichts. So ein Streich, wie ein junger
-Mensch mal macht.«</p>
-
-<p>Wie aus unendlicher Vergangenheit stieg das
-Bild des stürmischen Jungen vor ihr auf. Sie mußte
-sich erst wieder zurechtfinden. Der erste Klang aus
-der alten lebendigen Welt!</p>
-
-<p>Hans Henning &ndash; ja &ndash; an der Gartenmauer&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Er hatte eine verstauchte Hand&nbsp;&ndash;«, sagte sie
-langsam, wie suchend.</p>
-
-<p>»Nun, das hindert nicht am Streichemachen«,
-sagte Gisela, und die drei lachten.</p>
-
-<p>Dem Mädchen wurde es plötzlich heiß in dem
-wollenen Tuch. Sie streifte es von sich, ging hin
-und her, ging zum Fenster und zurück. So war
-sie schon die ganze Zeit über gelaufen, aber in dumpfer
-Ruhelosigkeit. Jetzt bebte und klopfte alles in
-ihr. Eine unklare Angst hatte sie überfallen, es war
-nicht mehr das Grauen von vordem, sondern ein
-lebendiges, wildes Empfinden, so, als müsse im nächsten
-<a class="pagenum" id="page_200" title="200"> </a>
-Moment die Tür aufgehen und ein Bote des
-Schreckens dort erscheinen.</p>
-
-<p>Es geschieht etwas! Es geschieht etwas! hämmerte
-es in ihr.</p>
-
-<p>Sie stand und starrte die Tür an: Jetzt muß
-es kommen!</p>
-
-<p>Es kam etwas. Die Tür ging auf. Es war
-Jakob in seiner Sonntagslivree. Leise, wie ein
-Schatten, die anderen sahen oder beachteten ihn gar
-nicht. Seine und Fritzchens Augen trafen sich unmittelbar
-bei seinem Eintritt. Er winkte ihr nur zu,
-sie verstand sofort. Es war gekommen!</p>
-
-<p>Draußen in der Halle sagte er zu ihr: »Der
-gnädige Herr ist unwohl geworden. Ich weiß nicht,
-was das ist, es sieht ganz doll aus.« Er war selber
-bleich und schlotterte an den Gliedern.</p>
-
-<p>»Wo ist er? Schnell&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Sie war schon davon, aufs Geratewohl in der
-Richtung seines Zimmers, er schoß ihr nach und hielt
-sie am Ärmel fest.</p>
-
-<p>»Gnädiges Fräulein &ndash; Fräulein Fritzchen, ich
-denke &ndash; kriegen Fräulein Fritzchen man keinen
-Schreck &ndash; es ist am Ende wohl ein bißchen
-schlimm&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte Fritzchen.</p>
-
-<p>Es war so schlimm, wie es sein konnte. Herr
-v.&nbsp;Dörfflin war vom Sofa gefallen, auf das er sich
-wohl vorhin gelegt hatte. Er lag unten auf der Erde.
-Jakob hatte den Knall gehört, war herbeigestürzt,
-hatte sich die Sache angesehen, seinen Herrn ein bißchen
-<a class="pagenum" id="page_201" title="201"> </a>
-herumgedreht und war davongelaufen. Es war
-doch eine grauliche Sache!</p>
-
-<p>Fritzchen kniete neben ihm.</p>
-
-<p>»Sofort den Doktor holen, Jakob. Sag's draußen.
-Und dann faß mit an, wir müssen Papa zu
-Bett bringen.«</p>
-
-<p>Sie beugte sich tief über ihn. »Papa!«</p>
-
-<p>Es kam keine Antwort zurück, nicht einmal ein
-Zucken. Sein Gesicht war wunderlich entstellt. Aber
-er lebte noch.</p>
-
-<p>Ehe der Mensch wiederkam, kauerte sie neben ihm,
-den Arm unter dem schweren Kopf mit den blauroten,
-gedunsenen Zügen, mit der anderen Hand tastete sie
-ihm nach dem Puls, befühlte die feuchtkalte Stirn.</p>
-
-<p>»Papa, mein Papa&nbsp;&ndash;«, murmelte sie immer
-wieder auf das leblose Gesicht nieder.</p>
-
-<p>Es kam Leben in das Haus, die Kunde flog wie
-ein wilder Vogel durch alle Räume. Es kam Hilfe,
-mehr als nötig war. Draußen wurde nach dem
-Schultzeschen Wagen gerufen.</p>
-
-<p>»Ein Schlaganfall&nbsp;&ndash;«, sagte Frau v.&nbsp;Pohle leise.
-»Ihr armen Kinder&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Wer findet sich im Wirbel solcher Schreckensstunde
-zurecht? Alles geht im Fluge, und doch kommt nichts
-von der Stelle. Man macht lauter Hantierungen,
-die nichts nützen. Man versucht dies und das, man
-steht beiseite und graut sich, oder man ringt die
-Hände und weint, was noch am wenigsten nützt.
-Da läuft Gisela durch das grüne Zimmer, wo sie vorhin
-gesessen haben, um aus Frau v.&nbsp;Pohles Stube
-<a class="pagenum" id="page_202" title="202"> </a>
-Tropfen zu holen, sie sieht noch all das Kaffeegeschirr,
-die halbgeleerten Tassen, sie steht schaudernd still, da
-hört sie Herrn Schultzes Stimme einen ganzen wohllautenden
-Satz sagen. O schrecklich, schrecklich.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle hatte in allem Schrecken und
-Wirrwarr eine stille Freude am Fritzchen. Die hatte
-wohl vergessen, daß sie fror, und all das leere Blicken
-war fort. Sie hatte warme, ruhige, treue Hände.
-Sie grauste sich nicht und schüttelte sich nicht. Sie
-heulte auch nicht, wie das dumme Mägdevolk in den
-Korridoren. Sie tat, was sie hierbei wußte und
-konnte (viel war es ja nicht), und all ihr Empfinden
-war nur ein inbrünstiges Bitten: »Papa, bleibe
-hier, lieber Papa!«</p>
-
-<p>Es vergehen hier schon Stunden, ehe der Doktor
-kommen kann. Man kann getrost über das Warten
-sterben, das ist nun einmal nicht anders. Manch
-armer Schächer im Dorf hat das schon seinem gestrengen
-Gutsherrn vorgemacht. Selbst der Förster,
-keiner von den Weichsten, hat ihm ein paarmal vorgestellt:
-»Zum wenigsten eine Diakonissin müßte her,
-gnädiger Herr.«</p>
-
-<p>Jawohl! Wer soll das bezahlen? So ein Wesens
-um das bißchen Kranksein!</p>
-
-<p>Er hatte schon recht. So ein Wesens um das
-bißchen Leben und Sterben. Was nicht mehr halten
-will, das reißt eben. Er hat auch nie geflickte Hemden
-tragen mögen. Nun behält er auch bis zum
-Schluß recht: die ganze Anstellerei hätte sich ihm
-nicht rentiert. Eine Diakonissin hätte heute auch nur
-<a class="pagenum" id="page_203" title="203"> </a>
-daneben gestanden und zugeguckt, gerade wie es am
-Ende der Doktor tat.</p>
-
-<p>Endlich war er da, aber zu sagen hatte er auch
-nichts. »Na ja &ndash; das ist eben so. Hab's schon
-lang' erwartet. Wäre es heute nicht gekommen, so
-käm es morgen, bei dieser Konstitution.«</p>
-
-<p>Im Hof rannten die Leute, alle Ställe waren erleuchtet,
-keiner wußte warum. Das war auch »man
-eben so.« Im eisigen Winde wehte der Lichtschein
-aus den Wagenlaternen des Doktors.</p>
-
-<p>»Er wird nicht mehr zur Besinnung kommen, es
-geht so hin«, sagte der Doktor. »Ich komme im
-Frühesten noch einmal heran, bis Mittag hält er es
-wohl noch aus.«</p>
-
-<p>Man trug alle überflüssige Beleuchtung heraus,
-die letzte Nacht für diesen armseligen Erdensohn brach
-an.</p>
-
-<p>Es war Fritzchen, die am besten an dies Sterbebett
-paßte. Gisela nicht, und die Frau, die in dieser
-Stunde doch eine Fremde war, auch nicht. Diese
-verstand das am ehesten. »Wir wollen uns im Nebenzimmer
-setzen«, sagte sie zu Gisela.</p>
-
-<p>»Ja, ja, Frida war ja immer sein Liebling«,
-entgegnete Gisela mit etwas sentimentaler Betonung.
-Aber die Sentimentalität war in diesem Moment
-ganz ehrlich.</p>
-
-<p>&ndash; Noch gehen die Atemzüge. Noch stöhnt und
-gurgelt und grunzt es aus der Kehle. Noch zuckt
-und arbeitet das Leben in dem Körper. Fritzchen
-sitzt auf seiner Bettkante und hält seine Hände, streichelt
-<a class="pagenum" id="page_204" title="204"> </a>
-sein Gesicht. Manchmal ist es, als ob eine Beruhigungsmacht
-von ihr ausginge auf den umflorten
-Geist.</p>
-
-<p>Nur eine verhängte Lampe brennt.</p>
-
-<p>Mein Vater &ndash; was war denn unser Leben miteinander?</p>
-
-<p>Wie leidenschaftlich wird das Fragen. Vater,
-Vater, ich hätte mehr mit Dir sein müssen.</p>
-
-<p>Sie beugt sich über das Gesicht, es zu küssen, er
-merkt es nicht mehr. Die Abrechnung an Sterbebetten,
-das ist die bitterste, aber auch wohl die
-häufigste. Wenn der alltägliche Mensch, den man
-am Alltag vernachlässigt und nicht viel geachtet hat,
-plötzlich zur Erde stürzt und sein irdisch Teil zerbricht
-und aufgibt, dann steigt er wie im Nu in seinem
-Wert und Ansehen, dann sitzt der andere da und
-schlägt sich die leeren Hände vors Gesicht: Was habe
-ich verloren! Was habe ich versäumt!</p>
-
-<p>Das ist die alte, gewöhnliche Geschichte.</p>
-
-<p>Die Nacht ist lang, es kommt auch niemand, zu
-stören. Laß das Kind mit dem Vater allein einig
-werden. Es läuft am Ende doch nicht alles nur auf
-ein Abrechnen hinaus. Es ist doch noch ein vollerer
-Ton, der erklingt, wenn von zweien der eine gehen
-will. Viel Unbewußtes, das hier klar und hell wird,
-viel leuchtende, starke Liebe, die solange schlief, viel
-Herzenskraft, die niemand verlangte und niemand
-angerufen hat.</p>
-
-<p>Eine kleine arme Handreichung, ein Helfen und
-Stützen, ein Trunk Wasser, ein beruhigendes Streichen
-<a class="pagenum" id="page_205" title="205"> </a>
-der Hand, das bloße Dabeisein &ndash; das alles ist
-in dieser Stunde das Wirkliche, das Starke, das Einigende
-für ewige Zeit über die Kluft des Todes hinüber,
-das wiegt tausend Versäumnisse auf. So groß
-und so klein das Leben &ndash; so groß und so klein sind
-seine Formen. Ewigkeit und Sekundenzeit untrennbar
-verwoben.</p>
-
-<p>Nicht im Jammer der Reue soll das Kind sich
-vom Vater scheiden. Mit den jungen, heißen, lebendigen
-Lippen küßte sie die zerfallende Form.</p>
-
-<p>»Papa, lebe wohl, mein lieber Papa.«</p>
-
-<p>Es kam schon jemand, aber der störte jetzt nicht
-mehr. Leben und Tod hatten schon ihren großen
-Bund geschlossen und saßen friedlich Hand in Hand.</p>
-
-<p>»Fritzchen&nbsp;&ndash;«, sagte leise die Eingetretene, Frau
-v.&nbsp;Pohle, »es ist Ihnen vielleicht nicht recht, aber
-Gisela hat gehandelt, ohne mich zu fragen. Sie
-meinte, es sei in der Ordnung, sie hat zu dem Pfarrer
-geschickt. Er ist schon hier und wartet.«</p>
-
-<p>Es war Morgen geworden, obwohl draußen noch
-Finsternis lag. Sie sah im schwachen Lampenschein
-die dämmernden Züge. »Er versteht ja doch nichts
-mehr, ich werde den Pfarrer zurückhalten.«</p>
-
-<p>Fritzchen sah zu ihr auf, sie ließ die sterbenden
-Hände nicht los. Ihr Gesicht hatte sich in diesem
-seltsamen Zusammensein verwandelt, es sah klar und
-groß aus. »Der Pfarrer kann kommen«, sagte sie.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle ging und holte ihn herein. Sie
-war beklommen und bange wie das Kind dort nicht
-war. Sie wußte auch nicht, ob sie recht oder unrecht
-<a class="pagenum" id="page_206" title="206"> </a>
-tat, sie konnte jetzt nichts als den großen, stillen
-Augen gehorchen und ihren Willen tun.</p>
-
-<p>Überall brannten Lampen, das ganze Herrenhaus
-war wie illuminiert. So hatte Gregor es gefunden,
-als er in eisiger Morgenfrühe den nächtlich dunklen
-Weg hinanging. Als ob es ihn zu einem hohen und
-strahlenden Feste grüßte.</p>
-
-<p>Er wartete in Herrn v.&nbsp;Dörfflins Zimmer. Noch
-hing alter Zigarrenrauch im Raum, eine halbgerauchte
-Zigarre lag im Aschbecher auf dem Sofatisch.
-Welch eine Sprache dies alles führte!</p>
-
-<p>Am Fenster stand Gisela und weinte. Seit er
-das Haus betreten hatte, war die Erschütterung übermächtig
-über sie gekommen. Es war wohl keine
-Spielerei, daß sie ihn gerufen hatte, wenn auch in
-ihrem tiefsten Winkel, wo die dunklen Motive lagern,
-solch ein Spielmotivchen vielleicht mitgefunden werden
-könnte. Aber sie hätte auch Pastor Baumann holen
-lassen.</p>
-
-<p>Unselig Herz, das zwischen Ernst und Spiel sich
-selbst nicht mehr zurechtfindet! Das sich immerdar
-so trefflich selber zu regieren wußte, bis nichts mehr
-übrig blieb, regiert zu werden, als ein Häufchen leichthandlicher
-und wechselbarer Wetterfähnchen.</p>
-
-<p>Gregor dachte nicht an sie.</p>
-
-<p>Er dachte an den Juni-Nachmittag, als er Herrn
-v.&nbsp;Dörfflin von dem Sterbebette seines Vaters hinausgeführt
-hatte, weil er kein Recht besaß, dort zu
-weilen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_207" title="207"> </a>
-Mit welchem Rechte nun ging er an dieses Mannes
-letztes Bett?</p>
-
-<p>Er war im Talar. Jawohl, er kam in der Kraft
-seines Amtes, als Diener der Kirche. Er war nur
-der Träger seines heiligen Rockes, der Vollzieher
-eines Befehles.</p>
-
-<p>Er wußte, wen er dort finden würde und bebte
-nicht.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle kam, ihn zu holen. Gisela schloß
-sich an. Da sah er das Sterbebett und daneben den
-Engel auf der Wacht.</p>
-
-<p>Er trat heran. Er sah, er konnte dem Bewußtlosen
-das Abendmahl nicht mehr reichen, noch ihm
-etwas sagen. Einen Augenblick stand er stumm, er
-dachte nun zu gehen.</p>
-
-<p>Da kam der Geist über ihn. Er öffnete den
-Mund und sprach mit gedämpfter Stimme in einem
-edlen, schönen Tonfall von dem Leben und seinem
-Wert, von dem Tode und seiner Macht und von ihrer
-beider Bund. Er sprach von der Fülle der Formen
-innerhalb des Lebenskreises, von der Unerschöpflichkeit
-und Unzerstörbarkeit des Lebens, dem selbst der
-Tod nur eine Form, seine Entwicklungsbedingung ist.
-Von der Unergründlichkeit des Werderätsels, das das
-Weltall umfaßt und an die Gottheit rührt.</p>
-
-<p>Es war keine Predigt, kühl abgewogen, auch keine
-Improvisation, bei der plötzlich der Gegenstand mit
-dem Redner durchgeht. Es war ein Anruf angesichts
-des Todes und seiner unabsehbaren Ufer. Gott! wo
-bist Du? Gott! laß uns Dich schauen! Mensch &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_208" title="208"> </a>
-wohin gehst Du? Warum warst Du? Warum bin
-ich?</p>
-
-<p>Er hörte es nicht mehr, der Ziehende. Aber er
-war es doch, der in seiner dunklen Sterbestunde den
-vier Menschen, die ihn umstanden, eine große, starke
-Gnade gab. Noch nie war in diesem Sohn der Kirche
-das Herz so heiß, so voll und groß geworden, noch
-nie hatte es, den Eispanzer sprengend, in so starken
-Tönen sein dumpfes Ringen und seine helle Erkenntnis,
-sein dunkles Glauben und seine herrliche Anbetung
-so unbekümmert und ohne Zurückhaltung verschwenderisch
-ausgeströmt.</p>
-
-<p>Zum ersten Male in seinem Leben war er von
-sich selber frei.</p>
-
-<p>Dies war die größte Stunde seines Lebens, zu
-der hinein keine Verleugnung, von der hinaus keine
-Reue führte.</p>
-
-<p>Um ihn herum aber stand das Leben wie mit
-angehaltenem Atem. Sie fühlten alle, ob groß, ob
-gering, ob armselig, ob in der Fülle des eigenen Reichtums
-erbebend, die Schauer der Ewigkeit.</p>
-
-<p>Fritzchen war vom Bettrand hinunter leise, halb
-unbewußt, in die Knie gesunken. Ihr Kopf lag auf
-der Bettdecke.</p>
-
-<p>Ja &ndash; wohl hielt ihr Leben den Atem an. Wo
-war er geblieben, ihr Spielgott, ihr Katechismusgott,
-mit dem sie haderte und dem sie an den Fingern seine
-Fehler herzählte? Gegen den sie ausschlug und andere
-arme Seelen zur Rebellion anstachelte? Dieser
-Vertreter einer menschlichen Mächtigkeit, von den
-<a class="pagenum" id="page_209" title="209"> </a>
-Grenzen menschlicher Gesetze umzogen, der Verantwortung
-und Abrechnung unterworfen?</p>
-
-<p>Schauer der Ewigkeit. &ndash; Gehen Dir die Augen
-auf, Kind der Erde?</p>
-
-<p>»Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein
-Sieg?«</p>
-
-<p>Die Worte waren verklungen. Noch mischte sich
-kaum in das Schwarz vor den Fenstern der graue
-Schein des Dezembermorgens. Still brannte die
-Lampe. Still war das Leben hier im Raum.</p>
-
-<p>Zu gleicher Zeit richteten sie sich beide auf und
-sahen einander an. Sie waren keine armen Menschen
-mehr, keine wirren und heißen Kämpfer um
-Mein und Dein, um Du und Ich, all die Angst und
-das Grauen und die schreckliche Not lag hinter ihnen.
-Als zwei erlöste Geister grüßten sie sich.</p>
-
-<p>Sie gaben sich die Hände und blickten sich lange
-an. Dann schieden sie.</p>
-
-<p>Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle &ndash; Hölle, wo
-ist Dein Sieg?</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_210" title="210"> </a>
-Vierzehntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Das Leben hatte in heiliger Stunde erschauernd
-angehalten, jetzt setzte es mit starkem Takt, mit Gewirr,
-Getön und Geklapper wieder ein.</p>
-
-<p>Ludwig v.&nbsp;Dörfflin war im Leben nicht viel gewesen.
-Nun er tot war, war der Mittelpfeiler aus
-dem Hohen-Leuckener Dasein herausgezogen, und
-alles drohte zusammenzufallen.</p>
-
-<p>Was nun? Wohin mit allem? Was wurde aus
-der Wirtschaft? Wer befahl jetzt im Hause? Wer
-gab Geld? Wer hatte Geld?</p>
-
-<p>Kaum war der Gutsherr unter der Erde, da liefen
-beängstigende Schreiben ein. Hypotheken, Ablösung,
-Kündigung, fällige Zinsen &ndash; was schwirrte
-da alles durcheinander. Es war noch acht Tage vor
-Weihnachten, da kam der Inspektor und redete von
-rückständigem Gehalt. Wo waren die Papiere? Wo
-war Geld? Wer schaffte Klarheit und Ordnung in
-diesem entsetzlichen Wirrwarr?</p>
-
-<p>Von solchen Geschäften verstand Frau v.&nbsp;Pohle
-auch so gut wie gar nichts; die beiden Kinder ahnten
-nicht einmal etwas. »Ja, ja, so geht's öfter mit plötzlichen
-Todesfällen«, sagte Herr v.&nbsp;Leisewitz-Deechow,
-den Frau v.&nbsp;Pohle in ihrer Angst am Begräbnistage
-<a class="pagenum" id="page_211" title="211"> </a>
-um Rat anging. Er hatte wohl nicht viel Lust, in
-diesen Kram die Hände zu stecken. »Nehmen Sie
-einen gerichtlichen Verwalter für die Sache«, schlug
-er vor.</p>
-
-<p>Ist ein Testament da? Ja, wo soll man suchen?
-In den Schränken liegen die Papiere herum wie
-Waschzettel, wer findet sich da hindurch?</p>
-
-<p>Jeder Briefträger bringt Rechnungen. Ein Zigarrenfabrikant
-schreibt einen groben Brief. Es ist
-eine heillose Wirtschaft, wohin man auch blickt. Frau
-v.&nbsp;Pohle schläft keine Nacht. Um Gott, die armen
-Kinder! Da kommt ja wohl eine Zwangsversteigerung
-dabei heraus.</p>
-
-<p>Gisela hat alle Farbe verloren und schleicht wie
-ein gescheuchtes Huhn einher. Den Schmerz will sie
-schon tragen, aber die Schande kann sie nicht!</p>
-
-<p>Aber es war noch nicht aller Tage Abend. Ein
-Ruck &ndash; und die wirrtolle Jagd bergab stand plötzlich
-still. Wer hat sie aufgehalten? Von wem kam der
-kräftige Ruck?</p>
-
-<p>Es war Herr August Schultze. Der war von
-anderem Holz als Herr v.&nbsp;Leisewitz. Der stand mit
-seiner untersetzten, energischen Figur neben Frau v.&nbsp;Pohle
-am Aktenschrank, nahm ihr mit seinen fleischigen
-und doch festen Händen die häßlichen, schrecklichen
-Papiere fort und sagte in dem Ton, den gutwillige
-Plebejer an sich haben, wenn sie helfen wollen und
-ihre Unentbehrlichkeit durchaus nicht zu verschleiern
-sich bemühen:</p>
-
-<p>»Das ist nichts für Sie, gnädige Frau. Da finden
-<a class="pagenum" id="page_212" title="212"> </a>
-Sie sich doch nicht durch. Wenn es Ihnen recht ist,
-nehme ich den Krempel mal ein bißchen zur Hand
-und schaffe da erst Ordnung drein.«</p>
-
-<p>Ach ja, es mußte ihr ja schon recht sein. Sie konnte
-sich hier die Helfer nicht erst aus feinen Erziehungsinstituten
-verschreiben.</p>
-
-<p>Gisela konnte aus ihrem Winkel herauskommen.
-Herr Schultze verstand sich aufs Zaubern: von der
-Stunde seiner Ankunft an ging alles unhörbar und
-sicher wie auf Rollen. Alle Angst und Unklarheit war
-wie fortgewischt.</p>
-
-<p>Er hatte sich gleich zwei seiner Schreiber herüberkommen
-lassen und sich mit denen ein paar Stunden
-eingeschlossen. Dann kam er, glänzend vor Wohlwollen
-und Frische, mit dem vergnügten Händereiben
-des Mannes, der ein Stück Arbeit hinter sich hat, in
-das Eßzimmer, wo man mit dem Kaffee auf ihn
-wartete.</p>
-
-<p>Er redete unablässig, während er es sich hier im
-Kreise der Damen wohl sein ließ, aber nur von ganz
-außenliegenden Dingen. Von seinem Gut und seiner
-Fabrik und auch mit angenehmer Offenheit von seinem
-arbeits- und erfolgreichen Lebensgang, von
-seinen kleinen mühseligen Anfängen, die durch seine
-jetzige Stellung verklärt und gekrönt erschienen.</p>
-
-<p>Von nun an hielt er das Geschick der Kinder von
-Hohen-Leucken in seiner Hand. Man hätte sich in
-diesem Falle keine bessere Hand wünschen können.
-Keine Liebe und liebenswürdige Begeisterung, keine
-Weichheit und kein Mitleid konnte so sicher, klar und
-<a class="pagenum" id="page_213" title="213"> </a>
-einzig richtig die verfahrenen Verhältnisse ordnen,
-als es dieser Mann mit dem geschäftsgewohnten Kopf
-und dem kühlen Herzen tat. Er behandelte alle Dinge
-mit der sachlichsten Ruhe, rettete der künftigen Braut
-seines Sohnes, was noch zu retten war, betrieb den
-Verkauf des Gutes nicht als eine Angstsache, sondern
-als die durch den Todesfall bedingte allernatürlichste
-Angelegenheit und band dabei durch all sein Vorgehen
-Gisela an Händen und Füßen für seinen Leopold
-fest.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle merkte dies von der ersten Stunde
-an. Gisela wußte es auch. Danach wurde es auch
-Fritzchen klar.</p>
-
-<p>Es war am heiligen Abend. Kalt, still und dunkel
-war das ganze Haus. Kein Christbaum, keine
-Lichter, nur die Dienstboten hatten sich Kuchen backen
-dürfen. Herr Schultze hatte in seiner unzarten Manier
-gedrängt, den Abend in seinem Hause mitzufeiern,
-aber Frau v.&nbsp;Pohle hatte für sich und die
-beiden Kinder voll Bestimmtheit abgelehnt. Herr
-Schultze konnte es sich jetzt schon gestatten, eine starke
-Verstimmung an den Tag zu legen.</p>
-
-<p>»Gisa«, sagte Fritzchen, als sie beide allein im
-grünen Zimmer waren, »Du wirst den Sohn von
-da drüben heiraten sollen.«</p>
-
-<p>Gisela bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie
-fühlte alle diese Tage selbst eine Qual und Empörung
-über den Zwang, der sie in etwas hineinreißen wollte,
-was sie, als freie Gnade zu vollziehen, noch gar nicht
-entschlossen gewesen war.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_214" title="214"> </a>
-»Sollen?« erwiderte sie. »Man wirbt um mich,
-das ist gewiß.«</p>
-
-<p>Ihre Art war erkünstelt, sie hätte gern Kälte und
-Hoheit gefühlt und gezeigt. Aber sie fühlte nur die
-entsetzliche Frage: Wenn nicht &ndash; was dann?</p>
-
-<p>»Tu es nicht!« rief Fritzchen.</p>
-
-<p>Sie stand auf, setzte sich zu ihr auf das Sofa und
-schmiegte sich an sie.</p>
-
-<p>»Gisa &ndash; fort müssen wir ja nun beide. Hier
-ist's nun wohl aus. Wie es wird, weiß ich nicht. Aber
-geh nicht zu den Schultzes!«</p>
-
-<p>Matt &ndash; nicht heftig und ohne sich von ihr loszumachen,
-entgegnete Gisela: »Ach, Frida, Du verstehst
-ja nichts. Du siehst nur den Augenblick, nicht
-das weite, lange Leben. Wenn alles geordnet sein
-wird, werden wir ein paar arme Mädchen sein, Fritz.«</p>
-
-<p>»Ja. Laß das doch. Was schadet es? Wir sind
-ja gesund. Andere Mädchen haben auch kein Geld.
-Besser, als aus Not und Angst irgend einen reichen
-Mann zu heiraten, ist das doch immer noch.«</p>
-
-<p>»Du verstehst nichts!« sagte Gisela noch einmal.
-»Wir haben ja nichts gelernt, willst Du Wirtschaftsstütze
-werden oder alten grilligen Damen vorlesen
-oder als Kinderbonne Dich plagen? Und wer weiß,
-ob wir auch davon etwas verstünden oder nur angenommen
-würden.«</p>
-
-<p>»Gisa!« rief Fritzchen mit wachsender Angst, umklammerte
-sie mit beiden Armen und rüttelte sie, als
-wolle sie sie aus einem schweren Schlaf aufrütteln,
-»es ist nicht möglich, Du kannst nicht, Du kannst nicht
-<a class="pagenum" id="page_215" title="215"> </a>
-das wollen, aus bloßer Verzagtheit und Angst vor
-harten Stunden Dich selber einem Manne schenken,
-den Du gar nicht einmal lieb hast! O Gisa, besinn
-Dich doch nur, das ist ja grenzenlos schlecht und unwürdig!
-Du entehrst Dich und ihn! Was soll das
-werden Euer ganzes Leben hindurch &ndash; Gisa, ich will
-für Dich mitarbeiten, Du sollst sehen, daß ich's kann!
-Ich habe Kräfte und mir ist jede Arbeit gleich. Ein
-bißchen Geld bekommen wir doch auch noch mit, wenn
-alles verkauft wird. Gisa, <em class="ge">das</em> wäre die ärgste Rache,
-die Du an Papa nehmen könntest! Das ist überhaupt
-das Niedrigste und Schlechteste, was es auf
-Erden gibt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Laß los! Frida! Was fällt Dir ein! Du drückst
-mich ja! Laß los! Was weißt Du, Kind&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Du bist auch nur augenblicklich in Sorge, und
-alles ist so dunkel. O tu nur das eine, Gisa, tu keinen
-übereilten Schritt. Laß Dir Zeit, dann wirst Du selber
-sehen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gnädige Fräulein, da ist noch 'n Weihnachtsbesuch«,
-sagte Jakob in der Tür. Man hatte das
-Knirschen von Rädern im Kies nicht gehört. Er hielt
-die Tür auf als ein fühlender Sklave, der schon im
-voraus katzbuckelt, aus der Fülle seiner Ahnungen
-heraus.</p>
-
-<p>»Ach, Herr Schultze&nbsp;&ndash;«, sagte Gisela in grenzenloser
-Bestürzung und machte sich aus der Umschlingung
-der Schwester los.</p>
-
-<p>Es war der junge Herr, Leopold, und er kam
-als Freier. Das sah Jakob, das sah Gisela, das sah
-<a class="pagenum" id="page_216" title="216"> </a>
-Fritzchen. Die Stufen vor der Haustür hätten es
-sehen müssen, so prangte es aus ihm heraus.</p>
-
-<p>Es war heiliger Abend, bei ihm zu Hause brannte
-der Christbaum, nun holte er sich nur noch die Braut
-dazu. Papa hatte es ihm geraten. So war alles in
-schönster Ordnung.</p>
-
-<p>»Ich erlaube mir, den Damen meine Weihnachtsgrüße&nbsp;&ndash;«
-Er kam ins Stottern, es wehte doch wie
-ein frostiger Empfang von der erschreckten Gisela her.
-Herr Leopold hatte schwache Instinkte, sonst hätte er
-gemerkt, daß jetzt der unpassendste Moment war, den
-es geben konnte, er hätte Kehrt gemacht und sich lieber
-der Blamage vor dem Papa ausgesetzt, als länger
-dazustehen und den unwillkommenen Liebhaber abzugeben.</p>
-
-<p>Da kam Frau v.&nbsp;Pohle herein. Sie hatte das
-Rädergeräusch gehört und nahm an, daß ihre Gegenwart
-jetzt nützlich sei. Im übrigen war sie in dieser
-Angelegenheit nicht leidenschaftlich und abwehrend wie
-Fritzchen. Sie fand: Wenn Gisela diesen Bund eingehen
-wollte, so war weiter nichts verloren, was man
-durch Hinderung ihres Vorhabens hätte retten können.
-Sie war eine kühle alte Dame, die die Dinge
-nicht mehr wichtiger nimmt, als sie sind. Will ein
-Mädchen lieber einen Geldsack heiraten, als arbeiten
-und Mühsal tragen, so soll man sie um Gottes willen
-lassen. An einer unwilligen und verzagten Mühsalträgerin
-gewinnt das Reich Gottes und das Menschenreich
-nicht viel. Laßt sie doch heiraten, zur
-Puppe werden und kleine Puppen kriegen. Wir sind
-<a class="pagenum" id="page_217" title="217"> </a>
-auf Erden nicht so arm an guten, starken und blühenden
-Elementen, daß wir uns um die Masse der
-Zweifelhaften, Halben und Matten die Arme ausrenken
-müßten. »Wir« überhaupt! »Wir« können
-gar nichts. Gisela heiratet doch &ndash; Fritzchen reißt
-doch Himmel und Erde ein, um es sich selber neu
-aufzubauen. &ndash; »Wir« sind nur zum Zugucken da.
-Also ruhig Blut.</p>
-
-<p>Sie übersah sogleich die Sachlage. Der Liebhaber
-als etwas unglückliche Figur, Gisela betroffen
-und ein Bild der Unschlüssigkeit, Frida kriegerisch
-bis zum äußersten.</p>
-
-<p>Was ist es doch für eine treffliche Sache um die
-gute Erziehung! Man braucht gar keine geistige,
-seelische oder moralische Anstrengung, um als Frau
-von Welt solche Verlegenheitsbilder zurecht zu rücken.
-Frau v.&nbsp;Pohle bat, zu Tisch zu kommen. Sie war
-etwas stark »erstaunt« über den Besuch zu dieser
-Stunde, ließ ihn sanft und nachdrücklich fühlen, daß
-seine ungenügende Kenntnis der guten Form ihm
-hier einen kleinen Streich gespielt habe, begnadigte
-ihn dann aber immerhin wieder, indem sie ihn zu
-Tische lud. Die allgemeine Schwüle war abgelenkt,
-aber die Tatsachen blieben alle, wie sie waren.</p>
-
-<p>Folgendes war das Bild dieses Abends.</p>
-
-<p>Fritzchen, wie in Wehr und Waffen, bereit, jeden
-Augenblick loszuschießen, sobald eines von beiden dem
-Kernpunkt näherrücken würde. Herr Leopold, die
-Unglücksfigur des Abends, sich windend und würgend,
-als hätte er einen schlechtsitzenden Kragen um.
-<a class="pagenum" id="page_218" title="218"> </a>
-Gisela, allmählich aus der Verwirrung zu sich kommend,
-ein Zwitter zwischen Trotz und Ergebung, und
-Frau v.&nbsp;Pohle, über dem allen, die Oberfläche beständig
-glättend und sich um das Brodeln der Tiefe
-kein Herzklopfen machend.</p>
-
-<p>Sie sah mit einem innigen Lachen des Herzens
-auf ihren jungen Liebling am Tisch. Ach, es ist so
-wonnig schön, wenn man noch nicht mit seiner Kraft
-herumpufft, als hätte man einen Vorrat von Ewigkeit
-daran! Wenn man sich um irgendeine wildfremde
-Sache, die man nicht kennt noch übersieht, mit
-seinem ganzen Menschen ins Zeug legt und mit so
-prachtvoller Zuversicht an den Sieg glaubt! Die
-Jahre des Lächelns und Müdewerdens und Stilleseins
-kommen immer noch früh genug. Heil und
-Leben, wenn ihnen solche unsinnige, gedankenlose
-Kraftverschwendung brausend erst voranging!</p>
-
-<p>Schlage Du Dich auch nur mit Deinen Enttäuschungen
-herum, Du, mein schönes Kind! Liege
-am Boden und schreie vor Wut, Empörung und
-Schmerz! Es gehört alles mit dazu. Wir sollen
-Dich alle beneiden um die Kraft, mit der Du Dein
-Leben lebst.</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash; Und an dem Abend vollzog sich die Tatsache
-doch noch.</p>
-
-<p>Leopold Schultze fühlte sich beständig von der
-Erwartung seines Papas gejagt. Er hatte immer
-dessen Hand im Nacken, sonst wäre die Entscheidung
-doch wohl noch verschoben worden. Aber das stärkte
-seine Schüchternheit wie Alkohol, er rannte einfach,
-<a class="pagenum" id="page_219" title="219"> </a>
-wie mit zugekniffenen Augen darauf los. Das Fritzchen,
-vor dem er sich fürchtete, brauchte nur einmal
-aus der Tür zu sein, Frau v.&nbsp;Pohle zur Seite zu
-gucken, da flüsterte er wie im Sturm seine auswendig
-gelernte Werbung her. Gisela wurde wie mit Blut
-übergossen, sie sagte nicht Ja, nicht Nein. Das war
-ja nun aber auch Nebensache, die Hauptsache, die Erklärung,
-war geschehen.</p>
-
-<p>So sicher ritt dieser schüchterne Jüngling auf seines
-Papas dickem Geldsack einher!</p>
-
-<p>Von nun an versank er in ein seliges, befriedigtes
-Schweigen. Nach Tische, beim Durchschreiten
-eines dunklen Zimmers, faßte er sie um und küßte
-ihren Mund. Sie wehrte sich, halb entsetzt, aber das
-ist ja immer so. »Süße Gisela&nbsp;&ndash;«, flüsterte er.</p>
-
-<p>Als sie in die Helle traten, strich sie sich mit einem
-tiefen Aufatmen über das Gesicht.</p>
-
-<p>Nun war es also doch so gekommen. Doch es
-konnte ja auch nicht anders sein. Gut, daß die Entscheidung
-vorüber war.</p>
-
-<p>»Noch nichts sagen!« bat sie ihn.</p>
-
-<p>»Aber bald &ndash; bald!« flehte er dagegen.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Pohle sah sich nach ihnen um.</p>
-
-<p>»Na ja!« dachte sie nur.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_220" title="220"> </a>
-Fünfzehntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Schloß Hohen-Leucken, das Dorf, das Moor, der
-See, die Pferde und Hunde, die Leute, der alte klobige
-Turm &ndash; das hat aufgehört zu existieren. Es
-ist wie ein Bild, das im Nebel zergeht.</p>
-
-<p>Es wird Sommer über dem Moor, das Gras
-steht hoch, die Käfer schwirren, der alte Kahn zieht
-sich ganz voll Wasser und liegt auf dem Grunde &ndash;
-kommt denn das Fritzchen noch immer nicht, das hier
-zum Sommer gehört wie Gras und Käfer?</p>
-
-<p>Der alte wilde Garten ist neu angelegt, ein Tennisplatz
-ist darin abgezäunt. Darin spielen weißbeschuhte
-Herren und junge Damen den halben Tag.
-Es sind jetzt überall neue große Fensterscheiben eingesetzt,
-der Turm dient zu Logierzwecken und hat
-elektrische Leitung.</p>
-
-<p>Wie heißt die neue Herrschaft? Es kommt nicht
-darauf an, Schmidt oder Schneider oder noch anders.
-Wenn sie sonst nur gut sind, aber die Leute im Dorf
-merken nicht viel davon. Man kennt das nicht von
-der Stadt her, daß man sich persönlich um die Leute
-kümmert. Früher ist es nichts großes gewesen, wenn
-das Fräulein Fritzchen eine Suppe gebracht hat und
-<a class="pagenum" id="page_221" title="221"> </a>
-selber am Herde gestanden hat und gekocht. Jetzt
-reden sie davon, wie wenn sie Märchen erzählen.</p>
-
-<p>Der Jakob kann einem leid tun. Ein Höhenmensch
-war er ja gerade nicht, aber doch ein alter
-braver Knecht. Er lief davon, wenn sein Herr vom
-Sofa fiel, aber die Stiefel hielt er noch immer blank
-und war so zuverlässig, wie ein alter Kettenhund.
-Der hatte sich auch wunders gedacht, was er war, und
-nun war er nichts. Der neue Herr Schneider oder
-Schmidt oder Sonstwie wollte ihn nicht haben, der
-hatte selber einen Diener, der anders fliegen konnte
-als dies Klappergestell. Am Ende konnte der Jakob
-ins Dorf gehen und sich von seiner alten Mutter füttern
-lassen, wenn er nicht auf Tagelohn gehen wollte.
-So ging er eben auf Tagelohn mit dem Dorfpack zusammen.
-Das war auch ein Trauerspiel aus unseres
-Herrgotts Druck und Verlag.</p>
-
-<p>Rechts herum geht's zum Pfarrhaus. Die jungen
-kichernden Töchter gehen mit ihren Freundinnen die
-Dorfstraße entlang und stoßen sich an.</p>
-
-<p>»Da wohnt »er«!«</p>
-
-<p>Das ist nämlich auch noch etwas, hier auf dem
-Lande, der interessante Prediger, mit der Hof-Vergangenheit!
-In den Einladungsbriefen der Backfische
-wird das besonders erwähnt.</p>
-
-<p>Viel Dorfleute sind Sonntags nicht in der Kirche,
-aber die rosa und hellblauen und weißen Backfische
-sind vollzählig. Ein paar junge Herrchen aus Eifersuchtsgründen
-sind auch regelmäßig dabei. Das ist
-ein Zublinzeln und verhaltenes Kittern, ein Augenverdrehen
-<a class="pagenum" id="page_222" title="222"> </a>
-und Schmachten, daß die Leute heraufsehen
-und sich wundern.</p>
-
-<p>Das ist nun Herrn Gregors Arbeitsfeld!</p>
-
-<p>Wenn ihm übel werden will und matt bis zum
-Tode, geht er stundenlang über die Felder. Er kommt
-dann auch jedesmal über den Böllinger Kreuzweg, wo
-Möt über den Graben setzte. Möt ist jetzt zahm geworden
-und geht im Ackergeschirr.</p>
-
-<p>Ist das auch das Ende aller unserer Weisheit
-nach den Stürmen und tollen Sprüngen unserer
-schönen Zeit?</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Aber es ist viel untergegangen, doch nicht die Kraft
-und die Herrschaft.</p>
-
-<p>Kennst Du den Rausch der Selbstüberwindung?
-Kennst Du den Triumph, der höher ist als alle Kränze
-des Lebens, wenn der Mensch von sich selber frei wird?</p>
-
-<p>Königlich ist die Unabhängigkeit von den eigenen
-Wünschen. Sie ist mächtiger als das Schwert in der
-Brust, und sie spottet der Dornen unter den Füßen.</p>
-
-<p>Die jungen Kinder eines hohlen Daseins schmachten
-ihn an und verdrehen sich nach ihm die Hälse.
-Sie wissen nicht, wen sie verehren. Seine Welt kennen
-sie nicht, und kennten sie sie, so würde ihnen
-grauen vor ihrer übermenschlich stolzen, kalten Einsamkeit.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Doch eine einsame alternde Frau, die Mutter dieses
-Mannes, konnte ihm auf dem schmalen Wege nicht
-<a class="pagenum" id="page_223" title="223"> </a>
-folgen. Sie saß in ihrem leeren Hause und hielt nur
-abgerissene Fäden in ihrer Hand.</p>
-
-<p>Die beiden Söhne fort. Der eine, der nahe, den
-sie alle Tage sehen konnte, wohl noch am weitesten.
-Worte sind nichts, sie sind wie ein Schrei, ausgestoßen
-auf schwindelnder Bergeskuppe, verflatternd in der
-leeren, unendlichen, stummen Weite. Tränen sind
-nichts. Ach, was fragte dieser Sohn nach den Schmerzen
-der Zurückbleibenden da unten im Tal?</p>
-
-<p>Es war eine Mutterqual, die sich durch dies ganze
-Leben gezogen hatte. Nun war dies Leben müde davon.
-Es brachte kaum noch Angst und Erregung für
-den zweiten der Söhne auf.</p>
-
-<p>Hans Henning hatte geschrieben. Nach vielen
-Nachforschungen, Besorgnissen und Ratlosigkeiten
-wirkte der Brief fast wie eine Ernüchterung auf sie.
-Stempel Lissabon. Die Form kurz bis aufs äußerste.
-Er habe den Abschied schriftlich genommen und sei jetzt
-auf einer Reise um die Erde. Nach Jahresfrist oder
-etwas später werde er kommen und das Gut übernehmen.
-Geldmittel habe er sich bei dem Freunde des
-Vaters, Herrn So und so, verschafft, er bitte, sie ihm
-zurückzuerstatten. &ndash; Weiter nichts. Nicht einmal den
-Namen seines Dampfers hatte er genannt, keine
-Adressen angegeben, jegliche Möglichkeit einer Verbindung
-bis zu seiner Rückkehr total abgeschnitten.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Zülchow fragte: »Gregor, hast Du einen
-Streit mit Hans gehabt?«</p>
-
-<p>»Ja«, entgegnete er. »Aber es war ein Mißverständnis
-von ihm.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_224" title="224"> </a>
-Ein feines, brennendes Rot überzog ihr Gesicht,
-als sie mit großer Überwindung, und doch getrieben
-von ihrer Begier, nicht außen zu stehen, fragte: »Ist
-es &ndash; Gregor, Du mußt diese Frage verstehen &ndash;
-handelt es sich um die jüngste Dörfflin hierbei?«</p>
-
-<p>»Ja, Mama«, sagte Gregor ruhig.</p>
-
-<p>Sie wollte noch Tausendfaches fragen, aber sie
-wußte nicht wie, und sie blieb stumm. Das hatte sie
-jetzt gelernt in ihrer schweren Zeit.</p>
-
-<p>Abgerissene Fäden hielt sie in der Hand. Auch
-der Hans, dessen Liebe und fröhlicher Gegenwart sie
-so sicher, fast gleichgültig sicher gewesen war, hatte den
-seinen abgerissen. Der Mann, ihr Gatte, der ihr ganz
-zugehört hatte, war tot. Wo war all der Besitz hin,
-in dem man einst wie in einem blühenden Ährenfeld
-stand?</p>
-
-<p>Sehnsucht nach Hans &ndash; das war jetzt wohl noch
-das einzige, was Sinn und Lebenszweck hatte. Diese
-Tränen brannten wenigstens das Herz nicht aus. Sie
-suchte die Erinnerungen an Hans zusammen, die Kinderbildchen
-und ähnlichen Kram. Sie saß stundenlang
-und grübelte, um sich seine Worte, Handlungen,
-Bewegungen ins Gedächtnis zurückzurufen und konnte
-es kaum fassen, wie verschwenderisch sie früher gewesen
-war.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Gisela v.&nbsp;Dörfflin gab es nicht mehr. Dafür eine
-junge Frau Schultze auf Gut Böllingen. Der Papa
-hatte seinem Sohn das Gut und auch die Zuckerfabrik
-<a class="pagenum" id="page_225" title="225"> </a>
-überlassen und war mit Frau und Tochter zu einem
-seiner anderen Fabriketablissements übergesiedelt. Nun
-konnte das junge Paar nach einer oberitalienischen
-Hochzeitsreise »in ungestörtem Zusammensein seine
-Flitterwochen verleben.«</p>
-
-<p>Süße Zeit. Gisela fand sie auch süß genug. Ach,
-man mag die Seele aufspannen, wie man will, die
-sieben fetten Jahre nach den sieben mageren Jahren
-sind doch nicht nur ein Tand, den man sich ohne
-Zucken vom Ärmel schütteln kann. Fritzchen weiß so
-etwas noch nicht, es liegt auch zum großen Teil an
-ihrer mangelnden Weltbildung.</p>
-
-<p>Reisen &ndash; reisen! wohin man will, immer in die
-besten Hotels, immer an gebückten Kellnerhäuptern
-vorüber. Kunstschätze, Naturschätze sehen, ohne auch
-nur an das Geld denken zu brauchen. Einkaufen nach
-Belieben und mehr als man beliebt, so beflissen kommt
-Leopold jedem Wunsch zuvor. Die ganze Welt in
-ihrer Schönheit steht plötzlich offen. Liebe Seele, es
-ist doch noch eine große Frage, ob Dein Handel so
-schlecht war und ob der Einsatz nicht reichlich den Gewinn
-lohnte!</p>
-
-<p>Ja, Gisela Schultze muß ja am besten wissen, wie
-hoch ihr Einsatz gilt.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Insofern hatte Frau v.&nbsp;Pohle recht: solch ein
-Handel geht meistens richtig auf, und der Verkäufer
-weiß schon so ungefähr, was seine Ware wert ist.</p>
-
-<p>Mit diesem Knalleffekt konnte Frau v.&nbsp;Pohle
-abgehen, die Rolle in diesem Hause, die sie so stark
-und mit ihrem ganzen Menschen gespielt hatte, war
-<a class="pagenum" id="page_226" title="226"> </a>
-aus. Sie mußte sich eine neue Stellung suchen, das
-war für sie wohl eine leichtere Aufgabe als für ihr
-liebes Herzblatt, das Fritzchen, das jetzt in der gleichen
-Lage war. Sie hatte Referenzen und Erfahrungen,
-und Fritzchen hatte beides nicht.</p>
-
-<p>Vielleicht konnte diese als arme Verwandte bei
-den Schultzes bleiben? Inmitten ihres großen
-Schmerzes lachte Frau v.&nbsp;Pohle laut bei diesem Gedanken.
-Ja, da kennt Ihr mein Fritzchen schlecht!
-Arbeit und Mühsal kann sie viel ertragen und es wird
-denen, die sie lieb haben, weher tun als ihr, aber ein
-weiches Bett sucht sie sich nicht.</p>
-
-<p>Das war Frau v.&nbsp;Pohles Zuversicht und Stärkung
-in den schweren Tagen, als der Abschied kam
-und die Zukunft sich dunkel und verworren auftat.</p>
-
-<p>Herr v.&nbsp;Leisewitz-Deechow hatte in Berlin eine
-alte Cousine, die kränklich, halbblind und hilfsbedürftig
-war. Mit ihrer letzten Gesellschafterin hatte eben
-eine trubulöse Entzweiungs- und Verabschiedungsszene
-stattgefunden. Herr v.&nbsp;Leisewitz war noch etwas
-von seinem Gewissen geplagt, als er Herrn Schultzes
-rührige Helferschaft und den darauf eingeheimsten
-Heiratslohn gesehen hatte. Nun wollte er sich wenigstens
-um Fritzchen bemühen und verfiel als erstes
-Bestes auf diese Stellung bei seiner alten Cousine, die
-ein sehr hohes Gehalt zahlte und dafür sehr starke
-Anforderungen stellte, von denen er freilich nichts
-wußte. Sollte aber Fritzchen für ihre alten Tage
-sichergestellt sein, so mußte sie jetzt schon einige Jahre
-zusehen, wo sie Geld her bekam.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_227" title="227"> </a>
-Es war damals auch der Wundermut und die Begeisterungskraft
-in ihr, die oft aus der einfachen
-Gegensätzlichkeit entspringen. Daß Gisela solchen unwürdigen,
-armseligen Entschluß gefaßt hatte, straffte
-<em class="ge">ihr</em> das Herz. Nun gerade! Sie hätte am liebsten
-Steine gekarrt in dieser brausewütigen Wallung.</p>
-
-<p>Aber der öde Werktag mit seiner unfruchtbaren
-Mühe hatte etwas Niederziehendes. Wie oft nachher,
-erst im heißen Sommer, dann im kalten Winter, wenn
-sie spät abends in ihrer schlechten, engen, fast unheizbaren
-Stube saß, todmüde vom vielen Laufen, Treppensteigen,
-Besorgen, heiser vom ewigen Vorlesen,
-dumpf vom leeren Geschwätz &ndash; wollte ihr der Wundermut
-oft elend zusammensinken. Aber der große
-Sturm, der sie wachgerüttelt hatte, ließ sie auch hier,
-in der freudlosen Vereinsamung, nicht untergehen.</p>
-
-<p>Erst, als sie noch ein Kind an der Seele gewesen
-war dem Unbegreiflichen und Zermalmenden gegenüber,
-war das Grauen vor dem Tode über sie gefallen.
-Aber in jener wunderbaren Nacht hatte das allmächtige
-Leben es besiegt.</p>
-
-<p>Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein
-Sieg?</p>
-
-<p>Es ist keine Zeit da für andere Dinge. Unsere
-Wünsche, unsere Sehnsucht, unsere Schmerzen verstummen
-alle vor dem großen klaren Gesicht des
-Lebens.</p>
-
-<p>Das war die große Befreiung, die für diese arme
-Seele gekommen war. Nun brauchte sie keine Erfüllung
-<a class="pagenum" id="page_228" title="228"> </a>
-mehr, noch Schutz, noch Hilfe, noch Trost. Sie
-hatte das Entsetzen verloren, nun sah sie in reinerem
-Licht unvergänglich und unverlierbar den wieder,
-dem ihr Herz seine junge starke Liebe gegeben hatte,
-jene stolze Liebe, die unabhängig ist vom Ja und Nein
-der Tatsachen, vom Echo des eigenen Schalls.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_229" title="229"> </a>
-Sechzehntes Kapitel.</h2>
-
-
-<p>Es ging mehr als ein Jahr herum.</p>
-
-<p>Auch in der eisigklaren Region des Weltüberwinders,
-der in sich das Herz erfrieren ließ, um der
-Schmerzen spotten zu können, gab es noch Stufen der
-Entwicklung und Klärung.</p>
-
-<p>Wohl ist die Askese stark wie süßer Wein, aber
-Rausch ist nicht Wirklichkeit, und nur die Wirklichkeit
-befreit.</p>
-
-<p>Pfarrer Gregor hörte auf, sein Leben hier auf
-dem Dorfe als seinen Zweck und Abschluß anzusehen,
-wie man aufhört, Arznei zu trinken, wenn die Gesundheit
-kommt.</p>
-
-<p>Er war ein ungenügender Dorfprediger, das Volk
-verhungerte bei seiner nutzlosen Mühe. Sein Weg
-im Leben lag wo anders, da wo er seine Gaben und
-Kräfte in Wahrheit nutzbar machen konnte. Er arbeitete
-an einem Werk, das ihm die Professur einbringen
-würde, wie er, gestützt durch seine Verbindungen,
-ziemlich sicher annehmen konnte.</p>
-
-<p>Es war ein kühles, frisches Arbeiten. Er war
-erlöst von der Zwiespältigkeit in sich, von der Welt
-der Leidenschaften, von Liebe und Haß. Er stand,
-abgelöst von der Welt, wie ein hoher Berg mit Schnee
-<a class="pagenum" id="page_230" title="230"> </a>
-auf dem Gipfel. So hatte er seines Wesens Art gefunden.</p>
-
-<p>Da kam ein leuchtender Septembertag. Gregor
-hatte fast die ganze Nacht gearbeitet, bis zum Morgen
-ein halb Fünf, als es schon hell zu werden begann.
-Da war sein Werk fertig und vollendet!</p>
-
-<p>Er hatte sich niedergelegt und zwei Stunden fest
-und tief geschlafen.</p>
-
-<p>Er erwachte. Die Sonne schien ihm bis auf das
-Bett, ein hohes Glücksgefühl war in ihm. Er kleidete
-sich an und ging hinaus.</p>
-
-<p>Weit und klar dehnte sich der Horizont. Es war
-eine Frische über dem Lande, die wie lauter Lebensodem
-in die Lungen drang. Er schritt durchs Dorf,
-er sah die Menschen nicht, die ihn grüßten.</p>
-
-<p>Und wieder kam er über den Böllinger Kreuzweg,
-aber er wußte nichts mehr von Möt und von dem
-wildschönen Bilde, das einstmals hier an ihm vorbeigebraust
-war.</p>
-
-<p>In der Morgensonne, von Tau übersät, blinkte
-das Moor. Dahinten lief der Fahrweg nach Rummelshof.</p>
-
-<p>&ndash; Rummelshof, Hohen-Leucken, die Mutter,
-Hans, Prinzeß Maria und Fritzchen &ndash; es sind alles
-zerflossene Bilder. Sie mußten zerfließen, damit das
-klare reine Bild des abgelösten Lebens entstand.</p>
-
-<p>Er ging lange umher, bewegt von seinem Siege,
-und doch schon zu frei, um noch stolz zu sein. Schon
-war das Errungene, das Gewordene: Das Selbstverständliche.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_231" title="231"> </a>
-&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Was war es an der Zeit? Vielleicht
-schon gegen Mittag, er hatte seine Uhr vergessen.</p>
-
-<p>Da kam jemand über das Stoppelfeld daher, im
-Lauf. Wer läuft denn so? Vor Jahren hat es so
-einen gegeben. Jawohl, der ist nun wieder zurück:
-Hans Henning.</p>
-
-<p>Er blieb stehen. Willst Du zu mir? Es ist jetzt
-nicht mehr viel zu holen, von Bruder zu Bruder. Es
-ist mittlerweile der Frost übers Land gegangen.</p>
-
-<p>»Steh still! Steh still!« rief der von weitem.
-Nun ja, er stand ja schon lange still. »Laufe doch
-nicht so! Ich warte ja!«</p>
-
-<p>Es stand ein alter Weidenbaum am Feldweg, der
-war von oben bis unten aufgeschlissen, und die Hütekinder
-spielten darin Verstecken zur Sommerszeit.
-Es war an diesem Weidenbaum, daß sich die Brüder
-trafen.</p>
-
-<p>»So bist Du jetzt zurück, Hans?«</p>
-
-<p>Hans Henning war rot im Gesicht wie gesotten
-und er mußte nach Atem ringen, da er still stand.
-Er war sehr verändert, mager und verbrannt. Das
-Haar war lang gewachsen, und um den Mund hatte
-er einen wunderlich wilden Zug. Gregor sah auf die
-linke Hand, die so seltsam niederhing. »Hans, was
-ist mit der?«</p>
-
-<p>»Lahm geblieben von damals her. Rede nicht
-davon, ich habe andere Dinge vor.«</p>
-
-<p>»Hans, wir wollen uns doch erst begrüßen.«</p>
-
-<p>»Jawohl!« rief der andere überlaut in einem
-unheimlichen Ton. »Ich will Dich schon begrüßen,
-<a class="pagenum" id="page_232" title="232"> </a>
-aber nicht mit Händedruck. Sage mir &ndash; wo hast
-Du Dein Weib?«</p>
-
-<p>»Mein Weib?«</p>
-
-<p>»Wo hast Du Dein Weib &ndash;&nbsp;&ndash; Schuft! Bin
-ich darum im Jammer in die Welt gerannt als lächerlicher
-elender Liebhaber, dessen Schatz schon einem
-andern gehörte, daß ich nun wiederkomme und finde
-sie als Dienstmagd wieder, in einem Loch von Stube
-&ndash; und der edle Herr, der sie geküßt hat &ndash;&nbsp;&ndash; Gregor,
-mit welchem Recht hast Du sie geküßt?«</p>
-
-<p>Gregor trat einen Schritt zurück, seine Augen
-wurden nach dem ersten Aufleuchten wieder um einen
-Schein kälter. Was warf sich ihm hier von neuem
-in seinen Weg?</p>
-
-<p>»Ich brauche auch keine Antwort!« rief der andere
-mit wildem Lachen. »Ich wollte Dich nur noch einmal
-wiedersehen &ndash; Dich Teufel, der mein und meines
-kleinen Fritz Leben zerstört hat&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er verstummte einen Augenblick, überwältigt von
-alten Gefühlen. »Ich suche Dich schon lange&nbsp;&ndash;«,
-sagte er mit wankender Stimme. »Ich mußte Dir
-doch erzählen, was aus ihr geworden ist, seit Du sie
-fortgeworfen hast wie eine leere Nußschale. Gestern
-habe ich sie gesehen! Der Leisewitz von den Dragonern,
-den ich traf, hat es mir erzählt, wo sie ist und
-&ndash; was sie ist. Willst Du's auch hören? Die Dienerin
-eines alten, grämlichen, kleinlichen Weibes! Aber
-eine stolze Dienerin, bei Gott! Die arme Hilfe, die
-ich ihr anbieten konnte &ndash; na, lassen wir das. Ich
-konnte sie ihr ja auch nur mit der einen Hand anbieten
-<a class="pagenum" id="page_233" title="233"> </a>
-&ndash; Aber wem erzähle ich das, Du kaltes Gesicht&nbsp;&ndash;!«</p>
-
-<p>Gregors Ausdruck riß alles wieder um. Besinnungslos
-kam die Wut über den Jungen. »Du
-Gesicht &ndash; Du Gesicht &ndash; ich will Dich lehren, zu
-blicken&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er ballte die Faust und schlug blindrasend dem
-Bruder ins Gesicht. Der taumelte zurück und schrie
-auf. Die Brille flog in Scherben nach allen Seiten.</p>
-
-<p>»Ei ja!« rief Hans Henning laut gellend. »Das
-kann ich doch noch mit der einen Hand! Wird Dir
-jetzt bei Deiner Gottähnlichkeit bange?«</p>
-
-<p>Dann warf er noch einen Blick auf ihn zurück, der
-wie ein Trunkener taumelte und sich Stirn und Augen
-mit den Händen bedeckte.</p>
-
-<p>»Jetzt habe ich genug&nbsp;&ndash;«, sagte Hans Henning
-mit veränderter, schwerer Stimme. »Jetzt gehe ich
-nach Hause und arbeite und mache aus meinem Leben
-das Anständigste, was ich noch kann. Lebwohl! Ich
-hasse nicht mehr. Vielleicht kommt auch noch einmal
-ein Tag, an dem ich nicht mehr liebe.«</p>
-
-<p>Er wandte sich ab und ging davon. Gregor nahm
-die Hände von der dröhnenden Stirn, von den matten
-Augen, die der Gläser beraubt waren, und sah
-ihm nach.</p>
-
-<p>Er fühlte nicht Schmach oder Zorn. Noch einmal
-hatte sich mit seiner ganzen Wucht das Leben über ihn
-geworfen, ehe es ging und ihn in der Eiswüste zurückließ.</p>
-
-<p>Bange vor der Gottähnlichkeit &ndash; hatte Hans gesagt.
-<a class="pagenum" id="page_234" title="234"> </a>
-O ja, dies Bangen wird aufwachen, noch immer
-wieder, je und je, mitten wohl in seinen Königsstunden
-&ndash; eine niemals ganz verlöschende Erinnerung
-an das Leben, das er verraten und verleugnet hat.</p>
-
-<p>»Vielleicht hättest Du noch besser treffen sollen,
-mein wilder Hans!« dachte er.</p>
-
-<p>Dann wandte er sich und ging in entgegengesetzter
-Richtung davon.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Vor Zeiten gab es einmal eine verqualmte Herrenstube
-in einem windverlorenen alten Haus. Da
-saß ein rotes, rundes, schläfriges Gesicht und blinzelte
-verstohlen seine junge Gefährtin an. Jetzt ist kein
-Qualm in der Stube, auch kein rotes Junkergesicht,
-und der wilde Wind kann hier nicht herein. Aber
-Frida v.&nbsp;Dörfflin hört ihn doch, wie er über das
-Moor pfeift, und weiß, was er ihr zu sagen hat.</p>
-
-<p>O Du webende, wogende, wallende Phantasie!
-Bist Du noch dieselbe, die in der Turmstube mit am
-Fenster stand, als die Wolken gingen? Zeige Dein
-Gesicht!</p>
-
-<p>Die Frage kommt zurück: Bist denn Du noch dieselbe,
-Du Ungestüm?</p>
-
-<p>Das wird ein wunderbares Wiedersehen! Sie
-sind ja beide miteinander gegangen, denselben, steilen,
-schaurigen, mächtigen Weg, ohne sich anzusehen. Jetzt
-stehen sie staunend: Wie bist Du anders und doch so
-bekannt!</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_235" title="235"> </a>
-Die Finger werden steif vor Kälte hier in der
-schlechten kleinen Stube, und der Kopf tut weh vor
-Müdigkeit. Aber das kommt alles kaum zum Bewußtsein.
-Ja, das hat sich der alte Junker auch wohl
-kaum gedacht, daß sein Fritzchen so verfroren und
-müde vom Dienst über denselben wunderlichen
-Schreibereien sitzen würde, die ihn einst ungerechterweise
-gegen Fräulein Miller aufbrachten.</p>
-
-<p>Als der Winter zu Ende ging, war es mit Fridas
-überlasteten Körperkräften auch am Rande. Sie fiel
-am hellen Tage vor Erschöpfung fast in Ohnmacht.
-Sie war mager geworden, und ihre Kopfschmerzen
-quälten sie. Schon die letzten vierzehn Tage über
-hatte sie abends sogleich zu Bett gehen müssen, ob es
-ihr gleich schwerer fiel als die sauerste Arbeit.</p>
-
-<p>Frau v.&nbsp;Leisewitz war halbblind und hörte nur
-durch andere Leute, daß ihre Gesellschafterin sehr elend
-aussähe. Das ärgerte sie. Es ärgerte sie auch, daß
-Fritzchen vergeßlich und langsam geworden war, es
-ärgerte sie mit Recht wegen des hohen Gehaltes. Sie
-ließ sich über diese Dinge aus in einem bissigen Ton.</p>
-
-<p>Da wachte der junge Menschengeist auf, der Winters
-über unter einem Bann weltentrückter Träumerei
-gestanden hatte. Da sah er, wo er war und wo sein
-Weg im Leben lief.</p>
-
-<p>Er konnte nicht Frau v.&nbsp;Leisewitz dienen, und
-der großen stummen Macht seiner Tage, der Königin
-Phantasie.</p>
-
-<p>Fritzchen fühlte sanft und reuig gegen die wütige
-alte Dame. Die war so hilflos und war so gründlich
-<a class="pagenum" id="page_236" title="236"> </a>
-mit ihr hereingefallen! Als es an das Gehaltauszahlen
-kam, erschrak sie fast über die Hunderte,
-die sich vor ihr aufbauten. Sie wollte nicht so viel,
-das war ja wie ein Hohn auf ihre verträumte Lässigkeit.
-Frau v.&nbsp;Leisewitz fand dies verspätete Sträuben
-geschmacklos. Herr v.&nbsp;Leisewitz-Deechow bekam
-einen Brief seiner Cousine und konnte sich zum zweiten
-Male in der Dörfflinschen Sache verlegen den Kopf
-krauen.</p>
-
-<p>Fritzchen blieb in Berlin, mietete sich eine kleine
-hochgelegene Stube, packte ihre Sächelchen in die verquollene
-Kommode, die nie ganz zuging, schlief sich
-aus und fand sich dann allein mit ihrer rätselhaften
-Gefährtin.</p>
-
-<p class="ce">*&ensp;*&ensp;*</p>
-
-<p>Flatternde Vögel flogen aus der kleinen Schreibstube
-und setzten sich den Leuten auf die Köpfe, auf die
-Hände und auf die Herzen. An manchem flogen sie
-auch vorbei, ohne daß er sich umsah. Das waren die
-Träume, Gedanken und Gestalten von Fritzchen v.&nbsp;Dörfflin,
-die unter Wolken und Winden aufgewachsen
-und durch ein starkes Leben und ein starkes Sterben
-mitten hindurchgegangen war.</p>
-
-<p>Es waren gewißlich viele, an denen die Vögel
-vorbeiflogen und denen sich das Umsehen danach nicht
-lohnte. Was lag ihnen an Wolken und Winden und
-dem alten Sang von Tod und Auferstehung?</p>
-
-<p>Aber es gab viele verlorene Wanderer im Erdenleben,
-<a class="pagenum" id="page_237" title="237"> </a>
-die froh und bang ihre Straße zogen, denen
-flog plötzlich so ein freier Vogel auf die Hand. Sie
-sahen ihn an und sagten: »Dich kenne ich doch schon
-lange und wußte nur nicht, wie Du heißest.«</p>
-
-<p>Aus diesen Leuten kam allmählich Fritzchens neue
-Welt zusammen.</p>
-
-<p>Eines Tages nahm sie ihre Sachen wieder aus
-der verquollenen Kommode heraus und zog in ein
-anderes Haus, und als ein paar Jahre vorüber waren,
-wußten es eine ganze Menge Leute, daß der kleine
-Märchenfritz ein heißes, stolzes Künstlerblut in sich
-hatte.</p>
-
-<p>Eine feine alte Dame, die wieder in einem verwaisten
-Haushalt das Zepter führte, sagte bei Tisch,
-als man begeistert von Frida v.&nbsp;Dörfflin und ihren
-Büchern sprach, ganz ruhig: »Das habe ich schon
-längst gewußt!« und bildete sich so viel darauf ein
-wie alle Leute, die etwas, »schon längst« gewußt haben.
-Am Ende aber kam es so weit, daß sie auch einen Umzug
-machen konnte und zu ihrem Fritzchen als treue
-und parteiisch verblendete Mutter ging.</p>
-
-<p>Sie nannte es Du, wie sie es seither in allen ihren
-Gedankengesprächen genannt hatte, und sagte zu ihm:
-»Es ist hohe Zeit, daß jemand nach Dir sieht!« Damit
-meinte sie noch etwas ganz Besonderes.</p>
-
-<p>In der ersten Zeit versuchte sie es auch noch mit
-Predigen: »Du bist ein phantastischer Narr! Steht
-Dir nicht die Welt, da sie am schönsten ist, weit offen?
-Du hast starke und feine Menschen zu Freunden.
-<a class="pagenum" id="page_238" title="238"> </a>
-Was kostet es Dich, dies fließende, ziehende Leben
-voll schöner Bilder festzuhalten und es zu einem
-einzigen mächtigen Bilde zu verdichten, indem es in
-den Rahmen des Weibtums, des Muttertums eingeschlossen
-wird?«</p>
-
-<p>Fritzchen sagte nicht viel dazu, führte keine Dispute,
-sich zu verteidigen und andere Leute zu überzeugen.
-Sie sah nur aus so wundersam erstaunten
-Augen auf diese Darlegungen. Da wurde plötzlich
-Frau v.&nbsp;Pohle ganz von selbst nachdenklich. Es kam
-ihr ein Wort in den Sinn, das ließ sie nicht los.</p>
-
-<p>»Du hörest sein Sausen wohl, aber Du weißt
-nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt.«</p>
-
-<p>Ihr wildes Fritzchen war am Ende auch so ein
-Bote Gottes über den Feldern. Dem kann man wohl
-nicht die üblichen Straßen und Wege zeigen, der geht,
-wie er gehen muß. Vielleicht war ihre arme junge
-Liebe, so traurig und kümmerlich sie aussah, doch zu
-groß und stark und mächtig gewesen, als daß ihre
-Kraft jemals sterben oder durch eine neue ersetzt werden
-konnte.</p>
-
-<p>Ach ja, man soll nur aufhören, alle Leute mit
-einem Maß zu messen. Der liebe Gott spricht doch zu
-einem jeden in einer besonderen Sprache.</p>
-
-<p>Noch einmal in ihrem Leben sah Fritzchen die
-Felder von Hohen-Leucken und das Moor wieder,
-und das hochgelegene Herrenhaus, das durch die
-Bäume blickte. Sie kam von einem Besuch bei Gisela
-und ging allein über das Feld.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_239" title="239"> </a>
-Ihr Bruder, der Wind, ging über die Stätte.
-Da breitete sie die Arme aus, als wollte sie ihn umfangen.</p>
-
-<p>»Der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft!«</p>
-
-<p>Höher als alle Vernunft &ndash;&nbsp;&ndash; sang der Wind
-über dem Moor.</p>
-
-<p class="ce mt4 mb2"><img src="images/deco2.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p class="ce fss">Druck von Petzschke &amp; Gretschel, Dresden-A. 27</p>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2>Hinweise zur Transkription</h2>
-
-
-<p class="in0">Der Schmutztitel wurde entfernt.</p>
-
-<p class="in0">Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.</p>
-
-<p class="in0">Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten,
-mit folgenden Ausnahmen,</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_012">12</a>:<br />
-"Struwelköpfchen" geändert in "Struwwelköpfchen"<br />
-(ein braunes, sehnsüchtiges Struwwelköpfchen)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_021">21</a>:<br />
-"Aukunft" geändert in "Auskunft"<br />
-(war die andere Auskunft)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_033">33</a>:<br />
-"sie" geändert in "Sie"<br />
-(Wollen Sie jetzt fahren, Herr v.&nbsp;Dörfflin?)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_073">73</a>:<br />
-"." eingefügt<br />
-(mit krabbelnden Würmern und Ameisen im traulichen Bunde.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_086">86</a>:<br />
-"selbst" geändert in "Selbst"<br />
-(Selbst Hans Henning hatten sie von ihr fortgedrängt)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_093">93</a>:<br />
-"," entfernt hinter "Fritzchen"<br />
-(Nein, Fritzchen will das nicht.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_111">111</a>:<br />
-"einen" geändert in "einem"<br />
-(in dem einem das Atmen verging)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_112">112</a>:<br />
-"kam" geändert in "kaum"<br />
-(heute wendete kaum das Jüngste der Kinder)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_135">135</a>:<br />
-"Nachhausekommn" geändert in "Nachhausekommen"<br />
-(Das war ein Nachhausekommen! dachte er.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_145">145</a>:<br />
-"eine" geändert in "einer"<br />
-(aussichtsreiche Laufbahn einer Art Sühne vorzuziehen)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_159">159</a>:<br />
-"russigen" geändert in "rußigen"<br />
-(Sie hielt noch immer den rußigen Suppentopf.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_164">164</a>:<br />
-"verkraxelt" geändert in "verknaxelt"<br />
-(meine linke Hand ist neulich beim Reiten verknaxelt)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_178">178</a>:<br />
-"," geändert in "."<br />
-(Aber es war mit Sorgfalt nicht viel zu machen.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_203">203</a>:<br />
-"kam" geändert in "käm"<br />
-(Wäre es heute nicht gekommen, so käm es morgen)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_223">223</a>:<br />
-"," eingefügt<br />
-(»Gregor, hast Du einen Streit mit Hans gehabt?«)</p>
-
-
-<hr />
-
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-
-
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-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Fritzchen, by Marie Diers
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRITZCHEN ***
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