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If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Umwege - -Author: Hermann Hesse - -Release Date: October 6, 2019 [EBook #60437] - -Language: German - -Character set encoding: ISO-8859-1 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE *** - - - - -Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online -Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This -file was produced from images generously made available -by The Internet Archive) - - - - - -Anmerkungen zur Transkription: - -Umschließungen mit * zeigen "gesperrt" gedruckten Text an, -Umschließungen mit _ Text, der im Original in einer anderen Schriftart -dargestellt war. - -Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt. Im Übrigen wurden -Inkonsistenzen in der Interpunktion und Schreibweise einzelner Wörter -belassen. Eine Liste mit sonstigen Korrekturen finden Sie am Ende des -Buchs. - - - - Umwege - - Erzählungen - - von - - Hermann Hesse - - S. Fischer, Verlag, Berlin - 1912 - - - *Neunte Auflage.* - Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. - Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin. - - - - -Inhalt - - - Ladidel 9 - - Die Heimkehr 88 - - Der Weltverbesserer 149 - - Emil Kolb 211 - - Pater Matthias 265 - - - - -Ladidel - - -Erstes Kapitel - -Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das Leben leicht zu -nehmen. Es war sein Wunsch gewesen, sich den höheren Studien zu widmen, -doch als er mit einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen -führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß er sich -nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern zu folgen und auf -diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum war dies geschehen und er als -Lehrling in der Schreibstube eines Notars untergebracht, so lernte er -einsehen, wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt -werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes von bestandenen -Prüfungen und akademischen Semestern abhänge. Gar bald schlug diese -Ansicht Wurzel in ihm, überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn -manchmal unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem Überlegen -gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar einfachere Laufbahn erwählt -habe, und daß dies der klügste und wertvollste Entschluß seines Lebens -gewesen sei, wenn er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe. -Seinen Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und die er -jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse antraf, nickte er mit -Herablassung zu und freute sich, wenn er sie vor ihren Lehrern die Hüte -ziehen sah, was er selber längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig -unter dem Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht -machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und stattliche -Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und schon jetzt äußerlich -den älteren Kollegen gleichstellte. Am Abend übte er mit Kameraden -die Kunst des Zigarrenrauchens und des sorglosen Flanierens durch die -Gassen, auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier -schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine von der Mama -erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor trug, wie er denn auch im -Kontor, wenn die andern zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen, -stets etwas Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein -Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten ein Mohrenkopf, -Butterteiggipfel oder Makrönchen. - -Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war mit Stolz -nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus wohl gefiel. Erst -hier kam der höhere Schwung seiner Natur zur vollen Entfaltung, und -wenn er bisher immer noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in -sich getragen hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz und -heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling zu den schönen -Künsten hingezogen gefühlt und im Stillen nach Schönheit und Ruhm -Begierde getragen. Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und -Freunden unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl, der -in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des Geschmacks als -Führer galt und um Rat gefragt wurde. Denn hatte er schon als Knabe mit -Kunst und Liebe gesungen, gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er -in allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden, ja er -hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine Gitarre, mit der er -Lieder und spaßhafte Verslein begleitete und bei jeder Geselligkeit -Ruhm und Beifall erntete, ferner machte er zuweilen Gedichte, die er -aus dem Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug, und -ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte er sich auf eine -Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes, Geniales kennzeichnete. -Namentlich schlang er seine Halsbinden mit einer kühnen, freien -Schleife, die keinem andern so gelang, und wußte sein hübsches braunes -Haar höchst edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel -sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet tanzte -und die Damen unterhielt, oder wenn er im Verein Fidelitas im Sessel -zurückgelehnt seine kleinen lustigen Liedlein sang und dazu auf der -am grünen Bande hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und -wie er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte -und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte, bis alles stürmisch -um einen neuen Gesang bat, der mußte ihn hochschätzen, ja beneiden. -Da er außer seinem kleinen Monatsgehalt von Hause ein anständiges -Sackgeld bezog, konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne -Sorgen hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden, da er -immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen Dingen fast noch ein -Kind geblieben war. So trank er noch immer lieber Himbeerwasser als -Bier und nahm, wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine -Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim Zuckerbäcker. Die -Streber und Mißgünstigen unter seinen Kameraden, an denen es natürlich -nicht fehlte, nannten ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen -schönen Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und je zu -schaffen und betrübte Stunden machte. - -Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten, der leise -doch immerhin düsternd über diesen hellen Lebensfrühling zog. Seinem -Alter gemäß begann der junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend -nachzuschauen und war beständig in die eine oder andre verliebt. Das -bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges Vergnügen, bald aber -doch mehr Pein als Lust, denn während sein Liebesverlangen wuchs, -sanken sein Mut und Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr. -Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel viele verliebte -und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner Mädchen aber entfiel -ihm aller Mut. Wohl war er immer noch ein vorzüglicher Tänzer, aber -seine Unterhaltungskunst ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen -wollte, einiges von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger -redete und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner Freunde, -allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren gerne für einen -Kuß, ja für ein liebes Wort vom Munde eines schönen Mädchens hingegeben. - -Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht recht zu passen -schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit des Herzens, welche -ihm seine Freunde gar nicht zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde -es wollte, ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen -mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt zuging, von -Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von ewiger Treue und künftigem -Ehebund aber keine Rede war. Und ohne dies alles mochte der junge Herr -Ladidel sich die Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in -hübsche, wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar wohl -auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine richtige, sittsame -Brautschaft. An eine solche war nun bei seinem Alter und Einkommen -nicht von ferne zu denken, was er wohl wußte, und da seine Sinne -maßvoll beschaffen waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten -Schmachten und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel -probiert hätte. - -Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die Mädchen gern. -Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine Tanzkunst und sein Gesang, -und sie hatten auch das schüchterne Begehren an ihm gern und fühlten, -daß unter seiner Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes -und noch halb kindliches Herz sich verbarg. - -Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen nichts, und -wenn er auch in der Fidelitas noch immer Bewunderung und Beliebtheit -genoß, ward doch der Schatten tiefer und bänglicher und drohte sein -bisheriges leichtes und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen. -In solchen übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine -Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe und bereitete -sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen vor, teils um seine Gedanken -auf andere Wege zu zwingen, teils um desto eher und sicherer in die -ersehnte Lage zu kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als -ein Bräutigam auftreten zu können. Allerdings währten diese Zeiten -niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit seiner Natur nicht -angemessen waren. Hatte der Eifer ausgetobt, so griff der Jüngling -wieder zur Gitarre, spazierte zierlich und sehnsüchtig in den schönen -hauptstädtischen Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein. -Neuerdings waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art, und sie -bestanden aus Worten und Versen, Reimen und hübschen Wendungen, die -er in Liederbüchlein da und dort gelesen und behalten hatte. Diese -setzte er zusammen, ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein -sauberes Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter und -andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen, diese Verslein mit -leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins Reine zu schreiben, und er -vergaß darüber oft für eine Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag -es in seiner glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern -ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches vergaß. Schon -das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung gab einen hübschen -Zeitvertreib, das Führen des Kammes und der Bürste durch das halblange -braune Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen, lichten -Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens, das genaue -Abbürsten des Rockes und das Reinigen und Glätten der Fingernägel. -Weiterhin beschäftigte ihn häufig das Ordnen und Betrachten seiner -Kleinodien, die er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte. -Darunter befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe, ein in -grünen Sammet gebundenes Büchlein mit der Aufschrift »Vergißmeinnicht«, -worein er seine nächsten Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen -ließ, ein aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen -gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter, der -- wenn -man ihn gegen das Licht hielt und hineinsah -- eine Ansicht des -Niederwalddenkmals enthielt, des weiteren ein Herz aus Silber, das -man mit einem unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein -Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und eingeschnitzten -Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene Mädchenbrosche mit mehreren -zum Teil aufgesprungenen Granatsteinen, welche der Besitzer später bei -einer festlichen Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber -verarbeiten zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem dünnen, -eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff den Kopf eines -Windhundes darstellte, sowie an einer Busennadel in Form einer goldenen -Leier, versteht sich von selbst. - -Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke verwahrte -und wert hielt, so trug er auch sein kleines, ständig brennendes -Liebesfeuerlein getreu mit sich herum, besah es je nachdem mit Lust -oder Wehmut und hoffte auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von -sich geben könne. - -Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf, der Ladideln -nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit und Autorität stark -erschütterte. Irgendein junger Privatdozent der technischen Hochschule -begann abendliche Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die -namentlich von den Angestellten der Schreibstuben und niedern Ämter -fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen alle hin und in -ihren Zusammenkünften erhoben sich nun feurige Debatten über soziale -Angelegenheiten und innere Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen -wollte noch konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen -und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun und Interesse zu -zeigen, es kam ihm das alles doch im Grunde der Seele als Streberei und -Wichtigtuerei vor. Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über -dem neuen Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen -und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank er mehr und mehr von -seiner einstigen Höhe herab in ein ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte -er noch und nahm mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause, -allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit Seufzen -wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie auf den Ruhm Verzicht. - -In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch und -Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines Freitags, sich rasieren -zu lassen, was er immer an diesem Tage sowie am Dienstag zu besorgen -pflegte. Darum trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst -über die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte, in der -Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen Friseurladen, um das -Versäumte nachzuholen; denn ob ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er -dennoch keiner Gewohnheit untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde -beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider, wenn er -etwa warten mußte, sondern saß alsdann vergnügt auf seinem Sessel, -blätterte in einer Zeitung und betrachtete die mit Bildern geschmückten -Anpreisungen von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis -er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte, um die -vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer und zuletzt die -zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen zu fühlen. - -Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den im Winde -klingenden Messingbecken weg den Laden betrat, den Stock an die Wand -stellte und den Hut aufhängte, sich in den weiten Frisierstuhl lehnte -und das Rauschen des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es -bediente ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit, rasierte ihn, -wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel vor, trocknete ihm die -Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste darüber und fragte höflich: -»Sonst nichts gefällig?« Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit -leisem Tritt, bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente -Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das alles hatte den jungen -Herrn in eine gütige und zufriedene Stimmung gebracht, er spitzte schon -die Lippen, um mit einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten, -da hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte, fragen: -»Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?« - -Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den Mann ins Auge -und erkannte sofort seinen ehemaligen Schulkameraden Fritz Kleuber -in ihm. Nun hätte er unter andern Umständen diese Bekanntschaft mit -wenig Vergnügen anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit einem -Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor Kollegen zu schämen -gehabt hätte. Allein er war in diesem Augenblick herzlich gut gestimmt, -und außerdem hatte sein Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit -bedeutend nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune wie aus -einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und Anerkennung, daß er dem -Friseur die Hand hinstreckte und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir -werden doch noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad -nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich an, und da er im Dienst -war und jetzt keine Zeit hatte, verabredeten sie eine Zusammenkunft für -den Sonntag Nachmittag. - -Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war dem alten -Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern Stande sich ihrer -Schulfreundschaft hatte erinnern mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen -Nachbarssohn und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung gehabt, -da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen war, und Ladidels -Eleganz und zierliche Erscheinung hatte ihm auch jetzt wieder tiefen -Eindruck gemacht. Darum bereitete er sich am Sonntag, sobald sein -Dienst getan war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten -Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht, um nicht -staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in dem Ladidel wohnte, -wischte er die Stiefel mit einer Zeitung ab, dann stieg er freudig -die Treppen empor und klopfte an die Türe, an der er Alfreds große -Visitenkarte leuchten sah. - -Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem Landsmann -und Jugendfreund gern einen glänzenden Eindruck machen wollte. -Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit, wennschon nicht ohne -rücksichtsvolle Überlegenheit, und hatte einen vortrefflichen Kaffee -mit feinem Gebäck auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos -einlud. - -»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken unsern Kaffee -zusammen und machen nachher einen Spaziergang, wenn dir's recht ist.« - -Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank Kaffee und -aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und zeigte über diese -schöne Gastlichkeit eine so unverstellte Freude, daß auch dem -Notariatskandidaten das Herz aufging. Sie plauderten bald im alten -heimatlichen Ton von den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und -Mitschülern und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte -ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo er überall -herumgekommen sei, dann hub der andre an und berichtete ausführlich -über sein Leben und seine Aussichten. Und am Ende nahm er die Gitarre -von der Wand, stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um -Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen und Wohlbehagen -die Tränen in den Augen standen. Sie verzichteten auf den Spaziergang -und beschauten statt dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und -darüber kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen sich -unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte. Da waren -freilich des Barbiers Ansprüche an das Glück um vieles bescheidener als -die seines Freundes, aber am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen -Trumpf aus, mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte -nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den Freund ein, -bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen, wo er willkommen sein werde. - -»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit bin ich leider -noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr heiraten könnet?« - -»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre warten wir nimmer, -wir sind schon über ein Jahr versprochen. Ich habe ein Muttererbe von -dreitausend Mark, und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig -bin und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft aufmachen. -Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen in der Schweiz, da -habe ich zwei Jahre gearbeitet, der Meister hat mich gern und ist alt -und hat mir noch nicht lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir -überlasse er seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja -das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und ist gerade -neben einem Hotel, da kommen viele Fremde, und außer dem Geschäft ist -ein Handel mit Ansichtskarten dabei.« - -Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes und zog eine -Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl den Brief des schaffhausener -Meisters, wie auch eine in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte -mitgebracht, die er seinem Freunde zeigte. - -»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das Bild zusammen -an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen bengalischen Beleuchtung, -der Friseur beschrieb alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte -davon und von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen, kam -dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft, las seinen Brief -vor und war voller Eifer und Freude, so daß sein Kamerad schließlich -auch wieder zu Wort kommen und etwas gelten wollte. Darum fing er -an vom Niederwalddenkmal zu sprechen, das er selber zwar nicht -gesehen hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine -Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und ließ den -Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die Pracht verbarg. -Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine nicht mindere Schönheit -sei als sein roter Wasserfall, und überließ bescheiden dem andern -wieder das Wort, der sich nun, sei es aus wirklichem Interesse oder -zum Teil aus Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte. -Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues zu fragen und -Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft. Es war vom Schliff -der Rasiermesser, von den Handgriffen beim Haarschneiden, von Pomaden -und Ölen die Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine -Porzellandose mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem Freunde -und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot. Nach einigem Zögern -nahm dieser die Gabe an, die Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig -probiert und endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred -Gelegenheit, Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne Luxus -doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit der Seife wollte Kleuber -nicht einverstanden sein und empfahl eine andere, welche zwar etwas -weniger dufte, dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte. - -Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei seiner Braut -speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich für das Genossene freundlich -zu bedanken. Auch Alfred fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter -Nachmittag gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder -Mittwoch abend wieder zu treffen. - - -Zweites Kapitel - -Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die -Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren und auch ihm -wieder eine Ehre antun müsse. Darum schrieb er ihm Montags einen Brief -mit goldnem Rande und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud -ihn ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem Fräulein -Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen. Darauf erhielt er mit der -nächsten Post Ladidels elegante Visitenkarte mit den Worten »-- dankt -für die freundliche Einladung und wird um acht Uhr kommen.« - -Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller Sorgfalt vor. -Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber erkundigt und in Erfahrung -gebracht, daß sie neben einer ebenfalls noch ledigen Schwester von -einem lang verstorbenen Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine -Beamtentochter war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte. Diese -Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige Schwester veranlaßten -ihn, sich besonders schön zu machen und auch im voraus ein wenig an die -Konversation zu denken. - -Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse und -hatte das Haus bald gefunden, ging aber nicht hinein, sondern aus der -Gasse auf und ab, bis nach einer Viertelstunde sein Freund Kleuber -daherkam. Dem schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die -hochgelegene Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre empfing sie -die Witwe Weber, eine schüchterne kleine Dame mit einem versorgten -alten Leidensgesicht, das dem Notariatskandidaten wenig Frohes zu -versprechen schien. Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den -Gang geführt, wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von da ging -es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich, wie man es -nicht erwartet hätte; und vom Fenster her, wo Geranien im Abendscheine -tief wie Kirchenfenster leuchteten, traten munter die zwei Töchter -der kleinen Witwe. Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und -überboten das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein erwarten -ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf schlanken, kräftigen -Gestalten kluge, frische Blondköpfe und waren ganz hell gekleidet. - -»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die Hand. - -»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte sich dem -hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne Tadel, zog die hinterm -Rücken versteckte Hand hervor und bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß -dar, den er unterwegs gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und -schob ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und blond -war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt an den gedeckten -Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat bekränzten Eierspeise. Während -der Mahlzeit wurde fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner -Braut, die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute mühsam -kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen Blick, hinter -dem es ihr recht wohl war, der aber auf Ladidel einen beängstigenden -Eindruck machte, so daß er wenig aß und sich bedrückt und still -verhielt wie in einem Trauerhaus. - -Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand jedoch in einem -Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen sie zuvor geschlossen hatte, -und schien zu schlummern. Die Jugend blühte dafür munter auf, und die -Mädchen verwickelten den Gast in ein neckendes und kampflustiges -Gespräch, wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der Wand schaute -der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen Rahmen verwundert und -bescheiden hernieder, außer seinem Bildnis aber war alles in dem -behaglichen Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung -verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein der Mädchen und -bis zu einer an der Schmalwand hängenden Mandoline. Auf diese fiel, -als das Gespräch ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er -äugte heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort, die -ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von den Schwestern -denn musikalisch sei und die Mandoline spiele. Das blieb nun an Martha -hängen, und sie wurde sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht, -da die Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten -Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von sich gegeben hatte. Dennoch -bestand Herr Ladidel mit Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas -vorspielen, und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund. Da -das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war, griff schließlich Meta nach -dem Instrument und legte es vor sie hin, und da sie abwehrend lachte -und rot wurde, nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise -mit suchenden Fingern darauf herum. - -»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein Schöner, bringen -andre Leute in Verlegenheit und können es nachher selber besser.« - -Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe kaum jemals so -ein Ding in Händen gehabt, hingegen spiele er allerdings seit mehreren -Jahren die Gitarre. - -»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast du auch das -Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du nächstesmal tun, gelt!« - -Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der Gast begann einigen -Glanz zu gewinnen und auszustrahlen. Zögernd erklärte er sich bereit, -die Bitte zu erfüllen, wenn er wirklich den Damen mit seiner Stümperei -ein bißchen Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde ihn -hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha sich doch noch -als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen immer noch zu halten -geneigt sei. - -Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden Jünglinge Abschied -nahmen, erhob sich am Fenster klein und sorgenvoll die vergessene -Mutter, legte ihre schmale, wesenlose Hand in die warmen, kräftigen -Hände der Jungen und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar -Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes voll war. - -In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde gleich nach dem -Weggange der Gäste der Tisch geräumt und das Licht gelöscht. In der -Schlafstube hielten wie gewöhnlich die beiden Mädchen sich still, -bis die Mutter eingeschlafen war. Alsdann begann Martha, anfänglich -flüsternd, das Geplauder. - -»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?« - -»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.« - --- »Ach ja. Gut Nacht!« -- - -»Ja, bist müd?« - -»Ein bißchen.« - -»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel geschleckt, nicht?« - -»Warum?« - -»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte Notar werden sollen -und dafür der andre Friseur. Findest du nicht auch? Er hat so was -Süßes.« - -»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack. Hast du -seine Krawatte gesehen?« - -»Freilich.« - -»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs war er ja ganz -schüchtern.« - -»Er ist auch erst zwanzig Jahr. -- Na, gut Nacht also!« - -Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief, an den -Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und sie ließ einstweilen, ohne -sich weiter preiszugeben, eine kleine Kammer in ihrem Herzen für den -hübschen Jungen offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten -und Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr nicht -gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten hinter sich -gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte), teils weil sie nicht -Lust hatte, noch lange neben der um ein Jahr jüngeren Meta unverlobt -einherzugehen. Was an diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat -nicht weh und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes, -vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines Tages, der -sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu werden verspricht. - -Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt geblieben. -Zwar lebte er noch in dem dumpfen Liebesdurst eines kaum flügge -Gewordnen und verliebte sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu -sehen bekam; und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch -war diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu haben, und -Martha konnte sich neben jener wohl auch zeigen; so war Alfreds Herz -im Laufe des Abends mehr und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug -ihr Bildnis mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in -unbestimmter Verehrung davon. - -Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis die kleine -Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube beisammen saß; nur -daß diesmal die jungen Herren später gekommen waren, da der Tisch -der Witwe eine so häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte. -Dafür brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit Stolz -vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer vergnüglich in -den warmen Abend hinaus, an der alten Mutter vorüber, die am Fenster -ruhte und unbeschadet ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und -Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant wußte es so -einzurichten, daß zwar seine Kunst zur Geltung kam und reichen Beifall -erweckte, er aber doch nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn -nachdem er einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines -Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern mit ins -Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich beim ersten Takt von -selber zum Mitsingen verlockten. - -Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung erwärmt und -benommen, rückte nahe zusammen und sang nur leise und strophenweise -mit, dazwischen plaudernd und sich mit verstohlenen Fingern -streichelnd, wogegen Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge -behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei Paare entstanden, -ohne daß jemand dessen achtete, und war ein Anfang für Alfred und -Martha gewonnen, den sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis -zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft führten. - -Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten Gang das -Brautpaar seine Küsse tauschte, standen die beiden andern, mit dem -Adieusagen schon fertig, eine Minute lang verlegen wartend da. Im Bett -brachte sodann Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn immer -nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob. Aber die Schwester -sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf auf beide Hände und lag lange -still und wach, ins Dunkle schauend und tief atmend. Später, als die -Schwester schon schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus, -der jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem dumpfen -Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen entsprang, und den -sie nicht wiederholte. Vielmehr entschlief sie bald darauf leicht und -mit einem innigen Lächeln auf dem frischen Munde. - -Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber nannte den eleganten -Alfred mit Stolz seinen Freund, Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter -nicht allein kam, sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha -gewann den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche -Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und lenksame -Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie geschaffen, mit dem sie -sich zeigen und auf den sie stolz sein könnte, ohne ihm doch jegliche -Herrschaft überlassen zu müssen. - -Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen sehr zufrieden -war, spürte in Marthas Freundlichkeit eine heimliche Wärme, die er -bei aller Schüchternheit wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und -Verlobung mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen -Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert und -selig lockend erscheinen. - -Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes. Alfred -kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch, zweimal wurden auch -gemeinsame Sonntagsspaziergänge unternommen, aber es blieb bei dem -Zustande vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend -begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche Gründe. -Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne im längeren Umgang manches -allzu Unreife und Knabenhafte entdeckt und es rätlich gefunden, einem -noch so unerfahrenen Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr zu -erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen selber fände -und unterwegs etwa, sei es auch nicht ohne Bitternis, einige Reife -und Zuverlässigkeit gewänne. Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes -wäre, ihn an sich zu nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar -nicht so eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht -unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen erster -Liebeswege hervorgegangen. So erschien es ihr billig, daß der junge -Herr es auch nicht allzuleicht habe und nicht am Ende gar den Eindruck -gewänne, sie habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille, ihn -zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl im Auge zu behalten -und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten, da er seines Glückes würdig -sein würde. - -Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die Zunge banden. Da -war zuerst seine Schüchternheit, die ihn immer wieder dazu brachte, -seinen Beobachtungen zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde -geliebt und begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen, -gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und unfertig, -- -nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder vier Jahre älter sein -konnte als er. Und schließlich erwog er in ernsthaften Stunden mit -Bangen, auf welch unfesten Grund seine äußere Existenz gebaut war. -Je näher nämlich das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige -untergeordnete Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine Fähigkeit -und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender wurden seine Zweifel. -Wohl hatte er alle hübschen, kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des -Amtes rasch und sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und -spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das Studium -der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles das dachte, was im -Examen verlangt wurde, brach ihm der Schweiß aus. Konnte er denn um -ein Mädchen anhalten oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er -diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches und -ehrenhaftes Leben vor sich sah? - -Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube ein und beschloß, -den steilen Berg der Wissenschaft im Sturm zu nehmen. Kompendien, -Gesetzbücher und Kommentare lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er -handschriftliche Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer Examina, -er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd hin, er spitzte -Bleistifte und machte sich genaue Arbeitspläne für Wochen voraus. -Aber sein Wille war schwach, er hielt niemals lange aus, er fand -immer andres zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien; -und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto bitterer -und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob es wieder, es war ja -noch Zeit, und er meinte, wenn es erst brennend würde und zu drängen -begänne, werde wohl das Notwendige doch noch bewältigt werden. - -Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber immer fester und -erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß Fritz ihn abends aufsuchte und, -wenn es eben nötig schien, sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel -es Alfred ein, diese nette, leichte, saubere Hantierung selber ein -wenig zu probieren, und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf seine -ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem hochgeschätzten -Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein Messer tadellos abziehen und -einen guten, haltbaren Seifenschaum schlagen. Alfred zeigte sich, -wie der andre vorausgesagt hatte, überaus gelehrig und fingerfertig. -Bald vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu -barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister diesen Dienst -zu tun, und er fand darin ein Vergnügen und eine Befriedigung, die -ihm manchen von den Studien verbitterten Tag auf den Abend noch rosig -machte. Eine ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch -in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich, von seinen -schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages einen künstlichen Zopf -aus Frauenhaar mit und zeigte ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe. -Ladidel war sofort begeistert für dieses zarte Handwerk und machte -sich mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu lösen und -wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm bald, und nun kam Fritz -mit schwereren und feineren Arbeiten, und Alfred lernte spielend, zog -das lange seidne Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte -sich in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das -Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein mit dem -Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen über fachmännische Dinge. Er -schaute nun auch die Frisuren aller Frauen und Mädchen, denen er -begegnete, mit prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber -durch manches treffende Urteil. - -Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden Fräulein Weber -nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen. Er fühlte, daß er mit dieser -neuen Kunst dort wenig Ehre ernten würde. Und dennoch war es sein -Lieblingstraum und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen -blonden Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben und ihr -neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten. - -Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers. Es war in den -letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an einem Spaziergang der Familie -Weber teil. Man wanderte das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und -ruhte in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen aus. -Martha war an diesem Tage besonders freundlich und vertraulich mit -Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner Nähe auf dem grünen Hang, -ordnete einen Strauß von späten Feldblumen, tat ein paar silbrige -zitternde Grasblüten hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß -Alfred den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß etwas -an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe und sagte es, und -zugleich wagte er es, streckte seine Hände nach den blonden Zöpfen aus -und erbot sich, sie in Ordnung zu bringen. Martha aber, einer solchen -Annäherung von ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn -kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken. Alfred schwieg -betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich und nahm später die -Einladung, bei Frau Weber zu speisen, nicht an, sondern ging nach der -Rückkehr in die Stadt sogleich seiner Wege. - -Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten und sie -hätte wohl dazu dienen können, ihre Sache zu fördern und in Gang zu -bringen. Doch ging es umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen. - -War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur und zum Glücke -geboren, so sollte doch auch er einigen Sturm erleben und einmal das -Wasser an der Kehle spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam. - - -Drittes Kapitel - -Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint und war nun -erstaunt, als sie wahrnahm, daß Alfred eine Woche und länger ihr -Haus mied. Er tat ihr ein wenig leid und sie hätte ihn gar gerne -wiedergesehen. Als er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu -grollen schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu einem -so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt habe. Nun begann sie -selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme und den gnädig Versöhnten spielen -würde, wollte sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe. - -Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben hatte nicht -Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit und Furcht vor Marthas Strenge -zur Ursache. Er wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine -damalige Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit vergessen -und die Scham überwunden habe. In dieser Bußzeit spürte er deutlich, -wie sehr er sich schon an den Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie -sauer es ihn ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens -wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur Verstärkung seiner Buße -und zum Kampf wider die lange Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn -zu trösten und geduldiger zu machen. So hielt er es denn nicht länger -als bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines Tages -sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen Hemdkragen und sprach -bei den Weberschen vor, diesmal ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen -seiner Beschämtheit machen wollte. - -Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler zu erscheinen, -hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht. Es stand für die letzte -Woche des September ein großes Fest- und Preisschießen bevor, worauf -die ganze Stadt schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte -Alfred Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war, -die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit eine hübsche -Begründung seines Besuches wie auch gleich einen Stein im Brett bei -Martha zu gewinnen. - -Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte den Verliebten, der -seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt war, getröstet und zum treuen -Diener gemacht. Nun hatte aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie -für Trotz hielt, verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte -kaum, als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung -ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt, im Zimmer ab und -zu, als wäre sie allein. Ladidel war sehr eingeschüchtert, machte ein -betrübtes, demütiges Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da -sein verlegenes Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte -zu wenden und seine Einladung vorzubringen, von welcher er sich einen -Umschwung und Marthas Versöhnung versprach. - -Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung und demütige -Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß, das Bürschlein diesmal in die -Kur zu nehmen und ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte -kurz und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung, -es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste zu besuchen, und was -ihre Schwester angehe, so sei diese verlobt und sei es Sache ihres -Bräutigams, sie einzuladen und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe. - -Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds guten Willen -so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und ernstlich verletzt sich -an Meta mit der Frage wandte, ob sie diese Meinung teile. Und da -Meta, wenn schon höflicher, der Schwester recht gab, griff Ladidel -nach seinem Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann, der -bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben, und nicht im Sinn -hat wiederzukommen. Die alte Frau Weber war nicht da, Meta versuchte -zwar ihn zurückzuhalten und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine -Verbeugung mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und Alfred war es -nicht anders zumute, als hätte sie ihm für immer abgewinkt. Er ging -hinaus und schnell die Treppe hinab, und je schneller er lief und je -weiter er wegkam, desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und -Enttäuschung in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme seines -redlichen Willens durchaus nicht verdient zu haben glaubte. - -Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß er sich in dieser -Sache männlich und stolz gezeigt habe. Zorn und Trauer überwogen -jedoch, grimmig lief er nach Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn -besuchen wollte, ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen, -ohne sich zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre -hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen, ging aus und -trieb sich den Abend in den Gassen herum, bis er müde war. Dabei fiel -ihm alles ein, was er je Böses über die Falschheit und Wandelbarkeit -der Weiber hatte sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und -scheelsüchtiges Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles, fand -auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu milde, und hätte -wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen solcher Art zusammengestellt, -wenn es ihm nicht doch zu elend ums Herz gewesen wäre. - -Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig, gegen seinen -Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen, ein Brieflein oder eine -Botschaft durch Fritz kommen, denn nachdem der erste Groll vertan war, -schien ihm eine Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit, -und sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu dem -bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und es kam niemand. -Das große Schützenfest jedoch rückte näher, und ob es dem betrübten -Ladidel gefiel oder nicht, er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie -jedermann sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden -Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser mit Tannenzweigen -geschmückt und Torbögen mit Inschriften, die große Festhalle am Wasen -war fertig und ließ schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst -seine schönste Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln -täglich klarer und festlicher empor. - -Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut hatte, und obwohl -ihm und seinen Kollegen ein freier Tag oder gar zwei bevorstanden, -verschloß er sich doch der Freude gewaltsam und hatte fest im Sinn, -die Festlichkeiten mit keinem Auge zu betrachten und in den Tagen der -allgemeinen Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben. -Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte da und dort in den -Gassen hinter offenen Fenstern die Musikkapellen Proben halten und die -Mädchen bei der Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und -Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in dem Getümmel -seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis und grimmiger Entsagung. -In der Schreibstube hatten die Kollegen schon seit einiger Zeit von -nichts als dem Fest mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der -Herrlichkeit recht schlau und gründlich froh werden wollen. Zuweilen -gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen und so zu tun, als freue -auch er sich und habe seine Absichten und Pläne; meistens aber saß er -schweigend an seinem Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei -brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß mit ihr, -sondern mehr und mehr auch um die große Festlichkeit, auf die er so -lang und freudig gewartet hatte und von der er nun nichts haben sollte. - -Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte, wenige -Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser machte ein betrübtes Gesicht und -erzählte, er wisse gar nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei, -sie hätten seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren -Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen. Nun machte er -Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen sich frohe Festtage zu schaffen, -wenn auch in aller Bescheidenheit, denn wenn er auch nicht gesonnen -sei, auf alles zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande -als Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden Jungfern ganz -recht, wenn er nun eben ohne sie den einen oder andern Taler draufgehen -lasse. Allein Ladidel widerstand auch dieser Versuchung. Er dankte -freundlich, erklärte aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die -freie Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen. Von -diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so viel erzählt und so -viele Kunstausdrücke und Fremdwörter dabei aufgewendet, daß Fritz -nun in tiefem Respekt keine Einwände wagte und traurig wieder ging. -Aber als er fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und -präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das Lied: »Wie -die Blümlein draußen zittern.« Und als der Refrain zum zweiten Male -wiederkehrte: »O bleib bei mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja -dein Heimatort!«, da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf -über die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen. Erst -eine Stunde später, als er schon im Bette lag, fiel ihm ein, daß das -Instrument leiden könnte, und er stand auf, um es abzuwischen, aber die -Tropfen waren schon im trocknen Holz verronnen. - -Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet werden sollte. -Es war ein Sonntag, und das Fest sollte die ganze Woche dauern. Die -Stadt hallte von Gesang, Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen -wider, aus allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine -aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der Bahnhof wimmelte von -Festbesuchern, die in Extrazügen gefahren kamen. Allenthalben schallte -Musik, und die Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen -trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen, wo das -Volk seit dem Morgen zu Tausenden wartend stand. Schwarz drängte -der Zug in dickem Fluß heran, schwer wankten die Fahnen darüber und -stellten sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande -um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen Platz. Auf alle -diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher Wärme eine heitere -Sonntagssonne hernieder. Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf -den geröteten Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie -Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch Zurufe angefeuert; -wer in der Nähe war und Zutritt fand, nahm die Gelegenheit wahr, -schon um diese frühe Stunde an den wohlversehenen Trinkhallen einen -frischen Trunk zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten -und befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten und -Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten, in der Stille -lachend, für diesen Glanztag einen Goldregen voraus. - -Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in seiner Stube auf -dem Bett und hatte noch nicht einmal Stiefel an, so wenig schien ihm -an der Freude gelegen. Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden -Nachtgedanken, mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben. -Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu nennen, ihr -sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen, von dem er noch immer in -leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit und Freundschaft versah. Nun -zog er aus der Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen -mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues Kuvert, steckte -eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie mit der Zunge naß, prüfte -die Tinte und schrieb alsdann in einer runden, elegant ausholenden -Kanzleischrift zunächst die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha -Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile stimmte ihn -das aus der Ferne herübertönende Geblase und Festgelärme elegisch -und er fand es gut, seinen Brief mit der Schilderung dieser Stimmung -anzufangen. So begann er mit Sorgfalt: - - »Sehr geehrtes Fräulein! - -Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag morgen und die -Musik spielt von ferne, weil das Schützenfest beginnt. Nur ich kann an -demselben nicht teilnehmen und bleibe daheim.« - -Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich weiter. Da fiel -ihm noch manche schöne und treffende Wendung ein, mit welcher er -seinen betrübten Zustand schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm -klar, daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben konnte, -als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und Werbung wäre. Und -wie konnte er dies wagen? Und je länger er sann, desto mehr ward ihm -klar, daß es mit dem Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und -ausfand, es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen und -damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun hätte er dies ja wohl -im Dunkeln lassen und die Zeit bis dahin als Wartezeit und kurzen -Aufschub betrachten können; allein er wußte recht wohl, wie es um seine -Aussichten im Examen stand, und konnte weder sich selber noch das -Mädchen über diese Sorge wegtäuschen. - -Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder schien -ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen und was er zu seinen -Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich ungewiß und gering. Eine Stunde -verging und er kam nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe, -da alles draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die ferne -Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing seiner Trauer nach und -bedachte, wieviel Freude und Lust ihm heute verloren ging, und daß er -kaum in langer Zeit, ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben -würde, eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber -überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches -Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen vermochte. - -Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht hatte tun wollen. -Er zog seine Stiefel an und verließ das Haus, und während er nur hin -und wider zu wandeln meinte und bald wieder daheim sein und an den -Brief und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm und -Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg ein Schiff, und -unversehens stand er bei dem Schützenhaus. Da wachte er auf und schämte -sich seiner Schwäche und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch -währte alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste -betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem Jubel fest zu -bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt wirkten, wie bei einem -Kinde und wie beim niederen Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend -und erregend, der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn wie eine -mächtige Wolke von sich selber und allem kaum Gewesenen hinweg in ein -verzaubertes Reich des Feiertags und der besinnungslosen Lust. - -Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von der Menge -mitgenommen, und sah und hörte und roch und atmete so viel Fremdes, -Erregendes ein, daß ihm wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles, -was der Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das Schießen -erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen die Festtafel bald anhebe, -daß nach Tische vielleicht der König herauskommen werde, um sich das -auch zu besehen, ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und -wer sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein Gedeck -an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus Trompeten und Hörnern -da und dort und überall feurige Musik, und in Pausen drang von der -Ferne her, wo das Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die -weichere Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf Schritt -und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares, Erheiterndes und -Erschreckendes, es wurden Pferde scheu, Kinder fielen um und schrien, -ein vorzeitig Betrunkener sang unbekümmert, als wäre er allein, sein -Lied und schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus -belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher, mit Orangen und -Zuckerwaren, mit Luftballonen für die Kinder, mit Backwerk und mit -künstlichen Blumensträußchen für die Hüte der Burschen, abseits drehte -sich unter heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer -laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen wollte, dort führte ein -Polizeidiener ein verlaufenes Büblein an der Hand. - -Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich und fühlte sich -beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen und Dinge mit Augen zu -sehen, von denen man noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war -ihm wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte, und -als es ihm gelungen war, in die Nähe der Ehrenhalle zu dringen, wo -die Tafel auf einer fahnengeschmückten Höhe stattfand, schaute er mit -Bewunderung und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände, -den Oberamtmann und andre Würdenträger mit Orden und Abzeichen zumitten -des Ehrentisches sitzen und speisen und weißen Wein aus geschliffenen -Gläsern trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer, und wer -etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit ihnen zu tun gehabt -hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein bekannter Fabrikant und Millionär -wurde erkannt und besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und -schließlich wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel einen -Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen vor sich ging und -soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt war, machte einen jeden glücklich. -Auch der kleine Ladidel staunte und bewunderte und fühlte sich groß und -bedeutend als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus, da er -Leuten, die weniger glücklich waren und nicht hatten dabei sein können, -die ganze Herrlichkeit genau beschreiben würde. - -Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen Stunden -Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines Zuckerbäckers -und verzehrte ein paar Stücke Kuchen. Dann eilte er, um ja nichts zu -versäumen, wieder ins Gewühl, und war so glücklich, den König zu sehen, -wenn auch nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den -Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts verstand, sah -er doch mit Vergnügen und Spannung den Schützen zu, ließ sich einige -berühmte Helden zeigen und betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel -und Augenzwinkern der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell auf -und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen in der frohen -Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte mit dem Bildnis des Königs -und dem Landeswappen, hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier -zu, der seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern -machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten Volksscharen. -Errötend entwich er von der Bude eines Photographen, dessen Frau ihn -zum Eintritt eingeladen und unter dem Gelächter der Umstehenden einen -entzückenden jungen Don Juan genannt hatte. Und immer wieder blieb er -stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte Melodien mitzusummen und -sein Stöcklein im Takt dazu zu schwingen. - -Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte ein Ende, und es -begann da und dort ein Zechen in Hallen oder unter Bäumen. Während -der Himmel noch in zartem Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in -der Herbstabendklarheit standen, glommen hier und dort schon Lichter -und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche dahin und bedauerte -das Sinken des Tages. Die solide Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum -Abendessen, müdgewordene Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der -Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten sich Lust und -Übermut der Jugend, die sich auf Tanz und Wein freute, und wie es auf -dem Platze und den Gassen leerer ward, tauchte da und dort und an jeder -Ecke bald scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch mit -sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und Ahnung nächtlicher -Lust. - -Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit -Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende Tageslicht. Die -Erinnerung an Trauer und Leid kehrte mählich wieder, vermischt mit -einem ungelöschten Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig -werdend strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend. Es kicherte -kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht nachsah, und als nun in -einem Garten unter hohen schwarzen Kastanien mit lockender Pracht -Reihen von roten Papierampeln aufglühten und aus eben diesem Garten -her eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf der -heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen Tischen aß und -trank viel junges Volk, dahinter wartete ein großer Tanzplan erst halb -erleuchtet. Der junge Mann nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und -verlangte, als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte er -aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik, aß ein weniges -und trank langsam in kleinen Schlücken den ungewohnten Wein. Je länger -er in die roten Lampen schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft -der Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich vor, -und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte seliger Lust, -von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen sei. Wohin er blickte, -sah er rote Wangen und begierige Augen leuchten, junge Burschen in -Sonntagskleidern mit kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit -verlangenden Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen. Und er war noch -nicht lange mit seinem Abendessen fertig, als die Musik mit erneuter -Wucht und Süße anstimmte, der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte -und Paar auf Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte. - -Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine Weile dableiben zu -können, und als der Wein doch schließlich zu Ende war, konnte er -sich nicht entschließen, heimzugehen. Er ließ nochmals ein kleines -Fläschlein kommen und saß und starrte und fiel in eine stachelnde -Unruhe, als müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück blühen -und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn abfallen. Und wenn es -nicht geschah, so schrieb er sich in Leid und Trotz das Recht zu, -wenigstens dem Fest und seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch -seines Lebens zu trinken. - -Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen, denn so schlimm er -es meinte, seine Natur war klüger und hätte ihm nicht erlaubt, mehr -als einen kindlichen Versuch nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch -keineswegs der Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer -nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den Kopf hinreichend -erhitzt und verwirrt hatten. Aber der mäßige und zierliche Jüngling -konnte soviel Übermut und Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den -Anblick so vieler hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne -gleichfalls ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und blühender -Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen, je heftiger rings um ihn -die Freude tobte, sein Unglück sowohl wie sein Trostbedürfnis höher, -und rissen den Unbeschützten zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die -Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben oder sich Lust -schaffen mußte. - - -Viertes Kapitel - -Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß und mit heißen Augen -in das Tanzgewühl blickte, vom roten Licht der Ampeln und vom raschen -Takt der Musik bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung -überdrüssig, hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die -fragte: »Ganz allein?« - -Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der Bank gebeugt -ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, mit einem weißen linnenen -Hütlein und einer roten leichten Bluse angetan. Sie lachte mit einem -hellroten Munde, während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln -Augen ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie mitleidig -und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja, leider.« Da nahm sie sein -Weinglas, fragte mit einem Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank -es in einem durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals, -der bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und indessen -sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen, daß sich hier ein -Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht ohne Schrecken, aber er war -allsofort entschlossen, dabei zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie -es wollte. - -Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu tun, schenkte -Ladidel das leere Glas wieder voll und bot es dem Mädchen an. Aber sie -schüttelte den Kopf und blickte rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben -eine neue Musik erscholl. - -»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in die Augen, der -augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte und seinen Namen nannte. - -»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich heiße Fanny.« - -Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom und Schwall des -Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet getanzt hatte. Früher -war er beim Tanzen lediglich seiner Geschicklichkeit, seiner flinken -Beine und feinen Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran -gedacht, wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache. -Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen Wirbel mit, -gezogen und hingeweht und wehrlos, aber glücklich und im Innersten -erregt. Bald zog und schwang ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem -verloren ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre -Pulse an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte. - -Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in den ihres Begleiters -und zog ihn mit sich weg. Tief atmend wandelten sie langsam einen -Laubengang entlang, zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung -voll warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel mit -blanken Sternen herein, von der Seite her spielte, von beweglichen -Schatten unterbrochen, der rote Schein der Festampeln, und in diesem -ungewissen Licht bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die -Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und Hüten, mit -bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen Fächern versehen, die -gleich Pfauenrädern spielten. Ladidel nahm das alles nur als einen -farbigen Nebel wahr, der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und -daraus nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles Gesicht -mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund mit glänzenden -Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer Arm für Augenblicke deutlich -hervorschimmerte. - -»Alfred!« sagte Fanny leise. - -»Ja, was?« - -»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach Amerika.« - -»Nein, ich hab keinen.« - -»Willst du nicht mein Schatz sein?« - -»Ich will schon.« - -Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten hellroten Mund. -Liebestaumel wehte in den Bäumen und Wegen; Ladidel küßte den roten -Mund und küßte den weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und -den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an einen Tisch -abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen und trank mit ihr aus -einem Glase, hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und fühlte Feuer in -allen Adern. Seit einer Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter -ihm versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig die -glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen. - -Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes und ihrer -blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos und gedankenlos als ihr -Liebster, dessen Feuer sie mit der einen Hand zu mehren, mit der andern -abzuwehren bemüht war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl, und -sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden Augen; doch war -sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten und Zwecke zu vergessen, und -diese gingen nicht auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern -auf soliden Erwerb. - -Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen Wein und Tanz, von -seiner Geliebten eine lange traurige Geschichte, die mit einer kranken -Mutter begann und mit Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete. -Sie bot dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen nicht -auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während deren er sich stets -wieder erholen und neue Glut fassen konnte, sie bat ihn sogar, nicht -allzuviel daran zu denken und sich den schönen Abend nicht verderben -zu lassen, bald aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die -Augen. Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen Anfängern, -das Mitleid eher entflammend als niederschlagend, sodaß er das Mädchen -gar nimmer aus den Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für -die Zukunft versprach. - -Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand dann -plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke Mutter nicht -länger warten lassen. Ladidel bat und flehte, wollte sie dabehalten -oder zumindest begleiten, schalt und klagte und ließ auf alle Weise -merken, daß er die Angel geschluckt habe und nimmer entrinnen könne. - -Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos die Achseln, -streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun für immer von ihr Abschied -zu nehmen. Denn, wenn sie bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert -Mark sei, so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt -werden und könne für das, wozu die Verzweiflung sie dann treiben würde, -nicht einstehen. Ach, sie wollte ja gern lieb sein und ihrem Alfred -jede Gunst gewähren, da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber -unter diesen Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und sich -mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend zu begnügen. - -Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu besinnen, versprach -er das Geld morgen Abend herzubringen, und schien fast zu bedauern, -daß sie seine Liebe auf keine größere Probe stelle. - -»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei schmiegte sie sich an -ihn, daß er beinahe den Atem verlor. - -»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie nach Hause -begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich eine so furchtbare -Angst, man möchte sie sehen und ihr guter Ruf möchte notleiden, daß er -mitleidig nachgab und sie allein ziehen ließ. - -Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher. Da und dort -tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche Festlichkeit. Erhitzt -und müde kam er endlich nach Hause, ging zu Bett und fiel sogleich -in einen unruhigen Schlaf, aus dem er schon nach einer Stunde wieder -erwachte. Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr -verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich und grau -im Fenster, die Stube war dunkel und alles still, sodaß Ladidel, der -nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war, verwirrt und ängstlich in die -Finsternis blickte und den noch nicht verwundenen Rausch des Abends im -Kopf rumoren fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran zu -denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute Weile. Am Ende -klärte sich jedoch die peinigende Trübe und der ernüchterte Träumer -wußte wieder genau, um was es sich handle. Und nun drehten seine -Gedanken sich die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das -Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen hatte. Er -begriff nimmer, wie er das Versprechen hatte geben können, es mußte in -einer Bezauberung geschehen sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort -zu brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er den Sieg -nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit den Jüngling abhielt, -eine Notleidende umsonst auf die zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch -mächtiger freilich war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre -Küsse und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung, das alles -schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum entschlug und schämte er -sich des Gedankens, ihr untreu zu werden, und wandte allen Scharfsinn -daran, einen sicheren und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde -zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer ward in -seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher ihre Erlangung. - -Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten Augen und -schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich an seinen Platz setzte, -wußte er noch immer keinen Ausweg und hätte gern für die hundert -Mark seine Seligkeit verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem -Pfandleiher gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen -seinen kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure und -beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte ihm für das Ganze -nicht mehr als zehn Mark geben wollen. Nun bückte er sich traurig über -seine Arbeit und brachte eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit -der Post, die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt -öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche und las -heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin gefunden hatte. -»Liebster, gelt du kommst heut Abend? Mit Kuß deine Fanny.« - -Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen Umständen und um -jeden Preis sein Versprechen zu halten. Das Brieflein verbarg er in der -Brusttasche und zog es je und je heimlich hervor, um daran zu riechen, -denn es hatte einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg. - -Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht war der Gedanke in ihm -aufgestiegen, im Notfalle das Geld auf eine verbotene Weise an sich zu -bringen, doch hatte er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun -kamen sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden. Ob ihm -auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl und Betrug im Herzen -graute, so wollte ihm doch der Gedanke, es handle sich dabei nur um -eine erzwungene Anleihe, deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr -und mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach er -sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen, sich die Summe -auf der Bank, wo man ihn kannte, zu verschaffen, wenn er sich hätte -entschließen können, die Handschrift seines Prinzipals zu fälschen. -Aber zu einem solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch -nicht. Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante, -und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser Prüfung -hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in der letzten Stunde, eine -allzu verlockende Gelegenheit doch noch zum Schelm gemacht hätte. - -Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen Wertbrief zu senden, -und zählte ihm die Banknoten hin. Es waren sieben Scheine, die er -zweimal durchzählte. Da widerstand er nicht länger, brachte mit -zitternder Hand eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse -ein, die denn auch zur Post kamen und abreisten. - -Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den Siegelbrief -wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem Inhalte stimmte. Von allen -Arten der Unterschlagung schien ihm diese nun die törichtste und -gefährlichste, da im besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das -Fehlen des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde. Als der -Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im Bösen unbewanderte -Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders, der den Strick um den Hals -und den Schemel schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben -möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht aber auch nur -einen, dann bin ich meines guten Rufes, meiner Freiheit und Zukunft -ledig, und alles um die hundert Mark, die nicht einmal für mich sind. -Er sah sich verhört, verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins -Gefängnis gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus verdient -und in der Ordnung sei. - -Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es könnte am Ende auch -besser ablaufen. Daß die Sache gar nicht entdeckt werden würde, wagte -er zwar nicht zu hoffen; aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte -man beweisen, daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er wider -seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging dann nach Hause, um -sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock und seiner besten Wäsche -angetan, erschien er eine Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs -war seine Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder -erwachten heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle übertäubt. - -Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es dem einsam -wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von der guten Bürgerschaft, -sondern zumeist von geringeren Leuten und auch von manchen verdächtig -Aussehenden besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte -und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen an dieser -Gesellschaft und er verließ den Garten, um draußen hinterm Zaun zu -warten. Da lehnte er in der Abendkühle an einer finstern Stelle des -Geheges, sah in das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten -derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen war und so -ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm alles weniger gefallen; von -den Mädchen sahen viele frech und liederlich aus, die Burschen hatten -üble Manieren und unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes -Einverständnis durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen -sahen weniger festlich und leuchtend aus, als sie ihm gestern -erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur Müdigkeit und Ernüchterung, -oder ob sein schlechtes Gewissen daran schuld sei; aber je länger er -zuschaute und wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder -kommen, und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme, von diesem -Ort wegzugehen. - -Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und ungeduldig zu -werden begann, sah er am jenseitigen Eingang des Gartens sein Mädchen -ankommen, in der roten Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und -betrachtete sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte er -nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch reizte es ihn, -sie so aus dem Verborgenen zu belauschen. - -Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten und suchte; und da -sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite an einen Tisch. Ein -Kellner kam, doch winkte sie ihm ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr -ein Bursche näherte, der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher -Patron aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit Ladidel -sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl nach ihm, und der -Bursche zeigte nach dem Ausgang und schien zu erzählen, der Gesuchte -sei dagewesen, aber wieder fortgegangen. - -Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr eilen, doch sah -er in demselben Augenblick mit Schrecken, wie der unangenehme Bursche -die Fanny ergriff und mit ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete -er sie beide, und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des Mannes -das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das Mädchen gleichgültig -zu sein, ja ihn abzuwehren. - -Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem Begleiter einem -andern zugeschoben, der den Hut vor ihr zog und sie höflich zur neuen -Tour aufforderte. Ladidel wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu -ihr hinein, doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung -zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit ihm den Schottischen -begann. Und während des Schottischen sah er sie schön mit dem andern -tun und seine Hände streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie -es gestern ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm werden -und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes mit ihr durch die -dunkleren Laubengänge wandeln, wobei das Paar dem Lauscher peinlich -nahe kam und er ihre Worte und Küsse gar deutlich hörten konnte. - -Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden Augen, das Herz voll -Scham und Wut und dennoch froh, der Hure entgangen zu sein. Junge Leute -kehrten von den Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang -aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf ihn und alle -Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war er todmüde und hatte kein -Verlangen mehr als zu schlafen. Und da er seinen Sonntagsrock auszog -und gewohnterweise seine Falten glatt strich, knisterte es in der -Tasche und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig -lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische; er sah es eine Weile an, -schloß es dann in die Schublade und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu -erleben, hatte er nun gestohlen und sein Leben verdorben. - -Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in dieser Zeit nicht -mehr an Fanny und nicht mehr an die hundert Mark, noch an das, was -jetzt über ihn kommen würde, sondern er dachte an Martha Weber und -daran, daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe. - - -Fünftes Kapitel - -Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte erfahren, wie -bitter es ist, sich vor sich selber schämen zu müssen, und stand sein -Mut auch tief, so war er dennoch fest entschlossen, mit dem Gelde und -einem ehrlichen Geständnis zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner -Ehre und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre. - -Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden Tage der Notar -nicht ins Kontor kam. Er wartete bis Mittag und vermochte seinen -Kollegen kaum in die Augen zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen -noch an diesem Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde. - -Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete, er sei -unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft kommen. Da hielt Ladidel -es nicht länger aus. Er ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs -in die Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen, er -bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte seinen Namen und begehrte -in einer wichtigen Sache den Herrn zu sprechen. So wurde er in ein -Vorzimmer geführt und aufgefordert zu warten. - -Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung und Angst -zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf jeden Ton im Hause und -hatte das Sacktuch in der Hand, da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über -die Stirn lief. Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher, -Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort ein Löwe -aus grauem Stein und in Stehrahmen eine Menge von Photographien. -Es sah hier feiner, doch ähnlich aus wie in der schönen Stube von -Ladidels Eltern, und alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und -Würde. Die Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor, -Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von guter Familie und -zweifellos bestem Rufe, und von der Wand schaute ein wohl lebensgroßer -Mannskopf herab, dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des -verstorbenen Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten. Zwischen so -viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in seinen eigenen Augen von -Augenblick zu Augenblick tiefer, er fühlte sich durch seine Übeltat -von diesem und jedem ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die -Abgängigen und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien -gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben rechter Leute -aufgestellt werden. - -Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren nennt, schwang -ihren messingenen Perpendikel gleichmütig und unangefochten hin und -wider, und einmal, nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte, -räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen, vollen -Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben Augenblick -trat ihm gegenüber der Notar durch die Türe. Er beachtete Ladidels -Verbeugung nicht, sondern wies sogleich befehlend auf einen Sessel, -nahm selber Platz und sagte: »Was führt Sie her?« - -»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre -- --.« Dann aber -schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich habe Sie bestehlen -wollen.« - -Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar wirklich -bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer Stunde telegraphiert -worden. Sie haben also wirklich einen von den Hundertmarkscheinen -genommen?« - -Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche und streckte -ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die Finger, spielte damit und -sah Ladidel scharf an. - -»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?« - -»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen hatte. Ich habe ihn -nicht gebraucht.« - -»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld genommen hätten, -wußte ich sofort. Es konnte ja sonst niemand sein. Und außerdem wurde -mir gestern erzählt, man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz -in einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt es nicht damit -zusammen?« - -Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe gab, das -Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider seinen Willen doch fast -alles heraus. Der alte Herr unterbrach ihn nur zwei-, dreimal durch -kurze Fragen, im übrigen hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem -Beichtenden ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören. - -Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und wider. Nachdenklich -nahm er eine von den Photographien in die Hand. Plötzlich bot er das -Bild dem Übeltäter hin, der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen -kauerte. - -»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen Fabrik in -Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen es ja nicht jedermann -zu erzählen, und er hat als junger Mensch in einer ähnlichen Lage wie -Sie tausend Mark entwendet. Er wurde von seinem Vater preisgegeben, -mußte hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.« - -Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel das Bild des -stattlichen Mannes ansah und einigen Trost daraus sog, daß also auch in -dieser ehrenwerten Familie ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der -Sünder es doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten -gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener Leute stehen -dürfe. - -Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen und trat zu -Ladidel, der ihn schüchtern anschaute. - -Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich glaube -nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen wieder auf rechte -Wege. Am Ende würde ich es sogar wagen und Sie behalten. Aber das geht -doch nicht. Es wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine -Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht empfehlen, wenn -ich auch an Ihre guten Vorsätze gern glauben will. Wir wollen also die -Sache zwischen uns für abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen. -Aber bei mir bleiben können Sie nicht.« - -Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich behandelt zu -sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt und so ins Ungewisse -geschickt fand, verzagte er doch und klagte: »Ach, was soll ich aber -jetzt anfangen?« - -»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte er. »Seien -Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre es Ihnen wohl nächstes -Frühjahr im Staatsexamen gegangen? Schauen Sie, Sie werden rot. Nun, -wenn Sie auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen -können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich hatte ohnehin -schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber mit Ihnen zu reden. Jetzt -ist ja die beste Gelegenheit dazu. Meine Überzeugung, und vielleicht -im Stillen auch Ihre, ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie -passen nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben. Nehmen Sie -an, Sie seien im Examen durchgefallen, und suchen Sie recht bald einen -andern Beruf, in dem Sie es weiter bringen können. Vielleicht ist es -für eine Kaufmannslehre noch nicht zu spät -- aber das ist Ihre und -Ihres Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen. Wenn Sie -noch etwas im Kontor liegen haben, was Ihnen gehört, so holen Sie es -jetzt. -- Nur noch eins: Ihr Vater muß die Sache natürlich wissen!« - -Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf. - -»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie es gewiß, und -warten Sie damit nicht lang, denn schreiben muß ich ihm doch. Am besten -fahren Sie gleich morgen nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins -Gesicht! Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie mir später -einmal Bericht geben, wird es mich freuen. Nur jetzt den Kopf nicht -ganz hängen lassen und keine neuen Dummheiten machen! -- Adieu denn, -und grüßen Sie den Herrn Vater von mir!« - -Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine kräftig und schob -ihn, der noch reden und danken wollte, zur Tür. - -Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte sehen, was -weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar schwarze Ärmelschoner -zurückgelassen, an denen war ihm nichts gelegen, und er zog es vor, -sich dort nimmer zu zeigen und sich das Abschiednehmen von den -Kollegen zu ersparen. Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor -der Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden Zeit graute, auf -dem Grund seiner Seele war er doch dankbar und beinahe vergnügt, der -furchtbaren Angst vor Polizei und Schande ledig zu sein; und während -er langsam durch die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er -nun kein Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl in -sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage auszuruhen und -aufzuatmen begehrte. - -So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch das ungewohnte -Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit frei durch die Stadt zu -spazieren, recht wohl zu gefallen. Er blieb vor den Auslagen der -Kaufleute stehen, betrachtete die Kutschenpferde, die an den Ecken -warteten, schaute auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für -eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl. Dann kehrten -seine Gedanken in den alten engen Kreis zurück, und als er, schon -wieder gedrückt und ziemlich mutlos, in der Nähe seiner Wohnung um eine -Gassenecke bog, mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen, die -dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm alles wieder recht -aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen Versuche auf dem Gebiete -der Liebe zumal, und er mußte sich vorstellen, was wohl die Martha -denken und sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe. Erst -jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht nur von Amt -und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des geliebten Mädchens entführe. -Und alles um diese Fanny. - -Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen, nicht -ohne einen Gruß an Martha fortzugehen. Schreiben mochte und durfte er -ihr nicht, es blieb ihm nur der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte -er, kurz vor dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube auf. - -Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder zu sehen. Doch -deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er müsse aus besonderen Gründen -seine Stelle verlassen und wegreisen. - -»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber wenigstens noch -einmal zusammensein, wer weiß, wann man sich wieder sieht! Wann mußt du -denn reisen?« - -Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen. Also übermorgen.« - -»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme zu dir, wenn dir's -recht ist.« - -»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut kommst, sagst du -viele Grüße von mir -- an alle!« - -»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?« - -»Ach, das geht jetzt nimmer. -- Also morgen!« - -Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden Tag, ob er es -nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den Mut dazu. Was hätte -er sagen und wie seine Abreise erklären sollen? Ohnehin überfiel ihn -heute eine heillose Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater, -vor den Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging. Und er -packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner Wirtin die Stube zu -kündigen. Statt all dies Notwendige zu tun, saß er und füllte Bogen mit -Entwürfen zu einem Brief an seinen Vater. - -»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen --« - -»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe --«. Es war -nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch deutlich zu sagen. -Aber es war immerhin leichter, diesen Brief zusammenzudichten als -heimzufahren und zu sagen: Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt. -Und so ward denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der -Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen oftmals -überdenken und den bittern Trank der Scham und Reue leeren müssen, so -hatte er im Verlauf doch auch Gelegenheit gefunden, die böse Sache von -freundlicheren Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu -streichen. - -Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen, und Kleuber fand ihn so -milde und weich wie noch nie. Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk, -eine kleine geschliffene Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die -bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken mitgeben? Es -wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen sah er sich um und rief -verwundert: »Du hast ja noch gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?« - -Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin noch nicht soweit. -Ich muß noch auf einen Brief warten.« - -»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch Zeit zum -Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich heut Abend miteinander zu -den Webers gehen. Es wäre doch schade, wenn du so wegreisen würdest.« - -Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum Himmel auf und würde -im selben Augenblick wieder zugeschlagen. Er wollte etwas sagen, -schüttelte aber nur den Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten -die Worte ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten -Fritz in ein Schluchzen aus. - -»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel winkte -schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß er seinen bewunderten und -stolzen Freund in Tränen sah, so ergriffen und gerührt, daß er ihn in -die Arme nahm wie einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in -unbestimmten Ausdrücken seine Hilfe anbot. - -»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er wieder -reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe, und schließlich kam -es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer so wohlmeinenden Seele zu -beichten, so daß er nachgab. Sie setzten sich einander gegenüber, -Ladidel wandte sein Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals -als wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen sind --« -und erzählte weiter, alles und alles, von seiner Liebe zu Martha, von -ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen, und wie leid ihm das tue. -Sodann kam er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung -und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny, von dem -Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet geblieben sei, endlich -von dem gestrigen Gespräch mit dem Notar und seiner jetzigen Lage. -Er gestand auch, daß er das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu -kommen, daß er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden -warte. - -Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu, betrübt und in -der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse. Als der andre schwieg -und das Wort an ihm war, sagte er leise und schüchtern: »Da tust du -mir leid.« Und obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig -veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas passieren, -und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht. Was soll ich da -sagen? Die Hauptsache ist jetzt, was du anfangen sollst.« - -»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.« - -»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du denn -wirklich nichts?« - -»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.« - -»Das wird nicht nötig sein. -- Wenn ich nur wüßte, ob es dir keine -Beleidigung ist -- --« - -»Was denn?« - -»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist eine Dummheit -von mir, und du nimmst es übel.« - -»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.« - -»Sieh, ich denke mir so -- du hast ja hie und da dich für meine Arbeit -interessiert, und hast selber zum Vergnügen es damit probiert. Du hast -auch viel Genie dafür und könntest es bald besser als ich, weil du -geschickte Finger hast und so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn -sich vielleicht nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit -unsrem Handwerk probieren möchtest?« - -Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das Gewerbe eines -Barbiers war ihm bisher zwar nicht schimpflich, doch aber wenig nobel -vorgekommen. Nun aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und -hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe gering zu achten. -Das fühlte er auch; und daß Fritz sein Talent so rühmte, tat ihm wohl. -Er meinte nach einigem Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das -Dümmste. Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an einen -andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun, noch einmal als Lehrbub -bei irgendeinem Meister anzufangen.« - -Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!« - -»Ja wie denn sonst?« - -»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu lernen ist. -Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft habe, das dauert -nimmer lang. Du könntest aber auch schon jetzt zu mir kommen. Mein -Meister nähme ganz gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen -Lohn will. Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes -Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja vielleicht -nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber wenn man eine gute -und feine Kundschaft hat, ist es doch kein übles Geschäft.« - -Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und spürte im Herzen, daß -hier sein Schicksal sich entschied. War es auch vom Notar zum Friseur -ein gewisser Rückschritt, so empfand er doch zum erstenmal im Leben die -innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren Beruf entdeckt und -den ihm bestimmten Weg gefunden hat. - -»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte Kleubern die -Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in meiner Haut. Mein Alter -wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden sein, aber er muß es ja -einsehen. Gelt, du redest dann auch ein Wort mit ihm?« - -»Wenn du meinst --«, sagte Fritz schüchtern. - -Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen Beruf und so voll -Eifers, daß er begehrte, augenblicklich eine Probe abzulegen. Kleuber -mochte wollen oder nicht, er mußte sich hinsetzen und sich von seinem -Freunde rasieren, den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es -glückte alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge zu -geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den Weingeistkocher -und setzte Tee an, plauderte und setzte seinen Freund durch diese -rasche Heilung von seinem Trübsinn nicht wenig in Erstaunen. Fritz -brauchte länger, um sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß -Alfreds Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser wie -in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen und Schelmenlieder -angestimmt. Es hielt ihn davon nur der Anblick des Briefes an seinen -Vater ab, der noch auf dem Tische lag und ihn am spätern Abend nach -Kleubers Weggehen noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch, war -nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den Entschluß, nun doch -heimzufahren und seine Beichte selber abzulegen. Nun wagte er es, da er -einen Ausweg aus der Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte. - - -Sechstes Kapitel - -Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte, war er zwar -etwas stiller geworden, hatte aber seine Absicht erreicht und trat -für ein halbes Jahr als Volontär bei Kleubers Meister ein. Fürs erste -sah er damit seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr -verdiente und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen war. Er -mußte seine hübsche Stube aufgeben und eine geringe Kammer nehmen, -auch sonst trennte er sich von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen -Stellung nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb bei -ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner Neigung zu -sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und Schnurrbartes, seiner Hände -und Fingernägel jetzt ohne Beschränkung frönen. Er schuf sich nach -kurzem Studium eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner -Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und Pudern das -Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als dies alles beglückte und mit -dem Wechsel seines Standes versöhnte, war die Befriedigung, die er im -neuen Berufe fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier zu -betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem er Aussicht hatte, -Bedeutendes zu leisten. - -Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete Arbeiten tun. Er -mußte Knaben die Haare schneiden, Arbeiter rasieren und Kämme und -Bürsten reinigen, doch erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten -künstlicher Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach -kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten, nobel -aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden und gab -sogar ein Trinkgeld, und nun ging es Stufe für Stufe vorwärts. Ein -einzigesmal schnitt er einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über -sich ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung und -Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber, der ihn bewunderte und nun -erst recht für einen Auserwählten ansah. Denn wenn er selbst auch ein -tüchtiger Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm -doch sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort -die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das leichte, -unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit nobler Kundschaft. Hierin -war Ladidel bedeutend, und nach einem Vierteljahr begehrten schon die -verwöhnteren Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand -es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren Ankauf -neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen, teurer Bürstchen und Kämme zu -überreden; und in der Tat mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat -willig und dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos -und wohlbestellt aus. - -Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte, trug er jede -Entbehrung leichter, und so hielt er auch die lange Trennung von Martha -Weber geduldig aus. Ein Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in -seiner neuen Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten, -seinen neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war allerdings -nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta, der die Neigung ihrer -Schwester zu dem hübschen Notar nicht unbekannt geblieben war, hatte -sich hinter Fritz gesteckt und bald ohne Mühe alles herausbekommen. -So konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten enthüllen -und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel ihres Geliebten, den -er jedoch aus Gesundheitsrücksichten vorgenommen habe, sondern auch -seine unveränderte treue Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich -seines neuen Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls -nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas gebracht und -begründete Aussichten für die Zukunft habe. - -Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom »Notar« die Rede. -Meta hatte ihn über den Schellenkönig gelobt, Martha aber sich wie -immer spröde verhalten und es vermieden, Farbe zu bekennen. - -»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß er am Ende noch -vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.« - -»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.« - -»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem Notar durchaus -nicht?« - -»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon wissen, wo er sich eine -zu suchen hat.« - -»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen, und jetzt -ist er scheu und findet den Weg nimmer recht. Dem wenn man einen Wink -gäbe, er käm auf allen Vieren gelaufen.« - -»Kann schon sein.« - -»Wohl. Soll ich winken?« - -»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer, mein ich.« - -Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl, wie ihrer -Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie gar zu gern ihren Alfred -auf gute Art wieder zu Handen gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den -Scheugewordenen wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten -Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu. - -Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens alter Meister -wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald sich einen Feierabend zu -gönnen. Da frage er an, wie es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich -nannte er die Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel -davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen waren nun billig und -wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers Mittel dazu nicht hin, so daß er -in Sorgen umherging, und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden -und Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand er sich -und schrieb ab, und erst dann erzählte er die ganze Sache Ladideln. - -Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen, und -machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit vor seinen -Vater bringen. Wenn der zu gewinnen sei, könnten sie ja das Geschäft -gemeinsam übernehmen. - -Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen Leute mit ihrem -Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht sogleich daran, obwohl die -Summe seinen Beutel nicht erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz -Kleuber, der sich seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl -angenommen hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred von seinem -jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis mitgebracht. Ihm schien, -sein Sohn sei jetzt auf gutem Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein -darein zu werfen. Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß -er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich alles anzusehen. - -Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone wurden von allen -Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß im Frühjahr Hochzeit zu -halten und bat sich Ladidel als ersten Brautführer aus. Da war ein -Besuch im Hause Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens -Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor Herzklopfen -kaum die vielen Treppen hinaufkommen. Oben empfing ihn der gewohnte -Duft und das gewohnte Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die -alte Mutter schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der -hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß in einem -dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war diesmal kaum minder -verwirrt als er selber. Man tauschte Höflichkeiten, fragte nach der -Gesundheit, trank aus kleinen altmodischen Kelchgläsern einen hellroten -süßen Stachelbeerwein und besprach dabei die Hochzeit und alles -dazu gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein Marthas -Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen, sich nun auch wieder -fleißig im Hause zu zeigen. Beide sprachen miteinander nur höfliche und -unbedeutende Worte, sahen einander aber heimlich an, und jedes fand -das andre auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert. -Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes, daß auch das -andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen heimlich, einander -nicht wieder ohne Grund weh zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit -Verwunderung, daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht -entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte ihnen scheinen, -nun seien wenig Worte mehr notwendig und die Hauptsache zwischen ihnen -in Ordnung. - -So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei, daß Meta und Fritz -die beiden nach schweigendem Übereinkommen wie ein versprochenes Paar -ansahen. Wenn Ladidel ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah, -so schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen komme -und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel half treulich bei -den Vorbereitungen zur Hochzeit mit und tat es so eifrig und mit dem -Herzen, als gälte es seine eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit -unendlicher Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue -Frisur. - -Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber und drunter -ging, erschien er eines Tages feierlich, wartete einen Augenblick ab, -da er mit Martha still allein war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine -gewagte Bitte an sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu -ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand, wollte sie -doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort, er möge nur reden. -Ermutigt brachte er dann seine Bitte vor, die auf nichts andres zielte -als auf die Erlaubnis, dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von -ihm ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen. - -Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht werde. Meta -mußte helfen, und nun erlebte Ladidel den Augenblick, daß sein alter -Wunsch in Erfüllung ging, und er Marthas lange blonde Haare in den -Händen hielt. Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein -sie frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich -nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand zugreifen -und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das Haargebäude seiner -Vollendung nahe war, ließ Meta die beiden allein, angeblich nur für -einen Augenblick, doch blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit -seiner Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich -verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch bessernd. Da -übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem schönen Mädchen mit leiser -Hand liebkosend über die Schläfe strich. Und da sie sich beklommen -umwandte und ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst, -daß er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen -festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam wieder -aufstand. - -»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr erstes schmeichelndes -Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm vor der betrübten alten Witwe ein -wenig bange war. Als er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand -führte und um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein -wenig den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte nichts -dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie Meta herbei, und nun -umarmten sich die Schwestern, lachten und weinten, bis Meta plötzlich -stehen blieb, die Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann -festhielt und begierig ihre Frisur bewunderte. - -»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand, »das ist Ihr -Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu einander?« - -Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit und zugleich die -Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel in Eile nach Schaffhausen, -während die Kleubers in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise -antraten. Der alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing -sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den Tagen bis -zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es war nötig, denn die -Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah bald, daß hier sein Weizen blühe, -und als Kleuber mit seiner Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her -ankam, und er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine -Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus. - -Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der jungen Frau zum -Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit reichlich Wasser führte. Hier -saßen sie zufrieden unter jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser -strömen und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit. »Ja,« -sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden Strom hinab, -»nächste Woche wäre mein Examen gewesen.« - -»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine Antwort. Er -schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog er aus der Brusttasche ein -kleines Paket, machte es auf und brachte ein halb Dutzend feine kleine -Kuchen hervor, von denen er den andern anbot und sich selber nahm. - -»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du, das Geschäft -trage schon soviel?« - -»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und muß noch mehr -tragen.« - - - - -Die Heimkehr - - -Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und es ist Herkommen, -daß ein junger Mensch ein Stück Welt und fremde Sitte sieht, ehe er -sich selbständig macht, heiratet und sich für immer in den Bann der -heimischen Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten -schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat einzusehen und -wiederzukehren, und es ist eine Rarität, daß einer bis in die höheren -Mannesjahre oder gar für immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin -kommt es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer -widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit in der -Heimatstadt. - -Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn des Weißgerbers -Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging wie andere junge Leute auf -Wanderschaft, und zwar als Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich -gewesen und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später -freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht, daß die -Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre gewesen und dieser -August ein recht kräftiger und zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun -schon den Handelsberuf ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit -Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch mit einigem Mitleid -herab, seinen Vater nicht ausgenommen. Und sei es nun, daß der alte -Schlotterbeck dadurch an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in -Ermangelung weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die -alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten -- kurz, er -begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich zu vernachlässigen -und es sich wohl sein zu lassen, als wäre keine Nachkommenschaft da, -und endete damit, daß er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und -seinem einzigen Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß -August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen jungen, eben -Meister gewordenen Gerber loszuwerden. - -Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als nötig in der -Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut erging, und schließlich -überhaupt nimmer an die Heimkehr dachte. Als er etwas über dreißig -Jahre alt war und weder zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch -zu einer Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein -Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt in einer -Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er diese Stellung auf -und begab sich nach England, um mehr zu lernen und nicht einzurosten. -Obwohl ihm England und die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen -hatte, nicht sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an -ein Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte und -das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor oder auf die ganze Welt -ausdehnte. Und da ihn nichts hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago, -als Direktor eine große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war -bald in Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie an den -früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr den Gerbersauer an, und -wenn er einmal Landsleute traf, was alle paar Jahre vorkam, begrüßte -und behandelte er sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch -ihm in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig, aber -auch gar hochmütig und amerikanisch geworden. - -Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug erspart zu -haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde, einem Deutschen aus -Südrußland, in dessen Heimat und tat dort in Bälde eine kleine Fabrik -auf, die ihn ernährte und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die -Tochter seines Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens -unter Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem Sinn. -Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er ohne Kinder blieb, -worüber seine Ehe an Frieden und Genüge viel verlor. Dann starb -die Frau, was ihm trotz allem weh tat und den rüstigen, fast noch -jünglinghaften Mann etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen -weiteren Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern und -infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich zu stocken. Als -aber wiederum ein Jahr später auch noch sein Freund und Schwiegervater -starb und ihn ganz allein ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und -Seßhaftigkeit des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder -Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen, dessen -Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt. Es geschah, daß er -die gesicherten politischen Zustände der Heimat in Gedanken mit dem -dortigen Skandal verglich, daß er mit Unbehagen an das Altwerden und -den Feierabend zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen und -Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen. Aus diesen Zeichen -schloß August Schlotterbeck, daß er trotz seiner guten Gesundheit und -obwohl er kaum mehr als fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr -sei, und mit dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging ihm -auch das des Weltbürgertums und der unbedingten Freiheit verloren. Er -dachte mehr und mehr daran, wie er sich noch eines zufriedenen Alters -versichern möchte, und da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn -hatten, andrerseits der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren -Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und Hoffnung des -alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung immer enger und -begehrlicher um das Heimatland und um das Städtlein Gerbersau, dessen -er in Jahrzehnten nur selten und ohne Rührung gedacht hatte. - -Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit -gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein letztes Lebenszeichen ihm den -Ruf großen Edelmutes und Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein -Vetter von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen mäßigen -großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt an ihn fiel. Die Sache -war ihm mitgeteilt und er zu einer Äußerung aufgefordert worden, da -hatte er zu Gunsten der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet. -Seither aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet -noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man wußte zwar oder -nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst aber keinen Stoff zum Bereden -an dem Entfernten, den die jetzige junge Generation nicht mehr kannte, -und so erlosch, wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft, sein -Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im selben Maße als er selber -neuerdings sich in Gedanken wieder der fernen Heimat näherte, und von -seinen Jugendgenossen erwartete keiner ihn wiederzusehen. - -Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten ihm -lästig und eines Tages faßte er mit der Schnelligkeit und Ruhe seiner -früheren Zeiten den Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik -aufzugeben und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen. -Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er den -Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und endlich des -gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene Vermögen vorläufig in -süddeutschen Banken unter, brach sein Zelt ab und reiste über Venedig -und Wien nach Deutschland. - -Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste bayrische Bier -seit vielen Jahren, aber erst als die Namen der Städte heimatlicher zu -tönen begannen und als die Mundart der Mitreisenden immer deutlicher -und schneller nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine -starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe mit -Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den Gesichtern der -Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast verwandtschaftlich anmutende -Züge fand. Und endlich fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen -Windungen talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung -zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein am Fluß, -zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden lag ein starker Druck -auf dem Herzen, wie er alles noch stehen sah wie vor Zeiten, und -unversehens fielen ihm lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus -der Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte. Das -tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des Flusses und des -Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten bedrückte ihn mit einer Art von -Tadel, daß er das alles so lang vernachlässigt und vergessen und aus -dem Herzen verloren hatte. - -Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende Rührung -nicht lange, und am Bahnhofe stieg Herr Schlotterbeck aus und ergriff -seine hübsche gelblederne Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften -unterwegs ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher -her bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der Station die -Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen Eindruck von Fortschritt und -Entwickelung machte, und da der eine auf seiner Mütze den Namen des -alten Gasthauses zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der -Vergangenheit her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und ging allein -zu Fuß stadteinwärts. - -Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch gekleidete Fremde -zog bei seinem langsamen Dahinschreiten manche Blicke auf sich, ohne -darauf zu achten. Er hatte die alte, beobachtungsfrohe Reiselaune -wieder gefunden und betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne -es mit Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens -eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die etwas veränderte -Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen grünem Spiegel wie sonst die -Gänse schwammen und dem wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten -Rückseiten und winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über -den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen der Gegend zu, -wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei gewesen war. Da suchte er -jedoch das hohe Giebelhaus und den großen Grasgarten mit den Lohgruben -vergebens. Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz -überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er sich ab und weiter, -um den Marktplatz zu besuchen, den er im alten Zustande fand, nur -schien er kleiner geworden, und auch das stattliche Rathaus war weniger -ansehnlich, als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die -Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht mehr die von -damals, sondern junge, die aber auch schon wieder recht ehrwürdige -Wipfel zur Schau trugen. - -Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen und fand ohne Mühe -den Weg zum Schwanen, wo er ein gutes Essen verlangte und auf die erste -Erkennungsszene gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht -mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder Gast behandelt, -was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er auch erst, daß seine Redeweise -und Aussprache, die er in allen den Jahren immer für gut schwäbisch -und kaum verändert gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und -von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde. Es fiel auch -auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies und neuen verlangte, den -er sich selber anmachte, und daß er statt der süßen Mehlspeise, aus -der in Gerbersau jedes Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von -dem er dann einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen -zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um ein wenig zu -ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber heftigst erstaunt. Ein -Gast am Nebentisch, den diese fremde Sitte aufregte, stand auf und -wischte seinen Stuhl mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz -vergessen abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen Stiefel -drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck drehte aber nur -den Kopf hinüber und schnell wieder zurück, dann legte er die Hände -zusammen und pflegte der Verdauung. - -Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals durch die -ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die Scheiben in manchen Laden -und manche Werkstatt, um zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von -den ganz Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren, übrig -wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen Lehrer, bei dem -er einstmals sein erstes Alphabet auf die Tafel gemalt hatte, auf der -Straße vorübergehen. Der Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig -sein und ging alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch noch -deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen erkennbar, -noch leidlich aufrecht und zufrieden einher. Schlotterbeck hatte Lust -ihn anzusprechen, doch hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem -Sturm der Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter, ohne -jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von keinem erkannt, und -brachte so diesen ganzen ersten Tag in der Heimat als ein Fremder und -Unbekannter zu. - -Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung mangelte, -sprach doch die Stadt selber desto deutlicher und eindringlicher zu -ihrem heimgekehrten Kinde. Wohl gab es überall Veränderungen und Neues, -das Angesicht des Städtleins aber war nicht älter noch anders geworden -und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich an, so daß es ihm wohl -und geborgen zu Mute ward und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen -und Abenteuer wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären -sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte gemacht -und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte auch in der Ferne -ein Weib genommen und verloren, sich wohl gefühlt und Leid erfahren, -allein zugehörig und daheim war er doch nur hier, und während er für -einen Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde, kam er -sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen Leuten, Gassen -und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen nicht ohne eine -kleine Wehmut ab; denn statt nun hier Haus und Arbeit, Familie und -Nachkommen zu haben, hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht -und weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten befestigt -und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht Meister werden, -hörte ihnen nur mit halber Billigung zu und war im ganzen doch der -Meinung, es sei nicht zu spät, daß er heimkomme, und er habe noch ein -hinreichendes Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu -werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen. - -Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel. Er fand, es sei -auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen, wenn auch mit Maß, und sowohl -die Gasanstalt wie das neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die -Bevölkerung schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen hatte, -recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt einheimisch wie -vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten noch durchaus für Fremde -gegolten hatten. Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den -Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs aus Eindringlingen -war nur unter der Arbeiterschaft deutlich zu spüren. Es mußte also das -bürgerliche Leben von einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es -war zu hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit sich -bald zurechtfinden und wieder heimisch machen könne. - -Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen Manne kam die -Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der Fremde durch Heimweh und -Erinnerungslust unnütz verklärt hatte, nun lieblich vor und atmete -einen friedvoll wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene -und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am Abend in das Gasthaus -zurückkehrte, war er in guter Stimmung und bereute nicht, diese Reise -getan zu haben. Er nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben -und abzuwarten, und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich am Ort -niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig oder im -Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken mit der Zeit eine neue, -erfreuliche Tätigkeit beginnen. Denn er glaubte doch schon jetzt zu -spüren, daß ein beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht -seine Sache sein werde. - -Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein und doch von -keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt zu werden, tat ihm gar -nicht weh, wenn es auch wunderlich war, so wie in einer Maske zwischen -lauter Schulfreunden, Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen. Er -genoß es mit schlauer Freude und mit dem Hintergedanken, daß er jetzt -immer noch ohne alles Aufheben wieder verschwinden könnte, wenn es -ihm einfiele. Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen und -Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte die hiesige Art -noch wohl genug, um sich das alles recht gut vorausdenken zu können. Er -hatte es damit nicht eilig, da ja nach einer so langen Zeit auch von -den ehemaligen Freunden mehr Neugierde und freundliche Überraschung als -Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war. - -Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten Weltfahrers nahm -denn auch bald sein Ende. Nach dem Abendessen brachte der Schwanenwirt -seinem Gaste das Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken -unter Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil es unbedingt -notwendig war, als weil er selber es satt hatte, sich über Herkunft -und Rang des Fremdlings den Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das -dicke Buch, las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm dann -dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus der Hand und schrieb -mit kräftigen, deutlichen Buchstaben, alle Fächlein gewissenhaft -ausfüllend. Der Wirt sagte Dank, streute Sand auf und entfernte sich -mit dem Folianten wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine -Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August -- aus Rußland --- auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die Herkunft und Geschichte -des Mannes nicht kannte, so schien der Name Schlotterbeck doch auf -einen Gerbersauer hinzudeuten. In die Gaststube zurückkehrend, fing -der Wirt mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch -an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum der hiesigen Stadt, kam -auf Straßenverbesserungen und neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen, -berührte die Stadtpolitik, äußerte sich über die letztjährige -Dividende der Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem -Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr nicht Verwandte -am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck gelassen, ja, er habe -Verwandte hier und gedenke etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte -aber nach keinem und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald -versiegend dahinschwankte und in sich selbst versank, und der Wirt mit -Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank einen guten Wein -mit Maß und Genuß, las unberührt von den Gesprächen des Nachbartisches -eine Zeitung und suchte früh seine Schlafstube auf. - -Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die Unterhaltung -mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre Wirkung, und während -August Schlotterbeck ahnungslos und zufrieden in dem guten, auf -heimische Art geschichteten Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im -Vaterlande tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft -manche Leute munter und gesprächig und einen sogar schlaflos. Dieser -war Augusts leiblicher Vetter und nächster Verwandter, der Kaufmann -Lukas Pfrommer an der Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und -hatte früher als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen -Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau eine bescheidene -Werkstätte eröffnet und lange Zeit den Schulkindern ihre ruinierten -Fibeln wieder geflickt und der Frau Amtsrichter halbjährlich die -Gartenlaube eingebunden, auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen -eingerahmt, vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben -und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien graue und grüne -Aktendeckel, Mappen und Kartonbände geliefert. Dabei hatte er -unmerklich etwas erspart und hinter sich gebracht, jedenfalls keine -Sorgen gehabt. Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen -Handwerker hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft -angefangen, die größeren waren Fabrikanten geworden. Da hatte auch -Pfrommer die Vorderwand seines Häusleins durchschlagen und ein -Schaufenster eingesetzt, sein Erspartes von der Bank genommen und -einen Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine Frau den -Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber zu kurz kommen ließ, -indessen der Mann weiter in seiner Werkstatt schaffte. Doch war der -Laden jetzt die Hauptsache, wenigstens vor den Leuten, und wenn er -nicht mehr einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und -machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann geworden. Mit der Zeit -gewöhnte er sich an diese geachtete und stattlichere Stellung, zeigte -sich in den Straßen nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im -guten Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und konnte sich -zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit teurer als früher. Die -Vorräte an unverkäuflich gewordenen Neujahrskarten, Bildchen, Albumen, -an abgelegenen Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram -wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht selten im Traume vor. -Und seine Frau, eine geborene Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die -früher ein lustiges und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte -sich durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie später durch die -Sorgen und Rechenkünste allmählich in eine unruhige Sorgerin, der das -seßhaft gewordene süße Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene -Gesicht paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt in -seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten Bürgerstandes, -aber ihm selber war es in den bescheidenen Handwerkszeiten, in die er -doch jetzt nimmer zurückgekehrt wäre, bedeutend wohler gewesen und -besser gegangen als in der neuen Pracht. - -Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend gegen neun Uhr, -als er mit der Zeitung bei der Lampe saß, zu seiner großen Überraschung -einen Besuch des Schwanenwirtes erhalten. Er hatte ihn erstaunt -empfangen, jener aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt, -er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er übrigens den -Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur selten habe sehen dürfen. -Aber er sei der Meinung, unter Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner -Liebesdienst selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in -allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein fremder Herr -logiere, mit wohlhabenden Manieren, der sich Schlotterbeck schreibe -und aus Rußland zu kommen vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen -und hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die schon im Bette -war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut gekeucht und sich sogar in -aller Eile noch die Hände gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem -Wirte her in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen -Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und ihn in der Schlafstube -aufzusuchen wagte er doch nicht, denn er mußte sich sagen, wenn der -Vetter extra seinetwegen die große Reise getan hätte, so hätte er -ihn wohl schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb -enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um dem Wirte -eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung einiger Stammgäste -und hütete sich, etwas von dem eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu -verraten. - -Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern und zum Kaffee -heruntergekommen, als ein älterer Mann von kleinem Wuchs, der offenbar -schon eine gute Weile bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte, -sich seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem recht -schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck sagte guten Morgen und -fuhr fort, sein Butterbrot mit herrlichem Honig zu bestreichen; der -Besucher aber blieb stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie -ein Redner, ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als ihn -der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit einem zweiten -Kompliment an den Tisch heranzutreten und mit seinen Eröffnungen zu -beginnen. - -»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute den Rußländer -erwartungsvoll an. - -»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie Buchbinder, wenn -ich fragen darf?« - -»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse. Sind Sie -- --« - -Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und suchte nicht -länger hinterm Berg zu halten. - -»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast du schon -gefrühstückt?« - -»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte dich kaum mehr -gekannt.« - -Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die Hand -entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden und Armbewegungen der -Ergriffenheit am Tische Platz nehmen. - -»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht, daß -wir dich einmal wiedersehen würden. Aus Rußland! Ist es eine -Geschäftsreise?« - -»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich hergeführt?« - -Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon er jedoch vorerst -schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der Vetter sei wieder im Land, -und da habe er keine Ruhe mehr gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn -gesehen und begrüßt; es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm -jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl? Und was denn die -liebe Familie mache? - -»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.« - -Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?« rief er mit -tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts gewußt und haben nicht einmal -kondolieren können! Meine herzliche Teilnahme, Vetter!« - -»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei dir? Du bist -Kaufmann geworden?« - -»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten und womöglich -was für die Kinder auf die Seite zu tun. Ich führe auch recht gute -Zigarren. -- Und du? Was macht die Fabrik?« - -»Die hab' ich aufgegeben.« - -»Im Ernst? Ja warum denn?« - -»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben Hungersnot und Aufstände -gehabt.« - -»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen gewundert, daß -du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen hast. Schon dieser -Despotismus, und dann die Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft -muß ja arg sein. Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden -gehalten, du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort wußte. Der -Pobjedonoszeff -- --« - -»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst du sicher -mehr als ich.« - -»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein bißchen im Blatt, -aber -- -- Nun, und was machst du denn jetzt für Geschäfte? Hast du -viel verloren?« - -»Ja, tüchtig.« - -»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben hier ja keine -Ahnung gehabt.« - -Schlotterbeck lächelte ein wenig. - -»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der schlimmsten Zeit -daran, mich vielleicht an euch hier zu wenden. Nun, es ist schließlich -auch so gegangen. Es wäre auch dumm gewesen. Wer wird einem so -entfernten Verwandten, den man kaum mehr kennt, noch Geld in die Pleite -nachwerfen.« - -»Ja du mein Gott, -- Pleite, sagst du?« - -»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich fand dann -anderwärts Hilfe ...« - -»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind ja arme Teufel -und brauchen unser bißchen nötig genug; aber daß wir dich gerade hätten -stecken lassen, nein, es ist nicht recht von dir, daß du das hast -meinen können.« - -»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner Frau?« - -»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen, ich -soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst doch?« - -»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit für die -Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit nehmen und deine Frau -einstweilen von mir grüßen.« - -Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut mit einem Paketchen -nach Hause, und da der Inhalt sich als recht nobel erwies, nahm seine -Meinung von des Vetters Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war -indessen froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu haben, -und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen und sich zu einem -hiesigen Aufenthalt für unbestimmte Zeit anzumelden. - -Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks Heimkehr -in der Stadt bekannt zu machen. Dies geschah ohne sein Bemühen durch -eine geheimnisvolle drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt -und Tritt angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch -Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte schon gar viel von -ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen in der Leute Mund schnell -einen fürstlichen Umfang an. Einige verwechselten beim Weiterberichten -in der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der Türkei, nur -das mit unbekannten Geschäften erworbene Vermögen blieb ein fester -Glaubenssatz, und in den nächsten Tagen wimmelte es in Gerbersau von -Lesarten, die zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen -den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler je nach -Temperament und Phantasie der Erzähler auf und nieder spielten. Man -erinnerte sich des längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck -und der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche, die -ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden noch im -Gedächtnis hatten, und eine verstorbene Fabrikantenfrau wurde zu seiner -unglücklichen Jugendliebe ernannt. - -Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von diesen -Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem Vetter zu Tisch -geladen war, hatte ihn vor dessen Frau und Kindern ein unüberwindliches -Grauen erfaßt, so übel maskiert war ihm die Spekulation auf den -Erbvetter entgegengetreten. Er hatte um des Friedens willen dem -Verwandten, der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges Darlehn -gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg geworden und hatte -sich für weitere Einladungen einstweilen im voraus freundlich bedankt. -Die Frau war enttäuscht und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von -dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet. - -Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen. Dann fand er ein -Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb der Stadt gegen die Wälder -hin eine neue Straße entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger -Steinbrüche, die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister, der -in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen -Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch für wenige Kreuzer -käuflichen Boden am Beginn des neuen Weges einstweilen drei hübsche -kleine Häuschen gebaut, weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute -von hier aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören, -was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts den Fluß -durch die Wiesen laufen und gegenüber die roten Felsenhöhen hängen, -und rückwärts hatte man in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei -hübschen Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines -hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher -gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser aber der Vollendung -entgegenrückte und nur noch wenige Handwerker darin zu tun hatten, -ging es hier oben recht still und friedevoll zu. Denn auch der -Gerichtsvollzieher, übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war -schon nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen und -war einem alten Leiden, das er bis dahin manche Jahrzehnte lang mit -Arbeit und Humor überwunden hatte, nach kurzer Zeit erlegen. In dem -Häuschen saß nun ganz allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe -des Gerichtsvollziehers, ein recht frisches und sauberes Frauchen, von -welcher noch zu reden sein wird. - -In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem Witwensitz -und dem Neubau entfernt lag, richtete nun Schlotterbeck sich ein. Er -mietete den unteren Stock, der drei Zimmer und eine Küche enthielt, -und da er keine Lust hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger -Einsamkeit einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische, Stühle, -Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen Aufwartung eine -Frau, die zweimal des Tages kam. Den Kaffee kochte er sich am Morgen, -wie früher in langen Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags -und abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm eine -Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer aus Rußland ein, -deren Inhalt die leeren Wandschränke füllte. Täglich erhielt und las -er einige Zeitungen, darunter zwei ausländische, auch ein lebhafter -Briefwechsel kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der -Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten, teils -bei den Geschäftsleuten, namentlich in den Fabriken. Denn er suchte -ohne Hast, doch aufmerksam nach einer bequemen und vorteilhaften -Gelegenheit, sich mit Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen -zu beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen -Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung. Er wurde -da und dort eingeladen, auch zu den geselligen Vereinen und an die -Stammtische der Honoratioren. Freundlich und mit den Manieren eines -gereisten Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne sich fest -zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel Kritik hinter -seinem Rücken an ihm geübt wurde. - -August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes in einer -Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte zwar ein klein wenig -über seinen Landsleuten zu stehen, lebte aber doch in dem Gefühl, -ein Gerbersauer zu sein und in allem Wesentlichen recht wieder an -den alten Ort zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte -nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken und -Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach. Diese empfanden das desto -besser, und wenn auch Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines -Geldbeutels eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen gar -viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört hätte. Manches, -was er ahnungslos in alter Gewohnheit tat, erregte hier Kritik und -Mißfallen, man fand seine Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd, -seine Anschauungen amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen mit -jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit seiner Aufwärterin -wenig anders als mit dem Stadtschultheißen, er ließ sich zu Tisch -laden, ohne innerhalb sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten, -er machte zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber Dinge, -die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen, auch in Familien in -Gegenwart der Damen harmlos heraus. Namentlich in den Beamtenkreisen, -die in der Stadt wie billig zuoberst standen und den feinen Ton -angaben, in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister, machte -er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich geschonte und behütete -Welt amtlicher Machthaber und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger -Hochachtung und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf -den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause sitzt, hatte -an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude, um so mehr da sie von -seinem sagenhaften Reichtum doch keinen Vorteil zu ziehen hoffen -konnte. Und in Amerika hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte -einfach für Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre -Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme, gefürchtete -Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld etwas vermochte. Da -war es schwer für ihn, dem niemand Anweisungen gab, die Heiligkeit -der Titel und die ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu -begreifen, am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht mit -Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr überall den -rechten Ton zu treffen. Als Fremder kannte er auch die verwickelten -Familiengeschichten nicht und es konnte gelegentlich ohne seine -Schuld passieren, daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete. -Da sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit -und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten seiner Verfehlungen -zu säuberlich gebuchten und kontrollierten Sümmchen an, von denen er -keine Ahnung hatte, und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch -andere Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen -beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand, dessen Stiefel ihm -gefielen, ohne lange Einleitungen nach ihrem Preise fragen. Und eine -Advokatenfrau, die zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren -dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke Zeigefinger -fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit Kunst und Eifer zu -verbergen suchte, wurde von ihm mit aufrichtigem Mitleid gefragt, -wann und wo sie denn ihres Fingers verlustig geworden sei. Der Mann, -der Jahrzehnte in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt und -seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen, daß man einen -Amtsrichter nicht fragen darf, was seine Hosen kosten. Er hatte wohl -gelernt, im Gespräch mit jedermann höflich und vorsichtig zu sein, -er wußte, daß manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube -verzehren, daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken es vermeidet, -sich zu einer allein wahren Religion zu bekennen; aber daß mitten in -Europa es große Gesellschaftskreise und Stände gab, in welchen es für -roh gilt, von Leben und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit -freiweg zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer unbekannt -geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen legen nach Belieben, aber -von niemand geradezu sagen darf, man könne ihn nicht ausstehen, das -war nebst mancher andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch in -Rußland beigebracht worden. - -Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit ihm zufrieden -sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen machte, viel weniger als -sie an ihn. Er ward zu allerlei guten Zwecken um Beiträge angegangen -und gab sie jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst -und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man auch hier nur -halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten erwartet, wo er Silber und -Nickel gab. Zum Glück erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und -lebte eine gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier -Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann zu sein. - -Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere Male, kam -Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause der Frau Entriß vorbei, -der Witwe des Gerichtsvollziehers, die hier in Gesellschaft einer -schweigsamen und etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte. - -Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene Witwe hätte -im Genuß ihrer Freiheit und eines kleinen Vermögens ganz angenehme und -unterhaltsame Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl -ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf ihrer -Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte aus dem Badischen, -und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht für ihren in der Stadt -wohlbeliebten Mann, freundlich und erwartungsvoll aufgenommen. Doch -hatte mit der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet, -dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit war. Daraus -machte das Gerede einen giftigen Geiz, und da man einmal kein Gefallen -an der Frau gefunden hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere -und sie wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin, -sondern auch als Hausdrache verrufen. Der Gerichtsvollzieher selber -war nun nicht der Mann, der über die eigene Frau schlecht gesprochen -hätte, aber immerhin blieb es nicht verborgen, daß der heitere und -gesellige Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei der Frau -als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen Biersitzungen suchte. Nicht -daß er ein Trinker geworden wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter -der angesehenen Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er -sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen und -auch tagsüber zwischenein gelegentlich einen Schoppen zu nehmen. -Trotz seiner schlechten Gesundheit setzte er dieses Leben so lange -fort, bis ihm vom Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein -anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner bedürftigen -Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner Pensionierung eher -schlimmer gegangen, und jetzt war alles darüber einig, daß die Frau -ihm das Haus verleidet und von Anfang an den Untergang des braven -Mannes verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine -Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der Schwägerin sitzen und -fand weder Frauentrost noch männliche Beschützer, obwohl außer dem -schuldenfreien Haus auch noch einiges Vermögen vorhanden war. - -Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit nicht -unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat, Bankbüchlein -und Garten in bester Ordnung und hatte damit genug zu tun, denn die -Schwägerin litt an einer leisen Verdunkelung des Verstandes und tat -nichts anderes als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln, -Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten Bilderalbums -vertreiben. Die Gerbersauer, damit das Gerede über die Frau auch nach -des Mannes Tode nicht aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das -arme Wesen zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die -Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit angehalten, schlafe -in einem nie gereinigten und gelüfteten Verschlag, Hitze und Kälte -ausgesetzt, und werde das alles sicherlich nimmer lange aushalten, was -ja auch im Interesse der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese -Gerüchte immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts wegen -etwas getan werden, und eines Tages erschien im Haus der erstaunten -Frau der Stadtschultheiß mit dem Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende -Worte über die Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne -und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der Drohung, wenn -nicht alles einwandfrei befunden werde, müsse die Gestörte in einem -staatlichen Krankenhause versorgt werden, natürlich auf Kosten der -Frau Entriß. Diese verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge -nur alles untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich, -wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme, müsse er aus einer -andern Quelle kommen, und wenn man die Kranke anderwärts versorgen -wolle, könne es ihr nur lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der -Stadt geschehen und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser -haben werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke -keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war und bei der -wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo leben möchte, wo sie -es sehr gut haben werde, furchtbar erschrak und flehentlich sich an -ihrer Schwägerin festhielt. Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und -ohne alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß -verlegen wieder fort. - -Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man darüber -verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter und Lebensführung -einer schutzlosen Frau zu tadeln. Daß sie sparsam war, steht fest. -Sie hatte nicht nur vor dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem -noch so kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter -schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas wegzuwerfen -oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde, das ihr Mann seinerzeit in die -Wirtshäuser getragen hatte, tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid -wie ein unsühnbares Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die -Eintracht ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte sie, was -der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung im Hause und -durch fleißige Arbeit einigermaßen einzubringen gesucht. Und nun, da er -gestorben und damit das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war, -da kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause ging und ein -Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen werden konnte, erlebte -die gute Haushalterin ein spätes, ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß -sie sich irgendetwas über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher -mehr als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und sich -langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille Zufriedenheit, die -sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen war. - -Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand Frau Entriß, wenn -sie irgend etwas Wertloses zu Wert bringen, etwas finden oder erobern -konnte, etwas Weggeworfenes doch noch brauchen und etwas Verachtetes -verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf den baren Nutzen -gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken und Begehren den engen Kreis -des Notwendigen und erhob sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die -Frau Gerichtsvollzieher war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt, -sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben, nur durfte das -niemals einen Pfennig bares Geld kosten. So war ihre Kleidung äußerst -bescheiden, aber sauber und nett, und seit sie mit dem Häuslein auch -ein kleines Stück Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und -Erfreulichem ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine eifrige -Gärtnerin. - -Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin vorüberschritt, -schaute er jedesmal mit Freude und einem leisen Neid in die kleine -bescheidene Gartenpracht der stillen Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete -waren appetitlich von Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber -auch mit Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und Reseden -schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames Glück zu verkünden. - -Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und in dem -hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen solchen Wuchs zu erzielen. -Hier hatte Frau Entrißens Leidenschaft Wunder getan, und tat sie -noch immer. Sie brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze -Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren der -schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem Schäufelein den -goldeswerten Dung, den die Pferde und ihre Herren achtlos liegen -ließen. Hinterm Hause tat sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale -sorgsam auf den Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung -das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte. Sie brachte -aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge von Maiblumen und -Schneeglöckchen mit, und den Winter hindurch zog sie im Zimmer und -Keller ihre Ableger mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles -Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt verborgen duftet, -eine Freude am Nützen des Brachliegenden und Verwenden des umsonst -zu Habenden, und vielleicht unbewußt auch ein still glimmender Rest -unbefriedigter Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen -Gartenmutter. - -Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr Schlotterbeck täglich -mehrmals anerkennende Blicke in die von jedem Unkraut reinen Beete und -Wegchen, labte seine Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten -Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn ein leichter -Wind ging und ihm beim Weitergehen eine Handvoll süßen Gartenduftes -nachwehte, freute er sich dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer -zunehmenden Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen er -ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht eben leicht -mache, und sich einigermaßen vereinsamt und betrogen vorkam. - -Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin -erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen Gerichtsvollziehers -und viel arge Urteile über seine Witwe zu hören, so daß er nun eine -Zeitlang das friedevolle Haus im Garten mit einem traurigen Erstaunen -darüber betrachtete, daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz -einer so verworfenen Seele sein müsse. - -Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal hinter ihrem -niederen Zaune sah und anredete. Bisher war sie stets, wenn sie ihn -von weitem daherkommen sah, still ins Haus entwichen. Diesmal hatte -sie ihn, über ein Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören, -und nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand und -sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider ihren Willen, den -Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig, sondern fragte sie: »Schon -fleißig, Frau Nachbarin?« - -»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort: »Was Sie für -einen schönen Garten haben!« - -Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die schon wieder -an ihren Gräslein zupfte, verwundert an. Er hatte sie sich, jenem -Gerede nach, mehr furienmäßig vorgestellt, und nun war sie zu seinem -angenehmen Erstaunen recht ordentlich und gefällig von Gestalt, -das Gesicht ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne -Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche Erscheinung. - -»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich. »Adieu, Frau -Nachbarin.« - -Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah ihm drei, vier -Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig in ihrer Arbeit fort, -ohne sich über den Nachbar Gedanken zu machen. Dieser aber dachte noch -eine Weile an sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches -Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu beobachten. -Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger Mann sah er bald aus -vielen kleinen Zügen ein Bild zusammen, das keinem Engel gleichsah, -aber auch nicht zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen -wollten. Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt still -und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte, er sah sie -den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen, stellte fest, daß sie keine -Besuche empfing, und belauschte das kleine, einsame Leben der fleißigen -Frau mit Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen, abendlichen -Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr verschrien war, blieben ihm -nicht verborgen. Doch fiel es ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn -er auch darüber lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden, -aber ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß -soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet werde. Zum -erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall stutzig geworden, dem -Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen und manches faul zu finden, was er -bisher gläubig hingenommen hatte. - -Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder und wechselte -ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt mit ihrem Namen an, und -auch sie wußte ja, wer er sei, und sagte Herr Schlotterbeck zu ihm. -Er wartete gern mit dem Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging -dann nicht vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und -Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen, ehrlichen und -recht gescheiten Antworten zu freuen. - -Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler auf die Frau zu -sprechen. Er erzählte, wie der saubere Garten ihm aufgefallen sei, wie -er die Frau in ihrem stillen Leben beobachtet habe und nicht begreifen -könne, daß sie in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu, -dann meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt. Ein -Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber Kamerad, und so gut -wie ein Kind! Und den hat sie einfach auf dem Gewissen.« - -»An was ist er denn gestorben?« - -»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang gehabt und ist -fidel dabei gewesen. Dann nach seiner Pensionierung, statt daß ihm die -Frau es jetzt nett und freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz -hausscheu geworden. Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen, -weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen leichtsinnig mag er -ja von Natur gewesen sein, aber daß er am Ende gar zuviel geschöppelt -hat, daran ist allein sie schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie. -Da hat sie zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes -Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig so -behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum bekümmern und -sie kontrollieren mußte.« - -Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt gewesen. -Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache ward ihm überall -bestätigt, wo er darum anklopfte. Es schien ihm wunderlich und wollte -ihm leid tun, daß er sich in der Frau so hatte täuschen können. Aber -so oft er sie wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand -aller Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und ging -zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren. Er wurde mit -Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch seine Frage vorbrachte, -wie es denn mit der Frau Entriß und ihrer Schwägerin stehe, ob sie -wirklich im Verdacht der Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da -meinte der Stadtschultheiß abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich -für Ihre Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese -Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie können es uns ruhig -überlassen, daß wir zum Rechten sehen. Oder haben Sie eine Beschwerde -vorzubringen?« - -Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es in Amerika -manchmal hatte sein müssen. Er ging leise und machte die Türe zu, -setzte sich dann wieder und sagte: »Herr Stadtschultheiß, Sie wissen, -wie über die Frau Entriß geredet wird, und da Sie selber bei ihr -waren, müssen Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine -Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch. Oder -nicht? -- Also. Warum dulden Sie das?« - -Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell wieder -gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber Herr, ich habe -wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen Sachen zu befassen. Es -kann sein, daß da und dort der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht -recht ist, aber dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.« - -»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben mir also die -Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens in guter Behandlung -ist?« - -»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich Ihnen raten darf, -lassen Sie die Finger davon! Sie kennen die Leute hier nicht und machen -sich bloß mißliebig, wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.« - -»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen. Aber -einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau reden höre, werde -ich ihn einen Ehrabschneider heißen und mich dabei auf Ihr Zeugnis -berufen.« - -»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch nichts, und Sie -haben nur Verdruß davon. Ich warne Sie, weil es mir leid täte, wenn --« - -»Ja, ich danke schön.« - -Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck von seinem -Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es hatte sich herumgeredet, daß er -ein merkwürdiges Interesse für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer -war von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter möchte auf -seine alten Tage noch Torheiten machen. Wenn es zum Schlimmsten käme -und er die Frau heiratete, würden seine Kinder von den ganzen Millionen -keinen Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen Vetter -von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam auf die Nachbarschaft -zu sprechen und ließ vermuten, er wisse viel über die Frau Entriß -zu erzählen, falls es den Vetter interessiere. Der winkte jedoch -gleichmütig ab, bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und -ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht kommen. - -Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin im Garten -erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal hatte er ein langes, -vertrauliches Gespräch mit ihr, worin er auf sein einsames Leben -hinwies und ihre freundlich-tröstliche Nachbarschaft dankbar rühmte. -Sie ging klug und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns -ungewohnt und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie ihm schien, auch -Anmut. - -Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an täglich, immer -über den Staketenzaun hinweg, denn seine Bitte, ihn auch einmal im -Garten selber oder gar im Hause zu empfangen, lehnte sie mit stiller -Entschiedenheit ab. - -»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide keine jungen -Leute mehr, aber die Gerbersauer haben immer gern was zu plappern und -es wäre schnell ein dummes Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel -angeschrieben, und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen Sie.« - -Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins, und -seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten hatte schon bedeutend -nachgelassen. Er begann zu merken, daß er hier doch fremd sei und daß -Höflichkeit, Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem Namen -und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten Mitbürger, sondern eben -seinem Geldsack galt. Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit -überschätzte, und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters Pfrommer -und anderer Angelkünstler machte ihm einen gewissen Spaß, aber für die -beginnende Enttäuschung konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte -den Wunsch, sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder -zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist und hätte -nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft gekostet, wovor ihm -nicht bange war. Es hielt ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß -er spürte, er werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein -Stücklein von sich hängen zu lassen. - -Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem kleinen, weiß und -braunen Nachbarhaus vorüber. Das Schicksal der Frau Entriß war ihm -jetzt nimmer so dunkel, da er sie besser kannte und sie ihm auch -manches erzählt hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen -Gerichtsvollzieher jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die -Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im Grunde genommen ein -Windbeutel gewesen sein mußte, daß er es nicht verstanden hatte, unter -der Herbe und Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und -ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt, daß sie neben -einem verständigen Manne, vollends in reichlichen Verhältnissen, eine -Perle abgeben müßte. Ihr Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung -zur Leidenschaft ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war auch -eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor jedem Werte besaß, -um ihn auch ohne eigenen Vorteil möglichst zu retten und zu bewahren. - -Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr bekam, worin -freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen halfen, desto besser -begriff er, daß sie in Gerbersau unmöglich verstanden werden konnte. -Denn auch der Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher -geworden, wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte er, -daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht mehr habe und hier -ebensowenig gedeihen und sich entfalten könne wie die Frau Entriß. -Diese Gedanken waren, ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu -seinem stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und Versuch, -sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar und unsterblich zu -machen. - -Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten der Witwe duftete -mitten in der sandigen und glühenden Umgebung triumphierend weit über -seinen niederen Zaun hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom -nahen Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten und aus -dem Tale in der Stille nach dem Schluß der Fabriken der Fluß leise -herauf rauschte. An einem solchen Abend kam August Schlotterbeck zu -Frau Entriß und trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch -in die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete und -die Hausfrau ihn verwundert und fast ein wenig ungehalten ansprach. Er -erklärte aber, heute durchaus hereinkommen zu müssen, und ward denn von -ihr in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings etwas -kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig fand. Die Frau legte -schnell ihre Schürze ab, setzte sich auf einen Stuhl beim Fenster und -hieß auch ihn sich setzen. - -Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an. Er erzählte -sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht ausgenommen, mit -einfacher Trockenheit, schilderte dann etwas wärmer seine Heimkehr -nach Gerbersau, seine erste Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an -manche Gespräche, in denen sie einander so gut verstanden hätten. Und -nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie sei nicht gar zu -sehr überrascht. - -»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich bin kein Millionär, -wie die Leute hier herumreden, aber so ungefähr eine viertel Million -oder etwas drüber wird schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien -beide noch zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht -zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie Sie schon -allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden, statt noch einmal -anzufangen und vielleicht hereinzubringen, was früher am rechten Glück -gefehlt hat?« - -Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien liegen und -hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich warm und lebhaft wurde -und wiederholt seine rechte Hand ausstreckte, als fordere er sie auf, -sie zu nehmen und festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie -saß ganz still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken zu -erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit und -Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden Leute saßen einander nahe -gegenüber, er von seinem Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie -aber von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten Ehrung -leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide Gesichter glühte mit -feiner Abschiedsröte die tiefstehende Sonne durch das offene Fenster. -Da sie weder Antwort gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle -aufsah, fuhr Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und -hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden könnte, -wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem andern, neuen Ort ohne -unliebe Erinnerungen sich ein friedlich fleißiges Leben führen ließe, -bescheiden und doch etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren -Garten und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich -zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick besänftigt und -von dem rotgelben, innigen Abendscheine leicht und wohlig geblendet, -recht milde mit halber Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte -und ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und schwieg, -von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele leicht gelähmt. Es ward ihr -nicht völlig bewußt, daß das eine Werbung und eine Entscheidung für ihr -Leben bedeute, auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch Qual, -denn sie war durchaus entschieden und dachte keine Sekunde daran, das -für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten gingen so gleitend und leicht -und wie von einer Musik getragen, daß sie benommen lauschte und keines -Entschlusses fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu schütteln -oder aufzustehen. - -Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie fragend an und -sah sie unverändert mit niedergeschlagenen Augen und fein geröteten -Wangen verharren, als schaue sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche -einer seltenen Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die -sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig wie -ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er schon an einem kleinen -goldenen Faden zu halten meinte. Ihre Bewegung verstand er nicht, -denn er deutete sie zu seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben -hingenommenen und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die -merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden Flügeln durch -das abendhelle Stüblein und durch sein Gemüt reisen. - -Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so -halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur Minuten, denn -die Sonne stand noch immer nah am Rande der jenseitigen Berge, als sie -aus dieser Stille jäh erweckt wurden. - -Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten und war, -schon durch den ungewohnten Besuch in Aufregung und einige Angst -geraten, bei dem langen, leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden -von argen Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es schien -ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen und allmählich ergriff -sie, die nur an sich selber zu denken vermochte, eine wachsende Furcht, -der fremde Mann möchte gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine -stille, argwöhnische Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches der -Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts noch so Geringes -im Hause vorfallen, ohne daß die arme Jungfer mit Entsetzen an eine -gewaltsame Hinwegführung und Einsperrung an einem unbekannten fernen -Orte denken mußte. - -Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer abnehmenden -Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte, gewaltsam schluchzend und -in Verzweiflung aufgelöst in die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer -Schwägerin nieder und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem -Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die Frau Entriß -plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen alles wieder mit nüchternem -Verstande wahrnahm und sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte. - -Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor, fuhr ihr mit -tröstender Hand übers Haar und redete halblaut und eintönig auf sie ein -wie auf ein heulendes Kind. - -»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst jetzt nicht mehr? -Komm, Kindelchen, komm, wir sind vergnügt und kriegen was Gutes zum -Nachtessen. Hast gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es -nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben, kein Mensch -darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein, nimmer weinen!« - -August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit Rührung zu, -die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit einem kindlichen Genuß, -wiegte den Kopf hin und wider, klagte mit abnehmender Stimme und verzog -ihr verzweifeltes Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen -unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln. Doch kam -sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr als entbehrlich vor, -er hustete darum ein wenig und sagte: »Das tut mir leid, Frau Entriß, -hoffentlich geht es gut vorbei. Ich werde so frei sein und morgen -wiederkommen, wenn ich darf.« - -Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz, wie er um sie -geworben und sie ihm zugehört und es geduldet habe, ohne daß sie doch -willens war, ihn zu erhören. Sie erstaunte über sich selber, es konnte -ja aussehen, als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht -fortgehen und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie ein, und sie -sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber. Wir müssen noch -reden.« Ihre Stimme war ruhig und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte -der Sonne und die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre -Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen bangen Glanz von -Trauer auf den Werber, der mit dem Hute in den Händen wieder niedersaß -und nicht begriff, wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme -gekommen sei. - -Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und kehrte an ihren -vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie im Zimmer lassen,« sagte sie -leise, »sonst wird sie wieder unruhig und macht Dummheiten. -- Ich habe -Sie vorher reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum, -ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie es nicht falsch -gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein fester Entschluß, mich nicht -mehr zu verändern. Ich bin fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß -reichlich fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute -nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar gut und dankbar -bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen, können wir es weiter so haben. -Aber damit wollen wir zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden -haben.« - -Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an. Unter -Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen und ihr recht -geben. Allein der Glanz, den sie vor einer Viertelstunde im Gesicht -gehabt hatte, war ihm noch wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im -Gedächtnis und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der Glanz -nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel im Herzen seiner -Wege gegangen; so aber schien ihm, er habe das Glück schon wie einen -zutraulichen Vogel auf dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick -des Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe gehabt, läßt -man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine neue Gelegenheit zum Fang -entrinnen. Außerdem, und trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem -sie schon so fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie -jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war es seine -Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche Vernunftheirat zu -betreiben, nun aber hatte die stille Weichheit dieser Abendstunde ihn -vollends wahrhaft verliebt gemacht, so daß jetzt an ein einfaches, -freundlich kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war. - -»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind jetzt -erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag zu sehr -überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig gesagt und mich zu -sehr an das Praktische und Geschäftliche der Sache gehalten, wenn es -auch nicht so gemeint war. Ich will darum nur sagen, daß mein Herz -es ernst meint und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch -Gründe dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es steht -mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer zu lassen. Ich -habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande Widerstand leisten, -kann ich mich nicht zufrieden geben wie ein Handelsmann, den man um -ein Haus weiterschickt. Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg -weiterzuführen und Sie nach meinen Kräften zu belagern, damit es sich -zeigt, wer der Stärkere ist.« - -Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang, wenn auch nicht -überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft in ihr Frauengemüt und -tat ihr im Innern wohl wie ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es -auch nicht wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln -Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den Angriff abzuwehren -und ihre liebgewordene Freiheit zu behalten. - -Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar! Die Männer bleiben -eben länger jung als unsereine, und es tut mir leid, daß Sie mit meinem -Bescheide nicht zufrieden sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal -nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder jung machen und -verliebt tun, es käme nicht von Herzen. Auch ist mir mein Leben, so wie -es jetzt ist, lieb und gewohnt geworden, ich habe meine Freiheit und -keine Sorgen. Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin, die mich -braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab' ich ihr versprochen -und will dabei bleiben. -- Aber was rede ich lang, wo nichts zu sagen -ist! Ich will nicht und ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir -meinen, so lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit -Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen und würde -kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn Sie wollen, so vergessen wir das -heutige und bleiben gute Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer -sehen.« - -Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch nicht, sondern -ging in erregten Gedanken, als wäre er im eigenen Hause, heftig auf und -ab, um einen Weg aus dieser Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu, -ein wenig belustigt, ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es -ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht töricht, Herr -Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen, und für Sie wird es auch Zeit -sein.« - -Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er nahm seinen -Hut, den er in der Aufregung weggelegt hatte, manierlich in die linke -Hand, verbeugte sich und sagte mit einem schwachen, etwas mißlungenen -Lächeln: »Gut, ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen -Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und werde Sie eine -Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen mich nicht für gewalttätig -halten. Aber ich komme wieder, sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich -bitte um nichts, als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal -in Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort geben, -ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird. Ich reise fort, das hatte -ich ohnehin im Sinn, und Sie werden also alle Ruhe vor mir haben. Und -wenn ich wiederkomme, ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie -dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein und werde dann -Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien. Sie sind das Einzige, was -mich noch in Gerbersau halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und -auf Wiedersehen!« - -Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab aber in -freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen Sie schon, sie wird -nicht anders werden. Damit Sie meinen guten Willen sehen, will ich -Ihren Vorschlag gelten lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen, -sehen Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen, und -bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute Reise!« - -»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den Türgriff in die -Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück, den nur die Schwägerin -erwiderte, und trat unbegleitet aus dem Hause in die noch lichte -Dämmerung. Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende -Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit -zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich für immer -zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau. Dieser Entschluß tat ihm -in seinem übrigen schwebenden und abhängigen Zustande wohl, als ein -Ausblick auf selbständigere und gesichertere Zeiten, nach denen ihn -sehnlich verlangte. - -Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung hinüber, nicht -ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen zurückzuschauen, das mit -geschlossener Tür und Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte -Sommernacht erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch -eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend in einem -sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen. Bei ihrem Anblick -fühlte der Mann noch einmal die feine, innig glühende Erregung der -vergangenen Stunde vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten -Kopf zu den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat er sein -einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen in der Stadt, aß nur ein -halbes Pfund Kirschen, die er morgens gekauft hatte, und fing noch am -selben Abend an, sich für die Reise zu rüsten. - -Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab die Schlüssel -seiner Aufwärterin und den Koffer einem Dienstmann, seufzte befreit -und ging davon, in die Stadt hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im -Vorbeigehen einen Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß -zu wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger begleitet, -elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte ihm von Herzen -gute Erholung. - -Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes Leben glitt -wieder in die vorige Einsamkeit zurück, es kam niemand zu ihr und -es schaute niemand mehr über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt -wußte man genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer -geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die natürlich keinen Tag -verborgen blieb. Sie kümmerte sich nach ihrer Art um das alles nicht, -sondern ging ruhig ihren Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr -leid, daß es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie hatte -ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit mit Bedauern -gestört. Doch war sie sich keiner Schuld bewußt und in langen Jahren an -das Alleinleben so gewöhnt, daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen -Kummer machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden Beeten, -goß am Morgen und Abend, erntete das Beerenobst, machte ein und tat mit -zufriedener Emsigkeit die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr -die Schwägerin unverhofft zu schaffen. - -Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien aber seither -noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst zu kämpfen, welche eine -Art von Verfolgungswahnsinn war und in einem mißtrauischen Träumen von -Entführung und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der ungewöhnlich -viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht gut, und schließlich konnte -Frau Entriß kaum mehr auf eine halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da -die Kranke das Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte -sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin sicher und umgab -die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen und scheuen Blicken einer -grundlosen Furcht. Am Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke -in neues Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung -wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder ein Grund, von erneuter -Mißhandlung und behördlicher Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun -in Verbindung mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu -einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet. - -Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren, wo es -ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde, so daß er, auch von einiger -innerer Unrast geplagt, bald wieder aufpackte und weiterfuhr, -diesmal nach Freudenstadt, das ihm von jungen Zeiten her bekannt -war. Dort gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines -schwäbischen Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und über -technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung reden konnte. -Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß und gleich ihm selber weit -in der Welt herumgekommen war, machte er täglich lange Spaziergänge -in den kühlen Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder -das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner Landschaft und -Waldnähe marschieren und in hübschen Ortschaften und guten Gasthäusern -sich ausruhen kann. Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine -Lederwarenfabrik von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund fragte -ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei, seine Erholungstage -in so angenehmen und vertrauten Gesprächen hinbringen zu können. Es -entstand zwischen den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit -und gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in der -Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem eine Bekanntschaft -mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier erstaunlich war. So währte -es nicht lange, bis er dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage -genauer mitteilte, und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter -Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden werden. - -Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich, er vergaß -sogar für halbe Tage seinen schwebenden Handel mit der Witwe in -Gerbersau, von dem er Herrn Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen. -Den alten Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit einem -gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige neue Unternehmungen -nicht wenig, und die Bedürfnisse seines Herzens zogen sich, da er -ihnen nie allzuvielen Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück. -Nur wenn er allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn -das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder warm. Doch auch -dann schien ihm die Angelegenheit nicht mehr gar so verzweifelt und -gewichtig. Er dachte an jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und -fand schließlich, sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein, -daß der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen Teil an -seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien. Nicht daß er nun kalt und -untreu geworden wäre, das lag nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie -zu vermuten war, es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde, -schien ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen nicht -unerträglich. - -Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von Herrn Trefz -eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und seinen Betrieb -anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort von geschäftlichen Beziehungen -die Rede gewesen, doch wußten beide, wie es stand und daß der Besuch -sehr wohl zu einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts -führen könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem Freunde die -Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne. - -»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen wir dann, -falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.« - -Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen, dem er -nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt zugesehen hatte. Er sah Arbeit -und Sorge, Gewinn und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und -mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute er sich jetzt -auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines Arbeiters und Unternehmers, -auf Einrichtungen und Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf -Telegramme, Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger des Geldes wegen, -dessen er für den Bedarf seines Alters genug besaß, als aus Freude -an Umtrieb und Wagnis, aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem -Welthandel und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich stieg er -an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne heut ein einziges Mal -an seine Witwe gedacht zu haben. - -Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe und seinen -Beistand wohl hätte brauchen können. Die Schwägerin war unter der -Beobachtung des Oberamtsarztes noch scheuer und unheimlicher geworden -und machte das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem sie -bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend die Treppen -auf und ab stieg und durch die Stuben wanderte, bald auch sich in ihrer -Kammer einschloß und eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln -bestand. Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden, wenn auch -ruhige Tage dazwischen kamen, und der geängstigte Doktor, der in -solchen Dingen keine Erfahrung hatte, drängte zur Fortschaffung und -Versorgung in einer Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange -sie konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen Jungfer in -langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft der völligen Einsamkeit -immerhin vor, auch hoffte sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht -lange dauern, und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten, -die möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt ihr -entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen ihr Lebenlang -kochen, waschen und aufwarten, ihre Launen ertragen und sich um -sie sorgen; aber die Aussicht, es möchte für dies zerstörte Leben -vielleicht jahrelang ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne -Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der täglichen Sorge -um die Gemütskranke auch noch diese Angst und Last zu tragen, und sie -fing trotz ihrer Zähigkeit an, etwas vom Fleisch zu fallen und im -Gesicht ein wenig zu altern. - -Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war der sicheren -Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in ihrem hübschen kleinen -Hause und sei womöglich froh, den lästigen Nachbarn und Bewerber für -eine Weile los zu sein. - -Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte die Abreise des -Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt, ihr nach dem Entfernten -Sehnsucht zu wecken und ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre -sie jetzt in ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater -zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus nicht mehr so -stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls es mit der Schwägerin -schlimm gehen sollte, sich wohl auch die Bewerbung des reichen Mannes -noch einmal näher und freundlicher angesehen. - -In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die Abreise -Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung und Dauer verstummt, da -man jetzt an der Witwe Entriß wieder für eine Weile die Mäuler voll -hatte. Und während unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die -beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden und -schon deutlicher von künftigen gemeinsamen Unternehmungen miteinander -plauderten, saß daheim in der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei -lange Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl und -Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage später hielt August -Schlotterbeck diesen Brief, der auf das beste Papier mit einem goldenen -Rande geschrieben war, verwundert in den Händen und las ihn langsam -zweimal durch. Er lautete: - -Lieber und werter Vetter Schlotterbeck! - -Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine Schwarzwaldtour gemacht -hat, hat uns berichtet, daß er Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du -wohl bist und in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte -ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen. Wenn man -es vermag, ist ja eine solche Sommerkur immer sehr gut, ich war auch -einmal ein paar Tage in Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat -mir vorzügliche Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg, und -wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem Tannenrauschen auch Dir -gewiß nur gut gefallen. - -Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir, und wenn du nach -guter Erholung wieder heimkommst, wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder -recht gut gefallen. Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es -auch draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man doch bloß in -der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich auch in der Stadt sehr -beliebt gemacht, alle freuen sich bis Du wiederkommst. - -Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es in Deiner -Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß es nicht, ob es Dir schon -bekannt ist. Die Frau Entriß hat jetzt also doch ihre kranke Schwägerin -hergeben müssen. Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche -Geschöpf es nimmer hat aushalten können und hat Tag und Nacht um Hilfe -gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt hat. Da hat sich gezeigt, daß -es mit der kranken Jungfer furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß -drauf bestehen und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann sich -denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt, man hat ihr -die Schwägerin weggenommen und vielleicht muß sie sich noch anderswo -verantworten. Dieselbe ist im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht -worden, und die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie früher -so an der Kranken gespart! - -Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest Du sehen sollen, -es war ein Jammer. Sie hatten einen Wagen genommen, da saß die Entriß, -der Oberamtsarzt, ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da -fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt, daß alles -nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem Heimweg hat die Entriß -dann allerlei zu hören gekriegt, ein Bub hat ihr sogar einen Stein -nachgeworfen. - -Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen kann, tue ich -es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang von der Heimat fortgewesen, -aber das macht nichts und für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt, -nichts zuviel. Meine Frau läßt Dich auch grüßen. - -Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische. In dem -Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als hier in dem engen -Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter. Im Bayrischen Hof hat es -vorgestern eingeschlagen, aber kalt. - -Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung. In alter Treue -Dein Vetter und Freund - - Lukas Pfrommer. - -Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch, steckte ihn in -die Tasche, zog ihn wieder heraus und las ihn nochmals, dann sagte -er: »O du Simpel,« was seinem Vetter galt. Doch hielt er sich nicht -lange mit Gedanken an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich -den Brief selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen -ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten vor -Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und Zorn, er sah das arme -Frauelein verhöhnt und preisgegeben, mit Tränen kämpfen und ohne Trost -allein sitzen. Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles -sah und begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über den -briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und über ganz Gerbersau -herzlich empört und wollte schon Rache beschließen, da fiel ihm -allmählich ein, wie wenig er selber in dieser letzten Zeit an die Frau -Entriß gedacht hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel -Heimweh gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der lieben Frau -übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und vielleicht auf seinen -Beistand gehofft. - -Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen. Das Bildnis der -kleinen Witwe stand ihm nun wieder so klar und nett vor Augen, daß er -nicht begriff, wie er sie tagelang fast ganz habe vergessen können. -Was war jetzt zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne -Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine Abreise an und -teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der sich darüber sehr betrübt -zeigte. Doch ward verabredet, daß Schlotterbeck ihn bald besuchen -und seine Fabrik ansehen solle. Dann packte dieser seinen Koffer, -worin er viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat und -die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham und den Zorn und alle -Bedenken und verfiel in eine muntere, tröstliche Heiterkeit, die ihn -den ganzen Abend nimmer verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle -diese Geschichten nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin war -fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt und traurig und -hatte wohl auch Geldsorgen, da war es Zeit, daß er nochmals vor sie -trat und in dem abendsonnigen Stüblein ihr sein Angebot wiederholte. -Vergnügt pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch -noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte er mit Herrn -Trefz bei einem guten Markgräflerwein. Die Männer stießen auf ein gutes -Wiedersehen und eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein -Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr wiederzusehen. - -Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der Eisenbahn und -erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn begleitet und drückte ihm -nochmals die Hand, der Hausknecht hob den Koffer in den Wagen und bekam -sein Trinkgeld, der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen -Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte an dem grüßenden -Stationsvorstande vorbei in die Stadt hinein. - -Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege lag, ließ sich -dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden Weges zur Frau Entriß -hinauf, deren Garten ihn in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor -war verschlossen und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die -Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht -- denn sie hatte ihn -nicht kommen sehen -- die Tür auftat. Da sie ihn erkannte, wurde sie -rot und versuchte ein strenges Gesicht zu machen, er trat aber mit -freundlichem Gruß herein und sie führte ihn in die Stube. - -Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der vergangenen Zeit -wenig an ihn denken können, doch war seine Wiederkunft ihr immerhin -kein Schrecken mehr, sondern eher ein Trost. Er sah das auch, trotz -ihrer Stille und künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich -selber die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern -faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte: »Es ist -jetzt recht, nicht wahr?« - -Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und Worte machen; -aber unversehens übernahm sie die Bewegung, die Erinnerung an so viel -Sorge und Bitterkeit dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer -und trocken durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem -eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach aber -erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne Glücksschein, den Herr -Schlotterbeck vom letztenmal her kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ -sich von ihm umfangen, und als nach einem sanften Kusse der Bräutigam -sie auf einen Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank, -das stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft, oder -willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?« - -Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin ich froh! Und -das Privatisieren hört auch bald auf. Was meinst du zum Beispiel zu -einer Lederwarenfabrik?« - - - - -Der Weltverbesserer - - -1 - -Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus einem guten -bürgerlichen Hause stammend, besaß er einen angeborenen Sinn für das -Schickliche und Angenehme, den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege -und Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit -des Philistertums bewahrte. Zum Unglück hatte er die Eltern früh -verloren und von seinen mehrmals wechselnden Erziehern hatte nur ein -einziger Einfluß auf ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch -und frommer Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit eines -Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit doch eben nicht -ohne Hochmut den Dingen seine Form aufzwang. - -Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen, unbefangen seine -Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen und im Anschluß an irgendeinen -Kreis tätigen Lebens sich unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast -sich nach dem ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen, -auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher und -wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten brauchen. - -Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch zwei -Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang als seiner Natur -begründet, beide unschuldig und edel von Ansehen. Zunächst war da, von -jenem wohlmeinenden Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling -eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen Dingen auf -den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen war, und aus -Zuständen, für die er nicht verantwortlich war, persönliche Gedanken- -und Gewissensprobleme zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei -denn jeder natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens -erkrankt und verkümmert war. - -Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben: Berthold Reichardt -hatte keinen bestimmten Beruf gewählt. Gewissenhaft und eifrig hatte er -seine Neigungen und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben, -sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und zu festigen, ehe -er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte und verantwortliche -Tätigkeit wage. Seinen Neigungen gemäß hatte er bei guten Lehrern, -auf Reisen und aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit -einer Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher -Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den Studienjahren -abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt; schließlich war er, um -doch ein festes Ergebnis zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen -geblieben und hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit -über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen Renaissance -abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun in München ein, wo er im -Zusammenströmen so vieler junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am -ehesten die Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine -Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker hinstrebte. Er -dürstete danach, Verkehr mit dem Leben und Einfluß auf Menschen zu -üben, am Entstehen neuer Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und -im Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen. - -Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf und Stellung -von allem Anfang an ein festes, klares Verhältnis zum Leben und eine -berechtigte Stelle im Gefüge der menschlichen Tätigkeiten zu haben, -dieses Vorteils also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und -ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete keine Arbeit -und Stellung, kein Amt und keine Richtung, er war nur ein Titel und -Schmuck, am Sonntag zu tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen -Mangel an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit, welche er -hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten Preis, um die Krone -des Lebens selber, daranzugeben gewillt war. - -In München, wo er schon früher ein Jahr als Student gelebt hatte, -war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren Häusern eingeführt, -hatte es aber mit den Begrüßungen und den Besuchen nicht eilig, da er -seinen Umgang in aller Freiheit suchen und unabhängig von früheren -Verpflichtungen sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er auf die -Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder voll neuer Ideen -gärte und beinahe täglich Zustände, Gesetze und Sitten entdeckte, -welchen der Krieg zu erklären war. - -Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt, ohne sich -darum Mühe gegeben zu haben, bald in näheren Umgang mit einem kleinen -Kreise moderner junger Künstler dieser Art. Man traf sich bei -Tische und im Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch -freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens in dem des -Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger Führerschaft in dieser -Künstlergruppe ausübte. - -Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute hatte sich Berthold -vor allem durch die Bescheidenheit erworben, mit welcher er ihren oft -verblüffend kühnen Reden zuhörte und auch die gegen seine Person und -seinen Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans Konegen -ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und Reichardt sich als eine -Art von Privatgelehrten vorstellte, der sich durch kunstgeschichtliche -Studien den Doktorgrad erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu -ins Gesicht gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!« und -hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit betont, als -wäre es mit Idiot oder Raubmörder gleichbedeutend. Reichardt aber hatte -nur verwundert mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß -allerdings das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich habe, wie -es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung bedeute, welche er -nun womöglich in einer mehr auf das Leben selbst gerichteten Tätigkeit -anzuwenden hoffe. - -Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand er nun noch manchen -Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber den guten Willen zum Lernen -zu verlieren. Es fiel ihm vor allem auf, daß die paar berühmten -Maler und Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung mit -den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört oder gelesen -hatte, offenbar diesem reformierenden Denken und Treiben der Jungen -weit ferner standen, als er gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer -gewissen Einsamkeit und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu -leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber er anfänglich -geradezu erschrak, von den jungen Kollegen keineswegs als Vorbilder -bewundert, sondern mit Schärfe, ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum -Teil sogar beinahe verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler, -der unbekümmert seine Werke schuf, damit einen Verrat an der Sache der -revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz Goethe es eines rechten -Künstlers Art und Pflicht nicht so sehr zu malen und zu bilden als zu -denken und zu reden. - -Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer, -ideologischer Zug in Reichardts Wesen selbst, so daß er trotz -gelegentlichen Bedenken dieser ganzen Art sehr bald zustimmte. Es -fiel ihm nicht auf, wie wenig und mit wie geringer Leidenschaft in -den Ateliers seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne -Beruf und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es ihm wohl, -daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit und Lust zum reden und -theoretisieren hatten. Namentlich schloß er sich an Hans Konegen an, -dessen kaltblütige Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein -unverhohlenes Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig die -vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung, dabei erstaunlich -viel zu lernen, denn es gab kaum ein Kunstwerk, an dem Konegen nicht -klar und schön darzulegen wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte -es Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild, das ihm -gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen hatte, gröblich -und schonungslos hergefallen war; mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser -Ton und färbte sogar auf seinen eigenen ab. - -Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit bewaldeten Hügeln, -von Frühsommerwolken überflogen, treu und zart gemalt, das Werk eines -noch jungen, doch schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das -schätzen und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu, »und es -ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind sogar direkt gut. -Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie, kurz -- Rhythmus? Eine nette kleine -Arbeit, sauber und lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein! -Ich bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der modernen -Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie im größten Maßstab -treibt, das reich geworden ist und Machtbewußtsein hat, das eben noch -zu den Füßen Bismarcks und Nietzsches saß -- und das soll nun unsere -Kunst sein!« - -Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit monumentaler Wucht -gemalt zu werden, oder ob das Gefühl für einfache Schönheiten der -ländlichen Natur unseres Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht, -und tat man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt: »Nun ja, -wir können ja auch über das Ding an sich oder über den Kaukasus reden, -warum nicht? Aber da wir nun doch einmal gerade von diesem Bild hier -sprechen, kann ich nur wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier -Größe? Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?« und so -weiter. - -Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung, sich still -und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen, und wenn er -schließlich gleich seinen neuen Freunden mit Bitterkeit fragte: »Was -sollen uns alle diese Ausstellungen? Sie lassen uns ja doch alle -kalt!« so hatte er damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich -mochte das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck -reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem weit mehr Freude -bereiten als dem so kritischen Betrachter alle Galerien. - -Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten keineswegs die -Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten, denn nach ihren Reden, -ihrem Auftreten und ihren vielen theoretischen Kenntnissen taten sie -das entschieden. Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen -Durchschnitt, ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform -bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden und überklugen -Jugend unbeachtet gar viele stille Talente hausten und arbeiteten. Er -wußte auch nicht, wie wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile -Konegens waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil, von -Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern Bildwirkung -und von Staffeleibildern größere Naturnähe verlangte, so daß freilich -seine Ansprüche stets weit größer blieben als die Kunst aller Könner. -Und er fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so mächtig -seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen und Urteilen gäben. -Wie es Art und schönes Recht der Jugend ist, unterschied er nicht -zwischen seiner Freunde Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in -lebhafter Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als Freund -neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu leben, unter glücklichen -Repräsentanten der zeitgenössischen Jugend. - -Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender Bescheidenheit. -Während sie nämlich über Hodler wie über Botticelli zu reden und alle -Forderungen der höchsten Kunst genau zu formulieren wußten, galt -ihre eigene Arbeit meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen -Gegenständen und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art. Aber -wie das Können des größten Malers klein wurde und elend dahinschmolz, -wenn man es an ihren Forderungen an ihn und ihren Urteilen über ihn -maß, so wuchsen ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige, -wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine ganz hübsche -Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht und wußte nachzuweisen, daß -diese Arbeit, so unscheinbar sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als -mancher Saal voll Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das -Gepräge des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen -und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen Gegenstandes, ja -des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer versah ein Stück graues -Papier, das zu Büchereinbänden dienen sollte, mit einigen regellos -verteilten gelblichen Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde -lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener Flecken etwas -Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel und Unendlichkeit zu -wecken vermöge und wie der Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas -melancholisch Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe. - -Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der Jugend als eine -Mode betrieben; mancher kluge, doch schwache Künstler mochte es auch -ernstlich darauf anlegen, mangelnden natürlichen Geschmack durch -solche Raisonnements zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber -in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit lang ernst -und lernte dabei von Grund aus die verderbliche Müßiggängerkunst -eines intellektualistischen Beschäftigtseins, das der Todfeind jeder -wertvollen Arbeit ist. - - -2 - -Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als ein ziemlich gut -erzogener Mensch, doch auf die Dauer nicht alle gesellschaftlichen -Verpflichtungen vergessen, und so erinnerte er sich vor allem eines -Hauses, in dem er einst als Student verkehrt hatte, da der Hausherr -vor Zeiten mit Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden -war. Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals Diplomat -gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt war und als -leidenschaftlicher Freund der Kunst und der Geselligkeit ein belebtes -und glänzendes Haus geführt hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem -er schon gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch machen -und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause vor, dessen erste -Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da fand er zu seinem Erstaunen einen -fremden Namen auf dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig -heraustretenden Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats fragte, -erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der Herr Rat selbst sei vor -mehr als Jahresfrist gestorben. - -Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben hatte, lag -weit draußen in einer unbekannten stillen Straße am Rande der Stadt, -und ehe er dorthin ging, suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren -er einige noch von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über -Schicksal und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu erhalten. -Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat ein weithin gekannter -Mann gewesen war, und so erfuhr Berthold eine ganze Geschichte: -Weinland hatte allezeit weit über seine Verhältnisse gelebt und war -so tief in Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte -hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für einen natürlichen -hatte halten mögen. Jedenfalls hatte sofort nach diesem unerklärten -Todesfall die Familie alle Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch -in der Stadt wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die -angesehenen Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten und die -ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein Haus zu machen. Schade -sei es dabei am meisten um die Tochter, der jedermann ein besseres -Schicksal gegönnt hätte. - -Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und mitleidig -ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein dieser Tochter, welche -je gesehen zu haben er sich nicht erinnern konnte, und es geschah -zum Teil aus Neugierde auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen -beschloß, die Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und fuhr -hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die Grenze des freien -Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz eingenommen wurde, wo -im nassen Herbstwetter einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der -Wagen hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause, das -trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen schon den trüben Duft der -Ärmlichkeit angenommen hatte. - -Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten Stockwerk, -dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar erstaunt über den eleganten -Besuch, geöffnet hatte. Sogleich erkannte er in der einfachen Stube -mit neuen billigen Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere -Gestalt und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert und nur -um einen Schatten reservierter und kühler geworden schien. Neben ihr -aber tauchte die Tochter auf, und nun wußte er genau, daß er diese -noch nie gesehen habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz -vergessen können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr im Gesicht -ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden Gesicht, in der strammen, -elastischen Haltung und einfachen, doch tadellosen Toilette wie eine -junge Offiziersfrau oder Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck, -und schon der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab sich -dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige dunkelbraune Augen -ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen Augen sowohl, wie in manchen -weichen Bewegungen der strengen und beherrschten Gestalt schien erst -der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen, den das übrige -Äußere härter und kälter vermuten ließ, als er war. - -Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das Fräulein Agnes -war, wie er nun erfuhr, während der Zeit seines früheren Verkehrs -in ihrem Vaterhause im Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu -erinnern, daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch -vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren, und so kam -es von selbst, daß vor allem des Besuchers Person und Leben besprochen -wurde. Beide Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend -und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu sehen, und Agnes -meinte geradezu, wenn er einiges Talent zum Baumeister in sich fühle, -so sei das ein so herrlicher Beruf, daß sie sein Zaudern nicht -begreife. Beim Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen -die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören würde, und -erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder einzufinden. - -Von den veränderten Umständen der Familie, von ihrer Vereinsamung -und Verarmung hatte zwar die Lage und Bescheidenheit ihrer Wohnung -Kunde gegeben, die Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit -keinem Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und Benehmen -kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt, vielmehr den Ton -innegehalten, der in ihrer früheren weitläuftigen Lebensführung ihnen -geläufig und selbstverständlich gewesen war. Erst als Reichardt sich, -die Damen im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern Flur allein -fand und tappend nach dem Türgriff suchen mußte, kam ihm die Lage -dieser Frauen wieder in den Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte -Teilnahme und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich -in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht und zum -Augenblick des Einschlafens von einer wohlig reizenden Atmosphäre -umgeben, wie vom tiefen, warmen Braun ihrer Blicke. - -Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen Arbeitsgedanken -und Lebensplänen an. Wenige Tage nach seinem Besuche bei den Frauen -Weinland hatte er ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen, -das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm noch unerkannten -Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft brachte. Hans Konegen hatte -auf Reichardts Klagen hin sofort einen breiten, genial konstruierten -Arbeitsplan entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin und -wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen -gedreht und sich alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein -flimmerndes Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand -und dem Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter -welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestund als dem -rasenden Kreisschwung seines Degens. - -Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt, indem -er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen ausführte, die -als kritische und heimlich mitschöpferische Berater der Kunst helfen -und dienen könnten. Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert -und unseren materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein -richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht überhaupt -nur noch den Künstlern selber und etwa noch solchen emsigen und klugen -Kunstgelehrten, wie Reichardt, möglich sei. Um so mehr nun sei es also -dessen Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und als -unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er als den Sinn und das -Ideal der modernen Kunst erkannt habe. Er möge daher trachten, an einer -angesehenen Kunstzeitschrift oder noch besser an einer Tageszeitung -kritischer Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann würde -er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung seiner Schöpfungen -Gelegenheit geben, einer guten Sache zu dienen und der Welt etwas Neues -zu zeigen. - -Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran erinnerte, wie -verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle Zeitungen und -Zeitschriften und über das Amt des Kritikers im allgemeinen geäußert -habe, bekannte sich der Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die -er zu jeder Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm -sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten und legte -dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der Kritik ein wahrhaft -edler und freier Geist auf diesem Gebiete zum Reformator werden könne, -zum Lessing unserer Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem -freundlichen Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein -anderer und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches. Er selbst habe -schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe einer Monographie über -ihn, Hans Konegen, zu veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der -rechte Mann für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den -Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme er selbst, werde -auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte in Japanabzügen beiheften -und schon dadurch jeden echten und reichen Kunstfreund zum Erwerb des -Buches geradezu nötigen. - -Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer zunehmenden -Verstimmung an. Heute, da er das Übel seiner berufslosen -Entbehrlichkeit besonders stark empfand und für einen guten Rat oder -auch schon für ein wenig Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre, -tat es ihm weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts -anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen Ruhm oder -Vorteil dienstbar zu machen. - -Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und diese Pläne kurz -von der Hand wies, war Hans Konegen keineswegs geschlagen. - -»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie vollkommen und -muß Ihnen eigentlich recht geben. Die Kritik und die verfluchte -Federfuchserei überhaupt ist ja im Grunde eine entbehrliche und -lächerliche Sache. Sie wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun -Sie das! Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich und einige -Freunde und dadurch eine direkte Verbindung mit dem schaffenden Geist -der Zeit. Gründen Sie also ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen -unmittelbaren Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen -Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für Herstellung und -Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu das Verlagsrecht meiner -Holzschnitte und zahlreicher Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre -Druckerei und Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit -Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen wir eine -kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe! Nehmen Sie mich als -Berater oder Direktor, für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein -Freund von mir modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich -auch auf Bronzeguß.« - -Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt beinahe -wieder lachen konnte. Überall sollte er der Unternehmer sein, das -Geld aufbringen und riskieren, Konegen aber war der Direktor, der -Beirat, der technische Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten -Male erkannte Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle -Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur um dessen eigene -Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht kreisten, und er sah nachträglich -mit Unbehagen, wie wenig schön die Rolle war, die er in der Vorstellung -und den Absichten dieser Leute gespielt hatte. - -Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf dachte, sich -still von diesem Umgang zurückzuziehen, unter möglichster Delikatesse -und Schonung. Denn kaum hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten -Beredungsversuchen eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht gesonnen -war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen, so fiel die ganze -Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie gewesen. Der Doktor hatte diesen -Leuten ihre paar Holzschnitte und Töpfchen längst abgekauft, einigen -auch kleine Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen -wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten der Boheme -noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem Erstaunen von seinen -Künstlerfreunden vergessen und kaum mehr gegrüßt, während er sich -noch damit quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig -einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch den Entwurf zu -einem Exlibris zu, das Herr Reichardt einmal mündlich bei ihm bestellt -habe. Er kaufte das kleine Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages -nicht erinnerte, und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens -Holzschnitte barg. - - -3 - -Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause bei der -Frau Rat Weinland vor, wo es ihm jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der -vornehme Ton dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz -zu den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der junge Mann -sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz anzunehmen, und immer -ernsthafter beschäftigte ihn die Tochter, die ihn zweimal allein -empfing, und deren strenge Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte. -Denn er fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden oder -doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer damenhaften -Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein schien. Und zwar besaß sie -jene praktische, auf das Notwendige und Nächste gerichtete Klugheit, -welche das nur spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht -kennt und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß als -philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm doch jedesmal Eindruck -machte. - -Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für den Zustand, in -dem sie ihn befangen sah, und wurde nicht müde, ihn auszufragen und -ihm zuzureden, ja sie machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines -Mannes unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen wie man -Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und festem Willen an einem -bestimmten Punkte zu beginnen. Von den Weisheiten des Malers Konegen -hielt sie ebenso wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt -mitgebracht hatte. - -»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe, Ihr Freund -treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es sind, so viel ich davon -verstehe, Nachahmungen japanischer Arbeiten, die vielleicht den Wert -von Stilübungen haben können. Mein Gott, was sind denn das für Männer, -die in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün und ein -Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau von einigem Geschmack leistet -ja mehr, wenn sie sich ihre Kleiderstoffe aussucht!« - -Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen, doch -sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das Beispiel einer -solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit der Nase darauf stoßen, hatte -sein Glück ihm diese prächtige Figur in seinen Weg gestellt, daß er -sich an sie halte und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der -Mensch ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn er -einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen geraten ist. - -Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem Maler Konegen abgetan -war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit ungesäumt einen neuen -stattlichen Gang erwählt, der überallhin führen konnte, und den er -jetzt mit dem Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider -meist nur für Undinge fähig sind. - -Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst und Leben, oder -neue Wege zu einer künstlerischen Kultur« hatte er etwas erfahren, -das er umso bereitwilliger aufnahm, als es seiner augenblicklichen -enttäuschten Gedankenlage entsprach, nämlich daß es nottue, aus -allen ästhetischen und intellektualistischen Interessantheiten -herauszukommen. Fort mit der formalistischen und negativen Kritik -unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun auf Kosten -heiliger Güter und Angelegenheiten unserer Zeit! Dies war der Ruf, dem -er wie ein Erlöster folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung -sofort und unbedingt, einerlei wohin er führe. - -Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds -Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer neuen Ethik. War -nicht ringsum alles faul und verdorben, wohin der Blick auch fallen -mochte? Unsere Häuser, Möbel und Kleider geschmacklos, auf Schein -berechnet und unecht, unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere -Wissenschaft verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum -verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem, und war -es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche Widerspiel ihres wahren -Ideals darstellte? Warf sie etwa, wie sie könnte und sollte, Schönheit -und Heiterkeit in die Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie -Freude und Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte Geld -verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst war jede geistige -Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß mit der Unkultur. - -Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit und Schwindel -umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch beschmutzt und vom -Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend; -jede echte und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, die -er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen betrachtet hatte, -enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis. Berthold fühlte sich für dies -alles mit verantwortlich und zur Mitarbeit an der neuen Ethik und -Kultur verpflichtet. - -Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon berichtete, wurde -sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold gerne und traute es sich -zu, ihm zu einem tüchtigen und schönen Leben zu verhelfen, und nun -sah sie ihn, der sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und -Umtriebe stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen er nur -zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung recht deutlich und -meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle mache oder einen Knopf -annähe, sei der Menschheit und der Kultur gewiß nützlicher und lieber -als alle Propheten. Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß genug, -edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige seien dazu berufen, das -Bestehende anzugreifen und Lehrer der Menschheit zu werden. - -Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung, die sie -äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit welcher es zu halten -sein Gewissen ihm verbiete. Es war der erste kleine Streit, den die -beiden hatten, und Agnes sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer -weiter von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in endlose -Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen wurde. Schon war -er im Begriffe, blind und stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu -segeln, wo sie auf ihn wartete. - -Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den Einfluß eines -wirklichen Propheten geriet, den er in einem ethischen Verein kennen -gelernt hatte. Dieser Mann, welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst -Theologe, dann Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam, -rasch eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten -gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur unerbittlich im -Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände, sondern persönlich auch -zu jeder Stunde bereit war, für seine Gedanken einzustehen und sich -ihnen zu opfern. Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über -den heiligen Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang -seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum erklärt und den -Gegensatz von heiliger Intuition und echter Sittlichkeit gegen Dogma -und Kirchenmacht auf das Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel -deshalb vertrieben, nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte -bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber seltsamer -mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden machten. Seit Jahren -aber lebte er nun auf Reisen, ohne Erwerb und ohne festen Wohnort, -ganz dem Drange seiner Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos -sein letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den -Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig, stets in -dasselbe anständige, doch überaus einfache Lodenkleid gehüllt, das -er auch auf seinen Fußwanderungen und Reisen trug. Seine Lehre war -ohne feste Dogmen, er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit -und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge -verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er kennen lernte, sagte »Es -freut mich,« so galt das für eine Auszeichnung, und eben das hatte er -zu Reichardt gesagt. - -Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann gesehen hatte und -seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis zu Agnes Weinland immer -lockerer und unsicherer. Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in -seinem Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen -kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder Beichtvater einen jungen -Menschen, der mit sich unzufrieden ist, vor allem nach einer etwaigen -Liebe oder Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran -nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten jungen -Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten Platz finden konnte, -und den er keineswegs zu beruhigen und zu versöhnen dachte, denn er -liebte und brauchte solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus -deren Bedürfnis und Auflehnung er die Entstehung der besseren Zeiten -erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer stets an ihren -eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie der Weltordnung zuschreiben, -und über die sie niemals hinauskommen, war dieser holländische Prophet -gegen sein eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und -richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf jene Übel, -die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer menschlichen Friedens -ansah. Er haßte den Krieg und die Machtpolitik, er haßte das Geld und -den Luxus, und er sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und -aus dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie einst das Übel -vernichte. In der Tat kannte er Hunderte und Tausende von notleidenden -und suchenden Seelen in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen -reichten vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die -Friedens- und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste und auf -Madeira. - -Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen. Van -Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München auf und wohnte bei einem -schwedischen Maler, in dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte -ausspannte, und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug -reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten. Öffentliche -Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis spät und selbst bei -Gängen auf der Straße umgeben von einem Kreise Gleichgesinnter oder -Ratsuchender, mit denen er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu -ermüden. Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle -Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen und ihre -Sprüche als Belege für seine Lehre zu zitieren, nicht nur den heiligen -Franz, sondern ebenso Jesus selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius. -Hätte Berthold seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie -vielleicht wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte er sofort -ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit erkannt. So aber -unterlag er willig dem Einfluß einer so starken und seltsam anziehenden -Persönlichkeit. - -Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van Vlissens Nähe -hielten. Aber Reichardt war einer von den ganz Wenigen, die sich nicht -mit der Sensation und Stimmung des gegenwärtigen Augenblicks begnügten, -sondern eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten, wozu es -gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber eines ungetrübten und -zarten sittlichen Empfindens bedarf. - -In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre Mutter nur ein -einzigesmal. Die Frauen bemerkten die Veränderung seines Wesens -alsbald; seine fast knabenhafte Begeisterung, die doch keinen kleinsten -Widerspruch ertragen konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner -Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos in seinem -glücklichen Eifer sich immer heißer und immer weiter von Agnes weg -redete, sorgte der böse Feind dafür, daß auch noch gerade heute ihn das -denkbar unglücklichste Thema beschäftigen mußte. - -Dieses war die damals vielbesprochene Reform der Frauenkleidung, -welche von vielen Seiten fanatisch gefordert wurde, von Künstlern aus -ästhetischen Gründen, von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern -aus ethischen. Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften -Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen die bisherigen -Frauenkleider auftrat und der Mode ihre Lebensberechtigung absprach, -sah man freilich die schönen und eleganten Frauen der berühmten -Künstler, Ärzte und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen -Schein dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer -begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung der Augen liegen, diese -eleganten Frauen gefielen sich und der Welt entschieden besser als -die Erstlingsopfer der neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast -faltenlosen Kostümen einhergingen. - -Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite der Reformer. -Die anfangs humoristischen, dann ernster werdenden und schließlich -leicht indignierten Einwürfe der beiden Damen beantwortete er nicht -gerade heftig oder unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen -Tone, wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame versuchte -mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken, doch vergebens, bis -schließlich Agnes mit Entschiedenheit sagte: »Sprechen wir nicht mehr -davon! Ich bin darüber erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem -Gebiet verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen glaubte, -denn ich mache alle meine Kleider selber. Da habe ich denn also, ohne -es zu ahnen, Ihre Gesinnungen und Ihren Geschmack durch meine Trachten -fortwährend beleidigt.« - -Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat und anmaßend -sein Predigen gewesen sei, und errötend bat er um Entschuldigung. -»Meine Überzeugung zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft, -»aber es ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen -Augenblick dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche Kritik -viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich selbst wider meine -Anschauungen sündige, indem Sie mich in einer Kleidung sehen, deren -Prinzip ich verwerfe. Mit anderen Änderungen meiner Lebensweise, die -ich schon vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen, -mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen darf.« - -Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine Gestalt, die in -ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung recht hübsch und nobel -aussah, und sie rief mit einem Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst -hier in München in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!« - -»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich und -unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich überhaupt nicht in das -Stadtleben tauge, und will mich in Bälde auf das Land zurückziehen, um -in schlichter Tätigkeit ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.« - -Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen, lag lähmend -über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt nach wenigen Minuten -Abschied nahm. Er reichte der Rätin die Hand, dann der Tochter, die -jedoch erklärte, ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie -noch nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und wartete, -bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die Tür zur Treppe, und -als er ihr nun Abschied nehmend die Hand gab, hielt sie diese einen -Augenblick fest, sah ihn mit dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht -durchdringend an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von dem, -was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.« - -Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief ihn ein -süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick mußte er es sich -wie eine selige Erlösung vorstellen, sein Leben dieser Frau in die -Hände zu geben. Er fühlte, wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit -sie ihm hatte entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang -schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze Gebäude -seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen. - -Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die Türe hinter ihm -geschlossen. - - -4 - -Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein Jünger unsicher -geworden und von fremden Einflüssen gestört war. Er sah ihm lächelnd -ins Gesicht, mit seinen merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch -tat er keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick in -Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange ein. Das -hatte er noch nie getan, und Berthold ließ alsbald einen Wagen kommen, -in dem sie weit vor die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde -ließ van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der Wald stand -vorwinterlich verlassen unter dem bleichen grauen Himmel, es war weit -und still, nur aus großer Ferne her hörten sie die Axtschläge von -Holzhauern durch die graue Kühle klingen. - -Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt mit leichtem, -wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam mit allen Sinnen die Waldstille -einatmend und durchdringend. Wie er die Luft eintrank und den Boden -trat, wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit lautloser -Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden Specht aufmerksam machte, -da war etwas still Zwingendes in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit -und überall mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige Mann -wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu durchwandern schien, -dessen heimlicher König er war. Aus dem Walde tretend sahen sie weite -Äcker ausgebreitet, ein Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren -Gäulen dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von Saat und -Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen Dingen und entfaltete -in einfachen Worten ein Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe -Bauer unbewußt führe, das aber, von bewußten und dankbaren Menschen -geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer Kraft sein müsse. -Und der Jünger fühlte, wie die Weite und Stille und der ruhige große -Atem der ländlichen Natur Sprache gewann und sich seines Herzens -bemächtigte. Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück. - -Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach Tirol, und -Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen südlichen Tal kaufte er -einen Obstgarten und ein kleines, etwas verfallenes Weinberghäuschen, -in das er ohne Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu -beginnen. Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie das des -Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach München zurück, wo er -sein Zelt abbrechen und Abschied nehmen wollte. - -Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen, daß ihr -Rettungsversuch vergeblich gewesen sei. Das stolze Mädchen war betrübt, -den Mann und die an ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht -minder in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von -ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung so weit -entgegengekommen war. - -Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie alle Lust, ihn -gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre Verstimmung und sah ihm -ohne eigentliche Hoffnung, doch mit einer gewissen erregten Neugierde -entgegen. Die Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung zu -Bette. - -Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten, um den sie mit -einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und der nun etwas verlegen -und wunderlich verändert vor ihr stand. Er trug nämlich die Tracht -van Vlissens, Wams und Beinkleider von grobem Filztuch, statt -steifgebügelter Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem -ziemlich breiten weichen Halskragen. - -Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock oder im -modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete ihn einen Augenblick -mit Enttäuschung und Staunen, dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte -mit einem kleinen Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr -Doktor.« - -Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie wissen ja auch, -was diese Veränderung bedeutet. Ich komme, um Abschied zu nehmen, denn -ich übersiedele dieser Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.« - -»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja gar nichts.« - -»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört mir erst seit -einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt, sich um mein Vorhaben -und Ergehen zu kümmern, darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft -schuldig zu sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht mehr -rechnen?« - -Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah ihn an. - -»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert, so -lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil daran nehmen konnte. Für -die Versuche mit Tolstoischer Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich -aber leider nur wenig Interesse aufbringen.« - -»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber wie Sie auch von -mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich werde Sie nicht vergessen können, -und ich hoffe von Herzen, Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen, -sobald Sie mich hierin ganz verstehen.« - -»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.« - -Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn wir beide guten -Willens wären, glauben Sie nicht, daß Sie dann vielleicht diesen Weg -mit mir gemeinsam gehen könnten?« - -Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr Reichardt, das -glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück wünschen. Aber ich bin in -all meiner Armut gar nicht so unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg -zu teilen, der aus der Welt hinaus ins Unsichere führt.« - -Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen Sie nur Ihren -Weg! Gehen Sie ihn!« - -Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie ihn ein sich zu -verabschieden, was er betroffen und bekümmert tat, und indessen er -draußen die Türe öffnete und schloß und die Treppe hinabstieg, hatte -sie, die seine Schritte verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich -bittere und hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende Mann, -als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und köstliche Sache -zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit des andern dachte. - - -5 - -Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den ersten Anfängen -sah es gar nicht übel aus. Wenn er ziemlich früh am Morgen das Lager -verließ, das er sich selber bereitete, schaute durch das kleine -Fenster seiner Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an -dessen tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann mit -angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings, mit -dem Waschen oder auch Baden im Brunnentrog, je nach der Wärme des -Tages, mit dem Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer, -Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich zu -seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber und Minister Xaver -aus dem Dorfe, der auch das Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold -nun an die Arbeit, bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen -oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes Anleitung die -wichtigsten Geräte handhaben, die Gais melken und füttern, den Boden -graben, Obstbäume putzen, den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den -Herd spalten und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst, -so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe und Strohseile -geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche Dinge betrieben, wobei -der Knecht vergnügt seine Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk -hervor eine Menge Geschichten erzählte. - -Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes und halbmüßiges -wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die kräftige Würze der Arbeit, die -ihm nicht minder gefiel und wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst -gespaltenen Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen -schwarzen Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und das Wasser -oder die Milch im viel zu großen Hängekessel zu sieden begann, dann -konnte er ein robustes Lebensgefühl robinsonschen Behagens in den -Gliedern spüren, das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte, -und in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren Erlösung -zu kosten meinte. - -In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter nichts -Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher Arbeit zu spielen, -die Gedanken ruhen zu lassen und die Glieder zu ermüden, früh schlafen -zu gehen und früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und -erworbene Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden wechseln, -und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend mit dem Gehirn zu -arbeiten, der kann kein Kleinbauer mehr werden. Diese Binsenwahrheit -mußte auch Reichardt erfahren. - -Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann ging der Knecht -mit seinem guten Tagelohn nach Hause oder ins Wirtshaus, um unter -seinesgleichen froh zu sein und von dem Treiben seines wunderlichen -Brotgebers zu erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den -Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten- und Obstbau -handelten. Diese vermochten ihn aber nicht lange zu fesseln. Er las und -lernte gläubig, daß das Steinobst die Neigung hat, mit seinen Wurzeln -in die Breite zu gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß -dem Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige feuchte -Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß die Samen von Lauch -und Zwiebeln ihre Keimkraft nach zwei Jahren verlieren, während die -Kerne von Gurken und Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste -Jahr behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese Dinge, die -er von Xaver doch besser lernen konnte, und er gab diese Lektüre auf. - -Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor, der sich in der -letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt, da er dies und jenes -Zeitbuch auf dringende Empfehlungen hin gekauft hatte, zum Lesen aber -nie gekommen war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode -in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen. Beim Ordnen dieser -Bücher und Schriften fielen ihm freilich einige in die Hände, die -er als unnütz beiseite tat, denn sie stammten aus den Tagen seines -Verkehrs mit Hans Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«, vom -»Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann folgten zwei Bändchen -von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung über den Heiligen von Assisi, -Schriften wider den Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den -Luxus, den Industrialismus, den Krieg. - -Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige wieder -kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien bestätigt, er -sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an der Philosophie der -Unzufriedenen, Asketen und Idealisten, aus deren Schriften her ein -feiner Heiligenschein über sein eigenes jetziges Leben fiel. Und als -nun bald der Frühling begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen -natürlicher Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem Rechen -hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem Leben die schöne, -vertrauensvolle Arbeit des Säens und hatte seine Lust am Keimen und -Gedeihen der Gewächse. Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die -Abende hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten, und in -den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie ein rechter Bauer. -Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf den Spaten gestützt oder am -Brunnen das Vollwerden der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland -denken mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber -das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es mit der Zeit wohl -vollends zu überwinden, denn er meinte, es wäre doch töricht und schade -gewesen, hätte er sich von dieser Liebe verführen und in der argen Welt -zurückhalten lassen. - -Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich auch die Einsamkeit -mehr und mehr verlor wie ein Winternebel. Von dieser Zeit an erschienen -je und je unerwartete, freundlich aufgenommene Gäste verschiedener -Art, lauter fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren -eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle aus unbekannter -Quelle seine Adresse wußten und keiner ihres Ordens durch das Tal -zog, ohne ihn heimzusuchen. Es waren dies verstreute Angehörige jener -großen Schar von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen -Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen, und deren einzelne -Typen nun Berthold allmählich unterscheiden lernte. Denn ihrer sind -viele, aber sie lassen sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und -Gruppen wie andere Lebewesen auch. - -Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich aussehender -Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt mit Vorträgen über die -Gefahren des Alkohols bereiste und auf einer Ferientour unterwegs war. -Er blieb nur eine Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein -angenehmes Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen und gehöre -einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender Menschen an. - -Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein regsamer, -begeisterter Herr in einem weiten altmodischen Gehrocke, zu welchem -er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd, gelbe karrierte Beinkleider -und auf dem Kopfe einen hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut -trug. Dieser Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm -sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte seinen Namen so -bescheiden lächelnd und alle zu hohen Ehrbezeugungen im voraus etwas -nervös ablehnend, daß Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da -er ihn nicht kannte und seinen Namen nie gehört hatte. - -Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte hervorging, ein -hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog wundersame Heilungen, wegen -deren er zwar von Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja -grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und Gerechten aber -desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben in Italien einer Gräfin, -deren Namen er nicht verraten dürfe, durch bloßes Händeauflegen das -schon verloren gegebene Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein -Verächter der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß auf -dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche Bedürftige sehnlich -erwarteten. Leider sehe er sich die Reise durch Geldmangel erschwert, -denn es sei ihm unmöglich, für seine Heilungen anderen Entgelt -anzunehmen, als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich -daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn gewiesen, -um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht seiner Person -- an -welcher nichts gelegen sei -- sondern eben den auf seine Rückkunft -harrenden Bedürftigen zugute kommen sollte. - -Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann von russischem -Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach, und dessen feine -Gesichtszüge und Hände in Widerspruch standen mit seiner äußerst -dürftigen Arbeiterkleidung und den zerrissenen groben Schuhen. Er -sprach nur wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er -einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen Künstler oder -einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling begnügte sich damit, -einen glühend forschenden Blick in Reichardts Gesicht zu tun und ihn -dann mit einem geheimen Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen. Er -ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem verwunderten Wirte -gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende Kammer mit einer breiten -Wandbank und fragte demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt -nickte, lud den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener Bank -ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch ein Wort gesprochen -hätte. Am nächsten Morgen nahm er noch eine Tasse Milch an, sagte mit -tiefem Gurgelton »Danke« und ging fort. - -Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der erste einer -langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen und einer Art von -baumwollener Hemdhose. Er hatte, wie die meisten Brüder seiner Zunft, -außer einiger Arbeitsscheu keine Laster, sondern war ein lieber, -kindlicher Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem -sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken -ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie er äußerlich seine etwas -theaterhafte Wüstentracht nicht ohne Würde trug. - -Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf Reichardt. -Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern war in stolzer Demut -überzeugt, daß auf dem Grunde seiner Lehre ganz von selbst ein neues -paradiesisches Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich -schon teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht -töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, sondern -als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen auffaßte. Ein Tier -zu töten, schien ihm scheußlich, und er glaubte fest daran, daß nach -Ablauf der jetzigen Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit -von diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand es aber -auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume zu fällen; von allen -Gaben der Natur schienen ihm nur die Früchte dem Menschen bestimmt -und erlaubt zu sein, welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen -zu schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu fällen, ja -keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore eifrig nickte: »Ganz -recht! Wir sollen ja auch keine Häuser haben, so wenig wie Kleider, -das alles trennt uns von der Natur und führt uns weiter zu allen den -Bedürfnissen, um deren willen Mord und Krieg und alle Laster entstanden -sind.« Und als Reichardt wieder einwarf, es möchte sich kaum irgendein -Mensch finden, der in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen -Winter überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig und -sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet. Eben das ist -ja die Hauptquelle alles Elends in der Welt, daß der Mensch seine Wiege -und natürliche Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der Weg -der Menschheit zurückführen, und dann werden wir alle wieder im Garten -Eden sein.« - -Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse Freude -an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von manchen -anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und er hätte -ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse -ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke gemacht und -sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt, wie er sie jetzt sah und -nicht anders sehen konnte, bestand aus dem kleinen Kreise primitiver -Tätigkeiten, denen er oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als -auf der einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von ihm -verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt verteilte kleine -Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich zurechnen mußte, und zu der -auch alle die Gäste zählten, deren manche tagelang bei ihm blieben und -gegen deren drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während ihr -Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus die Luft war, in der -sein Geist atmete. - -Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen -Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder hatten. Askese und -Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase waren nicht Erscheinungen gewisser -Zeiten und Religionen, sondern immer und überall in tausend Formen -unter den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und alle diese -Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten gehörten in diesen Kreis. -Sie waren das Salz der Erde, die Umschaffenden und Zukunftbringenden, -geheime geistige Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den -Fasten und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien der -langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern der Magnetiseure oder -Gesundbeter. - -Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald wieder eine -systematische Theorie oder Weltanschauung werde, dafür sorgte nicht -nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis, sondern auch eine ganze -Literatur von Schriften, die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht, -teils zugesandt, teils als notwendig empfohlen wurden. Eine -seltsame Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend mit -vegetarischen Kochbüchern und endend mit den tollsten mystischen -Systemen, über Christentum, Platonismus, Gnostizismus, Spiritismus -und Theosophie hinweg alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen -diesen Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei -umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der pythagoreischen Lehre -mit dem Spiritismus darzutun, der andere Jesus als Verkündiger des -Vegetarismus zu deuten, der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine -Übergangsstufe der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung nur -vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die wandellose leibliche -Unsterblichkeit der Individuen anstrebe. - -Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und Herbstes und mit -dieser Büchersammlung fand sich Berthold schließlich bei rasch -abnehmenden Tagen seinem zweiten tiroler Winter gegenübergestellt. Mit -dem Eintritt der kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte -nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte, urplötzlich auf -wie mit der Schere abgeschnitten. Die Apostel und Brüder saßen jetzt -entweder still im eigenen Winternest oder hielten sich, soweit sie -heimatlos von Wanderung und Bettel lebten, an andere Gegenden und an -die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen. - -Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung, die er bezog, die -Nachricht von dem Tode des Eduard van Vlissen. Der hatte in einem -Dorf an der russischen Grenze, wo er der Cholera wegen in Quarantäne -gehalten, aber kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den -Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen worden. - - -6 - -Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale zu. Seit -einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden nimmer verlassen und sich -zugeschworen, auch ferner dem Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die -Genügsamkeit und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in -seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen im Schnee -herum, denn der Winter war viel härter als der vorjährige, und überließ -die häusliche Handarbeit immer häufiger dem Xaver, der sich längst in -dem kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen so ziemlich -verlernt hatte. - -Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben, so mußte -er doch alle die unendlich langen, stillen, toten Abende allein in -der Hütte sitzen, und ihm gegenüber mit furchtbaren großen Augen saß -die Einsamkeit wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als -durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen, und der ihn -doch von hinten überfiel, so oft er den Blick abwandte. Die Einsamkeit -saß nachts auf seinem Bett, wenn er durch leibliche Ermüdung den -Schlaf gefunden hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und -wenn am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen Schritten -pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das Dorf verschwand, sah -ihm sein Herr nicht selten mit nacktem Neide nach. Für unbefestigte -Menschen ist nichts gefährlicher und seelenmordender als die beständige -Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen Leben, -der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche. Die ganze Krankheit -dieses Zustandes mußte nun der gute Eremit an sich erleben, und durch -die Lektüre so manches mystischen Buches geschult konnte er nun an sich -selbst beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden von -den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler in der Wüste Thebais -waren. Von den Entrückungen und dem Einswerden mit dem Herzschlag der -Natur, welche jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts -zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des freiwillig -Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt. - -So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet und an der -Wurzel der Seele krank. Er sah übel aus, und seine früheren Freunde -hätten ihn nicht mehr erkannt; denn über dem wetterfarbenen, aber -eingesunkenen Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus dem -hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit scheu geworden -die Augen, als hätten sie niemals gelacht und niemals sich unschuldig -an der Buntheit der Welt gefreut. - -Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in einer schlimmen -Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus auf. Sauber gebürstet -und gekämmt, doch fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte -sich an einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur wenige -Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille bei seinem Eintritt, -das einsilbige Grüßen und nachherige Wegrücken der Tischnachbarn, das -verhaltene Lachen am Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen -ihn bereuen, daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet wie -van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine Überlegenheit bewahrt -hatte! Bedrückt und beinahe weinend vor Enttäuschung und Schwächegefühl -ging er bald wieder davon. - -Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines Tages der Knecht -mit der Zeitung auch einen kleinen Brief herauf, die gedruckte -Einladung zu einer Versammlung aller derer, die mit Wort oder Tat -sich um eine Reform des Lebens und der Menschheit mühten. Die -Versammlung, zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und -andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende des Februar -in München abgehalten werden. Wohlfeile Wohnungen und fleischfreie -Kosttische zu vermitteln erbot sich ein dortiger Verein. - -Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm diese Einladung eine -Erlösung oder Versuchung bedeute, dann aber faßte er seinen Entschluß -und meldete sich in München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an -nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise, so einfach -sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr eingesponnen hier gehaust -hatte, Gedanken und Sorgen; er ließ sich ein Kursbuch kommen und las -nachdenklich die Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er -von mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte. Gern hätte -er auch zum Bader geschickt und sich Bart und Haar zuschneiden lassen, -doch scheute er davor zurück, da es ihm als eine feige Konzession -an die Weltsitten erschien, und da er wußte, daß manche der ihm -befreundeten Sektierer auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf -die religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses. Dafür ließ -er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen, gleich in Art und Schnitt -wie sein van Vlissensches Büßerkleid, aber von gutem Tuche, und einen -langen, landesüblichen Lodenkragen als Mantel. - -Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen sein Häuschen, -dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver abgab, und wanderte in der -Dämmerung das stille Tal hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun -im Wartesaal, von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet, -und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne wäre er in der zweiten -oder ersten Klasse gefahren, nicht so sehr aus alter Gewohnheit als um -weniger beobachtet unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die -Schändlichkeit eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht -war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier schöner -Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte er sich die Kinder -einer Bauernfrau zu Freunden und kam mit den Leuten in ein leidliches -Gespräch, das ihm wohltat und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen -und nahm beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied. -Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr gekosteten frohen -Reiseunruhe im Münchener Zug und fuhr aufmerksam durch das schöne Land, -unendlich froh, dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse -Tage entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung. Wie war -das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim und München und die ganze -alte Welt noch unverändert und gleichmütig dastand, und daß alles -das, was er sich aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen -ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte! - -Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und es begrüßten -den Ankommenden gleich am Bahnhof die ersten Zeichen derselben. -Aus einem Zug, der mit dem seinen zugleich ankam, stieg eine ganze -Gesellschaft von Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen -und auf Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere -Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten die Brüder, -bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession in Bewegung setzten. -Reichardt, den ein ebenfalls heute zugereister Buddhist, einer seiner -Sommerbesuche, erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt -er seinen Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen, -deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde augenblicklich peinlich -störend auffiel. Unter dem lauten Vergnügen einer nachfolgenden -Knabenhorde und den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte -die seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale. - -Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene Wohnung -und bekam einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt. Er -verabschiedete sich, nahm an der nächsten Straßenecke einen Wagen -und fuhr, ermüdet und verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da -rauschte um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn nichts -mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude, in denen er -einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik getrieben hatte, dort lag -seine ehemalige Wohnung, mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte -früher der Justizrat Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und -beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem zu tun, und -doch bereitete jede von den wieder erweckten Erinnerungen ihm einen -leisen süßen Schmerz. Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie -ehemals und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge noch -Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen Rädern zu den -Theatern, und Soldaten hatten ihre Mädel am Arm. - -Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche Licht, das im -feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte, und das -Gesumme der Wagen und Schritte, das ganze wie selbstverständlich -spielende Getriebe. Da war Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber -da war auch Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem -war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige Lebenslust -einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte sein wollen, und die ihn -einfach beiseite getan hatte, ohne einen Verlust zu fühlen, während -sein bißchen Glück darüber in Scherben gegangen war. Und dies alles -sprach zu ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und machte -ihn traurig. - -Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem Zettel folgend -stieg er zwei Treppen hinan und wurde von einer kleinen roten Frau, -die ihn fast mißtrauisch musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen -geführt, das ihn kalt und ungastlich empfing. - -»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl und bedeutete -ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im Voraus zu erlegen sei. - -Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während sie auf die Zahlung -lauerte, nach einem besseren Zimmer. - -»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren Zimmer, in ganz -München nicht,« sagte die Frau kurz und sachlich. Nun mußte er lächeln. - -»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte er rasch. »Ich -suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer, nicht eine Schlafstelle. -Die Herren, die hier für mich bestellt haben, waren so freundlich, -meine Börse möglichst schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am -Preise, wenn Sie ein schöneres Zimmer haben.« - -Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran, öffnete ein -anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht an und sagte: »Das hier -wäre noch frei, das kostet aber dreieinhalb.« - -Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und wohnlich, fast -behaglich eingerichteten Zimmer um, legte den Mantel ab, gab der Frau -ihr Geld für einige Tage voraus und sah erst nachträglich, als er -in dem fremden Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er -allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung ohne anderes -Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf einen besseren Empfang -machen durfte. - - -7 - -Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen fremden Bett erwachte -und sich auf den vorigen Abend besann, ward ihm bewußt, daß seine -Unzufriedenheit mit der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges -Verlangen nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen -sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg vielmehr munter aus -dem Bette und sah dem Tag mit Spannung entgegen. Früh ging er aus, -und beim nüchternen Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte -er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit einer gewissen -frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte. Es war herrlich, hier -umherzugehen und als kleiner Mitbewohner dem großen Mechanismus einer -schönen Stadt anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit zu -lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren. Sogar die weither -ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken klangen ihm nicht häßlich und -erinnerten ihn nicht an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur, -daß jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen. - -Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen, er suchte -daher eine volkstümliche Frühstückshalle, um eine Schale Milch zu -genießen. - -»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon einzugießen. -Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und roch mit heimlichem Vergnügen -den Duft des Trankes, den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er -es bei diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot dazu und -nahm eine Zeitung zur Hand. - -Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige Versammlung -angekündigt und begrüßt wurde. Man sei gespannt, hieß es, auf -diesen Kongreß von Menschen, die ein redliches Bemühen um wichtige -Lebensfragen vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei -widerstreitender Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag -gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott wurde einiger -Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht und mit Aufrichtigkeit -bedauert, daß die Mehrzahl dieser Weltverbesserer allzufern vom -Tagesleben sich in Spekulationen verliere, statt tätig da und dort -mitzuwirken und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen der -Zeit zu beteiligen. - -Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel dem stillen -Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von der gehässigen -Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher die meisten Schriften -der neuen Propheten die Welt beurteilten. Nachdenklich ging er weg -und suchte den Versammlungssaal auf, den er mit Palmen und Lorbeer -geschmückt und schon von vielen Gästen belebt fand. Die Naturburschen -waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen oder -tropischen Kostüme fielen auch hier als Seltsamkeiten auf, dafür sah -man manchen feinen Gelehrtenkopf und viel Künstlerjugend. Die gestrige -Gruppe von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche Insel im -Gewoge. - -Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und sprach den Wunsch -aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen möchten sich hier nicht -noch weiter auseinanderreden, sondern das Gemeinsame suchen und Freunde -werden. Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen -der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des Weltfriedens. Ihm folgte -ein greiser Theosoph aus England, der seinen Glauben als universale -Vereinigung der einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl. -Ihn löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit -für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen -Weltreligion als eine gefährliche Utopie brandmarkte, da jede Nation -oder doch jede Rasse das Bedürfnis und Recht auf einen eigenen, nach -seiner Sonderart geformten und gefärbten Glauben habe. - -Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende Frau unwohl, -und er begleitete sie hilfreich durch den Saal bis zum nächsten -Ausgang. Um nicht weiter zu stören, blieb er alsdann hier stehen und -suchte den Faden des Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick -über die benachbarten Stuhlreihen wanderte. - -Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung eine schöne -Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen hielt, und während sein -Herz unruhig wurde und jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn -jäh verließ, erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er -sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung als die eines -Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung unerwartet über fremde Höhen -hinweg die Türme der Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie, -stolze Haltung ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen Umriß -ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und Rasse, Menschenmenge und -Ort wie Nebel dahin, und er wußte nichts auf der Welt als sich und -sie, und wußte, der Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen -und der Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben fehle und -ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm helfen könne. Und dies -alles schien ihm möglich und in Treue aufbewahrt; denn er meinte mit -liebender Ahnung zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge -wenig Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken an ihn -diese Versammlung aufgesucht habe. - -Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur Erwiderung, und es -machte sich bereits die erste Woge der Rechthaberei und Unduldsamkeit -bemerklich, welche fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite, -Freiheit und Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt -der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte. - -Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher Stürme kein -Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten, als sei sein ganzes -Wesen sich bewußt, daß es einzig von ihr gerettet und zu Leben und -Glück zurückgeleitet werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob -sich das Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu und -zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein Widerwille -gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt wurde. Sie ging ganz nahe -an Berthold vorbei, ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich -sehen, wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer -Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter und stiller -geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich frohem Stolz, wie die -Vorüberschreitende überall von bewundernden und achtungsvollen Blicken -begleitet wurde. - -Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst in tadelloser -Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig gleichmäßigen Schritt, -nicht eben fröhlich, aber aufrecht und elastisch wie in einem guten -Lebensglauben. Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor -einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich vergnügend, ohne -zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu folgte und in ihrer Nähe war. Und er -blieb hinter ihr bis zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im -Tor ihrer alten Wohnung verschwinden sah. - -Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte er an sich nieder. Er -war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte, und die ganze ungepflegte -Dürftigkeit seiner Erscheinung, die ihn schon seit gestern bedrückt -hatte, schien ihm jetzt unerträglich. Sein erster Gang war zu einem -Barbier, der ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte, und -als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die Gasse trat und die -duftige Frische der rasierten Wangen im leisen Winde spürte, fiel alle -Befangenheit und einsiedlerische Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig -fuhr er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen Anzug -und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner Figur anpassen, kaufte -nebenan weiße Wäsche, Halsbinde, Hut und amerikanische Stiefel, sah -sein Geld zu Ende gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug -einen Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und fand am Abend, als -er in angenehmer Ermüdung heimkehrte, alles schon in Schachteln und -Paketen daliegen und auf ihn warten. - -Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu machen, und zog -sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit den neuen Sachen an, lächelte -sich etwas verlegen im Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je -in seinem Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt -zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl geworfen, sein -asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich geworden wie die brüchige -Puppenhülle eines jungen Schmetterlings. - -Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob er noch einmal -ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft, und er hatte kaum Antwort -gegeben, so trat geräuschvoll ein stattlicher Mann herein, in welchem -er sofort den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen reisenden -Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler Einsiedelei besucht -hatte. - -Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln und nahm mit -Verwunderung dessen frische Eleganz wahr. Er selbst trug den braunen -Hut und alten Gehrock von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze -Weste dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für längere -Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie oberhalb der Stiefel -eine harmonikaähnliche Anordnung von kleinen widerwilligen Querfalten -aufwiesen. Er beglückwünschte den Doktor zu seinem guten Aussehen und -hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen einlud. - -Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon Adolfus mit Leidenschaft -von den heutigen Reden und Verhandlungen zu sprechen und konnte es -kaum glauben, daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag -hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost und soziales -Elend gesprochen und dadurch Skandal erregt, daß er beständig den -nichtvegetarianischen Teil der Menschheit als Leichenfresser bezeichnet -hatte. Darüber waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten -im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt und mußte -durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt werden. Die Buddhisten -hatten stumm in geschlossenem Zuge den Saal verlassen, die Theosophen -vergebens zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst -verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem Refrain: - - »Ich laß der Welt ihr Teil, - Im All allein ist Heil!« - -und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen -auseinandergegangen. - -Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde dann gelassen -und heiter, indem er ankündigte, er werde morgen selbst im Saale -sprechen. Es sei ja traurig, all diesen Streit um nichts mit anzusehen, -wenn man selbst im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er -entwickelte seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte und in -der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen magischen Seelenkräfte -das Heilmittel für die Übel der Welt erblickte. - -»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte er einladend. - -»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd. »Ich kenne ja -Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg wünsche. Ich selber bin in -Familiensachen hier in München und morgen leider nicht frei. Aber wenn -ich Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich es sehr -gerne.« - -Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts Mienen nur -Freundliches entdecken. - -»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer mit einem -Darlehen von zehn Kronen geholfen, die nicht vergessen sind, wenn ich -auch bis jetzt nicht in der Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir -nun nochmals mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten -- mein Aufenthalt -hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden, die niemand mir -ersetzt.« - -Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals Glück für morgen, -dann nahm er Abschied und ging nach Hause, um zu schlafen. - -Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht, da war -Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und er lag die ganze Nacht -brennend in Gedanken an Agnes und in tausend bitteren Zweifeln, denen -doch das Herz in stiller Ahnung tapfer widersprach. - -Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von der schlaflosen -Nacht erschöpft. Er brachte die frühen Stunden auf einem Spaziergange -und im Schwimmbad zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor -einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien, in einem -hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung vor. - -Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile warten, dann fragte -ihn ein kleines neues Mädchen, keine richtige Magd, erstaunt und -unbeholfen nach seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und die -Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche davon. Dort wurde -nun ein Gespräch hörbar und zur Hälfte verständlich. - -»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt sagen, daß die gnädige -Frau krank ist. -- Wie sieht er denn aus?« - -Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem blauen leinenen -Küchenkleide, sah ihn fragend an und sprach kein Wort, da sie ihn -unverweilt erkannte. - -Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?« fragte er, -und ehe weiteres gesagt wurde, traten sie in das bekannte Wohnzimmer, -wo die Frau Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß, sich bei -seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos aufrichtete. - -»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes zur Mutter, die -dem Besuch die Hand gab. - -Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube den Mann an, -las die Not eines verfehlten und schweren Jahres in seinem mageren -Gesicht und die Sicherheit und den Willen einer geklärten Liebe in -seinen Augen. - -Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern wortlos -angezogen gaben sie einander nochmals die Hand. - -»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens ihre -Tochter große Tränen in den Augen hatte und ihr erbleichtes Gesicht -neben dem der Mutter im Lehnstuhl verbarg. - -Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen sogleich wieder -auf und lächelte noch mit Tränen in den Augen. - -»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann nun die alte Dame. -Da stand das hübsche Paar schon Hand in Hand bei ihr und sah dabei so -gut und lachend aus, als habe es schon seit langem zusammengehört. - - - - -Emil Kolb - - -Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer Teil der -Menschheit zu bestehen scheint, könnte man als Karikaturen der -Willensfreiheit bezeichnen. Indem sie nämlich, unendlich weit von der -Natur abgeirrt und von der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die -ursprüngliche Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den Ruf -der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben sie leichtsinnig und -unentschlossen in einem wertlosen Leben scheinbarer Willkür dahin. Da -sie Eigenes nicht in sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen -verwiesen und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage und -Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich als Affen der -Natur. - -Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb in Gerbersau, und der -Zufall (da man bei solchen Menschen doch wohl nicht von Schicksal reden -darf) brachte es dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich -vielen anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre und Elend -kam, obwohl er um nichts schlimmer war als tausend seiner Art. - -Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster, und nur seine -Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien der Dierlamm und -der Giebenrath hielt ihn im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades -von Mißachtung, dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst unter ihren -Mitbürgern genießen. - -Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb vorsichtigerweise -von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen Gebrauch. Es fiel ihm nicht -ein, etwa bei einer Leichenfeier oder in einem Festzuge neben einem -Giebenrath schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm -zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger und stolzer -erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen an die ehrenvolle -Verwandtschaft, die ihm immerhin von Nutzen war. Es war diesem -Manne die Gabe versagt, im Walten der Natur und in der Entfaltung -menschlicher Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen und -anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch, was seinem Tun und Leben -versagt war, wenigstens seinen Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt -und schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren, schöneren -Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete Phantasie dessen -fähig war. - -Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich rüstigen -Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien auf dessen Zukunft, -und damit rückte dies alles, was bisher nur Gedankensünde und -Fabelvergnügen gewesen war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen, -das bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde. Denn -der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche und Träume schon -frühe als eine warme und treibende Luft um sich und gedieh darin wie -der Kürbis im Dünger, er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren -vor, der Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal -unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen Religion -das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der Eltern und Vorfahren -schuldete. Emil Kolb fühlte den Mut in sich, einmal das Schicksal eines -Gewaltigen auf sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs, -und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln bei -seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei Schüchternheit -ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und mit ruhigem Lächeln die -ehrerbietigen Grüße der Mitbürger einzustreichen. - -Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte das beste Recht -aller Jugend sein und manchem tüchtigen Manne die Jahre schwerer -Erwartung tragen helfen -- jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas -anders, als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können, Macht -des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte, sondern lediglich gut -Essen und Wohnen, schöne Kleider und feistes Wohlergehen. Schon früh -erschienen ihm die wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte, -lächerlich und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen -Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen, statt ihre -guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar zu machen. So zeigte -er auch für alle jene Fächer der Schulwissenschaft reichlichen Eifer, -die von den Dingen dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung -mit Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und anderen -ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien. - -Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber vor -der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die Torheiten der -Dichter verstand, sondern die Pflege des Ausdruckes zugunsten realer -geschäftlicher Handlungen und Vorteile. Er las alle Dokumente -geschäftlicher oder rechtlicher Natur, von der einfachen Rechnung -oder Quittung bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit -tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er sah gar wohl, daß -die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von der gemeinen Sprache der -Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet -sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und über Unverständige Vorteile -zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er diesen Vorbildern -beharrlich nach und brachte manche Blüte hervor, die einer kleineren -Kanzlei kaum unwürdig gewesen wäre. Und einen in seiner Sammlung -solcher Dokumente befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des -Vaters ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar -mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen bereitete. -Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung des Vermißten: »Wer etwas -über den Gesuchten weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt -melden«. Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen, welche in der -Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten beizubringen -- --«. - -Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den Anlaß und -Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft. Der Lehrer hatte seine -Klasse einst einen Aufsatz über den Frühling verfassen und mehrere -dieser Arbeiten von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher -zwölfjährige Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land der -schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten ihre Aufsätze -mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen gangbarer -Dichter. Es war vom Amselruf und von Maifesten die Rede, und ein -besonders Belesener hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle -diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht zu rühren -vermocht, er fand das alles blöd und töricht. Da kam, vom Lehrer -aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts, Franz Remppis, an die Reihe, -seinen Aufsatz vorzulesen. Und gleich bei den ersten Worten »Es ist -nicht zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme -Jahreszeit genannt zu werden verdient« -- gleich bei diesen Worten -merkte Kolb mit entzücktem Ohre den Klang einer ihm verwandten Seele, -lauschte scharf und beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies -war der Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt -und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon mit einiger -Sicherheit anzuwenden wußte. - -Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler seine Anerkennung -aus, und von der Stunde ab hatten die beiden Knaben das Gefühl, -einander zu verstehen und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen -je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte es auch keiner -vom andern, vielmehr spürten sie, daß es gut sei, einander gelten und -bestehen zu lassen, um einmal einer am andern etwas zu haben und etwa -später größere Dinge gemeinsam unternehmen zu können. - -Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen -Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile des Zusammenlegens und der -gegenseitigen Ermunterung zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß -Franz Remppis darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes -dieser Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu bestehen, -daß das Geld solange in seinen Händen bleibe, bis auch der Freund eine -bare Einlage gemacht habe, und da es hierzu niemals kommen wollte, -versank der gute Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den -Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin fand Kolb sehr -bald einen Weg, seine kümmerlichen Umstände vorteilhaft mit den weit -bessern des Wirtssohnes zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen -kleine Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern mit seinen -Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum Ende der Schulzeit, und gegen -das Versprechen eines Honorars von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb -dem Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen, welches sie auf -diese Weise beide wohl bestanden. Emil hatte sogar so gute Zeugnisse -eingeheimst, daß sein Vater darauf schwor, an dem prächtigen Jungen -sei ein Gelehrter verloren gegangen. Allein an fernere Studien war -nicht zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und tat manchen -sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten, um seinem Sohne einen -besonderen Platz im Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine -glänzende Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung -der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen Knaben als Lehrling im -Bankgeschäft der Brüder Dreiß unterzubringen. Damit schien ihm ein -bedeutender Schritt nach oben hin getan und eine Gewähr für die -Erfüllung weit kühnerer Träume gegeben. - -Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe widmen wollten, -gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere Eröffnung dieser -Laufbahn als die Lehrlingschaft bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und -Warengeschäft war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes -Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten Klassen, deren -sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge in ihr Geschäft aufnahmen. -So hatten sie stets, da die Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und -sechs junger Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr -an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung erhielten. -Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des alten ehrwürdigen Hauses als -eine überall im Lande gültige Empfehlung ins Leben mitnehmen. - -Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende Lehrling und -wurde darum von manchem beneidet, der sich selbst auf diesen Ehrenplatz -gewünscht hatte. Er selbst fand hingegen die Ehre gering und recht -teuer bezahlt; denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem -alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel glaubten -abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu tun war, das zu tun sich -jeder scheute und zu gut hielt, da rief man nach Emil, dessen Name -immerzu gleich einer Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so -daß der junge Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter -den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren Kisten eine -kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der Zukunft nachzuhängen. Es -entschädigte ihn für dies rauhe Leben nur die sichere Rechnung auf den -Glanz späterer Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder -Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten und sich -außerdem noch einen gut zahlenden Volontär hielten, pflegten an allem -zu sparen, nur am Essen für ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb -sich jeden Tag dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat, -und wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung -zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch der Lehrlinge gehörende -Übung, welcher er mit derselben Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am -Morgen und dem Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend. - -Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt in diese Vorhölle -seines Berufes sich von dem Freund hatte trennen müssen. Franz -Remppis wurde von seinem Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt -und erschien eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm -seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf dessen Ecken -aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens Trost, daß sie beide -einander fleißig schreiben wollten, leuchtete dem armen Emil wenig ein; -denn er wußte nicht, woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen -sollen. - -Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin Remppis von -seinem Einstand am neuen Orte berichtete. Dieses Schreiben, das mit -großem Fleiß und Vergnügen aus vielen vortrefflichen Phrasen und -kaufmännischen Ausdrücken zusammengestellt war, regte Emil zu einer -langen, sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere Abende -hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste nicht möglich war. -Endlich gelang es ihm doch, und er sah es vor sich selbst als eine -Entschuldigung und halbe Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt -dem edlen Gefühle der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige -Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling ihm -die Briefmarken dazu in die Hand, die er unterwegs aufkleben solle. -Diese Gelegenheit nahm Emil wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den -er in der Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen -Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen ohne Marke -in den Postkasten. - -Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt über eine Grenze, -die für ihn besonders gefährlich und lockend war. Wohl hatte er auch -zuvor schon je und je, gleich den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu -sich gesteckt, die seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte -Zwetschgen oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte ein -jeder mit ganz heilem Gewissen -- sie stellten eine flotte und -herrische Gebärde dar, womit der Täter vor sich selber prahlte und -seine Zugehörigkeit zum Hause und dessen Vorräten dartat. Hingegen war -mit dem Diebstahl der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit -Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den keine Gewohnheit -und kein Beispiel entschuldigen konnte. Es schlug denn auch dem jungen -Missetäter das Herz in geziemender Angst, und einige Tage lang war -er zu jeder Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und -er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige -Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus genascht und -gediebelt haben, dennoch der erste richtige Diebstahl ein unheimliches -Erlebnis, und mancher trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden. -Wenigstens zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe ihre -erste Untat nicht zu tragen vermögen und ohne äußere Nötigung sich -durch ein Geständnis erleichtern und für immer reinigen. - -Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor der möglichen -Entdeckung, und vermutlich brannte auch sein wenig feines Gewissen ein -wenig, aber als die Tage gingen und die Sonne weiter schien und die -Geschäfte ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als -habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese Möglichkeit, in -allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen zu ziehen, als ein Ausweg aus -hundert Nöten, ja vielleicht als der ihm bestimmte Weg zum Glücke. -Denn da ihn die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg zum -Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er stets wie alle Toren -nur das Ziel und nie den Weg bedachte, mußte die Erfahrung, daß man -unter Umständen sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn -gewaltig in Versuchung führen. - -Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für ein Männlein -seines Alters hundert kleine schwer entbehrte Dinge, die vor seinen -Träumen wie begehrenswerte Früchte des Paradieses hängen und welchen -das Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt. Sobald Emil -Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung weiteren unredlichen Erwerbs -zu spielen, sobald der Besitz eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze -ihm keine Unmöglichkeit mehr, sondern jederzeit erreichbar schien, -richtete sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen, an die -er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling Färber ein -Taschenmesser mit einer Säge und einem Stahlrädchen zum Glasschneiden -daran, und obwohl das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein -Bedürfnis war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes -von Messer überaus wünschenswert vorkommen. Und nicht übel wäre es -auch, am Sonntag eine solche blau und braun gefärbte Krawatte zu -tragen, wie sie jetzt bei den feineren Lehrjungen die Mode waren. -Sodann war es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen -Fabriklehrbuben am Feierabend schon zum Bier gingen, während ein -Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und an Stande so viel -höher als jene, jahraus, jahrein kein Wirtshaus von innen zu sehen -bekam. Und war es nicht ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen -halbwüchsigen Stricker oder Weber aus den Fabriken schon am Sonntag -freimütig mit den Kolleginnen verkehren oder gar Arm in Arm gehen? Und -ein junger Kaufmann sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit -erst abwarten müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen Mädel das -Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel anzubieten? - -Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende zu machen. Es -war weder sein Gaumen für die herbe Würze des Bieres noch sein Herz -und Auge für die Reize der Mädchen reif, aber er strebte selbst im -Vergnügen fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und -zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen Kollegen. - -Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er bedachte seine -Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig, als er zuvor seine erste -Berufswahl bedacht hatte, und es blieb seinem Nachdenken nicht -verborgen, daß auch dem besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere. -Es durfte durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum -wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache weitläufig -vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb den Hals wagen. So -überlegte und untersuchte er alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm -etwa offen standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten -Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein erstes Lehrjahr -tadelfrei abdiene, so würden die Herren ihm die sogenannte Portokasse -übertragen, welche stets der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um -also seine Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können, -diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit. Er wäre -darüber beinahe seinem Entschlusse untreu und wieder ehrlich geworden; -denn der ältere von seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer -bemerkte und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab ihm -gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen zu, welche -ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen. So war er häufig im Besitz -kleinen Geldes und brachte es dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde -sich eine von den braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit -die Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten. - -Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen ersten Schritt -in die Welt der Erwachsenen und feierte sein erstes Fest. Bisher hatte -er sich wohl des Sonntags manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn -sie langsam und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten, -vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen und recht heimatlos -und verstoßen sich umhertrieben, aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade -entlassen und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen. Da -hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch weit bis zu Glück und -Ehre hätten, und hatte nicht ohne bitteren Neid den jungen Fabriklern -nachgeschaut, die mit langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der -Musik einer Ziehharmonika folgten. - -Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit einen -festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund Remppis hatte in -Lächstetten, wie es schien, mehr Glück gehabt als Emil daheim. Und -neulich hatte er einen Brief geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf -der feinen Halsbinde veranlaßt hatte. - -Lieber, sehr geehrter Freund! - -Im Besitz Deines Werten vom 12. _hujus_ bin in der angenehmen Lage, -Dich für kommenden Sonntag, 23. _hj._, zu kleiner Fidelität einzuladen. -Unser Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag -seinen Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu herzlich -einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag, da erst noch bei meinem Chef -essen muß. Werde Sorge tragen, daß alles Deine Anerkennung findet, -und bitte, Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen. -Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls erbitte -Antwort wie sonst _poste restante_ Merkur 01137. Deinem Werten mit -Vergnügen entgegensehend empfiehlt sich mit Gruß Dein - - Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H. - -Sofort hatte Emil Kolb geantwortet: - -Lieber, sehr geehrter Freund! - -In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von gestern sage für -Deine gütige Einladung besten Dank und wird es mir ein Vergnügen -sein, derselben Folge zu leisten. Die Aussicht auf die Bekanntschaft -mit den werten Herren und Damen eures löblichen Vereins ist mir so -wertvoll wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem -regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen. -Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches Zusammentreffen -verschiebend, verbleibe mit besten Grüßen Dein ergebener Freund - - Emil Kolb. - -_P. S._ In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die geschäftliche -Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar Gebrauch machen werde, da -zurzeit leider meine Kasse größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein -dürfte. - - Dein treuer Obiger. - -Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen Ende Juni und da seit -wenigen Tagen nach langem Regen heißes Sommerwetter eingetreten war, -sah man überall die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den -ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld für die kleine -Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten. Darum machte er sich zeitig -am Vormittag auf den Weg und war bis zur verabredeten Stunde lange -genug unterwegs, um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in -reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben tat er -an günstigen Orten auch den eben reifenden Kirschen Ehre an und kam -bequemlich zur rechten Zeit in Lächstetten an, das er noch nie gesehen -hatte. Nach den Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich -diese Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen Gerbersau -als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster Lebenslust vorgestellt -und war nun etwas enttäuscht, die Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen -eher geringer und schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch -das Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die Geheimnisse -des Handels erlernen sollte, konnte sich mit dem stattlichen Hause -der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht messen. Dies alles stimmte Emils -Erwartungen und Freudebereitschaft einigermaßen herab, doch stärkten -diese kritischen Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung, er würde -neben der weltgewandteren und lebensfroheren Jugend dieser Stadt -bestehen können. - -Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus, ohne daß er den -Mut gefunden hätte, einzutreten und nach seinem Landsmann zu fragen. -Er ging hin und wieder, atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft -und wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu pfeifen, der -in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz Remppis und ihm gegolten -hatte. Nach einiger Zeit erschien der Gesuchte denn auch in einem -hohen Mansardenfensterchen, winkte hinab und wies den Freund durch -Zeichen an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz zu -erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg und brachte seine -Wartezeit vor dem Schaufenster eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem -feststellte, daß es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und -zugehe als daheim in Gerbersau. - -Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils Kritiklust zusammen, -da er den Schulfreund in einem ganz neuen Anzug mit einem steifen, -unmäßig hohen Hemdkragen und sogar mit Manschetten geschmückt sah. - -»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann es also -losgehen. Hast du Zigarren?« - -Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll in die -Brusttasche. - -»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte ich heut nicht -frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf. Aber jetzt wollen wir -marschieren.« - -So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine Enttäuschung -doch nicht verbergen. Er war zu einem Vereinsausfluge eingeladen, er -hatte Fahnen und vielleicht sogar Musik erwartet. - -»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes?« -fragte er mißtrauisch. - -»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter den Fenstern der -Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem so wie so kein Vergnügen. Nein, -wir treffen uns vor der Stadt beim alten Galgen.« - -»So so. Beim Galgen?« - -»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da sind wir ganz sicher, -daß keiner von den Alten hinkommt.« - -Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines Gehölz und ein -altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie rasch eintraten, nachdem Franz -sich scharf umgesehen hatte, ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden -sie von sechs oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle -vor hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis stellte -seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil ward feierlich willkommen -geheißen. - -»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er. - -»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen Verein ins Leben -gerufen, um die Interessen unseres Standes zu fördern, vor allem aber -um unter uns die Geselligkeit zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind, -Herr Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.« - -Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen, die doch -eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese später im Walde zu treffen -hoffe. - -Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden Sommertag hinein. -Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer Franz sich seiner Vaterstadt -rühmte, die er in seinen Briefen beinahe verleugnet hatte. - -»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr, Emil, da geht es -anders zu als hierzuland! Und was es dort für schöne Mädchen gibt!« - -Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig und erzählte -freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten im Vergleich mit -Gerbersau finde. Einige von den jungen Leuten, die schon in Gerbersau -gewesen waren, gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los, -rühmte ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes -und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest, und die paar -geborenen Lächstettener, die dabei waren, gaben ihnen recht und -schimpften auf die eigene Heimat. Sie alle waren voll unerlöster -Kindlichkeit und zielloser Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren -und rückten an ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild, -als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton, den er -daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt hatte, und wurde mit -allen gut Freund. - -Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines prächtigen -Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft von vier -halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern. Es waren Töchter -geringer Häuser, denen es an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil -schon als Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche Verhältnisse -unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb als Fräulein Berta, Luise, Emma -und Agnes vorgestellt. Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse -und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die beiden anderen gingen -lose nebenher und gaben sich Mühe, die ganze Gesellschaft zu -unterhalten. Es war nämlich nach dem Hinzutritt der Damen die frühere -lärmende Gesprächigkeit der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren -Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten, in deren -Bann auch Franz und Emil fielen. Alle diese jungen Leute waren noch -durchaus Kinder, und ihnen allen fiel es weit leichter, die Manieren -von Männern nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß -zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber ohne Mädchen gewesen oder -hätten doch mit diesen wie mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt, -aber das schien nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die -Mädchen ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für ihren Ruf -diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen jungen Handelsleuten -das nachzuahmen, was er sich nach Hörensagen und Lektüre unter einem -feinen geselligen Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und -gaben den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei gestimmt war, -und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld doch der Liebe noch -nicht fähig waren, bewegten sich recht ängstlich und befangen in einer -phantastisch verlogenen Sphäre zierlicher Sentimentalität. - -Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit, und das Fräulein Emma -verstrickte ihn bald in ein schönes Gespräch über den Reiz sommerlicher -Waldausflüge, das später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft -und Lebensumstände überging und wobei Emil sich nicht übel bewährte, -da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald wußte das Mädchen alles -Wissenswerte über den jungen Mann, den sie sich zum Kavalier für -diesen Tag erlesen hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über -sich und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib -als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn Fräulein Emma nach dem -Stande seines Vaters fragte, schien ihm das Wort Flickschuster gar zu -schroff und häßlich und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein -Papa habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie ein -glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger Schuhwaren, dem ein -solcher Duft von Eleganz und geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg, -daß ihre weiteren Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes -als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt zu immer -kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit nötigten. Es entstand aus -Fragen und Antworten eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben -war Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht eben -reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung und Begabung früh -von den Schulstudien zum Handel hingeführt hatte. Er erlernte als -Volontär, welches Wort auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen -alten Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes und -war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen, um -seinen Schulfreund Franz zu besuchen. Was die Zukunft betraf, so konnte -Emil ohne Gefahr und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden, -und je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je mehr von -Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war, desto mehr kam er ins -Feuer und desto besser gefiel er dem Fräulein Emma. Diese hatte von -ihrer Abstammung nichts und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel -erzählt, daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten und -leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches zu leiden habe, -das sie jedoch kraft eines tapferen Herzens ohne Murren zu ertragen -wisse. - -Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen Eigenschaften -wie auch das Äußere des Fräuleins einen starken Eindruck. Vielleicht -und vermutlich hätte er sich in irgendeine andere, sofern sie nicht -gerade häßlich war, ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit -einem Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn zeigte -und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das er in der Stille -sich selber noch zu jung erschien. Desto feierlicher lauschte er den -Erzählungen der Emma und gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen. -Es blieb ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg bei -Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich dem Franz imponierte. - -So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik und lärmender -Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein stilles Erlebnis und -jedenfalls etwas nicht minder Schönes geworden. Es geschahen zwischen -ihm und seinem schönen Fräulein keine Liebeserklärungen und keine -Zärtlichkeiten, vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es -entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen, er war zum -erstenmal verliebt und zum erstenmal Kavalier, und beides gefiel ihm -nicht wenig. - -Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge einzukehren, -wurden in der Nähe eines Dorfes zwei von den Jünglingen auf Proviant -ausgeschickt. Sie kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern -wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen, wobei die -Mädchen das Brotschneiden und Einschenken übernahmen und mit ihren -hellen Sommerkleidern froh und festlich aussahen. Emil, der den ganzen -Tag auf den Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit -eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste von allen. -Doch mußte er bei diesem ersten Fest seines Mannesalters die bittere -Erfahrung machen, daß nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß -seine Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines Kindes -waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder vierten Glase Bier und -mußte den Heimweg nach Lächstetten als Nachzügler unter des Freundes -Obhut in Schmerzen und Reue zurücklegen. - -Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied und trug ihm Grüße -an die Kameraden und an die lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu -Gesicht bekommen hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet -für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren durchs Fenster -die schöne sommerliche Landschaft abendlich werden und festlich -verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung der Rückkehr zu Arbeit und -Entbehrung voraus und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen -wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten zu legen. - -Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen seinem Freunde -schreiben: - - »Lieber Freund! - -In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht unterlassen, -Dir nochmals meinen Dank auszusprechen. Zu meinem lebhaften Bedauern -ist mir unterwegs jenes Versehen passiert und hoffe ich sehr, es -möchte Dir und den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört -haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn Du die Güte -haben wolltest, dem Fräulein Emma einen Gruß von mir und meine Bitte -um Entschuldigung für jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich -sehr gespannt, Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen, -da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt und -ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem Anlaß an selbe mit -ernsteren Anträgen heranzutreten. Diesbezüglich Deine strengste -Diskretion erbittend und voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in -freundschaftlicher Ergebenheit Dein Emil Kolb.« - -Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ wissen, daß -der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren vom Verein sich freuen -würden, Emil bald einmal wieder bei sich zu sehen. Der Sommer ging -hin, und die Freunde sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal, -bei einer Zusammenkunft in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte -zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil den Schulfreund -bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige Wiedersehensfreude auf, -denn Emil hatte keinen anderen Gedanken, als etwas über das Fräulein -Emma zu erfahren, und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder -hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem Sonntage selbst -seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet und seinen Freund bei ihr -auszustechen versucht. Unschönerweise hatte er damit begonnen, daß -er dessen Legende zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung -dargetan hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde, noch mehr -aber wegen einer sogenannten Hasenscharte, welche Franz am Munde hatte -und die der Emma mißfiel, wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch -nichts erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen und -enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen am Abend nur -darin einig, daß keiner von beiden eine baldige Wiederholung dieser -Zusammenkunft für notwendig hielt. - -Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen zwar nicht eben -beliebt, wohl aber nützlich gemacht und soviel Vertrauen erworben, -daß im Herbst, nach dem Avancement des ältesten Lehrlings und dem -Eintritt eines neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer -alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte Portokasse -übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult angewiesen und zugleich Büchlein -und Kasse übergeben, ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte, -worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das bare Geld geordnet -lagen. - -Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne angelangt, verwaltete -in der ersten Zeit die paar Taler seiner Kasse mit äußerster -Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten mit dem Gedanken vertraut, aus dieser -Quelle zu schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese -Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in der klugen -Voraussetzung, man werde seine Führung in dieser ersten Zeit besonders -genau beobachten. Vielmehr war es ein Gefühl von Feierlichkeit und -innerer Befriedigung, das ihn gut machte und vom Bösen abhielt. -Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor und als -Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen und Geachteten -emporgerückt; er genoß diese Stellung mit Andacht und sah auf -den soeben neu eingetretenen jüngsten Lehrling mit großem Mitleid -hernieder. Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen. -Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung vom Bösen abzuhalten -vermochte, so genügte auch eine Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze -zu erinnern und diese zur Ausführung zu bringen. - -Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute, an einem Montage. -Dieser Tag, an welchem nach kurzer Sonntagsfreiheit und mancher -Lustbarkeit die Nebel des Dienstes, des Gehorchenmüssens und der -Arbeit sich wieder für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und -tüchtige junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten -den Sonntag der Lust geweiht und alle gute Laune einer Woche im voraus -verbraucht haben. - -Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden älteren Lehrlinge -waren tags zuvor samt dem Herrn Volontär in der Vorstellung einer -durchreisenden Theatertruppe gewesen und hatten nun, durch das -gemeinsame seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander -zu flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der Hauptstadt, -ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden eines Komikers nach -und weckte die Erinnerung an gestrige Genüsse jeden Augenblick von -neuem. Emil, der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und -kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit Neid und -Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am frühen Morgen schon in -bitterer Montagslaune angebrummt, allein und ausgeschlossen stand er -an seinem Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn ohne -Zweifel bemitleideten. - -Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines Prinzipals, den -er abschicken sollte und aus dem er zuvor noch Stilistisches zu lernen -hoffte. Es war ein Brief an einen großen Lieferanten und begann »Sehr -geehrter Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend, -bitte nun endlich, Berechnung über die am 11. Vorigen erhaltenen Waren -einzusenden.« Es war nichts Neues, enttäuscht legte der Lehrling den -Brief zu den anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem -Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der sich zweimal -wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen der ganzen Stadt vertraut, -kündete den Ausrufer der Schauspielerfamilie an, der auch sogleich -auf dem Platz erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang -und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften! Damen und -Herren! Es findet heute Abend acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen -Hecht die unwiderruflich letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira -statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der Graf von Felsheim -oder Vaterfluch und Brudermord«. Zu dieser unwiderruflich allerletzten -Hauptgalavorstellung wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen. -Trara! Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände -statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten und zweiten Rang erhält -vollständig gratis ein Los. Trara! Trara! Letztes Auftreten -der berühmten Truppe! Letztes Auftreten auf Wunsch zahlreicher -Kunstfreunde! Heute Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!« - -Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen Montagmorgens -traf den einsamen Lehrling ins Herz. Die Gebärden und Gesichter des -Volontärs, das Tuscheln der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von -unerhörtem Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden Verlangen zusammen, -endlich auch einmal dies alles zu sehen und zu genießen, und das -Verlangen ward alsbald zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner -Hand. - -An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche Zahlen in sein -kleines sauberes Kassabüchlein und nahm einige Nickelstücke von dem ihm -Anvertrauten weg. Aber obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener -Diebstahl einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig. Er -hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat gewöhnt, er fürchtete -keine Entdeckung, ja er fühlte einen leisen Triumph, als er sich abends -vom Prinzipal verabschiedete. Da ging er nun hinweg, das Geld des -Mannes in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und der -dumme Kerl würde nichts merken. - -Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten, hatte er -sagen hören, gab es noch weit größere und glänzendere Theater, und da -gab es Leute, die jeden lieben Abend hineingingen, immer auf die besten -Plätze. So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der Sinn des -Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch die farbigen Figuren -und Bilder der Bühne, außerdem war es nobel und gab Ansehen, wenn einer -so im Parkett sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was -vorspielen lassen konnte. - -Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein unsichtbares Loch, -durch welches in aller Stille immerzu ein kleiner dünner Geldfluß -entwich und dem Lehrling Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich -zog hinweg in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder. -Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf dem Brühel ein -Karussell, und außer dem Fahrgeld und Bier oder Kuchen war meistens -dazu auch ein neuer Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides. -Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem verwöhnten Manne, -der sich überlegt, wo er am kommenden Sonntag vergnügt sein will, und -der aufs Geld nicht zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es -beim Vergnügen auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und tat mit -Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit gehalten hätte. Beim -Bier schrieb er an die jungen Herren in Lächstetten Ansichtskarten, -und nicht die billigsten, sondern stets von den lackierten farbigen -mit den tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen jede -Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage. Und wo er sonst ein -trockenes Brot verzehrt hatte, fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu, -er lernte in Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen -und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen. - -Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes vorsichtig -sein und durfte nicht immer auftreten, wie es ihm gerade Spaß gemacht -hätte. Die paar ersten Male spürte er auch vor dem Monatsende und -der Kontrolle seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles -gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen Unfug -einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb, trotz aller -Vorsicht am Ende sicher und blind. - -Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben Briefe statt für -vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr ihm den falschen Eintrag -vorhielt, blieb er frech dabei, es müßten sieben Briefe gewesen sein. -Und da der Herr Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil -friedlich seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne daß -der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und studierte es sorgsam -durch. Denn es war ihm nicht nur der größere Portoverbrauch in letzter -Zeit aufgefallen, sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der -Vorstadt erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag öfter zu -ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als der Vater ihm dafür geben -könne. Und nun hatte der Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen -und die Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben seines jungen -Kassiers zu erkennen. - -Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war, ließ der jüngere -der Sache zunächst ihren Lauf, indem er nur täglich in der Stille die -kleinen Unterschlagungen betrachtete und notierte. Er sah, daß sein -Verdacht dem jungen Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich -ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der ihn der -Bursche eine so lange Zeit hintergangen und bestohlen hatte. - -Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen beriefen die beiden -Herren den Sünder in ihr Privatkontor. Da versagte denn doch die -erworbene Sicherheit des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden -ernsten Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein schmales -Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht und verlor den -Atem. - -Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein schmucker Marktplatz -durchsichtig, oder eine nette helle Gasse, und man sähe unterm Boden -Kanäle, Kloaken und trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel -riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen jungen -Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner Herren Augen da. Das -Schlimmste, was er je gefürchtet, war hereingebrochen, und es war -übler, als er gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in -seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein Fleiß und Gehorsam -war nicht gewesen, es blieb von einem fleißigen Leben zweier Jahre -nichts übrig als die Schmach seines Vergehens. - -Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm und bescheidener -Hausdieb gewesen war, wurde nun zu dem, was die Zeitungen ein Opfer der -Gesellschaft nennen. - -Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet, in ihren -vielen Lehrbuben junge Menschen mit jungen wartenden Schicksalen zu -sehen, sondern nur eben Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und -die für Jahre eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten. -Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges Leben an -der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht, wenn nicht ein guter und -williger Mensch zu helfen bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre -ihnen im Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten einem -Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und ihr Haus geöffnet, nun -hatte dieser Mensch sie hintergangen und ihr Vertrauen mißbraucht -- -das war eine klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und kamen -überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben, und doch wäre -dies das Beste gewesen, wenn sie doch einmal selbst die Hand von dem -Entgleisten abziehen wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten -und zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem Vater gehen -und ihm selber sagen, weshalb man ihn in einem anständigen Handelshause -nicht mehr brauchen könne. - -Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf gemacht werden. Sie -waren ehrenwerte Männer und auf ihre Art wohlmeinend, sie waren nur -gewohnt, in allem Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je -nachdem eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten. So war auch -Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und untersinkender Mensch, -sondern ein bedauerlicher Fall, welchen sie nach allen Regeln ohne -Härte erledigten. - -Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt und gingen am -folgenden Tage selber zu Emils Vater, um mit ihm zu reden, die Sache -zu erzählen und etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb -wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war gestern nicht nach -Hause gekommen, er war davongelaufen und hatte die Nacht im Freien -hingebracht. Zur Stunde, da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten, -stand er frierend und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte sich, im -Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen Untergangs, so -hart und trotzig gemacht, wie es dem schwachen Jungen sonst in Jahren -nicht möglich gewesen wäre. - -Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur zu flüchten, -sich zu verbergen und die Augen zu schließen, da er die Schande wie -einen großen giftigen Schatten über sich fühlte. Erst allmählich, -da er einsah, er müsse zurückkehren und irgendwie das Leben weiter -führen, hatte sein Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte -sich vorgenommen, den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden. Indessen war -auch diese Rachelust vergangen. Emil sah ein, wie sehr er sich den -weiteren Weg zu jedem Glück erschwert habe, und kam am Ende mit seinen -Gedanken zu dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut -und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten Kräften den Weg des -Bösen gehen, um doch noch auf seine Weise Recht zu behalten und das -Schicksal zu zwingen. - -Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach einer -verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger Bösewicht nach der -Heimat zurück, auf Schmach und üble Behandlung gefaßt und zu Krieg und -Widerstand gegen die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt. - -Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne Umgehung der -Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu nehmen und den geschwächten -Willen nicht vollends zu brechen, sondern langsam wieder zu erheben -und zum Guten zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster Kolb -vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser Mann das Gesetz -des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung zu erkennen oder doch zu -fühlen. Statt die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner -schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer Besserung an -sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr Kolb so, als sei von seiner -Seite her alles in Ordnung und als habe er allen Grund gehabt, von -seinem Söhnlein nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte nie -gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen, der allein -in den Seelen der Kinder das Gewissen wecken und der Lust zur Entartung -trotzen kann. - -Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden Sünder wie ein -Höllenwächter bellend und fauchend, er rühmte ohne Grund den guten -Ruf seines Hauses, ja er rühmte seine redliche Armut, die er sonst -hundertmal verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und -Enttäuschung seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der sein Haus -in Schande gebracht und seinen Namen in den Schmutz gezogen habe. -Alle diese Ausdrücke kamen nicht aus seinem erschrockenen und völlig -ratlosen Herzen, sondern aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel -und erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß getan -hatten. - -Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er hielt den Kopf -gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend, aber beinahe doch dem -ohnmächtig wetternden Alten überlegen. Alles was der Vater von der -ehrlichen Armut vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam ihm -nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft in der Welt gewußt -hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen. Er war in der überlegenen -Lage dessen, dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren -Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat. Dagegen verstand -er die Mutter wohl, die hinten am Tische saß und stille weinte. Er -fühlte, daß sie in dieser Stunde etwas von dem kosten mußte, woran -er selber diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu ihr, -der er am wehesten getan hatte und von der er doch am ehesten Mitleid -erwartete. - -Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens, einen nahezu -erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen zu haben. - -Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft hatte, -hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel trotz allem eine feinere -Zukunft zu ermöglichen. Aber ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn -auch aus unbekannten Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in -Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister Kiderle, -der doch im Blatt einen Lehrbuben bei freier Kost gesucht hatte, konnte -sich entschließen, den Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war -noch da, der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil selbst -so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen mußte. - -Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte der Vater: -»Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in die Fabrik!« - -Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil sagte ganz -zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen mach' ich die Freude -nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen sehen.« - -Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach Lächstetten hinüber. -Da sprach er beim Fabrikanten Erler vor, der tannene Faßspunden -herstellte, fand aber kein Gehör, und dann beim Walkmüller, der -ebenfalls eilig dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor -dem Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig war, auch noch -in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo er im Werkführer zu seiner -Überraschung einen Bekannten fand, der sich für ihn verwendete. So ließ -man den Zug fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig -Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte. - -Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb froh, als am folgenden -Montag sein mißratener Sohn das Haus verließ, um sein Fabriklerleben -in Lächstetten zu beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den -Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es für wenige Tage, -und hatte doch fest im Sinne, sich daheim nimmer oder doch lange Zeit -nicht mehr zu zeigen. - -Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten Vorsätze -doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn auch nur als geringstes -Glied, zu den geachteten Ständen zu gehören und über den Pöbel die Nase -zu rümpfen, dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den -guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll. - -Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten sich darauf -verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde Remppis einen guten -Halt finden werde. Darin hatte der schlaue Jüngling sich indessen -verrechnet. Er hatte nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des -Prinzipals aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten Abend auf -der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief ihn bei Namen. - -»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich bin jetzt auch in -Lächstetten!« - -Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich weiß schon,« sagte -er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.« - -Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte einen leichten -Ton anzustimmen, aber die Mißachtung, die der Freund ihm so deutlich -zeigte, drückte ihn nieder. Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein -Zusammentreffen am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete -Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig Zeit, sei -auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte ihn ein Kamerad in einer -wichtigen Angelegenheit, und auf einmal war er weg und Emil ging allein -durch den Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig. -Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue in einem beweglichen -Briefe vorzuhalten, und fand in diesem Vorsatz einigen Trost. - -Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am folgenden Tage erhielt -der junge Fabrikler beim abendlichen Nachhausekommen einen Brief, den -er mit Sorgen öffnete und mit Schrecken las: - -Geehrter Emil! - -Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern, möchte Dir -nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen angenehmen Beziehungen zu -verzichten. Ohne Dir im geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es -doch angezeigt sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise seiner -Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch vorzuschlagen, uns -künftig gegebenenfalls lieber mit dem höflichen Sie anzureden. - -Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger - - Franz Remppis. - -Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig abwärts führte, -war hier der Punkt des letzten Zurückschauens, der letzten Besinnung, -ob es nicht auch anders hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch -eine Wandlung möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan -dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings in der engen -Sackgasse seines Schicksals weiter. - -Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie ihm geschildert -worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste zu tun, Kisten zu -öffnen oder zu vernageln, Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge -zum Magazin und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte jedoch -nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl zu besorgen, -und da er sich anstellig zeigte, saß er in Bälde an seinem eigenen -Stuhl und arbeitete im Akkord, so daß es ganz von seinem Fleiß und -Willen abhing, wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses -Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet, gefiel dem -jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine Freiheit mit grimmigem -Behagen, indem er am Feierabend und Sonntag mit den wildesten -Kameraden aus der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal -mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine Hausordnung -eines alten strengen Handelshauses, keine Eltern und nicht einmal -ein Standesbewußtsein, das störende Forderungen machen konnte. Geld -verdienen und Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen -bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren vor allem im Gefühl frecher -Unabhängigkeit, womit man am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten -und anderen Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand -gab, der einem verbieten oder befehlen durfte. - -Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen Vaterhause in die -höheren Stände empor zu gelangen, rächte sich Emil Kolb nun an diesen -höheren Ständen. Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott -seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch Katechese je -besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen gewohnt gewesen war, beim -Begegnen auf der Straße vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins -Gesicht blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete -Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling Remppis noch saure -Abendstunden an der Arbeit war, oder in den Laden selbst hinein zu -gehen und mit dem baren Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu -verlangen. - -Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen. In der ersten -Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der Fabrik fern, bis er eines -Tages in der Mittagspause aus dem Saal der Sortiererinnen eine junge -Mädchengestalt hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen -alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an. - -»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?« - -Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen Umständen -er das Mädchen im vorigen Jahre kennen gelernt hatte und wie wenig sein -jetziger Zustand dem entsprach, was er ihr damals von sich erzählt -hatte. - -Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu erinnern, denn -sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte: »So, Sie sind's? Ja, was tun -denn Sie hier?« - -Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem er mit lebhafter -Galanterie antwortete: »Es versteht sich doch von selbst, daß ich nur -Ihretwegen hier bin!« - -Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug mit dem Verein -jüngerer Angehöriger des Handelsstandes ein wenig an Anmut und -Mädchenzierlichkeit verloren, hingegen sehr an Lebenserfahrung und -Kühnheit gewonnen. Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie -sich des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage stolz -und herrisch am Arm der Schönen verbummelte und an Tanzplätzen und -Ausflugsorten seine junge Mannheit sehen ließ. - -Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein junger -Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr Schatz damals gewesen waren. -Da mochten nun die Herren Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen -und fremd tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen so -frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch so laut und hing -ihm so hingegeben an, daß freilich die Handelsständler an ihrem Glücke -nicht zweifeln konnten. - -Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach seinem Belieben -ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein lang ersehntes Vergnügen, dessen -er jetzt schwelgerisch genoß. Trotzdem aber und trotz seines blühenden -Liebesfrühlings war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm fehlte, -war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der Kitzel des schlechten -Gewissens. Zum Stehlen gab es in seinem jetzigen Leben kaum eine -Gelegenheit. Nichts ist dem Menschen schwerer zu entbehren als ein -Laster, und wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem hatte -der junge Mensch in seiner Verwahrlosung einen Haß gegen die Reichen -und Angesehenen in sich ausgebildet, aus deren Reihen er für immer -ausgestoßen war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach -Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl, am Samstag -Abend mit einigen wohlverdienten Talern im Beutel aus der Fabrik zu -gehen, war ganz angenehm. Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde -Gelder zu verfügen und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig prellen -zu können, war doch weit köstlicher gewesen. - -Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer gieriger auf neue -Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb. Eine neue Leidenschaft, die -soeben Gewalt über ihn zu üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub. -Es kam neuerdings manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er über -seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch einen Zeitungsartikel -angeregt, sich in den Gedanken verliebt, einmal durch einen -Lotteriegewinn reich zu werden. Das war schon seinem Vater im Blut -gelegen, der in früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit -langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte. Emil kaufte sich -mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen, die Spannung aber im -Erwarten und Lesen der Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte, -wurde es ihm zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden -Hoffnungen zu wagen. - -Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im täglichen Leben und -zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte, fand er in seinen Diebesplänen -wieder. Geduldig suchte er Gelegenheit und Ort eines größeren -Unternehmens ausfindig zu machen, und da er durch die heimatlichen -Erfahrungen gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal das eigene -Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres zu suchen. Da stach ihm -der Laden ins Auge, wo Franz Remppis als Lehrling diente, das größte -Geschäft des Städtchens. - -Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa dem der -Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer Kolonialwaren und -landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel des täglichen Gebrauches, vom -Briefpapier und Siegellack bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und -hielt nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb genau, er -war oft genug darin gewesen und über die Standorte mancher Kiste und -Lade sowie über Ort und Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet. -Über die sonstigen Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen -seines Freundes einigermaßen Bescheid, und was ihm zu wissen noch -unentbehrlich schien, erfragte er bei gelegentlichen Besuchen des -Ladens. Er sagte etwa, wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden -betrat, zum Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald -Feierabend!« Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb neune -werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann kannst du wenigstens -gleich weglaufen, das Ladenschließen wird nicht deine Sache sein.« Und -dann erfuhr er, daß der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn -des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse, und richtete -nach alle dem seine Pläne ein. - -Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt in die Fabrik -schon ein Jahr vergangen. Diese lange Zeit war auch an dem Fräulein -Emma nicht spurlos vorübergegangen. Sie begann etwas gealtert und -unfrisch auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte, -war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß sie ein Kind erwartete. -Das verdarb ihm die Lächstettener Luft, und je näher die gefürchtete -Niederkunft heranrückte, desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch -vor diesem Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher -fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte fest, daß er -nichts zu verlieren habe, wenn er sich der Schweiz zuwendete. - -Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann Löhleschen -Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu verzichten. Ja es schien -ihm sehr gut und schlau, seinen Abgang aus der Stadt mit der Tat zu -verbinden. Darum hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel -und Aussichten, schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte zur -Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig Mut. Der kam ihm -jedoch während einer sehr untröstlichen Unterredung mit der Emma, so -daß er im Ärger der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und -beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde ihm ohne Erfolg -zum Dableiben geraten, und da er vom Wandern nicht abzubringen war, -versprach ihm der Aufseher ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an -mehrere Schweizer Fabriken mitzugeben. - -So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am Abend zuvor -beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle auszuführen. Er war auf -den Einfall gekommen, sich am Abend in das Haus einschließen zu lassen. -So suchte er denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd, schon -mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche, einen Eingang und fand -ihn in einem Augenblick, da niemand in der Nähe schien, durch das -große, weit offen stehende Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das -Magazin hinüber, das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung stand, -und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen, bis es nachtete -und das Leben im Geschäfte erlosch. Gegen acht Uhr war es in dem Raume -schon völlig dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle -das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem oberen -Stockwerk, wo seine Wohnung lag. - -Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei ganze Stunden, ehe -er den Mut fand, einen Schritt zu tun. Dann wurde es ringsum stille, -auch von Straße und Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören, -und Emil trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die -Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das Herz, und als er -an der Türe zum Laden hin den Riegel zurückschob, kam ihm plötzlich -zum Bewußtsein, daß Einbruch ein schweres Verbrechen sei und schwer -bestraft werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der guten -und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen. Es wurde ihm -feierlich zumute, da er die Laden und Wandfächer voller Waren ansah. -Da lagen in einem Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von -schönen Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon weitere -Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte lange Würste und -Blechkästen voll Zwieback schauten ihn heiter an, und er konnte nicht -widerstehen, fürs erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in -seine Brusttasche zu stopfen. - -Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte er alsdann die -Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im Ladentisch, die jedoch -verschlossen war. Aus Vorsicht, damit es ihn nicht verriete, hatte er -keinerlei Werkzeuge mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst -Stemmeisen, Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er sorgfältig -das Schloß der Lade los und hatte bald ohne Mühe die Kasse eröffnet. -Mit Begier schaute er beim schwachen Lichte hinein und sah erregt in -kleinen Abteilungen geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner -bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen mit den -größeren Münzstücken, deren aber sehr wenige da waren, und hatte bald -zu seiner zornigen Enttäuschung überrechnet, daß der ganze Inhalt -der erbrochenen Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so wenigem -hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend betrogen vor. Sein Zorn -war so groß, daß er das Haus hätte anzünden mögen. Da war er nun, so -sorgfältig vorbereitet, zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen, -hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr -begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten! Den großen -Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich liegen, tat das andere in seinen -Geldbeutel und hielt nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens -wert sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten, aber lauter -große und schwere Sachen, die ohne Hilfe nicht hinwegzubringen waren. -Wieder kam er sich betrogen vor und war vor Enttäuschung und Kränkung -dem Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken, noch einige -Zigarren und von einem großen Vorrat, der auf dem Tische gestapelt -lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten zu sich steckte und den Laden -verließ. Ängstlich suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin -in den Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor -seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt arbeitete -er am großen Riegel, der in seiner Steinritze am Boden spannte, und -atmete tief auf, als er nachgab und das Tor langsam aufging. Er zog es -hinter sich notdürftig zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen -Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten nächtigen Gassen -zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne Schlaf drei bange Stunden -wartend, bis der Morgen graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen -klar und trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein, -um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt und viel gute -Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am Stock über die Schulter und ging -zum Bahnhof. Und als im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche -Hausknecht beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand, da fuhr Emil -Kolb schon ein paar Meilen weiter durch ein schönes Waldland, das er -vom Wagenfenster mit Neugierde betrachtete, denn es war die erste so -große Reise seines Lebens. - -Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des Verbrechens großen -Sturm, und auch nachdem der Schaden festgestellt und als recht -geringfügig erkannt war, summte die lüsterne Aufregung weiter und -verbreitete sich durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft -erschien, nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen vor und -stieß die vor dem berühmt gewordenen Hause sich drängende Menschenmenge -hin und wider. - -Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die schlimme -Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden noch ahnen. Es ward -der Hausknecht und der Packer und die ganze Reihe der erschrockenen -und dennoch über das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins -Verhör genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die gestern den -Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens. Alsdann setzte der -Amtsrichter einen Bericht über das Schrecknis auf samt einem genauen -Verzeichnis der gestohlenen Sachen. An Emil Kolb dachte niemand. - -Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten und das Haus -Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen, hernach mit Genugtuung die -heimatlichen Zeitungen, deren mehrere sich mit dem Fall beschäftigten, -und da er sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute er -sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der kleinen Beute -mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden. - -Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade in der Gegend -des Bodensees auf, denn er hatte wenig Eile und wollte unterwegs auch -etwas sehen. Seine erste Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst -einzutreffen gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde. - -Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause bei einer guten -Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und reichlich mit Senf bestrich, -dessen Schärfe er sodann mit einem kühlen guten Bier bekämpfte. -Darüber ward ihm wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter -Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken konnte. Es schien -ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm gemeint, ja sie tat ihm leid und -er hätte sie gerne ein wenig versöhnt und getröstet. Je länger er daran -kaute, desto mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte -oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete, kam er zu -dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben. - -Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner Vorrat von den -Löhleschen Zigarren übrig war, und zog das kleine steife Päcklein -heraus, worin die Lächstettener Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin -lieh ihm einen Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze -befeuchtete, schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal -genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten vor und war auf -eine ganz neue Manier mit glänzenden Farben gedruckt, wie sie die arme -Wirklichkeit nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm -einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm eben gebracht -hatte, und fing zu schreiben an. - -Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der Stift abbrach. -Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht verderben, schnitzte -den Stift in aller Ruhe wieder zurecht und schrieb dann unter das -schönfarbene Bild: »Gedenke Deiner in der Fremde und bin mit vielen -Grüßen Dein getreuer E. K.« - -Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar zu Gesicht, jedoch -nicht ohne Verzögerung und nicht aus den Händen des Briefboten, sondern -aus denen des Herrn Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche -Vorladung auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte. - -Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz wenigen Tagen in den -Löhleschen Laden gekommen und von dem ganzen Vorrate waren erst drei -oder vier Stück verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen -können. Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen Karten die -Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden und die davon unterrichteten -Postbeamten hatten die vom Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem -Bild der unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten. - -Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so daß seine -Gefangennehmung und Überlieferung nicht so einfach und glanzlos -verlief, sondern mit den Stempeln und Uniformen zweier Länder als -feierliche Auslieferung der Schweiz an das Deutsche Reich als -Staatsaktion verlief. - -Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine Einlieferung in -Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest, wobei der Triumph der -Einwohnerschaft über den gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen -Dieb einer kleinen Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche -dem Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert und die -Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß dauerte nicht lange. -Ob er nun aus dem Zuchthause, das ihn einstweilen aufgenommen hat, -zu längerem Aufenthalt in unsere Welt zurückkehren oder -- wie ich -glaube -- den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends in solchen -Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird seine Geschichte uns -wenig mehr zu sagen und zu lehren haben. Denn Emil Kolb war kein -Charakter, auch nicht als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher -nur eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen Anspruch -hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht als mancher, dessen -Unglück weniger in seiner eigenen Seele begründet scheint. - - - - -Pater Matthias - - -Erstes Kapitel - -An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der Mitte der hügeligen -alten Stadt, lag im Vormittagslicht eines sonnigen Spätsommertages -das stille Kloster. Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten, -vom ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß getrennt, -ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit am gekrümmten -Ufer und schaute mit vielen blinden Fensterscheiben hochmütig in die -entartete Zeit. In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg -die fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen -Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber aber jenseits des -Wassers und des einsam stehenden Schwesterklosters lag helle Sonne auf -der steilen Halde, deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von -goldbraun schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen wurden. - -An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß lesend der Pater -Matthias, ein blondbärtiger Mann im besten Alter, der im Kloster -und anderwärts den Ruf eines freundlichen, wohlwollenden und sehr -achtbaren Herrn genoß. Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines -hübschen Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter -Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder, sofern sie ihn wahrnahmen, -als einen gelinden Nachklang der tiefen Jugendmelancholie betrachteten, -welche vor zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben -hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken und in -liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien. Aber der Schein trügt, und -Pater Matthias selbst war der einzige, der um die verborgenen Ursachen -dieses Schattens wußte. - -Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend hatte ein -Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in das Kloster geführt, wo -er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung und Schwermut hinbrachte, -bis die geduldige Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner -Natur ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er war ein beliebter -Bruder geworden und stand im gesegneten Ruf, er habe eine besondere -Gabe, auf Missionsreisen und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden -die Herzen zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen -Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und rechtskräftigen -Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte. - -Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein Glanz jedoch und der -des klingenden Geldes hatte die Väter für einige andere Züge im Bild -ihres lieben Bruders blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias -die Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und machte -den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend frohgesinnten -Mannes, dessen Wünsche und Gedanken im Frieden mit seinen Pflichten -beisammen wohnten; wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen -müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur einen Teil seines -inneren Zustandes wirklich ausdrückte, über manchen verschwiegenen -Unebenheiten aber nur als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias -war nicht ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals -untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung seiner Seele auch -der alte, eingeborne Kern dieses Menschen wieder eine Genesung begangen -und schaute, wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst -wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben der Welt. - -Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon mehrmals die -Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen Natur widerstrebte es zwar, -unterm Mantel der Frömmigkeit Weltlust zu suchen, und er hatte seine -Kutte nie befleckt. Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas -wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich zu erhalten und -nach einem Ausflug ins Weltliche wieder anzulegen. - -Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er besaß, an sicherem -Orte verborgen, eine angenehme, ja elegante Bürgerkleidung samt -Wäsche, Hut und Schmuck, und wenn er auch neunundneunzig von hunderten -seiner Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte, -so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu oft bei jenen -seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und dort als Weltmann unter -Weltmenschen verlebt hatte. - -Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters Gemüt viel zu -redlich war, lastete als ungebeichtetes Verbrechen auf seiner Seele. -Wäre er ein schlechter, uneifriger und unbeliebter Pater gewesen, -so hätte er längst den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig -zu bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So aber sah er -sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden die trefflichsten -Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen seine Verfehlungen beinahe -verzeihlich erscheinen wollten. Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn -er in ehrlicher Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte. -Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den Begierden seiner -Natur Genüge tun und lang unterdrückte Wünsche ihres Stachels berauben -konnte. In allen müßigen Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten -Blick der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit -begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und Angst hin und wider, -und bald beneidete er jeden Mitbruder um seine Unschuld, bald jeden -Städter draußen um seine Freiheit. - -So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem Fenster -und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus. Indem er mit müßigem -Auge den lichten frohen Hügelhang gegenüber betrachtete, sah er -einen merkwürdigen Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der -Höhenstraße her auf einem Fußpfad näher kam. - -Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant, die anderen -schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein Landjäger in glitzernder -Uniform ging ihnen voraus und zwei andere Landjäger folgten hinten -nach. Der neugierig zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte -waren, welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem -Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen hatte. - -Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte -Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen Mißmut unzufriedene -Betrachtungen daran zu knüpfen. Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit -diesen armen Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen -ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte er, es -ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre augenblickliche Lage -andeute. - -»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als ersehntes Ziel den -Tag vor Augen, da er entlassen und wieder frei wird. Ich aber habe -keinen solchen Tag vor mir, nicht nah noch ferne, sondern eine endlose -bequeme Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden einer -eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine oder andere von den armen -Kerlen da drüben mag mich jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich -beneiden. Sobald sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren, -hat der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen armen -Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter sitzt.« - -Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten und Soldaten -verloren, solchen Gedanken nachhing, trat ein Bruder bei ihm ein -und meldete, er werde vom Guardian in dessen Amtszimmer erwartet. -Freundlich kam der gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd -erhob er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den braunen -Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom Wasser herauf in -rostfarbenen Flecken tanzte, und ging sogleich mit seinem unfehlbar -anmutig-würdigen Schritt über die langen kühlen Korridore zum Guardian -hinüber. - -Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm einen Stuhl an -und begann ein Gespräch über die schlimme Zeit, über das scheinbare -Abnehmen des Gottesreiches auf Erden und die zunehmende Teuerung. -Pater Matthias, der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft -die erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah mit froher -Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich denn auch der würdige Herr -ohne Eile näherte. Es sei, so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins -Land sehr notwendig, auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen -ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle und von welcher -er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute von Liebesgaben heimbringen -werde. Der Zeitpunkt sei nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in -einem fernen südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution -Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden, wovon alle Zeitungen -meldeten. Und er gab dem Pater eine sorgfältige Auswahl von teils -schrecklichen, teils rührenden Einzelheiten aus diesen neuesten -Martyrien der kämpfenden Kirche. - -Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen in sein -kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen Augen seine -Aufgabe und fand eine glückliche Wendung und Lösung um die andere, -ging zur gewohnten Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den -Nachmittag mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise hin. -Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen; weit mehr Zeit und -Sorgfalt erforderten die Anmeldungen in Pfarrhäusern und bei treuen -gastfreien Anhängern, deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine -Handvoll Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile auf -dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch einen tüchtigen -Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern und frommen Bildchen -bereit und schlief danach fest und friedevoll als ein Mann, der -wohlgerüstet einer ehrenvollen Arbeit entgegengeht. - - -Zweites Kapitel - -Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch eine kleine -unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster ein junger Laienbruder von -geringem Verstand, der früher an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner -zutraulichen Unschuld und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen -im Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete den -Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche tragend. Schon -unterwegs zeigte er ein etwas erregtes und gestörtes Wesen, auf dem -Bahnhofe aber zog er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen -Pater in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den Augen, -er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise abstehen, deren -unheilvollen Ausgang ihm eine sichere Ahnung vorausverkünde. - -»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend mit verzerrtem -Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet nimmer wiederkommen!« - -Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen, dessen Zuneigung er -kannte, zuzureden; er mußte sich am Ende beinahe mit Gewalt losreißen -und sprang in den Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann. -Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht des -Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet. Der unscheinbare -Mensch in seiner schäbigen und verflickten Kutte winkte ihm noch lange -nach, Abschied nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden -noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach. - -Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude am Reisen, das -er über alles liebte, so daß er die peinliche Szene rasch vergaß und -mit zufriedenem Blick und gespannten Seelenkräften den Abenteuern und -Siegen seines Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche -Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag entgegen, -schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen, und der reisende -Pater ließ bald das Brevier wie das kleine wohlgerüstete Notizbuch -ruhen und schaute in wohliger Erwartung durchs offne Wagenfenster -in den siegreichen Tag, der über Wälder hinweg und aus noch -nebelverschleierten Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um bald in Blau -und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine Gedanken gingen elastisch -zwischen diesem Reisevergnügen und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin -und wider. Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage -hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst und Wein, und wie würde -sich von diesem paradiesischen Grunde das Entsetzliche abheben, das -er von den heimgesuchten Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu -berichten hatte! - -Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen schnell. An dem -bescheidenen Bahnhofe, an welchem Pater Matthias ausstieg und welcher -einsam neben einem kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn -ein hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast mit -Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort, stieg vergnügt -in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich an Ackerland und schöner -Weide vorbei dem stattlichen Dorfe entgegen, wo seine Tätigkeit -beginnen sollte und das ihn bald einladend und festlich anlachte, -zwischen Weinbergen und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende -betrachtete das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs Korn -und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel und Kohl in Fülle, da -war überall Wohlsein und feiste Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte -nicht von diesem Born des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem -anklopfenden Gaste zugut kommen? - -Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im Pfarrhause an, -teilte ihm auch mit, daß er schon auf den heutigen Abend des Paters -Gastpredigt in der Dorfkirche angekündigt habe und daß, bei dem Ruf -des Herrn Paters, ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu -erwarten sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit -auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit einzuspinnen, da -er die Neigung kleiner Landpfarrer wohl kannte, auf wortgewandte und -erfolgreiche Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden. - -Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen Mittagessen im -Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft im Pfarrhause aufgetragen -wurde. Und auch hier wußte Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht -und Neigung zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung -hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder Begierde -zusprach, ohne doch -- zumal beim Weine -- ein ihm bekömmliches -Maß zu überschreiten und seiner Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und -fröhlich konnte er schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber -mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine Arbeit im -Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also der Wirt etwa den schlimmen -Plan gehabt, unseren Pater durch die so reichliche Bewirtung lahm zu -legen, so war er ihm völlig mißlungen. - -Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine Arbeit -eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse nichts zu wünschen -ließ. Seit kurzem lebte im Dorf, als am Heimatorte ihres Mannes, in -einem neu erbauten Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die -wegen ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten Zunge -nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war als wegen ihres Geldes. -Diese Frau Franziska Tanner stand zuoberst auf der Liste derer, deren -spezielle Heimsuchung der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte. - -So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen Kollegen wenig -vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde im Landhause -und begehrte mit der Frau Tanner zu sprechen. Eine nette Magd -führte ihn in das Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten -mußte, was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte und -warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine ländliche Person -und schwarzgekleidete Witwe, sondern eine grauseidene damenhafte -Erscheinung in das Zimmer, die ihn gelassen willkommen hieß und nach -seinem Begehren fragte. - -Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und jedes versagte, -und Schlag um Schlag ging ins Leere, während die geschickte Frau -lächelnd entglitt und von Satz zu Satz neue Angeln auslegte. War -er weihevoll, so begann sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen -Bedrohungen, so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu -mildtätigen Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing und ins -Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken, sie kenne seine -Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld zu geben, wenn es ihm nur -gelänge, ihr die tatsächliche Nützlichkeit einer solchen Gabe zu -beweisen. War es ihr kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn -in einen leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn -plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er sie wieder -geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so war sie unversehens eine -kühle Dame. - -Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die beiden ein -Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem hübschen Pater die männliche -Aufmerksamkeit, mit der er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen -zu schonen suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis eine -heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich beweglicher -Koketterie, so daß es trotz schwieriger Augenblicke zu einer ganz guten -Unterhaltung kam und der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei -unausgesprochenerweise freilich der moralische Sieg auf der Seite der -Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende eine Banknote und sprach -ihm und seinem Orden ihre Anerkennung aus, doch geschah es in ganz -gesellschaftlichen Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie, und -auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch aus, daß -er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch vergaß. - -Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt und verliefen nach -der Regel. Pater Matthias zog sich noch eine halbe Stunde in seine -Stube zurück, aus welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt -wieder hervorging. - -Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen Süden -geplünderten Altären und Klöstern und dem Bedürfnis des eigenen -Klosters nach einigen Geldern entstand ganz zauberhaft ein inniger -Zusammenhang, der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf -einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung des Mitleids und -unbestimmter frommer Erregung beruhte. Die Frauen weinten und die -Opferbüchsen klangen, und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner -unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne Aufregung, doch -mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen. - -Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters seinen -glänzenden Anfang genommen. Auf seinem Angesicht glänzte Pflichteifer -und herzliche Befriedigung, in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und -wuchs der kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke -umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen draußen in der Welt -berichteten, es stehe um die bei jener Revolution geschädigten Klöster -bei weitem nicht so übel, als es im ersten Wirrwarr geschienen habe, -das wußte der Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören -lassen. - -Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei sich zu sehen, und -die ganze Reise verlief aufs erfreulichste. Nun, indem er sich schon -gegen die protestantische Nachbargegend hin dem letzten kleinen Weiler -näherte, den zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz und -Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran, daß nun für eine -ungewisse Weile Klosterstille und mißmutige Langeweile den genußreichen -Erregungen seiner Fahrt nachfolgen würden. - -Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich gewesen, -da das Geräusch und die Leidenschaft einer frohen außerordentlichen -Tätigkeit sich legte und hinter den prächtigen Kulissen der klanglose -Alltag hervorschaute. Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im Beutel, -nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze Freude der Ablieferung -und Anerkennung daheim, und diese Freude war auch schon keine richtige -mehr. - -Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt, wo er sein -merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je mehr die Feststimmung in ihm -verglühte und je näher die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward -seine Begierde, die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen Tag -ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte er davon nichts wissen -mögen, allein so ging es jedesmal und er war es schon müde, dagegen -anzukämpfen: am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher -plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen. - -So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde noch besucht und -gewissenhaft erledigt, dann wanderte Pater Matthias zu Fuße nach dem -nächsten Bahnhof, ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig -davonfahren und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren -Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für ihn sicher war. In -der Hand aber trug er einen kleinen hübschen Reisekoffer, den gestern -noch niemand bei ihm gesehen hatte. - - -Drittes Kapitel - -Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig viele Züge aus- -und einliefen, stieg Pater Matthias aus, den Koffer in der Hand, und -bewegte sich ruhig, von niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen -Gebäude zu, auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer« stand. -An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde, bis gerade wieder -mehrere ankommende Züge ein Gewühl von Menschen ergossen, und da er -in diesem Augenblicke wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben -Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr, sondern ein -angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon nicht ganz modischer -Kleidung, der sein Gepäck am Schalter in Verwahrung gab und alsdann -ruhig der Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform eines -Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster zu sehen war und endlich im -Straßengetöse sich verlor. - -Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause schwingenden Getöne, -mit dem Glanz der Geschäfte, dem durchsonnten Staub der Straßen atmete -Herr Matthias die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der -törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne empfänglich -waren, und gab sich jedem frohen Eindruck willig hin. Es schien ihm -herrlich, die eleganten Damen in Federhüten spazieren oder in feinen -Equipagen fahren zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem -schönen Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und einen -zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und daraufhin, innerlich -erwärmt und erheitert, hin und wider zu gehen, sich an Plakatsäulen -über die für den Abend versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten -und darüber nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag werde -speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern wohl. Allen diesen größeren -und kleineren Genüssen ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit -nach, und wer ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken -gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr könnte verbotene Wege -gehen. - -Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen Kaffee und -einer Zigarre weit in den Nachmittag hinein. Er saß nahe an einer der -gewaltigen bis zum Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants -und sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen auf die -belebte Straße hinaus. Vom Essen und Sitzen war er ein wenig schwer -geworden und schaute gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden. -Nur einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte -aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher er einen -Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen glaubte. Er sah jedoch, daß -er sich getäuscht habe, fühlte eine leise Ernüchterung und erhob sich, -um weiter zu gehen. - -Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln eines -kinematographischen Theaters und las die großgedruckten Titel der -versprochenen Darbietungen. Dabei hielt er eine brennende Zigarre -in der Hand und wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann -unterbrochen, der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine Zigarette bat. - -Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den Fremden an und -sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon gesehen. Waren Sie nicht heute -früh im Café Royal?« - -Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den Hut und wollte -weiter gehen, besann sich aber plötzlich anders und sagte lächelnd: -»Ich glaube, wir sind beide fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche -hier nichts als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht ein -bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn es Ihnen nicht zuwider -ist, könnten wir ja zusammen bleiben.« - -Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden Müßiggänger -flanierten nun nebeneinander weiter, wobei der Fremde sich dem Älteren -stets höflich zur Linken hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit -ein wenig nach Herkunft und Absichten des neuen Bekannten, und da -er merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe etwas -befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig fallen und begann ein -munteres Geplauder, das Herrn Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr -Breitinger schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen, -wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag macht. Auch am -hiesigen Ort war er schon je und je gewesen und erinnerte sich einiger -Vergnügungslokale, wo er damals recht nette Gesellschaft gefunden und -köstliche Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst, daß -er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung die Führung übernahm. -Nur einen heiklen Punkt erlaubte sich Herr Breitinger im voraus zu -berühren. Er bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe, -daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort aus dem eigenen -Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend bei, er sei zwar kein -Rechner und Knicker, habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung -und sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen mehr als ein -paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa sein Begleiter großartigere -Gewohnheiten habe, so würde es besser sein, sich in Frieden zu trennen, -statt etwaige Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen. - -Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack. Er erklärte, auf -einen goldenen Zwanziger hin oder her komme es ihm allerdings nicht an, -doch sei er gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie beide -aufs beste miteinander auskommen würden. - -Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen Durst bekommen, -und ohnehin war es jetzt nach seiner Meinung Zeit, die angenehme -Bekanntschaft durch Anstoßen mit einem Glase Wein zu feiern. Er -führte den Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits -gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe, einen raren Tropfen -zu bekommen, und sie traten durch eine klirrende Glastüre in die -enge niedere Stube, in der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas -unfreundlicher Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche -herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen einen hellgelben -kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte, mit welchem sie denn -anstießen. Darauf zog sich der Wirt zurück, und bald erschien statt -seiner ein großes hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte -und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken übernahm. - -»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er sich zu dem -Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!« - -Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß zum Anstoßen hin. - -»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger und holte -selbst von der Kredenz ein Glas für sie. »Kommen Sie, Fräulein, und -leisten Sie uns ein bißchen Gesellschaft!« - -Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich nicht sträubte, -zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen. Diese zwanglose Leichtigkeit -der Anknüpfung machte Herrn Matthias Eindruck. Er stieß nun auch -seinerseits mit dem Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe. -Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel geworden, die -Kellnerin zündete ein paar Gasflammen an und bemerkte nun, daß kein -Wein mehr in der Flasche sei. - -»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief Herr Breitinger. -Aber der andere wollte das nicht dulden, und es gab einen kleinen -Wortkrieg, bis er sich unter der Bedingung fügte, daß nachher auf seine -Rechnung noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein Meta -hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht und ihren Platz wieder -eingenommen, und während der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt -war, streichelte sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias, -der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging und sie weiter -verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren setzte. Nun zog sie den Fuß -zwar zurück, liebkoste dafür aber wieder seine Hand, und so blieben sie -in stillem Einverständnis triumphierend beieinander sitzen. Matthias -ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte von Zechgelagen, -die er früher mitgemacht habe, stieß immer wieder mit den beiden an, -und der erhitzende falsche Wein machte seine Augen glänzen. - -Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe in der -Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin, da hatte keiner -von den Kavalieren etwas dagegen, daß sie diese einlade, den Abend -mitzufeiern. Eine alte Frau, die inzwischen den Wirt abgelöst hatte, -wurde mit dem Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für -Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an sich und küßte sie -heftig auf den Mund. Sie ließ es still und lächelnd geschehen, da er -aber stürmisch ward und mehr begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen -Augen an und wehrte: »Später, du, später!« - -Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende Gebärde hielt -ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht nur die erwartete Freundin -herein, sondern auch noch eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem -halbeleganten Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte -gescheiteltem schwarzem Haar, dessen Mund unter einem gezwickelten -Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig ausschaute. Zugleich -trat auch Breitinger wieder ein, es entstand eine Begrüßung und man -rückte zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen. Matthias -sollte bestellen und war für einen Fisch mit nachfolgendem Rindsbraten, -dazu kam auf Metas Vorschlag noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und -Sardinen, sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte. Der -Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter Verächtlichkeit, ohne -Geflügel tauge ein Abendessen nichts, und wenn auf das Rindfleisch -nicht ein Fasanenbraten folge, so esse er schon lieber gar nicht mit. -Meta wollte ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem -Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen: »Ach was, man -soll doch den Fasan bestellen! Die Herrschaften sind doch hoffentlich -alle meine Gäste?« - -Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem Speisezettel, der -Wirt tauchte auch wieder auf. Meta hatte sich nun ganz an Matthias -angeschlossen, ihre Freundin saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das -Essen, das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt -schien, wurde rasch aufgetragen und war gut. Beim Nachtisch machte -Fräulein Meta ihren Verehrer mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam -in einem großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht, -das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte, aus -Champagner, Sherry und Kognak gemischt war. Es schmeckte gut, nur -etwas schwer und süß, und sie nippte jedesmal selber am Glase, wenn -sie ihn zum Trinken einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger -ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er das Süße nicht -liebe, auch habe dies Getränk den leidigen Nachteil, daß man darauf hin -nur noch Champagner genießen könne. - -»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut. »Ihr Leute, -Champagner her!« - -Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die Augen voll Wasser -liefen, und war von diesem Augenblicke an ein hoffnungslos betrunkener -Mann, der beständig ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß -und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch und Wohlleben -dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich für eine Minute, blickte -verwundert in die Lustbarkeit und griff nach Metas Hand, die er küßte -und streichelte, um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen. -Einmal erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen, doch fiel ihm -das schwankende Glas aus der Hand und zersprang auf dem überschwemmten -Tische, worüber er wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes -Gelächter begann. Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger -bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser an, das er leerte -und dessen scharfer brennender Geschmack das Letzte war, was ihm von -diesem Abend dunkel im Gedächtnis blieb. - - -Viertes Kapitel - -Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias blinzelnd zu einem -schauderhaften Gefühl von Leere, Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel. -Kopfweh und Schwindel hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken -und entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter Riß, -an dessen Herkunft er keine Erinnerung hatte. Nur langsam erholte sich -sein Bewußtsein, da richtete er sich plötzlich auf, sah an sich nieder -und suchte Stützen für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb -entkleidet, in einem fremden Zimmer und Bett, und da er erschreckend -aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in eine morgendliche -unbekannte Straße hinab. Stöhnend goß er ein Waschbecken voll und -badete das entstellte heiße Gesicht, und während er mit dem Handtuch -darüber fuhr, schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz -ins Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am Boden lag, -riß ihn an sich, betastete und wendete ihn, griff in alle Taschen und -ließ ihn erstarrt aus zitternden Händen sinken. Er war beraubt. Die -schwarzlederne Brustmappe war fort. - -Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es waren über tausend -Kronen in Papier und Gold gewesen. - -Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl eine halbe -Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst und Schlaftrunkenheit -waren völlig verflogen, auch die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur -eine große Müdigkeit und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch -sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten Kleider nach -Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute in den Spiegel, wo ein -gedunsenes trauriges Gesicht ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle -Kraft mit einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine Lage. -Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige, was ihm zu tun übrigblieb. - -Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch Bett und -Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid jedoch fand sich ein -zerknitterter Schein von fünfzig Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst -war kein Geld mehr da. - -Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden Kellner, um welche -Zeit er heute Nacht angekommen sei. Der junge Mensch sah ihm lächelnd -ins Gesicht und meinte, wenn der Herr selber sich nimmer erinnern -könne, so werde einzig der Portier Bescheid wissen. - -Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück und fragte ihn -aus. Wann er ins Haus gebracht worden sei? -- Gegen zwölf Uhr. -- Ob -er bewußtlos gewesen? -- Nein, nur anscheinend bezecht. -- Wer ihn -hergebracht habe? -- Zwei junge Männer. Sie hätten erzählt, der Herr -habe sich bei einem Gastmahl übernommen und begehre hier zu schlafen. -Er habe ihn zuerst nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes -Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. -- Ob der Portier die beiden -Männer wieder erkennen würde? -- Ja, das heißt wohl nur den einen, den -mit dem steifen Hut. - -Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung samt einer Tasse -Kaffee. Den trank er heiß hinunter, bezahlte und ging weg. - -Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus lag, nicht, und ob -er wohl nach längerem Gehen bekannte und halbbekannte Straßen traf, so -gelang es ihm doch in mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht, -jenes kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert war. - -Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht, etwas von dem -Verlorenen wieder zu gewinnen. Von dem Augenblick an, da er -in plötzlich aufzuckendem Verdacht seinen Rock untersucht und -die Brusttasche leer gefunden hatte, war er von der Erkenntnis -durchdrungen, es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl -hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls oder -Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von jeder Auflehnung und -glich mehr einer zwar bitteren, doch entschiedenen Zustimmung zu dem -Geschehenen. Dies Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen -Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen ganz geringe -Menschen niemals fähig sind, rettete den armen betrogenen Pater vor der -Verzweiflung. Er dachte nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch -List reinzuwaschen und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen, -noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. Nein, er -fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte Notwendigkeit, die -ihn zwar traurig machte, gegen welche er jedoch mit keinem Gedanken -protestierte. Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch -verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm die Empfindung -einer großen Erlösung vorhanden, da jetzt unzweifelhaft seiner -bisherigen Unzufriedenheit und dem unklaren, durch Jahre geführten -und verheimlichten Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie -früher zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere -Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl kniet und dem zwar -eine Demütigung und Bestrafung bevorsteht, dessen Seele aber die -beklemmende Last verheimlichter Taten schon weichen fühlt. - -Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, keineswegs im -klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt aus dem Orden schon -genommen und Verzicht auf alle Ehren getan, so schien es ihm doch -ärgerlich und recht unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen -einer feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen. -Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so schändliches -Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld hatte ja nicht er -gestohlen, sondern offenbar jener Herr Breitinger. - -Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes zu -geschehen habe; denn blieb er länger als noch diesen Tag dem Kloster -fern, so entstand Verdacht und Untersuchung und ward ihm die Freiheit -des Handelns abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein -Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, rasch gesättigt -und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, mit müden Augen durchs -Fenster auf die Straße hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um -dieselbe Zeit getan hatte. - -Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm grausam auf die -Seele, daß er auf Erden keinen einzigen Menschen habe, dem er mit -Vertrauen und Hoffnung seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und -riete, der ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt, -den er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder vergessen -hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich in seinem Gedächtnis -auf: der junge halbgescheite Laienbruder in seiner verflickten Kutte, -wie er am heimischen Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und -beschwörend. - -Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang seinen Blick, dem -Straßenleben draußen zu folgen. Da trat ihm, auf seltsamen Umwegen der -Erinnerung, mit einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele, -woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte. - -Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, jener reichen -jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst kürzlich bewundert, und -deren anmutig strenges Bild ihn heimlich begleitet hatte. Er schloß -die Augen und sah sie, im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und -beinahe spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer -er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig entschlossene -Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig beobachtende Blick -ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte, desto leichter, ja -selbstverständlicher schien es ihm, das Vertrauen dieser ungewöhnlichen -Frau in seiner ungewöhnlichen Lage anzurufen. - -Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges endlich klar vor sich -zu sehen, machte er sich sofort daran, seinen Entschluß auszuführen. -Von dieser Minute an bis zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner -stand, tat er jeden Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal -geriet er ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes -wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel begonnen hatte -und wo seither sein Köfferchen in Verwahrung stand. Er war des Sinnes -gewesen, wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau -zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken, und hatte -deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch, da er nur eines Schrittes -bedurfte, um am Schalter sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese -Absicht ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie nie -zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen wahren Schreck -und Abscheu, so daß er seinen Plan im Augenblick änderte und vor sich -selber schwor, die Kutte niemals wieder anzulegen, es komme, wie es -wolle. - -Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein entwendet -worden war, wußte und bedachte er dabei gar nicht. - -Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste denselben Weg, -den er gestern in der Frühe noch als Pater gefahren, im schlichten -Bürgerrocke zurück. Dabei schlug ihm das Herz immerhin, je näher er -dem Ziele kam, desto peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch -die Gegend, welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und mußte in -jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen, der ihn erkennen -und als erster seine Schande sehen würde. Doch war der Zufall und der -einbrechende Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt -und unbelästigt erreichte. - -Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen den Weg zum Dorfe hin, -den er zuletzt bei Sonnenschein im Einspänner gefahren war, und zog, da -er noch überall Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend -die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses. - -Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte nach seinem -Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias bat, die Hausfrau noch heute -abend sprechen zu dürfen, und gab dem Mädchen ein verschlossenes -Billett mit, das er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte. -Sie ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien warten, -schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange Weile aus. Dann aber -schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn mit verlegener Entschuldigung -ihrer vorigen Ängstlichkeit eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer -der Frau, die ihn dort allein erwartete. - -»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener Stimme, »darf -ich Sie nochmals für eine kleine Weile stören?« - -Sie grüßte gemessen und sah ihn an. - -»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen Sache -kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. -- Aber wie sehen Sie denn aus?« - -»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie nicht! Ich wäre -nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht das Zutrauen hätte, Sie werden -mich in einer sehr schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen. -Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!« - -Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn Tränen. Doch hielt -er sich tapfer, entschuldigte sich mit großer Erschöpfung und begann -alsdann, in einem bequemen Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing -damit an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens müde -sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe. Dann gab er eine -kurze Darstellung seines früheren Lebens und seiner Klosterzeit, seiner -Predigtreisen und auch seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er -ohne viel Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer in -der Stadt. - - -Fünftes Kapitel - -Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau Tanner hatte -aufmerksam und ohne jede Unterbrechung zugehört, zuweilen gelächelt -und zuweilen den Kopf geschüttelt, schließlich aber jedes Wort mit -einem gleichbleibenden gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie -beide eine Weile. - -»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß nehmen?« fragte -sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die Nacht hier und können in der -Gärtnerwohnung schlafen.« - -Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch von Essen und -Trinken nichts wissen. - -»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie langsam. - -»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau, woher mein Vertrauen -zu Ihnen kommt. Aber in allen diesen schlimmen Stunden ist mir niemand -sonst eingefallen, auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie -mir, was ich tun soll!« - -Nun lächelte sie ein wenig. - -»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das nicht neulich -schon gefragt haben. Daß Sie für einen Mönch zu gut oder doch zu -lebenslustig sind, kann ich wohl begreifen. Es ist aber nicht schön, -daß Sie Ihre Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten. -Dafür sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt aus Ihrem -Orden, den Sie freiwillig und in Ehren hätten suchen sollen, jetzt -eben unfreiwillig tun. Mir scheint, Sie können gar nichts anderes tun, -als Ihre Sache mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das -nicht Ihre Meinung?« - -»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.« - -»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?« - -»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im Orden behalten -werden, was ich auch keinesfalls annehmen würde. Mein Wille ist, ein -stilles Leben als ein fleißiger und ehrlicher Mensch anzufangen; denn -ich bin zu jeder anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse, -die mir nützen können.« - -»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.« - -»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster entlassen werden, -sondern muß auch für die mir anvertrauten Summen, die dem Kloster -gehören, mit meiner Person eintreten. Da ich diese Summen in der -Hauptsache nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren habe, -wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein gemeiner Betrüger zur -Rechenschaft gezogen zu werden.« - -»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das verhüten?« - -»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich ist, das -Geld so bald und so vollkommen als möglich zu ersetzen suchen. Wenn es -möglich wäre, dafür eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte -wohl ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.« - -Die Frau sah ihn forschend an. - -»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie dann ruhig. - -»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen und mich bemühen, vor -allem jene Summe abzutragen. Sollte jedoch die Person, welche für mich -bürgt, mir anders raten und mich anders zu verwenden wünschen, so wäre -mir natürlich dieser Wunsch Befehl.« - -Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte durchs Zimmer. -Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der Lampe in der Dämmerung stehen -und sagte leise von dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden -und die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?« - -Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden. - -»Wenn Sie wollen -- ja,« sagte er tief atmend. »Da ich mich Ihnen, -die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet habe, mag auch das gewagt -sein. Ach, liebe Frau Tanner, es ist mir wunderlich, wie ich in meiner -elenden Lage zu solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter, -dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch überließe, wie -Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich heute noch für immer aus Ihren -Augen.« - -Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch eine feine -Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag, und verbarg ihre leicht -zitternden Hände hinter ihrem Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und -sagte: »Danke für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen -sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung ab. Wir -wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd wird Sie ins Gärtnerhaus führen. -Morgen früh um sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden, -dann können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.« - - * * * * * - -In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit besseren Schlaf -als seine gütige Wirtin. Er holte in einer tiefen achtstündigen Ruhe -das Versäumte zweier Tage und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit -ausgeruht und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück -erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte. - -Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil ihrer Nachtruhe. -Die Bitte des Paters hätte, soweit sie nur das verlorene Geld betraf, -ihr dies nicht angetan. Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen, -wie da ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig ihren -Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so voll Vertrauen zu ihr -gekommen war, fast wie ein Kind zur Mutter. Und daß ihr selber dies -doch eigentlich nicht erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres -verstanden und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen hatte, während -sie sonst eher zum Mißtrauen neigte, das schien ihr darauf zu deuten, -daß zwischen ihr und dem Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und -heimlicher Harmonie bestehe. - -Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche neulich einen -angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte ihn für einen lebenstüchtigen, -harmlosen Menschen halten, dazu war er ein hübscher und gebildeter -Mann. An diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert, -nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas schwankendes Licht -von Abenteuer gerückt und in seinem Charakter immerhin eine gewisse -Schwäche enthüllt schien. - -Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme zu gewinnen, -wobei sie die geforderte Bürgschaft oder Geldsumme gar nicht beachtet -haben würde. Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit dem -Fremden verband und die auch in den sorgenvollen Gedanken dieser Nacht -nicht abgenommen hatte, war alles in eine andere Beleuchtung getreten, -wo das Geschäftliche und Persönliche gar eng aneinander hing und wo -sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes Aussehen -gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel Macht über sie hatte und -so viel Anziehung zwischen ihnen beiden bestand, so war es mit einem -Geschenke nicht getan, sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse -und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben großen Einfluß -gewinnen konnten. - -Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe aus der Not und ins -Ausland zu helfen, unter Ausschluß aller weiteren Beteiligung an seinem -Schicksal als einfache Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der -Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf seine immerhin -seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres in ihr Leben aufzunehmen, -dessen Freiheit und Übersicht sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und -schien ihr unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen. - -So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als sie nach kurzem -Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer betrat, sah sie ein wenig -geschwächt und müde aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar -in die Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah, es war -ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen Ernst, und er würde -zuverlässig dabei bleiben. - -Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr als die notwendigen -geselligen Worte dazu zu sagen, und gab Auftrag, daß später für ihren -Gast der Wagen angespannt werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß -sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale Milch dazu, -und erst als sie damit und der Gast ebenfalls mit seinem Morgenkaffee -fertig war, begann sie zu sprechen. - -»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und Bitte vorgelegt, -über die ich mich nun besonnen habe. Sie haben auch ein Versprechen -gegeben, nämlich in allem und jedem es so zu halten, wie ich es gut -finden werde. Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu -bekennen?« - -Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«. - -»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt habe. Sie -wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte nicht nur mein Schuldner werden, -sondern mir und meinem Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren -Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden können. Sie wollen -nicht ein Geschenk von mir haben, sondern mein Vertrauen und meine -Freundschaft. Das ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst -zugeben, daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen ist, wo -Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches Bedenken wider Sie -erlaubt und möglich ist.« - -Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig dazu, weshalb -sie ihren Ton sofort um einen Schatten strenger werden ließ. - -»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht annehmen, werter -Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit und Dauer Ihrer guten -Gesinnung zu wenig Gewähr vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und -Treue beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was aus meinem -Gelde würde, kann ich auch nicht wissen, seit Sie mir das mit Ihrem -Freunde Breitinger erzählt haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim -Wort zu nehmen. Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden -möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und unsicher, als daß ich Sie -ohne weiteres in meinen Lebenskreis aufnehmen könnte. Darum stelle ich -Ihre Treue auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte: -Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel dem Kloster, fügen -Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung durch die Gerichte! Wenn Sie -das tapfer und ehrlich tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu -nennen, so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel mehr an -Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie mit Mut und Fröhlichkeit -ein neues Leben anfangen wollen. -- Haben Sie mich verstanden und soll -es gelten?« - -Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte ihr mit Bewunderung -und tiefer Rührung in das schön erregte bleiche Gesicht und machte eine -sonderbare stürmische Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme -schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte auf -die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging er aufrecht aus dem -Zimmer, ohne weiteren Abschied zu nehmen, und schritt durch den Garten -und stieg in das draußen wartende Kabriolet, während die überraschte -Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung in sonderbar -gemischter Empfindung nachschaute. - - -Sechstes Kapitel - -Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug und mit einem -merkwürdig veränderten Gesicht wieder in sein Kloster gegangen kam -und ohne Umweg den Guardian aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen -und lüsterne Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand -etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde eine geheime -Sitzung der Oberen statt, in welcher die Herren trotz manchen Bedenken -schlüssig wurden, den übeln Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten, -die verlorenen Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer -längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen. - -Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt wurde, setzte -er die milden Richter durch seine Weigerung, ihren Spruch anzuerkennen, -in kein geringes Erstaunen. Allein es half kein Drohen und kein gütiges -Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus dem Orden zu -bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu, die durch seinen Leichtsinn -verloren gegangene Opfersumme als persönliche Schuld stunden und deren -allmähliche Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als eine große -Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er es vor, daß seine Sache vor -einem weltlichen Gericht ausgetragen werde. - -Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag um Tag einsam in -strengem Zellenarrest gehalten wurde, beschäftigte seine Angelegenheit -die Vorgesetzten bis nach Rom hin, ohne daß der Gefangene über den -Stand der Dinge das Geringste erfahren konnte. - -Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können, wäre nicht -durch einen unvermuteten Anstoß von außen her plötzlich alles in Fluß -gekommen und nach einer ganz anderen Entwicklung hin gedrängt worden. - -Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger Rückkehr, amtlich -und eilig von der Behörde angefragt, ob etwa dem Kloster neuestens ein -Insasse oder doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden -gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines auf dem und dem -Bahnhofe abgegebenen rätselhaften Handkoffers festgestellt worden sei. -Es habe dieser Koffer, der seit genau zwölf Tagen an jener Station -lagere, infolge eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen, -da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben anderem -gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer lautenden Gepäckschein bei -sich getragen habe. - -Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um nähere Auskünfte -und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt in die benachbarte -Provinzhauptstadt, wo er sich viele, doch vergebliche Mühe gab, -die Person und die Spuren des guten Paters Matthias als mit dem -Gaunerprozesse unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt zeigte -im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes Interesse und eine große -Lust, den einstweilen als krankliegend entschuldigten Pater Matthias -selber kennen zu lernen. - -Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung in die -Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten, was noch zu retten wäre, -der Pater Matthias mit aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen, -der Staatsanwaltschaft übergeben und wegen Veruntreuung von -Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte der Prozeß -des Paters nicht nur die Aktenmappen der Richter und Anwälte, sondern -auch als Skandalgeschichte alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen -Lande widerhallte. - -Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden ihn völlig preisgab -und die öffentliche Meinung, dargestellt durch die Artikel der -liberalen Tagesblätter, den Pater keineswegs schonte und den Anlaß -zu einer kleinen frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der -Angeklagte in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung und bekam -eine schlimmere Suppe auszuessen, als er sich eingebrockt zu haben -meinte. Er hielt sich aber in aller Bedrängnis brav und tat keine -einzige Aussage, die sich nicht bewährt hätte. - -Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten Prozesse ihren -raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen sah sich Matthias bald als -Angeklagter den Pfarrern und Meßnern jener Missionsgegend, bald als -Zeuge der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt, der -gar nicht Breitinger hieß und in weiten Kreisen als Gauner und Zuhälter -unter dem Namen des dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der -Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser und seine -Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es wurde in wenigen kräftigen -Verhandlungen sein eigenes Urteil vorbereitet. - -Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt gewesen. -Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten jenes Tages in der -Stadt, das Verhalten seiner Oberen und die öffentliche Stimmung auf -seine allgemeine Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein -unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen anwendeten und -ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe verurteilten. - -Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und es wollte ihm -scheinen, eine so harte Buße habe sein in keiner eigentlichen Bosheit -beruhendes Vergehen doch nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei -der Gedanke an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung -einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach diesem unerwartet viel -beschrieenen Skandal sich ihr wieder vorstelle, noch überhaupt werde -kennen wollen. - -Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau Tanner kaum weniger -über diesen Ausgang der Sache und machte sich Vorwürfe darüber, daß -sie ihn doch eigentlich ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb -auch ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten Zutrauens -versicherte und die Hoffnung aussprach, er werde gerade in der -unverdienten Härte seines Urteils eine Mahnung sehen, sich innerlich -ungebeugt und unverbittert für bessere Tage zu erhalten. Allein dann -fand sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias zu zweifeln, -und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen lassen, wie er die -Probe bestehe. Und sie legte den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals -anzusehen, in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig -verschloß. - - * * * * * - -Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und der Wein schon -gekeltert, als nach einigen trüben Wochen der Spätherbst noch einmal -warme, blaue, zart verklärte Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in -gebrochenen Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses das -alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben in den zartgolden -blühenden Tag. Da zog in dem schönen Spätherbstwetter wieder einmal ein -trauriges Trüpplein unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf -dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin. - -Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater Matthias, der -zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete und in die sonnige Weite des -Tales und zum stillen Kloster hinunter sah. Er hatte keine guten Tage, -aber seine Hoffnung stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört, -auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren Hand er vor -dem bitteren Gang in die Schande gehalten und geküßt hatte. Und indem -er unwillkürlich jenes Tages vor seiner Schicksalsreise gedachte, da -er noch aus dem Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und -Mißmut hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln über sein -mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm das halbzufriedene Damals -keineswegs besser und wünschenswerter als das hoffnungsvolle Heute. - - Ende - - - - -Werke von Hermann Hesse - - -Peter Camenzind - -Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark. - -Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der -Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du -einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende -Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte -des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu -einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen -liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den -Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen -hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren -in die Stadtwirrnis. - - (Die Woche) - - -Unterm Rad - -Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark. - -Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit -der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad -kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher -leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner -Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer -unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist. - - (Münchener Zeitung) - -Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch -als der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine -Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, -heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei -- ein klares -Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman. - - (Münchener Neueste Nachrichten) - - -Diesseits - -Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark. - -Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, -schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit -weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden -Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses -neuen Novellenband »Diesseits« lesen. - - (Neue Zürcher Zeitung) - -Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es ist -ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man -ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, still, -ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein -so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse -bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst. - - (Münchener Zeitung) - - -Nachbarn - -Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark. - -Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den -fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch -zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen -schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese -Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, -und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott -sei Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln. - - (Württemberger Zeitung, Stuttgart) - -Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum -fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend. -Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben. - - (Vossische Zeitung, Berlin) - - -Spamersche Buchdruckerei in Leipzig. - - - -Anmerkungen zur Transkription: - -In "er war in dem großen Atelier heftig hin und wieder geschritten, -hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen gedreht und sich -alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes -Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem -Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter welchem -jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestand als dem rasenden -Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten -"bestand". - -In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse -Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von -manchen anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und -er hätte ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser -Bekenntnisse ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke -gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt -"Welt" - -In "Denn er sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von -der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine -tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und -über Unverständige Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt -"entfernt". - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE *** - -***** This file should be named 60437-8.txt or 60437-8.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/0/4/3/60437/ - -Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online -Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This -file was produced from images generously made available -by The Internet Archive) - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms of -the Project Gutenberg License included with this eBook or online at -www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Umwege - -Author: Hermann Hesse - -Release Date: October 6, 2019 [EBook #60437] - -Language: German - -Character set encoding: ISO-8859-1 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE *** - - - - -Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online -Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This -file was produced from images generously made available -by The Internet Archive) - - - - - - -</pre> - - -<div class="title"> -<h1 class="gesperrt">Umwege</h1> - -<p class="gesperrt">Erzählungen<br /> - -von<br /> - -<span class="large">Hermann Hesse</span></p> - -<p class="p4">S. Fischer, Verlag, Berlin<br /> -1912</p> - -<div class="figcenter"> -<img src="images/signet.jpg" width="100" height="100" alt="Signet" /> -</div> - -<p><span class="gesperrt">Neunte Auflage.</span><br /> -Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.<br /> -Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin. -</p> -</div> - - -<div class="chapter"> -<h2>Inhalt</h2> -</div> - - -<table summary="Inhalt"> -<tr><td>Ladidel</td><td class="tdr"><a href="#Ladidel">9</a></td></tr> -<tr><td>Die Heimkehr</td><td class="tdr"><a href="#Die_Heimkehr">88</a></td></tr> -<tr><td>Der Weltverbesserer</td><td class="tdr"><a href="#Der_Weltverbesserer">149</a></td></tr> -<tr><td>Emil Kolb</td><td class="tdr"><a href="#Emil_Kolb">211</a></td></tr> -<tr><td>Pater Matthias</td><td class="tdr"><a href="#Pater_Matthias">265</a></td></tr> -</table> - - - -<div class="chapter"> -<h2><a name="Ladidel" id="Ladidel">Ladidel</a></h2> -</div> - -<h3>Erstes Kapitel</h3> - -<p class="cap">Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das -Leben leicht zu nehmen. Es war sein Wunsch gewesen, -sich den höheren Studien zu widmen, doch als er mit -einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen -führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß -er sich nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern -zu folgen und auf diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum -war dies geschehen und er als Lehrling in der Schreibstube -eines Notars untergebracht, so lernte er einsehen, -wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt -werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes -von bestandenen Prüfungen und akademischen Semestern -abhänge. Gar bald schlug diese Ansicht Wurzel in ihm, -überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn manchmal -unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem -Überlegen gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar -einfachere Laufbahn erwählt habe, und daß dies der klügste -und wertvollste Entschluß seines Lebens gewesen sei, wenn -er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe. Seinen -Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und -die er jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse -antraf, nickte er mit Herablassung zu und freute sich, wenn -er sie vor ihren Lehrern die Hüte ziehen sah, was er selber -längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig unter dem -Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht -machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und -stattliche Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und -schon jetzt äußerlich den älteren Kollegen gleichstellte. Am -Abend übte er mit Kameraden die Kunst des Zigarrenrauchens -und des sorglosen Flanierens durch die Gassen, -auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier -schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine -von der Mama erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor -trug, wie er denn auch im Kontor, wenn die andern -zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen, stets etwas -Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein -Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten -ein Mohrenkopf, Butterteiggipfel oder Makrönchen.</p> - -<p>Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war -mit Stolz nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus -wohl gefiel. Erst hier kam der höhere Schwung seiner -Natur zur vollen Entfaltung, und wenn er bisher immer -noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in sich getragen -hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz -und heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling -zu den schönen Künsten hingezogen gefühlt und im -Stillen nach Schönheit und Ruhm Begierde getragen. -Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und Freunden -unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl, -der in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des -Geschmacks als Führer galt und um Rat gefragt wurde. -Denn hatte er schon als Knabe mit Kunst und Liebe gesungen, -gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er in -allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden, -ja er hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine -Gitarre, mit der er Lieder und spaßhafte Verslein begleitete -und bei jeder Geselligkeit Ruhm und Beifall erntete, -ferner machte er zuweilen Gedichte, die er aus dem -Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug, -und ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte -er sich auf eine Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes, -Geniales kennzeichnete. Namentlich schlang er seine Halsbinden -mit einer kühnen, freien Schleife, die keinem andern -so gelang, und wußte sein hübsches braunes Haar höchst -edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel -sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet -tanzte und die Damen unterhielt, oder wenn er im -Verein Fidelitas im Sessel zurückgelehnt seine kleinen lustigen -Liedlein sang und dazu auf der am grünen Bande -hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und wie -er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte -und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte, -bis alles stürmisch um einen neuen Gesang bat, der mußte -ihn hochschätzen, ja beneiden. Da er außer seinem kleinen -Monatsgehalt von Hause ein anständiges Sackgeld bezog, -konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne Sorgen -hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden, -da er immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen -Dingen fast noch ein Kind geblieben war. So trank er -noch immer lieber Himbeerwasser als Bier und nahm, -wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine -Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim -Zuckerbäcker. Die Streber und Mißgünstigen unter seinen -Kameraden, an denen es natürlich nicht fehlte, nannten -ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen schönen -Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und -je zu schaffen und betrübte Stunden machte.</p> - -<p>Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten, -der leise doch immerhin düsternd über diesen hellen -Lebensfrühling zog. Seinem Alter gemäß begann der -junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend nachzuschauen -und war beständig in die eine oder andre verliebt. -Das bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges -Vergnügen, bald aber doch mehr Pein als Lust, denn -während sein Liebesverlangen wuchs, sanken sein Mut und -Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr. -Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel -viele verliebte und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner -Mädchen aber entfiel ihm aller Mut. Wohl war er immer -noch ein vorzüglicher Tänzer, aber seine Unterhaltungskunst -ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen wollte, einiges -von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger redete -und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner -Freunde, allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren -gerne für einen Kuß, ja für ein liebes Wort vom -Munde eines schönen Mädchens hingegeben.</p> - -<p>Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht -recht zu passen schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit -des Herzens, welche ihm seine Freunde gar nicht -zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde es wollte, -ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen -mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt -zuging, von Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von -ewiger Treue und künftigem Ehebund aber keine Rede war. -Und ohne dies alles mochte der junge Herr Ladidel sich die -Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in hübsche, -wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar -wohl auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine -richtige, sittsame Brautschaft. An eine solche war nun bei -seinem Alter und Einkommen nicht von ferne zu denken, -was er wohl wußte, und da seine Sinne maßvoll beschaffen -waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten Schmachten -und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel -probiert hätte.</p> - -<p>Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die -Mädchen gern. Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine -Tanzkunst und sein Gesang, und sie hatten auch das schüchterne -Begehren an ihm gern und fühlten, daß unter seiner -Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes und -noch halb kindliches Herz sich verbarg.</p> - -<p>Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen -nichts, und wenn er auch in der Fidelitas noch immer -Bewunderung und Beliebtheit genoß, ward doch der Schatten -tiefer und bänglicher und drohte sein bisheriges leichtes -und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen. In solchen -übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine -Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe -und bereitete sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen -vor, teils um seine Gedanken auf andere Wege zu zwingen, -teils um desto eher und sicherer in die ersehnte Lage zu -kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als ein Bräutigam -auftreten zu können. Allerdings währten diese -Zeiten niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit -seiner Natur nicht angemessen waren. Hatte der Eifer -ausgetobt, so griff der Jüngling wieder zur Gitarre, spazierte -zierlich und sehnsüchtig in den schönen hauptstädtischen -Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein. Neuerdings -waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art, -und sie bestanden aus Worten und Versen, Reimen und -hübschen Wendungen, die er in Liederbüchlein da und dort -gelesen und behalten hatte. Diese setzte er zusammen, -ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein sauberes -Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter -und andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen, -diese Verslein mit leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins -Reine zu schreiben, und er vergaß darüber oft für eine -Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag es in seiner -glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern -ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches -vergaß. Schon das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung -gab einen hübschen Zeitvertreib, das Führen -des Kammes und der Bürste durch das halblange braune -Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen, -lichten Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens, -das genaue Abbürsten des Rockes und das Reinigen -und Glätten der Fingernägel. Weiterhin beschäftigte ihn -häufig das Ordnen und Betrachten seiner Kleinodien, die -er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte. Darunter -befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe, -ein in grünen Sammet gebundenes Büchlein mit -der Aufschrift »Vergißmeinnicht«, worein er seine nächsten -Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen ließ, ein -aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen -gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter, -der – wenn man ihn gegen das Licht hielt und -hineinsah – eine Ansicht des Niederwalddenkmals enthielt, -des weiteren ein Herz aus Silber, das man mit einem -unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein -Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und -eingeschnitzten Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene -Mädchenbrosche mit mehreren zum Teil aufgesprungenen -Granatsteinen, welche der Besitzer später bei einer festlichen -Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber verarbeiten -zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem -dünnen, eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff -den Kopf eines Windhundes darstellte, sowie an einer -Busennadel in Form einer goldenen Leier, versteht sich -von selbst.</p> - -<p>Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke -verwahrte und wert hielt, so trug er auch sein kleines, -ständig brennendes Liebesfeuerlein getreu mit sich herum, -besah es je nachdem mit Lust oder Wehmut und hoffte -auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von sich -geben könne.</p> - -<p>Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf, -der Ladideln nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit -und Autorität stark erschütterte. Irgendein junger Privatdozent -der technischen Hochschule begann abendliche -Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die namentlich -von den Angestellten der Schreibstuben und niedern -Ämter fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen -alle hin und in ihren Zusammenkünften erhoben sich nun -feurige Debatten über soziale Angelegenheiten und innere -Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen wollte noch -konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen -und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun -und Interesse zu zeigen, es kam ihm das alles doch im -Grunde der Seele als Streberei und Wichtigtuerei vor. -Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über dem neuen -Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen -und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank -er mehr und mehr von seiner einstigen Höhe herab in ein -ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte er noch und nahm -mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause, -allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit -Seufzen wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie -auf den Ruhm Verzicht.</p> - -<p>In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch -und Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines -Freitags, sich rasieren zu lassen, was er immer an diesem -Tage sowie am Dienstag zu besorgen pflegte. Darum -trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst über -die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte, -in der Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen -Friseurladen, um das Versäumte nachzuholen; denn ob -ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er dennoch keiner Gewohnheit -untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde -beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider, -wenn er etwa warten mußte, sondern saß alsdann -vergnügt auf seinem Sessel, blätterte in einer Zeitung -und betrachtete die mit Bildern geschmückten Anpreisungen -von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis -er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte, -um die vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer -und zuletzt die zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen -zu fühlen.</p> - -<p>Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den -im Winde klingenden Messingbecken weg den Laden betrat, -den Stock an die Wand stellte und den Hut aufhängte, -sich in den weiten Frisierstuhl lehnte und das Rauschen -des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es bediente -ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit, -rasierte ihn, wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel -vor, trocknete ihm die Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste -darüber und fragte höflich: »Sonst nichts gefällig?« -Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit leisem Tritt, -bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente -Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das -alles hatte den jungen Herrn in eine gütige und zufriedene -Stimmung gebracht, er spitzte schon die Lippen, um mit -einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten, da -hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte, -fragen: »Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?«</p> - -<p>Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den -Mann ins Auge und erkannte sofort seinen ehemaligen -Schulkameraden Fritz Kleuber in ihm. Nun hätte er unter -andern Umständen diese Bekanntschaft mit wenig Vergnügen -anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit -einem Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor -Kollegen zu schämen gehabt hätte. Allein er war in diesem -Augenblick herzlich gut gestimmt, und außerdem hatte sein -Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit bedeutend -nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune -wie aus einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und -Anerkennung, daß er dem Friseur die Hand hinstreckte -und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir werden doch -noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad -nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich -an, und da er im Dienst war und jetzt keine Zeit hatte, -verabredeten sie eine Zusammenkunft für den Sonntag -Nachmittag.</p> - -<p>Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war -dem alten Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern -Stande sich ihrer Schulfreundschaft hatte erinnern -mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen Nachbarssohn -und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung -gehabt, da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen -war, und Ladidels Eleganz und zierliche Erscheinung -hatte ihm auch jetzt wieder tiefen Eindruck gemacht. Darum -bereitete er sich am Sonntag, sobald sein Dienst getan -war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten -Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht, -um nicht staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in -dem Ladidel wohnte, wischte er die Stiefel mit einer Zeitung -ab, dann stieg er freudig die Treppen empor und -klopfte an die Türe, an der er Alfreds große Visitenkarte -leuchten sah.</p> - -<p>Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem -Landsmann und Jugendfreund gern einen glänzenden -Eindruck machen wollte. Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit, -wennschon nicht ohne rücksichtsvolle Überlegenheit, -und hatte einen vortrefflichen Kaffee mit feinem Gebäck -auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos einlud.</p> - -<p>»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken -unsern Kaffee zusammen und machen nachher einen -Spaziergang, wenn dir's recht ist.«</p> - -<p>Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank -Kaffee und aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und -zeigte über diese schöne Gastlichkeit eine so unverstellte -Freude, daß auch dem Notariatskandidaten das Herz aufging. -Sie plauderten bald im alten heimatlichen Ton von -den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und Mitschülern -und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte -ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo -er überall herumgekommen sei, dann hub der andre an -und berichtete ausführlich über sein Leben und seine Aussichten. -Und am Ende nahm er die Gitarre von der Wand, -stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um -Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen -und Wohlbehagen die Tränen in den Augen standen. Sie -verzichteten auf den Spaziergang und beschauten statt -dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und darüber -kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen -sich unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte. -Da waren freilich des Barbiers Ansprüche an das -Glück um vieles bescheidener als die seines Freundes, aber -am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen Trumpf aus, -mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte -nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den -Freund ein, bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen, -wo er willkommen sein werde.</p> - -<p>»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit -bin ich leider noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr -heiraten könnet?«</p> - -<p>»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre -warten wir nimmer, wir sind schon über ein Jahr versprochen. -Ich habe ein Muttererbe von dreitausend Mark, -und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig bin -und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft -aufmachen. Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen -in der Schweiz, da habe ich zwei Jahre gearbeitet, -der Meister hat mich gern und ist alt und hat mir noch nicht -lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir überlasse er -seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja -das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und -ist gerade neben einem Hotel, da kommen viele Fremde, -und außer dem Geschäft ist ein Handel mit Ansichtskarten -dabei.«</p> - -<p>Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes -und zog eine Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl -den Brief des schaffhausener Meisters, wie auch eine -in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte mitgebracht, -die er seinem Freunde zeigte.</p> - -<p>»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das -Bild zusammen an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen -bengalischen Beleuchtung, der Friseur beschrieb -alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte davon und -von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen, -kam dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft, -las seinen Brief vor und war voller Eifer und Freude, so -daß sein Kamerad schließlich auch wieder zu Wort kommen -und etwas gelten wollte. Darum fing er an vom Niederwalddenkmal -zu sprechen, das er selber zwar nicht gesehen -hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine -Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und -ließ den Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die -Pracht verbarg. Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine -nicht mindere Schönheit sei als sein roter Wasserfall, und -überließ bescheiden dem andern wieder das Wort, der sich -nun, sei es aus wirklichem Interesse oder zum Teil aus -Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte. -Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues -zu fragen und Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft. -Es war vom Schliff der Rasiermesser, von den Handgriffen -beim Haarschneiden, von Pomaden und Ölen die -Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine Porzellandose -mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem -Freunde und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot. -Nach einigem Zögern nahm dieser die Gabe an, die -Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig probiert und -endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred Gelegenheit, -Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne -Luxus doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit -der Seife wollte Kleuber nicht einverstanden sein und -empfahl eine andere, welche zwar etwas weniger dufte, -dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte.</p> - -<p>Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei -seiner Braut speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich -für das Genossene freundlich zu bedanken. Auch Alfred -fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter Nachmittag -gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder -Mittwoch abend wieder zu treffen.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Zweites Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die -Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren -und auch ihm wieder eine Ehre antun müsse. Darum -schrieb er ihm Montags einen Brief mit goldnem Rande -und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud ihn -ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem -Fräulein Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen. -Darauf erhielt er mit der nächsten Post Ladidels elegante -Visitenkarte mit den Worten »– dankt für die freundliche -Einladung und wird um acht Uhr kommen.«</p> - -<p>Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller -Sorgfalt vor. Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber -erkundigt und in Erfahrung gebracht, daß sie neben einer -ebenfalls noch ledigen Schwester von einem lang verstorbenen -Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine Beamtentochter -war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte. -Diese Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige -Schwester veranlaßten ihn, sich besonders schön zu machen -und auch im voraus ein wenig an die Konversation zu -denken.</p> - -<p>Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse -und hatte das Haus bald gefunden, ging aber -nicht hinein, sondern aus der Gasse auf und ab, bis nach -einer Viertelstunde sein Freund Kleuber daherkam. Dem -schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die hochgelegene -Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre -empfing sie die Witwe Weber, eine schüchterne kleine -Dame mit einem versorgten alten Leidensgesicht, das dem -Notariatskandidaten wenig Frohes zu versprechen schien. -Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den Gang geführt, -wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von -da ging es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich, -wie man es nicht erwartet hätte; und vom Fenster her, -wo Geranien im Abendscheine tief wie Kirchenfenster leuchteten, -traten munter die zwei Töchter der kleinen Witwe. -Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und überboten -das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein -erwarten ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf -schlanken, kräftigen Gestalten kluge, frische Blondköpfe -und waren ganz hell gekleidet.</p> - -<p>»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die -Hand.</p> - -<p>»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte -sich dem hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne -Tadel, zog die hinterm Rücken versteckte Hand hervor und -bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß dar, den er unterwegs -gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und schob -ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und -blond war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt -an den gedeckten Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat -bekränzten Eierspeise. Während der Mahlzeit wurde -fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner Braut, -die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute -mühsam kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen -Blick, hinter dem es ihr recht wohl war, der -aber auf Ladidel einen beängstigenden Eindruck machte, -so daß er wenig aß und sich bedrückt und still verhielt wie -in einem Trauerhaus.</p> - -<p>Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand -jedoch in einem Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen -sie zuvor geschlossen hatte, und schien zu schlummern. Die -Jugend blühte dafür munter auf, und die Mädchen verwickelten -den Gast in ein neckendes und kampflustiges Gespräch, -wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der -Wand schaute der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen -Rahmen verwundert und bescheiden hernieder, -außer seinem Bildnis aber war alles in dem behaglichen -Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung -verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein -der Mädchen und bis zu einer an der Schmalwand -hängenden Mandoline. Auf diese fiel, als das Gespräch -ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er äugte -heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort, -die ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von -den Schwestern denn musikalisch sei und die Mandoline -spiele. Das blieb nun an Martha hängen, und sie wurde -sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht, da die -Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten -Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von -sich gegeben hatte. Dennoch bestand Herr Ladidel mit -Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas vorspielen, -und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund. -Da das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war, -griff schließlich Meta nach dem Instrument und legte es -vor sie hin, und da sie abwehrend lachte und rot wurde, -nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise -mit suchenden Fingern darauf herum.</p> - -<p>»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein -Schöner, bringen andre Leute in Verlegenheit und können -es nachher selber besser.«</p> - -<p>Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe -kaum jemals so ein Ding in Händen gehabt, hingegen -spiele er allerdings seit mehreren Jahren die Gitarre.</p> - -<p>»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast -du auch das Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du -nächstesmal tun, gelt!«</p> - -<p>Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der -Gast begann einigen Glanz zu gewinnen und auszustrahlen. -Zögernd erklärte er sich bereit, die Bitte zu erfüllen, wenn -er wirklich den Damen mit seiner Stümperei ein bißchen -Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde -ihn hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha -sich doch noch als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen -immer noch zu halten geneigt sei.</p> - -<p>Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden -Jünglinge Abschied nahmen, erhob sich am Fenster klein -und sorgenvoll die vergessene Mutter, legte ihre schmale, -wesenlose Hand in die warmen, kräftigen Hände der Jungen -und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar -Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes -voll war.</p> - -<p>In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde -gleich nach dem Weggange der Gäste der Tisch geräumt -und das Licht gelöscht. In der Schlafstube hielten wie gewöhnlich -die beiden Mädchen sich still, bis die Mutter eingeschlafen -war. Alsdann begann Martha, anfänglich flüsternd, -das Geplauder.</p> - -<p>»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?«</p> - -<p>»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.«</p> - -<p>– »Ach ja. Gut Nacht!« –</p> - -<p>»Ja, bist müd?«</p> - -<p>»Ein bißchen.«</p> - -<p>»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel -geschleckt, nicht?«</p> - -<p>»Warum?«</p> - -<p>»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte -Notar werden sollen und dafür der andre Friseur. Findest -du nicht auch? Er hat so was Süßes.«</p> - -<p>»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack. -Hast du seine Krawatte gesehen?«</p> - -<p>»Freilich.«</p> - -<p>»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs -war er ja ganz schüchtern.«</p> - -<p>»Er ist auch erst zwanzig Jahr. – Na, gut Nacht also!«</p> - -<p>Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief, -an den Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und -sie ließ einstweilen, ohne sich weiter preiszugeben, eine -kleine Kammer in ihrem Herzen für den hübschen Jungen -offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten und -Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr -nicht gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten -hinter sich gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte), -teils weil sie nicht Lust hatte, noch lange neben der um ein -Jahr jüngeren Meta unverlobt einherzugehen. Was an -diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat nicht weh -und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes, -vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines -Tages, der sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu -werden verspricht.</p> - -<p>Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt -geblieben. Zwar lebte er noch in dem dumpfen -Liebesdurst eines kaum flügge Gewordnen und verliebte -sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu sehen bekam; -und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch war -diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu -haben, und Martha konnte sich neben jener wohl auch -zeigen; so war Alfreds Herz im Laufe des Abends mehr -und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug ihr Bildnis -mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in -unbestimmter Verehrung davon.</p> - -<p>Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis -die kleine Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube -beisammen saß; nur daß diesmal die jungen Herren -später gekommen waren, da der Tisch der Witwe eine so -häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte. Dafür -brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit -Stolz vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer -vergnüglich in den warmen Abend hinaus, an der -alten Mutter vorüber, die am Fenster ruhte und unbeschadet -ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und -Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant -wußte es so einzurichten, daß zwar seine Kunst zur -Geltung kam und reichen Beifall erweckte, er aber doch -nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn nachdem er -einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines -Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern -mit ins Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich -beim ersten Takt von selber zum Mitsingen verlockten.</p> - -<p>Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung -erwärmt und benommen, rückte nahe zusammen -und sang nur leise und strophenweise mit, dazwischen plaudernd -und sich mit verstohlenen Fingern streichelnd, wogegen -Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge -behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei -Paare entstanden, ohne daß jemand dessen achtete, und -war ein Anfang für Alfred und Martha gewonnen, den -sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis -zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft -führten.</p> - -<p>Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten -Gang das Brautpaar seine Küsse tauschte, standen -die beiden andern, mit dem Adieusagen schon fertig, eine -Minute lang verlegen wartend da. Im Bett brachte sodann -Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn -immer nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob. -Aber die Schwester sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf -auf beide Hände und lag lange still und wach, ins Dunkle -schauend und tief atmend. Später, als die Schwester schon -schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus, der -jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem -dumpfen Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen -entsprang, und den sie nicht wiederholte. Vielmehr -entschlief sie bald darauf leicht und mit einem innigen -Lächeln auf dem frischen Munde.</p> - -<p>Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber -nannte den eleganten Alfred mit Stolz seinen Freund, -Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter nicht allein kam, -sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha gewann -den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche -Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und -lenksame Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie -geschaffen, mit dem sie sich zeigen und auf den sie stolz -sein könnte, ohne ihm doch jegliche Herrschaft überlassen -zu müssen.</p> - -<p>Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen -sehr zufrieden war, spürte in Marthas Freundlichkeit -eine heimliche Wärme, die er bei aller Schüchternheit -wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und Verlobung -mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen -Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert -und selig lockend erscheinen.</p> - -<p>Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes. -Alfred kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch, -zweimal wurden auch gemeinsame Sonntagsspaziergänge -unternommen, aber es blieb bei dem Zustande -vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend -begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche -Gründe. Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne -im längeren Umgang manches allzu Unreife und Knabenhafte -entdeckt und es rätlich gefunden, einem noch so unerfahrenen -Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr -zu erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen -selber fände und unterwegs etwa, sei es auch nicht -ohne Bitternis, einige Reife und Zuverlässigkeit gewänne. -Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes wäre, ihn an sich zu -nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar nicht so -eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht -unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen -erster Liebeswege hervorgegangen. So erschien -es ihr billig, daß der junge Herr es auch nicht allzuleicht -habe und nicht am Ende gar den Eindruck gewänne, sie -habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille, -ihn zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl -im Auge zu behalten und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten, -da er seines Glückes würdig sein würde.</p> - -<p>Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die -Zunge banden. Da war zuerst seine Schüchternheit, die -ihn immer wieder dazu brachte, seinen Beobachtungen -zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde geliebt und -begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen, -gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und -unfertig, – nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder -vier Jahre älter sein konnte als er. Und schließlich erwog -er in ernsthaften Stunden mit Bangen, auf welch unfesten -Grund seine äußere Existenz gebaut war. Je näher nämlich -das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige untergeordnete -Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine -Fähigkeit und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender -wurden seine Zweifel. Wohl hatte er alle hübschen, -kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des Amtes rasch und -sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und -spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das -Studium der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles -das dachte, was im Examen verlangt wurde, brach ihm -der Schweiß aus. Konnte er denn um ein Mädchen anhalten -oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er -diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches -und ehrenhaftes Leben vor sich sah?</p> - -<p>Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube -ein und beschloß, den steilen Berg der Wissenschaft im -Sturm zu nehmen. Kompendien, Gesetzbücher und Kommentare -lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er handschriftliche -Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer -Examina, er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd -hin, er spitzte Bleistifte und machte sich genaue -Arbeitspläne für Wochen voraus. Aber sein Wille war -schwach, er hielt niemals lange aus, er fand immer andres -zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien; -und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto -bitterer und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob -es wieder, es war ja noch Zeit, und er meinte, wenn es -erst brennend würde und zu drängen begänne, werde wohl -das Notwendige doch noch bewältigt werden.</p> - -<p>Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber -immer fester und erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß -Fritz ihn abends aufsuchte und, wenn es eben nötig schien, -sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel es Alfred ein, diese -nette, leichte, saubere Hantierung selber ein wenig zu probieren, -und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf -seine ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem -hochgeschätzten Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein -Messer tadellos abziehen und einen guten, haltbaren Seifenschaum -schlagen. Alfred zeigte sich, wie der andre vorausgesagt -hatte, überaus gelehrig und fingerfertig. Bald -vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu -barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister -diesen Dienst zu tun, und er fand darin ein Vergnügen -und eine Befriedigung, die ihm manchen von den Studien -verbitterten Tag auf den Abend noch rosig machte. Eine -ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch -in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich, -von seinen schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages -einen künstlichen Zopf aus Frauenhaar mit und zeigte -ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe. Ladidel war sofort -begeistert für dieses zarte Handwerk und machte sich -mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu -lösen und wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm -bald, und nun kam Fritz mit schwereren und feineren Arbeiten, -und Alfred lernte spielend, zog das lange seidne -Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte sich -in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das -Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein -mit dem Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen -über fachmännische Dinge. Er schaute nun auch die Frisuren -aller Frauen und Mädchen, denen er begegnete, mit -prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber -durch manches treffende Urteil.</p> - -<p>Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden -Fräulein Weber nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen. -Er fühlte, daß er mit dieser neuen Kunst dort wenig Ehre -ernten würde. Und dennoch war es sein Lieblingstraum -und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen blonden -Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben -und ihr neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten.</p> - -<p>Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers. -Es war in den letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an -einem Spaziergang der Familie Weber teil. Man wanderte -das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und ruhte -in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen -aus. Martha war an diesem Tage besonders freundlich -und vertraulich mit Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner -Nähe auf dem grünen Hang, ordnete einen Strauß von -späten Feldblumen, tat ein paar silbrige zitternde Grasblüten -hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß Alfred -den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß -etwas an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe -und sagte es, und zugleich wagte er es, streckte seine Hände -nach den blonden Zöpfen aus und erbot sich, sie in Ordnung -zu bringen. Martha aber, einer solchen Annäherung von -ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn -kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken. -Alfred schwieg betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich -und nahm später die Einladung, bei Frau Weber zu speisen, -nicht an, sondern ging nach der Rückkehr in die Stadt -sogleich seiner Wege.</p> - -<p>Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten -und sie hätte wohl dazu dienen können, ihre -Sache zu fördern und in Gang zu bringen. Doch ging es -umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen.</p> - -<p>War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur -und zum Glücke geboren, so sollte doch auch er einigen -Sturm erleben und einmal das Wasser an der Kehle -spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Drittes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint -und war nun erstaunt, als sie wahrnahm, daß -Alfred eine Woche und länger ihr Haus mied. Er tat ihr ein -wenig leid und sie hätte ihn gar gerne wiedergesehen. Als -er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu grollen -schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu -einem so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt -habe. Nun begann sie selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme -und den gnädig Versöhnten spielen würde, wollte -sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe.</p> - -<p>Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben -hatte nicht Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit -und Furcht vor Marthas Strenge zur Ursache. Er -wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine damalige -Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit -vergessen und die Scham überwunden habe. In dieser -Bußzeit spürte er deutlich, wie sehr er sich schon an den -Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie sauer es ihn -ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens -wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur -Verstärkung seiner Buße und zum Kampf wider die lange -Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn zu trösten und geduldiger -zu machen. So hielt er es denn nicht länger als -bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines -Tages sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen -Hemdkragen und sprach bei den Weberschen vor, diesmal -ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen seiner Beschämtheit -machen wollte.</p> - -<p>Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler -zu erscheinen, hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht. -Es stand für die letzte Woche des September ein großes -Fest- und Preisschießen bevor, worauf die ganze Stadt -schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte Alfred -Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war, -die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit -eine hübsche Begründung seines Besuches wie auch gleich -einen Stein im Brett bei Martha zu gewinnen.</p> - -<p>Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte -den Verliebten, der seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt -war, getröstet und zum treuen Diener gemacht. Nun hatte -aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie für Trotz hielt, -verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte kaum, -als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung -ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt, -im Zimmer ab und zu, als wäre sie allein. Ladidel -war sehr eingeschüchtert, machte ein betrübtes, demütiges -Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da sein verlegenes -Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte zu wenden -und seine Einladung vorzubringen, von welcher er -sich einen Umschwung und Marthas Versöhnung versprach.</p> - -<p>Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung -und demütige Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß, -das Bürschlein diesmal in die Kur zu nehmen und -ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte kurz -und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung, -es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste -zu besuchen, und was ihre Schwester angehe, so sei diese -verlobt und sei es Sache ihres Bräutigams, sie einzuladen -und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe.</p> - -<p>Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds -guten Willen so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und -ernstlich verletzt sich an Meta mit der Frage wandte, ob -sie diese Meinung teile. Und da Meta, wenn schon höflicher, -der Schwester recht gab, griff Ladidel nach seinem -Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann, -der bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben, -und nicht im Sinn hat wiederzukommen. Die alte Frau -Weber war nicht da, Meta versuchte zwar ihn zurückzuhalten -und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine Verbeugung -mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und -Alfred war es nicht anders zumute, als hätte sie ihm für -immer abgewinkt. Er ging hinaus und schnell die Treppe -hinab, und je schneller er lief und je weiter er wegkam, -desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und Enttäuschung -in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme -seines redlichen Willens durchaus nicht verdient -zu haben glaubte.</p> - -<p>Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß -er sich in dieser Sache männlich und stolz gezeigt habe. -Zorn und Trauer überwogen jedoch, grimmig lief er nach -Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn besuchen wollte, -ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen, ohne sich -zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre -hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen, -ging aus und trieb sich den Abend in den Gassen herum, -bis er müde war. Dabei fiel ihm alles ein, was er je Böses -über die Falschheit und Wandelbarkeit der Weiber hatte -sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und scheelsüchtiges -Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles, -fand auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu -milde, und hätte wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen -solcher Art zusammengestellt, wenn es ihm nicht doch zu -elend ums Herz gewesen wäre.</p> - -<p>Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig, -gegen seinen Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen, -ein Brieflein oder eine Botschaft durch Fritz kommen, -denn nachdem der erste Groll vertan war, schien ihm eine -Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit, und -sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu -dem bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und -es kam niemand. Das große Schützenfest jedoch rückte -näher, und ob es dem betrübten Ladidel gefiel oder nicht, -er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie jedermann -sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden -Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser -mit Tannenzweigen geschmückt und Torbögen mit Inschriften, -die große Festhalle am Wasen war fertig und ließ -schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst seine schönste -Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln -täglich klarer und festlicher empor.</p> - -<p>Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut -hatte, und obwohl ihm und seinen Kollegen ein freier Tag -oder gar zwei bevorstanden, verschloß er sich doch der Freude -gewaltsam und hatte fest im Sinn, die Festlichkeiten mit keinem -Auge zu betrachten und in den Tagen der allgemeinen -Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben. -Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte -da und dort in den Gassen hinter offenen Fenstern die -Musikkapellen Proben halten und die Mädchen bei der -Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und -Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in -dem Getümmel seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis -und grimmiger Entsagung. In der Schreibstube hatten -die Kollegen schon seit einiger Zeit von nichts als dem Fest -mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der Herrlichkeit -recht schlau und gründlich froh werden wollen. -Zuweilen gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen -und so zu tun, als freue auch er sich und habe seine Absichten -und Pläne; meistens aber saß er schweigend an seinem -Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei -brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß -mit ihr, sondern mehr und mehr auch um die große -Festlichkeit, auf die er so lang und freudig gewartet hatte -und von der er nun nichts haben sollte.</p> - -<p>Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte, -wenige Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser -machte ein betrübtes Gesicht und erzählte, er wisse gar -nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei, sie hätten -seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren -Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen. -Nun machte er Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen -sich frohe Festtage zu schaffen, wenn auch in aller Bescheidenheit, -denn wenn er auch nicht gesonnen sei, auf alles -zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande als -Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden -Jungfern ganz recht, wenn er nun eben ohne sie den einen -oder andern Taler draufgehen lasse. Allein Ladidel widerstand -auch dieser Versuchung. Er dankte freundlich, erklärte -aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die freie -Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen. -Von diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so -viel erzählt und so viele Kunstausdrücke und Fremdwörter -dabei aufgewendet, daß Fritz nun in tiefem Respekt keine -Einwände wagte und traurig wieder ging. Aber als er -fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und -präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das -Lied: »Wie die Blümlein draußen zittern.« Und als der -Refrain zum zweiten Male wiederkehrte: »O bleib bei -mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja dein Heimatort!«, -da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf über -die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen. -Erst eine Stunde später, als er schon im Bette lag, -fiel ihm ein, daß das Instrument leiden könnte, und er -stand auf, um es abzuwischen, aber die Tropfen waren -schon im trocknen Holz verronnen.</p> - -<p>Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet -werden sollte. Es war ein Sonntag, und das Fest sollte -die ganze Woche dauern. Die Stadt hallte von Gesang, -Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen wider, aus -allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine -aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der -Bahnhof wimmelte von Festbesuchern, die in Extrazügen -gefahren kamen. Allenthalben schallte Musik, und die -Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen -trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen, -wo das Volk seit dem Morgen zu Tausenden -wartend stand. Schwarz drängte der Zug in dickem Fluß -heran, schwer wankten die Fahnen darüber und stellten -sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande -um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen -Platz. Auf alle diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher -Wärme eine heitere Sonntagssonne hernieder. -Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf den geröteten -Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie -Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch -Zurufe angefeuert; wer in der Nähe war und Zutritt fand, -nahm die Gelegenheit wahr, schon um diese frühe Stunde -an den wohlversehenen Trinkhallen einen frischen Trunk -zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten und -befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten -und Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten, -in der Stille lachend, für diesen Glanztag einen -Goldregen voraus.</p> - -<p>Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in -seiner Stube auf dem Bett und hatte noch nicht einmal -Stiefel an, so wenig schien ihm an der Freude gelegen. -Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden Nachtgedanken, -mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben. -Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu -nennen, ihr sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen, -von dem er noch immer in leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit -und Freundschaft versah. Nun zog er aus der -Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen -mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues -Kuvert, steckte eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie -mit der Zunge naß, prüfte die Tinte und schrieb alsdann -in einer runden, elegant ausholenden Kanzleischrift zunächst -die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha -Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile -stimmte ihn das aus der Ferne herübertönende Geblase -und Festgelärme elegisch und er fand es gut, seinen -Brief mit der Schilderung dieser Stimmung anzufangen. -So begann er mit Sorgfalt:</p> - -<p class="center p2"> -»Sehr geehrtes Fräulein! -</p> - -<p>Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag -morgen und die Musik spielt von ferne, weil das -Schützenfest beginnt. Nur ich kann an demselben nicht -teilnehmen und bleibe daheim.«</p> - -<p>Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich -weiter. Da fiel ihm noch manche schöne und treffende -Wendung ein, mit welcher er seinen betrübten Zustand -schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm klar, -daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben -konnte, als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und -Werbung wäre. Und wie konnte er dies wagen? Und je -länger er sann, desto mehr ward ihm klar, daß es mit dem -Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und ausfand, -es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen -und damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun -hätte er dies ja wohl im Dunkeln lassen und die Zeit bis -dahin als Wartezeit und kurzen Aufschub betrachten können; -allein er wußte recht wohl, wie es um seine Aussichten -im Examen stand, und konnte weder sich selber noch -das Mädchen über diese Sorge wegtäuschen.</p> - -<p>Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder -schien ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen -und was er zu seinen Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich -ungewiß und gering. Eine Stunde verging und er kam -nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe, da alles -draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die -ferne Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing -seiner Trauer nach und bedachte, wieviel Freude und Lust -ihm heute verloren ging, und daß er kaum in langer Zeit, -ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben würde, -eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber -überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches -Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen -vermochte.</p> - -<p>Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht -hatte tun wollen. Er zog seine Stiefel an und verließ das -Haus, und während er nur hin und wider zu wandeln -meinte und bald wieder daheim sein und an den Brief -und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm -und Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg -ein Schiff, und unversehens stand er bei dem Schützenhaus. -Da wachte er auf und schämte sich seiner Schwäche -und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch währte -alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste -betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem -Jubel fest zu bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt -wirkten, wie bei einem Kinde und wie beim niederen -Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend und erregend, -der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn -wie eine mächtige Wolke von sich selber und allem kaum -Gewesenen hinweg in ein verzaubertes Reich des Feiertags -und der besinnungslosen Lust.</p> - -<p>Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von -der Menge mitgenommen, und sah und hörte und roch -und atmete so viel Fremdes, Erregendes ein, daß ihm -wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles, was der -Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das -Schießen erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen -die Festtafel bald anhebe, daß nach Tische vielleicht der -König herauskommen werde, um sich das auch zu besehen, -ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und wer -sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein -Gedeck an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus -Trompeten und Hörnern da und dort und überall feurige -Musik, und in Pausen drang von der Ferne her, wo das -Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die weichere -Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf -Schritt und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares, -Erheiterndes und Erschreckendes, es wurden Pferde -scheu, Kinder fielen um und schrien, ein vorzeitig Betrunkener -sang unbekümmert, als wäre er allein, sein Lied und -schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus -belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher, -mit Orangen und Zuckerwaren, mit Luftballonen für die -Kinder, mit Backwerk und mit künstlichen Blumensträußchen -für die Hüte der Burschen, abseits drehte sich unter -heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer -laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen -wollte, dort führte ein Polizeidiener ein verlaufenes Büblein -an der Hand.</p> - -<p>Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich -und fühlte sich beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen -und Dinge mit Augen zu sehen, von denen man -noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war ihm -wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte, -und als es ihm gelungen war, in die Nähe der -Ehrenhalle zu dringen, wo die Tafel auf einer fahnengeschmückten -Höhe stattfand, schaute er mit Bewunderung -und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände, -den Oberamtmann und andre Würdenträger mit -Orden und Abzeichen zumitten des Ehrentisches sitzen -und speisen und weißen Wein aus geschliffenen Gläsern -trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer, -und wer etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit -ihnen zu tun gehabt hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein -bekannter Fabrikant und Millionär wurde erkannt und -besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und schließlich -wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel -einen Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen -vor sich ging und soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt -war, machte einen jeden glücklich. Auch der kleine Ladidel -staunte und bewunderte und fühlte sich groß und bedeutend -als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus, -da er Leuten, die weniger glücklich waren und nicht -hatten dabei sein können, die ganze Herrlichkeit genau beschreiben -würde.</p> - -<p>Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen -Stunden Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines -Zuckerbäckers und verzehrte ein paar Stücke Kuchen. -Dann eilte er, um ja nichts zu versäumen, wieder ins Gewühl, -und war so glücklich, den König zu sehen, wenn auch -nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den -Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts -verstand, sah er doch mit Vergnügen und Spannung den -Schützen zu, ließ sich einige berühmte Helden zeigen und -betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel und Augenzwinkern -der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell -auf und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen -in der frohen Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte -mit dem Bildnis des Königs und dem Landeswappen, -hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier zu, der -seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern -machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten -Volksscharen. Errötend entwich er von der Bude eines -Photographen, dessen Frau ihn zum Eintritt eingeladen -und unter dem Gelächter der Umstehenden einen entzückenden -jungen Don Juan genannt hatte. Und immer -wieder blieb er stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte -Melodien mitzusummen und sein Stöcklein im Takt dazu -zu schwingen.</p> - -<p>Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte -ein Ende, und es begann da und dort ein Zechen in Hallen -oder unter Bäumen. Während der Himmel noch in zartem -Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in der Herbstabendklarheit -standen, glommen hier und dort schon Lichter -und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche -dahin und bedauerte das Sinken des Tages. Die solide -Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum Abendessen, müdgewordene -Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der -Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten -sich Lust und Übermut der Jugend, die sich auf Tanz -und Wein freute, und wie es auf dem Platze und den Gassen -leerer ward, tauchte da und dort und an jeder Ecke bald -scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch -mit sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und -Ahnung nächtlicher Lust.</p> - -<p>Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit -Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende -Tageslicht. Die Erinnerung an Trauer und Leid -kehrte mählich wieder, vermischt mit einem ungelöschten -Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig werdend -strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend. -Es kicherte kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht -nachsah, und als nun in einem Garten unter hohen schwarzen -Kastanien mit lockender Pracht Reihen von roten Papierampeln -aufglühten und aus eben diesem Garten her -eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf -der heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen -Tischen aß und trank viel junges Volk, dahinter wartete -ein großer Tanzplan erst halb erleuchtet. Der junge Mann -nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und verlangte, -als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte -er aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik, -aß ein weniges und trank langsam in kleinen Schlücken -den ungewohnten Wein. Je länger er in die roten Lampen -schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft der -Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich -vor, und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte -seliger Lust, von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen -sei. Wohin er blickte, sah er rote Wangen und begierige -Augen leuchten, junge Burschen in Sonntagskleidern mit -kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit verlangenden -Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen. -Und er war noch nicht lange mit seinem Abendessen fertig, -als die Musik mit erneuter Wucht und Süße anstimmte, -der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte und Paar auf -Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte.</p> - -<p>Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine -Weile dableiben zu können, und als der Wein doch schließlich -zu Ende war, konnte er sich nicht entschließen, heimzugehen. -Er ließ nochmals ein kleines Fläschlein kommen -und saß und starrte und fiel in eine stachelnde Unruhe, als -müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück -blühen und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn -abfallen. Und wenn es nicht geschah, so schrieb er sich in -Leid und Trotz das Recht zu, wenigstens dem Fest und -seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch seines Lebens -zu trinken.</p> - -<p>Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen, -denn so schlimm er es meinte, seine Natur war klüger und -hätte ihm nicht erlaubt, mehr als einen kindlichen Versuch -nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch keineswegs der -Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer -nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den -Kopf hinreichend erhitzt und verwirrt hatten. Aber der -mäßige und zierliche Jüngling konnte soviel Übermut und -Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den Anblick so vieler -hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne gleichfalls -ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und -blühender Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen, -je heftiger rings um ihn die Freude tobte, sein Unglück -sowohl wie sein Trostbedürfnis höher, und rissen den Unbeschützten -zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die -Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben -oder sich Lust schaffen mußte.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Viertes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß -und mit heißen Augen in das Tanzgewühl blickte, vom -roten Licht der Ampeln und vom raschen Takt der Musik -bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung überdrüssig, -hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die -fragte: »Ganz allein?«</p> - -<p>Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der -Bank gebeugt ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, -mit einem weißen linnenen Hütlein und einer roten leichten -Bluse angetan. Sie lachte mit einem hellroten Munde, -während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln Augen -ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie -mitleidig und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja, -leider.« Da nahm sie sein Weinglas, fragte mit einem -Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank es in einem -durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals, der -bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und -indessen sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen, -daß sich hier ein Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht -ohne Schrecken, aber er war allsofort entschlossen, dabei -zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie es wollte.</p> - -<p>Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu -tun, schenkte Ladidel das leere Glas wieder voll und bot -es dem Mädchen an. Aber sie schüttelte den Kopf und blickte -rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben eine neue Musik -erscholl.</p> - -<p>»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in -die Augen, der augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte -und seinen Namen nannte.</p> - -<p>»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich -heiße Fanny.«</p> - -<p>Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom -und Schwall des Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet -getanzt hatte. Früher war er beim Tanzen lediglich -seiner Geschicklichkeit, seiner flinken Beine und feinen -Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran gedacht, -wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache. -Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen -Wirbel mit, gezogen und hingeweht und wehrlos, aber -glücklich und im Innersten erregt. Bald zog und schwang -ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem verloren -ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre Pulse -an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte.</p> - -<p>Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in -den ihres Begleiters und zog ihn mit sich weg. Tief atmend -wandelten sie langsam einen Laubengang entlang, -zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung voll -warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel -mit blanken Sternen herein, von der Seite her -spielte, von beweglichen Schatten unterbrochen, der rote -Schein der Festampeln, und in diesem ungewissen Licht -bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die -Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und -Hüten, mit bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen -Fächern versehen, die gleich Pfauenrädern spielten. -Ladidel nahm das alles nur als einen farbigen Nebel wahr, -der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und daraus -nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles -Gesicht mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund -mit glänzenden Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer -Arm für Augenblicke deutlich hervorschimmerte.</p> - -<p>»Alfred!« sagte Fanny leise.</p> - -<p>»Ja, was?«</p> - -<p>»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach -Amerika.«</p> - -<p>»Nein, ich hab keinen.«</p> - -<p>»Willst du nicht mein Schatz sein?«</p> - -<p>»Ich will schon.«</p> - -<p>Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten -hellroten Mund. Liebestaumel wehte in den Bäumen -und Wegen; Ladidel küßte den roten Mund und küßte den -weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und -den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an -einen Tisch abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen -und trank mit ihr aus einem Glase, hatte den Arm um ihre -Hüfte gelegt und fühlte Feuer in allen Adern. Seit einer -Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter ihm -versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig -die glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen.</p> - -<p>Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes -und ihrer blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos -und gedankenlos als ihr Liebster, dessen Feuer sie mit der -einen Hand zu mehren, mit der andern abzuwehren bemüht -war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl, -und sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden -Augen; doch war sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten -und Zwecke zu vergessen, und diese gingen nicht -auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern auf -soliden Erwerb.</p> - -<p>Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen -Wein und Tanz, von seiner Geliebten eine lange traurige -Geschichte, die mit einer kranken Mutter begann und mit -Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete. Sie bot -dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen -nicht auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während -deren er sich stets wieder erholen und neue Glut fassen -konnte, sie bat ihn sogar, nicht allzuviel daran zu denken -und sich den schönen Abend nicht verderben zu lassen, bald -aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die Augen. -Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen -Anfängern, das Mitleid eher entflammend als niederschlagend, -sodaß er das Mädchen gar nimmer aus den -Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für -die Zukunft versprach.</p> - -<p>Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand -dann plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke -Mutter nicht länger warten lassen. Ladidel bat und flehte, -wollte sie dabehalten oder zumindest begleiten, schalt und -klagte und ließ auf alle Weise merken, daß er die Angel geschluckt -habe und nimmer entrinnen könne.</p> - -<p>Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos -die Achseln, streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun -für immer von ihr Abschied zu nehmen. Denn, wenn sie -bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert Mark sei, -so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt -werden und könne für das, wozu die Verzweiflung -sie dann treiben würde, nicht einstehen. Ach, sie wollte -ja gern lieb sein und ihrem Alfred jede Gunst gewähren, -da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber unter diesen -Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und -sich mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend -zu begnügen.</p> - -<p>Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu -besinnen, versprach er das Geld morgen Abend herzubringen, -und schien fast zu bedauern, daß sie seine Liebe -auf keine größere Probe stelle.</p> - -<p>»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei -schmiegte sie sich an ihn, daß er beinahe den Atem verlor.</p> - -<p>»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie -nach Hause begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich -eine so furchtbare Angst, man möchte sie sehen und ihr -guter Ruf möchte notleiden, daß er mitleidig nachgab und -sie allein ziehen ließ.</p> - -<p>Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher. -Da und dort tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche -Festlichkeit. Erhitzt und müde kam er endlich nach Hause, -ging zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf, -aus dem er schon nach einer Stunde wieder erwachte. -Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr -verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich -und grau im Fenster, die Stube war dunkel und alles still, -sodaß Ladidel, der nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war, -verwirrt und ängstlich in die Finsternis blickte und den noch -nicht verwundenen Rausch des Abends im Kopf rumoren -fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran -zu denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute -Weile. Am Ende klärte sich jedoch die peinigende Trübe -und der ernüchterte Träumer wußte wieder genau, um -was es sich handle. Und nun drehten seine Gedanken sich -die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das -Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen -hatte. Er begriff nimmer, wie er das Versprechen -hatte geben können, es mußte in einer Bezauberung geschehen -sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort zu -brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er -den Sieg nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit -den Jüngling abhielt, eine Notleidende umsonst auf die -zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch mächtiger freilich -war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre Küsse -und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung, -das alles schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum -entschlug und schämte er sich des Gedankens, ihr untreu -zu werden, und wandte allen Scharfsinn daran, einen sicheren -und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde -zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer -ward in seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher -ihre Erlangung.</p> - -<p>Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten -Augen und schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich -an seinen Platz setzte, wußte er noch immer keinen Ausweg -und hätte gern für die hundert Mark seine Seligkeit -verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem Pfandleiher -gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen seinen -kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure -und beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte -ihm für das Ganze nicht mehr als zehn Mark geben wollen. -Nun bückte er sich traurig über seine Arbeit und brachte -eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit der Post, -die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt -öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche -und las heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin -gefunden hatte. »Liebster, gelt du kommst heut Abend? -Mit Kuß deine Fanny.«</p> - -<p>Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen -Umständen und um jeden Preis sein Versprechen zu halten. -Das Brieflein verbarg er in der Brusttasche und zog es je und -je heimlich hervor, um daran zu riechen, denn es hatte -einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg.</p> - -<p>Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht -war der Gedanke in ihm aufgestiegen, im Notfalle das -Geld auf eine verbotene Weise an sich zu bringen, doch hatte -er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun kamen -sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden. -Ob ihm auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl -und Betrug im Herzen graute, so wollte ihm doch der Gedanke, -es handle sich dabei nur um eine erzwungene Anleihe, -deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr und -mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach -er sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen, -sich die Summe auf der Bank, wo man ihn kannte, -zu verschaffen, wenn er sich hätte entschließen können, die -Handschrift seines Prinzipals zu fälschen. Aber zu einem -solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch nicht. -Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante, -und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser -Prüfung hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in -der letzten Stunde, eine allzu verlockende Gelegenheit doch -noch zum Schelm gemacht hätte.</p> - -<p>Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen -Wertbrief zu senden, und zählte ihm die Banknoten hin. -Es waren sieben Scheine, die er zweimal durchzählte. Da -widerstand er nicht länger, brachte mit zitternder Hand -eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse ein, -die denn auch zur Post kamen und abreisten.</p> - -<p>Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den -Siegelbrief wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem -Inhalte stimmte. Von allen Arten der Unterschlagung -schien ihm diese nun die törichtste und gefährlichste, da im -besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das Fehlen -des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde. -Als der Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im -Bösen unbewanderte Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders, -der den Strick um den Hals und den Schemel -schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben -möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht -aber auch nur einen, dann bin ich meines guten Rufes, -meiner Freiheit und Zukunft ledig, und alles um die hundert -Mark, die nicht einmal für mich sind. Er sah sich verhört, -verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins Gefängnis -gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus -verdient und in der Ordnung sei.</p> - -<p>Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es -könnte am Ende auch besser ablaufen. Daß die Sache gar -nicht entdeckt werden würde, wagte er zwar nicht zu hoffen; -aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte man beweisen, -daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er -wider seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging -dann nach Hause, um sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock -und seiner besten Wäsche angetan, erschien er eine -Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs war seine -Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder erwachten -heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle -übertäubt.</p> - -<p>Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es -dem einsam wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von -der guten Bürgerschaft, sondern zumeist von geringeren -Leuten und auch von manchen verdächtig Aussehenden -besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte -und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen -an dieser Gesellschaft und er verließ den Garten, -um draußen hinterm Zaun zu warten. Da lehnte er in der -Abendkühle an einer finstern Stelle des Geheges, sah in -das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten -derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen -war und so ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm -alles weniger gefallen; von den Mädchen sahen viele frech -und liederlich aus, die Burschen hatten üble Manieren und -unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes Einverständnis -durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen -sahen weniger festlich und leuchtend aus, als -sie ihm gestern erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur -Müdigkeit und Ernüchterung, oder ob sein schlechtes Gewissen -daran schuld sei; aber je länger er zuschaute und -wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder kommen, -und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme, -von diesem Ort wegzugehen.</p> - -<p>Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und -ungeduldig zu werden begann, sah er am jenseitigen Eingang -des Gartens sein Mädchen ankommen, in der roten -Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und betrachtete -sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte -er nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch -reizte es ihn, sie so aus dem Verborgenen zu belauschen.</p> - -<p>Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten -und suchte; und da sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite -an einen Tisch. Ein Kellner kam, doch winkte sie ihm -ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr ein Bursche näherte, -der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher Patron -aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit -Ladidel sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl -nach ihm, und der Bursche zeigte nach dem Ausgang und -schien zu erzählen, der Gesuchte sei dagewesen, aber wieder -fortgegangen.</p> - -<p>Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr -eilen, doch sah er in demselben Augenblick mit Schrecken, -wie der unangenehme Bursche die Fanny ergriff und mit -ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete er sie beide, -und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des -Mannes das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das -Mädchen gleichgültig zu sein, ja ihn abzuwehren.</p> - -<p>Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem -Begleiter einem andern zugeschoben, der den Hut vor ihr -zog und sie höflich zur neuen Tour aufforderte. Ladidel -wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu ihr hinein, -doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung -zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit -ihm den Schottischen begann. Und während des Schottischen -sah er sie schön mit dem andern tun und seine Hände -streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie es gestern -ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm -werden und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes -mit ihr durch die dunkleren Laubengänge wandeln, wobei -das Paar dem Lauscher peinlich nahe kam und er ihre Worte -und Küsse gar deutlich hörten konnte.</p> - -<p>Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden -Augen, das Herz voll Scham und Wut und dennoch froh, -der Hure entgangen zu sein. Junge Leute kehrten von den -Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang -aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf -ihn und alle Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war -er todmüde und hatte kein Verlangen mehr als zu schlafen. -Und da er seinen Sonntagsrock auszog und gewohnterweise -seine Falten glatt strich, knisterte es in der Tasche -und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig -lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische; -er sah es eine Weile an, schloß es dann in die Schublade -und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu erleben, hatte -er nun gestohlen und sein Leben verdorben.</p> - -<p>Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in -dieser Zeit nicht mehr an Fanny und nicht mehr an die -hundert Mark, noch an das, was jetzt über ihn kommen -würde, sondern er dachte an Martha Weber und daran, -daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Fünftes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte -erfahren, wie bitter es ist, sich vor sich selber schämen -zu müssen, und stand sein Mut auch tief, so war er dennoch -fest entschlossen, mit dem Gelde und einem ehrlichen Geständnis -zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner Ehre -und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre.</p> - -<p>Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden -Tage der Notar nicht ins Kontor kam. Er wartete bis -Mittag und vermochte seinen Kollegen kaum in die Augen -zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen noch an diesem -Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde.</p> - -<p>Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete, -er sei unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft -kommen. Da hielt Ladidel es nicht länger aus. Er -ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs in die -Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen, -er bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte -seinen Namen und begehrte in einer wichtigen Sache den -Herrn zu sprechen. So wurde er in ein Vorzimmer geführt -und aufgefordert zu warten.</p> - -<p>Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung -und Angst zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf -jeden Ton im Hause und hatte das Sacktuch in der Hand, -da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über die Stirn lief. -Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher, -Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort -ein Löwe aus grauem Stein und in Stehrahmen eine -Menge von Photographien. Es sah hier feiner, doch ähnlich -aus wie in der schönen Stube von Ladidels Eltern, und -alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und Würde. Die -Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor, -Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von -guter Familie und zweifellos bestem Rufe, und von der -Wand schaute ein wohl lebensgroßer Mannskopf herab, -dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des verstorbenen -Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten. -Zwischen so viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in -seinen eigenen Augen von Augenblick zu Augenblick tiefer, -er fühlte sich durch seine Übeltat von diesem und jedem -ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die Abgängigen -und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien -gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben -rechter Leute aufgestellt werden.</p> - -<p>Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren -nennt, schwang ihren messingenen Perpendikel -gleichmütig und unangefochten hin und wider, und einmal, -nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte, -räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen, -vollen Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben -Augenblick trat ihm gegenüber der Notar durch die -Türe. Er beachtete Ladidels Verbeugung nicht, sondern -wies sogleich befehlend auf einen Sessel, nahm selber Platz -und sagte: »Was führt Sie her?«</p> - -<p>»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre – –.« -Dann aber schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich -habe Sie bestehlen wollen.«</p> - -<p>Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar -wirklich bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer -Stunde telegraphiert worden. Sie haben also wirklich -einen von den Hundertmarkscheinen genommen?«</p> - -<p>Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche -und streckte ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die -Finger, spielte damit und sah Ladidel scharf an.</p> - -<p>»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?«</p> - -<p>»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen -hatte. Ich habe ihn nicht gebraucht.«</p> - -<p>»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld -genommen hätten, wußte ich sofort. Es konnte ja sonst -niemand sein. Und außerdem wurde mir gestern erzählt, -man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz in -einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt -es nicht damit zusammen?«</p> - -<p>Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe -gab, das Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider -seinen Willen doch fast alles heraus. Der alte Herr unterbrach -ihn nur zwei-, dreimal durch kurze Fragen, im übrigen -hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem Beichtenden -ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören.</p> - -<p>Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und -wider. Nachdenklich nahm er eine von den Photographien -in die Hand. Plötzlich bot er das Bild dem Übeltäter hin, -der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen kauerte.</p> - -<p>»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen -Fabrik in Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen -es ja nicht jedermann zu erzählen, und er hat als junger -Mensch in einer ähnlichen Lage wie Sie tausend Mark entwendet. -Er wurde von seinem Vater preisgegeben, mußte -hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.«</p> - -<p>Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel -das Bild des stattlichen Mannes ansah und einigen Trost -daraus sog, daß also auch in dieser ehrenwerten Familie -ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der Sünder es -doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten -gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener -Leute stehen dürfe.</p> - -<p>Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen -und trat zu Ladidel, der ihn schüchtern anschaute.</p> - -<p>Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich -glaube nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen -wieder auf rechte Wege. Am Ende würde ich es sogar -wagen und Sie behalten. Aber das geht doch nicht. Es -wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine -Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht -empfehlen, wenn ich auch an Ihre guten Vorsätze gern -glauben will. Wir wollen also die Sache zwischen uns für -abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen. Aber -bei mir bleiben können Sie nicht.«</p> - -<p>Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich -behandelt zu sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt -und so ins Ungewisse geschickt fand, verzagte er doch -und klagte: »Ach, was soll ich aber jetzt anfangen?«</p> - -<p>»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte -er. »Seien Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre -es Ihnen wohl nächstes Frühjahr im Staatsexamen gegangen? -Schauen Sie, Sie werden rot. Nun, wenn Sie -auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen -können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich -hatte ohnehin schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber -mit Ihnen zu reden. Jetzt ist ja die beste Gelegenheit dazu. -Meine Überzeugung, und vielleicht im Stillen auch Ihre, -ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie passen -nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben. -Nehmen Sie an, Sie seien im Examen durchgefallen, und -suchen Sie recht bald einen andern Beruf, in dem Sie es -weiter bringen können. Vielleicht ist es für eine Kaufmannslehre -noch nicht zu spät – aber das ist Ihre und Ihres -Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen. -Wenn Sie noch etwas im Kontor liegen haben, was -Ihnen gehört, so holen Sie es jetzt. – Nur noch eins: Ihr -Vater muß die Sache natürlich wissen!«</p> - -<p>Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf.</p> - -<p>»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie -es gewiß, und warten Sie damit nicht lang, denn schreiben -muß ich ihm doch. Am besten fahren Sie gleich morgen -nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins Gesicht! -Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie -mir später einmal Bericht geben, wird es mich freuen. -Nur jetzt den Kopf nicht ganz hängen lassen und keine neuen -Dummheiten machen! – Adieu denn, und grüßen Sie -den Herrn Vater von mir!«</p> - -<p>Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine -kräftig und schob ihn, der noch reden und danken wollte, -zur Tür.</p> - -<p>Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte -sehen, was weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar -schwarze Ärmelschoner zurückgelassen, an denen war ihm -nichts gelegen, und er zog es vor, sich dort nimmer zu zeigen -und sich das Abschiednehmen von den Kollegen zu ersparen. -Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor der -Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden -Zeit graute, auf dem Grund seiner Seele war er doch dankbar -und beinahe vergnügt, der furchtbaren Angst vor Polizei -und Schande ledig zu sein; und während er langsam durch -die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er nun kein -Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl -in sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage -auszuruhen und aufzuatmen begehrte.</p> - -<p>So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch -das ungewohnte Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit -frei durch die Stadt zu spazieren, recht wohl zu gefallen. -Er blieb vor den Auslagen der Kaufleute stehen, betrachtete -die Kutschenpferde, die an den Ecken warteten, schaute -auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für -eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl. -Dann kehrten seine Gedanken in den alten engen Kreis -zurück, und als er, schon wieder gedrückt und ziemlich mutlos, -in der Nähe seiner Wohnung um eine Gassenecke bog, -mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen, -die dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm -alles wieder recht aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen -Versuche auf dem Gebiete der Liebe zumal, und er -mußte sich vorstellen, was wohl die Martha denken und -sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe. -Erst jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht -nur von Amt und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des -geliebten Mädchens entführe. Und alles um diese Fanny.</p> - -<p>Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen, -nicht ohne einen Gruß an Martha fortzugehen. -Schreiben mochte und durfte er ihr nicht, es blieb ihm nur -der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte er, kurz vor -dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube -auf.</p> - -<p>Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder -zu sehen. Doch deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er -müsse aus besonderen Gründen seine Stelle verlassen und -wegreisen.</p> - -<p>»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber -wenigstens noch einmal zusammensein, wer weiß, wann -man sich wieder sieht! Wann mußt du denn reisen?«</p> - -<p>Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen. -Also übermorgen.«</p> - -<p>»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme -zu dir, wenn dir's recht ist.«</p> - -<p>»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut -kommst, sagst du viele Grüße von mir – an alle!«</p> - -<p>»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?«</p> - -<p>»Ach, das geht jetzt nimmer. – Also morgen!«</p> - -<p>Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden -Tag, ob er es nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den -Mut dazu. Was hätte er sagen und wie seine Abreise erklären -sollen? Ohnehin überfiel ihn heute eine heillose -Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater, vor den -Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging. -Und er packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner -Wirtin die Stube zu kündigen. Statt all dies Notwendige -zu tun, saß er und füllte Bogen mit Entwürfen zu einem -Brief an seinen Vater.</p> - -<p>»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen -–«</p> - -<p>»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe -–«. Es war nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch -deutlich zu sagen. Aber es war immerhin leichter, diesen -Brief zusammenzudichten als heimzufahren und zu sagen: -Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt. Und so ward -denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der -Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen -oftmals überdenken und den bittern Trank der Scham -und Reue leeren müssen, so hatte er im Verlauf doch auch -Gelegenheit gefunden, die böse Sache von freundlicheren -Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu -streichen.</p> - -<p>Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen, -und Kleuber fand ihn so milde und weich wie noch nie. -Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk, eine kleine geschliffene -Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die -bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken -mitgeben? Es wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen -sah er sich um und rief verwundert: »Du hast ja noch -gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?«</p> - -<p>Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin -noch nicht soweit. Ich muß noch auf einen Brief warten.«</p> - -<p>»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch -Zeit zum Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich -heut Abend miteinander zu den Webers gehen. Es wäre -doch schade, wenn du so wegreisen würdest.«</p> - -<p>Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum -Himmel auf und würde im selben Augenblick wieder zugeschlagen. -Er wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den -Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten die Worte -ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten -Fritz in ein Schluchzen aus.</p> - -<p>»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel -winkte schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß -er seinen bewunderten und stolzen Freund in Tränen sah, -so ergriffen und gerührt, daß er ihn in die Arme nahm wie -einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in unbestimmten -Ausdrücken seine Hilfe anbot.</p> - -<p>»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er -wieder reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe, -und schließlich kam es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer -so wohlmeinenden Seele zu beichten, so daß er nachgab. -Sie setzten sich einander gegenüber, Ladidel wandte sein -Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals als -wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen -sind –« und erzählte weiter, alles und alles, von seiner -Liebe zu Martha, von ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen, -und wie leid ihm das tue. Sodann kam -er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung -und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny, -von dem Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet -geblieben sei, endlich von dem gestrigen Gespräch mit dem -Notar und seiner jetzigen Lage. Er gestand auch, daß er -das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu kommen, daß -er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden -warte.</p> - -<p>Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu, -betrübt und in der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse. -Als der andre schwieg und das Wort an ihm war, -sagte er leise und schüchtern: »Da tust du mir leid.« Und -obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig -veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas -passieren, und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht. -Was soll ich da sagen? Die Hauptsache ist jetzt, -was du anfangen sollst.«</p> - -<p>»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.«</p> - -<p>»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du -denn wirklich nichts?«</p> - -<p>»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.«</p> - -<p>»Das wird nicht nötig sein. – Wenn ich nur wüßte, ob -es dir keine Beleidigung ist – –«</p> - -<p>»Was denn?«</p> - -<p>»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist -eine Dummheit von mir, und du nimmst es übel.«</p> - -<p>»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.«</p> - -<p>»Sieh, ich denke mir so – du hast ja hie und da dich für -meine Arbeit interessiert, und hast selber zum Vergnügen -es damit probiert. Du hast auch viel Genie dafür und könntest -es bald besser als ich, weil du geschickte Finger hast und -so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn sich vielleicht -nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit unsrem -Handwerk probieren möchtest?«</p> - -<p>Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das -Gewerbe eines Barbiers war ihm bisher zwar nicht -schimpflich, doch aber wenig nobel vorgekommen. Nun -aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und -hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe -gering zu achten. Das fühlte er auch; und daß Fritz sein -Talent so rühmte, tat ihm wohl. Er meinte nach einigem -Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das Dümmste. -Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an -einen andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun, -noch einmal als Lehrbub bei irgendeinem Meister anzufangen.«</p> - -<p>Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!«</p> - -<p>»Ja wie denn sonst?«</p> - -<p>»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu -lernen ist. Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft -habe, das dauert nimmer lang. Du könntest aber -auch schon jetzt zu mir kommen. Mein Meister nähme ganz -gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen Lohn will. -Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes -Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja -vielleicht nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber -wenn man eine gute und feine Kundschaft hat, ist es doch -kein übles Geschäft.«</p> - -<p>Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und -spürte im Herzen, daß hier sein Schicksal sich entschied. -War es auch vom Notar zum Friseur ein gewisser Rückschritt, -so empfand er doch zum erstenmal im Leben die -innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren -Beruf entdeckt und den ihm bestimmten Weg gefunden -hat.</p> - -<p>»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte -Kleubern die Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in -meiner Haut. Mein Alter wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden -sein, aber er muß es ja einsehen. Gelt, du -redest dann auch ein Wort mit ihm?«</p> - -<p>»Wenn du meinst –«, sagte Fritz schüchtern.</p> - -<p>Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen -Beruf und so voll Eifers, daß er begehrte, augenblicklich -eine Probe abzulegen. Kleuber mochte wollen oder nicht, -er mußte sich hinsetzen und sich von seinem Freunde rasieren, -den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es glückte -alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge -zu geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den -Weingeistkocher und setzte Tee an, plauderte und setzte -seinen Freund durch diese rasche Heilung von seinem Trübsinn -nicht wenig in Erstaunen. Fritz brauchte länger, um -sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß Alfreds -Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser -wie in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen -und Schelmenlieder angestimmt. Es hielt ihn davon nur -der Anblick des Briefes an seinen Vater ab, der noch auf dem -Tische lag und ihn am spätern Abend nach Kleubers Weggehen -noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch, -war nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den -Entschluß, nun doch heimzufahren und seine Beichte selber -abzulegen. Nun wagte er es, da er einen Ausweg aus der -Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte.</p> - -<div class="chapter"> -<h3>Sechstes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte, -war er zwar etwas stiller geworden, hatte aber -seine Absicht erreicht und trat für ein halbes Jahr als Volontär -bei Kleubers Meister ein. Fürs erste sah er damit -seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr verdiente -und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen -war. Er mußte seine hübsche Stube aufgeben und -eine geringe Kammer nehmen, auch sonst trennte er sich -von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen Stellung -nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb -bei ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner -Neigung zu sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und -Schnurrbartes, seiner Hände und Fingernägel jetzt ohne -Beschränkung frönen. Er schuf sich nach kurzem Studium -eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner -Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und -Pudern das Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als -dies alles beglückte und mit dem Wechsel seines Standes -versöhnte, war die Befriedigung, die er im neuen Berufe -fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier -zu betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem -er Aussicht hatte, Bedeutendes zu leisten.</p> - -<p>Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete -Arbeiten tun. Er mußte Knaben die Haare schneiden, -Arbeiter rasieren und Kämme und Bürsten reinigen, doch -erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten künstlicher -Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach -kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten, -nobel aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden -und gab sogar ein Trinkgeld, und nun ging es -Stufe für Stufe vorwärts. Ein einzigesmal schnitt er -einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über sich -ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung -und Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber, -der ihn bewunderte und nun erst recht für einen Auserwählten -ansah. Denn wenn er selbst auch ein tüchtiger -Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm doch -sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort -die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das -leichte, unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit -nobler Kundschaft. Hierin war Ladidel bedeutend, und -nach einem Vierteljahr begehrten schon die verwöhnteren -Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand -es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren -Ankauf neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen, -teurer Bürstchen und Kämme zu überreden; und in der Tat -mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat willig und -dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos -und wohlbestellt aus.</p> - -<p>Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte, -trug er jede Entbehrung leichter, und so hielt er auch die -lange Trennung von Martha Weber geduldig aus. Ein -Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in seiner neuen -Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten, seinen -neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war -allerdings nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta, -der die Neigung ihrer Schwester zu dem hübschen Notar -nicht unbekannt geblieben war, hatte sich hinter Fritz gesteckt -und bald ohne Mühe alles herausbekommen. So -konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten -enthüllen und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel -ihres Geliebten, den er jedoch aus Gesundheitsrücksichten -vorgenommen habe, sondern auch seine unveränderte treue -Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich seines neuen -Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls -nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas -gebracht und begründete Aussichten für die Zukunft habe.</p> - -<p>Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom -»Notar« die Rede. Meta hatte ihn über den Schellenkönig -gelobt, Martha aber sich wie immer spröde verhalten und -es vermieden, Farbe zu bekennen.</p> - -<p>»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß -er am Ende noch vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.«</p> - -<p>»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.«</p> - -<p>»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem -Notar durchaus nicht?«</p> - -<p>»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon -wissen, wo er sich eine zu suchen hat.«</p> - -<p>»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen, -und jetzt ist er scheu und findet den Weg nimmer -recht. Dem wenn man einen Wink gäbe, er käm auf allen -Vieren gelaufen.«</p> - -<p>»Kann schon sein.«</p> - -<p>»Wohl. Soll ich winken?«</p> - -<p>»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer, -mein ich.«</p> - -<p>Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl, -wie ihrer Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie -gar zu gern ihren Alfred auf gute Art wieder zu Handen -gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den Scheugewordenen -wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten -Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu.</p> - -<p>Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens -alter Meister wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald -sich einen Feierabend zu gönnen. Da frage er an, wie -es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich nannte er die -Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel -davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen -waren nun billig und wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers -Mittel dazu nicht hin, so daß er in Sorgen umherging, -und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden und -Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand -er sich und schrieb ab, und erst dann erzählte er die -ganze Sache Ladideln.</p> - -<p>Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen, -und machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit -vor seinen Vater bringen. Wenn der zu gewinnen -sei, könnten sie ja das Geschäft gemeinsam übernehmen.</p> - -<p>Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen -Leute mit ihrem Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht -sogleich daran, obwohl die Summe seinen Beutel nicht -erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz Kleuber, der sich -seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl angenommen -hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred -von seinem jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis -mitgebracht. Ihm schien, sein Sohn sei jetzt auf gutem -Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein darein zu werfen. -Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß -er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich -alles anzusehen.</p> - -<p>Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone -wurden von allen Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß -im Frühjahr Hochzeit zu halten und bat sich Ladidel -als ersten Brautführer aus. Da war ein Besuch im Hause -Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens -Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor -Herzklopfen kaum die vielen Treppen hinaufkommen. -Oben empfing ihn der gewohnte Duft und das gewohnte -Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die alte Mutter -schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der -hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß -in einem dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war -diesmal kaum minder verwirrt als er selber. Man tauschte -Höflichkeiten, fragte nach der Gesundheit, trank aus kleinen -altmodischen Kelchgläsern einen hellroten süßen Stachelbeerwein -und besprach dabei die Hochzeit und alles dazu -gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein -Marthas Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen, -sich nun auch wieder fleißig im Hause zu zeigen. Beide -sprachen miteinander nur höfliche und unbedeutende Worte, -sahen einander aber heimlich an, und jedes fand das andre -auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert. -Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes, -daß auch das andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen -heimlich, einander nicht wieder ohne Grund weh -zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit Verwunderung, -daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht -entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte -ihnen scheinen, nun seien wenig Worte mehr notwendig -und die Hauptsache zwischen ihnen in Ordnung.</p> - -<p>So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei, -daß Meta und Fritz die beiden nach schweigendem Übereinkommen -wie ein versprochenes Paar ansahen. Wenn Ladidel -ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah, so -schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen -komme und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel -half treulich bei den Vorbereitungen zur Hochzeit mit -und tat es so eifrig und mit dem Herzen, als gälte es seine -eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit unendlicher -Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue Frisur.</p> - -<p>Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber -und drunter ging, erschien er eines Tages feierlich, -wartete einen Augenblick ab, da er mit Martha still allein -war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine gewagte Bitte an -sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu -ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand, -wollte sie doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort, -er möge nur reden. Ermutigt brachte er dann seine -Bitte vor, die auf nichts andres zielte als auf die Erlaubnis, -dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von ihm -ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen.</p> - -<p>Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht -werde. Meta mußte helfen, und nun erlebte Ladidel -den Augenblick, daß sein alter Wunsch in Erfüllung ging, -und er Marthas lange blonde Haare in den Händen hielt. -Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein sie -frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich -nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand -zugreifen und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das -Haargebäude seiner Vollendung nahe war, ließ Meta -die beiden allein, angeblich nur für einen Augenblick, doch -blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit seiner -Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich -verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch -bessernd. Da übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem -schönen Mädchen mit leiser Hand liebkosend über die -Schläfe strich. Und da sie sich beklommen umwandte und -ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst, daß -er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen -festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam -wieder aufstand.</p> - -<p>»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr -erstes schmeichelndes Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm -vor der betrübten alten Witwe ein wenig bange war. Als -er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand führte und -um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein wenig -den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte -nichts dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie -Meta herbei, und nun umarmten sich die Schwestern, -lachten und weinten, bis Meta plötzlich stehen blieb, die -Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann festhielt -und begierig ihre Frisur bewunderte.</p> - -<p>»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand, -»das ist Ihr Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu -einander?«</p> - -<p>Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit -und zugleich die Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel -in Eile nach Schaffhausen, während die Kleubers -in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise antraten. Der -alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing -sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den -Tagen bis zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es -war nötig, denn die Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah -bald, daß hier sein Weizen blühe, und als Kleuber mit seiner -Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her ankam, und -er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine -Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus.</p> - -<p>Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der -jungen Frau zum Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit -reichlich Wasser führte. Hier saßen sie zufrieden unter -jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser strömen -und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit. -»Ja,« sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden -Strom hinab, »nächste Woche wäre mein Examen gewesen.«</p> - -<p>»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine -Antwort. Er schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog -er aus der Brusttasche ein kleines Paket, machte es auf und -brachte ein halb Dutzend feine kleine Kuchen hervor, von -denen er den andern anbot und sich selber nahm.</p> - -<p>»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du, -das Geschäft trage schon soviel?«</p> - -<p>»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und -muß noch mehr tragen.«</p> - - - - -<h2><a name="Die_Heimkehr" id="Die_Heimkehr">Die Heimkehr</a></h2> - - -<p>Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und -es ist Herkommen, daß ein junger Mensch ein Stück -Welt und fremde Sitte sieht, ehe er sich selbständig macht, -heiratet und sich für immer in den Bann der heimischen -Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten -schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat -einzusehen und wiederzukehren, und es ist eine Rarität, -daß einer bis in die höheren Mannesjahre oder gar für -immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin kommt -es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer -widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit -in der Heimatstadt.</p> - -<p>Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn -des Weißgerbers Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging -wie andere junge Leute auf Wanderschaft, und zwar als -Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich gewesen -und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später -freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht, -daß die Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre -gewesen und dieser August ein recht kräftiger und -zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun schon den Handelsberuf -ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit -Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch -mit einigem Mitleid herab, seinen Vater nicht ausgenommen. -Und sei es nun, daß der alte Schlotterbeck dadurch -an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in Ermangelung -weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die -alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten – -kurz, er begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich -zu vernachlässigen und es sich wohl sein zu lassen, als -wäre keine Nachkommenschaft da, und endete damit, daß -er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und seinem einzigen -Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß -August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen -jungen, eben Meister gewordenen Gerber loszuwerden.</p> - -<p>Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als -nötig in der Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut -erging, und schließlich überhaupt nimmer an die Heimkehr -dachte. Als er etwas über dreißig Jahre alt war und weder -zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch zu einer -Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein -Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt -in einer Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er -diese Stellung auf und begab sich nach England, um mehr -zu lernen und nicht einzurosten. Obwohl ihm England und -die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen hatte, nicht -sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an ein -Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte -und das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor -oder auf die ganze Welt ausdehnte. Und da ihn nichts -hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago, als Direktor eine -große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war bald in -Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie -an den früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr -den Gerbersauer an, und wenn er einmal Landsleute traf, -was alle paar Jahre vorkam, begrüßte und behandelte er -sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch ihm -in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig, -aber auch gar hochmütig und amerikanisch geworden.</p> - -<p>Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug -erspart zu haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde, -einem Deutschen aus Südrußland, in dessen Heimat und -tat dort in Bälde eine kleine Fabrik auf, die ihn ernährte -und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die Tochter seines -Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens unter -Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem -Sinn. Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er -ohne Kinder blieb, worüber seine Ehe an Frieden und Genüge -viel verlor. Dann starb die Frau, was ihm trotz allem -weh tat und den rüstigen, fast noch jünglinghaften Mann -etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen weiteren -Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern -und infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich -zu stocken. Als aber wiederum ein Jahr später auch noch -sein Freund und Schwiegervater starb und ihn ganz allein -ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und Seßhaftigkeit -des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder -Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen, -dessen Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt. -Es geschah, daß er die gesicherten politischen Zustände der -Heimat in Gedanken mit dem dortigen Skandal verglich, -daß er mit Unbehagen an das Altwerden und den Feierabend -zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen -und Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen. -Aus diesen Zeichen schloß August Schlotterbeck, daß er trotz -seiner guten Gesundheit und obwohl er kaum mehr als -fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr sei, und mit -dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging -ihm auch das des Weltbürgertums und der unbedingten -Freiheit verloren. Er dachte mehr und mehr daran, wie -er sich noch eines zufriedenen Alters versichern möchte, und -da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn hatten, andrerseits -der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren -Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und -Hoffnung des alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung -immer enger und begehrlicher um das Heimatland -und um das Städtlein Gerbersau, dessen er in Jahrzehnten -nur selten und ohne Rührung gedacht hatte.</p> - -<p>Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit -gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein -letztes Lebenszeichen ihm den Ruf großen Edelmutes und -Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein Vetter -von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen -mäßigen großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt -an ihn fiel. Die Sache war ihm mitgeteilt und er zu einer -Äußerung aufgefordert worden, da hatte er zu Gunsten -der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet. Seither -aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet -noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man -wußte zwar oder nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst -aber keinen Stoff zum Bereden an dem Entfernten, den -die jetzige junge Generation nicht mehr kannte, und so erlosch, -wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft, -sein Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im -selben Maße als er selber neuerdings sich in Gedanken -wieder der fernen Heimat näherte, und von seinen Jugendgenossen -erwartete keiner ihn wiederzusehen.</p> - -<p>Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten -ihm lästig und eines Tages faßte er mit -der Schnelligkeit und Ruhe seiner früheren Zeiten den -Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik aufzugeben -und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen. -Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er -den Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und -endlich des gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene -Vermögen vorläufig in süddeutschen Banken unter, brach -sein Zelt ab und reiste über Venedig und Wien nach -Deutschland.</p> - -<p>Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste -bayrische Bier seit vielen Jahren, aber erst als die Namen -der Städte heimatlicher zu tönen begannen und als die -Mundart der Mitreisenden immer deutlicher und schneller -nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine -starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe -mit Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den -Gesichtern der Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast -verwandtschaftlich anmutende Züge fand. Und endlich -fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen Windungen -talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung -zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein -am Fluß, zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden -lag ein starker Druck auf dem Herzen, wie er alles noch -stehen sah wie vor Zeiten, und unversehens fielen ihm -lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus der -Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte. -Das tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des -Flusses und des Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten -bedrückte ihn mit einer Art von Tadel, daß er das alles so -lang vernachlässigt und vergessen und aus dem Herzen verloren -hatte.</p> - -<p>Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende -Rührung nicht lange, und am Bahnhofe stieg -Herr Schlotterbeck aus und ergriff seine hübsche gelblederne -Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften unterwegs -ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher her -bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der -Station die Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen -Eindruck von Fortschritt und Entwickelung machte, und da -der eine auf seiner Mütze den Namen des alten Gasthauses -zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der Vergangenheit -her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und -ging allein zu Fuß stadteinwärts.</p> - -<p>Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch -gekleidete Fremde zog bei seinem langsamen Dahinschreiten -manche Blicke auf sich, ohne darauf zu achten. Er hatte die -alte, beobachtungsfrohe Reiselaune wieder gefunden und -betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne es mit -Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens -eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die -etwas veränderte Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen -grünem Spiegel wie sonst die Gänse schwammen und dem -wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten Rückseiten und -winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über -den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen -der Gegend zu, wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei -gewesen war. Da suchte er jedoch das hohe Giebelhaus -und den großen Grasgarten mit den Lohgruben vergebens. -Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz -überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er -sich ab und weiter, um den Marktplatz zu besuchen, den er -im alten Zustande fand, nur schien er kleiner geworden, -und auch das stattliche Rathaus war weniger ansehnlich, -als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die -Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht -mehr die von damals, sondern junge, die aber auch schon -wieder recht ehrwürdige Wipfel zur Schau trugen.</p> - -<p>Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen -und fand ohne Mühe den Weg zum Schwanen, wo er ein -gutes Essen verlangte und auf die erste Erkennungsszene -gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht -mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder -Gast behandelt, was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er -auch erst, daß seine Redeweise und Aussprache, die er in -allen den Jahren immer für gut schwäbisch und kaum verändert -gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und -von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde. -Es fiel auch auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies -und neuen verlangte, den er sich selber anmachte, und daß -er statt der süßen Mehlspeise, aus der in Gerbersau jedes -Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von dem er dann -einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen -zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um -ein wenig zu ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber -heftigst erstaunt. Ein Gast am Nebentisch, den diese -fremde Sitte aufregte, stand auf und wischte seinen Stuhl -mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz vergessen -abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen -Stiefel drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck -drehte aber nur den Kopf hinüber und schnell wieder -zurück, dann legte er die Hände zusammen und pflegte der -Verdauung.</p> - -<p>Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals -durch die ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die -Scheiben in manchen Laden und manche Werkstatt, um -zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von den ganz -Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren, -übrig wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen -Lehrer, bei dem er einstmals sein erstes Alphabet auf die -Tafel gemalt hatte, auf der Straße vorübergehen. Der -Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig sein und ging -alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch -noch deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen -erkennbar, noch leidlich aufrecht und zufrieden -einher. Schlotterbeck hatte Lust ihn anzusprechen, doch -hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem Sturm der -Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter, -ohne jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von -keinem erkannt, und brachte so diesen ganzen ersten Tag -in der Heimat als ein Fremder und Unbekannter zu.</p> - -<p>Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung -mangelte, sprach doch die Stadt selber desto -deutlicher und eindringlicher zu ihrem heimgekehrten Kinde. -Wohl gab es überall Veränderungen und Neues, das Angesicht -des Städtleins aber war nicht älter noch anders -geworden und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich -an, so daß es ihm wohl und geborgen zu Mute ward -und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen und Abenteuer -wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären -sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte -gemacht und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte -auch in der Ferne ein Weib genommen und verloren, sich -wohl gefühlt und Leid erfahren, allein zugehörig und daheim -war er doch nur hier, und während er für einen -Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde, -kam er sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen -Leuten, Gassen und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen -nicht ohne eine kleine Wehmut ab; denn statt nun -hier Haus und Arbeit, Familie und Nachkommen zu haben, -hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht und -weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten -befestigt und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht -Meister werden, hörte ihnen nur mit halber Billigung zu -und war im ganzen doch der Meinung, es sei nicht zu spät, -daß er heimkomme, und er habe noch ein hinreichendes -Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu -werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen.</p> - -<p>Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel. -Er fand, es sei auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen, -wenn auch mit Maß, und sowohl die Gasanstalt wie das -neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die Bevölkerung -schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen -hatte, recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt -einheimisch wie vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten -noch durchaus für Fremde gegolten hatten. -Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den -Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs -aus Eindringlingen war nur unter der Arbeiterschaft deutlich -zu spüren. Es mußte also das bürgerliche Leben von -einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es war zu -hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit -sich bald zurechtfinden und wieder heimisch -machen könne.</p> - -<p>Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen -Manne kam die Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der -Fremde durch Heimweh und Erinnerungslust unnütz verklärt -hatte, nun lieblich vor und atmete einen friedvoll -wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene -und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am -Abend in das Gasthaus zurückkehrte, war er in guter Stimmung -und bereute nicht, diese Reise getan zu haben. Er -nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben und abzuwarten, -und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich -am Ort niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig -oder im Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken -mit der Zeit eine neue, erfreuliche Tätigkeit beginnen. -Denn er glaubte doch schon jetzt zu spüren, daß ein -beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht -seine Sache sein werde.</p> - -<p>Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein -und doch von keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt -zu werden, tat ihm gar nicht weh, wenn es auch wunderlich -war, so wie in einer Maske zwischen lauter Schulfreunden, -Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen. -Er genoß es mit schlauer Freude und mit dem -Hintergedanken, daß er jetzt immer noch ohne alles Aufheben -wieder verschwinden könnte, wenn es ihm einfiele. -Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen -und Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte -die hiesige Art noch wohl genug, um sich das alles recht gut -vorausdenken zu können. Er hatte es damit nicht eilig, da -ja nach einer so langen Zeit auch von den ehemaligen Freunden -mehr Neugierde und freundliche Überraschung als -Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war.</p> - -<p>Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten -Weltfahrers nahm denn auch bald sein Ende. Nach dem -Abendessen brachte der Schwanenwirt seinem Gaste das -Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken unter -Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil -es unbedingt notwendig war, als weil er selber es satt -hatte, sich über Herkunft und Rang des Fremdlings den -Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das dicke Buch, -las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm -dann dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus -der Hand und schrieb mit kräftigen, deutlichen Buchstaben, -alle Fächlein gewissenhaft ausfüllend. Der Wirt sagte -Dank, streute Sand auf und entfernte sich mit dem Folianten -wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine -Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August – aus -Rußland – auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die -Herkunft und Geschichte des Mannes nicht kannte, so schien -der Name Schlotterbeck doch auf einen Gerbersauer hinzudeuten. -In die Gaststube zurückkehrend, fing der Wirt -mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch -an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum -der hiesigen Stadt, kam auf Straßenverbesserungen und -neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen, berührte die Stadtpolitik, -äußerte sich über die letztjährige Dividende der -Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem -Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr -nicht Verwandte am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck -gelassen, ja, er habe Verwandte hier und gedenke -etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte aber nach keinem -und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald versiegend -dahinschwankte und in sich selbst versank, und der -Wirt mit Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank -einen guten Wein mit Maß und Genuß, las unberührt von -den Gesprächen des Nachbartisches eine Zeitung und suchte -früh seine Schlafstube auf.</p> - -<p>Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die -Unterhaltung mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre -Wirkung, und während August Schlotterbeck ahnungslos -und zufrieden in dem guten, auf heimische Art geschichteten -Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im Vaterlande -tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft -manche Leute munter und gesprächig und einen sogar -schlaflos. Dieser war Augusts leiblicher Vetter und nächster -Verwandter, der Kaufmann Lukas Pfrommer an der -Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und hatte früher -als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen -Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau -eine bescheidene Werkstätte eröffnet und lange Zeit den -Schulkindern ihre ruinierten Fibeln wieder geflickt und der -Frau Amtsrichter halbjährlich die Gartenlaube eingebunden, -auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen eingerahmt, -vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben -und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien -graue und grüne Aktendeckel, Mappen und Kartonbände -geliefert. Dabei hatte er unmerklich etwas erspart -und hinter sich gebracht, jedenfalls keine Sorgen gehabt. -Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen Handwerker -hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft -angefangen, die größeren waren Fabrikanten -geworden. Da hatte auch Pfrommer die Vorderwand -seines Häusleins durchschlagen und ein Schaufenster eingesetzt, -sein Erspartes von der Bank genommen und einen -Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine -Frau den Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber -zu kurz kommen ließ, indessen der Mann weiter in seiner -Werkstatt schaffte. Doch war der Laden jetzt die Hauptsache, -wenigstens vor den Leuten, und wenn er nicht mehr -einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und -machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann -geworden. Mit der Zeit gewöhnte er sich an diese geachtete -und stattlichere Stellung, zeigte sich in den Straßen -nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im guten -Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und -konnte sich zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit -teurer als früher. Die Vorräte an unverkäuflich gewordenen -Neujahrskarten, Bildchen, Albumen, an abgelegenen -Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram -wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht -selten im Traume vor. Und seine Frau, eine geborene -Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die früher ein lustiges -und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte sich -durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie -später durch die Sorgen und Rechenkünste allmählich in -eine unruhige Sorgerin, der das seßhaft gewordene süße -Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene Gesicht -paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt -in seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten -Bürgerstandes, aber ihm selber war es in den bescheidenen -Handwerkszeiten, in die er doch jetzt nimmer zurückgekehrt -wäre, bedeutend wohler gewesen und besser gegangen -als in der neuen Pracht.</p> - -<p>Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend -gegen neun Uhr, als er mit der Zeitung bei der Lampe saß, -zu seiner großen Überraschung einen Besuch des Schwanenwirtes -erhalten. Er hatte ihn erstaunt empfangen, jener -aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt, -er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er -übrigens den Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur -selten habe sehen dürfen. Aber er sei der Meinung, unter -Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner Liebesdienst -selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in -allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein -fremder Herr logiere, mit wohlhabenden Manieren, der -sich Schlotterbeck schreibe und aus Rußland zu kommen -vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen und -hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die -schon im Bette war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut -gekeucht und sich sogar in aller Eile noch die Hände -gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem Wirte her -in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen -Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und -ihn in der Schlafstube aufzusuchen wagte er doch nicht, -denn er mußte sich sagen, wenn der Vetter extra seinetwegen -die große Reise getan hätte, so hätte er ihn wohl -schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb -enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um -dem Wirte eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung -einiger Stammgäste und hütete sich, etwas von dem -eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu verraten.</p> - -<p>Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern -und zum Kaffee heruntergekommen, als ein älterer Mann -von kleinem Wuchs, der offenbar schon eine gute Weile -bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte, sich -seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem -recht schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck -sagte guten Morgen und fuhr fort, sein Butterbrot mit -herrlichem Honig zu bestreichen; der Besucher aber blieb -stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie ein Redner, -ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als -ihn der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit -einem zweiten Kompliment an den Tisch heranzutreten -und mit seinen Eröffnungen zu beginnen.</p> - -<p>»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute -den Rußländer erwartungsvoll an.</p> - -<p>»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie -Buchbinder, wenn ich fragen darf?«</p> - -<p>»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse. -Sind Sie – –«</p> - -<p>Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und -suchte nicht länger hinterm Berg zu halten.</p> - -<p>»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast -du schon gefrühstückt?«</p> - -<p>»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte -dich kaum mehr gekannt.«</p> - -<p>Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die -Hand entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden -und Armbewegungen der Ergriffenheit am Tische Platz -nehmen.</p> - -<p>»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht, -daß wir dich einmal wiedersehen würden. Aus -Rußland! Ist es eine Geschäftsreise?«</p> - -<p>»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich -hergeführt?«</p> - -<p>Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon -er jedoch vorerst schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der -Vetter sei wieder im Land, und da habe er keine Ruhe mehr -gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn gesehen und begrüßt; -es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm -jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl? -Und was denn die liebe Familie mache?</p> - -<p>»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«</p> - -<p>Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?« -rief er mit tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts -gewußt und haben nicht einmal kondolieren können! -Meine herzliche Teilnahme, Vetter!«</p> - -<p>»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei -dir? Du bist Kaufmann geworden?«</p> - -<p>»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten -und womöglich was für die Kinder auf die Seite zu -tun. Ich führe auch recht gute Zigarren. – Und du? Was -macht die Fabrik?«</p> - -<p>»Die hab' ich aufgegeben.«</p> - -<p>»Im Ernst? Ja warum denn?«</p> - -<p>»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben -Hungersnot und Aufstände gehabt.«</p> - -<p>»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen -gewundert, daß du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen -hast. Schon dieser Despotismus, und dann die -Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft muß ja arg sein. -Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden gehalten, -du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort -wußte. Der Pobjedonoszeff – –«</p> - -<p>»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst -du sicher mehr als ich.«</p> - -<p>»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein -bißchen im Blatt, aber – – Nun, und was machst du -denn jetzt für Geschäfte? Hast du viel verloren?«</p> - -<p>»Ja, tüchtig.«</p> - -<p>»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben -hier ja keine Ahnung gehabt.«</p> - -<p>Schlotterbeck lächelte ein wenig.</p> - -<p>»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der -schlimmsten Zeit daran, mich vielleicht an euch hier zu -wenden. Nun, es ist schließlich auch so gegangen. Es wäre -auch dumm gewesen. Wer wird einem so entfernten Verwandten, -den man kaum mehr kennt, noch Geld in die -Pleite nachwerfen.«</p> - -<p>»Ja du mein Gott, – Pleite, sagst du?«</p> - -<p>»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich -fand dann anderwärts Hilfe ...«</p> - -<p>»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind -ja arme Teufel und brauchen unser bißchen nötig genug; -aber daß wir dich gerade hätten stecken lassen, nein, es ist -nicht recht von dir, daß du das hast meinen können.«</p> - -<p>»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner -Frau?«</p> - -<p>»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen, -ich soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst -doch?«</p> - -<p>»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit -für die Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit -nehmen und deine Frau einstweilen von mir grüßen.«</p> - -<p>Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut -mit einem Paketchen nach Hause, und da der Inhalt sich -als recht nobel erwies, nahm seine Meinung von des Vetters -Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war indessen -froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu -haben, und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen -und sich zu einem hiesigen Aufenthalt für unbestimmte -Zeit anzumelden.</p> - -<p>Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks -Heimkehr in der Stadt bekannt zu machen. Dies -geschah ohne sein Bemühen durch eine geheimnisvolle -drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt und Tritt -angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch -Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte -schon gar viel von ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen -in der Leute Mund schnell einen fürstlichen Umfang -an. Einige verwechselten beim Weiterberichten in -der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der -Türkei, nur das mit unbekannten Geschäften erworbene -Vermögen blieb ein fester Glaubenssatz, und in den nächsten -Tagen wimmelte es in Gerbersau von Lesarten, die -zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen -den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler -je nach Temperament und Phantasie der Erzähler -auf und nieder spielten. Man erinnerte sich des -längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck und -der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche, -die ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden -noch im Gedächtnis hatten, und eine verstorbene -Fabrikantenfrau wurde zu seiner unglücklichen Jugendliebe -ernannt.</p> - -<p>Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von -diesen Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem -Vetter zu Tisch geladen war, hatte ihn vor dessen Frau -und Kindern ein unüberwindliches Grauen erfaßt, so übel -maskiert war ihm die Spekulation auf den Erbvetter entgegengetreten. -Er hatte um des Friedens willen dem Verwandten, -der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges -Darlehn gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg -geworden und hatte sich für weitere Einladungen einstweilen -im voraus freundlich bedankt. Die Frau war enttäuscht -und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von -dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet.</p> - -<p>Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen. -Dann fand er ein Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb -der Stadt gegen die Wälder hin eine neue Straße -entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger Steinbrüche, -die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister, -der in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen -Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch -für wenige Kreuzer käuflichen Boden am Beginn des neuen -Weges einstweilen drei hübsche kleine Häuschen gebaut, -weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute von hier -aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören, -was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts -den Fluß durch die Wiesen laufen und gegenüber -die roten Felsenhöhen hängen, und rückwärts hatte man -in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei hübschen -Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines -hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher -gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser -aber der Vollendung entgegenrückte und nur noch wenige -Handwerker darin zu tun hatten, ging es hier oben recht -still und friedevoll zu. Denn auch der Gerichtsvollzieher, -übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war schon -nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen -und war einem alten Leiden, das er bis dahin manche -Jahrzehnte lang mit Arbeit und Humor überwunden hatte, -nach kurzer Zeit erlegen. In dem Häuschen saß nun ganz -allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe des Gerichtsvollziehers, -ein recht frisches und sauberes Frauchen, -von welcher noch zu reden sein wird.</p> - -<p>In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem -Witwensitz und dem Neubau entfernt lag, richtete nun -Schlotterbeck sich ein. Er mietete den unteren Stock, der -drei Zimmer und eine Küche enthielt, und da er keine Lust -hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger Einsamkeit -einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische, -Stühle, Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen -Aufwartung eine Frau, die zweimal des Tages kam. -Den Kaffee kochte er sich am Morgen, wie früher in langen -Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags und -abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm -eine Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer -aus Rußland ein, deren Inhalt die leeren Wandschränke -füllte. Täglich erhielt und las er einige Zeitungen, darunter -zwei ausländische, auch ein lebhafter Briefwechsel -kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der -Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten, -teils bei den Geschäftsleuten, namentlich in den -Fabriken. Denn er suchte ohne Hast, doch aufmerksam nach -einer bequemen und vorteilhaften Gelegenheit, sich mit -Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen zu -beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen -Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung. -Er wurde da und dort eingeladen, auch zu den -geselligen Vereinen und an die Stammtische der Honoratioren. -Freundlich und mit den Manieren eines gereisten -Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne -sich fest zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel -Kritik hinter seinem Rücken an ihm geübt wurde.</p> - -<p>August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes -in einer Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte -zwar ein klein wenig über seinen Landsleuten zu stehen, -lebte aber doch in dem Gefühl, ein Gerbersauer zu sein -und in allem Wesentlichen recht wieder an den alten Ort -zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte -nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken -und Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach. -Diese empfanden das desto besser, und wenn auch -Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines Geldbeutels -eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen -gar viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört -hätte. Manches, was er ahnungslos in alter Gewohnheit -tat, erregte hier Kritik und Mißfallen, man fand seine -Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd, seine Anschauungen -amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen -mit jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit -seiner Aufwärterin wenig anders als mit dem Stadtschultheißen, -er ließ sich zu Tisch laden, ohne innerhalb -sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten, er machte -zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber -Dinge, die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen, -auch in Familien in Gegenwart der Damen harmlos heraus. -Namentlich in den Beamtenkreisen, die in der Stadt -wie billig zuoberst standen und den feinen Ton angaben, -in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister, -machte er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich -geschonte und behütete Welt amtlicher Machthaber -und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger Hochachtung -und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf -den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause -sitzt, hatte an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude, -um so mehr da sie von seinem sagenhaften Reichtum doch -keinen Vorteil zu ziehen hoffen konnte. Und in Amerika -hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte einfach für -Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre -Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme, -gefürchtete Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld -etwas vermochte. Da war es schwer für ihn, dem niemand -Anweisungen gab, die Heiligkeit der Titel und die -ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu begreifen, -am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht -mit Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr -überall den rechten Ton zu treffen. Als Fremder -kannte er auch die verwickelten Familiengeschichten nicht -und es konnte gelegentlich ohne seine Schuld passieren, -daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete. Da -sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit -und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten -seiner Verfehlungen zu säuberlich gebuchten und kontrollierten -Sümmchen an, von denen er keine Ahnung hatte, -und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch andere -Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen -beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand, -dessen Stiefel ihm gefielen, ohne lange Einleitungen -nach ihrem Preise fragen. Und eine Advokatenfrau, die -zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren -dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke -Zeigefinger fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit -Kunst und Eifer zu verbergen suchte, wurde von ihm mit -aufrichtigem Mitleid gefragt, wann und wo sie denn ihres -Fingers verlustig geworden sei. Der Mann, der Jahrzehnte -in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt -und seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen, -daß man einen Amtsrichter nicht fragen darf, was seine -Hosen kosten. Er hatte wohl gelernt, im Gespräch mit -jedermann höflich und vorsichtig zu sein, er wußte, daß -manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube verzehren, -daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken -es vermeidet, sich zu einer allein wahren Religion zu -bekennen; aber daß mitten in Europa es große Gesellschaftskreise -und Stände gab, in welchen es für roh gilt, von Leben -und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit freiweg -zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer -unbekannt geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen -legen nach Belieben, aber von niemand geradezu sagen -darf, man könne ihn nicht ausstehen, das war nebst mancher -andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch -in Rußland beigebracht worden.</p> - -<p>Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit -ihm zufrieden sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen -machte, viel weniger als sie an ihn. Er ward zu allerlei -guten Zwecken um Beiträge angegangen und gab sie -jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst -und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man -auch hier nur halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten -erwartet, wo er Silber und Nickel gab. Zum Glück -erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und lebte eine -gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier -Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann -zu sein.</p> - -<p>Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere -Male, kam Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause -der Frau Entriß vorbei, der Witwe des Gerichtsvollziehers, -die hier in Gesellschaft einer schweigsamen und -etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte.</p> - -<p>Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene -Witwe hätte im Genuß ihrer Freiheit und eines -kleinen Vermögens ganz angenehme und unterhaltsame -Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl -ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf -ihrer Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte -aus dem Badischen, und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht -für ihren in der Stadt wohlbeliebten Mann, freundlich -und erwartungsvoll aufgenommen. Doch hatte mit -der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet, -dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit -war. Daraus machte das Gerede einen giftigen Geiz, -und da man einmal kein Gefallen an der Frau gefunden -hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere und sie -wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin, -sondern auch als Hausdrache verrufen. Der -Gerichtsvollzieher selber war nun nicht der Mann, der -über die eigene Frau schlecht gesprochen hätte, aber immerhin -blieb es nicht verborgen, daß der heitere und gesellige -Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei -der Frau als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen -Biersitzungen suchte. Nicht daß er ein Trinker geworden -wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter der angesehenen -Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er -sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen -und auch tagsüber zwischenein gelegentlich -einen Schoppen zu nehmen. Trotz seiner schlechten Gesundheit -setzte er dieses Leben so lange fort, bis ihm vom -Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein -anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner -bedürftigen Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner -Pensionierung eher schlimmer gegangen, und jetzt war -alles darüber einig, daß die Frau ihm das Haus verleidet -und von Anfang an den Untergang des braven Mannes -verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine -Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der -Schwägerin sitzen und fand weder Frauentrost noch männliche -Beschützer, obwohl außer dem schuldenfreien Haus -auch noch einiges Vermögen vorhanden war.</p> - -<p>Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit -nicht unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat, -Bankbüchlein und Garten in bester Ordnung und hatte -damit genug zu tun, denn die Schwägerin litt an einer -leisen Verdunkelung des Verstandes und tat nichts anderes -als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln, -Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten -Bilderalbums vertreiben. Die Gerbersauer, damit das -Gerede über die Frau auch nach des Mannes Tode nicht -aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das arme Wesen -zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die -Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit -angehalten, schlafe in einem nie gereinigten und gelüfteten -Verschlag, Hitze und Kälte ausgesetzt, und werde das alles -sicherlich nimmer lange aushalten, was ja auch im Interesse -der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese Gerüchte -immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts -wegen etwas getan werden, und eines Tages erschien im -Haus der erstaunten Frau der Stadtschultheiß mit dem -Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende Worte über die -Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne -und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der -Drohung, wenn nicht alles einwandfrei befunden werde, -müsse die Gestörte in einem staatlichen Krankenhause versorgt -werden, natürlich auf Kosten der Frau Entriß. Diese -verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge nur alles -untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich, -wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme, -müsse er aus einer andern Quelle kommen, und wenn man -die Kranke anderwärts versorgen wolle, könne es ihr nur -lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der Stadt geschehen -und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser haben -werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke -keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war -und bei der wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo -leben möchte, wo sie es sehr gut haben werde, furchtbar -erschrak und flehentlich sich an ihrer Schwägerin festhielt. -Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und ohne -alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß -verlegen wieder fort.</p> - -<p>Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man -darüber verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter -und Lebensführung einer schutzlosen Frau zu tadeln. -Daß sie sparsam war, steht fest. Sie hatte nicht nur vor -dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem noch so -kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter -schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas -wegzuwerfen oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde, -das ihr Mann seinerzeit in die Wirtshäuser getragen hatte, -tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid wie ein unsühnbares -Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die Eintracht -ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte -sie, was der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung -im Hause und durch fleißige Arbeit einigermaßen -einzubringen gesucht. Und nun, da er gestorben und damit -das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war, da -kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause -ging und ein Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen -werden konnte, erlebte die gute Haushalterin ein spätes, -ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß sie sich irgendetwas -über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher mehr -als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und -sich langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille -Zufriedenheit, die sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen -war.</p> - -<p>Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand -Frau Entriß, wenn sie irgend etwas Wertloses zu Wert -bringen, etwas finden oder erobern konnte, etwas Weggeworfenes -doch noch brauchen und etwas Verachtetes -verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf -den baren Nutzen gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken -und Begehren den engen Kreis des Notwendigen und erhob -sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die Frau Gerichtsvollzieher -war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt, -sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben, -nur durfte das niemals einen Pfennig bares Geld kosten. -So war ihre Kleidung äußerst bescheiden, aber sauber und -nett, und seit sie mit dem Häuslein auch ein kleines Stück -Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und Erfreulichem -ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine -eifrige Gärtnerin.</p> - -<p>Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin -vorüberschritt, schaute er jedesmal mit Freude und einem -leisen Neid in die kleine bescheidene Gartenpracht der stillen -Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete waren appetitlich von -Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber auch mit -Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und -Reseden schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames -Glück zu verkünden.</p> - -<p>Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und -in dem hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen -solchen Wuchs zu erzielen. Hier hatte Frau Entrißens -Leidenschaft Wunder getan, und tat sie noch immer. Sie -brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze -Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren -der schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem -Schäufelein den goldeswerten Dung, den die Pferde -und ihre Herren achtlos liegen ließen. Hinterm Hause tat -sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale sorgsam auf den -Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung -das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte. -Sie brachte aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge -von Maiblumen und Schneeglöckchen mit, und den -Winter hindurch zog sie im Zimmer und Keller ihre Ableger -mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles -Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt -verborgen duftet, eine Freude am Nützen des Brachliegenden -und Verwenden des umsonst zu Habenden, und vielleicht -unbewußt auch ein still glimmender Rest unbefriedigter -Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen Gartenmutter.</p> - -<p>Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr -Schlotterbeck täglich mehrmals anerkennende Blicke in die -von jedem Unkraut reinen Beete und Wegchen, labte seine -Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten -Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn -ein leichter Wind ging und ihm beim Weitergehen eine -Handvoll süßen Gartenduftes nachwehte, freute er sich -dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer zunehmenden -Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen -er ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht -eben leicht mache, und sich einigermaßen vereinsamt und -betrogen vorkam.</p> - -<p>Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin -erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen -Gerichtsvollziehers und viel arge Urteile über seine Witwe -zu hören, so daß er nun eine Zeitlang das friedevolle Haus -im Garten mit einem traurigen Erstaunen darüber betrachtete, -daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz -einer so verworfenen Seele sein müsse.</p> - -<p>Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal -hinter ihrem niederen Zaune sah und anredete. Bisher -war sie stets, wenn sie ihn von weitem daherkommen sah, -still ins Haus entwichen. Diesmal hatte sie ihn, über ein -Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören, und -nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand -und sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider -ihren Willen, den Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig, -sondern fragte sie: »Schon fleißig, Frau Nachbarin?«</p> - -<p>»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort: -»Was Sie für einen schönen Garten haben!«</p> - -<p>Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die -schon wieder an ihren Gräslein zupfte, verwundert an. -Er hatte sie sich, jenem Gerede nach, mehr furienmäßig -vorgestellt, und nun war sie zu seinem angenehmen Erstaunen -recht ordentlich und gefällig von Gestalt, das Gesicht -ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne -Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche -Erscheinung.</p> - -<p>»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich. -»Adieu, Frau Nachbarin.«</p> - -<p>Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah -ihm drei, vier Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig -in ihrer Arbeit fort, ohne sich über den Nachbar Gedanken -zu machen. Dieser aber dachte noch eine Weile an -sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches -Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu -beobachten. Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger -Mann sah er bald aus vielen kleinen Zügen ein Bild -zusammen, das keinem Engel gleichsah, aber auch nicht -zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen wollten. -Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt -still und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte, -er sah sie den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen, -stellte fest, daß sie keine Besuche empfing, und belauschte -das kleine, einsame Leben der fleißigen Frau mit -Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen, -abendlichen Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr -verschrien war, blieben ihm nicht verborgen. Doch fiel es -ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn er auch darüber -lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden, aber -ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß -soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet -werde. Zum erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall -stutzig geworden, dem Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen -und manches faul zu finden, was er bisher gläubig -hingenommen hatte.</p> - -<p>Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder -und wechselte ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt -mit ihrem Namen an, und auch sie wußte ja, wer er sei, und -sagte Herr Schlotterbeck zu ihm. Er wartete gern mit dem -Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging dann nicht -vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und -Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen, -ehrlichen und recht gescheiten Antworten zu freuen.</p> - -<p>Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler -auf die Frau zu sprechen. Er erzählte, wie der saubere -Garten ihm aufgefallen sei, wie er die Frau in ihrem stillen -Leben beobachtet habe und nicht begreifen könne, daß sie -in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu, dann -meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt. -Ein Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber -Kamerad, und so gut wie ein Kind! Und den hat sie einfach -auf dem Gewissen.«</p> - -<p>»An was ist er denn gestorben?«</p> - -<p>»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang -gehabt und ist fidel dabei gewesen. Dann nach seiner -Pensionierung, statt daß ihm die Frau es jetzt nett und -freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz hausscheu geworden. -Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen, -weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen -leichtsinnig mag er ja von Natur gewesen sein, aber daß -er am Ende gar zuviel geschöppelt hat, daran ist allein sie -schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie. Da hat sie -zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes -Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig -so behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum -bekümmern und sie kontrollieren mußte.«</p> - -<p>Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt -gewesen. Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache -ward ihm überall bestätigt, wo er darum anklopfte. Es -schien ihm wunderlich und wollte ihm leid tun, daß er sich -in der Frau so hatte täuschen können. Aber so oft er sie -wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand aller -Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und -ging zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren. -Er wurde mit Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch -seine Frage vorbrachte, wie es denn mit der Frau Entriß -und ihrer Schwägerin stehe, ob sie wirklich im Verdacht der -Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da meinte der Stadtschultheiß -abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich für Ihre -Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese -Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie -können es uns ruhig überlassen, daß wir zum Rechten sehen. -Oder haben Sie eine Beschwerde vorzubringen?«</p> - -<p>Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es -in Amerika manchmal hatte sein müssen. Er ging leise -und machte die Türe zu, setzte sich dann wieder und sagte: -»Herr Stadtschultheiß, Sie wissen, wie über die Frau Entriß -geredet wird, und da Sie selber bei ihr waren, müssen -Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine -Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch. -Oder nicht? – Also. Warum dulden Sie das?«</p> - -<p>Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell -wieder gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber -Herr, ich habe wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen -Sachen zu befassen. Es kann sein, daß da und dort -der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht recht ist, aber -dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.«</p> - -<p>»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben -mir also die Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens -in guter Behandlung ist?«</p> - -<p>»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich -Ihnen raten darf, lassen Sie die Finger davon! Sie kennen -die Leute hier nicht und machen sich bloß mißliebig, -wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.«</p> - -<p>»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen. -Aber einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau -reden höre, werde ich ihn einen Ehrabschneider heißen -und mich dabei auf Ihr Zeugnis berufen.«</p> - -<p>»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch -nichts, und Sie haben nur Verdruß davon. Ich warne -Sie, weil es mir leid täte, wenn –«</p> - -<p>»Ja, ich danke schön.«</p> - -<p>Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck -von seinem Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es -hatte sich herumgeredet, daß er ein merkwürdiges Interesse -für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer war -von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter -möchte auf seine alten Tage noch Torheiten machen. -Wenn es zum Schlimmsten käme und er die Frau heiratete, -würden seine Kinder von den ganzen Millionen keinen -Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen -Vetter von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam -auf die Nachbarschaft zu sprechen und ließ vermuten, -er wisse viel über die Frau Entriß zu erzählen, falls es den -Vetter interessiere. Der winkte jedoch gleichmütig ab, -bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und -ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht -kommen.</p> - -<p>Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin -im Garten erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal -hatte er ein langes, vertrauliches Gespräch mit ihr, worin -er auf sein einsames Leben hinwies und ihre freundlich-tröstliche -Nachbarschaft dankbar rühmte. Sie ging klug -und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns ungewohnt -und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie -ihm schien, auch Anmut.</p> - -<p>Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an -täglich, immer über den Staketenzaun hinweg, denn seine -Bitte, ihn auch einmal im Garten selber oder gar im Hause -zu empfangen, lehnte sie mit stiller Entschiedenheit ab.</p> - -<p>»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide -keine jungen Leute mehr, aber die Gerbersauer haben -immer gern was zu plappern und es wäre schnell ein dummes -Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel angeschrieben, -und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen -Sie.«</p> - -<p>Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins, -und seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten -hatte schon bedeutend nachgelassen. Er begann zu -merken, daß er hier doch fremd sei und daß Höflichkeit, -Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem -Namen und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten -Mitbürger, sondern eben seinem Geldsack galt. -Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit überschätzte, -und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters -Pfrommer und anderer Angelkünstler machte ihm einen -gewissen Spaß, aber für die beginnende Enttäuschung -konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte den Wunsch, -sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder -zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist -und hätte nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft -gekostet, wovor ihm nicht bange war. Es hielt -ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß er spürte, er -werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein -Stücklein von sich hängen zu lassen.</p> - -<p>Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem -kleinen, weiß und braunen Nachbarhaus vorüber. Das -Schicksal der Frau Entriß war ihm jetzt nimmer so dunkel, -da er sie besser kannte und sie ihm auch manches erzählt -hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen Gerichtsvollzieher -jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die -Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im -Grunde genommen ein Windbeutel gewesen sein mußte, -daß er es nicht verstanden hatte, unter der Herbe und -Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und -ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt, -daß sie neben einem verständigen Manne, vollends in -reichlichen Verhältnissen, eine Perle abgeben müßte. Ihr -Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung zur Leidenschaft -ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war -auch eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor -jedem Werte besaß, um ihn auch ohne eigenen Vorteil -möglichst zu retten und zu bewahren.</p> - -<p>Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr -bekam, worin freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen -halfen, desto besser begriff er, daß sie in Gerbersau -unmöglich verstanden werden konnte. Denn auch der -Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher geworden, -wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte -er, daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht -mehr habe und hier ebensowenig gedeihen und sich entfalten -könne wie die Frau Entriß. Diese Gedanken waren, -ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu seinem -stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und -Versuch, sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar -und unsterblich zu machen.</p> - -<p>Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten -der Witwe duftete mitten in der sandigen und glühenden -Umgebung triumphierend weit über seinen niederen Zaun -hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom nahen -Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten -und aus dem Tale in der Stille nach dem Schluß der -Fabriken der Fluß leise herauf rauschte. An einem solchen -Abend kam August Schlotterbeck zu Frau Entriß und -trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch in -die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete -und die Hausfrau ihn verwundert und fast ein -wenig ungehalten ansprach. Er erklärte aber, heute durchaus -hereinkommen zu müssen, und ward denn von ihr -in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings -etwas kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig -fand. Die Frau legte schnell ihre Schürze ab, setzte -sich auf einen Stuhl beim Fenster und hieß auch ihn sich -setzen.</p> - -<p>Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an. -Er erzählte sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht -ausgenommen, mit einfacher Trockenheit, schilderte dann -etwas wärmer seine Heimkehr nach Gerbersau, seine erste -Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an manche Gespräche, -in denen sie einander so gut verstanden hätten. -Und nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie -sei nicht gar zu sehr überrascht.</p> - -<p>»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich -bin kein Millionär, wie die Leute hier herumreden, aber -so ungefähr eine viertel Million oder etwas drüber wird -schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien beide noch -zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht -zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie -Sie schon allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden, -statt noch einmal anzufangen und vielleicht hereinzubringen, -was früher am rechten Glück gefehlt hat?«</p> - -<p>Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien -liegen und hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich -warm und lebhaft wurde und wiederholt seine rechte -Hand ausstreckte, als fordere er sie auf, sie zu nehmen und -festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie saß ganz -still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken -zu erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit -und Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden -Leute saßen einander nahe gegenüber, er von seinem -Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie aber -von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten -Ehrung leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide -Gesichter glühte mit feiner Abschiedsröte die tiefstehende -Sonne durch das offene Fenster. Da sie weder Antwort -gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle aufsah, fuhr -Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und -hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden -könnte, wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem -andern, neuen Ort ohne unliebe Erinnerungen sich ein -friedlich fleißiges Leben führen ließe, bescheiden und doch -etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren Garten -und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich -zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick -besänftigt und von dem rotgelben, innigen Abendscheine -leicht und wohlig geblendet, recht milde mit halber -Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte und -ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und -schwieg, von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele -leicht gelähmt. Es ward ihr nicht völlig bewußt, daß das -eine Werbung und eine Entscheidung für ihr Leben bedeute, -auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch -Qual, denn sie war durchaus entschieden und dachte keine -Sekunde daran, das für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten -gingen so gleitend und leicht und wie von einer Musik -getragen, daß sie benommen lauschte und keines Entschlusses -fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu -schütteln oder aufzustehen.</p> - -<p>Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie -fragend an und sah sie unverändert mit niedergeschlagenen -Augen und fein geröteten Wangen verharren, als schaue -sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche einer seltenen -Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die -sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig -wie ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er -schon an einem kleinen goldenen Faden zu halten meinte. -Ihre Bewegung verstand er nicht, denn er deutete sie zu -seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben hingenommenen -und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die -merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden -Flügeln durch das abendhelle Stüblein und durch sein -Gemüt reisen.</p> - -<p>Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so -halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur -Minuten, denn die Sonne stand noch immer nah am Rande -der jenseitigen Berge, als sie aus dieser Stille jäh erweckt -wurden.</p> - -<p>Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten -und war, schon durch den ungewohnten Besuch -in Aufregung und einige Angst geraten, bei dem langen, -leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden von argen -Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es -schien ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen -und allmählich ergriff sie, die nur an sich selber zu denken -vermochte, eine wachsende Furcht, der fremde Mann möchte -gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine stille, argwöhnische -Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches -der Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts -noch so Geringes im Hause vorfallen, ohne daß die arme -Jungfer mit Entsetzen an eine gewaltsame Hinwegführung -und Einsperrung an einem unbekannten fernen Orte -denken mußte.</p> - -<p>Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer -abnehmenden Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte, -gewaltsam schluchzend und in Verzweiflung aufgelöst in -die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer Schwägerin nieder -und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem -Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die -Frau Entriß plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen -alles wieder mit nüchternem Verstande wahrnahm und -sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte.</p> - -<p>Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor, -fuhr ihr mit tröstender Hand übers Haar und redete halblaut -und eintönig auf sie ein wie auf ein heulendes Kind.</p> - -<p>»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst -jetzt nicht mehr? Komm, Kindelchen, komm, wir sind -vergnügt und kriegen was Gutes zum Nachtessen. Hast -gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es -nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben, -kein Mensch darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein, -nimmer weinen!«</p> - -<p>August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit -Rührung zu, die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit -einem kindlichen Genuß, wiegte den Kopf hin und wider, -klagte mit abnehmender Stimme und verzog ihr verzweifeltes -Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen -unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln. -Doch kam sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr -als entbehrlich vor, er hustete darum ein wenig und sagte: -»Das tut mir leid, Frau Entriß, hoffentlich geht es gut -vorbei. Ich werde so frei sein und morgen wiederkommen, -wenn ich darf.«</p> - -<p>Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz, -wie er um sie geworben und sie ihm zugehört und es -geduldet habe, ohne daß sie doch willens war, ihn zu erhören. -Sie erstaunte über sich selber, es konnte ja aussehen, -als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht fortgehen -und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie -ein, und sie sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber. -Wir müssen noch reden.« Ihre Stimme war ruhig -und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte der Sonne und -die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre -Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen -bangen Glanz von Trauer auf den Werber, der mit dem -Hute in den Händen wieder niedersaß und nicht begriff, -wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme gekommen -sei.</p> - -<p>Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und -kehrte an ihren vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie -im Zimmer lassen,« sagte sie leise, »sonst wird sie wieder -unruhig und macht Dummheiten. – Ich habe Sie vorher -reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum, -ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie -es nicht falsch gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein -fester Entschluß, mich nicht mehr zu verändern. Ich bin -fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß reichlich -fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute -nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar -gut und dankbar bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen, -können wir es weiter so haben. Aber damit wollen wir -zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden haben.«</p> - -<p>Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an. -Unter Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen -und ihr recht geben. Allein der Glanz, den sie vor -einer Viertelstunde im Gesicht gehabt hatte, war ihm noch -wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im Gedächtnis -und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der -Glanz nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel -im Herzen seiner Wege gegangen; so aber schien ihm, er -habe das Glück schon wie einen zutraulichen Vogel auf -dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick des -Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe -gehabt, läßt man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine -neue Gelegenheit zum Fang entrinnen. Außerdem, und -trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem sie schon so -fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie -jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war -es seine Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche -Vernunftheirat zu betreiben, nun aber hatte die stille -Weichheit dieser Abendstunde ihn vollends wahrhaft verliebt -gemacht, so daß jetzt an ein einfaches, freundlich -kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war.</p> - -<p>»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind -jetzt erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag -zu sehr überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig -gesagt und mich zu sehr an das Praktische und Geschäftliche -der Sache gehalten, wenn es auch nicht so gemeint war. -Ich will darum nur sagen, daß mein Herz es ernst meint -und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch Gründe -dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es -steht mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer -zu lassen. Ich habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande -Widerstand leisten, kann ich mich nicht zufrieden -geben wie ein Handelsmann, den man um ein Haus weiterschickt. -Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg weiterzuführen -und Sie nach meinen Kräften zu belagern, -damit es sich zeigt, wer der Stärkere ist.«</p> - -<p>Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang, -wenn auch nicht überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft -in ihr Frauengemüt und tat ihr im Innern wohl wie -ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es auch nicht -wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln -Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den -Angriff abzuwehren und ihre liebgewordene Freiheit zu -behalten.</p> - -<p>Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar! -Die Männer bleiben eben länger jung als unsereine, und -es tut mir leid, daß Sie mit meinem Bescheide nicht zufrieden -sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal -nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder -jung machen und verliebt tun, es käme nicht von Herzen. -Auch ist mir mein Leben, so wie es jetzt ist, lieb und gewohnt -geworden, ich habe meine Freiheit und keine Sorgen. -Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin, -die mich braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab' -ich ihr versprochen und will dabei bleiben. – Aber was -rede ich lang, wo nichts zu sagen ist! Ich will nicht und -ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir meinen, so -lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit -Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen -und würde kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn -Sie wollen, so vergessen wir das heutige und bleiben gute -Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer sehen.«</p> - -<p>Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch -nicht, sondern ging in erregten Gedanken, als wäre er im -eigenen Hause, heftig auf und ab, um einen Weg aus dieser -Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu, ein wenig belustigt, -ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es -ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht -töricht, Herr Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen, -und für Sie wird es auch Zeit sein.«</p> - -<p>Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er -nahm seinen Hut, den er in der Aufregung weggelegt -hatte, manierlich in die linke Hand, verbeugte sich und sagte -mit einem schwachen, etwas mißlungenen Lächeln: »Gut, -ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen -Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und -werde Sie eine Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen -mich nicht für gewalttätig halten. Aber ich komme wieder, -sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich bitte um nichts, -als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal in -Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort -geben, ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird. -Ich reise fort, das hatte ich ohnehin im Sinn, und Sie werden -also alle Ruhe vor mir haben. Und wenn ich wiederkomme, -ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie -dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein -und werde dann Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien. -Sie sind das Einzige, was mich noch in Gerbersau -halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und auf Wiedersehen!«</p> - -<p>Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab -aber in freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen -Sie schon, sie wird nicht anders werden. Damit Sie -meinen guten Willen sehen, will ich Ihren Vorschlag gelten -lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen, sehen -Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen, -und bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute -Reise!«</p> - -<p>»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den -Türgriff in die Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück, -den nur die Schwägerin erwiderte, und trat unbegleitet -aus dem Hause in die noch lichte Dämmerung. -Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende -Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit -zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich -für immer zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau. -Dieser Entschluß tat ihm in seinem übrigen schwebenden -und abhängigen Zustande wohl, als ein Ausblick auf selbständigere -und gesichertere Zeiten, nach denen ihn sehnlich -verlangte.</p> - -<p>Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung -hinüber, nicht ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen -zurückzuschauen, das mit geschlossener Tür und -Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte Sommernacht -erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch -eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend -in einem sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen. -Bei ihrem Anblick fühlte der Mann noch einmal -die feine, innig glühende Erregung der vergangenen Stunde -vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten Kopf zu -den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat -er sein einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen -in der Stadt, aß nur ein halbes Pfund Kirschen, die er -morgens gekauft hatte, und fing noch am selben Abend an, -sich für die Reise zu rüsten.</p> - -<p>Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab -die Schlüssel seiner Aufwärterin und den Koffer einem -Dienstmann, seufzte befreit und ging davon, in die Stadt -hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im Vorbeigehen einen -Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß zu -wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger -begleitet, elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte -ihm von Herzen gute Erholung.</p> - -<p>Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes -Leben glitt wieder in die vorige Einsamkeit -zurück, es kam niemand zu ihr und es schaute niemand mehr -über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt wußte man -genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer -geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die -natürlich keinen Tag verborgen blieb. Sie kümmerte sich -nach ihrer Art um das alles nicht, sondern ging ruhig ihren -Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr leid, daß -es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie -hatte ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit -mit Bedauern gestört. Doch war sie sich keiner Schuld -bewußt und in langen Jahren an das Alleinleben so gewöhnt, -daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen Kummer -machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden -Beeten, goß am Morgen und Abend, erntete das -Beerenobst, machte ein und tat mit zufriedener Emsigkeit -die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr die -Schwägerin unverhofft zu schaffen.</p> - -<p>Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien -aber seither noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst -zu kämpfen, welche eine Art von Verfolgungswahnsinn -war und in einem mißtrauischen Träumen von Entführung -und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der -ungewöhnlich viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht -gut, und schließlich konnte Frau Entriß kaum mehr auf eine -halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da die Kranke das -Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte -sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin -sicher und umgab die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen -und scheuen Blicken einer grundlosen Furcht. Am -Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke in neues -Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung -wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder -ein Grund, von erneuter Mißhandlung und behördlicher -Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun in Verbindung -mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu -einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet.</p> - -<p>Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren, -wo es ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde, -so daß er, auch von einiger innerer Unrast geplagt, bald -wieder aufpackte und weiterfuhr, diesmal nach Freudenstadt, -das ihm von jungen Zeiten her bekannt war. Dort -gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines schwäbischen -Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und -über technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung -reden konnte. Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß -und gleich ihm selber weit in der Welt herumgekommen -war, machte er täglich lange Spaziergänge in den kühlen -Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder -das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner -Landschaft und Waldnähe marschieren und in hübschen -Ortschaften und guten Gasthäusern sich ausruhen kann. -Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine Lederwarenfabrik -von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund -fragte ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei, -seine Erholungstage in so angenehmen und vertrauten -Gesprächen hinbringen zu können. Es entstand zwischen -den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit und -gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in -der Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem -eine Bekanntschaft mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier -erstaunlich war. So währte es nicht lange, bis er -dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage genauer mitteilte, -und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter -Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden -werden.</p> - -<p>Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich, -er vergaß sogar für halbe Tage seinen schwebenden -Handel mit der Witwe in Gerbersau, von dem er Herrn -Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen. Den alten -Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit -einem gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige -neue Unternehmungen nicht wenig, und die Bedürfnisse -seines Herzens zogen sich, da er ihnen nie allzuvielen -Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück. Nur wenn er -allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn -das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder -warm. Doch auch dann schien ihm die Angelegenheit -nicht mehr gar so verzweifelt und gewichtig. Er dachte an -jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und fand schließlich, -sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein, daß -der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen -Teil an seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien. -Nicht daß er nun kalt und untreu geworden wäre, das lag -nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie zu vermuten war, -es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde, schien -ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen -nicht unerträglich.</p> - -<p>Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von -Herrn Trefz eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und -seinen Betrieb anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort -von geschäftlichen Beziehungen die Rede gewesen, doch -wußten beide, wie es stand und daß der Besuch sehr wohl zu -einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts führen -könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem -Freunde die Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne.</p> - -<p>»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen -wir dann, falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.«</p> - -<p>Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen, -dem er nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt -zugesehen hatte. Er sah Arbeit und Sorge, Gewinn -und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und -mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute -er sich jetzt auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines -Arbeiters und Unternehmers, auf Einrichtungen und -Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf Telegramme, -Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger -des Geldes wegen, dessen er für den Bedarf seines Alters -genug besaß, als aus Freude an Umtrieb und Wagnis, -aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem Welthandel -und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich -stieg er an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne -heut ein einziges Mal an seine Witwe gedacht zu haben.</p> - -<p>Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe -und seinen Beistand wohl hätte brauchen können. Die -Schwägerin war unter der Beobachtung des Oberamtsarztes -noch scheuer und unheimlicher geworden und machte -das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem -sie bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend -die Treppen auf und ab stieg und durch die Stuben -wanderte, bald auch sich in ihrer Kammer einschloß und -eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln bestand. -Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden, -wenn auch ruhige Tage dazwischen kamen, und der -geängstigte Doktor, der in solchen Dingen keine Erfahrung -hatte, drängte zur Fortschaffung und Versorgung in einer -Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange sie -konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen -Jungfer in langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft -der völligen Einsamkeit immerhin vor, auch hoffte -sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht lange dauern, -und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten, die -möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt -ihr entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen -ihr Lebenlang kochen, waschen und aufwarten, -ihre Launen ertragen und sich um sie sorgen; aber die Aussicht, -es möchte für dies zerstörte Leben vielleicht jahrelang -ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne -Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der -täglichen Sorge um die Gemütskranke auch noch diese -Angst und Last zu tragen, und sie fing trotz ihrer Zähigkeit -an, etwas vom Fleisch zu fallen und im Gesicht ein wenig -zu altern.</p> - -<p>Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war -der sicheren Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in -ihrem hübschen kleinen Hause und sei womöglich froh, den -lästigen Nachbarn und Bewerber für eine Weile los zu sein.</p> - -<p>Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte -die Abreise des Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt, -ihr nach dem Entfernten Sehnsucht zu wecken und -ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre sie jetzt in -ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater -zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus -nicht mehr so stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls -es mit der Schwägerin schlimm gehen sollte, sich wohl auch -die Bewerbung des reichen Mannes noch einmal näher -und freundlicher angesehen.</p> - -<p>In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die -Abreise Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung -und Dauer verstummt, da man jetzt an der Witwe Entriß -wieder für eine Weile die Mäuler voll hatte. Und während -unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die -beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden -und schon deutlicher von künftigen gemeinsamen -Unternehmungen miteinander plauderten, saß daheim in -der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei lange -Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl -und Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage -später hielt August Schlotterbeck diesen Brief, der auf das -beste Papier mit einem goldenen Rande geschrieben war, -verwundert in den Händen und las ihn langsam zweimal -durch. Er lautete:</p> - -<p>Lieber und werter Vetter Schlotterbeck!</p> - -<p>Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine -Schwarzwaldtour gemacht hat, hat uns berichtet, daß er -Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du wohl bist und -in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte -ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen. -Wenn man es vermag, ist ja eine solche Sommerkur -immer sehr gut, ich war auch einmal ein paar Tage in -Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat mir vorzügliche -Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg, -und wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem -Tannenrauschen auch Dir gewiß nur gut gefallen.</p> - -<p>Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir, -und wenn du nach guter Erholung wieder heimkommst, -wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder recht gut gefallen. -Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es auch -draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man -doch bloß in der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich -auch in der Stadt sehr beliebt gemacht, alle freuen sich bis -Du wiederkommst.</p> - -<p>Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es -in Deiner Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß -es nicht, ob es Dir schon bekannt ist. Die Frau Entriß hat -jetzt also doch ihre kranke Schwägerin hergeben müssen. -Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche Geschöpf -es nimmer hat aushalten können und hat Tag und -Nacht um Hilfe gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt -hat. Da hat sich gezeigt, daß es mit der kranken Jungfer -furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß drauf bestehen -und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann -sich denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt, -man hat ihr die Schwägerin weggenommen und vielleicht -muß sie sich noch anderswo verantworten. Dieselbe ist -im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht worden, und -die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie -früher so an der Kranken gespart!</p> - -<p>Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest -Du sehen sollen, es war ein Jammer. Sie hatten einen -Wagen genommen, da saß die Entriß, der Oberamtsarzt, -ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da -fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt, -daß alles nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem -Heimweg hat die Entriß dann allerlei zu hören gekriegt, -ein Bub hat ihr sogar einen Stein nachgeworfen.</p> - -<p>Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen -kann, tue ich es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang -von der Heimat fortgewesen, aber das macht nichts und -für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt, nichts zuviel. -Meine Frau läßt Dich auch grüßen.</p> - -<p>Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische. -In dem Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als -hier in dem engen Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter. -Im Bayrischen Hof hat es vorgestern eingeschlagen, -aber kalt.</p> - -<p>Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung. -In alter Treue Dein Vetter und Freund</p> - -<p class="right"> -Lukas Pfrommer.<br /> -</p> - -<p class="p2">Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch, -steckte ihn in die Tasche, zog ihn wieder heraus und las -ihn nochmals, dann sagte er: »O du Simpel,« was seinem -Vetter galt. Doch hielt er sich nicht lange mit Gedanken -an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich den Brief -selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen -ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten -vor Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und -Zorn, er sah das arme Frauelein verhöhnt und preisgegeben, -mit Tränen kämpfen und ohne Trost allein sitzen. -Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles sah und -begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über -den briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und -über ganz Gerbersau herzlich empört und wollte schon -Rache beschließen, da fiel ihm allmählich ein, wie wenig -er selber in dieser letzten Zeit an die Frau Entriß gedacht -hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel Heimweh -gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der -lieben Frau übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und -vielleicht auf seinen Beistand gehofft.</p> - -<p>Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen. -Das Bildnis der kleinen Witwe stand ihm nun wieder so -klar und nett vor Augen, daß er nicht begriff, wie er sie -tagelang fast ganz habe vergessen können. Was war jetzt -zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne -Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine -Abreise an und teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der -sich darüber sehr betrübt zeigte. Doch ward verabredet, -daß Schlotterbeck ihn bald besuchen und seine Fabrik ansehen -solle. Dann packte dieser seinen Koffer, worin er -viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat -und die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham -und den Zorn und alle Bedenken und verfiel in eine muntere, -tröstliche Heiterkeit, die ihn den ganzen Abend nimmer -verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle diese Geschichten -nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin -war fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt -und traurig und hatte wohl auch Geldsorgen, da -war es Zeit, daß er nochmals vor sie trat und in dem abendsonnigen -Stüblein ihr sein Angebot wiederholte. Vergnügt -pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch -noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte -er mit Herrn Trefz bei einem guten Markgräflerwein. -Die Männer stießen auf ein gutes Wiedersehen und -eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein -Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr -wiederzusehen.</p> - -<p>Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der -Eisenbahn und erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn -begleitet und drückte ihm nochmals die Hand, der Hausknecht -hob den Koffer in den Wagen und bekam sein Trinkgeld, -der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen -Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte -an dem grüßenden Stationsvorstande vorbei in die Stadt -hinein.</p> - -<p>Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege -lag, ließ sich dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden -Weges zur Frau Entriß hinauf, deren Garten ihn -in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor war verschlossen -und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die -Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht – -denn sie hatte ihn nicht kommen sehen – die Tür auftat. -Da sie ihn erkannte, wurde sie rot und versuchte ein strenges -Gesicht zu machen, er trat aber mit freundlichem Gruß herein -und sie führte ihn in die Stube.</p> - -<p>Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der -vergangenen Zeit wenig an ihn denken können, doch war -seine Wiederkunft ihr immerhin kein Schrecken mehr, sondern -eher ein Trost. Er sah das auch, trotz ihrer Stille und -künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich selber -die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern -faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte: -»Es ist jetzt recht, nicht wahr?«</p> - -<p>Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und -Worte machen; aber unversehens übernahm sie die Bewegung, -die Erinnerung an so viel Sorge und Bitterkeit -dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer und trocken -durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem -eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach -aber erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne -Glücksschein, den Herr Schlotterbeck vom letztenmal her -kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ sich von ihm umfangen, und -als nach einem sanften Kusse der Bräutigam sie auf einen -Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank, das -stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft, -oder willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?«</p> - -<p>Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin -ich froh! Und das Privatisieren hört auch bald auf. Was -meinst du zum Beispiel zu einer Lederwarenfabrik?«</p> - - - - -<h2><a name="Der_Weltverbesserer" id="Der_Weltverbesserer">Der Weltverbesserer</a></h2> - - -<h3>1</h3> - -<p>Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus -einem guten bürgerlichen Hause stammend, besaß er -einen angeborenen Sinn für das Schickliche und Angenehme, -den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege und -Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit -des Philistertums bewahrte. Zum Unglück -hatte er die Eltern früh verloren und von seinen mehrmals -wechselnden Erziehern hatte nur ein einziger Einfluß auf -ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch und frommer -Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit -eines Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit -doch eben nicht ohne Hochmut den Dingen seine -Form aufzwang.</p> - -<p>Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen, -unbefangen seine Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen -und im Anschluß an irgendeinen Kreis tätigen Lebens sich -unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast sich nach dem -ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen, -auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher -und wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten -brauchen.</p> - -<p>Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch -zwei Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang -als seiner Natur begründet, beide unschuldig -und edel von Ansehen. Zunächst war da, von jenem wohlmeinenden -Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling -eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen -Dingen auf den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen -war, und aus Zuständen, für die er nicht verantwortlich -war, persönliche Gedanken- und Gewissensprobleme -zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei denn jeder -natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens -erkrankt und verkümmert war.</p> - -<p>Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben: -Berthold Reichardt hatte keinen bestimmten Beruf gewählt. -Gewissenhaft und eifrig hatte er seine Neigungen -und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben, -sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und -zu festigen, ehe er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte -und verantwortliche Tätigkeit wage. Seinen Neigungen -gemäß hatte er bei guten Lehrern, auf Reisen und -aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit einer -Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher -Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den -Studienjahren abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt; -schließlich war er, um doch ein festes Ergebnis -zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen geblieben und -hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit -über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen -Renaissance abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun -in München ein, wo er im Zusammenströmen so vieler -junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am ehesten die -Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine -Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker -hinstrebte. Er dürstete danach, Verkehr mit dem Leben -und Einfluß auf Menschen zu üben, am Entstehen neuer -Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und im -Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.</p> - -<p>Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf -und Stellung von allem Anfang an ein festes, klares -Verhältnis zum Leben und eine berechtigte Stelle im Gefüge -der menschlichen Tätigkeiten zu haben, dieses Vorteils -also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und -ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete -keine Arbeit und Stellung, kein Amt und keine Richtung, -er war nur ein Titel und Schmuck, am Sonntag zu -tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen Mangel -an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit, -welche er hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten -Preis, um die Krone des Lebens selber, daranzugeben -gewillt war.</p> - -<p>In München, wo er schon früher ein Jahr als Student -gelebt hatte, war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren -Häusern eingeführt, hatte es aber mit den Begrüßungen -und den Besuchen nicht eilig, da er seinen Umgang in aller -Freiheit suchen und unabhängig von früheren Verpflichtungen -sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er -auf die Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder -voll neuer Ideen gärte und beinahe täglich Zustände, -Gesetze und Sitten entdeckte, welchen der Krieg zu erklären -war.</p> - -<p>Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt, -ohne sich darum Mühe gegeben zu haben, bald in -näheren Umgang mit einem kleinen Kreise moderner junger -Künstler dieser Art. Man traf sich bei Tische und im -Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch -freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens -in dem des Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger -Führerschaft in dieser Künstlergruppe ausübte.</p> - -<p>Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute -hatte sich Berthold vor allem durch die Bescheidenheit erworben, -mit welcher er ihren oft verblüffend kühnen Reden -zuhörte und auch die gegen seine Person und seinen -Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans -Konegen ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und -Reichardt sich als eine Art von Privatgelehrten vorstellte, -der sich durch kunstgeschichtliche Studien den Doktorgrad -erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu ins Gesicht -gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!« -und hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit -betont, als wäre es mit Idiot oder Raubmörder -gleichbedeutend. Reichardt aber hatte nur verwundert -mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß allerdings -das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich -habe, wie es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung -bedeute, welche er nun womöglich in einer mehr auf -das Leben selbst gerichteten Tätigkeit anzuwenden hoffe.</p> - -<p>Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand -er nun noch manchen Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber -den guten Willen zum Lernen zu verlieren. Es fiel -ihm vor allem auf, daß die paar berühmten Maler und -Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung -mit den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört -oder gelesen hatte, offenbar diesem reformierenden Denken -und Treiben der Jungen weit ferner standen, als er -gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer gewissen Einsamkeit -und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu -leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber -er anfänglich geradezu erschrak, von den jungen Kollegen -keineswegs als Vorbilder bewundert, sondern mit Schärfe, -ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum Teil sogar beinahe -verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler, der unbekümmert -seine Werke schuf, damit einen Verrat an der -Sache der revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz -Goethe es eines rechten Künstlers Art und Pflicht nicht so -sehr zu malen und zu bilden als zu denken und zu reden.</p> - -<p>Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer, -ideologischer Zug in Reichardts Wesen -selbst, so daß er trotz gelegentlichen Bedenken dieser ganzen -Art sehr bald zustimmte. Es fiel ihm nicht auf, wie -wenig und mit wie geringer Leidenschaft in den Ateliers -seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne Beruf -und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es -ihm wohl, daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit -und Lust zum reden und theoretisieren hatten. Namentlich -schloß er sich an Hans Konegen an, dessen kaltblütige -Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein unverhohlenes -Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig -die vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung, -dabei erstaunlich viel zu lernen, denn es gab kaum ein -Kunstwerk, an dem Konegen nicht klar und schön darzulegen -wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte es -Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild, -das ihm gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen -hatte, gröblich und schonungslos hergefallen war; -mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser Ton und färbte sogar -auf seinen eigenen ab.</p> - -<p>Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit -bewaldeten Hügeln, von Frühsommerwolken überflogen, -treu und zart gemalt, das Werk eines noch jungen, doch -schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das schätzen -und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu, -»und es ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind -sogar direkt gut. Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie, -kurz – Rhythmus? Eine nette kleine Arbeit, sauber und -lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein! Ich -bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der -modernen Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie -im größten Maßstab treibt, das reich geworden ist -und Machtbewußtsein hat, das eben noch zu den Füßen -Bismarcks und Nietzsches saß – und das soll nun unsere -Kunst sein!«</p> - -<p>Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit -monumentaler Wucht gemalt zu werden, oder ob das Gefühl -für einfache Schönheiten der ländlichen Natur unseres -Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht, und tat -man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt: -»Nun ja, wir können ja auch über das Ding an sich oder über -den Kaukasus reden, warum nicht? Aber da wir nun doch -einmal gerade von diesem Bild hier sprechen, kann ich nur -wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier Größe? -Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?« -und so weiter.</p> - -<p>Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung, -sich still und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen, -und wenn er schließlich gleich seinen neuen Freunden -mit Bitterkeit fragte: »Was sollen uns alle diese Ausstellungen? -Sie lassen uns ja doch alle kalt!« so hatte er -damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich mochte -das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck -reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem -weit mehr Freude bereiten als dem so kritischen Betrachter -alle Galerien.</p> - -<p>Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten -keineswegs die Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten, -denn nach ihren Reden, ihrem Auftreten und ihren -vielen theoretischen Kenntnissen taten sie das entschieden. -Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen Durchschnitt, -ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform -bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden -und überklugen Jugend unbeachtet gar viele stille -Talente hausten und arbeiteten. Er wußte auch nicht, wie -wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile Konegens -waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil, -von Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern -Bildwirkung und von Staffeleibildern größere -Naturnähe verlangte, so daß freilich seine Ansprüche stets -weit größer blieben als die Kunst aller Könner. Und er -fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so -mächtig seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen -und Urteilen gäben. Wie es Art und schönes Recht der -Jugend ist, unterschied er nicht zwischen seiner Freunde -Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in lebhafter -Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als -Freund neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu -leben, unter glücklichen Repräsentanten der zeitgenössischen -Jugend.</p> - -<p>Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender -Bescheidenheit. Während sie nämlich über Hodler wie über -Botticelli zu reden und alle Forderungen der höchsten Kunst -genau zu formulieren wußten, galt ihre eigene Arbeit -meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen Gegenständen -und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art. -Aber wie das Können des größten Malers klein wurde -und elend dahinschmolz, wenn man es an ihren Forderungen -an ihn und ihren Urteilen über ihn maß, so wuchsen -ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige, -wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine -ganz hübsche Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht -und wußte nachzuweisen, daß diese Arbeit, so unscheinbar -sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als mancher Saal voll -Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das Gepräge -des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen -und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen -Gegenstandes, ja des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer -versah ein Stück graues Papier, das zu Büchereinbänden -dienen sollte, mit einigen regellos verteilten gelblichen -Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde -lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener -Flecken etwas Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel -und Unendlichkeit zu wecken vermöge und wie der -Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas melancholisch -Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe.</p> - -<p>Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der -Jugend als eine Mode betrieben; mancher kluge, doch -schwache Künstler mochte es auch ernstlich darauf anlegen, -mangelnden natürlichen Geschmack durch solche Raisonnements -zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber -in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit -lang ernst und lernte dabei von Grund aus die verderbliche -Müßiggängerkunst eines intellektualistischen Beschäftigtseins, -das der Todfeind jeder wertvollen Arbeit ist.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>2</h3> -</div> - -<p>Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als -ein ziemlich gut erzogener Mensch, doch auf die Dauer -nicht alle gesellschaftlichen Verpflichtungen vergessen, und -so erinnerte er sich vor allem eines Hauses, in dem er einst -als Student verkehrt hatte, da der Hausherr vor Zeiten mit -Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden war. -Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals -Diplomat gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt -war und als leidenschaftlicher Freund der Kunst -und der Geselligkeit ein belebtes und glänzendes Haus geführt -hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem er schon -gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch -machen und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause -vor, dessen erste Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da -fand er zu seinem Erstaunen einen fremden Namen auf -dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig heraustretenden -Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats -fragte, erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der -Herr Rat selbst sei vor mehr als Jahresfrist gestorben.</p> - -<p>Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben -hatte, lag weit draußen in einer unbekannten stillen -Straße am Rande der Stadt, und ehe er dorthin ging, -suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren er einige noch -von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über Schicksal -und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu -erhalten. Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat -ein weithin gekannter Mann gewesen war, und so erfuhr -Berthold eine ganze Geschichte: Weinland hatte allezeit -weit über seine Verhältnisse gelebt und war so tief in -Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte -hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für -einen natürlichen hatte halten mögen. Jedenfalls hatte -sofort nach diesem unerklärten Todesfall die Familie alle -Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch in der Stadt -wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die angesehenen -Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten -und die ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein -Haus zu machen. Schade sei es dabei am meisten um die -Tochter, der jedermann ein besseres Schicksal gegönnt hätte.</p> - -<p>Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und -mitleidig ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein -dieser Tochter, welche je gesehen zu haben er sich nicht erinnern -konnte, und es geschah zum Teil aus Neugierde -auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen beschloß, die -Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und -fuhr hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die -Grenze des freien Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz -eingenommen wurde, wo im nassen Herbstwetter -einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der Wagen -hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause, -das trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen -schon den trüben Duft der Ärmlichkeit angenommen hatte.</p> - -<p>Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten -Stockwerk, dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar -erstaunt über den eleganten Besuch, geöffnet hatte. Sogleich -erkannte er in der einfachen Stube mit neuen billigen -Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere Gestalt -und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert -und nur um einen Schatten reservierter und kühler geworden -schien. Neben ihr aber tauchte die Tochter auf, -und nun wußte er genau, daß er diese noch nie gesehen -habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz vergessen -können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr -im Gesicht ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden -Gesicht, in der strammen, elastischen Haltung und einfachen, -doch tadellosen Toilette wie eine junge Offiziersfrau oder -Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck, und schon -der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab -sich dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige -dunkelbraune Augen ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen -Augen sowohl, wie in manchen weichen Bewegungen -der strengen und beherrschten Gestalt schien erst -der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen, -den das übrige Äußere härter und kälter vermuten ließ, -als er war.</p> - -<p>Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das -Fräulein Agnes war, wie er nun erfuhr, während der -Zeit seines früheren Verkehrs in ihrem Vaterhause im -Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu erinnern, -daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch -vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren, -und so kam es von selbst, daß vor allem des Besuchers -Person und Leben besprochen wurde. Beide -Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend -und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu -sehen, und Agnes meinte geradezu, wenn er einiges Talent -zum Baumeister in sich fühle, so sei das ein so herrlicher -Beruf, daß sie sein Zaudern nicht begreife. Beim -Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen -die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören -würde, und erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder -einzufinden.</p> - -<p>Von den veränderten Umständen der Familie, von -ihrer Vereinsamung und Verarmung hatte zwar die Lage -und Bescheidenheit ihrer Wohnung Kunde gegeben, die -Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit keinem -Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und -Benehmen kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt, -vielmehr den Ton innegehalten, der in ihrer früheren -weitläuftigen Lebensführung ihnen geläufig und selbstverständlich -gewesen war. Erst als Reichardt sich, die Damen -im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern -Flur allein fand und tappend nach dem Türgriff suchen -mußte, kam ihm die Lage dieser Frauen wieder in den -Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte Teilnahme -und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich -in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht -und zum Augenblick des Einschlafens von einer wohlig -reizenden Atmosphäre umgeben, wie vom tiefen, warmen -Braun ihrer Blicke.</p> - -<p>Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen -Arbeitsgedanken und Lebensplänen an. Wenige Tage -nach seinem Besuche bei den Frauen Weinland hatte er -ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen, -das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm -noch unerkannten Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft -brachte. Hans Konegen hatte auf Reichardts Klagen -hin sofort einen breiten, genial konstruierten Arbeitsplan -entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin -und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit -nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine -unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen, -das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem -Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, -unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts -bestund als dem rasenden Kreisschwung seines Degens.</p> - -<p>Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt, -indem er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen -ausführte, die als kritische und heimlich mitschöpferische -Berater der Kunst helfen und dienen könnten. -Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert und unseren -materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein -richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht -überhaupt nur noch den Künstlern selber und etwa -noch solchen emsigen und klugen Kunstgelehrten, wie Reichardt, -möglich sei. Um so mehr nun sei es also dessen -Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und -als unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er -als den Sinn und das Ideal der modernen Kunst erkannt -habe. Er möge daher trachten, an einer angesehenen Kunstzeitschrift -oder noch besser an einer Tageszeitung kritischer -Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann -würde er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung -seiner Schöpfungen Gelegenheit geben, einer guten -Sache zu dienen und der Welt etwas Neues zu zeigen.</p> - -<p>Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran -erinnerte, wie verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle -Zeitungen und Zeitschriften und über das Amt des Kritikers -im allgemeinen geäußert habe, bekannte sich der -Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die er zu jeder -Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm -sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten -und legte dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der -Kritik ein wahrhaft edler und freier Geist auf diesem Gebiete -zum Reformator werden könne, zum Lessing unserer -Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem freundlichen -Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein anderer -und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches. -Er selbst habe schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe -einer Monographie über ihn, Hans Konegen, zu -veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der rechte Mann -für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den -Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme -er selbst, werde auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte -in Japanabzügen beiheften und schon dadurch jeden echten -und reichen Kunstfreund zum Erwerb des Buches geradezu -nötigen.</p> - -<p>Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer -zunehmenden Verstimmung an. Heute, da er das Übel -seiner berufslosen Entbehrlichkeit besonders stark empfand -und für einen guten Rat oder auch schon für ein wenig -Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre, tat es ihm -weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts -anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen -Ruhm oder Vorteil dienstbar zu machen.</p> - -<p>Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und -diese Pläne kurz von der Hand wies, war Hans Konegen -keineswegs geschlagen.</p> - -<p>»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie -vollkommen und muß Ihnen eigentlich recht geben. Die -Kritik und die verfluchte Federfuchserei überhaupt ist ja -im Grunde eine entbehrliche und lächerliche Sache. Sie -wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun Sie das! -Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich -und einige Freunde und dadurch eine direkte Verbindung -mit dem schaffenden Geist der Zeit. Gründen Sie also -ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen unmittelbaren -Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen -Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für -Herstellung und Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu -das Verlagsrecht meiner Holzschnitte und zahlreicher -Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre Druckerei und -Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit -Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen -wir eine kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe! -Nehmen Sie mich als Berater oder Direktor, -für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein Freund von mir -modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich auch -auf Bronzeguß.«</p> - -<p>Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt -beinahe wieder lachen konnte. Überall sollte er der -Unternehmer sein, das Geld aufbringen und riskieren, -Konegen aber war der Direktor, der Beirat, der technische -Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten Male erkannte -Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle -Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur -um dessen eigene Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht -kreisten, und er sah nachträglich mit Unbehagen, wie wenig -schön die Rolle war, die er in der Vorstellung und den Absichten -dieser Leute gespielt hatte.</p> - -<p>Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf -dachte, sich still von diesem Umgang zurückzuziehen, -unter möglichster Delikatesse und Schonung. Denn kaum -hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten Beredungsversuchen -eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht -gesonnen war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen, -so fiel die ganze Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie -gewesen. Der Doktor hatte diesen Leuten ihre paar Holzschnitte -und Töpfchen längst abgekauft, einigen auch kleine -Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen -wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten -der Boheme noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem -Erstaunen von seinen Künstlerfreunden vergessen -und kaum mehr gegrüßt, während er sich noch damit -quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig -einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch -den Entwurf zu einem Exlibris zu, das Herr Reichardt -einmal mündlich bei ihm bestellt habe. Er kaufte das kleine -Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages nicht erinnerte, -und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens -Holzschnitte barg.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>3</h3> -</div> - -<p>Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause -bei der Frau Rat Weinland vor, wo es ihm -jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der vornehme Ton -dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz zu -den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der -junge Mann sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz -anzunehmen, und immer ernsthafter beschäftigte ihn die -Tochter, die ihn zweimal allein empfing, und deren strenge -Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte. Denn er -fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden -oder doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer -damenhaften Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein -schien. Und zwar besaß sie jene praktische, auf das Notwendige -und Nächste gerichtete Klugheit, welche das nur -spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht kennt -und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß -als philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm -doch jedesmal Eindruck machte.</p> - -<p>Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für -den Zustand, in dem sie ihn befangen sah, und wurde -nicht müde, ihn auszufragen und ihm zuzureden, ja sie -machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines Mannes -unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen -wie man Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und -festem Willen an einem bestimmten Punkte zu beginnen. -Von den Weisheiten des Malers Konegen hielt sie ebenso -wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt mitgebracht -hatte.</p> - -<p>»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe, -Ihr Freund treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es -sind, so viel ich davon verstehe, Nachahmungen japanischer -Arbeiten, die vielleicht den Wert von Stilübungen haben -können. Mein Gott, was sind denn das für Männer, die -in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün -und ein Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau -von einigem Geschmack leistet ja mehr, wenn sie sich ihre -Kleiderstoffe aussucht!«</p> - -<p>Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen, -doch sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das -Beispiel einer solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit -der Nase darauf stoßen, hatte sein Glück ihm diese prächtige -Figur in seinen Weg gestellt, daß er sich an sie halte -und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der Mensch -ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn -er einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen -geraten ist.</p> - -<p>Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem -Maler Konegen abgetan war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit -ungesäumt einen neuen stattlichen Gang erwählt, -der überallhin führen konnte, und den er jetzt mit dem -Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider meist -nur für Undinge fähig sind.</p> - -<p>Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst -und Leben, oder neue Wege zu einer künstlerischen Kultur« -hatte er etwas erfahren, das er umso bereitwilliger aufnahm, -als es seiner augenblicklichen enttäuschten Gedankenlage -entsprach, nämlich daß es nottue, aus allen ästhetischen -und intellektualistischen Interessantheiten herauszukommen. -Fort mit der formalistischen und negativen -Kritik unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun -auf Kosten heiliger Güter und Angelegenheiten unserer -Zeit! Dies war der Ruf, dem er wie ein Erlöster -folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung sofort -und unbedingt, einerlei wohin er führe.</p> - -<p>Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds -Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer -neuen Ethik. War nicht ringsum alles faul und verdorben, -wohin der Blick auch fallen mochte? Unsere Häuser, Möbel -und Kleider geschmacklos, auf Schein berechnet und unecht, -unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere Wissenschaft -verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum -verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem, -und war es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche -Widerspiel ihres wahren Ideals darstellte? Warf sie etwa, -wie sie könnte und sollte, Schönheit und Heiterkeit in die -Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie Freude und -Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte -Geld verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst -war jede geistige Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß -mit der Unkultur.</p> - -<p>Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit -und Schwindel umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch -beschmutzt und vom Geldhunger korrumpiert, das -Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend; jede echte -und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, -die er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen -betrachtet hatte, enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis. -Berthold fühlte sich für dies alles mit verantwortlich und -zur Mitarbeit an der neuen Ethik und Kultur verpflichtet.</p> - -<p>Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon -berichtete, wurde sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold -gerne und traute es sich zu, ihm zu einem tüchtigen -und schönen Leben zu verhelfen, und nun sah sie ihn, der -sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und Umtriebe -stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen -er nur zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung -recht deutlich und meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle -mache oder einen Knopf annähe, sei der Menschheit -und der Kultur gewiß nützlicher und lieber als alle Propheten. -Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß -genug, edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige -seien dazu berufen, das Bestehende anzugreifen und Lehrer -der Menschheit zu werden.</p> - -<p>Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung, -die sie äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit -welcher es zu halten sein Gewissen ihm verbiete. Es war -der erste kleine Streit, den die beiden hatten, und Agnes -sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer weiter -von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in -endlose Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen -wurde. Schon war er im Begriffe, blind und -stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu segeln, wo sie -auf ihn wartete.</p> - -<p>Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den -Einfluß eines wirklichen Propheten geriet, den er in einem -ethischen Verein kennen gelernt hatte. Dieser Mann, -welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst Theologe, dann -Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam, rasch -eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten -gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur -unerbittlich im Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände, -sondern persönlich auch zu jeder Stunde bereit -war, für seine Gedanken einzustehen und sich ihnen zu opfern. -Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über den heiligen -Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang -seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum -erklärt und den Gegensatz von heiliger Intuition und -echter Sittlichkeit gegen Dogma und Kirchenmacht auf das -Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel deshalb vertrieben, -nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte -bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber -seltsamer mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden -machten. Seit Jahren aber lebte er nun auf Reisen, ohne -Erwerb und ohne festen Wohnort, ganz dem Drange seiner -Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos sein -letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den -Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig, -stets in dasselbe anständige, doch überaus einfache -Lodenkleid gehüllt, das er auch auf seinen Fußwanderungen -und Reisen trug. Seine Lehre war ohne feste Dogmen, -er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit -und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge -verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er -kennen lernte, sagte »Es freut mich,« so galt das für eine -Auszeichnung, und eben das hatte er zu Reichardt gesagt.</p> - -<p>Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann -gesehen hatte und seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis -zu Agnes Weinland immer lockerer und unsicherer. -Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in seinem -Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen -kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder -Beichtvater einen jungen Menschen, der mit sich unzufrieden -ist, vor allem nach einer etwaigen Liebe oder -Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran -nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten -jungen Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten -Platz finden konnte, und den er keineswegs zu beruhigen -und zu versöhnen dachte, denn er liebte und brauchte -solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus deren Bedürfnis -und Auflehnung er die Entstehung der besseren -Zeiten erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer -stets an ihren eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie -der Weltordnung zuschreiben, und über die sie niemals -hinauskommen, war dieser holländische Prophet gegen sein -eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und -richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf -jene Übel, die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer -menschlichen Friedens ansah. Er haßte den Krieg und die -Machtpolitik, er haßte das Geld und den Luxus, und er -sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und aus -dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie -einst das Übel vernichte. In der Tat kannte er Hunderte -und Tausende von notleidenden und suchenden Seelen -in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen reichten -vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die Friedens- -und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste -und auf Madeira.</p> - -<p>Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen. -Van Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München -auf und wohnte bei einem schwedischen Maler, in -dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte ausspannte, -und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug -reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten. -Öffentliche Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis -spät und selbst bei Gängen auf der Straße umgeben von -einem Kreise Gleichgesinnter oder Ratsuchender, mit denen -er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu ermüden. -Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle -Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen -und ihre Sprüche als Belege für seine Lehre zu -zitieren, nicht nur den heiligen Franz, sondern ebenso Jesus -selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius. Hätte Berthold -seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie vielleicht -wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte -er sofort ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit -erkannt. So aber unterlag er willig dem Einfluß einer -so starken und seltsam anziehenden Persönlichkeit.</p> - -<p>Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van -Vlissens Nähe hielten. Aber Reichardt war einer von den -ganz Wenigen, die sich nicht mit der Sensation und Stimmung -des gegenwärtigen Augenblicks begnügten, sondern -eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten, -wozu es gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber -eines ungetrübten und zarten sittlichen Empfindens bedarf.</p> - -<p>In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre -Mutter nur ein einzigesmal. Die Frauen bemerkten die -Veränderung seines Wesens alsbald; seine fast knabenhafte -Begeisterung, die doch keinen kleinsten Widerspruch ertragen -konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner -Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos -in seinem glücklichen Eifer sich immer heißer und immer -weiter von Agnes weg redete, sorgte der böse Feind dafür, -daß auch noch gerade heute ihn das denkbar unglücklichste -Thema beschäftigen mußte.</p> - -<p>Dieses war die damals vielbesprochene Reform der -Frauenkleidung, welche von vielen Seiten fanatisch gefordert -wurde, von Künstlern aus ästhetischen Gründen, -von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern aus ethischen. -Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften -Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen -die bisherigen Frauenkleider auftrat und der Mode ihre -Lebensberechtigung absprach, sah man freilich die schönen -und eleganten Frauen der berühmten Künstler, Ärzte -und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen Schein -dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer -begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung -der Augen liegen, diese eleganten Frauen gefielen sich -und der Welt entschieden besser als die Erstlingsopfer der -neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast faltenlosen -Kostümen einhergingen.</p> - -<p>Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite -der Reformer. Die anfangs humoristischen, dann ernster -werdenden und schließlich leicht indignierten Einwürfe der -beiden Damen beantwortete er nicht gerade heftig oder -unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen Tone, -wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame -versuchte mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken, -doch vergebens, bis schließlich Agnes mit Entschiedenheit -sagte: »Sprechen wir nicht mehr davon! Ich bin darüber -erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem Gebiet -verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen -glaubte, denn ich mache alle meine Kleider selber. -Da habe ich denn also, ohne es zu ahnen, Ihre Gesinnungen -und Ihren Geschmack durch meine Trachten fortwährend -beleidigt.«</p> - -<p>Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat -und anmaßend sein Predigen gewesen sei, und errötend -bat er um Entschuldigung. »Meine Überzeugung -zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft, »aber es -ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen Augenblick -dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche -Kritik viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich -selbst wider meine Anschauungen sündige, indem Sie mich -in einer Kleidung sehen, deren Prinzip ich verwerfe. Mit -anderen Änderungen meiner Lebensweise, die ich schon -vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen, -mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen -darf.«</p> - -<p>Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine -Gestalt, die in ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung -recht hübsch und nobel aussah, und sie rief mit einem -Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst hier in München -in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!«</p> - -<p>»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich -und unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich -überhaupt nicht in das Stadtleben tauge, und will mich -in Bälde auf das Land zurückziehen, um in schlichter Tätigkeit -ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.«</p> - -<p>Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen, -lag lähmend über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt -nach wenigen Minuten Abschied nahm. Er reichte -der Rätin die Hand, dann der Tochter, die jedoch erklärte, -ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie noch -nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und -wartete, bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die -Tür zur Treppe, und als er ihr nun Abschied nehmend die -Hand gab, hielt sie diese einen Augenblick fest, sah ihn mit -dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht durchdringend -an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von -dem, was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.«</p> - -<p>Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief -ihn ein süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick -mußte er es sich wie eine selige Erlösung vorstellen, -sein Leben dieser Frau in die Hände zu geben. Er fühlte, -wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit sie ihm hatte -entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang -schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze -Gebäude seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen.</p> - -<p>Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die -Türe hinter ihm geschlossen.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>4</h3> -</div> - -<p>Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein -Jünger unsicher geworden und von fremden Einflüssen -gestört war. Er sah ihm lächelnd ins Gesicht, mit seinen -merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch tat er -keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick -in Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange -ein. Das hatte er noch nie getan, und Berthold -ließ alsbald einen Wagen kommen, in dem sie weit vor -die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde ließ -van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der -Wald stand vorwinterlich verlassen unter dem bleichen -grauen Himmel, es war weit und still, nur aus großer -Ferne her hörten sie die Axtschläge von Holzhauern durch -die graue Kühle klingen.</p> - -<p>Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt -mit leichtem, wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam -mit allen Sinnen die Waldstille einatmend und durchdringend. -Wie er die Luft eintrank und den Boden trat, -wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit -lautloser Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden -Specht aufmerksam machte, da war etwas still Zwingendes -in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit und überall -mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige -Mann wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu -durchwandern schien, dessen heimlicher König er war. Aus -dem Walde tretend sahen sie weite Äcker ausgebreitet, ein -Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren Gäulen -dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von -Saat und Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen -Dingen und entfaltete in einfachen Worten ein -Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe Bauer unbewußt -führe, das aber, von bewußten und dankbaren -Menschen geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer -Kraft sein müsse. Und der Jünger fühlte, wie die -Weite und Stille und der ruhige große Atem der ländlichen -Natur Sprache gewann und sich seines Herzens bemächtigte. -Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück.</p> - -<p>Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach -Tirol, und Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen -südlichen Tal kaufte er einen Obstgarten und ein kleines, -etwas verfallenes Weinberghäuschen, in das er ohne -Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu beginnen. -Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie -das des Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach -München zurück, wo er sein Zelt abbrechen und Abschied -nehmen wollte.</p> - -<p>Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen, -daß ihr Rettungsversuch vergeblich gewesen sei. -Das stolze Mädchen war betrübt, den Mann und die an -ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht minder -in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von -ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung -so weit entgegengekommen war.</p> - -<p>Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie -alle Lust, ihn gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre -Verstimmung und sah ihm ohne eigentliche Hoffnung, doch -mit einer gewissen erregten Neugierde entgegen. Die -Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung -zu Bette.</p> - -<p>Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten, -um den sie mit einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und -der nun etwas verlegen und wunderlich verändert vor -ihr stand. Er trug nämlich die Tracht van Vlissens, Wams -und Beinkleider von grobem Filztuch, statt steifgebügelter -Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem -ziemlich breiten weichen Halskragen.</p> - -<p>Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock -oder im modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete -ihn einen Augenblick mit Enttäuschung und Staunen, -dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte mit einem kleinen -Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr -Doktor.«</p> - -<p>Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie -wissen ja auch, was diese Veränderung bedeutet. Ich -komme, um Abschied zu nehmen, denn ich übersiedele dieser -Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.«</p> - -<p>»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja -gar nichts.«</p> - -<p>»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört -mir erst seit einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt, -sich um mein Vorhaben und Ergehen zu kümmern, -darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft schuldig zu -sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht -mehr rechnen?«</p> - -<p>Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah -ihn an.</p> - -<p>»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert, -so lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil -daran nehmen konnte. Für die Versuche mit Tolstoischer -Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich aber leider nur -wenig Interesse aufbringen.«</p> - -<p>»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber -wie Sie auch von mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich -werde Sie nicht vergessen können, und ich hoffe von Herzen, -Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen, sobald -Sie mich hierin ganz verstehen.«</p> - -<p>»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.«</p> - -<p>Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn -wir beide guten Willens wären, glauben Sie nicht, daß -Sie dann vielleicht diesen Weg mit mir gemeinsam gehen -könnten?«</p> - -<p>Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr -Reichardt, das glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück -wünschen. Aber ich bin in all meiner Armut gar nicht so -unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg zu teilen, der aus -der Welt hinaus ins Unsichere führt.«</p> - -<p>Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen -Sie nur Ihren Weg! Gehen Sie ihn!«</p> - -<p>Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie -ihn ein sich zu verabschieden, was er betroffen und bekümmert -tat, und indessen er draußen die Türe öffnete und -schloß und die Treppe hinabstieg, hatte sie, die seine Schritte -verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich bittere und -hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende -Mann, als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und -köstliche Sache zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit -des andern dachte.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>5</h3> -</div> - -<p>Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den -ersten Anfängen sah es gar nicht übel aus. Wenn er -ziemlich früh am Morgen das Lager verließ, das er sich -selber bereitete, schaute durch das kleine Fenster seiner -Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an dessen -tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann -mit angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings, -mit dem Waschen oder auch Baden im -Brunnentrog, je nach der Wärme des Tages, mit dem -Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer, -Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich -zu seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber -und Minister Xaver aus dem Dorfe, der auch das -Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold nun an die Arbeit, -bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen -oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes -Anleitung die wichtigsten Geräte handhaben, die Gais -melken und füttern, den Boden graben, Obstbäume putzen, -den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den Herd spalten -und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst, -so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe -und Strohseile geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche -Dinge betrieben, wobei der Knecht vergnügt seine -Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk hervor -eine Menge Geschichten erzählte.</p> - -<p>Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes -und halbmüßiges wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die -kräftige Würze der Arbeit, die ihm nicht minder gefiel und -wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst gespaltenen -Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen schwarzen -Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und -das Wasser oder die Milch im viel zu großen Hängekessel -zu sieden begann, dann konnte er ein robustes Lebensgefühl -robinsonschen Behagens in den Gliedern spüren, -das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte, und -in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren -Erlösung zu kosten meinte.</p> - -<p>In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter -nichts Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher -Arbeit zu spielen, die Gedanken ruhen zu lassen -und die Glieder zu ermüden, früh schlafen zu gehen und -früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und erworbene -Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden -wechseln, und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend -mit dem Gehirn zu arbeiten, der kann kein Kleinbauer -mehr werden. Diese Binsenwahrheit mußte auch -Reichardt erfahren.</p> - -<p>Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann -ging der Knecht mit seinem guten Tagelohn nach Hause -oder ins Wirtshaus, um unter seinesgleichen froh zu sein -und von dem Treiben seines wunderlichen Brotgebers zu -erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den -Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten- -und Obstbau handelten. Diese vermochten ihn aber nicht -lange zu fesseln. Er las und lernte gläubig, daß das Steinobst -die Neigung hat, mit seinen Wurzeln in die Breite zu -gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß dem -Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige -feuchte Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß -die Samen von Lauch und Zwiebeln ihre Keimkraft nach -zwei Jahren verlieren, während die Kerne von Gurken und -Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste Jahr -behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese -Dinge, die er von Xaver doch besser lernen konnte, und er -gab diese Lektüre auf.</p> - -<p>Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor, -der sich in der letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt, -da er dies und jenes Zeitbuch auf dringende Empfehlungen -hin gekauft hatte, zum Lesen aber nie gekommen -war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode -in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen. -Beim Ordnen dieser Bücher und Schriften fielen ihm freilich -einige in die Hände, die er als unnütz beiseite tat, denn -sie stammten aus den Tagen seines Verkehrs mit Hans -Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«, -vom »Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann -folgten zwei Bändchen von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung -über den Heiligen von Assisi, Schriften wider den -Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den Luxus, -den Industrialismus, den Krieg.</p> - -<p>Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige -wieder kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien -bestätigt, er sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an -der Philosophie der Unzufriedenen, Asketen und Idealisten, -aus deren Schriften her ein feiner Heiligenschein über sein -eigenes jetziges Leben fiel. Und als nun bald der Frühling -begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen natürlicher -Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem -Rechen hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem -Leben die schöne, vertrauensvolle Arbeit des Säens -und hatte seine Lust am Keimen und Gedeihen der Gewächse. -Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die Abende -hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten, -und in den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie -ein rechter Bauer. Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf -den Spaten gestützt oder am Brunnen das Vollwerden -der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland denken -mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber -das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es -mit der Zeit wohl vollends zu überwinden, denn er meinte, -es wäre doch töricht und schade gewesen, hätte er sich von -dieser Liebe verführen und in der argen Welt zurückhalten -lassen.</p> - -<p>Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich -auch die Einsamkeit mehr und mehr verlor wie ein Winternebel. -Von dieser Zeit an erschienen je und je unerwartete, -freundlich aufgenommene Gäste verschiedener Art, lauter -fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren -eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle -aus unbekannter Quelle seine Adresse wußten und keiner -ihres Ordens durch das Tal zog, ohne ihn heimzusuchen. -Es waren dies verstreute Angehörige jener großen Schar -von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen -Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen, -und deren einzelne Typen nun Berthold allmählich -unterscheiden lernte. Denn ihrer sind viele, aber sie lassen -sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und Gruppen -wie andere Lebewesen auch.</p> - -<p>Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich -aussehender Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt -mit Vorträgen über die Gefahren des Alkohols bereiste und -auf einer Ferientour unterwegs war. Er blieb nur eine -Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein angenehmes -Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen -und gehöre einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender -Menschen an.</p> - -<p>Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein -regsamer, begeisterter Herr in einem weiten altmodischen -Gehrocke, zu welchem er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd, -gelbe karrierte Beinkleider und auf dem Kopfe einen -hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut trug. Dieser -Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm -sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte -seinen Namen so bescheiden lächelnd und alle zu hohen -Ehrbezeugungen im voraus etwas nervös ablehnend, daß -Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da er ihn nicht -kannte und seinen Namen nie gehört hatte.</p> - -<p>Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte -hervorging, ein hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog -wundersame Heilungen, wegen deren er zwar von -Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja -grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und -Gerechten aber desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben -in Italien einer Gräfin, deren Namen er nicht verraten -dürfe, durch bloßes Händeauflegen das schon verloren gegebene -Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein Verächter -der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß -auf dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche -Bedürftige sehnlich erwarteten. Leider sehe er sich die -Reise durch Geldmangel erschwert, denn es sei ihm unmöglich, -für seine Heilungen anderen Entgelt anzunehmen, -als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich -daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn -gewiesen, um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht -seiner Person – an welcher nichts gelegen sei – sondern -eben den auf seine Rückkunft harrenden Bedürftigen zugute -kommen sollte.</p> - -<p>Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann -von russischem Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach, -und dessen feine Gesichtszüge und Hände in Widerspruch -standen mit seiner äußerst dürftigen Arbeiterkleidung -und den zerrissenen groben Schuhen. Er sprach nur -wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er -einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen -Künstler oder einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling -begnügte sich damit, einen glühend forschenden Blick -in Reichardts Gesicht zu tun und ihn dann mit einem geheimen -Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen. -Er ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem -verwunderten Wirte gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende -Kammer mit einer breiten Wandbank und fragte -demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt nickte, lud -den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener -Bank ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch -ein Wort gesprochen hätte. Am nächsten Morgen nahm -er noch eine Tasse Milch an, sagte mit tiefem Gurgelton -»Danke« und ging fort.</p> - -<p>Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der -erste einer langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen -und einer Art von baumwollener Hemdhose. Er hatte, -wie die meisten Brüder seiner Zunft, außer einiger Arbeitsscheu -keine Laster, sondern war ein lieber, kindlicher -Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem -sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken -ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie -er äußerlich seine etwas theaterhafte Wüstentracht nicht -ohne Würde trug.</p> - -<p>Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf -Reichardt. Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern -war in stolzer Demut überzeugt, daß auf dem Grunde -seiner Lehre ganz von selbst ein neues paradiesisches -Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich schon -teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht -töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, -sondern als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen -auffaßte. Ein Tier zu töten, schien ihm scheußlich, -und er glaubte fest daran, daß nach Ablauf der jetzigen -Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit von -diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand -es aber auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume -zu fällen; von allen Gaben der Natur schienen ihm nur -die Früchte dem Menschen bestimmt und erlaubt zu sein, -welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen zu -schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu -fällen, ja keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore -eifrig nickte: »Ganz recht! Wir sollen ja auch keine -Häuser haben, so wenig wie Kleider, das alles trennt uns -von der Natur und führt uns weiter zu allen den Bedürfnissen, -um deren willen Mord und Krieg und alle -Laster entstanden sind.« Und als Reichardt wieder einwarf, -es möchte sich kaum irgendein Mensch finden, der -in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen Winter -überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig -und sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet. -Eben das ist ja die Hauptquelle alles Elends -in der Welt, daß der Mensch seine Wiege und natürliche -Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der -Weg der Menschheit zurückführen, und dann werden wir -alle wieder im Garten Eden sein.«</p> - -<p>Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine -gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, -die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen -Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein -müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse -ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke -gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt, -wie er sie jetzt sah und nicht anders sehen konnte, bestand -aus dem kleinen Kreise primitiver Tätigkeiten, denen er -oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als auf der -einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von -ihm verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt -verteilte kleine Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich -zurechnen mußte, und zu der auch alle die Gäste zählten, -deren manche tagelang bei ihm blieben und gegen deren -drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während -ihr Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus -die Luft war, in der sein Geist atmete.</p> - -<p>Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen -Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder -hatten. Askese und Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase -waren nicht Erscheinungen gewisser Zeiten und Religionen, -sondern immer und überall in tausend Formen unter -den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und -alle diese Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten -gehörten in diesen Kreis. Sie waren das Salz der Erde, -die Umschaffenden und Zukunftbringenden, geheime geistige -Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den Fasten -und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien -der langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern -der Magnetiseure oder Gesundbeter.</p> - -<p>Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald -wieder eine systematische Theorie oder Weltanschauung -werde, dafür sorgte nicht nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis, -sondern auch eine ganze Literatur von Schriften, -die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht, teils zugesandt, -teils als notwendig empfohlen wurden. Eine seltsame -Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend -mit vegetarischen Kochbüchern und endend mit -den tollsten mystischen Systemen, über Christentum, Platonismus, -Gnostizismus, Spiritismus und Theosophie hinweg -alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen diesen -Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei -umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der -pythagoreischen Lehre mit dem Spiritismus darzutun, der -andere Jesus als Verkündiger des Vegetarismus zu deuten, -der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine Übergangsstufe -der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung -nur vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die -wandellose leibliche Unsterblichkeit der Individuen anstrebe.</p> - -<p>Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und -Herbstes und mit dieser Büchersammlung fand sich Berthold -schließlich bei rasch abnehmenden Tagen seinem zweiten -tiroler Winter gegenübergestellt. Mit dem Eintritt der -kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte -nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte, -urplötzlich auf wie mit der Schere abgeschnitten. Die -Apostel und Brüder saßen jetzt entweder still im eigenen -Winternest oder hielten sich, soweit sie heimatlos von Wanderung -und Bettel lebten, an andere Gegenden und an -die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen.</p> - -<p>Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung, -die er bezog, die Nachricht von dem Tode des Eduard van -Vlissen. Der hatte in einem Dorf an der russischen Grenze, -wo er der Cholera wegen in Quarantäne gehalten, aber -kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den -Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen -worden.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>6</h3> -</div> - -<p>Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale -zu. Seit einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden -nimmer verlassen und sich zugeschworen, auch ferner dem -Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die Genügsamkeit -und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in -seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen -im Schnee herum, denn der Winter war viel härter -als der vorjährige, und überließ die häusliche Handarbeit -immer häufiger dem Xaver, der sich längst in dem -kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen -so ziemlich verlernt hatte.</p> - -<p>Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben, -so mußte er doch alle die unendlich langen, stillen, -toten Abende allein in der Hütte sitzen, und ihm gegenüber -mit furchtbaren großen Augen saß die Einsamkeit -wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als -durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen, -und der ihn doch von hinten überfiel, so oft er den Blick -abwandte. Die Einsamkeit saß nachts auf seinem Bett, -wenn er durch leibliche Ermüdung den Schlaf gefunden -hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und wenn -am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen -Schritten pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das -Dorf verschwand, sah ihm sein Herr nicht selten mit nacktem -Neide nach. Für unbefestigte Menschen ist nichts gefährlicher -und seelenmordender als die beständige Beschäftigung -mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen -Leben, der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche. -Die ganze Krankheit dieses Zustandes mußte nun der -gute Eremit an sich erleben, und durch die Lektüre so manches -mystischen Buches geschult konnte er nun an sich selbst -beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden -von den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler -in der Wüste Thebais waren. Von den Entrückungen -und dem Einswerden mit dem Herzschlag der Natur, welche -jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts -zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des -freiwillig Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt.</p> - -<p>So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet -und an der Wurzel der Seele krank. Er sah übel -aus, und seine früheren Freunde hätten ihn nicht mehr erkannt; -denn über dem wetterfarbenen, aber eingesunkenen -Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus -dem hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit -scheu geworden die Augen, als hätten sie niemals -gelacht und niemals sich unschuldig an der Buntheit der -Welt gefreut.</p> - -<p>Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in -einer schlimmen Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus -auf. Sauber gebürstet und gekämmt, doch -fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte sich an -einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur -wenige Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille -bei seinem Eintritt, das einsilbige Grüßen und nachherige -Wegrücken der Tischnachbarn, das verhaltene Lachen am -Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen ihn bereuen, -daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet -wie van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine -Überlegenheit bewahrt hatte! Bedrückt und beinahe weinend -vor Enttäuschung und Schwächegefühl ging er bald -wieder davon.</p> - -<p>Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines -Tages der Knecht mit der Zeitung auch einen kleinen Brief -herauf, die gedruckte Einladung zu einer Versammlung -aller derer, die mit Wort oder Tat sich um eine Reform -des Lebens und der Menschheit mühten. Die Versammlung, -zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und -andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende -des Februar in München abgehalten werden. Wohlfeile -Wohnungen und fleischfreie Kosttische zu vermitteln erbot -sich ein dortiger Verein.</p> - -<p>Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm -diese Einladung eine Erlösung oder Versuchung bedeute, -dann aber faßte er seinen Entschluß und meldete sich in -München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an -nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise, -so einfach sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr -eingesponnen hier gehaust hatte, Gedanken und Sorgen; -er ließ sich ein Kursbuch kommen und las nachdenklich die -Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er von -mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte. -Gern hätte er auch zum Bader geschickt und sich Bart und -Haar zuschneiden lassen, doch scheute er davor zurück, da -es ihm als eine feige Konzession an die Weltsitten erschien, -und da er wußte, daß manche der ihm befreundeten Sektierer -auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf die -religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses. -Dafür ließ er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen, -gleich in Art und Schnitt wie sein van Vlissensches Büßerkleid, -aber von gutem Tuche, und einen langen, landesüblichen -Lodenkragen als Mantel.</p> - -<p>Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen -sein Häuschen, dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver -abgab, und wanderte in der Dämmerung das stille Tal -hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun im Wartesaal, -von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet, -und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne -wäre er in der zweiten oder ersten Klasse gefahren, nicht so -sehr aus alter Gewohnheit als um weniger beobachtet -unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die Schändlichkeit -eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht -war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier -schöner Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte -er sich die Kinder einer Bauernfrau zu Freunden und kam -mit den Leuten in ein leidliches Gespräch, das ihm wohltat -und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen und nahm -beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied. -Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr -gekosteten frohen Reiseunruhe im Münchener Zug und -fuhr aufmerksam durch das schöne Land, unendlich froh, -dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse Tage -entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung. -Wie war das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim -und München und die ganze alte Welt noch unverändert -und gleichmütig dastand, und daß alles das, was er sich -aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen -ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte!</p> - -<p>Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und -es begrüßten den Ankommenden gleich am Bahnhof die -ersten Zeichen derselben. Aus einem Zug, der mit dem -seinen zugleich ankam, stieg eine ganze Gesellschaft von -Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen und auf -Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere -Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten -die Brüder, bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession -in Bewegung setzten. Reichardt, den ein ebenfalls -heute zugereister Buddhist, einer seiner Sommerbesuche, -erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt er seinen -Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen, -deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde -augenblicklich peinlich störend auffiel. Unter dem -lauten Vergnügen einer nachfolgenden Knabenhorde und -den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte die -seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale.</p> - -<p>Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene -Wohnung und bekam einen Zettel mit der Adresse -in die Hand gedrückt. Er verabschiedete sich, nahm an der -nächsten Straßenecke einen Wagen und fuhr, ermüdet und -verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da rauschte -um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn -nichts mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude, -in denen er einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik -getrieben hatte, dort lag seine ehemalige Wohnung, -mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte früher der Justizrat -Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und -beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem -zu tun, und doch bereitete jede von den wieder erweckten -Erinnerungen ihm einen leisen süßen Schmerz. -Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie ehemals -und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge -noch Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen -Rädern zu den Theatern, und Soldaten hatten ihre -Mädel am Arm.</p> - -<p>Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche -Licht, das im feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte, -und das Gesumme der Wagen und Schritte, das -ganze wie selbstverständlich spielende Getriebe. Da war -Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber da war auch -Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem -war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige -Lebenslust einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte -sein wollen, und die ihn einfach beiseite getan hatte, ohne -einen Verlust zu fühlen, während sein bißchen Glück darüber -in Scherben gegangen war. Und dies alles sprach zu -ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und -machte ihn traurig.</p> - -<p>Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem -Zettel folgend stieg er zwei Treppen hinan und wurde -von einer kleinen roten Frau, die ihn fast mißtrauisch -musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen geführt, das -ihn kalt und ungastlich empfing.</p> - -<p>»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl -und bedeutete ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im -Voraus zu erlegen sei.</p> - -<p>Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während -sie auf die Zahlung lauerte, nach einem besseren -Zimmer.</p> - -<p>»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren -Zimmer, in ganz München nicht,« sagte die Frau kurz -und sachlich. Nun mußte er lächeln.</p> - -<p>»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte -er rasch. »Ich suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer, -nicht eine Schlafstelle. Die Herren, die hier für mich bestellt -haben, waren so freundlich, meine Börse möglichst -schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am Preise, wenn -Sie ein schöneres Zimmer haben.«</p> - -<p>Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran, -öffnete ein anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht -an und sagte: »Das hier wäre noch frei, das kostet aber -dreieinhalb.«</p> - -<p>Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und -wohnlich, fast behaglich eingerichteten Zimmer um, legte -den Mantel ab, gab der Frau ihr Geld für einige Tage -voraus und sah erst nachträglich, als er in dem fremden -Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er -allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung -ohne anderes Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf -einen besseren Empfang machen durfte.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>7</h3> -</div> - -<p>Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen -fremden Bett erwachte und sich auf den vorigen Abend -besann, ward ihm bewußt, daß seine Unzufriedenheit mit -der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges Verlangen -nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen -sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg -vielmehr munter aus dem Bette und sah dem Tag mit -Spannung entgegen. Früh ging er aus, und beim nüchternen -Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte -er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit -einer gewissen frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte. -Es war herrlich, hier umherzugehen und als kleiner Mitbewohner -dem großen Mechanismus einer schönen Stadt -anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit -zu lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren. -Sogar die weither ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken -klangen ihm nicht häßlich und erinnerten ihn nicht -an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur, daß -jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen.</p> - -<p>Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen, -er suchte daher eine volkstümliche Frühstückshalle, -um eine Schale Milch zu genießen.</p> - -<p>»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon -einzugießen. Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und -roch mit heimlichem Vergnügen den Duft des Trankes, -den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er es bei -diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot -dazu und nahm eine Zeitung zur Hand.</p> - -<p>Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige -Versammlung angekündigt und begrüßt wurde. Man -sei gespannt, hieß es, auf diesen Kongreß von Menschen, -die ein redliches Bemühen um wichtige Lebensfragen -vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei widerstreitender -Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag -gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott -wurde einiger Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht -und mit Aufrichtigkeit bedauert, daß die Mehrzahl dieser -Weltverbesserer allzufern vom Tagesleben sich in Spekulationen -verliere, statt tätig da und dort mitzuwirken -und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen -der Zeit zu beteiligen.</p> - -<p>Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel -dem stillen Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von -der gehässigen Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher -die meisten Schriften der neuen Propheten die Welt beurteilten. -Nachdenklich ging er weg und suchte den Versammlungssaal -auf, den er mit Palmen und Lorbeer geschmückt -und schon von vielen Gästen belebt fand. Die -Naturburschen waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen -oder tropischen Kostüme fielen auch hier -als Seltsamkeiten auf, dafür sah man manchen feinen Gelehrtenkopf -und viel Künstlerjugend. Die gestrige Gruppe -von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche -Insel im Gewoge.</p> - -<p>Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und -sprach den Wunsch aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen -möchten sich hier nicht noch weiter auseinanderreden, -sondern das Gemeinsame suchen und Freunde werden. -Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen -der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des -Weltfriedens. Ihm folgte ein greiser Theosoph aus England, -der seinen Glauben als universale Vereinigung der -einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl. Ihn -löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit -für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen -Weltreligion als eine gefährliche Utopie -brandmarkte, da jede Nation oder doch jede Rasse das Bedürfnis -und Recht auf einen eigenen, nach seiner Sonderart -geformten und gefärbten Glauben habe.</p> - -<p>Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende -Frau unwohl, und er begleitete sie hilfreich durch den Saal -bis zum nächsten Ausgang. Um nicht weiter zu stören, -blieb er alsdann hier stehen und suchte den Faden des -Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick über -die benachbarten Stuhlreihen wanderte.</p> - -<p>Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung -eine schöne Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen -hielt, und während sein Herz unruhig wurde und -jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn jäh verließ, -erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er -sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung -als die eines Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung -unerwartet über fremde Höhen hinweg die Türme der -Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie, stolze Haltung -ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen -Umriß ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und -Rasse, Menschenmenge und Ort wie Nebel dahin, und er -wußte nichts auf der Welt als sich und sie, und wußte, der -Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen und der -Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben -fehle und ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm -helfen könne. Und dies alles schien ihm möglich und in -Treue aufbewahrt; denn er meinte mit liebender Ahnung -zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge wenig -Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken -an ihn diese Versammlung aufgesucht habe.</p> - -<p>Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur -Erwiderung, und es machte sich bereits die erste Woge -der Rechthaberei und Unduldsamkeit bemerklich, welche -fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite, Freiheit und -Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt -der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte.</p> - -<p>Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher -Stürme kein Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten, -als sei sein ganzes Wesen sich bewußt, daß es einzig -von ihr gerettet und zu Leben und Glück zurückgeleitet -werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob sich das -Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu -und zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein -Widerwille gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt -wurde. Sie ging ganz nahe an Berthold vorbei, -ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich sehen, -wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer -Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter -und stiller geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich -frohem Stolz, wie die Vorüberschreitende überall -von bewundernden und achtungsvollen Blicken begleitet -wurde.</p> - -<p>Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst -in tadelloser Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig -gleichmäßigen Schritt, nicht eben fröhlich, aber aufrecht -und elastisch wie in einem guten Lebensglauben. -Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor -einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich -vergnügend, ohne zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu -folgte und in ihrer Nähe war. Und er blieb hinter ihr bis -zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im Tor ihrer -alten Wohnung verschwinden sah.</p> - -<p>Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte -er an sich nieder. Er war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte, -und die ganze ungepflegte Dürftigkeit seiner Erscheinung, -die ihn schon seit gestern bedrückt hatte, schien ihm jetzt unerträglich. -Sein erster Gang war zu einem Barbier, der -ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte, -und als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die -Gasse trat und die duftige Frische der rasierten Wangen -im leisen Winde spürte, fiel alle Befangenheit und einsiedlerische -Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig fuhr -er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen -Anzug und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner -Figur anpassen, kaufte nebenan weiße Wäsche, Halsbinde, -Hut und amerikanische Stiefel, sah sein Geld zu Ende -gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug einen -Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und -fand am Abend, als er in angenehmer Ermüdung heimkehrte, -alles schon in Schachteln und Paketen daliegen -und auf ihn warten.</p> - -<p>Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu -machen, und zog sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit -den neuen Sachen an, lächelte sich etwas verlegen im -Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je in seinem -Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt -zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl -geworfen, sein asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich -geworden wie die brüchige Puppenhülle eines jungen -Schmetterlings.</p> - -<p>Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob -er noch einmal ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft, -und er hatte kaum Antwort gegeben, so trat geräuschvoll -ein stattlicher Mann herein, in welchem er sofort -den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen -reisenden Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler -Einsiedelei besucht hatte.</p> - -<p>Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln -und nahm mit Verwunderung dessen frische Eleganz -wahr. Er selbst trug den braunen Hut und alten Gehrock -von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze Weste -dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für -längere Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie -oberhalb der Stiefel eine harmonikaähnliche Anordnung -von kleinen widerwilligen Querfalten aufwiesen. Er beglückwünschte -den Doktor zu seinem guten Aussehen -und hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen -einlud.</p> - -<p>Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon -Adolfus mit Leidenschaft von den heutigen Reden und -Verhandlungen zu sprechen und konnte es kaum glauben, -daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag -hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost -und soziales Elend gesprochen und dadurch Skandal -erregt, daß er beständig den nichtvegetarianischen Teil der -Menschheit als Leichenfresser bezeichnet hatte. Darüber -waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten -im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt -und mußte durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt -werden. Die Buddhisten hatten stumm in geschlossenem -Zuge den Saal verlassen, die Theosophen vergebens -zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst -verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem -Refrain:</p> - -<div class="poem"> -<p>»Ich laß der Welt ihr Teil,</p> -<p>Im All allein ist Heil!«</p> -</div> - -<p class="noindent">und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen -auseinandergegangen.</p> - -<p>Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde -dann gelassen und heiter, indem er ankündigte, er werde -morgen selbst im Saale sprechen. Es sei ja traurig, all -diesen Streit um nichts mit anzusehen, wenn man selbst -im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er entwickelte -seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte -und in der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen -magischen Seelenkräfte das Heilmittel für die Übel der -Welt erblickte.</p> - -<p>»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte -er einladend.</p> - -<p>»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd. -»Ich kenne ja Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg -wünsche. Ich selber bin in Familiensachen hier in -München und morgen leider nicht frei. Aber wenn ich -Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich -es sehr gerne.«</p> - -<p>Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts -Mienen nur Freundliches entdecken.</p> - -<p>»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer -mit einem Darlehen von zehn Kronen geholfen, die -nicht vergessen sind, wenn ich auch bis jetzt nicht in der -Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir nun nochmals -mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten – mein Aufenthalt -hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden, -die niemand mir ersetzt.«</p> - -<p>Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals -Glück für morgen, dann nahm er Abschied und ging nach -Hause, um zu schlafen.</p> - -<p>Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht, -da war Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und -er lag die ganze Nacht brennend in Gedanken an Agnes -und in tausend bitteren Zweifeln, denen doch das Herz -in stiller Ahnung tapfer widersprach.</p> - -<p>Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von -der schlaflosen Nacht erschöpft. Er brachte die frühen -Stunden auf einem Spaziergange und im Schwimmbad -zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor -einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien, -in einem hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung -vor.</p> - -<p>Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile -warten, dann fragte ihn ein kleines neues Mädchen, -keine richtige Magd, erstaunt und unbeholfen nach -seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und -die Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche -davon. Dort wurde nun ein Gespräch hörbar und zur -Hälfte verständlich.</p> - -<p>»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt -sagen, daß die gnädige Frau krank ist. – Wie sieht er -denn aus?«</p> - -<p>Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem -blauen leinenen Küchenkleide, sah ihn fragend an und -sprach kein Wort, da sie ihn unverweilt erkannte.</p> - -<p>Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?« -fragte er, und ehe weiteres gesagt wurde, -traten sie in das bekannte Wohnzimmer, wo die Frau -Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß, -sich bei seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos -aufrichtete.</p> - -<p>»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes -zur Mutter, die dem Besuch die Hand gab.</p> - -<p>Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube -den Mann an, las die Not eines verfehlten und schweren -Jahres in seinem mageren Gesicht und die Sicherheit und -den Willen einer geklärten Liebe in seinen Augen.</p> - -<p>Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern -wortlos angezogen gaben sie einander nochmals die -Hand.</p> - -<p>»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens -ihre Tochter große Tränen in den Augen hatte -und ihr erbleichtes Gesicht neben dem der Mutter im Lehnstuhl -verbarg.</p> - -<p>Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen -sogleich wieder auf und lächelte noch mit Tränen in -den Augen.</p> - -<p>»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann -nun die alte Dame. Da stand das hübsche Paar schon -Hand in Hand bei ihr und sah dabei so gut und lachend -aus, als habe es schon seit langem zusammengehört.</p> - - - - -<h2><a name="Emil_Kolb" id="Emil_Kolb">Emil Kolb</a></h2> - - -<p>Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer -Teil der Menschheit zu bestehen scheint, könnte man -als Karikaturen der Willensfreiheit bezeichnen. Indem -sie nämlich, unendlich weit von der Natur abgeirrt und von -der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die ursprüngliche -Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den -Ruf der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben -sie leichtsinnig und unentschlossen in einem wertlosen Leben -scheinbarer Willkür dahin. Da sie Eigenes nicht in -sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen verwiesen -und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage -und Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich -als Affen der Natur.</p> - -<p>Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb -in Gerbersau, und der Zufall (da man bei solchen Menschen -doch wohl nicht von Schicksal reden darf) brachte es -dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich vielen -anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre -und Elend kam, obwohl er um nichts schlimmer war als -tausend seiner Art.</p> - -<p>Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster, -und nur seine Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien -der Dierlamm und der Giebenrath hielt ihn -im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades von Mißachtung, -dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst -unter ihren Mitbürgern genießen.</p> - -<p>Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb -vorsichtigerweise von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen -Gebrauch. Es fiel ihm nicht ein, etwa bei einer Leichenfeier -oder in einem Festzuge neben einem Giebenrath -schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm -zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger -und stolzer erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen -an die ehrenvolle Verwandtschaft, die ihm immerhin -von Nutzen war. Es war diesem Manne die Gabe versagt, -im Walten der Natur und in der Entfaltung menschlicher -Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen -und anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch, -was seinem Tun und Leben versagt war, wenigstens seinen -Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt und -schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren, -schöneren Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete -Phantasie dessen fähig war.</p> - -<p>Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich -rüstigen Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien -auf dessen Zukunft, und damit rückte dies alles, -was bisher nur Gedankensünde und Fabelvergnügen gewesen -war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen, das -bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde. -Denn der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche -und Träume schon frühe als eine warme und treibende -Luft um sich und gedieh darin wie der Kürbis im Dünger, -er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren vor, der -Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal -unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen -Religion das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der -Eltern und Vorfahren schuldete. Emil Kolb fühlte den -Mut in sich, einmal das Schicksal eines Gewaltigen auf -sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs, -und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln -bei seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei -Schüchternheit ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und -mit ruhigem Lächeln die ehrerbietigen Grüße der Mitbürger -einzustreichen.</p> - -<p>Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte -das beste Recht aller Jugend sein und manchem -tüchtigen Manne die Jahre schwerer Erwartung tragen -helfen – jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas anders, -als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können, -Macht des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte, -sondern lediglich gut Essen und Wohnen, schöne Kleider -und feistes Wohlergehen. Schon früh erschienen ihm die -wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte, lächerlich -und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen -Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen, -statt ihre guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar -zu machen. So zeigte er auch für alle jene Fächer der -Schulwissenschaft reichlichen Eifer, die von den Dingen -dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung mit -Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und -anderen ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien.</p> - -<p>Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber -vor der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die -Torheiten der Dichter verstand, sondern die Pflege des -Ausdruckes zugunsten realer geschäftlicher Handlungen und -Vorteile. Er las alle Dokumente geschäftlicher oder rechtlicher -Natur, von der einfachen Rechnung oder Quittung -bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit -tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er -sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, -von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt -wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck -zu machen, Macht zu üben und über Unverständige -Vorteile zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er -diesen Vorbildern beharrlich nach und brachte manche Blüte -hervor, die einer kleineren Kanzlei kaum unwürdig gewesen -wäre. Und einen in seiner Sammlung solcher Dokumente -befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des Vaters -ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar -mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen -bereitete. Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung -des Vermißten: »Wer etwas über den Gesuchten -weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt melden«. -Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen, -welche in der Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten -beizubringen – –«.</p> - -<p>Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den -Anlaß und Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft. -Der Lehrer hatte seine Klasse einst einen Aufsatz -über den Frühling verfassen und mehrere dieser Arbeiten -von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher zwölfjährige -Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land -der schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten -ihre Aufsätze mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen -gangbarer Dichter. Es war vom Amselruf -und von Maifesten die Rede, und ein besonders Belesener -hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle -diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht -zu rühren vermocht, er fand das alles blöd und töricht. -Da kam, vom Lehrer aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts, -Franz Remppis, an die Reihe, seinen Aufsatz vorzulesen. -Und gleich bei den ersten Worten »Es ist nicht -zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme -Jahreszeit genannt zu werden verdient« – gleich -bei diesen Worten merkte Kolb mit entzücktem Ohre den -Klang einer ihm verwandten Seele, lauschte scharf und -beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies war der -Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt -und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon -mit einiger Sicherheit anzuwenden wußte.</p> - -<p>Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler -seine Anerkennung aus, und von der Stunde ab -hatten die beiden Knaben das Gefühl, einander zu verstehen -und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen -je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte -es auch keiner vom andern, vielmehr spürten sie, daß es -gut sei, einander gelten und bestehen zu lassen, um einmal -einer am andern etwas zu haben und etwa später größere -Dinge gemeinsam unternehmen zu können.</p> - -<p>Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen -Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile -des Zusammenlegens und der gegenseitigen Ermunterung -zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß Franz Remppis -darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes dieser -Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu -bestehen, daß das Geld solange in seinen Händen bleibe, -bis auch der Freund eine bare Einlage gemacht habe, und -da es hierzu niemals kommen wollte, versank der gute -Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den -Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin -fand Kolb sehr bald einen Weg, seine kümmerlichen -Umstände vorteilhaft mit den weit bessern des Wirtssohnes -zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen kleine -Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern -mit seinen Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum -Ende der Schulzeit, und gegen das Versprechen eines Honorars -von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb dem -Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen, -welches sie auf diese Weise beide wohl bestanden. Emil -hatte sogar so gute Zeugnisse eingeheimst, daß sein Vater -darauf schwor, an dem prächtigen Jungen sei ein Gelehrter -verloren gegangen. Allein an fernere Studien war nicht -zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und -tat manchen sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten, -um seinem Sohne einen besonderen Platz im -Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine glänzende -Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung -der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen -Knaben als Lehrling im Bankgeschäft der Brüder Dreiß -unterzubringen. Damit schien ihm ein bedeutender Schritt -nach oben hin getan und eine Gewähr für die Erfüllung -weit kühnerer Träume gegeben.</p> - -<p>Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe -widmen wollten, gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere -Eröffnung dieser Laufbahn als die Lehrlingschaft -bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und Warengeschäft -war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes -Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten -Klassen, deren sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge -in ihr Geschäft aufnahmen. So hatten sie stets, da die -Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und sechs junger -Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr -an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung -erhielten. Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des -alten ehrwürdigen Hauses als eine überall im Lande gültige -Empfehlung ins Leben mitnehmen.</p> - -<p>Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende -Lehrling und wurde darum von manchem beneidet, der -sich selbst auf diesen Ehrenplatz gewünscht hatte. Er selbst -fand hingegen die Ehre gering und recht teuer bezahlt; -denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem -alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel -glaubten abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu -tun war, das zu tun sich jeder scheute und zu gut hielt, -da rief man nach Emil, dessen Name immerzu gleich einer -Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so daß der junge -Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter -den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren -Kisten eine kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der -Zukunft nachzuhängen. Es entschädigte ihn für dies rauhe -Leben nur die sichere Rechnung auf den Glanz späterer -Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder -Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten -und sich außerdem noch einen gut zahlenden Volontär -hielten, pflegten an allem zu sparen, nur am Essen für -ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb sich jeden Tag -dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat, und -wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung -zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch -der Lehrlinge gehörende Übung, welcher er mit derselben -Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am Morgen und dem -Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend.</p> - -<p>Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt -in diese Vorhölle seines Berufes sich von dem Freund -hatte trennen müssen. Franz Remppis wurde von seinem -Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt und erschien -eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm -seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf -dessen Ecken aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens -Trost, daß sie beide einander fleißig schreiben wollten, -leuchtete dem armen Emil wenig ein; denn er wußte nicht, -woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen -sollen.</p> - -<p>Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin -Remppis von seinem Einstand am neuen Orte berichtete. -Dieses Schreiben, das mit großem Fleiß und Vergnügen -aus vielen vortrefflichen Phrasen und kaufmännischen Ausdrücken -zusammengestellt war, regte Emil zu einer langen, -sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere -Abende hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste -nicht möglich war. Endlich gelang es ihm doch, und er -sah es vor sich selbst als eine Entschuldigung und halbe -Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt dem edlen Gefühle -der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige -Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling -ihm die Briefmarken dazu in die Hand, die er -unterwegs aufkleben solle. Diese Gelegenheit nahm Emil -wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den er in der -Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen -Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen -ohne Marke in den Postkasten.</p> - -<p>Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt -über eine Grenze, die für ihn besonders gefährlich und lockend -war. Wohl hatte er auch zuvor schon je und je, gleich -den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu sich gesteckt, die -seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte Zwetschgen -oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte -ein jeder mit ganz heilem Gewissen – sie stellten eine -flotte und herrische Gebärde dar, womit der Täter vor -sich selber prahlte und seine Zugehörigkeit zum Hause und -dessen Vorräten dartat. Hingegen war mit dem Diebstahl -der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit -Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den -keine Gewohnheit und kein Beispiel entschuldigen konnte. -Es schlug denn auch dem jungen Missetäter das Herz in -geziemender Angst, und einige Tage lang war er zu jeder -Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und -er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige -Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus -genascht und gediebelt haben, dennoch der erste richtige -Diebstahl ein unheimliches Erlebnis, und mancher -trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden. Wenigstens -zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe -ihre erste Untat nicht zu tragen vermögen und -ohne äußere Nötigung sich durch ein Geständnis erleichtern -und für immer reinigen.</p> - -<p>Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor -der möglichen Entdeckung, und vermutlich brannte auch -sein wenig feines Gewissen ein wenig, aber als die Tage -gingen und die Sonne weiter schien und die Geschäfte -ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als -habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese -Möglichkeit, in allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen -zu ziehen, als ein Ausweg aus hundert Nöten, ja vielleicht -als der ihm bestimmte Weg zum Glücke. Denn da ihn -die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg -zum Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er -stets wie alle Toren nur das Ziel und nie den Weg bedachte, -mußte die Erfahrung, daß man unter Umständen -sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn gewaltig -in Versuchung führen.</p> - -<p>Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für -ein Männlein seines Alters hundert kleine schwer entbehrte -Dinge, die vor seinen Träumen wie begehrenswerte -Früchte des Paradieses hängen und welchen das -Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt. -Sobald Emil Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung -weiteren unredlichen Erwerbs zu spielen, sobald der Besitz -eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze ihm keine Unmöglichkeit -mehr, sondern jederzeit erreichbar schien, richtete -sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen, -an die er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling -Färber ein Taschenmesser mit einer Säge und einem -Stahlrädchen zum Glasschneiden daran, und obwohl -das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein Bedürfnis -war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes -von Messer überaus wünschenswert vorkommen. -Und nicht übel wäre es auch, am Sonntag eine solche blau -und braun gefärbte Krawatte zu tragen, wie sie jetzt bei -den feineren Lehrjungen die Mode waren. Sodann war -es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen Fabriklehrbuben -am Feierabend schon zum Bier gingen, während -ein Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und -an Stande so viel höher als jene, jahraus, jahrein kein -Wirtshaus von innen zu sehen bekam. Und war es nicht -ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen halbwüchsigen -Stricker oder Weber aus den Fabriken schon -am Sonntag freimütig mit den Kolleginnen verkehren -oder gar Arm in Arm gehen? Und ein junger Kaufmann -sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit erst abwarten -müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen -Mädel das Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel -anzubieten?</p> - -<p>Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende -zu machen. Es war weder sein Gaumen für die herbe -Würze des Bieres noch sein Herz und Auge für die Reize -der Mädchen reif, aber er strebte selbst im Vergnügen -fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und -zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen -Kollegen.</p> - -<p>Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er -bedachte seine Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig, -als er zuvor seine erste Berufswahl bedacht hatte, und -es blieb seinem Nachdenken nicht verborgen, daß auch dem -besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere. Es durfte -durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum -wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache -weitläufig vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb -den Hals wagen. So überlegte und untersuchte er -alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm etwa offen -standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten -Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein -erstes Lehrjahr tadelfrei abdiene, so würden die Herren -ihm die sogenannte Portokasse übertragen, welche stets -der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um also seine -Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können, -diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit. -Er wäre darüber beinahe seinem Entschlusse -untreu und wieder ehrlich geworden; denn der ältere von -seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer bemerkte -und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab -ihm gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen -zu, welche ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen. -So war er häufig im Besitz kleinen Geldes und brachte es -dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde sich eine von den -braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit die -Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten.</p> - -<p>Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen -ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen und feierte -sein erstes Fest. Bisher hatte er sich wohl des Sonntags -manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn sie langsam -und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten, -vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen -und recht heimatlos und verstoßen sich umhertrieben, -aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade entlassen -und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen. -Da hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch -weit bis zu Glück und Ehre hätten, und hatte nicht ohne -bitteren Neid den jungen Fabriklern nachgeschaut, die mit -langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der -Musik einer Ziehharmonika folgten.</p> - -<p>Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit -einen festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund -Remppis hatte in Lächstetten, wie es schien, mehr Glück -gehabt als Emil daheim. Und neulich hatte er einen Brief -geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf der feinen -Halsbinde veranlaßt hatte.</p> - -<p>Lieber, sehr geehrter Freund!</p> - -<p>Im Besitz Deines Werten vom 12. <span class="antiqua">hujus</span> bin in der angenehmen -Lage, Dich für kommenden Sonntag, 23. <span class="antiqua">hj.</span>, -zu kleiner Fidelität einzuladen. Unser Verein jüngerer -Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag seinen -Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu -herzlich einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag, -da erst noch bei meinem Chef essen muß. Werde Sorge -tragen, daß alles Deine Anerkennung findet, und bitte, -Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen. -Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls -erbitte Antwort wie sonst <span class="antiqua">poste restante</span> -Merkur 01137. Deinem Werten mit Vergnügen entgegensehend -empfiehlt sich mit Gruß Dein</p> - -<p class="right"> -Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H.<br /> -</p> - -<p class="p2">Sofort hatte Emil Kolb geantwortet:</p> - -<p class="p2">Lieber, sehr geehrter Freund!</p> - -<p>In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von -gestern sage für Deine gütige Einladung besten Dank und -wird es mir ein Vergnügen sein, derselben Folge zu leisten. -Die Aussicht auf die Bekanntschaft mit den werten Herren -und Damen eures löblichen Vereins ist mir so wertvoll -wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem -regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen. -Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches -Zusammentreffen verschiebend, verbleibe mit besten -Grüßen Dein ergebener Freund</p> - -<p class="right"> -Emil Kolb.<br /> -</p> - -<p><span class="antiqua">P. S.</span> In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die -geschäftliche Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar -Gebrauch machen werde, da zurzeit leider meine Kasse -größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein dürfte.</p> - -<p class="right"> -Dein treuer Obiger.<br /> -</p> - -<p class="p2">Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen -Ende Juni und da seit wenigen Tagen nach langem Regen -heißes Sommerwetter eingetreten war, sah man überall -die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den -ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld -für die kleine Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten. -Darum machte er sich zeitig am Vormittag auf den Weg -und war bis zur verabredeten Stunde lange genug unterwegs, -um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in -reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben -tat er an günstigen Orten auch den eben reifenden -Kirschen Ehre an und kam bequemlich zur rechten Zeit in -Lächstetten an, das er noch nie gesehen hatte. Nach den -Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich diese -Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen -Gerbersau als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster -Lebenslust vorgestellt und war nun etwas enttäuscht, die -Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen eher geringer und -schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch das -Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die -Geheimnisse des Handels erlernen sollte, konnte sich mit -dem stattlichen Hause der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht -messen. Dies alles stimmte Emils Erwartungen und Freudebereitschaft -einigermaßen herab, doch stärkten diese kritischen -Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung, -er würde neben der weltgewandteren und lebensfroheren -Jugend dieser Stadt bestehen können.</p> - -<p>Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus, -ohne daß er den Mut gefunden hätte, einzutreten und -nach seinem Landsmann zu fragen. Er ging hin und wieder, -atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft und -wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu -pfeifen, der in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz -Remppis und ihm gegolten hatte. Nach einiger Zeit erschien -der Gesuchte denn auch in einem hohen Mansardenfensterchen, -winkte hinab und wies den Freund durch Zeichen -an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz -zu erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg -und brachte seine Wartezeit vor dem Schaufenster -eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem feststellte, daß -es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und -zugehe als daheim in Gerbersau.</p> - -<p>Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils -Kritiklust zusammen, da er den Schulfreund in einem ganz -neuen Anzug mit einem steifen, unmäßig hohen Hemdkragen -und sogar mit Manschetten geschmückt sah.</p> - -<p>»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann -es also losgehen. Hast du Zigarren?«</p> - -<p>Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll -in die Brusttasche.</p> - -<p>»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte -ich heut nicht frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf. -Aber jetzt wollen wir marschieren.«</p> - -<p>So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine -Enttäuschung doch nicht verbergen. Er war zu einem -Vereinsausfluge eingeladen, er hatte Fahnen und vielleicht -sogar Musik erwartet.</p> - -<p>»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des -Handelsstandes?« fragte er mißtrauisch.</p> - -<p>»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter -den Fenstern der Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem -so wie so kein Vergnügen. Nein, wir treffen uns vor -der Stadt beim alten Galgen.«</p> - -<p>»So so. Beim Galgen?«</p> - -<p>»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da -sind wir ganz sicher, daß keiner von den Alten hinkommt.«</p> - -<p>Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines -Gehölz und ein altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie -rasch eintraten, nachdem Franz sich scharf umgesehen hatte, -ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden sie von sechs -oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle vor -hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis -stellte seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil -ward feierlich willkommen geheißen.</p> - -<p>»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er.</p> - -<p>»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen -Verein ins Leben gerufen, um die Interessen unseres -Standes zu fördern, vor allem aber um unter uns die Geselligkeit -zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind, Herr -Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.«</p> - -<p>Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen, -die doch eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese -später im Walde zu treffen hoffe.</p> - -<p>Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden -Sommertag hinein. Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer -Franz sich seiner Vaterstadt rühmte, die er in seinen Briefen -beinahe verleugnet hatte.</p> - -<p>»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr, -Emil, da geht es anders zu als hierzuland! Und was es -dort für schöne Mädchen gibt!«</p> - -<p>Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig -und erzählte freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten -im Vergleich mit Gerbersau finde. Einige von den -jungen Leuten, die schon in Gerbersau gewesen waren, -gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los, rühmte -ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes -und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest, -und die paar geborenen Lächstettener, die dabei waren, -gaben ihnen recht und schimpften auf die eigene Heimat. -Sie alle waren voll unerlöster Kindlichkeit und zielloser -Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren und rückten an -ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild, -als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton, -den er daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt -hatte, und wurde mit allen gut Freund.</p> - -<p>Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines -prächtigen Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft -von vier halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern. -Es waren Töchter geringer Häuser, denen es -an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil schon als -Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche -Verhältnisse unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb -als Fräulein Berta, Luise, Emma und Agnes vorgestellt. -Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse -und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die -beiden anderen gingen lose nebenher und gaben sich Mühe, -die ganze Gesellschaft zu unterhalten. Es war nämlich -nach dem Hinzutritt der Damen die frühere lärmende Gesprächigkeit -der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren -Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten, -in deren Bann auch Franz und Emil fielen. Alle -diese jungen Leute waren noch durchaus Kinder, und ihnen -allen fiel es weit leichter, die Manieren von Männern -nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß -zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber -ohne Mädchen gewesen oder hätten doch mit diesen wie -mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt, aber das schien -nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die Mädchen -ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für -ihren Ruf diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen -jungen Handelsleuten das nachzuahmen, was er sich nach -Hörensagen und Lektüre unter einem feinen geselligen -Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und gaben -den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei -gestimmt war, und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld -doch der Liebe noch nicht fähig waren, bewegten -sich recht ängstlich und befangen in einer phantastisch verlogenen -Sphäre zierlicher Sentimentalität.</p> - -<p>Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit, -und das Fräulein Emma verstrickte ihn bald in ein schönes -Gespräch über den Reiz sommerlicher Waldausflüge, das -später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft und Lebensumstände -überging und wobei Emil sich nicht übel -bewährte, da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald -wußte das Mädchen alles Wissenswerte über den jungen -Mann, den sie sich zum Kavalier für diesen Tag erlesen -hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über sich -und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib -als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn -Fräulein Emma nach dem Stande seines Vaters fragte, -schien ihm das Wort Flickschuster gar zu schroff und häßlich -und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein Papa -habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie -ein glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger -Schuhwaren, dem ein solcher Duft von Eleganz und -geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg, daß ihre weiteren -Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes -als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt -zu immer kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit -nötigten. Es entstand aus Fragen und Antworten -eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben war -Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht -eben reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung -und Begabung früh von den Schulstudien zum Handel -hingeführt hatte. Er erlernte als Volontär, welches Wort -auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen alten -Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes -und war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen, -um seinen Schulfreund Franz zu besuchen. -Was die Zukunft betraf, so konnte Emil ohne Gefahr -und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden, und -je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je -mehr von Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war, -desto mehr kam er ins Feuer und desto besser gefiel er dem -Fräulein Emma. Diese hatte von ihrer Abstammung nichts -und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel erzählt, -daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten -und leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches -zu leiden habe, das sie jedoch kraft eines tapferen -Herzens ohne Murren zu ertragen wisse.</p> - -<p>Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen -Eigenschaften wie auch das Äußere des Fräuleins einen -starken Eindruck. Vielleicht und vermutlich hätte er sich -in irgendeine andere, sofern sie nicht gerade häßlich war, -ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit einem -Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn -zeigte und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das -er in der Stille sich selber noch zu jung erschien. Desto -feierlicher lauschte er den Erzählungen der Emma und -gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen. Es blieb -ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg -bei Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich -dem Franz imponierte.</p> - -<p>So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik -und lärmender Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein -stilles Erlebnis und jedenfalls etwas nicht minder Schönes -geworden. Es geschahen zwischen ihm und seinem schönen -Fräulein keine Liebeserklärungen und keine Zärtlichkeiten, -vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es -entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen, -er war zum erstenmal verliebt und zum erstenmal -Kavalier, und beides gefiel ihm nicht wenig.</p> - -<p>Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge -einzukehren, wurden in der Nähe eines Dorfes -zwei von den Jünglingen auf Proviant ausgeschickt. Sie -kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern -wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen, -wobei die Mädchen das Brotschneiden und Einschenken -übernahmen und mit ihren hellen Sommerkleidern froh -und festlich aussahen. Emil, der den ganzen Tag auf den -Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit -eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste -von allen. Doch mußte er bei diesem ersten Fest -seines Mannesalters die bittere Erfahrung machen, daß -nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß seine -Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines -Kindes waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder -vierten Glase Bier und mußte den Heimweg nach Lächstetten -als Nachzügler unter des Freundes Obhut in Schmerzen -und Reue zurücklegen.</p> - -<p>Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied -und trug ihm Grüße an die Kameraden und an die -lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu Gesicht bekommen -hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet -für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren -durchs Fenster die schöne sommerliche Landschaft abendlich -werden und festlich verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung -der Rückkehr zu Arbeit und Entbehrung voraus -und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen -wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten -zu legen.</p> - -<p>Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen -seinem Freunde schreiben:</p> - -<p class="center p2"> -»Lieber Freund!<br /> -</p> - -<p>In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht -unterlassen, Dir nochmals meinen Dank auszusprechen. -Zu meinem lebhaften Bedauern ist mir unterwegs jenes -Versehen passiert und hoffe ich sehr, es möchte Dir und -den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört -haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn -Du die Güte haben wolltest, dem Fräulein Emma einen -Gruß von mir und meine Bitte um Entschuldigung für -jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich sehr gespannt, -Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen, -da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt -und ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem -Anlaß an selbe mit ernsteren Anträgen heranzutreten. -Diesbezüglich Deine strengste Diskretion erbittend und -voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in freundschaftlicher -Ergebenheit Dein Emil Kolb.«</p> - -<p>Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ -wissen, daß der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren -vom Verein sich freuen würden, Emil bald einmal wieder -bei sich zu sehen. Der Sommer ging hin, und die Freunde -sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal, bei einer Zusammenkunft -in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte -zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil -den Schulfreund bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige -Wiedersehensfreude auf, denn Emil hatte keinen anderen -Gedanken, als etwas über das Fräulein Emma zu erfahren, -und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder -hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem -Sonntage selbst seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet -und seinen Freund bei ihr auszustechen versucht. Unschönerweise -hatte er damit begonnen, daß er dessen Legende -zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung dargetan -hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde, -noch mehr aber wegen einer sogenannten Hasenscharte, -welche Franz am Munde hatte und die der Emma mißfiel, -wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch nichts -erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen -und enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen -am Abend nur darin einig, daß keiner von -beiden eine baldige Wiederholung dieser Zusammenkunft -für notwendig hielt.</p> - -<p>Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen -zwar nicht eben beliebt, wohl aber nützlich gemacht und -soviel Vertrauen erworben, daß im Herbst, nach dem Avancement -des ältesten Lehrlings und dem Eintritt eines -neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer -alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte -Portokasse übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult -angewiesen und zugleich Büchlein und Kasse übergeben, -ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte, -worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das -bare Geld geordnet lagen.</p> - -<p>Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne -angelangt, verwaltete in der ersten Zeit die paar Taler -seiner Kasse mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten -mit dem Gedanken vertraut, aus dieser Quelle zu -schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese -Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in -der klugen Voraussetzung, man werde seine Führung in -dieser ersten Zeit besonders genau beobachten. Vielmehr -war es ein Gefühl von Feierlichkeit und innerer Befriedigung, -das ihn gut machte und vom Bösen abhielt. -Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor -und als Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen -und Geachteten emporgerückt; er genoß diese -Stellung mit Andacht und sah auf den soeben neu eingetretenen -jüngsten Lehrling mit großem Mitleid hernieder. -Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen. -Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung -vom Bösen abzuhalten vermochte, so genügte auch eine -Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze zu erinnern und -diese zur Ausführung zu bringen.</p> - -<p>Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute, -an einem Montage. Dieser Tag, an welchem nach kurzer -Sonntagsfreiheit und mancher Lustbarkeit die Nebel des -Dienstes, des Gehorchenmüssens und der Arbeit sich wieder -für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und tüchtige -junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten -den Sonntag der Lust geweiht und alle gute -Laune einer Woche im voraus verbraucht haben.</p> - -<p>Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden -älteren Lehrlinge waren tags zuvor samt dem Herrn -Volontär in der Vorstellung einer durchreisenden Theatertruppe -gewesen und hatten nun, durch das gemeinsame -seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander zu -flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der -Hauptstadt, ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden -eines Komikers nach und weckte die Erinnerung -an gestrige Genüsse jeden Augenblick von neuem. Emil, -der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und -kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit -Neid und Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am -frühen Morgen schon in bitterer Montagslaune angebrummt, -allein und ausgeschlossen stand er an seinem -Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn -ohne Zweifel bemitleideten.</p> - -<p>Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines -Prinzipals, den er abschicken sollte und aus dem er zuvor -noch Stilistisches zu lernen hoffte. Es war ein Brief -an einen großen Lieferanten und begann »Sehr geehrter -Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend, -bitte nun endlich, Berechnung über die am 11. -Vorigen erhaltenen Waren einzusenden.« Es war nichts -Neues, enttäuscht legte der Lehrling den Brief zu den -anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem -Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der -sich zweimal wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen -der ganzen Stadt vertraut, kündete den Ausrufer der -Schauspielerfamilie an, der auch sogleich auf dem Platz -erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang -und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften! -Damen und Herren! Es findet heute Abend -acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen Hecht die unwiderruflich -letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira -statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der -Graf von Felsheim oder Vaterfluch und Brudermord«. -Zu dieser unwiderruflich allerletzten Hauptgalavorstellung -wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen. Trara! -Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände -statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten -und zweiten Rang erhält vollständig gratis ein Los. Trara! -Trara! Letztes Auftreten der berühmten Truppe! Letztes -Auftreten auf Wunsch zahlreicher Kunstfreunde! Heute -Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!«</p> - -<p>Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen -Montagmorgens traf den einsamen Lehrling ins Herz. -Die Gebärden und Gesichter des Volontärs, das Tuscheln -der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von unerhörtem -Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden -Verlangen zusammen, endlich auch einmal dies alles zu -sehen und zu genießen, und das Verlangen ward alsbald -zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner Hand.</p> - -<p>An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche -Zahlen in sein kleines sauberes Kassabüchlein und nahm -einige Nickelstücke von dem ihm Anvertrauten weg. Aber -obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener Diebstahl -einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig. -Er hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat -gewöhnt, er fürchtete keine Entdeckung, ja er fühlte einen -leisen Triumph, als er sich abends vom Prinzipal verabschiedete. -Da ging er nun hinweg, das Geld des Mannes -in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und -der dumme Kerl würde nichts merken.</p> - -<p>Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten, -hatte er sagen hören, gab es noch weit größere und -glänzendere Theater, und da gab es Leute, die jeden lieben -Abend hineingingen, immer auf die besten Plätze. -So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der -Sinn des Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch -die farbigen Figuren und Bilder der Bühne, außerdem -war es nobel und gab Ansehen, wenn einer so im Parkett -sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was -vorspielen lassen konnte.</p> - -<p>Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein -unsichtbares Loch, durch welches in aller Stille immerzu -ein kleiner dünner Geldfluß entwich und dem Lehrling -Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich zog hinweg -in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder. -Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf -dem Brühel ein Karussell, und außer dem Fahrgeld und -Bier oder Kuchen war meistens dazu auch ein neuer -Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides. -Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem -verwöhnten Manne, der sich überlegt, wo er am kommenden -Sonntag vergnügt sein will, und der aufs Geld nicht -zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es beim Vergnügen -auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und -tat mit Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit -gehalten hätte. Beim Bier schrieb er an die jungen -Herren in Lächstetten Ansichtskarten, und nicht die billigsten, -sondern stets von den lackierten farbigen mit den -tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen -jede Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage. -Und wo er sonst ein trockenes Brot verzehrt hatte, -fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu, er lernte in -Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen -und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen.</p> - -<p>Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes -vorsichtig sein und durfte nicht immer auftreten, -wie es ihm gerade Spaß gemacht hätte. Die paar ersten -Male spürte er auch vor dem Monatsende und der Kontrolle -seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles -gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen -Unfug einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb, -trotz aller Vorsicht am Ende sicher und blind.</p> - -<p>Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben -Briefe statt für vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr -ihm den falschen Eintrag vorhielt, blieb er frech dabei, -es müßten sieben Briefe gewesen sein. Und da der Herr -Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil friedlich -seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne -daß der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und -studierte es sorgsam durch. Denn es war ihm nicht nur -der größere Portoverbrauch in letzter Zeit aufgefallen, -sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der Vorstadt -erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag -öfter zu ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als -der Vater ihm dafür geben könne. Und nun hatte der -Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen und die -Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben -seines jungen Kassiers zu erkennen.</p> - -<p>Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war, -ließ der jüngere der Sache zunächst ihren Lauf, indem er -nur täglich in der Stille die kleinen Unterschlagungen betrachtete -und notierte. Er sah, daß sein Verdacht dem jungen -Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich -ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der -ihn der Bursche eine so lange Zeit hintergangen und -bestohlen hatte.</p> - -<p>Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen -beriefen die beiden Herren den Sünder in ihr Privatkontor. -Da versagte denn doch die erworbene Sicherheit -des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden ernsten -Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein -schmales Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht -und verlor den Atem.</p> - -<p>Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein -schmucker Marktplatz durchsichtig, oder eine nette helle -Gasse, und man sähe unterm Boden Kanäle, Kloaken und -trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel -riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen -jungen Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner -Herren Augen da. Das Schlimmste, was er je gefürchtet, -war hereingebrochen, und es war übler, als er -gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in -seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein -Fleiß und Gehorsam war nicht gewesen, es blieb von einem -fleißigen Leben zweier Jahre nichts übrig als die -Schmach seines Vergehens.</p> - -<p>Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm -und bescheidener Hausdieb gewesen war, wurde nun zu -dem, was die Zeitungen ein Opfer der Gesellschaft -nennen.</p> - -<p>Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet, -in ihren vielen Lehrbuben junge Menschen mit -jungen wartenden Schicksalen zu sehen, sondern nur eben -Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und die für Jahre -eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten. -Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges -Leben an der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht, -wenn nicht ein guter und williger Mensch zu helfen -bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre ihnen im -Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten -einem Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und -ihr Haus geöffnet, nun hatte dieser Mensch sie hintergangen -und ihr Vertrauen mißbraucht – das war eine -klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und -kamen überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben, -und doch wäre dies das Beste gewesen, wenn sie -doch einmal selbst die Hand von dem Entgleisten abziehen -wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten und -zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem -Vater gehen und ihm selber sagen, weshalb man ihn -in einem anständigen Handelshause nicht mehr brauchen -könne.</p> - -<p>Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf -gemacht werden. Sie waren ehrenwerte Männer und auf -ihre Art wohlmeinend, sie waren nur gewohnt, in allem -Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je nachdem -eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten. -So war auch Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und -untersinkender Mensch, sondern ein bedauerlicher Fall, -welchen sie nach allen Regeln ohne Härte erledigten.</p> - -<p>Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt -und gingen am folgenden Tage selber zu Emils -Vater, um mit ihm zu reden, die Sache zu erzählen und -etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb -wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war -gestern nicht nach Hause gekommen, er war davongelaufen -und hatte die Nacht im Freien hingebracht. Zur Stunde, -da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten, stand er frierend -und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte -sich, im Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen -Untergangs, so hart und trotzig gemacht, wie es -dem schwachen Jungen sonst in Jahren nicht möglich gewesen -wäre.</p> - -<p>Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur -zu flüchten, sich zu verbergen und die Augen zu schließen, -da er die Schande wie einen großen giftigen Schatten über -sich fühlte. Erst allmählich, da er einsah, er müsse zurückkehren -und irgendwie das Leben weiter führen, hatte sein -Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte sich vorgenommen, -den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden. -Indessen war auch diese Rachelust vergangen. Emil sah -ein, wie sehr er sich den weiteren Weg zu jedem Glück erschwert -habe, und kam am Ende mit seinen Gedanken zu -dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut -und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten -Kräften den Weg des Bösen gehen, um doch noch auf -seine Weise Recht zu behalten und das Schicksal zu -zwingen.</p> - -<p>Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach -einer verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger -Bösewicht nach der Heimat zurück, auf Schmach und üble -Behandlung gefaßt und zu Krieg und Widerstand gegen -die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt.</p> - -<p>Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne -Umgehung der Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu -nehmen und den geschwächten Willen nicht vollends zu -brechen, sondern langsam wieder zu erheben und zum Guten -zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster -Kolb vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser -Mann das Gesetz des Zusammenhanges von Ursache -und Wirkung zu erkennen oder doch zu fühlen. Statt -die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner -schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer -Besserung an sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr -Kolb so, als sei von seiner Seite her alles in Ordnung -und als habe er allen Grund gehabt, von seinem Söhnlein -nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte -nie gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen, -der allein in den Seelen der Kinder das Gewissen -wecken und der Lust zur Entartung trotzen kann.</p> - -<p>Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden -Sünder wie ein Höllenwächter bellend und fauchend, -er rühmte ohne Grund den guten Ruf seines Hauses, ja -er rühmte seine redliche Armut, die er sonst hundertmal -verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und Enttäuschung -seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der -sein Haus in Schande gebracht und seinen Namen in den -Schmutz gezogen habe. Alle diese Ausdrücke kamen nicht -aus seinem erschrockenen und völlig ratlosen Herzen, sondern -aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel und -erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß -getan hatten.</p> - -<p>Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er -hielt den Kopf gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend, -aber beinahe doch dem ohnmächtig wetternden Alten überlegen. -Alles was der Vater von der ehrlichen Armut -vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam -ihm nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft -in der Welt gewußt hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen. -Er war in der überlegenen Lage dessen, -dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren -Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat. -Dagegen verstand er die Mutter wohl, die hinten am -Tische saß und stille weinte. Er fühlte, daß sie in dieser -Stunde etwas von dem kosten mußte, woran er selber -diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu -ihr, der er am wehesten getan hatte und von der er doch -am ehesten Mitleid erwartete.</p> - -<p>Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens, -einen nahezu erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen -zu haben.</p> - -<p>Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft -hatte, hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel -trotz allem eine feinere Zukunft zu ermöglichen. Aber -ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn auch aus unbekannten -Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in -Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister -Kiderle, der doch im Blatt einen Lehrbuben -bei freier Kost gesucht hatte, konnte sich entschließen, den -Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war noch da, -der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil -selbst so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen -mußte.</p> - -<p>Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte -der Vater: »Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in -die Fabrik!«</p> - -<p>Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil -sagte ganz zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen -mach' ich die Freude nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen -sehen.«</p> - -<p>Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach -Lächstetten hinüber. Da sprach er beim Fabrikanten Erler -vor, der tannene Faßspunden herstellte, fand aber kein -Gehör, und dann beim Walkmüller, der ebenfalls eilig -dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor dem -Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig -war, auch noch in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo -er im Werkführer zu seiner Überraschung einen Bekannten -fand, der sich für ihn verwendete. So ließ man den Zug -fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig -Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte.</p> - -<p>Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb -froh, als am folgenden Montag sein mißratener Sohn das -Haus verließ, um sein Fabriklerleben in Lächstetten zu -beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den -Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es -für wenige Tage, und hatte doch fest im Sinne, sich daheim -nimmer oder doch lange Zeit nicht mehr zu zeigen.</p> - -<p>Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten -Vorsätze doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn -auch nur als geringstes Glied, zu den geachteten Ständen -zu gehören und über den Pöbel die Nase zu rümpfen, -dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den -guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll.</p> - -<p>Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten -sich darauf verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde -Remppis einen guten Halt finden werde. Darin hatte -der schlaue Jüngling sich indessen verrechnet. Er hatte -nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des Prinzipals -aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten -Abend auf der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief -ihn bei Namen.</p> - -<p>»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich -bin jetzt auch in Lächstetten!«</p> - -<p>Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich -weiß schon,« sagte er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.«</p> - -<p>Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte -einen leichten Ton anzustimmen, aber die Mißachtung, -die der Freund ihm so deutlich zeigte, drückte ihn nieder. -Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein Zusammentreffen -am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete -Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig -Zeit, sei auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte -ihn ein Kamerad in einer wichtigen Angelegenheit, und -auf einmal war er weg und Emil ging allein durch den -Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig. -Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue -in einem beweglichen Briefe vorzuhalten, und fand in -diesem Vorsatz einigen Trost.</p> - -<p>Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am -folgenden Tage erhielt der junge Fabrikler beim abendlichen -Nachhausekommen einen Brief, den er mit Sorgen -öffnete und mit Schrecken las:</p> - -<p class="p2">Geehrter Emil!</p> - -<p>Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern, -möchte Dir nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen -angenehmen Beziehungen zu verzichten. Ohne Dir im -geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es doch angezeigt -sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise -seiner Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch -vorzuschlagen, uns künftig gegebenenfalls lieber mit dem -höflichen Sie anzureden.</p> - -<p>Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger</p> - -<p class="right"> -Franz Remppis.<br /> -</p> - -<p class="p2">Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig -abwärts führte, war hier der Punkt des letzten Zurückschauens, -der letzten Besinnung, ob es nicht auch anders -hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch eine Wandlung -möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan -dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings -in der engen Sackgasse seines Schicksals weiter.</p> - -<p>Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie -ihm geschildert worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste -zu tun, Kisten zu öffnen oder zu vernageln, -Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge zum Magazin -und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte -jedoch nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl -zu besorgen, und da er sich anstellig zeigte, saß er -in Bälde an seinem eigenen Stuhl und arbeitete im Akkord, -so daß es ganz von seinem Fleiß und Willen abhing, -wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses -Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet, -gefiel dem jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine -Freiheit mit grimmigem Behagen, indem er am Feierabend -und Sonntag mit den wildesten Kameraden aus -der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal -mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine -Hausordnung eines alten strengen Handelshauses, keine -Eltern und nicht einmal ein Standesbewußtsein, das störende -Forderungen machen konnte. Geld verdienen und -Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen -bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren -vor allem im Gefühl frecher Unabhängigkeit, womit man -am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten und anderen -Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand -gab, der einem verbieten oder befehlen durfte.</p> - -<p>Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen -Vaterhause in die höheren Stände empor zu gelangen, -rächte sich Emil Kolb nun an diesen höheren Ständen. -Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott -seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch -Katechese je besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen -gewohnt gewesen war, beim Begegnen auf der Straße -vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins Gesicht -blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete -Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling -Remppis noch saure Abendstunden an der Arbeit war, oder -in den Laden selbst hinein zu gehen und mit dem baren -Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu verlangen.</p> - -<p>Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen. -In der ersten Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der -Fabrik fern, bis er eines Tages in der Mittagspause aus -dem Saal der Sortiererinnen eine junge Mädchengestalt -hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen -alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an.</p> - -<p>»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?«</p> - -<p>Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen -Umständen er das Mädchen im vorigen Jahre kennen -gelernt hatte und wie wenig sein jetziger Zustand dem -entsprach, was er ihr damals von sich erzählt hatte.</p> - -<p>Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu -erinnern, denn sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte: -»So, Sie sind's? Ja, was tun denn Sie hier?«</p> - -<p>Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem -er mit lebhafter Galanterie antwortete: »Es versteht sich -doch von selbst, daß ich nur Ihretwegen hier bin!«</p> - -<p>Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug -mit dem Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes -ein wenig an Anmut und Mädchenzierlichkeit verloren, -hingegen sehr an Lebenserfahrung und Kühnheit gewonnen. -Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie sich -des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage -stolz und herrisch am Arm der Schönen verbummelte -und an Tanzplätzen und Ausflugsorten seine junge Mannheit -sehen ließ.</p> - -<p>Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein -junger Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr -Schatz damals gewesen waren. Da mochten nun die Herren -Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen und fremd -tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen -so frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch -so laut und hing ihm so hingegeben an, daß freilich die -Handelsständler an ihrem Glücke nicht zweifeln konnten.</p> - -<p>Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach -seinem Belieben ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein -lang ersehntes Vergnügen, dessen er jetzt schwelgerisch genoß. -Trotzdem aber und trotz seines blühenden Liebesfrühlings -war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm -fehlte, war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der -Kitzel des schlechten Gewissens. Zum Stehlen gab es in -seinem jetzigen Leben kaum eine Gelegenheit. Nichts ist -dem Menschen schwerer zu entbehren als ein Laster, und -wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem -hatte der junge Mensch in seiner Verwahrlosung -einen Haß gegen die Reichen und Angesehenen in sich -ausgebildet, aus deren Reihen er für immer ausgestoßen -war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach -Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl, -am Samstag Abend mit einigen wohlverdienten Talern -im Beutel aus der Fabrik zu gehen, war ganz angenehm. -Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde Gelder zu verfügen -und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig -prellen zu können, war doch weit köstlicher gewesen.</p> - -<p>Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer -gieriger auf neue Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb. -Eine neue Leidenschaft, die soeben Gewalt über ihn zu -üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub. Es kam neuerdings -manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er -über seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch -einen Zeitungsartikel angeregt, sich in den Gedanken verliebt, -einmal durch einen Lotteriegewinn reich zu werden. -Das war schon seinem Vater im Blut gelegen, der in -früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit -langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte. -Emil kaufte sich mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen, -die Spannung aber im Erwarten und Lesen der -Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte, wurde es ihm -zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden -Hoffnungen zu wagen.</p> - -<p>Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im -täglichen Leben und zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte, -fand er in seinen Diebesplänen wieder. Geduldig suchte -er Gelegenheit und Ort eines größeren Unternehmens ausfindig -zu machen, und da er durch die heimatlichen Erfahrungen -gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal -das eigene Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres -zu suchen. Da stach ihm der Laden ins Auge, wo Franz -Remppis als Lehrling diente, das größte Geschäft des -Städtchens.</p> - -<p>Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa -dem der Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer -Kolonialwaren und landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel -des täglichen Gebrauches, vom Briefpapier und Siegellack -bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und hielt -nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb -genau, er war oft genug darin gewesen und über die -Standorte mancher Kiste und Lade sowie über Ort und -Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet. Über die sonstigen -Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen -seines Freundes einigermaßen Bescheid, und -was ihm zu wissen noch unentbehrlich schien, erfragte er -bei gelegentlichen Besuchen des Ladens. Er sagte etwa, -wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden betrat, zum -Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald Feierabend!« -Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb -neune werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann -kannst du wenigstens gleich weglaufen, das Ladenschließen -wird nicht deine Sache sein.« Und dann erfuhr er, daß -der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn -des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse, -und richtete nach alle dem seine Pläne ein.</p> - -<p>Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt -in die Fabrik schon ein Jahr vergangen. Diese lange -Zeit war auch an dem Fräulein Emma nicht spurlos vorübergegangen. -Sie begann etwas gealtert und unfrisch -auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte, -war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß -sie ein Kind erwartete. Das verdarb ihm die Lächstettener -Luft, und je näher die gefürchtete Niederkunft heranrückte, -desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch vor diesem -Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher -fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte -fest, daß er nichts zu verlieren habe, wenn er sich der -Schweiz zuwendete.</p> - -<p>Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann -Löhleschen Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu -verzichten. Ja es schien ihm sehr gut und schlau, seinen -Abgang aus der Stadt mit der Tat zu verbinden. Darum -hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel und Aussichten, -schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte -zur Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig -Mut. Der kam ihm jedoch während einer sehr untröstlichen -Unterredung mit der Emma, so daß er im Ärger -der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und -beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde -ihm ohne Erfolg zum Dableiben geraten, und da er vom -Wandern nicht abzubringen war, versprach ihm der Aufseher -ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an mehrere -Schweizer Fabriken mitzugeben.</p> - -<p>So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am -Abend zuvor beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle -auszuführen. Er war auf den Einfall gekommen, sich am -Abend in das Haus einschließen zu lassen. So suchte er -denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd, -schon mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche, -einen Eingang und fand ihn in einem Augenblick, da niemand -in der Nähe schien, durch das große, weit offen stehende -Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das Magazin hinüber, -das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung -stand, und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen, -bis es nachtete und das Leben im Geschäfte erlosch. -Gegen acht Uhr war es in dem Raume schon völlig -dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle -das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem -oberen Stockwerk, wo seine Wohnung lag.</p> - -<p>Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei -ganze Stunden, ehe er den Mut fand, einen Schritt zu -tun. Dann wurde es ringsum stille, auch von Straße und -Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören, und Emil -trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die -Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das -Herz, und als er an der Türe zum Laden hin den Riegel -zurückschob, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Einbruch -ein schweres Verbrechen sei und schwer bestraft -werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der -guten und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen. -Es wurde ihm feierlich zumute, da er die Laden -und Wandfächer voller Waren ansah. Da lagen in einem -Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von schönen -Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon -weitere Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte -lange Würste und Blechkästen voll Zwieback schauten -ihn heiter an, und er konnte nicht widerstehen, fürs -erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in seine -Brusttasche zu stopfen.</p> - -<p>Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte -er alsdann die Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im -Ladentisch, die jedoch verschlossen war. Aus Vorsicht, damit -es ihn nicht verriete, hatte er keinerlei Werkzeuge -mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst Stemmeisen, -Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er -sorgfältig das Schloß der Lade los und hatte bald ohne -Mühe die Kasse eröffnet. Mit Begier schaute er beim -schwachen Lichte hinein und sah erregt in kleinen Abteilungen -geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner -bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen -mit den größeren Münzstücken, deren aber sehr -wenige da waren, und hatte bald zu seiner zornigen Enttäuschung -überrechnet, daß der ganze Inhalt der erbrochenen -Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so -wenigem hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend -betrogen vor. Sein Zorn war so groß, daß er das Haus -hätte anzünden mögen. Da war er nun, so sorgfältig vorbereitet, -zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen, -hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr -begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten! -Den großen Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich -liegen, tat das andere in seinen Geldbeutel und hielt -nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens wert -sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten, -aber lauter große und schwere Sachen, die ohne Hilfe -nicht hinwegzubringen waren. Wieder kam er sich betrogen -vor und war vor Enttäuschung und Kränkung dem -Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken, -noch einige Zigarren und von einem großen Vorrat, der -auf dem Tische gestapelt lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten -zu sich steckte und den Laden verließ. Ängstlich -suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin in den -Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor -seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt -arbeitete er am großen Riegel, der in seiner Steinritze -am Boden spannte, und atmete tief auf, als er nachgab -und das Tor langsam aufging. Er zog es hinter sich notdürftig -zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen -Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten -nächtigen Gassen zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne -Schlaf drei bange Stunden wartend, bis der Morgen -graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen klar und -trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein, -um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt -und viel gute Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am -Stock über die Schulter und ging zum Bahnhof. Und als -im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche Hausknecht -beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand, -da fuhr Emil Kolb schon ein paar Meilen weiter durch -ein schönes Waldland, das er vom Wagenfenster mit Neugierde -betrachtete, denn es war die erste so große Reise -seines Lebens.</p> - -<p>Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des -Verbrechens großen Sturm, und auch nachdem der Schaden -festgestellt und als recht geringfügig erkannt war, -summte die lüsterne Aufregung weiter und verbreitete sich -durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft erschien, -nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen -vor und stieß die vor dem berühmt gewordenen -Hause sich drängende Menschenmenge hin und wider.</p> - -<p>Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die -schlimme Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden -noch ahnen. Es ward der Hausknecht und der Packer -und die ganze Reihe der erschrockenen und dennoch über -das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins Verhör -genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die -gestern den Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens. -Alsdann setzte der Amtsrichter einen Bericht über das -Schrecknis auf samt einem genauen Verzeichnis der gestohlenen -Sachen. An Emil Kolb dachte niemand.</p> - -<p>Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten -und das Haus Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen, -hernach mit Genugtuung die heimatlichen Zeitungen, deren -mehrere sich mit dem Fall beschäftigten, und da er -sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute -er sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der -kleinen Beute mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden.</p> - -<p>Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade -in der Gegend des Bodensees auf, denn er hatte wenig -Eile und wollte unterwegs auch etwas sehen. Seine erste -Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst einzutreffen -gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde.</p> - -<p>Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause -bei einer guten Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und -reichlich mit Senf bestrich, dessen Schärfe er sodann mit -einem kühlen guten Bier bekämpfte. Darüber ward ihm -wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter -Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken -konnte. Es schien ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm -gemeint, ja sie tat ihm leid und er hätte sie gerne ein wenig -versöhnt und getröstet. Je länger er daran kaute, desto -mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte -oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete, -kam er zu dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben.</p> - -<p>Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner -Vorrat von den Löhleschen Zigarren übrig war, und zog -das kleine steife Päcklein heraus, worin die Lächstettener -Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin lieh ihm einen -Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze befeuchtete, -schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal -genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten -vor und war auf eine ganz neue Manier mit glänzenden -Farben gedruckt, wie sie die arme Wirklichkeit -nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm -einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm -eben gebracht hatte, und fing zu schreiben an.</p> - -<p>Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der -Stift abbrach. Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht -verderben, schnitzte den Stift in aller Ruhe wieder zurecht -und schrieb dann unter das schönfarbene Bild: »Gedenke -Deiner in der Fremde und bin mit vielen Grüßen Dein -getreuer E. K.«</p> - -<p>Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar -zu Gesicht, jedoch nicht ohne Verzögerung und nicht aus -den Händen des Briefboten, sondern aus denen des Herrn -Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche Vorladung -auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte.</p> - -<p>Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz -wenigen Tagen in den Löhleschen Laden gekommen und -von dem ganzen Vorrate waren erst drei oder vier Stück -verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen können. -Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen -Karten die Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden -und die davon unterrichteten Postbeamten hatten die vom -Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem Bild der -unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten.</p> - -<p>Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so -daß seine Gefangennehmung und Überlieferung nicht so -einfach und glanzlos verlief, sondern mit den Stempeln -und Uniformen zweier Länder als feierliche Auslieferung -der Schweiz an das Deutsche Reich als Staatsaktion verlief.</p> - -<p>Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine -Einlieferung in Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest, -wobei der Triumph der Einwohnerschaft über den -gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen Dieb einer kleinen -Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche dem -Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert -und die Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß -dauerte nicht lange. Ob er nun aus dem Zuchthause, -das ihn einstweilen aufgenommen hat, zu längerem Aufenthalt -in unsere Welt zurückkehren oder – wie ich glaube -– den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends -in solchen Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird -seine Geschichte uns wenig mehr zu sagen und zu lehren -haben. Denn Emil Kolb war kein Charakter, auch nicht -als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher nur -eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen -Anspruch hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht -als mancher, dessen Unglück weniger in seiner eigenen -Seele begründet scheint.</p> - - - - -<h2><a name="Pater_Matthias" id="Pater_Matthias">Pater Matthias</a></h2> - - -<h3>Erstes Kapitel</h3> - -<p class="cap">An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der -Mitte der hügeligen alten Stadt, lag im Vormittagslicht -eines sonnigen Spätsommertages das stille Kloster. -Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten, vom -ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß -getrennt, ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit -am gekrümmten Ufer und schaute mit vielen -blinden Fensterscheiben hochmütig in die entartete Zeit. -In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg die -fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen -Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber -aber jenseits des Wassers und des einsam stehenden -Schwesterklosters lag helle Sonne auf der steilen Halde, -deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von goldbraun -schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen -wurden.</p> - -<p>An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß -lesend der Pater Matthias, ein blondbärtiger Mann im -besten Alter, der im Kloster und anderwärts den Ruf eines -freundlichen, wohlwollenden und sehr achtbaren Herrn genoß. -Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines hübschen -Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter -Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder, -sofern sie ihn wahrnahmen, als einen gelinden Nachklang -der tiefen Jugendmelancholie betrachteten, welche vor -zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben -hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken -und in liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien. -Aber der Schein trügt, und Pater Matthias selbst war -der einzige, der um die verborgenen Ursachen dieses Schattens -wußte.</p> - -<p>Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend -hatte ein Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in -das Kloster geführt, wo er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung -und Schwermut hinbrachte, bis die geduldige -Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner Natur -ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er -war ein beliebter Bruder geworden und stand im gesegneten -Ruf, er habe eine besondere Gabe, auf Missionsreisen -und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden die Herzen -zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen -Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und -rechtskräftigen Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte.</p> - -<p>Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein -Glanz jedoch und der des klingenden Geldes hatte die -Väter für einige andere Züge im Bild ihres lieben Bruders -blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias die -Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und -machte den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend -frohgesinnten Mannes, dessen Wünsche und Gedanken -im Frieden mit seinen Pflichten beisammen wohnten; -wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen -müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur -einen Teil seines inneren Zustandes wirklich ausdrückte, -über manchen verschwiegenen Unebenheiten aber nur -als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias war nicht -ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals -untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung -seiner Seele auch der alte, eingeborne Kern dieses -Menschen wieder eine Genesung begangen und schaute, -wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst -wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben -der Welt.</p> - -<p>Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon -mehrmals die Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen -Natur widerstrebte es zwar, unterm Mantel der Frömmigkeit -Weltlust zu suchen, und er hatte seine Kutte nie befleckt. -Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas -wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich -zu erhalten und nach einem Ausflug ins Weltliche wieder -anzulegen.</p> - -<p>Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er -besaß, an sicherem Orte verborgen, eine angenehme, ja -elegante Bürgerkleidung samt Wäsche, Hut und Schmuck, -und wenn er auch neunundneunzig von hunderten seiner -Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte, -so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu -oft bei jenen seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und -dort als Weltmann unter Weltmenschen verlebt hatte.</p> - -<p>Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters -Gemüt viel zu redlich war, lastete als ungebeichtetes -Verbrechen auf seiner Seele. Wäre er ein schlechter, uneifriger -und unbeliebter Pater gewesen, so hätte er längst -den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig zu -bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So -aber sah er sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden -die trefflichsten Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen -seine Verfehlungen beinahe verzeihlich erscheinen wollten. -Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn er in ehrlicher -Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte. -Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den -Begierden seiner Natur Genüge tun und lang unterdrückte -Wünsche ihres Stachels berauben konnte. In allen müßigen -Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten Blick -der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit -begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und -Angst hin und wider, und bald beneidete er jeden Mitbruder -um seine Unschuld, bald jeden Städter draußen -um seine Freiheit.</p> - -<p>So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem -Fenster und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus. -Indem er mit müßigem Auge den lichten frohen Hügelhang -gegenüber betrachtete, sah er einen merkwürdigen -Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der Höhenstraße -her auf einem Fußpfad näher kam.</p> - -<p>Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant, -die anderen schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein -Landjäger in glitzernder Uniform ging ihnen voraus und -zwei andere Landjäger folgten hinten nach. Der neugierig -zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte waren, -welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem -Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen -hatte.</p> - -<p>Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte -Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen -Mißmut unzufriedene Betrachtungen daran zu knüpfen. -Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit diesen armen -Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen -ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte -er, es ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre -augenblickliche Lage andeute.</p> - -<p>»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als -ersehntes Ziel den Tag vor Augen, da er entlassen und wieder -frei wird. Ich aber habe keinen solchen Tag vor mir, -nicht nah noch ferne, sondern eine endlose bequeme -Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden -einer eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine -oder andere von den armen Kerlen da drüben mag mich -jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich beneiden. Sobald -sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren, hat -der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen -armen Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter -sitzt.«</p> - -<p>Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten -und Soldaten verloren, solchen Gedanken nachhing, trat -ein Bruder bei ihm ein und meldete, er werde vom Guardian -in dessen Amtszimmer erwartet. Freundlich kam der -gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd erhob -er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den -braunen Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom -Wasser herauf in rostfarbenen Flecken tanzte, und ging -sogleich mit seinem unfehlbar anmutig-würdigen Schritt -über die langen kühlen Korridore zum Guardian hinüber.</p> - -<p>Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm -einen Stuhl an und begann ein Gespräch über die schlimme -Zeit, über das scheinbare Abnehmen des Gottesreiches auf -Erden und die zunehmende Teuerung. Pater Matthias, -der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft die -erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah -mit froher Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich -denn auch der würdige Herr ohne Eile näherte. Es sei, -so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins Land sehr notwendig, -auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen -ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle -und von welcher er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute -von Liebesgaben heimbringen werde. Der Zeitpunkt sei -nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in einem fernen -südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution -Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden, -wovon alle Zeitungen meldeten. Und er gab dem Pater -eine sorgfältige Auswahl von teils schrecklichen, teils rührenden -Einzelheiten aus diesen neuesten Martyrien der -kämpfenden Kirche.</p> - -<p>Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen -in sein kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen -Augen seine Aufgabe und fand eine glückliche -Wendung und Lösung um die andere, ging zur gewohnten -Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den Nachmittag -mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise -hin. Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen; -weit mehr Zeit und Sorgfalt erforderten die Anmeldungen -in Pfarrhäusern und bei treuen gastfreien Anhängern, -deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine Handvoll -Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile -auf dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch -einen tüchtigen Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern -und frommen Bildchen bereit und schlief danach -fest und friedevoll als ein Mann, der wohlgerüstet einer -ehrenvollen Arbeit entgegengeht.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Zweites Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch -eine kleine unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster -ein junger Laienbruder von geringem Verstand, der früher -an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner zutraulichen Unschuld -und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen im -Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete -den Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche -tragend. Schon unterwegs zeigte er ein etwas erregtes -und gestörtes Wesen, auf dem Bahnhofe aber zog -er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen Pater -in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den -Augen, er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise -abstehen, deren unheilvollen Ausgang ihm eine sichere -Ahnung vorausverkünde.</p> - -<p>»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend -mit verzerrtem Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet -nimmer wiederkommen!«</p> - -<p>Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen, -dessen Zuneigung er kannte, zuzureden; er mußte sich am -Ende beinahe mit Gewalt losreißen und sprang in den -Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann. -Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht -des Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet. -Der unscheinbare Mensch in seiner schäbigen und -verflickten Kutte winkte ihm noch lange nach, Abschied -nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden -noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach.</p> - -<p>Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude -am Reisen, das er über alles liebte, so daß er die peinliche -Szene rasch vergaß und mit zufriedenem Blick und gespannten -Seelenkräften den Abenteuern und Siegen seines -Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche -Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag -entgegen, schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen, -und der reisende Pater ließ bald das Brevier wie das -kleine wohlgerüstete Notizbuch ruhen und schaute in wohliger -Erwartung durchs offne Wagenfenster in den siegreichen -Tag, der über Wälder hinweg und aus noch nebelverschleierten -Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um -bald in Blau und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine -Gedanken gingen elastisch zwischen diesem Reisevergnügen -und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin und wider. -Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage -hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst -und Wein, und wie würde sich von diesem paradiesischen -Grunde das Entsetzliche abheben, das er von den heimgesuchten -Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu -berichten hatte!</p> - -<p>Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen -schnell. An dem bescheidenen Bahnhofe, an welchem -Pater Matthias ausstieg und welcher einsam neben einem -kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn ein -hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast -mit Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort, -stieg vergnügt in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich -an Ackerland und schöner Weide vorbei dem stattlichen Dorfe -entgegen, wo seine Tätigkeit beginnen sollte und das ihn -bald einladend und festlich anlachte, zwischen Weinbergen -und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende betrachtete -das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs -Korn und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel -und Kohl in Fülle, da war überall Wohlsein und feiste -Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte nicht von diesem Born -des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem anklopfenden -Gaste zugut kommen?</p> - -<p>Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im -Pfarrhause an, teilte ihm auch mit, daß er schon auf den -heutigen Abend des Paters Gastpredigt in der Dorfkirche -angekündigt habe und daß, bei dem Ruf des Herrn Paters, -ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu erwarten -sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit -auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit -einzuspinnen, da er die Neigung kleiner Landpfarrer -wohl kannte, auf wortgewandte und erfolgreiche -Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden.</p> - -<p>Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen -Mittagessen im Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft -im Pfarrhause aufgetragen wurde. Und auch hier wußte -Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht und Neigung -zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung -hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder -Begierde zusprach, ohne doch – zumal beim Weine – -ein ihm bekömmliches Maß zu überschreiten und seiner -Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und fröhlich konnte er -schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber -mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine -Arbeit im Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also -der Wirt etwa den schlimmen Plan gehabt, unseren Pater -durch die so reichliche Bewirtung lahm zu legen, so war -er ihm völlig mißlungen.</p> - -<p>Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine -Arbeit eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse -nichts zu wünschen ließ. Seit kurzem lebte im Dorf, -als am Heimatorte ihres Mannes, in einem neu erbauten -Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die wegen -ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten -Zunge nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war -als wegen ihres Geldes. Diese Frau Franziska Tanner -stand zuoberst auf der Liste derer, deren spezielle Heimsuchung -der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte.</p> - -<p>So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen -Kollegen wenig vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde -im Landhause und begehrte mit der Frau -Tanner zu sprechen. Eine nette Magd führte ihn in das -Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten mußte, -was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte -und warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine -ländliche Person und schwarzgekleidete Witwe, sondern -eine grauseidene damenhafte Erscheinung in das Zimmer, -die ihn gelassen willkommen hieß und nach seinem Begehren -fragte.</p> - -<p>Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und -jedes versagte, und Schlag um Schlag ging ins Leere, -während die geschickte Frau lächelnd entglitt und von Satz -zu Satz neue Angeln auslegte. War er weihevoll, so begann -sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen Bedrohungen, -so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu mildtätigen -Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing -und ins Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken, -sie kenne seine Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld -zu geben, wenn es ihm nur gelänge, ihr die tatsächliche -Nützlichkeit einer solchen Gabe zu beweisen. War es ihr -kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn in einen -leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn -plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er -sie wieder geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so -war sie unversehens eine kühle Dame.</p> - -<p>Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die -beiden ein Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem -hübschen Pater die männliche Aufmerksamkeit, mit der -er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen zu schonen -suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis -eine heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich -beweglicher Koketterie, so daß es trotz schwieriger -Augenblicke zu einer ganz guten Unterhaltung kam und -der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei unausgesprochenerweise -freilich der moralische Sieg auf der Seite -der Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende -eine Banknote und sprach ihm und seinem Orden ihre -Anerkennung aus, doch geschah es in ganz gesellschaftlichen -Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie, -und auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch -aus, daß er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch -vergaß.</p> - -<p>Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt -und verliefen nach der Regel. Pater Matthias zog -sich noch eine halbe Stunde in seine Stube zurück, aus -welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt wieder -hervorging.</p> - -<p>Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen -Süden geplünderten Altären und Klöstern und -dem Bedürfnis des eigenen Klosters nach einigen Geldern -entstand ganz zauberhaft ein inniger Zusammenhang, -der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf -einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung -des Mitleids und unbestimmter frommer Erregung beruhte. -Die Frauen weinten und die Opferbüchsen klangen, -und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner -unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne -Aufregung, doch mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen.</p> - -<p>Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters -seinen glänzenden Anfang genommen. Auf seinem -Angesicht glänzte Pflichteifer und herzliche Befriedigung, -in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und wuchs der -kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke -umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen -draußen in der Welt berichteten, es stehe um die bei jener -Revolution geschädigten Klöster bei weitem nicht so übel, -als es im ersten Wirrwarr geschienen habe, das wußte der -Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören -lassen.</p> - -<p>Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei -sich zu sehen, und die ganze Reise verlief aufs erfreulichste. -Nun, indem er sich schon gegen die protestantische Nachbargegend -hin dem letzten kleinen Weiler näherte, den -zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz -und Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran, -daß nun für eine ungewisse Weile Klosterstille und -mißmutige Langeweile den genußreichen Erregungen seiner -Fahrt nachfolgen würden.</p> - -<p>Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich -gewesen, da das Geräusch und die Leidenschaft -einer frohen außerordentlichen Tätigkeit sich legte und -hinter den prächtigen Kulissen der klanglose Alltag hervorschaute. -Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im -Beutel, nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze -Freude der Ablieferung und Anerkennung daheim, und -diese Freude war auch schon keine richtige mehr.</p> - -<p>Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt, -wo er sein merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je -mehr die Feststimmung in ihm verglühte und je näher -die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward seine Begierde, -die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen -Tag ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte -er davon nichts wissen mögen, allein so ging es jedesmal -und er war es schon müde, dagegen anzukämpfen: -am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher -plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen.</p> - -<p>So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde -noch besucht und gewissenhaft erledigt, dann wanderte -Pater Matthias zu Fuße nach dem nächsten Bahnhof, -ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig davonfahren -und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren -Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für -ihn sicher war. In der Hand aber trug er einen kleinen -hübschen Reisekoffer, den gestern noch niemand bei ihm -gesehen hatte.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Drittes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig -viele Züge aus- und einliefen, stieg Pater Matthias -aus, den Koffer in der Hand, und bewegte sich ruhig, von -niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen Gebäude zu, -auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer« -stand. An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde, -bis gerade wieder mehrere ankommende Züge ein Gewühl -von Menschen ergossen, und da er in diesem Augenblicke -wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben -Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr, -sondern ein angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon -nicht ganz modischer Kleidung, der sein Gepäck am -Schalter in Verwahrung gab und alsdann ruhig der -Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform -eines Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster -zu sehen war und endlich im Straßengetöse sich -verlor.</p> - -<p>Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause -schwingenden Getöne, mit dem Glanz der Geschäfte, dem -durchsonnten Staub der Straßen atmete Herr Matthias -die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der -törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne -empfänglich waren, und gab sich jedem frohen Eindruck -willig hin. Es schien ihm herrlich, die eleganten Damen -in Federhüten spazieren oder in feinen Equipagen fahren -zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem schönen -Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und -einen zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und -daraufhin, innerlich erwärmt und erheitert, hin und wider -zu gehen, sich an Plakatsäulen über die für den Abend -versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten und darüber -nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag -werde speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern -wohl. Allen diesen größeren und kleineren Genüssen -ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit nach, und wer -ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken -gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr -könnte verbotene Wege gehen.</p> - -<p>Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen -Kaffee und einer Zigarre weit in den Nachmittag -hinein. Er saß nahe an einer der gewaltigen bis zum -Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants und -sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen -auf die belebte Straße hinaus. Vom Essen und -Sitzen war er ein wenig schwer geworden und schaute -gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden. Nur -einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte -aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher -er einen Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen -glaubte. Er sah jedoch, daß er sich getäuscht habe, fühlte -eine leise Ernüchterung und erhob sich, um weiter zu -gehen.</p> - -<p>Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln -eines kinematographischen Theaters und las -die großgedruckten Titel der versprochenen Darbietungen. -Dabei hielt er eine brennende Zigarre in der Hand und -wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann unterbrochen, -der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine -Zigarette bat.</p> - -<p>Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den -Fremden an und sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon -gesehen. Waren Sie nicht heute früh im Café Royal?«</p> - -<p>Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den -Hut und wollte weiter gehen, besann sich aber plötzlich -anders und sagte lächelnd: »Ich glaube, wir sind beide -fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche hier nichts -als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht -ein bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn -es Ihnen nicht zuwider ist, könnten wir ja zusammen -bleiben.«</p> - -<p>Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden -Müßiggänger flanierten nun nebeneinander weiter, wobei -der Fremde sich dem Älteren stets höflich zur Linken -hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit ein wenig nach Herkunft -und Absichten des neuen Bekannten, und da er -merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe -etwas befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig -fallen und begann ein munteres Geplauder, das Herrn -Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr Breitinger -schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen, -wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag -macht. Auch am hiesigen Ort war er schon je und je gewesen -und erinnerte sich einiger Vergnügungslokale, wo -er damals recht nette Gesellschaft gefunden und köstliche -Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst, -daß er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung -die Führung übernahm. Nur einen heiklen Punkt erlaubte -sich Herr Breitinger im voraus zu berühren. Er -bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe, -daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort -aus dem eigenen Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend -bei, er sei zwar kein Rechner und Knicker, -habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung und -sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen -mehr als ein paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa -sein Begleiter großartigere Gewohnheiten habe, so würde -es besser sein, sich in Frieden zu trennen, statt etwaige -Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen.</p> - -<p>Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack. -Er erklärte, auf einen goldenen Zwanziger hin -oder her komme es ihm allerdings nicht an, doch sei er -gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie -beide aufs beste miteinander auskommen würden.</p> - -<p>Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen -Durst bekommen, und ohnehin war es jetzt nach seiner -Meinung Zeit, die angenehme Bekanntschaft durch Anstoßen -mit einem Glase Wein zu feiern. Er führte den -Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits -gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe, -einen raren Tropfen zu bekommen, und sie traten durch -eine klirrende Glastüre in die enge niedere Stube, in -der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas unfreundlicher -Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche -herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen -einen hellgelben kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte, -mit welchem sie denn anstießen. Darauf zog -sich der Wirt zurück, und bald erschien statt seiner ein großes -hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte -und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken -übernahm.</p> - -<p>»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er -sich zu dem Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!«</p> - -<p>Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß -zum Anstoßen hin.</p> - -<p>»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger -und holte selbst von der Kredenz ein Glas für sie. -»Kommen Sie, Fräulein, und leisten Sie uns ein bißchen -Gesellschaft!«</p> - -<p>Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich -nicht sträubte, zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen. -Diese zwanglose Leichtigkeit der Anknüpfung machte Herrn -Matthias Eindruck. Er stieß nun auch seinerseits mit dem -Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe. -Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel -geworden, die Kellnerin zündete ein paar Gasflammen -an und bemerkte nun, daß kein Wein mehr in der Flasche -sei.</p> - -<p>»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief -Herr Breitinger. Aber der andere wollte das nicht dulden, -und es gab einen kleinen Wortkrieg, bis er sich unter -der Bedingung fügte, daß nachher auf seine Rechnung -noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein -Meta hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht -und ihren Platz wieder eingenommen, und während -der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt war, streichelte -sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias, -der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging -und sie weiter verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren -setzte. Nun zog sie den Fuß zwar zurück, liebkoste dafür -aber wieder seine Hand, und so blieben sie in stillem Einverständnis -triumphierend beieinander sitzen. Matthias -ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte -von Zechgelagen, die er früher mitgemacht habe, stieß -immer wieder mit den beiden an, und der erhitzende -falsche Wein machte seine Augen glänzen.</p> - -<p>Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe -in der Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin, -da hatte keiner von den Kavalieren etwas dagegen, daß -sie diese einlade, den Abend mitzufeiern. Eine alte Frau, -die inzwischen den Wirt abgelöst hatte, wurde mit dem -Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für -Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an -sich und küßte sie heftig auf den Mund. Sie ließ es still -und lächelnd geschehen, da er aber stürmisch ward und mehr -begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen Augen an und -wehrte: »Später, du, später!«</p> - -<p>Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende -Gebärde hielt ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht -nur die erwartete Freundin herein, sondern auch noch -eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem halbeleganten -Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte gescheiteltem -schwarzem Haar, dessen Mund unter einem -gezwickelten Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig -ausschaute. Zugleich trat auch Breitinger wieder -ein, es entstand eine Begrüßung und man rückte -zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen. -Matthias sollte bestellen und war für einen Fisch mit -nachfolgendem Rindsbraten, dazu kam auf Metas Vorschlag -noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und Sardinen, -sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte. -Der Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter -Verächtlichkeit, ohne Geflügel tauge ein Abendessen nichts, -und wenn auf das Rindfleisch nicht ein Fasanenbraten -folge, so esse er schon lieber gar nicht mit. Meta wollte -ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem -Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen: -»Ach was, man soll doch den Fasan bestellen! -Die Herrschaften sind doch hoffentlich alle meine Gäste?«</p> - -<p>Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem -Speisezettel, der Wirt tauchte auch wieder auf. Meta -hatte sich nun ganz an Matthias angeschlossen, ihre Freundin -saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das Essen, -das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt -schien, wurde rasch aufgetragen und war gut. -Beim Nachtisch machte Fräulein Meta ihren Verehrer -mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam in einem -großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht, -das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte, -aus Champagner, Sherry und Kognak gemischt -war. Es schmeckte gut, nur etwas schwer und süß, und sie -nippte jedesmal selber am Glase, wenn sie ihn zum Trinken -einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger -ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er -das Süße nicht liebe, auch habe dies Getränk den leidigen -Nachteil, daß man darauf hin nur noch Champagner genießen -könne.</p> - -<p>»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut. -»Ihr Leute, Champagner her!«</p> - -<p>Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die -Augen voll Wasser liefen, und war von diesem Augenblicke -an ein hoffnungslos betrunkener Mann, der beständig -ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß -und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch -und Wohlleben dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich -für eine Minute, blickte verwundert in die Lustbarkeit -und griff nach Metas Hand, die er küßte und streichelte, -um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen. Einmal -erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen, -doch fiel ihm das schwankende Glas aus der Hand und -zersprang auf dem überschwemmten Tische, worüber er -wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes Gelächter begann. -Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger -bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser -an, das er leerte und dessen scharfer brennender -Geschmack das Letzte war, was ihm von diesem Abend -dunkel im Gedächtnis blieb.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Viertes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias -blinzelnd zu einem schauderhaften Gefühl von Leere, -Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel. Kopfweh und Schwindel -hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken und -entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter -Riß, an dessen Herkunft er keine Erinnerung -hatte. Nur langsam erholte sich sein Bewußtsein, da richtete -er sich plötzlich auf, sah an sich nieder und suchte Stützen -für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb entkleidet, -in einem fremden Zimmer und Bett, und da er -erschreckend aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in -eine morgendliche unbekannte Straße hinab. Stöhnend -goß er ein Waschbecken voll und badete das entstellte heiße -Gesicht, und während er mit dem Handtuch darüber fuhr, -schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz ins -Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am -Boden lag, riß ihn an sich, betastete und wendete ihn, -griff in alle Taschen und ließ ihn erstarrt aus zitternden -Händen sinken. Er war beraubt. Die schwarzlederne Brustmappe -war fort.</p> - -<p>Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es -waren über tausend Kronen in Papier und Gold gewesen.</p> - -<p>Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl -eine halbe Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst -und Schlaftrunkenheit waren völlig verflogen, auch -die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur eine große Müdigkeit -und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch -sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten -Kleider nach Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute -in den Spiegel, wo ein gedunsenes trauriges Gesicht -ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle Kraft mit -einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine -Lage. Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige, -was ihm zu tun übrigblieb.</p> - -<p>Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch -Bett und Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid -jedoch fand sich ein zerknitterter Schein von fünfzig -Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst war kein Geld -mehr da.</p> - -<p>Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden -Kellner, um welche Zeit er heute Nacht angekommen sei. -Der junge Mensch sah ihm lächelnd ins Gesicht und meinte, -wenn der Herr selber sich nimmer erinnern könne, so werde -einzig der Portier Bescheid wissen.</p> - -<p>Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück -und fragte ihn aus. Wann er ins Haus gebracht -worden sei? – Gegen zwölf Uhr. – Ob er bewußtlos -gewesen? – Nein, nur anscheinend bezecht. – Wer ihn -hergebracht habe? – Zwei junge Männer. Sie hätten -erzählt, der Herr habe sich bei einem Gastmahl übernommen -und begehre hier zu schlafen. Er habe ihn zuerst -nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes -Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. – Ob der Portier -die beiden Männer wieder erkennen würde? – Ja, -das heißt wohl nur den einen, den mit dem steifen Hut.</p> - -<p>Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung -samt einer Tasse Kaffee. Den trank er heiß hinunter, -bezahlte und ging weg.</p> - -<p>Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus -lag, nicht, und ob er wohl nach längerem Gehen bekannte -und halbbekannte Straßen traf, so gelang es ihm doch in -mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht, jenes -kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert -war.</p> - -<p>Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht, -etwas von dem Verlorenen wieder zu gewinnen. Von -dem Augenblick an, da er in plötzlich aufzuckendem Verdacht -seinen Rock untersucht und die Brusttasche leer gefunden -hatte, war er von der Erkenntnis durchdrungen, -es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl -hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls -oder Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von -jeder Auflehnung und glich mehr einer zwar bitteren, doch -entschiedenen Zustimmung zu dem Geschehenen. Dies -Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen -Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen -ganz geringe Menschen niemals fähig sind, rettete den -armen betrogenen Pater vor der Verzweiflung. Er dachte -nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch List reinzuwaschen -und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen, -noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. -Nein, er fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte -Notwendigkeit, die ihn zwar traurig machte, gegen -welche er jedoch mit keinem Gedanken protestierte. -Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch -verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm -die Empfindung einer großen Erlösung vorhanden, da -jetzt unzweifelhaft seiner bisherigen Unzufriedenheit und -dem unklaren, durch Jahre geführten und verheimlichten -Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie früher -zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere -Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl -kniet und dem zwar eine Demütigung und Bestrafung -bevorsteht, dessen Seele aber die beklemmende Last verheimlichter -Taten schon weichen fühlt.</p> - -<p>Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, -keineswegs im klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt -aus dem Orden schon genommen und Verzicht auf -alle Ehren getan, so schien es ihm doch ärgerlich und recht -unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen einer -feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen. -Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so -schändliches Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld -hatte ja nicht er gestohlen, sondern offenbar jener -Herr Breitinger.</p> - -<p>Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes -zu geschehen habe; denn blieb er länger als -noch diesen Tag dem Kloster fern, so entstand Verdacht -und Untersuchung und ward ihm die Freiheit des Handelns -abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein -Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, -rasch gesättigt und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, -mit müden Augen durchs Fenster auf die Straße -hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um dieselbe -Zeit getan hatte.</p> - -<p>Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm -grausam auf die Seele, daß er auf Erden keinen einzigen -Menschen habe, dem er mit Vertrauen und Hoffnung -seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und riete, der -ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt, den -er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder -vergessen hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich -in seinem Gedächtnis auf: der junge halbgescheite Laienbruder -in seiner verflickten Kutte, wie er am heimischen -Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und beschwörend.</p> - -<p>Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang -seinen Blick, dem Straßenleben draußen zu folgen. Da -trat ihm, auf seltsamen Umwegen der Erinnerung, mit -einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele, -woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.</p> - -<p>Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, -jener reichen jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst -kürzlich bewundert, und deren anmutig strenges Bild ihn -heimlich begleitet hatte. Er schloß die Augen und sah sie, -im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und beinahe -spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer -er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig -entschlossene Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig -beobachtende Blick ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte, -desto leichter, ja selbstverständlicher schien es ihm, -das Vertrauen dieser ungewöhnlichen Frau in seiner ungewöhnlichen -Lage anzurufen.</p> - -<p>Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges -endlich klar vor sich zu sehen, machte er sich sofort daran, -seinen Entschluß auszuführen. Von dieser Minute an bis -zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner stand, tat er jeden -Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal geriet er -ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes -wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel -begonnen hatte und wo seither sein Köfferchen -in Verwahrung stand. Er war des Sinnes gewesen, -wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau -zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken, -und hatte deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch, -da er nur eines Schrittes bedurfte, um am Schalter -sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese Absicht -ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie -nie zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen -wahren Schreck und Abscheu, so daß er seinen Plan -im Augenblick änderte und vor sich selber schwor, die Kutte -niemals wieder anzulegen, es komme, wie es wolle.</p> - -<p>Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein -entwendet worden war, wußte und bedachte er -dabei gar nicht.</p> - -<p>Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste -denselben Weg, den er gestern in der Frühe noch als Pater -gefahren, im schlichten Bürgerrocke zurück. Dabei schlug -ihm das Herz immerhin, je näher er dem Ziele kam, desto -peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch die Gegend, -welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und -mußte in jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen, -der ihn erkennen und als erster seine Schande -sehen würde. Doch war der Zufall und der einbrechende -Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt -und unbelästigt erreichte.</p> - -<p>Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen -den Weg zum Dorfe hin, den er zuletzt bei Sonnenschein -im Einspänner gefahren war, und zog, da er noch überall -Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend -die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses.</p> - -<p>Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte -nach seinem Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias -bat, die Hausfrau noch heute abend sprechen zu dürfen, -und gab dem Mädchen ein verschlossenes Billett mit, das -er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte. Sie -ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien -warten, schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange -Weile aus. Dann aber schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn -mit verlegener Entschuldigung ihrer vorigen Ängstlichkeit -eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer der Frau, -die ihn dort allein erwartete.</p> - -<p>»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener -Stimme, »darf ich Sie nochmals für eine kleine -Weile stören?«</p> - -<p>Sie grüßte gemessen und sah ihn an.</p> - -<p>»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen -Sache kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. – -Aber wie sehen Sie denn aus?«</p> - -<p>»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie -nicht! Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich -nicht das Zutrauen hätte, Sie werden mich in einer sehr -schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen. -Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!«</p> - -<p>Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn -Tränen. Doch hielt er sich tapfer, entschuldigte sich mit -großer Erschöpfung und begann alsdann, in einem bequemen -Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing damit -an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens -müde sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe. -Dann gab er eine kurze Darstellung seines früheren Lebens -und seiner Klosterzeit, seiner Predigtreisen und auch -seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er ohne viel -Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer -in der Stadt.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Fünftes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau -Tanner hatte aufmerksam und ohne jede Unterbrechung -zugehört, zuweilen gelächelt und zuweilen den Kopf geschüttelt, -schließlich aber jedes Wort mit einem gleichbleibenden -gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie -beide eine Weile.</p> - -<p>»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß -nehmen?« fragte sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die -Nacht hier und können in der Gärtnerwohnung schlafen.«</p> - -<p>Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch -von Essen und Trinken nichts wissen.</p> - -<p>»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie -langsam.</p> - -<p>»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau, -woher mein Vertrauen zu Ihnen kommt. Aber in allen -diesen schlimmen Stunden ist mir niemand sonst eingefallen, -auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie -mir, was ich tun soll!«</p> - -<p>Nun lächelte sie ein wenig.</p> - -<p>»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das -nicht neulich schon gefragt haben. Daß Sie für einen -Mönch zu gut oder doch zu lebenslustig sind, kann ich -wohl begreifen. Es ist aber nicht schön, daß Sie Ihre -Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten. Dafür -sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt -aus Ihrem Orden, den Sie freiwillig und in Ehren -hätten suchen sollen, jetzt eben unfreiwillig tun. Mir -scheint, Sie können gar nichts anderes tun, als Ihre Sache -mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das -nicht Ihre Meinung?«</p> - -<p>»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.«</p> - -<p>»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?«</p> - -<p>»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im -Orden behalten werden, was ich auch keinesfalls annehmen -würde. Mein Wille ist, ein stilles Leben als ein fleißiger -und ehrlicher Mensch anzufangen; denn ich bin zu jeder -anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse, -die mir nützen können.«</p> - -<p>»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.«</p> - -<p>»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster -entlassen werden, sondern muß auch für die mir anvertrauten -Summen, die dem Kloster gehören, mit meiner -Person eintreten. Da ich diese Summen in der Hauptsache -nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren -habe, wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein -gemeiner Betrüger zur Rechenschaft gezogen zu werden.«</p> - -<p>»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das -verhüten?«</p> - -<p>»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich -ist, das Geld so bald und so vollkommen als -möglich zu ersetzen suchen. Wenn es möglich wäre, dafür -eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte wohl -ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.«</p> - -<p>Die Frau sah ihn forschend an.</p> - -<p>»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie -dann ruhig.</p> - -<p>»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen -und mich bemühen, vor allem jene Summe abzutragen. -Sollte jedoch die Person, welche für mich bürgt, mir anders -raten und mich anders zu verwenden wünschen, so -wäre mir natürlich dieser Wunsch Befehl.«</p> - -<p>Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte -durchs Zimmer. Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der -Lampe in der Dämmerung stehen und sagte leise von -dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden und -die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?«</p> - -<p>Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden.</p> - -<p>»Wenn Sie wollen – ja,« sagte er tief atmend. »Da -ich mich Ihnen, die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet -habe, mag auch das gewagt sein. Ach, liebe Frau Tanner, -es ist mir wunderlich, wie ich in meiner elenden Lage zu -solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter, -dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch -überließe, wie Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich -heute noch für immer aus Ihren Augen.«</p> - -<p>Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch -eine feine Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag, -und verbarg ihre leicht zitternden Hände hinter ihrem -Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und sagte: »Danke -für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen -sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung -ab. Wir wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd -wird Sie ins Gärtnerhaus führen. Morgen früh um -sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden, dann -können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.«</p> - -<p class="cap p2">In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit -besseren Schlaf als seine gütige Wirtin. Er holte in -einer tiefen achtstündigen Ruhe das Versäumte zweier Tage -und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit ausgeruht -und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück -erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte.</p> - -<p>Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil -ihrer Nachtruhe. Die Bitte des Paters hätte, soweit sie -nur das verlorene Geld betraf, ihr dies nicht angetan. -Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen, wie da -ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig -ihren Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so -voll Vertrauen zu ihr gekommen war, fast wie ein Kind -zur Mutter. Und daß ihr selber dies doch eigentlich nicht -erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres verstanden -und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen -hatte, während sie sonst eher zum Mißtrauen neigte, -das schien ihr darauf zu deuten, daß zwischen ihr und dem -Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und heimlicher -Harmonie bestehe.</p> - -<p>Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche -neulich einen angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte -ihn für einen lebenstüchtigen, harmlosen Menschen halten, -dazu war er ein hübscher und gebildeter Mann. An -diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert, -nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas -schwankendes Licht von Abenteuer gerückt und in seinem -Charakter immerhin eine gewisse Schwäche enthüllt schien.</p> - -<p>Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme -zu gewinnen, wobei sie die geforderte Bürgschaft -oder Geldsumme gar nicht beachtet haben würde. -Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit -dem Fremden verband und die auch in den sorgenvollen -Gedanken dieser Nacht nicht abgenommen hatte, war alles -in eine andere Beleuchtung getreten, wo das Geschäftliche -und Persönliche gar eng aneinander hing und wo -sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes -Aussehen gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel -Macht über sie hatte und so viel Anziehung zwischen ihnen -beiden bestand, so war es mit einem Geschenke nicht getan, -sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse -und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben -großen Einfluß gewinnen konnten.</p> - -<p>Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe -aus der Not und ins Ausland zu helfen, unter Ausschluß -aller weiteren Beteiligung an seinem Schicksal als einfache -Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der -Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf -seine immerhin seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres -in ihr Leben aufzunehmen, dessen Freiheit und Übersicht -sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und schien ihr -unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen.</p> - -<p>So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als -sie nach kurzem Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer -betrat, sah sie ein wenig geschwächt und müde -aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar in die -Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah, -es war ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen -Ernst, und er würde zuverlässig dabei bleiben.</p> - -<p>Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr -als die notwendigen geselligen Worte dazu zu sagen, und -gab Auftrag, daß später für ihren Gast der Wagen angespannt -werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß -sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale -Milch dazu, und erst als sie damit und der Gast ebenfalls -mit seinem Morgenkaffee fertig war, begann sie zu sprechen.</p> - -<p>»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und -Bitte vorgelegt, über die ich mich nun besonnen habe. -Sie haben auch ein Versprechen gegeben, nämlich in allem -und jedem es so zu halten, wie ich es gut finden werde. -Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu -bekennen?«</p> - -<p>Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«.</p> - -<p>»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt -habe. Sie wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte -nicht nur mein Schuldner werden, sondern mir und meinem -Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren -Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden -können. Sie wollen nicht ein Geschenk von mir haben, -sondern mein Vertrauen und meine Freundschaft. Das -ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst zugeben, -daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen -ist, wo Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches -Bedenken wider Sie erlaubt und möglich ist.«</p> - -<p>Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig -dazu, weshalb sie ihren Ton sofort um einen Schatten -strenger werden ließ.</p> - -<p>»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht -annehmen, werter Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit -und Dauer Ihrer guten Gesinnung zu wenig Gewähr -vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und Treue -beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was -aus meinem Gelde würde, kann ich auch nicht wissen, -seit Sie mir das mit Ihrem Freunde Breitinger erzählt -haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim Wort zu nehmen. -Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden -möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und -unsicher, als daß ich Sie ohne weiteres in meinen Lebenskreis -aufnehmen könnte. Darum stelle ich Ihre Treue -auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte: -Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel -dem Kloster, fügen Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung -durch die Gerichte! Wenn Sie das tapfer und ehrlich -tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu nennen, -so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel -mehr an Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie -mit Mut und Fröhlichkeit ein neues Leben anfangen -wollen. – Haben Sie mich verstanden und soll es gelten?«</p> - -<p>Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte -ihr mit Bewunderung und tiefer Rührung in das schön -erregte bleiche Gesicht und machte eine sonderbare stürmische -Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme -schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte -auf die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging -er aufrecht aus dem Zimmer, ohne weiteren Abschied zu -nehmen, und schritt durch den Garten und stieg in das -draußen wartende Kabriolet, während die überraschte -Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung -in sonderbar gemischter Empfindung nachschaute.</p> - - -<div class="chapter"> -<h3>Sechstes Kapitel</h3> -</div> - -<p class="cap">Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug -und mit einem merkwürdig veränderten Gesicht wieder -in sein Kloster gegangen kam und ohne Umweg den Guardian -aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen und lüsterne -Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand -etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde -eine geheime Sitzung der Oberen statt, in welcher die -Herren trotz manchen Bedenken schlüssig wurden, den übeln -Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten, die verlorenen -Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer -längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen.</p> - -<p>Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt -wurde, setzte er die milden Richter durch seine Weigerung, -ihren Spruch anzuerkennen, in kein geringes Erstaunen. -Allein es half kein Drohen und kein gütiges -Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus -dem Orden zu bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu, -die durch seinen Leichtsinn verloren gegangene Opfersumme -als persönliche Schuld stunden und deren allmähliche -Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als -eine große Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er -es vor, daß seine Sache vor einem weltlichen Gericht -ausgetragen werde.</p> - -<p>Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag -um Tag einsam in strengem Zellenarrest gehalten wurde, -beschäftigte seine Angelegenheit die Vorgesetzten bis nach -Rom hin, ohne daß der Gefangene über den Stand der -Dinge das Geringste erfahren konnte.</p> - -<p>Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können, -wäre nicht durch einen unvermuteten Anstoß von außen -her plötzlich alles in Fluß gekommen und nach einer ganz -anderen Entwicklung hin gedrängt worden.</p> - -<p>Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger -Rückkehr, amtlich und eilig von der Behörde angefragt, -ob etwa dem Kloster neuestens ein Insasse oder -doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden -gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines -auf dem und dem Bahnhofe abgegebenen rätselhaften -Handkoffers festgestellt worden sei. Es habe dieser Koffer, -der seit genau zwölf Tagen an jener Station lagere, infolge -eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen, -da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben -anderem gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer -lautenden Gepäckschein bei sich getragen habe.</p> - -<p>Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um -nähere Auskünfte und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt -in die benachbarte Provinzhauptstadt, wo er sich -viele, doch vergebliche Mühe gab, die Person und die -Spuren des guten Paters Matthias als mit dem Gaunerprozesse -unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt -zeigte im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes -Interesse und eine große Lust, den einstweilen als -krankliegend entschuldigten Pater Matthias selber kennen -zu lernen.</p> - -<p>Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung -in die Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten, -was noch zu retten wäre, der Pater Matthias mit -aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen, der Staatsanwaltschaft -übergeben und wegen Veruntreuung von -Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte -der Prozeß des Paters nicht nur die Aktenmappen der -Richter und Anwälte, sondern auch als Skandalgeschichte -alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen Lande widerhallte.</p> - -<p>Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden -ihn völlig preisgab und die öffentliche Meinung, dargestellt -durch die Artikel der liberalen Tagesblätter, den -Pater keineswegs schonte und den Anlaß zu einer kleinen -frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der Angeklagte -in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung -und bekam eine schlimmere Suppe auszuessen, als er -sich eingebrockt zu haben meinte. Er hielt sich aber in -aller Bedrängnis brav und tat keine einzige Aussage, -die sich nicht bewährt hätte.</p> - -<p>Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten -Prozesse ihren raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen -sah sich Matthias bald als Angeklagter den Pfarrern -und Meßnern jener Missionsgegend, bald als Zeuge -der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt, -der gar nicht Breitinger hieß und in weiten -Kreisen als Gauner und Zuhälter unter dem Namen des -dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der -Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser -und seine Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es -wurde in wenigen kräftigen Verhandlungen sein eigenes -Urteil vorbereitet.</p> - -<p>Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt -gewesen. Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten -jenes Tages in der Stadt, das Verhalten seiner -Oberen und die öffentliche Stimmung auf seine allgemeine -Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein -unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen -anwendeten und ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe -verurteilten.</p> - -<p>Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und -es wollte ihm scheinen, eine so harte Buße habe sein in -keiner eigentlichen Bosheit beruhendes Vergehen doch -nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei der Gedanke -an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung -einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach -diesem unerwartet viel beschrieenen Skandal sich ihr wieder -vorstelle, noch überhaupt werde kennen wollen.</p> - -<p>Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau -Tanner kaum weniger über diesen Ausgang der Sache -und machte sich Vorwürfe darüber, daß sie ihn doch eigentlich -ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb auch -ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten -Zutrauens versicherte und die Hoffnung aussprach, er -werde gerade in der unverdienten Härte seines Urteils -eine Mahnung sehen, sich innerlich ungebeugt und unverbittert -für bessere Tage zu erhalten. Allein dann fand -sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias -zu zweifeln, und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen -lassen, wie er die Probe bestehe. Und sie legte -den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals anzusehen, -in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig verschloß.</p> - -<p class="cap p2">Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und -der Wein schon gekeltert, als nach einigen trüben Wochen -der Spätherbst noch einmal warme, blaue, zart verklärte -Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in gebrochenen -Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses -das alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben -in den zartgolden blühenden Tag. Da zog in dem schönen -Spätherbstwetter wieder einmal ein trauriges Trüpplein -unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf -dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin.</p> - -<p>Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater -Matthias, der zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete -und in die sonnige Weite des Tales und zum stillen Kloster -hinunter sah. Er hatte keine guten Tage, aber seine Hoffnung -stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört, -auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren -Hand er vor dem bitteren Gang in die Schande gehalten -und geküßt hatte. Und indem er unwillkürlich jenes Tages -vor seiner Schicksalsreise gedachte, da er noch aus dem -Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und Mißmut -hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln -über sein mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm -das halbzufriedene Damals keineswegs besser und wünschenswerter -als das hoffnungsvolle Heute.</p> - -<p class="center p2"> -Ende<br /> -</p> - - - -<div class="chap p4"> -<p class="center xlarge gesperrt">Werke von Hermann Hesse</p> -</div> - -<p class="center p2 xlarge gesperrt">Peter Camenzind</p> - -<p class="center">Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark.</p> - -<p>Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der -Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn -du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch -blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die -Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, -bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen -liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von -den Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu -erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder -heimkehren in die Stadtwirrnis.</p> - -<p class="right"> -(Die Woche)<br /> -</p> - - -<p class="center p2 xlarge gesperrt">Unterm Rad</p> - -<p class="center">Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p> - -<p>Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der -Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad -kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher -leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner -Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen -sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.</p> - -<p class="right"> -(Münchener Zeitung)<br /> -</p> - -<p>Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als -der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine -Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, -heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei – ein klares -Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.</p> - -<p class="right"> -(Münchener Neueste Nachrichten)<br /> -</p> - - -<p class="center p2 xlarge gesperrt">Diesseits</p> - -<p class="center">Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p> - -<p>Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, -schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit -weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden -Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann -Hesses neuen Novellenband »Diesseits« lesen.</p> - -<p class="right"> -(Neue Zürcher Zeitung)<br /> -</p> - -<p>Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es -ist ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das -man ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, -still, ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein -so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse -bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.</p> - -<p class="right"> -(Münchener Zeitung)<br /> -</p> - - -<p class="center p2 xlarge gesperrt">Nachbarn</p> - -<p class="center">Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p> - -<p>Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf Erzählungen -des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt -erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne -Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten -erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, und die den -Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, -daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.</p> - -<p class="right"> -(Württemberger Zeitung, Stuttgart)<br /> -</p> - -<p>Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum -fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend. -Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben.</p> - -<p class="right"> -(Vossische Zeitung, Berlin)<br /> -</p> - - -<p class="center p2 small">Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.</p> - - -<div class="tnote p2"> -<p>Anmerkungen zur Transkription:</p> - -<p>In "er war in dem großen Atelier heftig hin -und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit -nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine -unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen, -das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem -Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, -unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts -bestand als dem rasenden Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten "bestand".</p> - -<p>In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine -gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, -die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen -Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein -müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse -ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke -gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt "Welt"</p> - -<p>In "Denn er -sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, -von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt -wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck -zu machen, Macht zu üben und über Unverständige -Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt "entfernt".</p> -</div> - - - - - - - - -<pre> - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE *** - -***** This file should be named 60437-h.htm or 60437-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/0/4/3/60437/ - -Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online -Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This -file was produced from images generously made available -by The Internet Archive) - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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