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-The Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Umwege
-
-Author: Hermann Hesse
-
-Release Date: October 6, 2019 [EBook #60437]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This
-file was produced from images generously made available
-by The Internet Archive)
-
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription:
-
-Umschließungen mit * zeigen "gesperrt" gedruckten Text an,
-Umschließungen mit _ Text, der im Original in einer anderen Schriftart
-dargestellt war.
-
-Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt. Im Übrigen wurden
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-belassen. Eine Liste mit sonstigen Korrekturen finden Sie am Ende des
-Buchs.
-
-
-
- Umwege
-
- Erzählungen
-
- von
-
- Hermann Hesse
-
- S. Fischer, Verlag, Berlin
- 1912
-
-
- *Neunte Auflage.*
- Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
- Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin.
-
-
-
-
-Inhalt
-
-
- Ladidel 9
-
- Die Heimkehr 88
-
- Der Weltverbesserer 149
-
- Emil Kolb 211
-
- Pater Matthias 265
-
-
-
-
-Ladidel
-
-
-Erstes Kapitel
-
-Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das Leben leicht zu
-nehmen. Es war sein Wunsch gewesen, sich den höheren Studien zu widmen,
-doch als er mit einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen
-führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß er sich
-nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern zu folgen und auf
-diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum war dies geschehen und er als
-Lehrling in der Schreibstube eines Notars untergebracht, so lernte er
-einsehen, wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt
-werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes von bestandenen
-Prüfungen und akademischen Semestern abhänge. Gar bald schlug diese
-Ansicht Wurzel in ihm, überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn
-manchmal unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem Überlegen
-gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar einfachere Laufbahn erwählt
-habe, und daß dies der klügste und wertvollste Entschluß seines Lebens
-gewesen sei, wenn er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe.
-Seinen Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und die er
-jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse antraf, nickte er mit
-Herablassung zu und freute sich, wenn er sie vor ihren Lehrern die Hüte
-ziehen sah, was er selber längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig
-unter dem Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht
-machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und stattliche
-Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und schon jetzt äußerlich
-den älteren Kollegen gleichstellte. Am Abend übte er mit Kameraden
-die Kunst des Zigarrenrauchens und des sorglosen Flanierens durch die
-Gassen, auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier
-schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine von der Mama
-erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor trug, wie er denn auch im
-Kontor, wenn die andern zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen,
-stets etwas Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein
-Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten ein Mohrenkopf,
-Butterteiggipfel oder Makrönchen.
-
-Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war mit Stolz
-nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus wohl gefiel. Erst
-hier kam der höhere Schwung seiner Natur zur vollen Entfaltung, und
-wenn er bisher immer noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in
-sich getragen hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz und
-heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling zu den schönen
-Künsten hingezogen gefühlt und im Stillen nach Schönheit und Ruhm
-Begierde getragen. Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und
-Freunden unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl, der
-in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des Geschmacks als
-Führer galt und um Rat gefragt wurde. Denn hatte er schon als Knabe mit
-Kunst und Liebe gesungen, gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er
-in allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden, ja er
-hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine Gitarre, mit der er
-Lieder und spaßhafte Verslein begleitete und bei jeder Geselligkeit
-Ruhm und Beifall erntete, ferner machte er zuweilen Gedichte, die er
-aus dem Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug, und
-ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte er sich auf eine
-Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes, Geniales kennzeichnete.
-Namentlich schlang er seine Halsbinden mit einer kühnen, freien
-Schleife, die keinem andern so gelang, und wußte sein hübsches braunes
-Haar höchst edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel
-sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet tanzte
-und die Damen unterhielt, oder wenn er im Verein Fidelitas im Sessel
-zurückgelehnt seine kleinen lustigen Liedlein sang und dazu auf der
-am grünen Bande hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und
-wie er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte
-und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte, bis alles stürmisch
-um einen neuen Gesang bat, der mußte ihn hochschätzen, ja beneiden.
-Da er außer seinem kleinen Monatsgehalt von Hause ein anständiges
-Sackgeld bezog, konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne
-Sorgen hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden, da er
-immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen Dingen fast noch ein
-Kind geblieben war. So trank er noch immer lieber Himbeerwasser als
-Bier und nahm, wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine
-Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim Zuckerbäcker. Die
-Streber und Mißgünstigen unter seinen Kameraden, an denen es natürlich
-nicht fehlte, nannten ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen
-schönen Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und je zu
-schaffen und betrübte Stunden machte.
-
-Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten, der leise
-doch immerhin düsternd über diesen hellen Lebensfrühling zog. Seinem
-Alter gemäß begann der junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend
-nachzuschauen und war beständig in die eine oder andre verliebt. Das
-bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges Vergnügen, bald aber
-doch mehr Pein als Lust, denn während sein Liebesverlangen wuchs,
-sanken sein Mut und Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr.
-Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel viele verliebte
-und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner Mädchen aber entfiel
-ihm aller Mut. Wohl war er immer noch ein vorzüglicher Tänzer, aber
-seine Unterhaltungskunst ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen
-wollte, einiges von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger
-redete und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner Freunde,
-allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren gerne für einen
-Kuß, ja für ein liebes Wort vom Munde eines schönen Mädchens hingegeben.
-
-Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht recht zu passen
-schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit des Herzens, welche
-ihm seine Freunde gar nicht zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde
-es wollte, ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen
-mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt zuging, von
-Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von ewiger Treue und künftigem
-Ehebund aber keine Rede war. Und ohne dies alles mochte der junge Herr
-Ladidel sich die Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in
-hübsche, wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar wohl
-auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine richtige, sittsame
-Brautschaft. An eine solche war nun bei seinem Alter und Einkommen
-nicht von ferne zu denken, was er wohl wußte, und da seine Sinne
-maßvoll beschaffen waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten
-Schmachten und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel
-probiert hätte.
-
-Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die Mädchen gern.
-Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine Tanzkunst und sein Gesang,
-und sie hatten auch das schüchterne Begehren an ihm gern und fühlten,
-daß unter seiner Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes
-und noch halb kindliches Herz sich verbarg.
-
-Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen nichts, und
-wenn er auch in der Fidelitas noch immer Bewunderung und Beliebtheit
-genoß, ward doch der Schatten tiefer und bänglicher und drohte sein
-bisheriges leichtes und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen.
-In solchen übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine
-Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe und bereitete
-sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen vor, teils um seine Gedanken
-auf andere Wege zu zwingen, teils um desto eher und sicherer in die
-ersehnte Lage zu kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als
-ein Bräutigam auftreten zu können. Allerdings währten diese Zeiten
-niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit seiner Natur nicht
-angemessen waren. Hatte der Eifer ausgetobt, so griff der Jüngling
-wieder zur Gitarre, spazierte zierlich und sehnsüchtig in den schönen
-hauptstädtischen Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein.
-Neuerdings waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art, und sie
-bestanden aus Worten und Versen, Reimen und hübschen Wendungen, die
-er in Liederbüchlein da und dort gelesen und behalten hatte. Diese
-setzte er zusammen, ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein
-sauberes Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter und
-andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen, diese Verslein mit
-leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins Reine zu schreiben, und er
-vergaß darüber oft für eine Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag
-es in seiner glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern
-ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches vergaß. Schon
-das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung gab einen hübschen
-Zeitvertreib, das Führen des Kammes und der Bürste durch das halblange
-braune Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen, lichten
-Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens, das genaue
-Abbürsten des Rockes und das Reinigen und Glätten der Fingernägel.
-Weiterhin beschäftigte ihn häufig das Ordnen und Betrachten seiner
-Kleinodien, die er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte.
-Darunter befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe, ein in
-grünen Sammet gebundenes Büchlein mit der Aufschrift »Vergißmeinnicht«,
-worein er seine nächsten Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen
-ließ, ein aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen
-gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter, der -- wenn
-man ihn gegen das Licht hielt und hineinsah -- eine Ansicht des
-Niederwalddenkmals enthielt, des weiteren ein Herz aus Silber, das
-man mit einem unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein
-Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und eingeschnitzten
-Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene Mädchenbrosche mit mehreren
-zum Teil aufgesprungenen Granatsteinen, welche der Besitzer später bei
-einer festlichen Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber
-verarbeiten zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem dünnen,
-eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff den Kopf eines
-Windhundes darstellte, sowie an einer Busennadel in Form einer goldenen
-Leier, versteht sich von selbst.
-
-Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke verwahrte
-und wert hielt, so trug er auch sein kleines, ständig brennendes
-Liebesfeuerlein getreu mit sich herum, besah es je nachdem mit Lust
-oder Wehmut und hoffte auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von
-sich geben könne.
-
-Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf, der Ladideln
-nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit und Autorität stark
-erschütterte. Irgendein junger Privatdozent der technischen Hochschule
-begann abendliche Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die
-namentlich von den Angestellten der Schreibstuben und niedern Ämter
-fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen alle hin und in
-ihren Zusammenkünften erhoben sich nun feurige Debatten über soziale
-Angelegenheiten und innere Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen
-wollte noch konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen
-und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun und Interesse zu
-zeigen, es kam ihm das alles doch im Grunde der Seele als Streberei und
-Wichtigtuerei vor. Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über
-dem neuen Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen
-und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank er mehr und mehr von
-seiner einstigen Höhe herab in ein ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte
-er noch und nahm mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause,
-allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit Seufzen
-wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie auf den Ruhm Verzicht.
-
-In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch und
-Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines Freitags, sich rasieren
-zu lassen, was er immer an diesem Tage sowie am Dienstag zu besorgen
-pflegte. Darum trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst
-über die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte, in der
-Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen Friseurladen, um das
-Versäumte nachzuholen; denn ob ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er
-dennoch keiner Gewohnheit untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde
-beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider, wenn er
-etwa warten mußte, sondern saß alsdann vergnügt auf seinem Sessel,
-blätterte in einer Zeitung und betrachtete die mit Bildern geschmückten
-Anpreisungen von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis
-er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte, um die
-vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer und zuletzt die
-zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen zu fühlen.
-
-Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den im Winde
-klingenden Messingbecken weg den Laden betrat, den Stock an die Wand
-stellte und den Hut aufhängte, sich in den weiten Frisierstuhl lehnte
-und das Rauschen des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es
-bediente ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit, rasierte ihn,
-wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel vor, trocknete ihm die
-Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste darüber und fragte höflich:
-»Sonst nichts gefällig?« Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit
-leisem Tritt, bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente
-Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das alles hatte den jungen
-Herrn in eine gütige und zufriedene Stimmung gebracht, er spitzte schon
-die Lippen, um mit einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten,
-da hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte, fragen:
-»Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?«
-
-Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den Mann ins Auge
-und erkannte sofort seinen ehemaligen Schulkameraden Fritz Kleuber
-in ihm. Nun hätte er unter andern Umständen diese Bekanntschaft mit
-wenig Vergnügen anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit einem
-Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor Kollegen zu schämen
-gehabt hätte. Allein er war in diesem Augenblick herzlich gut gestimmt,
-und außerdem hatte sein Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit
-bedeutend nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune wie aus
-einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und Anerkennung, daß er dem
-Friseur die Hand hinstreckte und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir
-werden doch noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad
-nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich an, und da er im Dienst
-war und jetzt keine Zeit hatte, verabredeten sie eine Zusammenkunft für
-den Sonntag Nachmittag.
-
-Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war dem alten
-Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern Stande sich ihrer
-Schulfreundschaft hatte erinnern mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen
-Nachbarssohn und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung gehabt,
-da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen war, und Ladidels
-Eleganz und zierliche Erscheinung hatte ihm auch jetzt wieder tiefen
-Eindruck gemacht. Darum bereitete er sich am Sonntag, sobald sein
-Dienst getan war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten
-Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht, um nicht
-staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in dem Ladidel wohnte,
-wischte er die Stiefel mit einer Zeitung ab, dann stieg er freudig
-die Treppen empor und klopfte an die Türe, an der er Alfreds große
-Visitenkarte leuchten sah.
-
-Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem Landsmann
-und Jugendfreund gern einen glänzenden Eindruck machen wollte.
-Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit, wennschon nicht ohne
-rücksichtsvolle Überlegenheit, und hatte einen vortrefflichen Kaffee
-mit feinem Gebäck auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos
-einlud.
-
-»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken unsern Kaffee
-zusammen und machen nachher einen Spaziergang, wenn dir's recht ist.«
-
-Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank Kaffee und
-aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und zeigte über diese
-schöne Gastlichkeit eine so unverstellte Freude, daß auch dem
-Notariatskandidaten das Herz aufging. Sie plauderten bald im alten
-heimatlichen Ton von den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und
-Mitschülern und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte
-ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo er überall
-herumgekommen sei, dann hub der andre an und berichtete ausführlich
-über sein Leben und seine Aussichten. Und am Ende nahm er die Gitarre
-von der Wand, stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um
-Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen und Wohlbehagen
-die Tränen in den Augen standen. Sie verzichteten auf den Spaziergang
-und beschauten statt dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und
-darüber kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen sich
-unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte. Da waren
-freilich des Barbiers Ansprüche an das Glück um vieles bescheidener als
-die seines Freundes, aber am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen
-Trumpf aus, mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte
-nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den Freund ein,
-bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen, wo er willkommen sein werde.
-
-»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit bin ich leider
-noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr heiraten könnet?«
-
-»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre warten wir nimmer,
-wir sind schon über ein Jahr versprochen. Ich habe ein Muttererbe von
-dreitausend Mark, und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig
-bin und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft aufmachen.
-Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen in der Schweiz, da
-habe ich zwei Jahre gearbeitet, der Meister hat mich gern und ist alt
-und hat mir noch nicht lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir
-überlasse er seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja
-das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und ist gerade
-neben einem Hotel, da kommen viele Fremde, und außer dem Geschäft ist
-ein Handel mit Ansichtskarten dabei.«
-
-Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes und zog eine
-Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl den Brief des schaffhausener
-Meisters, wie auch eine in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte
-mitgebracht, die er seinem Freunde zeigte.
-
-»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das Bild zusammen
-an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen bengalischen Beleuchtung,
-der Friseur beschrieb alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte
-davon und von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen, kam
-dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft, las seinen Brief
-vor und war voller Eifer und Freude, so daß sein Kamerad schließlich
-auch wieder zu Wort kommen und etwas gelten wollte. Darum fing er
-an vom Niederwalddenkmal zu sprechen, das er selber zwar nicht
-gesehen hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine
-Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und ließ den
-Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die Pracht verbarg.
-Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine nicht mindere Schönheit
-sei als sein roter Wasserfall, und überließ bescheiden dem andern
-wieder das Wort, der sich nun, sei es aus wirklichem Interesse oder
-zum Teil aus Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte.
-Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues zu fragen und
-Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft. Es war vom Schliff
-der Rasiermesser, von den Handgriffen beim Haarschneiden, von Pomaden
-und Ölen die Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine
-Porzellandose mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem Freunde
-und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot. Nach einigem Zögern
-nahm dieser die Gabe an, die Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig
-probiert und endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred
-Gelegenheit, Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne Luxus
-doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit der Seife wollte Kleuber
-nicht einverstanden sein und empfahl eine andere, welche zwar etwas
-weniger dufte, dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte.
-
-Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei seiner Braut
-speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich für das Genossene freundlich
-zu bedanken. Auch Alfred fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter
-Nachmittag gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder
-Mittwoch abend wieder zu treffen.
-
-
-Zweites Kapitel
-
-Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die
-Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren und auch ihm
-wieder eine Ehre antun müsse. Darum schrieb er ihm Montags einen Brief
-mit goldnem Rande und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud
-ihn ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem Fräulein
-Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen. Darauf erhielt er mit der
-nächsten Post Ladidels elegante Visitenkarte mit den Worten »-- dankt
-für die freundliche Einladung und wird um acht Uhr kommen.«
-
-Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller Sorgfalt vor.
-Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber erkundigt und in Erfahrung
-gebracht, daß sie neben einer ebenfalls noch ledigen Schwester von
-einem lang verstorbenen Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine
-Beamtentochter war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte. Diese
-Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige Schwester veranlaßten
-ihn, sich besonders schön zu machen und auch im voraus ein wenig an die
-Konversation zu denken.
-
-Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse und
-hatte das Haus bald gefunden, ging aber nicht hinein, sondern aus der
-Gasse auf und ab, bis nach einer Viertelstunde sein Freund Kleuber
-daherkam. Dem schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die
-hochgelegene Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre empfing sie
-die Witwe Weber, eine schüchterne kleine Dame mit einem versorgten
-alten Leidensgesicht, das dem Notariatskandidaten wenig Frohes zu
-versprechen schien. Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den
-Gang geführt, wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von da ging
-es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich, wie man es
-nicht erwartet hätte; und vom Fenster her, wo Geranien im Abendscheine
-tief wie Kirchenfenster leuchteten, traten munter die zwei Töchter
-der kleinen Witwe. Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und
-überboten das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein erwarten
-ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf schlanken, kräftigen
-Gestalten kluge, frische Blondköpfe und waren ganz hell gekleidet.
-
-»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die Hand.
-
-»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte sich dem
-hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne Tadel, zog die hinterm
-Rücken versteckte Hand hervor und bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß
-dar, den er unterwegs gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und
-schob ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und blond
-war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt an den gedeckten
-Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat bekränzten Eierspeise. Während
-der Mahlzeit wurde fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner
-Braut, die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute mühsam
-kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen Blick, hinter
-dem es ihr recht wohl war, der aber auf Ladidel einen beängstigenden
-Eindruck machte, so daß er wenig aß und sich bedrückt und still
-verhielt wie in einem Trauerhaus.
-
-Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand jedoch in einem
-Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen sie zuvor geschlossen hatte,
-und schien zu schlummern. Die Jugend blühte dafür munter auf, und die
-Mädchen verwickelten den Gast in ein neckendes und kampflustiges
-Gespräch, wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der Wand schaute
-der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen Rahmen verwundert und
-bescheiden hernieder, außer seinem Bildnis aber war alles in dem
-behaglichen Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung
-verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein der Mädchen und
-bis zu einer an der Schmalwand hängenden Mandoline. Auf diese fiel,
-als das Gespräch ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er
-äugte heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort, die
-ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von den Schwestern
-denn musikalisch sei und die Mandoline spiele. Das blieb nun an Martha
-hängen, und sie wurde sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht,
-da die Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten
-Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von sich gegeben hatte. Dennoch
-bestand Herr Ladidel mit Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas
-vorspielen, und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund. Da
-das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war, griff schließlich Meta nach
-dem Instrument und legte es vor sie hin, und da sie abwehrend lachte
-und rot wurde, nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise
-mit suchenden Fingern darauf herum.
-
-»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein Schöner, bringen
-andre Leute in Verlegenheit und können es nachher selber besser.«
-
-Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe kaum jemals so
-ein Ding in Händen gehabt, hingegen spiele er allerdings seit mehreren
-Jahren die Gitarre.
-
-»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast du auch das
-Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du nächstesmal tun, gelt!«
-
-Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der Gast begann einigen
-Glanz zu gewinnen und auszustrahlen. Zögernd erklärte er sich bereit,
-die Bitte zu erfüllen, wenn er wirklich den Damen mit seiner Stümperei
-ein bißchen Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde ihn
-hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha sich doch noch
-als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen immer noch zu halten
-geneigt sei.
-
-Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden Jünglinge Abschied
-nahmen, erhob sich am Fenster klein und sorgenvoll die vergessene
-Mutter, legte ihre schmale, wesenlose Hand in die warmen, kräftigen
-Hände der Jungen und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar
-Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes voll war.
-
-In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde gleich nach dem
-Weggange der Gäste der Tisch geräumt und das Licht gelöscht. In der
-Schlafstube hielten wie gewöhnlich die beiden Mädchen sich still,
-bis die Mutter eingeschlafen war. Alsdann begann Martha, anfänglich
-flüsternd, das Geplauder.
-
-»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?«
-
-»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.«
-
--- »Ach ja. Gut Nacht!« --
-
-»Ja, bist müd?«
-
-»Ein bißchen.«
-
-»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel geschleckt, nicht?«
-
-»Warum?«
-
-»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte Notar werden sollen
-und dafür der andre Friseur. Findest du nicht auch? Er hat so was
-Süßes.«
-
-»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack. Hast du
-seine Krawatte gesehen?«
-
-»Freilich.«
-
-»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs war er ja ganz
-schüchtern.«
-
-»Er ist auch erst zwanzig Jahr. -- Na, gut Nacht also!«
-
-Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief, an den
-Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und sie ließ einstweilen, ohne
-sich weiter preiszugeben, eine kleine Kammer in ihrem Herzen für den
-hübschen Jungen offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten
-und Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr nicht
-gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten hinter sich
-gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte), teils weil sie nicht
-Lust hatte, noch lange neben der um ein Jahr jüngeren Meta unverlobt
-einherzugehen. Was an diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat
-nicht weh und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes,
-vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines Tages, der
-sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu werden verspricht.
-
-Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt geblieben.
-Zwar lebte er noch in dem dumpfen Liebesdurst eines kaum flügge
-Gewordnen und verliebte sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu
-sehen bekam; und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch
-war diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu haben, und
-Martha konnte sich neben jener wohl auch zeigen; so war Alfreds Herz
-im Laufe des Abends mehr und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug
-ihr Bildnis mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in
-unbestimmter Verehrung davon.
-
-Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis die kleine
-Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube beisammen saß; nur
-daß diesmal die jungen Herren später gekommen waren, da der Tisch
-der Witwe eine so häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte.
-Dafür brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit Stolz
-vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer vergnüglich in
-den warmen Abend hinaus, an der alten Mutter vorüber, die am Fenster
-ruhte und unbeschadet ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und
-Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant wußte es so
-einzurichten, daß zwar seine Kunst zur Geltung kam und reichen Beifall
-erweckte, er aber doch nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn
-nachdem er einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines
-Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern mit ins
-Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich beim ersten Takt von
-selber zum Mitsingen verlockten.
-
-Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung erwärmt und
-benommen, rückte nahe zusammen und sang nur leise und strophenweise
-mit, dazwischen plaudernd und sich mit verstohlenen Fingern
-streichelnd, wogegen Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge
-behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei Paare entstanden,
-ohne daß jemand dessen achtete, und war ein Anfang für Alfred und
-Martha gewonnen, den sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis
-zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft führten.
-
-Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten Gang das
-Brautpaar seine Küsse tauschte, standen die beiden andern, mit dem
-Adieusagen schon fertig, eine Minute lang verlegen wartend da. Im Bett
-brachte sodann Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn immer
-nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob. Aber die Schwester
-sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf auf beide Hände und lag lange
-still und wach, ins Dunkle schauend und tief atmend. Später, als die
-Schwester schon schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus,
-der jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem dumpfen
-Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen entsprang, und den
-sie nicht wiederholte. Vielmehr entschlief sie bald darauf leicht und
-mit einem innigen Lächeln auf dem frischen Munde.
-
-Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber nannte den eleganten
-Alfred mit Stolz seinen Freund, Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter
-nicht allein kam, sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha
-gewann den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche
-Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und lenksame
-Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie geschaffen, mit dem sie
-sich zeigen und auf den sie stolz sein könnte, ohne ihm doch jegliche
-Herrschaft überlassen zu müssen.
-
-Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen sehr zufrieden
-war, spürte in Marthas Freundlichkeit eine heimliche Wärme, die er
-bei aller Schüchternheit wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und
-Verlobung mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen
-Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert und
-selig lockend erscheinen.
-
-Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes. Alfred
-kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch, zweimal wurden auch
-gemeinsame Sonntagsspaziergänge unternommen, aber es blieb bei dem
-Zustande vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend
-begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche Gründe.
-Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne im längeren Umgang manches
-allzu Unreife und Knabenhafte entdeckt und es rätlich gefunden, einem
-noch so unerfahrenen Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr zu
-erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen selber fände
-und unterwegs etwa, sei es auch nicht ohne Bitternis, einige Reife
-und Zuverlässigkeit gewänne. Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes
-wäre, ihn an sich zu nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar
-nicht so eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht
-unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen erster
-Liebeswege hervorgegangen. So erschien es ihr billig, daß der junge
-Herr es auch nicht allzuleicht habe und nicht am Ende gar den Eindruck
-gewänne, sie habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille, ihn
-zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl im Auge zu behalten
-und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten, da er seines Glückes würdig
-sein würde.
-
-Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die Zunge banden. Da
-war zuerst seine Schüchternheit, die ihn immer wieder dazu brachte,
-seinen Beobachtungen zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde
-geliebt und begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen,
-gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und unfertig, --
-nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder vier Jahre älter sein
-konnte als er. Und schließlich erwog er in ernsthaften Stunden mit
-Bangen, auf welch unfesten Grund seine äußere Existenz gebaut war.
-Je näher nämlich das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige
-untergeordnete Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine Fähigkeit
-und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender wurden seine Zweifel.
-Wohl hatte er alle hübschen, kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des
-Amtes rasch und sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und
-spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das Studium
-der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles das dachte, was im
-Examen verlangt wurde, brach ihm der Schweiß aus. Konnte er denn um
-ein Mädchen anhalten oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er
-diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches und
-ehrenhaftes Leben vor sich sah?
-
-Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube ein und beschloß,
-den steilen Berg der Wissenschaft im Sturm zu nehmen. Kompendien,
-Gesetzbücher und Kommentare lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er
-handschriftliche Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer Examina,
-er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd hin, er spitzte
-Bleistifte und machte sich genaue Arbeitspläne für Wochen voraus.
-Aber sein Wille war schwach, er hielt niemals lange aus, er fand
-immer andres zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien;
-und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto bitterer
-und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob es wieder, es war ja
-noch Zeit, und er meinte, wenn es erst brennend würde und zu drängen
-begänne, werde wohl das Notwendige doch noch bewältigt werden.
-
-Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber immer fester und
-erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß Fritz ihn abends aufsuchte und,
-wenn es eben nötig schien, sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel
-es Alfred ein, diese nette, leichte, saubere Hantierung selber ein
-wenig zu probieren, und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf seine
-ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem hochgeschätzten
-Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein Messer tadellos abziehen und
-einen guten, haltbaren Seifenschaum schlagen. Alfred zeigte sich,
-wie der andre vorausgesagt hatte, überaus gelehrig und fingerfertig.
-Bald vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu
-barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister diesen Dienst
-zu tun, und er fand darin ein Vergnügen und eine Befriedigung, die
-ihm manchen von den Studien verbitterten Tag auf den Abend noch rosig
-machte. Eine ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch
-in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich, von seinen
-schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages einen künstlichen Zopf
-aus Frauenhaar mit und zeigte ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe.
-Ladidel war sofort begeistert für dieses zarte Handwerk und machte
-sich mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu lösen und
-wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm bald, und nun kam Fritz
-mit schwereren und feineren Arbeiten, und Alfred lernte spielend, zog
-das lange seidne Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte
-sich in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das
-Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein mit dem
-Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen über fachmännische Dinge. Er
-schaute nun auch die Frisuren aller Frauen und Mädchen, denen er
-begegnete, mit prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber
-durch manches treffende Urteil.
-
-Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden Fräulein Weber
-nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen. Er fühlte, daß er mit dieser
-neuen Kunst dort wenig Ehre ernten würde. Und dennoch war es sein
-Lieblingstraum und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen
-blonden Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben und ihr
-neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten.
-
-Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers. Es war in den
-letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an einem Spaziergang der Familie
-Weber teil. Man wanderte das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und
-ruhte in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen aus.
-Martha war an diesem Tage besonders freundlich und vertraulich mit
-Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner Nähe auf dem grünen Hang,
-ordnete einen Strauß von späten Feldblumen, tat ein paar silbrige
-zitternde Grasblüten hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß
-Alfred den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß etwas
-an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe und sagte es, und
-zugleich wagte er es, streckte seine Hände nach den blonden Zöpfen aus
-und erbot sich, sie in Ordnung zu bringen. Martha aber, einer solchen
-Annäherung von ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn
-kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken. Alfred schwieg
-betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich und nahm später die
-Einladung, bei Frau Weber zu speisen, nicht an, sondern ging nach der
-Rückkehr in die Stadt sogleich seiner Wege.
-
-Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten und sie
-hätte wohl dazu dienen können, ihre Sache zu fördern und in Gang zu
-bringen. Doch ging es umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen.
-
-War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur und zum Glücke
-geboren, so sollte doch auch er einigen Sturm erleben und einmal das
-Wasser an der Kehle spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam.
-
-
-Drittes Kapitel
-
-Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint und war nun
-erstaunt, als sie wahrnahm, daß Alfred eine Woche und länger ihr
-Haus mied. Er tat ihr ein wenig leid und sie hätte ihn gar gerne
-wiedergesehen. Als er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu
-grollen schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu einem
-so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt habe. Nun begann sie
-selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme und den gnädig Versöhnten spielen
-würde, wollte sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe.
-
-Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben hatte nicht
-Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit und Furcht vor Marthas Strenge
-zur Ursache. Er wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine
-damalige Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit vergessen
-und die Scham überwunden habe. In dieser Bußzeit spürte er deutlich,
-wie sehr er sich schon an den Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie
-sauer es ihn ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens
-wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur Verstärkung seiner Buße
-und zum Kampf wider die lange Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn
-zu trösten und geduldiger zu machen. So hielt er es denn nicht länger
-als bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines Tages
-sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen Hemdkragen und sprach
-bei den Weberschen vor, diesmal ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen
-seiner Beschämtheit machen wollte.
-
-Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler zu erscheinen,
-hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht. Es stand für die letzte
-Woche des September ein großes Fest- und Preisschießen bevor, worauf
-die ganze Stadt schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte
-Alfred Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war,
-die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit eine hübsche
-Begründung seines Besuches wie auch gleich einen Stein im Brett bei
-Martha zu gewinnen.
-
-Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte den Verliebten, der
-seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt war, getröstet und zum treuen
-Diener gemacht. Nun hatte aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie
-für Trotz hielt, verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte
-kaum, als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung
-ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt, im Zimmer ab und
-zu, als wäre sie allein. Ladidel war sehr eingeschüchtert, machte ein
-betrübtes, demütiges Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da
-sein verlegenes Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte
-zu wenden und seine Einladung vorzubringen, von welcher er sich einen
-Umschwung und Marthas Versöhnung versprach.
-
-Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung und demütige
-Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß, das Bürschlein diesmal in die
-Kur zu nehmen und ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte
-kurz und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung,
-es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste zu besuchen, und was
-ihre Schwester angehe, so sei diese verlobt und sei es Sache ihres
-Bräutigams, sie einzuladen und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe.
-
-Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds guten Willen
-so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und ernstlich verletzt sich
-an Meta mit der Frage wandte, ob sie diese Meinung teile. Und da
-Meta, wenn schon höflicher, der Schwester recht gab, griff Ladidel
-nach seinem Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann, der
-bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben, und nicht im Sinn
-hat wiederzukommen. Die alte Frau Weber war nicht da, Meta versuchte
-zwar ihn zurückzuhalten und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine
-Verbeugung mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und Alfred war es
-nicht anders zumute, als hätte sie ihm für immer abgewinkt. Er ging
-hinaus und schnell die Treppe hinab, und je schneller er lief und je
-weiter er wegkam, desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und
-Enttäuschung in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme seines
-redlichen Willens durchaus nicht verdient zu haben glaubte.
-
-Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß er sich in dieser
-Sache männlich und stolz gezeigt habe. Zorn und Trauer überwogen
-jedoch, grimmig lief er nach Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn
-besuchen wollte, ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen,
-ohne sich zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre
-hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen, ging aus und
-trieb sich den Abend in den Gassen herum, bis er müde war. Dabei fiel
-ihm alles ein, was er je Böses über die Falschheit und Wandelbarkeit
-der Weiber hatte sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und
-scheelsüchtiges Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles, fand
-auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu milde, und hätte
-wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen solcher Art zusammengestellt,
-wenn es ihm nicht doch zu elend ums Herz gewesen wäre.
-
-Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig, gegen seinen
-Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen, ein Brieflein oder eine
-Botschaft durch Fritz kommen, denn nachdem der erste Groll vertan war,
-schien ihm eine Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit,
-und sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu dem
-bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und es kam niemand.
-Das große Schützenfest jedoch rückte näher, und ob es dem betrübten
-Ladidel gefiel oder nicht, er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie
-jedermann sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden
-Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser mit Tannenzweigen
-geschmückt und Torbögen mit Inschriften, die große Festhalle am Wasen
-war fertig und ließ schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst
-seine schönste Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln
-täglich klarer und festlicher empor.
-
-Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut hatte, und obwohl
-ihm und seinen Kollegen ein freier Tag oder gar zwei bevorstanden,
-verschloß er sich doch der Freude gewaltsam und hatte fest im Sinn,
-die Festlichkeiten mit keinem Auge zu betrachten und in den Tagen der
-allgemeinen Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben.
-Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte da und dort in den
-Gassen hinter offenen Fenstern die Musikkapellen Proben halten und die
-Mädchen bei der Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und
-Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in dem Getümmel
-seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis und grimmiger Entsagung.
-In der Schreibstube hatten die Kollegen schon seit einiger Zeit von
-nichts als dem Fest mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der
-Herrlichkeit recht schlau und gründlich froh werden wollen. Zuweilen
-gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen und so zu tun, als freue
-auch er sich und habe seine Absichten und Pläne; meistens aber saß er
-schweigend an seinem Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei
-brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß mit ihr,
-sondern mehr und mehr auch um die große Festlichkeit, auf die er so
-lang und freudig gewartet hatte und von der er nun nichts haben sollte.
-
-Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte, wenige
-Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser machte ein betrübtes Gesicht und
-erzählte, er wisse gar nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei,
-sie hätten seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren
-Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen. Nun machte er
-Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen sich frohe Festtage zu schaffen,
-wenn auch in aller Bescheidenheit, denn wenn er auch nicht gesonnen
-sei, auf alles zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande
-als Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden Jungfern ganz
-recht, wenn er nun eben ohne sie den einen oder andern Taler draufgehen
-lasse. Allein Ladidel widerstand auch dieser Versuchung. Er dankte
-freundlich, erklärte aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die
-freie Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen. Von
-diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so viel erzählt und so
-viele Kunstausdrücke und Fremdwörter dabei aufgewendet, daß Fritz
-nun in tiefem Respekt keine Einwände wagte und traurig wieder ging.
-Aber als er fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und
-präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das Lied: »Wie
-die Blümlein draußen zittern.« Und als der Refrain zum zweiten Male
-wiederkehrte: »O bleib bei mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja
-dein Heimatort!«, da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf
-über die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen. Erst
-eine Stunde später, als er schon im Bette lag, fiel ihm ein, daß das
-Instrument leiden könnte, und er stand auf, um es abzuwischen, aber die
-Tropfen waren schon im trocknen Holz verronnen.
-
-Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet werden sollte.
-Es war ein Sonntag, und das Fest sollte die ganze Woche dauern. Die
-Stadt hallte von Gesang, Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen
-wider, aus allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine
-aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der Bahnhof wimmelte von
-Festbesuchern, die in Extrazügen gefahren kamen. Allenthalben schallte
-Musik, und die Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen
-trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen, wo das
-Volk seit dem Morgen zu Tausenden wartend stand. Schwarz drängte
-der Zug in dickem Fluß heran, schwer wankten die Fahnen darüber und
-stellten sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande
-um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen Platz. Auf alle
-diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher Wärme eine heitere
-Sonntagssonne hernieder. Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf
-den geröteten Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie
-Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch Zurufe angefeuert;
-wer in der Nähe war und Zutritt fand, nahm die Gelegenheit wahr,
-schon um diese frühe Stunde an den wohlversehenen Trinkhallen einen
-frischen Trunk zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten
-und befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten und
-Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten, in der Stille
-lachend, für diesen Glanztag einen Goldregen voraus.
-
-Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in seiner Stube auf
-dem Bett und hatte noch nicht einmal Stiefel an, so wenig schien ihm
-an der Freude gelegen. Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden
-Nachtgedanken, mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben.
-Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu nennen, ihr
-sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen, von dem er noch immer in
-leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit und Freundschaft versah. Nun
-zog er aus der Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen
-mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues Kuvert, steckte
-eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie mit der Zunge naß, prüfte
-die Tinte und schrieb alsdann in einer runden, elegant ausholenden
-Kanzleischrift zunächst die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha
-Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile stimmte ihn
-das aus der Ferne herübertönende Geblase und Festgelärme elegisch
-und er fand es gut, seinen Brief mit der Schilderung dieser Stimmung
-anzufangen. So begann er mit Sorgfalt:
-
- »Sehr geehrtes Fräulein!
-
-Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag morgen und die
-Musik spielt von ferne, weil das Schützenfest beginnt. Nur ich kann an
-demselben nicht teilnehmen und bleibe daheim.«
-
-Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich weiter. Da fiel
-ihm noch manche schöne und treffende Wendung ein, mit welcher er
-seinen betrübten Zustand schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm
-klar, daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben konnte,
-als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und Werbung wäre. Und
-wie konnte er dies wagen? Und je länger er sann, desto mehr ward ihm
-klar, daß es mit dem Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und
-ausfand, es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen und
-damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun hätte er dies ja wohl
-im Dunkeln lassen und die Zeit bis dahin als Wartezeit und kurzen
-Aufschub betrachten können; allein er wußte recht wohl, wie es um seine
-Aussichten im Examen stand, und konnte weder sich selber noch das
-Mädchen über diese Sorge wegtäuschen.
-
-Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder schien
-ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen und was er zu seinen
-Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich ungewiß und gering. Eine Stunde
-verging und er kam nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe,
-da alles draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die ferne
-Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing seiner Trauer nach und
-bedachte, wieviel Freude und Lust ihm heute verloren ging, und daß er
-kaum in langer Zeit, ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben
-würde, eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber
-überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches
-Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen vermochte.
-
-Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht hatte tun wollen.
-Er zog seine Stiefel an und verließ das Haus, und während er nur hin
-und wider zu wandeln meinte und bald wieder daheim sein und an den
-Brief und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm und
-Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg ein Schiff, und
-unversehens stand er bei dem Schützenhaus. Da wachte er auf und schämte
-sich seiner Schwäche und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch
-währte alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste
-betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem Jubel fest zu
-bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt wirkten, wie bei einem
-Kinde und wie beim niederen Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend
-und erregend, der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn wie eine
-mächtige Wolke von sich selber und allem kaum Gewesenen hinweg in ein
-verzaubertes Reich des Feiertags und der besinnungslosen Lust.
-
-Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von der Menge
-mitgenommen, und sah und hörte und roch und atmete so viel Fremdes,
-Erregendes ein, daß ihm wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles,
-was der Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das Schießen
-erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen die Festtafel bald anhebe,
-daß nach Tische vielleicht der König herauskommen werde, um sich das
-auch zu besehen, ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und
-wer sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein Gedeck
-an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus Trompeten und Hörnern
-da und dort und überall feurige Musik, und in Pausen drang von der
-Ferne her, wo das Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die
-weichere Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf Schritt
-und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares, Erheiterndes und
-Erschreckendes, es wurden Pferde scheu, Kinder fielen um und schrien,
-ein vorzeitig Betrunkener sang unbekümmert, als wäre er allein, sein
-Lied und schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus
-belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher, mit Orangen und
-Zuckerwaren, mit Luftballonen für die Kinder, mit Backwerk und mit
-künstlichen Blumensträußchen für die Hüte der Burschen, abseits drehte
-sich unter heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer
-laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen wollte, dort führte ein
-Polizeidiener ein verlaufenes Büblein an der Hand.
-
-Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich und fühlte sich
-beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen und Dinge mit Augen zu
-sehen, von denen man noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war
-ihm wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte, und
-als es ihm gelungen war, in die Nähe der Ehrenhalle zu dringen, wo
-die Tafel auf einer fahnengeschmückten Höhe stattfand, schaute er mit
-Bewunderung und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände,
-den Oberamtmann und andre Würdenträger mit Orden und Abzeichen zumitten
-des Ehrentisches sitzen und speisen und weißen Wein aus geschliffenen
-Gläsern trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer, und wer
-etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit ihnen zu tun gehabt
-hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein bekannter Fabrikant und Millionär
-wurde erkannt und besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und
-schließlich wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel einen
-Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen vor sich ging und
-soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt war, machte einen jeden glücklich.
-Auch der kleine Ladidel staunte und bewunderte und fühlte sich groß und
-bedeutend als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus, da er
-Leuten, die weniger glücklich waren und nicht hatten dabei sein können,
-die ganze Herrlichkeit genau beschreiben würde.
-
-Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen Stunden
-Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines Zuckerbäckers
-und verzehrte ein paar Stücke Kuchen. Dann eilte er, um ja nichts zu
-versäumen, wieder ins Gewühl, und war so glücklich, den König zu sehen,
-wenn auch nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den
-Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts verstand, sah
-er doch mit Vergnügen und Spannung den Schützen zu, ließ sich einige
-berühmte Helden zeigen und betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel
-und Augenzwinkern der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell auf
-und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen in der frohen
-Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte mit dem Bildnis des Königs
-und dem Landeswappen, hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier
-zu, der seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern
-machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten Volksscharen.
-Errötend entwich er von der Bude eines Photographen, dessen Frau ihn
-zum Eintritt eingeladen und unter dem Gelächter der Umstehenden einen
-entzückenden jungen Don Juan genannt hatte. Und immer wieder blieb er
-stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte Melodien mitzusummen und
-sein Stöcklein im Takt dazu zu schwingen.
-
-Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte ein Ende, und es
-begann da und dort ein Zechen in Hallen oder unter Bäumen. Während
-der Himmel noch in zartem Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in
-der Herbstabendklarheit standen, glommen hier und dort schon Lichter
-und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche dahin und bedauerte
-das Sinken des Tages. Die solide Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum
-Abendessen, müdgewordene Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der
-Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten sich Lust und
-Übermut der Jugend, die sich auf Tanz und Wein freute, und wie es auf
-dem Platze und den Gassen leerer ward, tauchte da und dort und an jeder
-Ecke bald scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch mit
-sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und Ahnung nächtlicher
-Lust.
-
-Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit
-Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende Tageslicht. Die
-Erinnerung an Trauer und Leid kehrte mählich wieder, vermischt mit
-einem ungelöschten Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig
-werdend strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend. Es kicherte
-kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht nachsah, und als nun in
-einem Garten unter hohen schwarzen Kastanien mit lockender Pracht
-Reihen von roten Papierampeln aufglühten und aus eben diesem Garten
-her eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf der
-heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen Tischen aß und
-trank viel junges Volk, dahinter wartete ein großer Tanzplan erst halb
-erleuchtet. Der junge Mann nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und
-verlangte, als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte er
-aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik, aß ein weniges
-und trank langsam in kleinen Schlücken den ungewohnten Wein. Je länger
-er in die roten Lampen schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft
-der Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich vor,
-und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte seliger Lust,
-von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen sei. Wohin er blickte,
-sah er rote Wangen und begierige Augen leuchten, junge Burschen in
-Sonntagskleidern mit kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit
-verlangenden Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen. Und er war noch
-nicht lange mit seinem Abendessen fertig, als die Musik mit erneuter
-Wucht und Süße anstimmte, der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte
-und Paar auf Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte.
-
-Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine Weile dableiben zu
-können, und als der Wein doch schließlich zu Ende war, konnte er
-sich nicht entschließen, heimzugehen. Er ließ nochmals ein kleines
-Fläschlein kommen und saß und starrte und fiel in eine stachelnde
-Unruhe, als müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück blühen
-und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn abfallen. Und wenn es
-nicht geschah, so schrieb er sich in Leid und Trotz das Recht zu,
-wenigstens dem Fest und seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch
-seines Lebens zu trinken.
-
-Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen, denn so schlimm er
-es meinte, seine Natur war klüger und hätte ihm nicht erlaubt, mehr
-als einen kindlichen Versuch nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch
-keineswegs der Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer
-nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den Kopf hinreichend
-erhitzt und verwirrt hatten. Aber der mäßige und zierliche Jüngling
-konnte soviel Übermut und Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den
-Anblick so vieler hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne
-gleichfalls ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und blühender
-Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen, je heftiger rings um ihn
-die Freude tobte, sein Unglück sowohl wie sein Trostbedürfnis höher,
-und rissen den Unbeschützten zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die
-Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben oder sich Lust
-schaffen mußte.
-
-
-Viertes Kapitel
-
-Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß und mit heißen Augen
-in das Tanzgewühl blickte, vom roten Licht der Ampeln und vom raschen
-Takt der Musik bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung
-überdrüssig, hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die
-fragte: »Ganz allein?«
-
-Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der Bank gebeugt
-ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, mit einem weißen linnenen
-Hütlein und einer roten leichten Bluse angetan. Sie lachte mit einem
-hellroten Munde, während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln
-Augen ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie mitleidig
-und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja, leider.« Da nahm sie sein
-Weinglas, fragte mit einem Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank
-es in einem durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals,
-der bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und indessen
-sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen, daß sich hier ein
-Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht ohne Schrecken, aber er war
-allsofort entschlossen, dabei zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie
-es wollte.
-
-Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu tun, schenkte
-Ladidel das leere Glas wieder voll und bot es dem Mädchen an. Aber sie
-schüttelte den Kopf und blickte rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben
-eine neue Musik erscholl.
-
-»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in die Augen, der
-augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte und seinen Namen nannte.
-
-»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich heiße Fanny.«
-
-Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom und Schwall des
-Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet getanzt hatte. Früher
-war er beim Tanzen lediglich seiner Geschicklichkeit, seiner flinken
-Beine und feinen Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran
-gedacht, wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache.
-Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen Wirbel mit,
-gezogen und hingeweht und wehrlos, aber glücklich und im Innersten
-erregt. Bald zog und schwang ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem
-verloren ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre
-Pulse an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte.
-
-Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in den ihres Begleiters
-und zog ihn mit sich weg. Tief atmend wandelten sie langsam einen
-Laubengang entlang, zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung
-voll warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel mit
-blanken Sternen herein, von der Seite her spielte, von beweglichen
-Schatten unterbrochen, der rote Schein der Festampeln, und in diesem
-ungewissen Licht bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die
-Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und Hüten, mit
-bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen Fächern versehen, die
-gleich Pfauenrädern spielten. Ladidel nahm das alles nur als einen
-farbigen Nebel wahr, der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und
-daraus nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles Gesicht
-mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund mit glänzenden
-Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer Arm für Augenblicke deutlich
-hervorschimmerte.
-
-»Alfred!« sagte Fanny leise.
-
-»Ja, was?«
-
-»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach Amerika.«
-
-»Nein, ich hab keinen.«
-
-»Willst du nicht mein Schatz sein?«
-
-»Ich will schon.«
-
-Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten hellroten Mund.
-Liebestaumel wehte in den Bäumen und Wegen; Ladidel küßte den roten
-Mund und küßte den weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und
-den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an einen Tisch
-abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen und trank mit ihr aus
-einem Glase, hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und fühlte Feuer in
-allen Adern. Seit einer Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter
-ihm versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig die
-glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen.
-
-Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes und ihrer
-blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos und gedankenlos als ihr
-Liebster, dessen Feuer sie mit der einen Hand zu mehren, mit der andern
-abzuwehren bemüht war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl, und
-sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden Augen; doch war
-sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten und Zwecke zu vergessen, und
-diese gingen nicht auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern
-auf soliden Erwerb.
-
-Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen Wein und Tanz, von
-seiner Geliebten eine lange traurige Geschichte, die mit einer kranken
-Mutter begann und mit Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete.
-Sie bot dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen nicht
-auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während deren er sich stets
-wieder erholen und neue Glut fassen konnte, sie bat ihn sogar, nicht
-allzuviel daran zu denken und sich den schönen Abend nicht verderben
-zu lassen, bald aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die
-Augen. Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen Anfängern,
-das Mitleid eher entflammend als niederschlagend, sodaß er das Mädchen
-gar nimmer aus den Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für
-die Zukunft versprach.
-
-Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand dann
-plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke Mutter nicht
-länger warten lassen. Ladidel bat und flehte, wollte sie dabehalten
-oder zumindest begleiten, schalt und klagte und ließ auf alle Weise
-merken, daß er die Angel geschluckt habe und nimmer entrinnen könne.
-
-Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos die Achseln,
-streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun für immer von ihr Abschied
-zu nehmen. Denn, wenn sie bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert
-Mark sei, so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt
-werden und könne für das, wozu die Verzweiflung sie dann treiben würde,
-nicht einstehen. Ach, sie wollte ja gern lieb sein und ihrem Alfred
-jede Gunst gewähren, da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber
-unter diesen Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und sich
-mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend zu begnügen.
-
-Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu besinnen, versprach
-er das Geld morgen Abend herzubringen, und schien fast zu bedauern,
-daß sie seine Liebe auf keine größere Probe stelle.
-
-»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei schmiegte sie sich an
-ihn, daß er beinahe den Atem verlor.
-
-»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie nach Hause
-begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich eine so furchtbare
-Angst, man möchte sie sehen und ihr guter Ruf möchte notleiden, daß er
-mitleidig nachgab und sie allein ziehen ließ.
-
-Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher. Da und dort
-tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche Festlichkeit. Erhitzt
-und müde kam er endlich nach Hause, ging zu Bett und fiel sogleich
-in einen unruhigen Schlaf, aus dem er schon nach einer Stunde wieder
-erwachte. Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr
-verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich und grau
-im Fenster, die Stube war dunkel und alles still, sodaß Ladidel, der
-nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war, verwirrt und ängstlich in die
-Finsternis blickte und den noch nicht verwundenen Rausch des Abends im
-Kopf rumoren fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran zu
-denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute Weile. Am Ende
-klärte sich jedoch die peinigende Trübe und der ernüchterte Träumer
-wußte wieder genau, um was es sich handle. Und nun drehten seine
-Gedanken sich die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das
-Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen hatte. Er
-begriff nimmer, wie er das Versprechen hatte geben können, es mußte in
-einer Bezauberung geschehen sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort
-zu brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er den Sieg
-nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit den Jüngling abhielt,
-eine Notleidende umsonst auf die zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch
-mächtiger freilich war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre
-Küsse und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung, das alles
-schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum entschlug und schämte er
-sich des Gedankens, ihr untreu zu werden, und wandte allen Scharfsinn
-daran, einen sicheren und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde
-zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer ward in
-seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher ihre Erlangung.
-
-Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten Augen und
-schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich an seinen Platz setzte,
-wußte er noch immer keinen Ausweg und hätte gern für die hundert
-Mark seine Seligkeit verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem
-Pfandleiher gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen
-seinen kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure und
-beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte ihm für das Ganze
-nicht mehr als zehn Mark geben wollen. Nun bückte er sich traurig über
-seine Arbeit und brachte eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit
-der Post, die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt
-öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche und las
-heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin gefunden hatte.
-»Liebster, gelt du kommst heut Abend? Mit Kuß deine Fanny.«
-
-Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen Umständen und um
-jeden Preis sein Versprechen zu halten. Das Brieflein verbarg er in der
-Brusttasche und zog es je und je heimlich hervor, um daran zu riechen,
-denn es hatte einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg.
-
-Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht war der Gedanke in ihm
-aufgestiegen, im Notfalle das Geld auf eine verbotene Weise an sich zu
-bringen, doch hatte er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun
-kamen sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden. Ob ihm
-auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl und Betrug im Herzen
-graute, so wollte ihm doch der Gedanke, es handle sich dabei nur um
-eine erzwungene Anleihe, deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr
-und mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach er
-sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen, sich die Summe
-auf der Bank, wo man ihn kannte, zu verschaffen, wenn er sich hätte
-entschließen können, die Handschrift seines Prinzipals zu fälschen.
-Aber zu einem solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch
-nicht. Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante,
-und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser Prüfung
-hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in der letzten Stunde, eine
-allzu verlockende Gelegenheit doch noch zum Schelm gemacht hätte.
-
-Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen Wertbrief zu senden,
-und zählte ihm die Banknoten hin. Es waren sieben Scheine, die er
-zweimal durchzählte. Da widerstand er nicht länger, brachte mit
-zitternder Hand eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse
-ein, die denn auch zur Post kamen und abreisten.
-
-Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den Siegelbrief
-wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem Inhalte stimmte. Von allen
-Arten der Unterschlagung schien ihm diese nun die törichtste und
-gefährlichste, da im besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das
-Fehlen des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde. Als der
-Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im Bösen unbewanderte
-Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders, der den Strick um den Hals
-und den Schemel schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben
-möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht aber auch nur
-einen, dann bin ich meines guten Rufes, meiner Freiheit und Zukunft
-ledig, und alles um die hundert Mark, die nicht einmal für mich sind.
-Er sah sich verhört, verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins
-Gefängnis gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus verdient
-und in der Ordnung sei.
-
-Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es könnte am Ende auch
-besser ablaufen. Daß die Sache gar nicht entdeckt werden würde, wagte
-er zwar nicht zu hoffen; aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte
-man beweisen, daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er wider
-seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging dann nach Hause, um
-sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock und seiner besten Wäsche
-angetan, erschien er eine Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs
-war seine Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder
-erwachten heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle übertäubt.
-
-Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es dem einsam
-wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von der guten Bürgerschaft,
-sondern zumeist von geringeren Leuten und auch von manchen verdächtig
-Aussehenden besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte
-und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen an dieser
-Gesellschaft und er verließ den Garten, um draußen hinterm Zaun zu
-warten. Da lehnte er in der Abendkühle an einer finstern Stelle des
-Geheges, sah in das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten
-derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen war und so
-ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm alles weniger gefallen; von
-den Mädchen sahen viele frech und liederlich aus, die Burschen hatten
-üble Manieren und unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes
-Einverständnis durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen
-sahen weniger festlich und leuchtend aus, als sie ihm gestern
-erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur Müdigkeit und Ernüchterung,
-oder ob sein schlechtes Gewissen daran schuld sei; aber je länger er
-zuschaute und wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder
-kommen, und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme, von diesem
-Ort wegzugehen.
-
-Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und ungeduldig zu
-werden begann, sah er am jenseitigen Eingang des Gartens sein Mädchen
-ankommen, in der roten Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und
-betrachtete sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte er
-nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch reizte es ihn,
-sie so aus dem Verborgenen zu belauschen.
-
-Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten und suchte; und da
-sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite an einen Tisch. Ein
-Kellner kam, doch winkte sie ihm ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr
-ein Bursche näherte, der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher
-Patron aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit Ladidel
-sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl nach ihm, und der
-Bursche zeigte nach dem Ausgang und schien zu erzählen, der Gesuchte
-sei dagewesen, aber wieder fortgegangen.
-
-Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr eilen, doch sah
-er in demselben Augenblick mit Schrecken, wie der unangenehme Bursche
-die Fanny ergriff und mit ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete
-er sie beide, und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des Mannes
-das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das Mädchen gleichgültig
-zu sein, ja ihn abzuwehren.
-
-Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem Begleiter einem
-andern zugeschoben, der den Hut vor ihr zog und sie höflich zur neuen
-Tour aufforderte. Ladidel wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu
-ihr hinein, doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung
-zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit ihm den Schottischen
-begann. Und während des Schottischen sah er sie schön mit dem andern
-tun und seine Hände streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie
-es gestern ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm werden
-und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes mit ihr durch die
-dunkleren Laubengänge wandeln, wobei das Paar dem Lauscher peinlich
-nahe kam und er ihre Worte und Küsse gar deutlich hörten konnte.
-
-Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden Augen, das Herz voll
-Scham und Wut und dennoch froh, der Hure entgangen zu sein. Junge Leute
-kehrten von den Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang
-aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf ihn und alle
-Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war er todmüde und hatte kein
-Verlangen mehr als zu schlafen. Und da er seinen Sonntagsrock auszog
-und gewohnterweise seine Falten glatt strich, knisterte es in der
-Tasche und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig
-lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische; er sah es eine Weile an,
-schloß es dann in die Schublade und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu
-erleben, hatte er nun gestohlen und sein Leben verdorben.
-
-Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in dieser Zeit nicht
-mehr an Fanny und nicht mehr an die hundert Mark, noch an das, was
-jetzt über ihn kommen würde, sondern er dachte an Martha Weber und
-daran, daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe.
-
-
-Fünftes Kapitel
-
-Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte erfahren, wie
-bitter es ist, sich vor sich selber schämen zu müssen, und stand sein
-Mut auch tief, so war er dennoch fest entschlossen, mit dem Gelde und
-einem ehrlichen Geständnis zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner
-Ehre und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre.
-
-Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden Tage der Notar
-nicht ins Kontor kam. Er wartete bis Mittag und vermochte seinen
-Kollegen kaum in die Augen zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen
-noch an diesem Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde.
-
-Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete, er sei
-unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft kommen. Da hielt Ladidel
-es nicht länger aus. Er ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs
-in die Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen, er
-bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte seinen Namen und begehrte
-in einer wichtigen Sache den Herrn zu sprechen. So wurde er in ein
-Vorzimmer geführt und aufgefordert zu warten.
-
-Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung und Angst
-zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf jeden Ton im Hause und
-hatte das Sacktuch in der Hand, da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über
-die Stirn lief. Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher,
-Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort ein Löwe
-aus grauem Stein und in Stehrahmen eine Menge von Photographien.
-Es sah hier feiner, doch ähnlich aus wie in der schönen Stube von
-Ladidels Eltern, und alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und
-Würde. Die Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor,
-Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von guter Familie und
-zweifellos bestem Rufe, und von der Wand schaute ein wohl lebensgroßer
-Mannskopf herab, dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des
-verstorbenen Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten. Zwischen so
-viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in seinen eigenen Augen von
-Augenblick zu Augenblick tiefer, er fühlte sich durch seine Übeltat
-von diesem und jedem ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die
-Abgängigen und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien
-gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben rechter Leute
-aufgestellt werden.
-
-Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren nennt, schwang
-ihren messingenen Perpendikel gleichmütig und unangefochten hin und
-wider, und einmal, nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte,
-räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen, vollen
-Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben Augenblick
-trat ihm gegenüber der Notar durch die Türe. Er beachtete Ladidels
-Verbeugung nicht, sondern wies sogleich befehlend auf einen Sessel,
-nahm selber Platz und sagte: »Was führt Sie her?«
-
-»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre -- --.« Dann aber
-schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich habe Sie bestehlen
-wollen.«
-
-Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar wirklich
-bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer Stunde telegraphiert
-worden. Sie haben also wirklich einen von den Hundertmarkscheinen
-genommen?«
-
-Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche und streckte
-ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die Finger, spielte damit und
-sah Ladidel scharf an.
-
-»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?«
-
-»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen hatte. Ich habe ihn
-nicht gebraucht.«
-
-»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld genommen hätten,
-wußte ich sofort. Es konnte ja sonst niemand sein. Und außerdem wurde
-mir gestern erzählt, man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz
-in einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt es nicht damit
-zusammen?«
-
-Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe gab, das
-Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider seinen Willen doch fast
-alles heraus. Der alte Herr unterbrach ihn nur zwei-, dreimal durch
-kurze Fragen, im übrigen hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem
-Beichtenden ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören.
-
-Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und wider. Nachdenklich
-nahm er eine von den Photographien in die Hand. Plötzlich bot er das
-Bild dem Übeltäter hin, der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen
-kauerte.
-
-»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen Fabrik in
-Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen es ja nicht jedermann
-zu erzählen, und er hat als junger Mensch in einer ähnlichen Lage wie
-Sie tausend Mark entwendet. Er wurde von seinem Vater preisgegeben,
-mußte hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.«
-
-Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel das Bild des
-stattlichen Mannes ansah und einigen Trost daraus sog, daß also auch in
-dieser ehrenwerten Familie ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der
-Sünder es doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten
-gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener Leute stehen
-dürfe.
-
-Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen und trat zu
-Ladidel, der ihn schüchtern anschaute.
-
-Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich glaube
-nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen wieder auf rechte
-Wege. Am Ende würde ich es sogar wagen und Sie behalten. Aber das geht
-doch nicht. Es wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine
-Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht empfehlen, wenn
-ich auch an Ihre guten Vorsätze gern glauben will. Wir wollen also die
-Sache zwischen uns für abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen.
-Aber bei mir bleiben können Sie nicht.«
-
-Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich behandelt zu
-sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt und so ins Ungewisse
-geschickt fand, verzagte er doch und klagte: »Ach, was soll ich aber
-jetzt anfangen?«
-
-»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte er. »Seien
-Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre es Ihnen wohl nächstes
-Frühjahr im Staatsexamen gegangen? Schauen Sie, Sie werden rot. Nun,
-wenn Sie auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen
-können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich hatte ohnehin
-schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber mit Ihnen zu reden. Jetzt
-ist ja die beste Gelegenheit dazu. Meine Überzeugung, und vielleicht
-im Stillen auch Ihre, ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie
-passen nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben. Nehmen Sie
-an, Sie seien im Examen durchgefallen, und suchen Sie recht bald einen
-andern Beruf, in dem Sie es weiter bringen können. Vielleicht ist es
-für eine Kaufmannslehre noch nicht zu spät -- aber das ist Ihre und
-Ihres Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen. Wenn Sie
-noch etwas im Kontor liegen haben, was Ihnen gehört, so holen Sie es
-jetzt. -- Nur noch eins: Ihr Vater muß die Sache natürlich wissen!«
-
-Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf.
-
-»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie es gewiß, und
-warten Sie damit nicht lang, denn schreiben muß ich ihm doch. Am besten
-fahren Sie gleich morgen nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins
-Gesicht! Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie mir später
-einmal Bericht geben, wird es mich freuen. Nur jetzt den Kopf nicht
-ganz hängen lassen und keine neuen Dummheiten machen! -- Adieu denn,
-und grüßen Sie den Herrn Vater von mir!«
-
-Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine kräftig und schob
-ihn, der noch reden und danken wollte, zur Tür.
-
-Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte sehen, was
-weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar schwarze Ärmelschoner
-zurückgelassen, an denen war ihm nichts gelegen, und er zog es vor,
-sich dort nimmer zu zeigen und sich das Abschiednehmen von den
-Kollegen zu ersparen. Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor
-der Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden Zeit graute, auf
-dem Grund seiner Seele war er doch dankbar und beinahe vergnügt, der
-furchtbaren Angst vor Polizei und Schande ledig zu sein; und während
-er langsam durch die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er
-nun kein Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl in
-sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage auszuruhen und
-aufzuatmen begehrte.
-
-So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch das ungewohnte
-Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit frei durch die Stadt zu
-spazieren, recht wohl zu gefallen. Er blieb vor den Auslagen der
-Kaufleute stehen, betrachtete die Kutschenpferde, die an den Ecken
-warteten, schaute auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für
-eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl. Dann kehrten
-seine Gedanken in den alten engen Kreis zurück, und als er, schon
-wieder gedrückt und ziemlich mutlos, in der Nähe seiner Wohnung um eine
-Gassenecke bog, mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen, die
-dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm alles wieder recht
-aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen Versuche auf dem Gebiete
-der Liebe zumal, und er mußte sich vorstellen, was wohl die Martha
-denken und sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe. Erst
-jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht nur von Amt
-und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des geliebten Mädchens entführe.
-Und alles um diese Fanny.
-
-Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen, nicht
-ohne einen Gruß an Martha fortzugehen. Schreiben mochte und durfte er
-ihr nicht, es blieb ihm nur der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte
-er, kurz vor dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube auf.
-
-Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder zu sehen. Doch
-deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er müsse aus besonderen Gründen
-seine Stelle verlassen und wegreisen.
-
-»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber wenigstens noch
-einmal zusammensein, wer weiß, wann man sich wieder sieht! Wann mußt du
-denn reisen?«
-
-Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen. Also übermorgen.«
-
-»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme zu dir, wenn dir's
-recht ist.«
-
-»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut kommst, sagst du
-viele Grüße von mir -- an alle!«
-
-»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?«
-
-»Ach, das geht jetzt nimmer. -- Also morgen!«
-
-Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden Tag, ob er es
-nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den Mut dazu. Was hätte
-er sagen und wie seine Abreise erklären sollen? Ohnehin überfiel ihn
-heute eine heillose Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater,
-vor den Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging. Und er
-packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner Wirtin die Stube zu
-kündigen. Statt all dies Notwendige zu tun, saß er und füllte Bogen mit
-Entwürfen zu einem Brief an seinen Vater.
-
-»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen --«
-
-»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe --«. Es war
-nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch deutlich zu sagen.
-Aber es war immerhin leichter, diesen Brief zusammenzudichten als
-heimzufahren und zu sagen: Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt.
-Und so ward denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der
-Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen oftmals
-überdenken und den bittern Trank der Scham und Reue leeren müssen, so
-hatte er im Verlauf doch auch Gelegenheit gefunden, die böse Sache von
-freundlicheren Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu
-streichen.
-
-Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen, und Kleuber fand ihn so
-milde und weich wie noch nie. Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk,
-eine kleine geschliffene Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die
-bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken mitgeben? Es
-wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen sah er sich um und rief
-verwundert: »Du hast ja noch gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?«
-
-Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin noch nicht soweit.
-Ich muß noch auf einen Brief warten.«
-
-»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch Zeit zum
-Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich heut Abend miteinander zu
-den Webers gehen. Es wäre doch schade, wenn du so wegreisen würdest.«
-
-Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum Himmel auf und würde
-im selben Augenblick wieder zugeschlagen. Er wollte etwas sagen,
-schüttelte aber nur den Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten
-die Worte ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten
-Fritz in ein Schluchzen aus.
-
-»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel winkte
-schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß er seinen bewunderten und
-stolzen Freund in Tränen sah, so ergriffen und gerührt, daß er ihn in
-die Arme nahm wie einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in
-unbestimmten Ausdrücken seine Hilfe anbot.
-
-»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er wieder
-reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe, und schließlich kam
-es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer so wohlmeinenden Seele zu
-beichten, so daß er nachgab. Sie setzten sich einander gegenüber,
-Ladidel wandte sein Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals
-als wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen sind --«
-und erzählte weiter, alles und alles, von seiner Liebe zu Martha, von
-ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen, und wie leid ihm das tue.
-Sodann kam er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung
-und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny, von dem
-Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet geblieben sei, endlich
-von dem gestrigen Gespräch mit dem Notar und seiner jetzigen Lage.
-Er gestand auch, daß er das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu
-kommen, daß er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden
-warte.
-
-Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu, betrübt und in
-der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse. Als der andre schwieg
-und das Wort an ihm war, sagte er leise und schüchtern: »Da tust du
-mir leid.« Und obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig
-veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas passieren,
-und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht. Was soll ich da
-sagen? Die Hauptsache ist jetzt, was du anfangen sollst.«
-
-»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.«
-
-»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du denn
-wirklich nichts?«
-
-»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.«
-
-»Das wird nicht nötig sein. -- Wenn ich nur wüßte, ob es dir keine
-Beleidigung ist -- --«
-
-»Was denn?«
-
-»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist eine Dummheit
-von mir, und du nimmst es übel.«
-
-»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.«
-
-»Sieh, ich denke mir so -- du hast ja hie und da dich für meine Arbeit
-interessiert, und hast selber zum Vergnügen es damit probiert. Du hast
-auch viel Genie dafür und könntest es bald besser als ich, weil du
-geschickte Finger hast und so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn
-sich vielleicht nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit
-unsrem Handwerk probieren möchtest?«
-
-Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das Gewerbe eines
-Barbiers war ihm bisher zwar nicht schimpflich, doch aber wenig nobel
-vorgekommen. Nun aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und
-hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe gering zu achten.
-Das fühlte er auch; und daß Fritz sein Talent so rühmte, tat ihm wohl.
-Er meinte nach einigem Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das
-Dümmste. Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an einen
-andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun, noch einmal als Lehrbub
-bei irgendeinem Meister anzufangen.«
-
-Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!«
-
-»Ja wie denn sonst?«
-
-»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu lernen ist.
-Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft habe, das dauert
-nimmer lang. Du könntest aber auch schon jetzt zu mir kommen. Mein
-Meister nähme ganz gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen
-Lohn will. Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes
-Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja vielleicht
-nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber wenn man eine gute
-und feine Kundschaft hat, ist es doch kein übles Geschäft.«
-
-Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und spürte im Herzen, daß
-hier sein Schicksal sich entschied. War es auch vom Notar zum Friseur
-ein gewisser Rückschritt, so empfand er doch zum erstenmal im Leben die
-innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren Beruf entdeckt und
-den ihm bestimmten Weg gefunden hat.
-
-»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte Kleubern die
-Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in meiner Haut. Mein Alter
-wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden sein, aber er muß es ja
-einsehen. Gelt, du redest dann auch ein Wort mit ihm?«
-
-»Wenn du meinst --«, sagte Fritz schüchtern.
-
-Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen Beruf und so voll
-Eifers, daß er begehrte, augenblicklich eine Probe abzulegen. Kleuber
-mochte wollen oder nicht, er mußte sich hinsetzen und sich von seinem
-Freunde rasieren, den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es
-glückte alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge zu
-geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den Weingeistkocher
-und setzte Tee an, plauderte und setzte seinen Freund durch diese
-rasche Heilung von seinem Trübsinn nicht wenig in Erstaunen. Fritz
-brauchte länger, um sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß
-Alfreds Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser wie
-in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen und Schelmenlieder
-angestimmt. Es hielt ihn davon nur der Anblick des Briefes an seinen
-Vater ab, der noch auf dem Tische lag und ihn am spätern Abend nach
-Kleubers Weggehen noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch, war
-nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den Entschluß, nun doch
-heimzufahren und seine Beichte selber abzulegen. Nun wagte er es, da er
-einen Ausweg aus der Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte.
-
-
-Sechstes Kapitel
-
-Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte, war er zwar
-etwas stiller geworden, hatte aber seine Absicht erreicht und trat
-für ein halbes Jahr als Volontär bei Kleubers Meister ein. Fürs erste
-sah er damit seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr
-verdiente und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen war. Er
-mußte seine hübsche Stube aufgeben und eine geringe Kammer nehmen,
-auch sonst trennte er sich von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen
-Stellung nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb bei
-ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner Neigung zu
-sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und Schnurrbartes, seiner Hände
-und Fingernägel jetzt ohne Beschränkung frönen. Er schuf sich nach
-kurzem Studium eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner
-Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und Pudern das
-Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als dies alles beglückte und mit
-dem Wechsel seines Standes versöhnte, war die Befriedigung, die er im
-neuen Berufe fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier zu
-betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem er Aussicht hatte,
-Bedeutendes zu leisten.
-
-Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete Arbeiten tun. Er
-mußte Knaben die Haare schneiden, Arbeiter rasieren und Kämme und
-Bürsten reinigen, doch erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten
-künstlicher Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach
-kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten, nobel
-aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden und gab
-sogar ein Trinkgeld, und nun ging es Stufe für Stufe vorwärts. Ein
-einzigesmal schnitt er einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über
-sich ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung und
-Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber, der ihn bewunderte und nun
-erst recht für einen Auserwählten ansah. Denn wenn er selbst auch ein
-tüchtiger Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm
-doch sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort
-die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das leichte,
-unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit nobler Kundschaft. Hierin
-war Ladidel bedeutend, und nach einem Vierteljahr begehrten schon die
-verwöhnteren Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand
-es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren Ankauf
-neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen, teurer Bürstchen und Kämme zu
-überreden; und in der Tat mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat
-willig und dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos
-und wohlbestellt aus.
-
-Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte, trug er jede
-Entbehrung leichter, und so hielt er auch die lange Trennung von Martha
-Weber geduldig aus. Ein Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in
-seiner neuen Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten,
-seinen neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war allerdings
-nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta, der die Neigung ihrer
-Schwester zu dem hübschen Notar nicht unbekannt geblieben war, hatte
-sich hinter Fritz gesteckt und bald ohne Mühe alles herausbekommen.
-So konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten enthüllen
-und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel ihres Geliebten, den
-er jedoch aus Gesundheitsrücksichten vorgenommen habe, sondern auch
-seine unveränderte treue Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich
-seines neuen Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls
-nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas gebracht und
-begründete Aussichten für die Zukunft habe.
-
-Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom »Notar« die Rede.
-Meta hatte ihn über den Schellenkönig gelobt, Martha aber sich wie
-immer spröde verhalten und es vermieden, Farbe zu bekennen.
-
-»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß er am Ende noch
-vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.«
-
-»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.«
-
-»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem Notar durchaus
-nicht?«
-
-»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon wissen, wo er sich eine
-zu suchen hat.«
-
-»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen, und jetzt
-ist er scheu und findet den Weg nimmer recht. Dem wenn man einen Wink
-gäbe, er käm auf allen Vieren gelaufen.«
-
-»Kann schon sein.«
-
-»Wohl. Soll ich winken?«
-
-»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer, mein ich.«
-
-Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl, wie ihrer
-Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie gar zu gern ihren Alfred
-auf gute Art wieder zu Handen gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den
-Scheugewordenen wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten
-Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu.
-
-Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens alter Meister
-wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald sich einen Feierabend zu
-gönnen. Da frage er an, wie es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich
-nannte er die Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel
-davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen waren nun billig und
-wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers Mittel dazu nicht hin, so daß er
-in Sorgen umherging, und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden
-und Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand er sich
-und schrieb ab, und erst dann erzählte er die ganze Sache Ladideln.
-
-Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen, und
-machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit vor seinen
-Vater bringen. Wenn der zu gewinnen sei, könnten sie ja das Geschäft
-gemeinsam übernehmen.
-
-Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen Leute mit ihrem
-Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht sogleich daran, obwohl die
-Summe seinen Beutel nicht erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz
-Kleuber, der sich seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl
-angenommen hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred von seinem
-jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis mitgebracht. Ihm schien,
-sein Sohn sei jetzt auf gutem Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein
-darein zu werfen. Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß
-er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich alles anzusehen.
-
-Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone wurden von allen
-Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß im Frühjahr Hochzeit zu
-halten und bat sich Ladidel als ersten Brautführer aus. Da war ein
-Besuch im Hause Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens
-Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor Herzklopfen
-kaum die vielen Treppen hinaufkommen. Oben empfing ihn der gewohnte
-Duft und das gewohnte Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die
-alte Mutter schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der
-hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß in einem
-dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war diesmal kaum minder
-verwirrt als er selber. Man tauschte Höflichkeiten, fragte nach der
-Gesundheit, trank aus kleinen altmodischen Kelchgläsern einen hellroten
-süßen Stachelbeerwein und besprach dabei die Hochzeit und alles
-dazu gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein Marthas
-Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen, sich nun auch wieder
-fleißig im Hause zu zeigen. Beide sprachen miteinander nur höfliche und
-unbedeutende Worte, sahen einander aber heimlich an, und jedes fand
-das andre auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert.
-Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes, daß auch das
-andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen heimlich, einander
-nicht wieder ohne Grund weh zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit
-Verwunderung, daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht
-entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte ihnen scheinen,
-nun seien wenig Worte mehr notwendig und die Hauptsache zwischen ihnen
-in Ordnung.
-
-So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei, daß Meta und Fritz
-die beiden nach schweigendem Übereinkommen wie ein versprochenes Paar
-ansahen. Wenn Ladidel ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah,
-so schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen komme
-und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel half treulich bei
-den Vorbereitungen zur Hochzeit mit und tat es so eifrig und mit dem
-Herzen, als gälte es seine eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit
-unendlicher Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue
-Frisur.
-
-Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber und drunter
-ging, erschien er eines Tages feierlich, wartete einen Augenblick ab,
-da er mit Martha still allein war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine
-gewagte Bitte an sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu
-ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand, wollte sie
-doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort, er möge nur reden.
-Ermutigt brachte er dann seine Bitte vor, die auf nichts andres zielte
-als auf die Erlaubnis, dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von
-ihm ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen.
-
-Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht werde. Meta
-mußte helfen, und nun erlebte Ladidel den Augenblick, daß sein alter
-Wunsch in Erfüllung ging, und er Marthas lange blonde Haare in den
-Händen hielt. Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein
-sie frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich
-nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand zugreifen
-und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das Haargebäude seiner
-Vollendung nahe war, ließ Meta die beiden allein, angeblich nur für
-einen Augenblick, doch blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit
-seiner Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich
-verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch bessernd. Da
-übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem schönen Mädchen mit leiser
-Hand liebkosend über die Schläfe strich. Und da sie sich beklommen
-umwandte und ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst,
-daß er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen
-festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam wieder
-aufstand.
-
-»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr erstes schmeichelndes
-Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm vor der betrübten alten Witwe ein
-wenig bange war. Als er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand
-führte und um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein
-wenig den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte nichts
-dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie Meta herbei, und nun
-umarmten sich die Schwestern, lachten und weinten, bis Meta plötzlich
-stehen blieb, die Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann
-festhielt und begierig ihre Frisur bewunderte.
-
-»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand, »das ist Ihr
-Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu einander?«
-
-Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit und zugleich die
-Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel in Eile nach Schaffhausen,
-während die Kleubers in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise
-antraten. Der alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing
-sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den Tagen bis
-zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es war nötig, denn die
-Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah bald, daß hier sein Weizen blühe,
-und als Kleuber mit seiner Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her
-ankam, und er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine
-Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus.
-
-Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der jungen Frau zum
-Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit reichlich Wasser führte. Hier
-saßen sie zufrieden unter jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser
-strömen und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit. »Ja,«
-sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden Strom hinab,
-»nächste Woche wäre mein Examen gewesen.«
-
-»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine Antwort. Er
-schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog er aus der Brusttasche ein
-kleines Paket, machte es auf und brachte ein halb Dutzend feine kleine
-Kuchen hervor, von denen er den andern anbot und sich selber nahm.
-
-»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du, das Geschäft
-trage schon soviel?«
-
-»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und muß noch mehr
-tragen.«
-
-
-
-
-Die Heimkehr
-
-
-Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und es ist Herkommen,
-daß ein junger Mensch ein Stück Welt und fremde Sitte sieht, ehe er
-sich selbständig macht, heiratet und sich für immer in den Bann der
-heimischen Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten
-schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat einzusehen und
-wiederzukehren, und es ist eine Rarität, daß einer bis in die höheren
-Mannesjahre oder gar für immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin
-kommt es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer
-widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit in der
-Heimatstadt.
-
-Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn des Weißgerbers
-Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging wie andere junge Leute auf
-Wanderschaft, und zwar als Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich
-gewesen und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später
-freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht, daß die
-Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre gewesen und dieser
-August ein recht kräftiger und zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun
-schon den Handelsberuf ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit
-Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch mit einigem Mitleid
-herab, seinen Vater nicht ausgenommen. Und sei es nun, daß der alte
-Schlotterbeck dadurch an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in
-Ermangelung weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die
-alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten -- kurz, er
-begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich zu vernachlässigen
-und es sich wohl sein zu lassen, als wäre keine Nachkommenschaft da,
-und endete damit, daß er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und
-seinem einzigen Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß
-August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen jungen, eben
-Meister gewordenen Gerber loszuwerden.
-
-Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als nötig in der
-Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut erging, und schließlich
-überhaupt nimmer an die Heimkehr dachte. Als er etwas über dreißig
-Jahre alt war und weder zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch
-zu einer Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein
-Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt in einer
-Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er diese Stellung auf
-und begab sich nach England, um mehr zu lernen und nicht einzurosten.
-Obwohl ihm England und die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen
-hatte, nicht sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an
-ein Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte und
-das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor oder auf die ganze Welt
-ausdehnte. Und da ihn nichts hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago,
-als Direktor eine große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war
-bald in Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie an den
-früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr den Gerbersauer an, und
-wenn er einmal Landsleute traf, was alle paar Jahre vorkam, begrüßte
-und behandelte er sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch
-ihm in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig, aber
-auch gar hochmütig und amerikanisch geworden.
-
-Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug erspart zu
-haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde, einem Deutschen aus
-Südrußland, in dessen Heimat und tat dort in Bälde eine kleine Fabrik
-auf, die ihn ernährte und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die
-Tochter seines Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens
-unter Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem Sinn.
-Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er ohne Kinder blieb,
-worüber seine Ehe an Frieden und Genüge viel verlor. Dann starb
-die Frau, was ihm trotz allem weh tat und den rüstigen, fast noch
-jünglinghaften Mann etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen
-weiteren Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern und
-infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich zu stocken. Als
-aber wiederum ein Jahr später auch noch sein Freund und Schwiegervater
-starb und ihn ganz allein ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und
-Seßhaftigkeit des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder
-Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen, dessen
-Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt. Es geschah, daß er
-die gesicherten politischen Zustände der Heimat in Gedanken mit dem
-dortigen Skandal verglich, daß er mit Unbehagen an das Altwerden und
-den Feierabend zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen und
-Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen. Aus diesen Zeichen
-schloß August Schlotterbeck, daß er trotz seiner guten Gesundheit und
-obwohl er kaum mehr als fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr
-sei, und mit dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging ihm
-auch das des Weltbürgertums und der unbedingten Freiheit verloren. Er
-dachte mehr und mehr daran, wie er sich noch eines zufriedenen Alters
-versichern möchte, und da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn
-hatten, andrerseits der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren
-Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und Hoffnung des
-alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung immer enger und
-begehrlicher um das Heimatland und um das Städtlein Gerbersau, dessen
-er in Jahrzehnten nur selten und ohne Rührung gedacht hatte.
-
-Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit
-gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein letztes Lebenszeichen ihm den
-Ruf großen Edelmutes und Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein
-Vetter von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen mäßigen
-großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt an ihn fiel. Die Sache
-war ihm mitgeteilt und er zu einer Äußerung aufgefordert worden, da
-hatte er zu Gunsten der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet.
-Seither aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet
-noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man wußte zwar oder
-nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst aber keinen Stoff zum Bereden
-an dem Entfernten, den die jetzige junge Generation nicht mehr kannte,
-und so erlosch, wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft, sein
-Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im selben Maße als er selber
-neuerdings sich in Gedanken wieder der fernen Heimat näherte, und von
-seinen Jugendgenossen erwartete keiner ihn wiederzusehen.
-
-Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten ihm
-lästig und eines Tages faßte er mit der Schnelligkeit und Ruhe seiner
-früheren Zeiten den Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik
-aufzugeben und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen.
-Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er den
-Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und endlich des
-gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene Vermögen vorläufig in
-süddeutschen Banken unter, brach sein Zelt ab und reiste über Venedig
-und Wien nach Deutschland.
-
-Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste bayrische Bier
-seit vielen Jahren, aber erst als die Namen der Städte heimatlicher zu
-tönen begannen und als die Mundart der Mitreisenden immer deutlicher
-und schneller nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine
-starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe mit
-Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den Gesichtern der
-Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast verwandtschaftlich anmutende
-Züge fand. Und endlich fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen
-Windungen talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung
-zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein am Fluß,
-zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden lag ein starker Druck
-auf dem Herzen, wie er alles noch stehen sah wie vor Zeiten, und
-unversehens fielen ihm lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus
-der Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte. Das
-tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des Flusses und des
-Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten bedrückte ihn mit einer Art von
-Tadel, daß er das alles so lang vernachlässigt und vergessen und aus
-dem Herzen verloren hatte.
-
-Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende Rührung
-nicht lange, und am Bahnhofe stieg Herr Schlotterbeck aus und ergriff
-seine hübsche gelblederne Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften
-unterwegs ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher
-her bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der Station die
-Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen Eindruck von Fortschritt und
-Entwickelung machte, und da der eine auf seiner Mütze den Namen des
-alten Gasthauses zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der
-Vergangenheit her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und ging allein
-zu Fuß stadteinwärts.
-
-Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch gekleidete Fremde
-zog bei seinem langsamen Dahinschreiten manche Blicke auf sich, ohne
-darauf zu achten. Er hatte die alte, beobachtungsfrohe Reiselaune
-wieder gefunden und betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne
-es mit Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens
-eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die etwas veränderte
-Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen grünem Spiegel wie sonst die
-Gänse schwammen und dem wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten
-Rückseiten und winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über
-den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen der Gegend zu,
-wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei gewesen war. Da suchte er
-jedoch das hohe Giebelhaus und den großen Grasgarten mit den Lohgruben
-vergebens. Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz
-überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er sich ab und weiter,
-um den Marktplatz zu besuchen, den er im alten Zustande fand, nur
-schien er kleiner geworden, und auch das stattliche Rathaus war weniger
-ansehnlich, als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die
-Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht mehr die von
-damals, sondern junge, die aber auch schon wieder recht ehrwürdige
-Wipfel zur Schau trugen.
-
-Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen und fand ohne Mühe
-den Weg zum Schwanen, wo er ein gutes Essen verlangte und auf die erste
-Erkennungsszene gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht
-mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder Gast behandelt,
-was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er auch erst, daß seine Redeweise
-und Aussprache, die er in allen den Jahren immer für gut schwäbisch
-und kaum verändert gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und
-von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde. Es fiel auch
-auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies und neuen verlangte, den
-er sich selber anmachte, und daß er statt der süßen Mehlspeise, aus
-der in Gerbersau jedes Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von
-dem er dann einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen
-zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um ein wenig zu
-ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber heftigst erstaunt. Ein
-Gast am Nebentisch, den diese fremde Sitte aufregte, stand auf und
-wischte seinen Stuhl mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz
-vergessen abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen Stiefel
-drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck drehte aber nur
-den Kopf hinüber und schnell wieder zurück, dann legte er die Hände
-zusammen und pflegte der Verdauung.
-
-Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals durch die
-ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die Scheiben in manchen Laden
-und manche Werkstatt, um zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von
-den ganz Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren, übrig
-wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen Lehrer, bei dem
-er einstmals sein erstes Alphabet auf die Tafel gemalt hatte, auf der
-Straße vorübergehen. Der Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig
-sein und ging alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch noch
-deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen erkennbar,
-noch leidlich aufrecht und zufrieden einher. Schlotterbeck hatte Lust
-ihn anzusprechen, doch hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem
-Sturm der Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter, ohne
-jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von keinem erkannt, und
-brachte so diesen ganzen ersten Tag in der Heimat als ein Fremder und
-Unbekannter zu.
-
-Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung mangelte,
-sprach doch die Stadt selber desto deutlicher und eindringlicher zu
-ihrem heimgekehrten Kinde. Wohl gab es überall Veränderungen und Neues,
-das Angesicht des Städtleins aber war nicht älter noch anders geworden
-und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich an, so daß es ihm wohl
-und geborgen zu Mute ward und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen
-und Abenteuer wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären
-sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte gemacht
-und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte auch in der Ferne
-ein Weib genommen und verloren, sich wohl gefühlt und Leid erfahren,
-allein zugehörig und daheim war er doch nur hier, und während er für
-einen Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde, kam er
-sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen Leuten, Gassen
-und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen nicht ohne eine
-kleine Wehmut ab; denn statt nun hier Haus und Arbeit, Familie und
-Nachkommen zu haben, hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht
-und weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten befestigt
-und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht Meister werden,
-hörte ihnen nur mit halber Billigung zu und war im ganzen doch der
-Meinung, es sei nicht zu spät, daß er heimkomme, und er habe noch ein
-hinreichendes Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu
-werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen.
-
-Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel. Er fand, es sei
-auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen, wenn auch mit Maß, und sowohl
-die Gasanstalt wie das neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die
-Bevölkerung schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen hatte,
-recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt einheimisch wie
-vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten noch durchaus für Fremde
-gegolten hatten. Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den
-Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs aus Eindringlingen
-war nur unter der Arbeiterschaft deutlich zu spüren. Es mußte also das
-bürgerliche Leben von einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es
-war zu hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit sich
-bald zurechtfinden und wieder heimisch machen könne.
-
-Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen Manne kam die
-Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der Fremde durch Heimweh und
-Erinnerungslust unnütz verklärt hatte, nun lieblich vor und atmete
-einen friedvoll wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene
-und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am Abend in das Gasthaus
-zurückkehrte, war er in guter Stimmung und bereute nicht, diese Reise
-getan zu haben. Er nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben
-und abzuwarten, und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich am Ort
-niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig oder im
-Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken mit der Zeit eine neue,
-erfreuliche Tätigkeit beginnen. Denn er glaubte doch schon jetzt zu
-spüren, daß ein beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht
-seine Sache sein werde.
-
-Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein und doch von
-keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt zu werden, tat ihm gar
-nicht weh, wenn es auch wunderlich war, so wie in einer Maske zwischen
-lauter Schulfreunden, Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen. Er
-genoß es mit schlauer Freude und mit dem Hintergedanken, daß er jetzt
-immer noch ohne alles Aufheben wieder verschwinden könnte, wenn es
-ihm einfiele. Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen und
-Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte die hiesige Art
-noch wohl genug, um sich das alles recht gut vorausdenken zu können. Er
-hatte es damit nicht eilig, da ja nach einer so langen Zeit auch von
-den ehemaligen Freunden mehr Neugierde und freundliche Überraschung als
-Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war.
-
-Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten Weltfahrers nahm
-denn auch bald sein Ende. Nach dem Abendessen brachte der Schwanenwirt
-seinem Gaste das Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken
-unter Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil es unbedingt
-notwendig war, als weil er selber es satt hatte, sich über Herkunft
-und Rang des Fremdlings den Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das
-dicke Buch, las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm dann
-dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus der Hand und schrieb
-mit kräftigen, deutlichen Buchstaben, alle Fächlein gewissenhaft
-ausfüllend. Der Wirt sagte Dank, streute Sand auf und entfernte sich
-mit dem Folianten wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine
-Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August -- aus Rußland
--- auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die Herkunft und Geschichte
-des Mannes nicht kannte, so schien der Name Schlotterbeck doch auf
-einen Gerbersauer hinzudeuten. In die Gaststube zurückkehrend, fing
-der Wirt mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch
-an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum der hiesigen Stadt, kam
-auf Straßenverbesserungen und neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen,
-berührte die Stadtpolitik, äußerte sich über die letztjährige
-Dividende der Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem
-Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr nicht Verwandte
-am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck gelassen, ja, er habe
-Verwandte hier und gedenke etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte
-aber nach keinem und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald
-versiegend dahinschwankte und in sich selbst versank, und der Wirt mit
-Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank einen guten Wein
-mit Maß und Genuß, las unberührt von den Gesprächen des Nachbartisches
-eine Zeitung und suchte früh seine Schlafstube auf.
-
-Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die Unterhaltung
-mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre Wirkung, und während
-August Schlotterbeck ahnungslos und zufrieden in dem guten, auf
-heimische Art geschichteten Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im
-Vaterlande tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft
-manche Leute munter und gesprächig und einen sogar schlaflos. Dieser
-war Augusts leiblicher Vetter und nächster Verwandter, der Kaufmann
-Lukas Pfrommer an der Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und
-hatte früher als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen
-Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau eine bescheidene
-Werkstätte eröffnet und lange Zeit den Schulkindern ihre ruinierten
-Fibeln wieder geflickt und der Frau Amtsrichter halbjährlich die
-Gartenlaube eingebunden, auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen
-eingerahmt, vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben
-und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien graue und grüne
-Aktendeckel, Mappen und Kartonbände geliefert. Dabei hatte er
-unmerklich etwas erspart und hinter sich gebracht, jedenfalls keine
-Sorgen gehabt. Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen
-Handwerker hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft
-angefangen, die größeren waren Fabrikanten geworden. Da hatte auch
-Pfrommer die Vorderwand seines Häusleins durchschlagen und ein
-Schaufenster eingesetzt, sein Erspartes von der Bank genommen und
-einen Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine Frau den
-Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber zu kurz kommen ließ,
-indessen der Mann weiter in seiner Werkstatt schaffte. Doch war der
-Laden jetzt die Hauptsache, wenigstens vor den Leuten, und wenn er
-nicht mehr einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und
-machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann geworden. Mit der Zeit
-gewöhnte er sich an diese geachtete und stattlichere Stellung, zeigte
-sich in den Straßen nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im
-guten Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und konnte sich
-zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit teurer als früher. Die
-Vorräte an unverkäuflich gewordenen Neujahrskarten, Bildchen, Albumen,
-an abgelegenen Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram
-wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht selten im Traume vor.
-Und seine Frau, eine geborene Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die
-früher ein lustiges und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte
-sich durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie später durch die
-Sorgen und Rechenkünste allmählich in eine unruhige Sorgerin, der das
-seßhaft gewordene süße Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene
-Gesicht paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt in
-seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten Bürgerstandes,
-aber ihm selber war es in den bescheidenen Handwerkszeiten, in die er
-doch jetzt nimmer zurückgekehrt wäre, bedeutend wohler gewesen und
-besser gegangen als in der neuen Pracht.
-
-Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend gegen neun Uhr,
-als er mit der Zeitung bei der Lampe saß, zu seiner großen Überraschung
-einen Besuch des Schwanenwirtes erhalten. Er hatte ihn erstaunt
-empfangen, jener aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt,
-er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er übrigens den
-Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur selten habe sehen dürfen.
-Aber er sei der Meinung, unter Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner
-Liebesdienst selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in
-allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein fremder Herr
-logiere, mit wohlhabenden Manieren, der sich Schlotterbeck schreibe
-und aus Rußland zu kommen vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen
-und hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die schon im Bette
-war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut gekeucht und sich sogar in
-aller Eile noch die Hände gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem
-Wirte her in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen
-Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und ihn in der Schlafstube
-aufzusuchen wagte er doch nicht, denn er mußte sich sagen, wenn der
-Vetter extra seinetwegen die große Reise getan hätte, so hätte er
-ihn wohl schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb
-enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um dem Wirte
-eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung einiger Stammgäste
-und hütete sich, etwas von dem eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu
-verraten.
-
-Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern und zum Kaffee
-heruntergekommen, als ein älterer Mann von kleinem Wuchs, der offenbar
-schon eine gute Weile bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte,
-sich seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem recht
-schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck sagte guten Morgen und
-fuhr fort, sein Butterbrot mit herrlichem Honig zu bestreichen; der
-Besucher aber blieb stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie
-ein Redner, ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als ihn
-der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit einem zweiten
-Kompliment an den Tisch heranzutreten und mit seinen Eröffnungen zu
-beginnen.
-
-»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute den Rußländer
-erwartungsvoll an.
-
-»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie Buchbinder, wenn
-ich fragen darf?«
-
-»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse. Sind Sie -- --«
-
-Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und suchte nicht
-länger hinterm Berg zu halten.
-
-»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast du schon
-gefrühstückt?«
-
-»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte dich kaum mehr
-gekannt.«
-
-Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die Hand
-entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden und Armbewegungen der
-Ergriffenheit am Tische Platz nehmen.
-
-»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht, daß
-wir dich einmal wiedersehen würden. Aus Rußland! Ist es eine
-Geschäftsreise?«
-
-»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich hergeführt?«
-
-Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon er jedoch vorerst
-schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der Vetter sei wieder im Land,
-und da habe er keine Ruhe mehr gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn
-gesehen und begrüßt; es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm
-jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl? Und was denn die
-liebe Familie mache?
-
-»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«
-
-Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?« rief er mit
-tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts gewußt und haben nicht einmal
-kondolieren können! Meine herzliche Teilnahme, Vetter!«
-
-»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei dir? Du bist
-Kaufmann geworden?«
-
-»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten und womöglich
-was für die Kinder auf die Seite zu tun. Ich führe auch recht gute
-Zigarren. -- Und du? Was macht die Fabrik?«
-
-»Die hab' ich aufgegeben.«
-
-»Im Ernst? Ja warum denn?«
-
-»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben Hungersnot und Aufstände
-gehabt.«
-
-»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen gewundert, daß
-du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen hast. Schon dieser
-Despotismus, und dann die Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft
-muß ja arg sein. Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden
-gehalten, du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort wußte. Der
-Pobjedonoszeff -- --«
-
-»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst du sicher
-mehr als ich.«
-
-»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein bißchen im Blatt,
-aber -- -- Nun, und was machst du denn jetzt für Geschäfte? Hast du
-viel verloren?«
-
-»Ja, tüchtig.«
-
-»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben hier ja keine
-Ahnung gehabt.«
-
-Schlotterbeck lächelte ein wenig.
-
-»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der schlimmsten Zeit
-daran, mich vielleicht an euch hier zu wenden. Nun, es ist schließlich
-auch so gegangen. Es wäre auch dumm gewesen. Wer wird einem so
-entfernten Verwandten, den man kaum mehr kennt, noch Geld in die Pleite
-nachwerfen.«
-
-»Ja du mein Gott, -- Pleite, sagst du?«
-
-»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich fand dann
-anderwärts Hilfe ...«
-
-»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind ja arme Teufel
-und brauchen unser bißchen nötig genug; aber daß wir dich gerade hätten
-stecken lassen, nein, es ist nicht recht von dir, daß du das hast
-meinen können.«
-
-»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner Frau?«
-
-»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen, ich
-soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst doch?«
-
-»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit für die
-Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit nehmen und deine Frau
-einstweilen von mir grüßen.«
-
-Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut mit einem Paketchen
-nach Hause, und da der Inhalt sich als recht nobel erwies, nahm seine
-Meinung von des Vetters Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war
-indessen froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu haben,
-und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen und sich zu einem
-hiesigen Aufenthalt für unbestimmte Zeit anzumelden.
-
-Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks Heimkehr
-in der Stadt bekannt zu machen. Dies geschah ohne sein Bemühen durch
-eine geheimnisvolle drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt
-und Tritt angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch
-Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte schon gar viel von
-ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen in der Leute Mund schnell
-einen fürstlichen Umfang an. Einige verwechselten beim Weiterberichten
-in der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der Türkei, nur
-das mit unbekannten Geschäften erworbene Vermögen blieb ein fester
-Glaubenssatz, und in den nächsten Tagen wimmelte es in Gerbersau von
-Lesarten, die zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen
-den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler je nach
-Temperament und Phantasie der Erzähler auf und nieder spielten. Man
-erinnerte sich des längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck
-und der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche, die
-ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden noch im
-Gedächtnis hatten, und eine verstorbene Fabrikantenfrau wurde zu seiner
-unglücklichen Jugendliebe ernannt.
-
-Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von diesen
-Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem Vetter zu Tisch
-geladen war, hatte ihn vor dessen Frau und Kindern ein unüberwindliches
-Grauen erfaßt, so übel maskiert war ihm die Spekulation auf den
-Erbvetter entgegengetreten. Er hatte um des Friedens willen dem
-Verwandten, der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges Darlehn
-gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg geworden und hatte
-sich für weitere Einladungen einstweilen im voraus freundlich bedankt.
-Die Frau war enttäuscht und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von
-dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet.
-
-Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen. Dann fand er ein
-Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb der Stadt gegen die Wälder
-hin eine neue Straße entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger
-Steinbrüche, die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister, der
-in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen
-Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch für wenige Kreuzer
-käuflichen Boden am Beginn des neuen Weges einstweilen drei hübsche
-kleine Häuschen gebaut, weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute
-von hier aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören,
-was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts den Fluß
-durch die Wiesen laufen und gegenüber die roten Felsenhöhen hängen,
-und rückwärts hatte man in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei
-hübschen Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines
-hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher
-gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser aber der Vollendung
-entgegenrückte und nur noch wenige Handwerker darin zu tun hatten,
-ging es hier oben recht still und friedevoll zu. Denn auch der
-Gerichtsvollzieher, übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war
-schon nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen und
-war einem alten Leiden, das er bis dahin manche Jahrzehnte lang mit
-Arbeit und Humor überwunden hatte, nach kurzer Zeit erlegen. In dem
-Häuschen saß nun ganz allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe
-des Gerichtsvollziehers, ein recht frisches und sauberes Frauchen, von
-welcher noch zu reden sein wird.
-
-In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem Witwensitz
-und dem Neubau entfernt lag, richtete nun Schlotterbeck sich ein. Er
-mietete den unteren Stock, der drei Zimmer und eine Küche enthielt,
-und da er keine Lust hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger
-Einsamkeit einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische, Stühle,
-Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen Aufwartung eine
-Frau, die zweimal des Tages kam. Den Kaffee kochte er sich am Morgen,
-wie früher in langen Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags
-und abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm eine
-Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer aus Rußland ein,
-deren Inhalt die leeren Wandschränke füllte. Täglich erhielt und las
-er einige Zeitungen, darunter zwei ausländische, auch ein lebhafter
-Briefwechsel kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der
-Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten, teils
-bei den Geschäftsleuten, namentlich in den Fabriken. Denn er suchte
-ohne Hast, doch aufmerksam nach einer bequemen und vorteilhaften
-Gelegenheit, sich mit Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen
-zu beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen
-Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung. Er wurde
-da und dort eingeladen, auch zu den geselligen Vereinen und an die
-Stammtische der Honoratioren. Freundlich und mit den Manieren eines
-gereisten Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne sich fest
-zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel Kritik hinter
-seinem Rücken an ihm geübt wurde.
-
-August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes in einer
-Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte zwar ein klein wenig
-über seinen Landsleuten zu stehen, lebte aber doch in dem Gefühl,
-ein Gerbersauer zu sein und in allem Wesentlichen recht wieder an
-den alten Ort zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte
-nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken und
-Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach. Diese empfanden das desto
-besser, und wenn auch Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines
-Geldbeutels eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen gar
-viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört hätte. Manches,
-was er ahnungslos in alter Gewohnheit tat, erregte hier Kritik und
-Mißfallen, man fand seine Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd,
-seine Anschauungen amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen mit
-jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit seiner Aufwärterin
-wenig anders als mit dem Stadtschultheißen, er ließ sich zu Tisch
-laden, ohne innerhalb sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten,
-er machte zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber Dinge,
-die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen, auch in Familien in
-Gegenwart der Damen harmlos heraus. Namentlich in den Beamtenkreisen,
-die in der Stadt wie billig zuoberst standen und den feinen Ton
-angaben, in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister, machte
-er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich geschonte und behütete
-Welt amtlicher Machthaber und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger
-Hochachtung und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf
-den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause sitzt, hatte
-an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude, um so mehr da sie von
-seinem sagenhaften Reichtum doch keinen Vorteil zu ziehen hoffen
-konnte. Und in Amerika hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte
-einfach für Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre
-Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme, gefürchtete
-Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld etwas vermochte. Da
-war es schwer für ihn, dem niemand Anweisungen gab, die Heiligkeit
-der Titel und die ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu
-begreifen, am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht mit
-Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr überall den
-rechten Ton zu treffen. Als Fremder kannte er auch die verwickelten
-Familiengeschichten nicht und es konnte gelegentlich ohne seine
-Schuld passieren, daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete.
-Da sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit
-und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten seiner Verfehlungen
-zu säuberlich gebuchten und kontrollierten Sümmchen an, von denen er
-keine Ahnung hatte, und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch
-andere Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen
-beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand, dessen Stiefel ihm
-gefielen, ohne lange Einleitungen nach ihrem Preise fragen. Und eine
-Advokatenfrau, die zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren
-dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke Zeigefinger
-fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit Kunst und Eifer zu
-verbergen suchte, wurde von ihm mit aufrichtigem Mitleid gefragt,
-wann und wo sie denn ihres Fingers verlustig geworden sei. Der Mann,
-der Jahrzehnte in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt und
-seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen, daß man einen
-Amtsrichter nicht fragen darf, was seine Hosen kosten. Er hatte wohl
-gelernt, im Gespräch mit jedermann höflich und vorsichtig zu sein,
-er wußte, daß manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube
-verzehren, daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken es vermeidet,
-sich zu einer allein wahren Religion zu bekennen; aber daß mitten in
-Europa es große Gesellschaftskreise und Stände gab, in welchen es für
-roh gilt, von Leben und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit
-freiweg zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer unbekannt
-geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen legen nach Belieben, aber
-von niemand geradezu sagen darf, man könne ihn nicht ausstehen, das
-war nebst mancher andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch in
-Rußland beigebracht worden.
-
-Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit ihm zufrieden
-sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen machte, viel weniger als
-sie an ihn. Er ward zu allerlei guten Zwecken um Beiträge angegangen
-und gab sie jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst
-und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man auch hier nur
-halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten erwartet, wo er Silber und
-Nickel gab. Zum Glück erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und
-lebte eine gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier
-Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann zu sein.
-
-Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere Male, kam
-Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause der Frau Entriß vorbei,
-der Witwe des Gerichtsvollziehers, die hier in Gesellschaft einer
-schweigsamen und etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte.
-
-Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene Witwe hätte
-im Genuß ihrer Freiheit und eines kleinen Vermögens ganz angenehme und
-unterhaltsame Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl
-ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf ihrer
-Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte aus dem Badischen,
-und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht für ihren in der Stadt
-wohlbeliebten Mann, freundlich und erwartungsvoll aufgenommen. Doch
-hatte mit der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet,
-dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit war. Daraus
-machte das Gerede einen giftigen Geiz, und da man einmal kein Gefallen
-an der Frau gefunden hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere
-und sie wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin,
-sondern auch als Hausdrache verrufen. Der Gerichtsvollzieher selber
-war nun nicht der Mann, der über die eigene Frau schlecht gesprochen
-hätte, aber immerhin blieb es nicht verborgen, daß der heitere und
-gesellige Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei der Frau
-als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen Biersitzungen suchte. Nicht
-daß er ein Trinker geworden wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter
-der angesehenen Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er
-sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen und
-auch tagsüber zwischenein gelegentlich einen Schoppen zu nehmen.
-Trotz seiner schlechten Gesundheit setzte er dieses Leben so lange
-fort, bis ihm vom Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein
-anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner bedürftigen
-Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner Pensionierung eher
-schlimmer gegangen, und jetzt war alles darüber einig, daß die Frau
-ihm das Haus verleidet und von Anfang an den Untergang des braven
-Mannes verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine
-Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der Schwägerin sitzen und
-fand weder Frauentrost noch männliche Beschützer, obwohl außer dem
-schuldenfreien Haus auch noch einiges Vermögen vorhanden war.
-
-Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit nicht
-unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat, Bankbüchlein
-und Garten in bester Ordnung und hatte damit genug zu tun, denn die
-Schwägerin litt an einer leisen Verdunkelung des Verstandes und tat
-nichts anderes als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln,
-Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten Bilderalbums
-vertreiben. Die Gerbersauer, damit das Gerede über die Frau auch nach
-des Mannes Tode nicht aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das
-arme Wesen zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die
-Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit angehalten, schlafe
-in einem nie gereinigten und gelüfteten Verschlag, Hitze und Kälte
-ausgesetzt, und werde das alles sicherlich nimmer lange aushalten, was
-ja auch im Interesse der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese
-Gerüchte immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts wegen
-etwas getan werden, und eines Tages erschien im Haus der erstaunten
-Frau der Stadtschultheiß mit dem Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende
-Worte über die Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne
-und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der Drohung, wenn
-nicht alles einwandfrei befunden werde, müsse die Gestörte in einem
-staatlichen Krankenhause versorgt werden, natürlich auf Kosten der
-Frau Entriß. Diese verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge
-nur alles untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich,
-wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme, müsse er aus einer
-andern Quelle kommen, und wenn man die Kranke anderwärts versorgen
-wolle, könne es ihr nur lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der
-Stadt geschehen und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser
-haben werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke
-keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war und bei der
-wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo leben möchte, wo sie
-es sehr gut haben werde, furchtbar erschrak und flehentlich sich an
-ihrer Schwägerin festhielt. Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und
-ohne alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß
-verlegen wieder fort.
-
-Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man darüber
-verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter und Lebensführung
-einer schutzlosen Frau zu tadeln. Daß sie sparsam war, steht fest.
-Sie hatte nicht nur vor dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem
-noch so kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter
-schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas wegzuwerfen
-oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde, das ihr Mann seinerzeit in die
-Wirtshäuser getragen hatte, tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid
-wie ein unsühnbares Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die
-Eintracht ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte sie, was
-der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung im Hause und
-durch fleißige Arbeit einigermaßen einzubringen gesucht. Und nun, da er
-gestorben und damit das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war,
-da kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause ging und ein
-Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen werden konnte, erlebte
-die gute Haushalterin ein spätes, ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß
-sie sich irgendetwas über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher
-mehr als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und sich
-langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille Zufriedenheit, die
-sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen war.
-
-Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand Frau Entriß, wenn
-sie irgend etwas Wertloses zu Wert bringen, etwas finden oder erobern
-konnte, etwas Weggeworfenes doch noch brauchen und etwas Verachtetes
-verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf den baren Nutzen
-gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken und Begehren den engen Kreis
-des Notwendigen und erhob sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die
-Frau Gerichtsvollzieher war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt,
-sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben, nur durfte das
-niemals einen Pfennig bares Geld kosten. So war ihre Kleidung äußerst
-bescheiden, aber sauber und nett, und seit sie mit dem Häuslein auch
-ein kleines Stück Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und
-Erfreulichem ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine eifrige
-Gärtnerin.
-
-Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin vorüberschritt,
-schaute er jedesmal mit Freude und einem leisen Neid in die kleine
-bescheidene Gartenpracht der stillen Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete
-waren appetitlich von Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber
-auch mit Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und Reseden
-schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames Glück zu verkünden.
-
-Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und in dem
-hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen solchen Wuchs zu erzielen.
-Hier hatte Frau Entrißens Leidenschaft Wunder getan, und tat sie
-noch immer. Sie brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze
-Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren der
-schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem Schäufelein den
-goldeswerten Dung, den die Pferde und ihre Herren achtlos liegen
-ließen. Hinterm Hause tat sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale
-sorgsam auf den Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung
-das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte. Sie brachte
-aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge von Maiblumen und
-Schneeglöckchen mit, und den Winter hindurch zog sie im Zimmer und
-Keller ihre Ableger mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles
-Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt verborgen duftet,
-eine Freude am Nützen des Brachliegenden und Verwenden des umsonst
-zu Habenden, und vielleicht unbewußt auch ein still glimmender Rest
-unbefriedigter Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen
-Gartenmutter.
-
-Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr Schlotterbeck täglich
-mehrmals anerkennende Blicke in die von jedem Unkraut reinen Beete und
-Wegchen, labte seine Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten
-Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn ein leichter
-Wind ging und ihm beim Weitergehen eine Handvoll süßen Gartenduftes
-nachwehte, freute er sich dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer
-zunehmenden Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen er
-ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht eben leicht
-mache, und sich einigermaßen vereinsamt und betrogen vorkam.
-
-Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin
-erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen Gerichtsvollziehers
-und viel arge Urteile über seine Witwe zu hören, so daß er nun eine
-Zeitlang das friedevolle Haus im Garten mit einem traurigen Erstaunen
-darüber betrachtete, daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz
-einer so verworfenen Seele sein müsse.
-
-Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal hinter ihrem
-niederen Zaune sah und anredete. Bisher war sie stets, wenn sie ihn
-von weitem daherkommen sah, still ins Haus entwichen. Diesmal hatte
-sie ihn, über ein Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören,
-und nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand und
-sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider ihren Willen, den
-Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig, sondern fragte sie: »Schon
-fleißig, Frau Nachbarin?«
-
-»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort: »Was Sie für
-einen schönen Garten haben!«
-
-Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die schon wieder
-an ihren Gräslein zupfte, verwundert an. Er hatte sie sich, jenem
-Gerede nach, mehr furienmäßig vorgestellt, und nun war sie zu seinem
-angenehmen Erstaunen recht ordentlich und gefällig von Gestalt,
-das Gesicht ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne
-Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche Erscheinung.
-
-»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich. »Adieu, Frau
-Nachbarin.«
-
-Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah ihm drei, vier
-Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig in ihrer Arbeit fort,
-ohne sich über den Nachbar Gedanken zu machen. Dieser aber dachte noch
-eine Weile an sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches
-Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu beobachten.
-Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger Mann sah er bald aus
-vielen kleinen Zügen ein Bild zusammen, das keinem Engel gleichsah,
-aber auch nicht zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen
-wollten. Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt still
-und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte, er sah sie
-den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen, stellte fest, daß sie keine
-Besuche empfing, und belauschte das kleine, einsame Leben der fleißigen
-Frau mit Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen, abendlichen
-Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr verschrien war, blieben ihm
-nicht verborgen. Doch fiel es ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn
-er auch darüber lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden,
-aber ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß
-soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet werde. Zum
-erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall stutzig geworden, dem
-Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen und manches faul zu finden, was er
-bisher gläubig hingenommen hatte.
-
-Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder und wechselte
-ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt mit ihrem Namen an, und
-auch sie wußte ja, wer er sei, und sagte Herr Schlotterbeck zu ihm.
-Er wartete gern mit dem Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging
-dann nicht vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und
-Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen, ehrlichen und
-recht gescheiten Antworten zu freuen.
-
-Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler auf die Frau zu
-sprechen. Er erzählte, wie der saubere Garten ihm aufgefallen sei, wie
-er die Frau in ihrem stillen Leben beobachtet habe und nicht begreifen
-könne, daß sie in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu,
-dann meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt. Ein
-Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber Kamerad, und so gut
-wie ein Kind! Und den hat sie einfach auf dem Gewissen.«
-
-»An was ist er denn gestorben?«
-
-»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang gehabt und ist
-fidel dabei gewesen. Dann nach seiner Pensionierung, statt daß ihm die
-Frau es jetzt nett und freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz
-hausscheu geworden. Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen,
-weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen leichtsinnig mag er
-ja von Natur gewesen sein, aber daß er am Ende gar zuviel geschöppelt
-hat, daran ist allein sie schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie.
-Da hat sie zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes
-Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig so
-behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum bekümmern und
-sie kontrollieren mußte.«
-
-Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt gewesen.
-Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache ward ihm überall
-bestätigt, wo er darum anklopfte. Es schien ihm wunderlich und wollte
-ihm leid tun, daß er sich in der Frau so hatte täuschen können. Aber
-so oft er sie wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand
-aller Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und ging
-zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren. Er wurde mit
-Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch seine Frage vorbrachte,
-wie es denn mit der Frau Entriß und ihrer Schwägerin stehe, ob sie
-wirklich im Verdacht der Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da
-meinte der Stadtschultheiß abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich
-für Ihre Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese
-Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie können es uns ruhig
-überlassen, daß wir zum Rechten sehen. Oder haben Sie eine Beschwerde
-vorzubringen?«
-
-Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es in Amerika
-manchmal hatte sein müssen. Er ging leise und machte die Türe zu,
-setzte sich dann wieder und sagte: »Herr Stadtschultheiß, Sie wissen,
-wie über die Frau Entriß geredet wird, und da Sie selber bei ihr
-waren, müssen Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine
-Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch. Oder
-nicht? -- Also. Warum dulden Sie das?«
-
-Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell wieder
-gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber Herr, ich habe
-wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen Sachen zu befassen. Es
-kann sein, daß da und dort der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht
-recht ist, aber dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.«
-
-»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben mir also die
-Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens in guter Behandlung
-ist?«
-
-»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich Ihnen raten darf,
-lassen Sie die Finger davon! Sie kennen die Leute hier nicht und machen
-sich bloß mißliebig, wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.«
-
-»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen. Aber
-einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau reden höre, werde
-ich ihn einen Ehrabschneider heißen und mich dabei auf Ihr Zeugnis
-berufen.«
-
-»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch nichts, und Sie
-haben nur Verdruß davon. Ich warne Sie, weil es mir leid täte, wenn --«
-
-»Ja, ich danke schön.«
-
-Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck von seinem
-Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es hatte sich herumgeredet, daß er
-ein merkwürdiges Interesse für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer
-war von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter möchte auf
-seine alten Tage noch Torheiten machen. Wenn es zum Schlimmsten käme
-und er die Frau heiratete, würden seine Kinder von den ganzen Millionen
-keinen Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen Vetter
-von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam auf die Nachbarschaft
-zu sprechen und ließ vermuten, er wisse viel über die Frau Entriß
-zu erzählen, falls es den Vetter interessiere. Der winkte jedoch
-gleichmütig ab, bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und
-ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht kommen.
-
-Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin im Garten
-erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal hatte er ein langes,
-vertrauliches Gespräch mit ihr, worin er auf sein einsames Leben
-hinwies und ihre freundlich-tröstliche Nachbarschaft dankbar rühmte.
-Sie ging klug und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns
-ungewohnt und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie ihm schien, auch
-Anmut.
-
-Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an täglich, immer
-über den Staketenzaun hinweg, denn seine Bitte, ihn auch einmal im
-Garten selber oder gar im Hause zu empfangen, lehnte sie mit stiller
-Entschiedenheit ab.
-
-»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide keine jungen
-Leute mehr, aber die Gerbersauer haben immer gern was zu plappern und
-es wäre schnell ein dummes Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel
-angeschrieben, und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen Sie.«
-
-Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins, und
-seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten hatte schon bedeutend
-nachgelassen. Er begann zu merken, daß er hier doch fremd sei und daß
-Höflichkeit, Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem Namen
-und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten Mitbürger, sondern eben
-seinem Geldsack galt. Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit
-überschätzte, und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters Pfrommer
-und anderer Angelkünstler machte ihm einen gewissen Spaß, aber für die
-beginnende Enttäuschung konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte
-den Wunsch, sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder
-zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist und hätte
-nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft gekostet, wovor ihm
-nicht bange war. Es hielt ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß
-er spürte, er werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein
-Stücklein von sich hängen zu lassen.
-
-Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem kleinen, weiß und
-braunen Nachbarhaus vorüber. Das Schicksal der Frau Entriß war ihm
-jetzt nimmer so dunkel, da er sie besser kannte und sie ihm auch
-manches erzählt hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen
-Gerichtsvollzieher jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die
-Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im Grunde genommen ein
-Windbeutel gewesen sein mußte, daß er es nicht verstanden hatte, unter
-der Herbe und Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und
-ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt, daß sie neben
-einem verständigen Manne, vollends in reichlichen Verhältnissen, eine
-Perle abgeben müßte. Ihr Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung
-zur Leidenschaft ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war auch
-eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor jedem Werte besaß,
-um ihn auch ohne eigenen Vorteil möglichst zu retten und zu bewahren.
-
-Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr bekam, worin
-freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen halfen, desto besser
-begriff er, daß sie in Gerbersau unmöglich verstanden werden konnte.
-Denn auch der Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher
-geworden, wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte er,
-daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht mehr habe und hier
-ebensowenig gedeihen und sich entfalten könne wie die Frau Entriß.
-Diese Gedanken waren, ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu
-seinem stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und Versuch,
-sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar und unsterblich zu
-machen.
-
-Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten der Witwe duftete
-mitten in der sandigen und glühenden Umgebung triumphierend weit über
-seinen niederen Zaun hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom
-nahen Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten und aus
-dem Tale in der Stille nach dem Schluß der Fabriken der Fluß leise
-herauf rauschte. An einem solchen Abend kam August Schlotterbeck zu
-Frau Entriß und trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch
-in die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete und
-die Hausfrau ihn verwundert und fast ein wenig ungehalten ansprach. Er
-erklärte aber, heute durchaus hereinkommen zu müssen, und ward denn von
-ihr in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings etwas
-kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig fand. Die Frau legte
-schnell ihre Schürze ab, setzte sich auf einen Stuhl beim Fenster und
-hieß auch ihn sich setzen.
-
-Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an. Er erzählte
-sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht ausgenommen, mit
-einfacher Trockenheit, schilderte dann etwas wärmer seine Heimkehr
-nach Gerbersau, seine erste Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an
-manche Gespräche, in denen sie einander so gut verstanden hätten. Und
-nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie sei nicht gar zu
-sehr überrascht.
-
-»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich bin kein Millionär,
-wie die Leute hier herumreden, aber so ungefähr eine viertel Million
-oder etwas drüber wird schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien
-beide noch zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht
-zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie Sie schon
-allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden, statt noch einmal
-anzufangen und vielleicht hereinzubringen, was früher am rechten Glück
-gefehlt hat?«
-
-Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien liegen und
-hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich warm und lebhaft wurde
-und wiederholt seine rechte Hand ausstreckte, als fordere er sie auf,
-sie zu nehmen und festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie
-saß ganz still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken zu
-erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit und
-Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden Leute saßen einander nahe
-gegenüber, er von seinem Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie
-aber von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten Ehrung
-leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide Gesichter glühte mit
-feiner Abschiedsröte die tiefstehende Sonne durch das offene Fenster.
-Da sie weder Antwort gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle
-aufsah, fuhr Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und
-hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden könnte,
-wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem andern, neuen Ort ohne
-unliebe Erinnerungen sich ein friedlich fleißiges Leben führen ließe,
-bescheiden und doch etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren
-Garten und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich
-zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick besänftigt und
-von dem rotgelben, innigen Abendscheine leicht und wohlig geblendet,
-recht milde mit halber Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte
-und ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und schwieg,
-von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele leicht gelähmt. Es ward ihr
-nicht völlig bewußt, daß das eine Werbung und eine Entscheidung für ihr
-Leben bedeute, auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch Qual,
-denn sie war durchaus entschieden und dachte keine Sekunde daran, das
-für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten gingen so gleitend und leicht
-und wie von einer Musik getragen, daß sie benommen lauschte und keines
-Entschlusses fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu schütteln
-oder aufzustehen.
-
-Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie fragend an und
-sah sie unverändert mit niedergeschlagenen Augen und fein geröteten
-Wangen verharren, als schaue sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche
-einer seltenen Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die
-sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig wie
-ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er schon an einem kleinen
-goldenen Faden zu halten meinte. Ihre Bewegung verstand er nicht,
-denn er deutete sie zu seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben
-hingenommenen und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die
-merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden Flügeln durch
-das abendhelle Stüblein und durch sein Gemüt reisen.
-
-Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so
-halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur Minuten, denn
-die Sonne stand noch immer nah am Rande der jenseitigen Berge, als sie
-aus dieser Stille jäh erweckt wurden.
-
-Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten und war,
-schon durch den ungewohnten Besuch in Aufregung und einige Angst
-geraten, bei dem langen, leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden
-von argen Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es schien
-ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen und allmählich ergriff
-sie, die nur an sich selber zu denken vermochte, eine wachsende Furcht,
-der fremde Mann möchte gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine
-stille, argwöhnische Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches der
-Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts noch so Geringes
-im Hause vorfallen, ohne daß die arme Jungfer mit Entsetzen an eine
-gewaltsame Hinwegführung und Einsperrung an einem unbekannten fernen
-Orte denken mußte.
-
-Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer abnehmenden
-Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte, gewaltsam schluchzend und
-in Verzweiflung aufgelöst in die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer
-Schwägerin nieder und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem
-Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die Frau Entriß
-plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen alles wieder mit nüchternem
-Verstande wahrnahm und sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte.
-
-Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor, fuhr ihr mit
-tröstender Hand übers Haar und redete halblaut und eintönig auf sie ein
-wie auf ein heulendes Kind.
-
-»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst jetzt nicht mehr?
-Komm, Kindelchen, komm, wir sind vergnügt und kriegen was Gutes zum
-Nachtessen. Hast gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es
-nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben, kein Mensch
-darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein, nimmer weinen!«
-
-August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit Rührung zu,
-die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit einem kindlichen Genuß,
-wiegte den Kopf hin und wider, klagte mit abnehmender Stimme und verzog
-ihr verzweifeltes Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen
-unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln. Doch kam
-sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr als entbehrlich vor,
-er hustete darum ein wenig und sagte: »Das tut mir leid, Frau Entriß,
-hoffentlich geht es gut vorbei. Ich werde so frei sein und morgen
-wiederkommen, wenn ich darf.«
-
-Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz, wie er um sie
-geworben und sie ihm zugehört und es geduldet habe, ohne daß sie doch
-willens war, ihn zu erhören. Sie erstaunte über sich selber, es konnte
-ja aussehen, als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht
-fortgehen und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie ein, und sie
-sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber. Wir müssen noch
-reden.« Ihre Stimme war ruhig und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte
-der Sonne und die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre
-Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen bangen Glanz von
-Trauer auf den Werber, der mit dem Hute in den Händen wieder niedersaß
-und nicht begriff, wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme
-gekommen sei.
-
-Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und kehrte an ihren
-vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie im Zimmer lassen,« sagte sie
-leise, »sonst wird sie wieder unruhig und macht Dummheiten. -- Ich habe
-Sie vorher reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum,
-ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie es nicht falsch
-gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein fester Entschluß, mich nicht
-mehr zu verändern. Ich bin fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß
-reichlich fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute
-nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar gut und dankbar
-bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen, können wir es weiter so haben.
-Aber damit wollen wir zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden
-haben.«
-
-Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an. Unter
-Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen und ihr recht
-geben. Allein der Glanz, den sie vor einer Viertelstunde im Gesicht
-gehabt hatte, war ihm noch wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im
-Gedächtnis und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der Glanz
-nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel im Herzen seiner
-Wege gegangen; so aber schien ihm, er habe das Glück schon wie einen
-zutraulichen Vogel auf dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick
-des Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe gehabt, läßt
-man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine neue Gelegenheit zum Fang
-entrinnen. Außerdem, und trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem
-sie schon so fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie
-jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war es seine
-Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche Vernunftheirat zu
-betreiben, nun aber hatte die stille Weichheit dieser Abendstunde ihn
-vollends wahrhaft verliebt gemacht, so daß jetzt an ein einfaches,
-freundlich kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war.
-
-»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind jetzt
-erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag zu sehr
-überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig gesagt und mich zu
-sehr an das Praktische und Geschäftliche der Sache gehalten, wenn es
-auch nicht so gemeint war. Ich will darum nur sagen, daß mein Herz
-es ernst meint und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch
-Gründe dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es steht
-mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer zu lassen. Ich
-habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande Widerstand leisten,
-kann ich mich nicht zufrieden geben wie ein Handelsmann, den man um
-ein Haus weiterschickt. Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg
-weiterzuführen und Sie nach meinen Kräften zu belagern, damit es sich
-zeigt, wer der Stärkere ist.«
-
-Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang, wenn auch nicht
-überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft in ihr Frauengemüt und
-tat ihr im Innern wohl wie ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es
-auch nicht wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln
-Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den Angriff abzuwehren
-und ihre liebgewordene Freiheit zu behalten.
-
-Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar! Die Männer bleiben
-eben länger jung als unsereine, und es tut mir leid, daß Sie mit meinem
-Bescheide nicht zufrieden sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal
-nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder jung machen und
-verliebt tun, es käme nicht von Herzen. Auch ist mir mein Leben, so wie
-es jetzt ist, lieb und gewohnt geworden, ich habe meine Freiheit und
-keine Sorgen. Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin, die mich
-braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab' ich ihr versprochen
-und will dabei bleiben. -- Aber was rede ich lang, wo nichts zu sagen
-ist! Ich will nicht und ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir
-meinen, so lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit
-Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen und würde
-kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn Sie wollen, so vergessen wir das
-heutige und bleiben gute Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer
-sehen.«
-
-Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch nicht, sondern
-ging in erregten Gedanken, als wäre er im eigenen Hause, heftig auf und
-ab, um einen Weg aus dieser Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu,
-ein wenig belustigt, ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es
-ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht töricht, Herr
-Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen, und für Sie wird es auch Zeit
-sein.«
-
-Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er nahm seinen
-Hut, den er in der Aufregung weggelegt hatte, manierlich in die linke
-Hand, verbeugte sich und sagte mit einem schwachen, etwas mißlungenen
-Lächeln: »Gut, ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen
-Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und werde Sie eine
-Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen mich nicht für gewalttätig
-halten. Aber ich komme wieder, sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich
-bitte um nichts, als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal
-in Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort geben,
-ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird. Ich reise fort, das hatte
-ich ohnehin im Sinn, und Sie werden also alle Ruhe vor mir haben. Und
-wenn ich wiederkomme, ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie
-dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein und werde dann
-Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien. Sie sind das Einzige, was
-mich noch in Gerbersau halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und
-auf Wiedersehen!«
-
-Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab aber in
-freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen Sie schon, sie wird
-nicht anders werden. Damit Sie meinen guten Willen sehen, will ich
-Ihren Vorschlag gelten lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen,
-sehen Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen, und
-bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute Reise!«
-
-»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den Türgriff in die
-Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück, den nur die Schwägerin
-erwiderte, und trat unbegleitet aus dem Hause in die noch lichte
-Dämmerung. Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende
-Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit
-zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich für immer
-zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau. Dieser Entschluß tat ihm
-in seinem übrigen schwebenden und abhängigen Zustande wohl, als ein
-Ausblick auf selbständigere und gesichertere Zeiten, nach denen ihn
-sehnlich verlangte.
-
-Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung hinüber, nicht
-ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen zurückzuschauen, das mit
-geschlossener Tür und Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte
-Sommernacht erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch
-eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend in einem
-sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen. Bei ihrem Anblick
-fühlte der Mann noch einmal die feine, innig glühende Erregung der
-vergangenen Stunde vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten
-Kopf zu den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat er sein
-einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen in der Stadt, aß nur ein
-halbes Pfund Kirschen, die er morgens gekauft hatte, und fing noch am
-selben Abend an, sich für die Reise zu rüsten.
-
-Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab die Schlüssel
-seiner Aufwärterin und den Koffer einem Dienstmann, seufzte befreit
-und ging davon, in die Stadt hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im
-Vorbeigehen einen Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß
-zu wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger begleitet,
-elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte ihm von Herzen
-gute Erholung.
-
-Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes Leben glitt
-wieder in die vorige Einsamkeit zurück, es kam niemand zu ihr und
-es schaute niemand mehr über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt
-wußte man genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer
-geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die natürlich keinen Tag
-verborgen blieb. Sie kümmerte sich nach ihrer Art um das alles nicht,
-sondern ging ruhig ihren Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr
-leid, daß es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie hatte
-ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit mit Bedauern
-gestört. Doch war sie sich keiner Schuld bewußt und in langen Jahren an
-das Alleinleben so gewöhnt, daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen
-Kummer machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden Beeten,
-goß am Morgen und Abend, erntete das Beerenobst, machte ein und tat mit
-zufriedener Emsigkeit die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr
-die Schwägerin unverhofft zu schaffen.
-
-Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien aber seither
-noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst zu kämpfen, welche eine
-Art von Verfolgungswahnsinn war und in einem mißtrauischen Träumen von
-Entführung und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der ungewöhnlich
-viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht gut, und schließlich konnte
-Frau Entriß kaum mehr auf eine halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da
-die Kranke das Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte
-sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin sicher und umgab
-die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen und scheuen Blicken einer
-grundlosen Furcht. Am Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke
-in neues Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung
-wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder ein Grund, von erneuter
-Mißhandlung und behördlicher Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun
-in Verbindung mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu
-einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet.
-
-Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren, wo es
-ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde, so daß er, auch von einiger
-innerer Unrast geplagt, bald wieder aufpackte und weiterfuhr,
-diesmal nach Freudenstadt, das ihm von jungen Zeiten her bekannt
-war. Dort gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines
-schwäbischen Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und über
-technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung reden konnte.
-Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß und gleich ihm selber weit
-in der Welt herumgekommen war, machte er täglich lange Spaziergänge
-in den kühlen Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder
-das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner Landschaft und
-Waldnähe marschieren und in hübschen Ortschaften und guten Gasthäusern
-sich ausruhen kann. Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine
-Lederwarenfabrik von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund fragte
-ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei, seine Erholungstage
-in so angenehmen und vertrauten Gesprächen hinbringen zu können. Es
-entstand zwischen den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit
-und gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in der
-Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem eine Bekanntschaft
-mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier erstaunlich war. So währte
-es nicht lange, bis er dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage
-genauer mitteilte, und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter
-Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden werden.
-
-Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich, er vergaß
-sogar für halbe Tage seinen schwebenden Handel mit der Witwe in
-Gerbersau, von dem er Herrn Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen.
-Den alten Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit einem
-gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige neue Unternehmungen
-nicht wenig, und die Bedürfnisse seines Herzens zogen sich, da er
-ihnen nie allzuvielen Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück.
-Nur wenn er allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn
-das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder warm. Doch auch
-dann schien ihm die Angelegenheit nicht mehr gar so verzweifelt und
-gewichtig. Er dachte an jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und
-fand schließlich, sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein,
-daß der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen Teil an
-seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien. Nicht daß er nun kalt und
-untreu geworden wäre, das lag nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie
-zu vermuten war, es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde,
-schien ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen nicht
-unerträglich.
-
-Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von Herrn Trefz
-eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und seinen Betrieb
-anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort von geschäftlichen Beziehungen
-die Rede gewesen, doch wußten beide, wie es stand und daß der Besuch
-sehr wohl zu einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts
-führen könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem Freunde die
-Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne.
-
-»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen wir dann,
-falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.«
-
-Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen, dem er
-nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt zugesehen hatte. Er sah Arbeit
-und Sorge, Gewinn und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und
-mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute er sich jetzt
-auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines Arbeiters und Unternehmers,
-auf Einrichtungen und Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf
-Telegramme, Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger des Geldes wegen,
-dessen er für den Bedarf seines Alters genug besaß, als aus Freude
-an Umtrieb und Wagnis, aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem
-Welthandel und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich stieg er
-an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne heut ein einziges Mal
-an seine Witwe gedacht zu haben.
-
-Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe und seinen
-Beistand wohl hätte brauchen können. Die Schwägerin war unter der
-Beobachtung des Oberamtsarztes noch scheuer und unheimlicher geworden
-und machte das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem sie
-bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend die Treppen
-auf und ab stieg und durch die Stuben wanderte, bald auch sich in ihrer
-Kammer einschloß und eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln
-bestand. Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden, wenn auch
-ruhige Tage dazwischen kamen, und der geängstigte Doktor, der in
-solchen Dingen keine Erfahrung hatte, drängte zur Fortschaffung und
-Versorgung in einer Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange
-sie konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen Jungfer in
-langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft der völligen Einsamkeit
-immerhin vor, auch hoffte sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht
-lange dauern, und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten,
-die möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt ihr
-entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen ihr Lebenlang
-kochen, waschen und aufwarten, ihre Launen ertragen und sich um
-sie sorgen; aber die Aussicht, es möchte für dies zerstörte Leben
-vielleicht jahrelang ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne
-Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der täglichen Sorge
-um die Gemütskranke auch noch diese Angst und Last zu tragen, und sie
-fing trotz ihrer Zähigkeit an, etwas vom Fleisch zu fallen und im
-Gesicht ein wenig zu altern.
-
-Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war der sicheren
-Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in ihrem hübschen kleinen
-Hause und sei womöglich froh, den lästigen Nachbarn und Bewerber für
-eine Weile los zu sein.
-
-Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte die Abreise des
-Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt, ihr nach dem Entfernten
-Sehnsucht zu wecken und ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre
-sie jetzt in ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater
-zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus nicht mehr so
-stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls es mit der Schwägerin
-schlimm gehen sollte, sich wohl auch die Bewerbung des reichen Mannes
-noch einmal näher und freundlicher angesehen.
-
-In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die Abreise
-Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung und Dauer verstummt, da
-man jetzt an der Witwe Entriß wieder für eine Weile die Mäuler voll
-hatte. Und während unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die
-beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden und
-schon deutlicher von künftigen gemeinsamen Unternehmungen miteinander
-plauderten, saß daheim in der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei
-lange Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl und
-Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage später hielt August
-Schlotterbeck diesen Brief, der auf das beste Papier mit einem goldenen
-Rande geschrieben war, verwundert in den Händen und las ihn langsam
-zweimal durch. Er lautete:
-
-Lieber und werter Vetter Schlotterbeck!
-
-Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine Schwarzwaldtour gemacht
-hat, hat uns berichtet, daß er Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du
-wohl bist und in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte
-ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen. Wenn man
-es vermag, ist ja eine solche Sommerkur immer sehr gut, ich war auch
-einmal ein paar Tage in Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat
-mir vorzügliche Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg, und
-wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem Tannenrauschen auch Dir
-gewiß nur gut gefallen.
-
-Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir, und wenn du nach
-guter Erholung wieder heimkommst, wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder
-recht gut gefallen. Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es
-auch draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man doch bloß in
-der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich auch in der Stadt sehr
-beliebt gemacht, alle freuen sich bis Du wiederkommst.
-
-Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es in Deiner
-Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß es nicht, ob es Dir schon
-bekannt ist. Die Frau Entriß hat jetzt also doch ihre kranke Schwägerin
-hergeben müssen. Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche
-Geschöpf es nimmer hat aushalten können und hat Tag und Nacht um Hilfe
-gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt hat. Da hat sich gezeigt, daß
-es mit der kranken Jungfer furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß
-drauf bestehen und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann sich
-denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt, man hat ihr
-die Schwägerin weggenommen und vielleicht muß sie sich noch anderswo
-verantworten. Dieselbe ist im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht
-worden, und die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie früher
-so an der Kranken gespart!
-
-Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest Du sehen sollen,
-es war ein Jammer. Sie hatten einen Wagen genommen, da saß die Entriß,
-der Oberamtsarzt, ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da
-fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt, daß alles
-nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem Heimweg hat die Entriß
-dann allerlei zu hören gekriegt, ein Bub hat ihr sogar einen Stein
-nachgeworfen.
-
-Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen kann, tue ich
-es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang von der Heimat fortgewesen,
-aber das macht nichts und für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt,
-nichts zuviel. Meine Frau läßt Dich auch grüßen.
-
-Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische. In dem
-Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als hier in dem engen
-Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter. Im Bayrischen Hof hat es
-vorgestern eingeschlagen, aber kalt.
-
-Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung. In alter Treue
-Dein Vetter und Freund
-
- Lukas Pfrommer.
-
-Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch, steckte ihn in
-die Tasche, zog ihn wieder heraus und las ihn nochmals, dann sagte
-er: »O du Simpel,« was seinem Vetter galt. Doch hielt er sich nicht
-lange mit Gedanken an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich
-den Brief selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen
-ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten vor
-Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und Zorn, er sah das arme
-Frauelein verhöhnt und preisgegeben, mit Tränen kämpfen und ohne Trost
-allein sitzen. Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles
-sah und begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über den
-briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und über ganz Gerbersau
-herzlich empört und wollte schon Rache beschließen, da fiel ihm
-allmählich ein, wie wenig er selber in dieser letzten Zeit an die Frau
-Entriß gedacht hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel
-Heimweh gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der lieben Frau
-übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und vielleicht auf seinen
-Beistand gehofft.
-
-Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen. Das Bildnis der
-kleinen Witwe stand ihm nun wieder so klar und nett vor Augen, daß er
-nicht begriff, wie er sie tagelang fast ganz habe vergessen können.
-Was war jetzt zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne
-Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine Abreise an und
-teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der sich darüber sehr betrübt
-zeigte. Doch ward verabredet, daß Schlotterbeck ihn bald besuchen
-und seine Fabrik ansehen solle. Dann packte dieser seinen Koffer,
-worin er viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat und
-die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham und den Zorn und alle
-Bedenken und verfiel in eine muntere, tröstliche Heiterkeit, die ihn
-den ganzen Abend nimmer verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle
-diese Geschichten nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin war
-fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt und traurig und
-hatte wohl auch Geldsorgen, da war es Zeit, daß er nochmals vor sie
-trat und in dem abendsonnigen Stüblein ihr sein Angebot wiederholte.
-Vergnügt pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch
-noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte er mit Herrn
-Trefz bei einem guten Markgräflerwein. Die Männer stießen auf ein gutes
-Wiedersehen und eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein
-Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr wiederzusehen.
-
-Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der Eisenbahn und
-erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn begleitet und drückte ihm
-nochmals die Hand, der Hausknecht hob den Koffer in den Wagen und bekam
-sein Trinkgeld, der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen
-Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte an dem grüßenden
-Stationsvorstande vorbei in die Stadt hinein.
-
-Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege lag, ließ sich
-dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden Weges zur Frau Entriß
-hinauf, deren Garten ihn in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor
-war verschlossen und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die
-Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht -- denn sie hatte ihn
-nicht kommen sehen -- die Tür auftat. Da sie ihn erkannte, wurde sie
-rot und versuchte ein strenges Gesicht zu machen, er trat aber mit
-freundlichem Gruß herein und sie führte ihn in die Stube.
-
-Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der vergangenen Zeit
-wenig an ihn denken können, doch war seine Wiederkunft ihr immerhin
-kein Schrecken mehr, sondern eher ein Trost. Er sah das auch, trotz
-ihrer Stille und künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich
-selber die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern
-faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte: »Es ist
-jetzt recht, nicht wahr?«
-
-Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und Worte machen;
-aber unversehens übernahm sie die Bewegung, die Erinnerung an so viel
-Sorge und Bitterkeit dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer
-und trocken durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem
-eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach aber
-erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne Glücksschein, den Herr
-Schlotterbeck vom letztenmal her kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ
-sich von ihm umfangen, und als nach einem sanften Kusse der Bräutigam
-sie auf einen Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank,
-das stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft, oder
-willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?«
-
-Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin ich froh! Und
-das Privatisieren hört auch bald auf. Was meinst du zum Beispiel zu
-einer Lederwarenfabrik?«
-
-
-
-
-Der Weltverbesserer
-
-
-1
-
-Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus einem guten
-bürgerlichen Hause stammend, besaß er einen angeborenen Sinn für das
-Schickliche und Angenehme, den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege
-und Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit
-des Philistertums bewahrte. Zum Unglück hatte er die Eltern früh
-verloren und von seinen mehrmals wechselnden Erziehern hatte nur ein
-einziger Einfluß auf ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch
-und frommer Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit eines
-Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit doch eben nicht
-ohne Hochmut den Dingen seine Form aufzwang.
-
-Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen, unbefangen seine
-Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen und im Anschluß an irgendeinen
-Kreis tätigen Lebens sich unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast
-sich nach dem ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen,
-auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher und
-wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten brauchen.
-
-Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch zwei
-Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang als seiner Natur
-begründet, beide unschuldig und edel von Ansehen. Zunächst war da, von
-jenem wohlmeinenden Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling
-eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen Dingen auf
-den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen war, und aus
-Zuständen, für die er nicht verantwortlich war, persönliche Gedanken-
-und Gewissensprobleme zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei
-denn jeder natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens
-erkrankt und verkümmert war.
-
-Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben: Berthold Reichardt
-hatte keinen bestimmten Beruf gewählt. Gewissenhaft und eifrig hatte er
-seine Neigungen und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben,
-sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und zu festigen, ehe
-er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte und verantwortliche
-Tätigkeit wage. Seinen Neigungen gemäß hatte er bei guten Lehrern,
-auf Reisen und aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit
-einer Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher
-Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den Studienjahren
-abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt; schließlich war er, um
-doch ein festes Ergebnis zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen
-geblieben und hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit
-über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen Renaissance
-abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun in München ein, wo er im
-Zusammenströmen so vieler junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am
-ehesten die Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine
-Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker hinstrebte. Er
-dürstete danach, Verkehr mit dem Leben und Einfluß auf Menschen zu
-üben, am Entstehen neuer Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und
-im Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.
-
-Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf und Stellung
-von allem Anfang an ein festes, klares Verhältnis zum Leben und eine
-berechtigte Stelle im Gefüge der menschlichen Tätigkeiten zu haben,
-dieses Vorteils also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und
-ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete keine Arbeit
-und Stellung, kein Amt und keine Richtung, er war nur ein Titel und
-Schmuck, am Sonntag zu tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen
-Mangel an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit, welche er
-hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten Preis, um die Krone
-des Lebens selber, daranzugeben gewillt war.
-
-In München, wo er schon früher ein Jahr als Student gelebt hatte,
-war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren Häusern eingeführt,
-hatte es aber mit den Begrüßungen und den Besuchen nicht eilig, da er
-seinen Umgang in aller Freiheit suchen und unabhängig von früheren
-Verpflichtungen sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er auf die
-Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder voll neuer Ideen
-gärte und beinahe täglich Zustände, Gesetze und Sitten entdeckte,
-welchen der Krieg zu erklären war.
-
-Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt, ohne sich
-darum Mühe gegeben zu haben, bald in näheren Umgang mit einem kleinen
-Kreise moderner junger Künstler dieser Art. Man traf sich bei
-Tische und im Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch
-freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens in dem des
-Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger Führerschaft in dieser
-Künstlergruppe ausübte.
-
-Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute hatte sich Berthold
-vor allem durch die Bescheidenheit erworben, mit welcher er ihren oft
-verblüffend kühnen Reden zuhörte und auch die gegen seine Person und
-seinen Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans Konegen
-ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und Reichardt sich als eine
-Art von Privatgelehrten vorstellte, der sich durch kunstgeschichtliche
-Studien den Doktorgrad erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu
-ins Gesicht gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!« und
-hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit betont, als
-wäre es mit Idiot oder Raubmörder gleichbedeutend. Reichardt aber hatte
-nur verwundert mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß
-allerdings das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich habe, wie
-es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung bedeute, welche er
-nun womöglich in einer mehr auf das Leben selbst gerichteten Tätigkeit
-anzuwenden hoffe.
-
-Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand er nun noch manchen
-Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber den guten Willen zum Lernen
-zu verlieren. Es fiel ihm vor allem auf, daß die paar berühmten
-Maler und Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung mit
-den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört oder gelesen
-hatte, offenbar diesem reformierenden Denken und Treiben der Jungen
-weit ferner standen, als er gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer
-gewissen Einsamkeit und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu
-leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber er anfänglich
-geradezu erschrak, von den jungen Kollegen keineswegs als Vorbilder
-bewundert, sondern mit Schärfe, ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum
-Teil sogar beinahe verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler,
-der unbekümmert seine Werke schuf, damit einen Verrat an der Sache der
-revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz Goethe es eines rechten
-Künstlers Art und Pflicht nicht so sehr zu malen und zu bilden als zu
-denken und zu reden.
-
-Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer,
-ideologischer Zug in Reichardts Wesen selbst, so daß er trotz
-gelegentlichen Bedenken dieser ganzen Art sehr bald zustimmte. Es
-fiel ihm nicht auf, wie wenig und mit wie geringer Leidenschaft in
-den Ateliers seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne
-Beruf und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es ihm wohl,
-daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit und Lust zum reden und
-theoretisieren hatten. Namentlich schloß er sich an Hans Konegen an,
-dessen kaltblütige Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein
-unverhohlenes Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig die
-vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung, dabei erstaunlich
-viel zu lernen, denn es gab kaum ein Kunstwerk, an dem Konegen nicht
-klar und schön darzulegen wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte
-es Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild, das ihm
-gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen hatte, gröblich
-und schonungslos hergefallen war; mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser
-Ton und färbte sogar auf seinen eigenen ab.
-
-Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit bewaldeten Hügeln,
-von Frühsommerwolken überflogen, treu und zart gemalt, das Werk eines
-noch jungen, doch schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das
-schätzen und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu, »und es
-ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind sogar direkt gut.
-Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie, kurz -- Rhythmus? Eine nette kleine
-Arbeit, sauber und lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein!
-Ich bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der modernen
-Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie im größten Maßstab
-treibt, das reich geworden ist und Machtbewußtsein hat, das eben noch
-zu den Füßen Bismarcks und Nietzsches saß -- und das soll nun unsere
-Kunst sein!«
-
-Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit monumentaler Wucht
-gemalt zu werden, oder ob das Gefühl für einfache Schönheiten der
-ländlichen Natur unseres Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht,
-und tat man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt: »Nun ja,
-wir können ja auch über das Ding an sich oder über den Kaukasus reden,
-warum nicht? Aber da wir nun doch einmal gerade von diesem Bild hier
-sprechen, kann ich nur wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier
-Größe? Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?« und so
-weiter.
-
-Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung, sich still
-und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen, und wenn er
-schließlich gleich seinen neuen Freunden mit Bitterkeit fragte: »Was
-sollen uns alle diese Ausstellungen? Sie lassen uns ja doch alle
-kalt!« so hatte er damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich
-mochte das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck
-reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem weit mehr Freude
-bereiten als dem so kritischen Betrachter alle Galerien.
-
-Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten keineswegs die
-Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten, denn nach ihren Reden,
-ihrem Auftreten und ihren vielen theoretischen Kenntnissen taten sie
-das entschieden. Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen
-Durchschnitt, ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform
-bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden und überklugen
-Jugend unbeachtet gar viele stille Talente hausten und arbeiteten. Er
-wußte auch nicht, wie wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile
-Konegens waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil, von
-Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern Bildwirkung
-und von Staffeleibildern größere Naturnähe verlangte, so daß freilich
-seine Ansprüche stets weit größer blieben als die Kunst aller Könner.
-Und er fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so mächtig
-seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen und Urteilen gäben.
-Wie es Art und schönes Recht der Jugend ist, unterschied er nicht
-zwischen seiner Freunde Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in
-lebhafter Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als Freund
-neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu leben, unter glücklichen
-Repräsentanten der zeitgenössischen Jugend.
-
-Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender Bescheidenheit.
-Während sie nämlich über Hodler wie über Botticelli zu reden und alle
-Forderungen der höchsten Kunst genau zu formulieren wußten, galt
-ihre eigene Arbeit meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen
-Gegenständen und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art. Aber
-wie das Können des größten Malers klein wurde und elend dahinschmolz,
-wenn man es an ihren Forderungen an ihn und ihren Urteilen über ihn
-maß, so wuchsen ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige,
-wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine ganz hübsche
-Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht und wußte nachzuweisen, daß
-diese Arbeit, so unscheinbar sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als
-mancher Saal voll Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das
-Gepräge des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen
-und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen Gegenstandes, ja
-des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer versah ein Stück graues
-Papier, das zu Büchereinbänden dienen sollte, mit einigen regellos
-verteilten gelblichen Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde
-lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener Flecken etwas
-Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel und Unendlichkeit zu
-wecken vermöge und wie der Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas
-melancholisch Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe.
-
-Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der Jugend als eine
-Mode betrieben; mancher kluge, doch schwache Künstler mochte es auch
-ernstlich darauf anlegen, mangelnden natürlichen Geschmack durch
-solche Raisonnements zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber
-in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit lang ernst
-und lernte dabei von Grund aus die verderbliche Müßiggängerkunst
-eines intellektualistischen Beschäftigtseins, das der Todfeind jeder
-wertvollen Arbeit ist.
-
-
-2
-
-Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als ein ziemlich gut
-erzogener Mensch, doch auf die Dauer nicht alle gesellschaftlichen
-Verpflichtungen vergessen, und so erinnerte er sich vor allem eines
-Hauses, in dem er einst als Student verkehrt hatte, da der Hausherr
-vor Zeiten mit Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden
-war. Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals Diplomat
-gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt war und als
-leidenschaftlicher Freund der Kunst und der Geselligkeit ein belebtes
-und glänzendes Haus geführt hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem
-er schon gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch machen
-und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause vor, dessen erste
-Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da fand er zu seinem Erstaunen einen
-fremden Namen auf dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig
-heraustretenden Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats fragte,
-erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der Herr Rat selbst sei vor
-mehr als Jahresfrist gestorben.
-
-Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben hatte, lag
-weit draußen in einer unbekannten stillen Straße am Rande der Stadt,
-und ehe er dorthin ging, suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren
-er einige noch von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über
-Schicksal und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu erhalten.
-Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat ein weithin gekannter
-Mann gewesen war, und so erfuhr Berthold eine ganze Geschichte:
-Weinland hatte allezeit weit über seine Verhältnisse gelebt und war
-so tief in Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte
-hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für einen natürlichen
-hatte halten mögen. Jedenfalls hatte sofort nach diesem unerklärten
-Todesfall die Familie alle Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch
-in der Stadt wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die
-angesehenen Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten und die
-ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein Haus zu machen. Schade
-sei es dabei am meisten um die Tochter, der jedermann ein besseres
-Schicksal gegönnt hätte.
-
-Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und mitleidig
-ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein dieser Tochter, welche
-je gesehen zu haben er sich nicht erinnern konnte, und es geschah
-zum Teil aus Neugierde auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen
-beschloß, die Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und fuhr
-hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die Grenze des freien
-Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz eingenommen wurde, wo
-im nassen Herbstwetter einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der
-Wagen hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause, das
-trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen schon den trüben Duft der
-Ärmlichkeit angenommen hatte.
-
-Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten Stockwerk,
-dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar erstaunt über den eleganten
-Besuch, geöffnet hatte. Sogleich erkannte er in der einfachen Stube
-mit neuen billigen Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere
-Gestalt und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert und nur
-um einen Schatten reservierter und kühler geworden schien. Neben ihr
-aber tauchte die Tochter auf, und nun wußte er genau, daß er diese
-noch nie gesehen habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz
-vergessen können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr im Gesicht
-ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden Gesicht, in der strammen,
-elastischen Haltung und einfachen, doch tadellosen Toilette wie eine
-junge Offiziersfrau oder Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck,
-und schon der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab sich
-dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige dunkelbraune Augen
-ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen Augen sowohl, wie in manchen
-weichen Bewegungen der strengen und beherrschten Gestalt schien erst
-der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen, den das übrige
-Äußere härter und kälter vermuten ließ, als er war.
-
-Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das Fräulein Agnes
-war, wie er nun erfuhr, während der Zeit seines früheren Verkehrs
-in ihrem Vaterhause im Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu
-erinnern, daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch
-vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren, und so kam
-es von selbst, daß vor allem des Besuchers Person und Leben besprochen
-wurde. Beide Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend
-und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu sehen, und Agnes
-meinte geradezu, wenn er einiges Talent zum Baumeister in sich fühle,
-so sei das ein so herrlicher Beruf, daß sie sein Zaudern nicht
-begreife. Beim Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen
-die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören würde, und
-erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder einzufinden.
-
-Von den veränderten Umständen der Familie, von ihrer Vereinsamung
-und Verarmung hatte zwar die Lage und Bescheidenheit ihrer Wohnung
-Kunde gegeben, die Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit
-keinem Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und Benehmen
-kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt, vielmehr den Ton
-innegehalten, der in ihrer früheren weitläuftigen Lebensführung ihnen
-geläufig und selbstverständlich gewesen war. Erst als Reichardt sich,
-die Damen im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern Flur allein
-fand und tappend nach dem Türgriff suchen mußte, kam ihm die Lage
-dieser Frauen wieder in den Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte
-Teilnahme und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich
-in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht und zum
-Augenblick des Einschlafens von einer wohlig reizenden Atmosphäre
-umgeben, wie vom tiefen, warmen Braun ihrer Blicke.
-
-Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen Arbeitsgedanken
-und Lebensplänen an. Wenige Tage nach seinem Besuche bei den Frauen
-Weinland hatte er ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen,
-das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm noch unerkannten
-Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft brachte. Hans Konegen hatte
-auf Reichardts Klagen hin sofort einen breiten, genial konstruierten
-Arbeitsplan entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin und
-wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen
-gedreht und sich alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein
-flimmerndes Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand
-und dem Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter
-welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestund als dem
-rasenden Kreisschwung seines Degens.
-
-Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt, indem
-er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen ausführte, die
-als kritische und heimlich mitschöpferische Berater der Kunst helfen
-und dienen könnten. Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert
-und unseren materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein
-richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht überhaupt
-nur noch den Künstlern selber und etwa noch solchen emsigen und klugen
-Kunstgelehrten, wie Reichardt, möglich sei. Um so mehr nun sei es also
-dessen Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und als
-unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er als den Sinn und das
-Ideal der modernen Kunst erkannt habe. Er möge daher trachten, an einer
-angesehenen Kunstzeitschrift oder noch besser an einer Tageszeitung
-kritischer Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann würde
-er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung seiner Schöpfungen
-Gelegenheit geben, einer guten Sache zu dienen und der Welt etwas Neues
-zu zeigen.
-
-Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran erinnerte, wie
-verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle Zeitungen und
-Zeitschriften und über das Amt des Kritikers im allgemeinen geäußert
-habe, bekannte sich der Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die
-er zu jeder Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm
-sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten und legte
-dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der Kritik ein wahrhaft
-edler und freier Geist auf diesem Gebiete zum Reformator werden könne,
-zum Lessing unserer Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem
-freundlichen Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein
-anderer und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches. Er selbst habe
-schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe einer Monographie über
-ihn, Hans Konegen, zu veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der
-rechte Mann für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den
-Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme er selbst, werde
-auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte in Japanabzügen beiheften
-und schon dadurch jeden echten und reichen Kunstfreund zum Erwerb des
-Buches geradezu nötigen.
-
-Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer zunehmenden
-Verstimmung an. Heute, da er das Übel seiner berufslosen
-Entbehrlichkeit besonders stark empfand und für einen guten Rat oder
-auch schon für ein wenig Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre,
-tat es ihm weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts
-anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen Ruhm oder
-Vorteil dienstbar zu machen.
-
-Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und diese Pläne kurz
-von der Hand wies, war Hans Konegen keineswegs geschlagen.
-
-»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie vollkommen und
-muß Ihnen eigentlich recht geben. Die Kritik und die verfluchte
-Federfuchserei überhaupt ist ja im Grunde eine entbehrliche und
-lächerliche Sache. Sie wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun
-Sie das! Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich und einige
-Freunde und dadurch eine direkte Verbindung mit dem schaffenden Geist
-der Zeit. Gründen Sie also ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen
-unmittelbaren Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen
-Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für Herstellung und
-Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu das Verlagsrecht meiner
-Holzschnitte und zahlreicher Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre
-Druckerei und Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit
-Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen wir eine
-kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe! Nehmen Sie mich als
-Berater oder Direktor, für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein
-Freund von mir modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich
-auch auf Bronzeguß.«
-
-Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt beinahe
-wieder lachen konnte. Überall sollte er der Unternehmer sein, das
-Geld aufbringen und riskieren, Konegen aber war der Direktor, der
-Beirat, der technische Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten
-Male erkannte Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle
-Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur um dessen eigene
-Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht kreisten, und er sah nachträglich
-mit Unbehagen, wie wenig schön die Rolle war, die er in der Vorstellung
-und den Absichten dieser Leute gespielt hatte.
-
-Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf dachte, sich
-still von diesem Umgang zurückzuziehen, unter möglichster Delikatesse
-und Schonung. Denn kaum hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten
-Beredungsversuchen eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht gesonnen
-war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen, so fiel die ganze
-Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie gewesen. Der Doktor hatte diesen
-Leuten ihre paar Holzschnitte und Töpfchen längst abgekauft, einigen
-auch kleine Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen
-wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten der Boheme
-noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem Erstaunen von seinen
-Künstlerfreunden vergessen und kaum mehr gegrüßt, während er sich
-noch damit quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig
-einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch den Entwurf zu
-einem Exlibris zu, das Herr Reichardt einmal mündlich bei ihm bestellt
-habe. Er kaufte das kleine Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages
-nicht erinnerte, und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens
-Holzschnitte barg.
-
-
-3
-
-Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause bei der
-Frau Rat Weinland vor, wo es ihm jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der
-vornehme Ton dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz
-zu den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der junge Mann
-sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz anzunehmen, und immer
-ernsthafter beschäftigte ihn die Tochter, die ihn zweimal allein
-empfing, und deren strenge Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte.
-Denn er fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden oder
-doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer damenhaften
-Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein schien. Und zwar besaß sie
-jene praktische, auf das Notwendige und Nächste gerichtete Klugheit,
-welche das nur spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht
-kennt und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß als
-philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm doch jedesmal Eindruck
-machte.
-
-Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für den Zustand, in
-dem sie ihn befangen sah, und wurde nicht müde, ihn auszufragen und
-ihm zuzureden, ja sie machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines
-Mannes unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen wie man
-Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und festem Willen an einem
-bestimmten Punkte zu beginnen. Von den Weisheiten des Malers Konegen
-hielt sie ebenso wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt
-mitgebracht hatte.
-
-»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe, Ihr Freund
-treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es sind, so viel ich davon
-verstehe, Nachahmungen japanischer Arbeiten, die vielleicht den Wert
-von Stilübungen haben können. Mein Gott, was sind denn das für Männer,
-die in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün und ein
-Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau von einigem Geschmack leistet
-ja mehr, wenn sie sich ihre Kleiderstoffe aussucht!«
-
-Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen, doch
-sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das Beispiel einer
-solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit der Nase darauf stoßen, hatte
-sein Glück ihm diese prächtige Figur in seinen Weg gestellt, daß er
-sich an sie halte und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der
-Mensch ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn er
-einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen geraten ist.
-
-Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem Maler Konegen abgetan
-war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit ungesäumt einen neuen
-stattlichen Gang erwählt, der überallhin führen konnte, und den er
-jetzt mit dem Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider
-meist nur für Undinge fähig sind.
-
-Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst und Leben, oder
-neue Wege zu einer künstlerischen Kultur« hatte er etwas erfahren,
-das er umso bereitwilliger aufnahm, als es seiner augenblicklichen
-enttäuschten Gedankenlage entsprach, nämlich daß es nottue, aus
-allen ästhetischen und intellektualistischen Interessantheiten
-herauszukommen. Fort mit der formalistischen und negativen Kritik
-unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun auf Kosten
-heiliger Güter und Angelegenheiten unserer Zeit! Dies war der Ruf, dem
-er wie ein Erlöster folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung
-sofort und unbedingt, einerlei wohin er führe.
-
-Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds
-Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer neuen Ethik. War
-nicht ringsum alles faul und verdorben, wohin der Blick auch fallen
-mochte? Unsere Häuser, Möbel und Kleider geschmacklos, auf Schein
-berechnet und unecht, unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere
-Wissenschaft verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum
-verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem, und war
-es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche Widerspiel ihres wahren
-Ideals darstellte? Warf sie etwa, wie sie könnte und sollte, Schönheit
-und Heiterkeit in die Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie
-Freude und Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte Geld
-verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst war jede geistige
-Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß mit der Unkultur.
-
-Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit und Schwindel
-umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch beschmutzt und vom
-Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend;
-jede echte und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, die
-er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen betrachtet hatte,
-enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis. Berthold fühlte sich für dies
-alles mit verantwortlich und zur Mitarbeit an der neuen Ethik und
-Kultur verpflichtet.
-
-Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon berichtete, wurde
-sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold gerne und traute es sich
-zu, ihm zu einem tüchtigen und schönen Leben zu verhelfen, und nun
-sah sie ihn, der sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und
-Umtriebe stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen er nur
-zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung recht deutlich und
-meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle mache oder einen Knopf
-annähe, sei der Menschheit und der Kultur gewiß nützlicher und lieber
-als alle Propheten. Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß genug,
-edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige seien dazu berufen, das
-Bestehende anzugreifen und Lehrer der Menschheit zu werden.
-
-Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung, die sie
-äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit welcher es zu halten
-sein Gewissen ihm verbiete. Es war der erste kleine Streit, den die
-beiden hatten, und Agnes sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer
-weiter von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in endlose
-Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen wurde. Schon war
-er im Begriffe, blind und stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu
-segeln, wo sie auf ihn wartete.
-
-Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den Einfluß eines
-wirklichen Propheten geriet, den er in einem ethischen Verein kennen
-gelernt hatte. Dieser Mann, welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst
-Theologe, dann Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam,
-rasch eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten
-gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur unerbittlich im
-Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände, sondern persönlich auch
-zu jeder Stunde bereit war, für seine Gedanken einzustehen und sich
-ihnen zu opfern. Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über
-den heiligen Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang
-seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum erklärt und den
-Gegensatz von heiliger Intuition und echter Sittlichkeit gegen Dogma
-und Kirchenmacht auf das Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel
-deshalb vertrieben, nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte
-bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber seltsamer
-mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden machten. Seit Jahren
-aber lebte er nun auf Reisen, ohne Erwerb und ohne festen Wohnort,
-ganz dem Drange seiner Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos
-sein letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den
-Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig, stets in
-dasselbe anständige, doch überaus einfache Lodenkleid gehüllt, das
-er auch auf seinen Fußwanderungen und Reisen trug. Seine Lehre war
-ohne feste Dogmen, er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit
-und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge
-verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er kennen lernte, sagte »Es
-freut mich,« so galt das für eine Auszeichnung, und eben das hatte er
-zu Reichardt gesagt.
-
-Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann gesehen hatte und
-seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis zu Agnes Weinland immer
-lockerer und unsicherer. Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in
-seinem Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen
-kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder Beichtvater einen jungen
-Menschen, der mit sich unzufrieden ist, vor allem nach einer etwaigen
-Liebe oder Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran
-nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten jungen
-Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten Platz finden konnte,
-und den er keineswegs zu beruhigen und zu versöhnen dachte, denn er
-liebte und brauchte solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus
-deren Bedürfnis und Auflehnung er die Entstehung der besseren Zeiten
-erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer stets an ihren
-eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie der Weltordnung zuschreiben,
-und über die sie niemals hinauskommen, war dieser holländische Prophet
-gegen sein eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und
-richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf jene Übel,
-die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer menschlichen Friedens
-ansah. Er haßte den Krieg und die Machtpolitik, er haßte das Geld und
-den Luxus, und er sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und
-aus dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie einst das Übel
-vernichte. In der Tat kannte er Hunderte und Tausende von notleidenden
-und suchenden Seelen in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen
-reichten vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die
-Friedens- und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste und auf
-Madeira.
-
-Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen. Van
-Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München auf und wohnte bei einem
-schwedischen Maler, in dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte
-ausspannte, und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug
-reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten. Öffentliche
-Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis spät und selbst bei
-Gängen auf der Straße umgeben von einem Kreise Gleichgesinnter oder
-Ratsuchender, mit denen er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu
-ermüden. Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle
-Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen und ihre
-Sprüche als Belege für seine Lehre zu zitieren, nicht nur den heiligen
-Franz, sondern ebenso Jesus selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius.
-Hätte Berthold seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie
-vielleicht wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte er sofort
-ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit erkannt. So aber
-unterlag er willig dem Einfluß einer so starken und seltsam anziehenden
-Persönlichkeit.
-
-Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van Vlissens Nähe
-hielten. Aber Reichardt war einer von den ganz Wenigen, die sich nicht
-mit der Sensation und Stimmung des gegenwärtigen Augenblicks begnügten,
-sondern eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten, wozu es
-gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber eines ungetrübten und
-zarten sittlichen Empfindens bedarf.
-
-In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre Mutter nur ein
-einzigesmal. Die Frauen bemerkten die Veränderung seines Wesens
-alsbald; seine fast knabenhafte Begeisterung, die doch keinen kleinsten
-Widerspruch ertragen konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner
-Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos in seinem
-glücklichen Eifer sich immer heißer und immer weiter von Agnes weg
-redete, sorgte der böse Feind dafür, daß auch noch gerade heute ihn das
-denkbar unglücklichste Thema beschäftigen mußte.
-
-Dieses war die damals vielbesprochene Reform der Frauenkleidung,
-welche von vielen Seiten fanatisch gefordert wurde, von Künstlern aus
-ästhetischen Gründen, von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern
-aus ethischen. Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften
-Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen die bisherigen
-Frauenkleider auftrat und der Mode ihre Lebensberechtigung absprach,
-sah man freilich die schönen und eleganten Frauen der berühmten
-Künstler, Ärzte und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen
-Schein dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer
-begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung der Augen liegen, diese
-eleganten Frauen gefielen sich und der Welt entschieden besser als
-die Erstlingsopfer der neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast
-faltenlosen Kostümen einhergingen.
-
-Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite der Reformer.
-Die anfangs humoristischen, dann ernster werdenden und schließlich
-leicht indignierten Einwürfe der beiden Damen beantwortete er nicht
-gerade heftig oder unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen
-Tone, wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame versuchte
-mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken, doch vergebens, bis
-schließlich Agnes mit Entschiedenheit sagte: »Sprechen wir nicht mehr
-davon! Ich bin darüber erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem
-Gebiet verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen glaubte,
-denn ich mache alle meine Kleider selber. Da habe ich denn also, ohne
-es zu ahnen, Ihre Gesinnungen und Ihren Geschmack durch meine Trachten
-fortwährend beleidigt.«
-
-Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat und anmaßend
-sein Predigen gewesen sei, und errötend bat er um Entschuldigung.
-»Meine Überzeugung zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft,
-»aber es ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen
-Augenblick dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche Kritik
-viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich selbst wider meine
-Anschauungen sündige, indem Sie mich in einer Kleidung sehen, deren
-Prinzip ich verwerfe. Mit anderen Änderungen meiner Lebensweise, die
-ich schon vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen,
-mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen darf.«
-
-Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine Gestalt, die in
-ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung recht hübsch und nobel
-aussah, und sie rief mit einem Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst
-hier in München in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!«
-
-»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich und
-unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich überhaupt nicht in das
-Stadtleben tauge, und will mich in Bälde auf das Land zurückziehen, um
-in schlichter Tätigkeit ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.«
-
-Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen, lag lähmend
-über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt nach wenigen Minuten
-Abschied nahm. Er reichte der Rätin die Hand, dann der Tochter, die
-jedoch erklärte, ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie
-noch nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und wartete,
-bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die Tür zur Treppe, und
-als er ihr nun Abschied nehmend die Hand gab, hielt sie diese einen
-Augenblick fest, sah ihn mit dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht
-durchdringend an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von dem,
-was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.«
-
-Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief ihn ein
-süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick mußte er es sich
-wie eine selige Erlösung vorstellen, sein Leben dieser Frau in die
-Hände zu geben. Er fühlte, wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit
-sie ihm hatte entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang
-schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze Gebäude
-seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen.
-
-Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die Türe hinter ihm
-geschlossen.
-
-
-4
-
-Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein Jünger unsicher
-geworden und von fremden Einflüssen gestört war. Er sah ihm lächelnd
-ins Gesicht, mit seinen merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch
-tat er keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick in
-Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange ein. Das
-hatte er noch nie getan, und Berthold ließ alsbald einen Wagen kommen,
-in dem sie weit vor die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde
-ließ van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der Wald stand
-vorwinterlich verlassen unter dem bleichen grauen Himmel, es war weit
-und still, nur aus großer Ferne her hörten sie die Axtschläge von
-Holzhauern durch die graue Kühle klingen.
-
-Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt mit leichtem,
-wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam mit allen Sinnen die Waldstille
-einatmend und durchdringend. Wie er die Luft eintrank und den Boden
-trat, wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit lautloser
-Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden Specht aufmerksam machte,
-da war etwas still Zwingendes in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit
-und überall mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige Mann
-wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu durchwandern schien,
-dessen heimlicher König er war. Aus dem Walde tretend sahen sie weite
-Äcker ausgebreitet, ein Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren
-Gäulen dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von Saat und
-Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen Dingen und entfaltete
-in einfachen Worten ein Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe
-Bauer unbewußt führe, das aber, von bewußten und dankbaren Menschen
-geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer Kraft sein müsse.
-Und der Jünger fühlte, wie die Weite und Stille und der ruhige große
-Atem der ländlichen Natur Sprache gewann und sich seines Herzens
-bemächtigte. Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück.
-
-Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach Tirol, und
-Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen südlichen Tal kaufte er
-einen Obstgarten und ein kleines, etwas verfallenes Weinberghäuschen,
-in das er ohne Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu
-beginnen. Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie das des
-Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach München zurück, wo er
-sein Zelt abbrechen und Abschied nehmen wollte.
-
-Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen, daß ihr
-Rettungsversuch vergeblich gewesen sei. Das stolze Mädchen war betrübt,
-den Mann und die an ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht
-minder in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von
-ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung so weit
-entgegengekommen war.
-
-Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie alle Lust, ihn
-gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre Verstimmung und sah ihm
-ohne eigentliche Hoffnung, doch mit einer gewissen erregten Neugierde
-entgegen. Die Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung zu
-Bette.
-
-Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten, um den sie mit
-einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und der nun etwas verlegen
-und wunderlich verändert vor ihr stand. Er trug nämlich die Tracht
-van Vlissens, Wams und Beinkleider von grobem Filztuch, statt
-steifgebügelter Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem
-ziemlich breiten weichen Halskragen.
-
-Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock oder im
-modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete ihn einen Augenblick
-mit Enttäuschung und Staunen, dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte
-mit einem kleinen Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr
-Doktor.«
-
-Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie wissen ja auch,
-was diese Veränderung bedeutet. Ich komme, um Abschied zu nehmen, denn
-ich übersiedele dieser Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.«
-
-»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja gar nichts.«
-
-»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört mir erst seit
-einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt, sich um mein Vorhaben
-und Ergehen zu kümmern, darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft
-schuldig zu sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht mehr
-rechnen?«
-
-Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah ihn an.
-
-»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert, so
-lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil daran nehmen konnte. Für
-die Versuche mit Tolstoischer Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich
-aber leider nur wenig Interesse aufbringen.«
-
-»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber wie Sie auch von
-mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich werde Sie nicht vergessen können,
-und ich hoffe von Herzen, Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen,
-sobald Sie mich hierin ganz verstehen.«
-
-»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.«
-
-Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn wir beide guten
-Willens wären, glauben Sie nicht, daß Sie dann vielleicht diesen Weg
-mit mir gemeinsam gehen könnten?«
-
-Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr Reichardt, das
-glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück wünschen. Aber ich bin in
-all meiner Armut gar nicht so unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg
-zu teilen, der aus der Welt hinaus ins Unsichere führt.«
-
-Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen Sie nur Ihren
-Weg! Gehen Sie ihn!«
-
-Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie ihn ein sich zu
-verabschieden, was er betroffen und bekümmert tat, und indessen er
-draußen die Türe öffnete und schloß und die Treppe hinabstieg, hatte
-sie, die seine Schritte verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich
-bittere und hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende Mann,
-als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und köstliche Sache
-zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit des andern dachte.
-
-
-5
-
-Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den ersten Anfängen
-sah es gar nicht übel aus. Wenn er ziemlich früh am Morgen das Lager
-verließ, das er sich selber bereitete, schaute durch das kleine
-Fenster seiner Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an
-dessen tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann mit
-angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings, mit
-dem Waschen oder auch Baden im Brunnentrog, je nach der Wärme des
-Tages, mit dem Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer,
-Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich zu
-seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber und Minister Xaver
-aus dem Dorfe, der auch das Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold
-nun an die Arbeit, bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen
-oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes Anleitung die
-wichtigsten Geräte handhaben, die Gais melken und füttern, den Boden
-graben, Obstbäume putzen, den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den
-Herd spalten und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst,
-so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe und Strohseile
-geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche Dinge betrieben, wobei
-der Knecht vergnügt seine Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk
-hervor eine Menge Geschichten erzählte.
-
-Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes und halbmüßiges
-wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die kräftige Würze der Arbeit, die
-ihm nicht minder gefiel und wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst
-gespaltenen Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen
-schwarzen Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und das Wasser
-oder die Milch im viel zu großen Hängekessel zu sieden begann, dann
-konnte er ein robustes Lebensgefühl robinsonschen Behagens in den
-Gliedern spüren, das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte,
-und in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren Erlösung
-zu kosten meinte.
-
-In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter nichts
-Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher Arbeit zu spielen,
-die Gedanken ruhen zu lassen und die Glieder zu ermüden, früh schlafen
-zu gehen und früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und
-erworbene Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden wechseln,
-und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend mit dem Gehirn zu
-arbeiten, der kann kein Kleinbauer mehr werden. Diese Binsenwahrheit
-mußte auch Reichardt erfahren.
-
-Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann ging der Knecht
-mit seinem guten Tagelohn nach Hause oder ins Wirtshaus, um unter
-seinesgleichen froh zu sein und von dem Treiben seines wunderlichen
-Brotgebers zu erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den
-Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten- und Obstbau
-handelten. Diese vermochten ihn aber nicht lange zu fesseln. Er las und
-lernte gläubig, daß das Steinobst die Neigung hat, mit seinen Wurzeln
-in die Breite zu gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß
-dem Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige feuchte
-Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß die Samen von Lauch
-und Zwiebeln ihre Keimkraft nach zwei Jahren verlieren, während die
-Kerne von Gurken und Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste
-Jahr behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese Dinge, die
-er von Xaver doch besser lernen konnte, und er gab diese Lektüre auf.
-
-Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor, der sich in der
-letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt, da er dies und jenes
-Zeitbuch auf dringende Empfehlungen hin gekauft hatte, zum Lesen aber
-nie gekommen war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode
-in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen. Beim Ordnen dieser
-Bücher und Schriften fielen ihm freilich einige in die Hände, die
-er als unnütz beiseite tat, denn sie stammten aus den Tagen seines
-Verkehrs mit Hans Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«, vom
-»Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann folgten zwei Bändchen
-von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung über den Heiligen von Assisi,
-Schriften wider den Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den
-Luxus, den Industrialismus, den Krieg.
-
-Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige wieder
-kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien bestätigt, er
-sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an der Philosophie der
-Unzufriedenen, Asketen und Idealisten, aus deren Schriften her ein
-feiner Heiligenschein über sein eigenes jetziges Leben fiel. Und als
-nun bald der Frühling begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen
-natürlicher Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem Rechen
-hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem Leben die schöne,
-vertrauensvolle Arbeit des Säens und hatte seine Lust am Keimen und
-Gedeihen der Gewächse. Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die
-Abende hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten, und in
-den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie ein rechter Bauer.
-Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf den Spaten gestützt oder am
-Brunnen das Vollwerden der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland
-denken mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber
-das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es mit der Zeit wohl
-vollends zu überwinden, denn er meinte, es wäre doch töricht und schade
-gewesen, hätte er sich von dieser Liebe verführen und in der argen Welt
-zurückhalten lassen.
-
-Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich auch die Einsamkeit
-mehr und mehr verlor wie ein Winternebel. Von dieser Zeit an erschienen
-je und je unerwartete, freundlich aufgenommene Gäste verschiedener
-Art, lauter fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren
-eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle aus unbekannter
-Quelle seine Adresse wußten und keiner ihres Ordens durch das Tal
-zog, ohne ihn heimzusuchen. Es waren dies verstreute Angehörige jener
-großen Schar von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen
-Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen, und deren einzelne
-Typen nun Berthold allmählich unterscheiden lernte. Denn ihrer sind
-viele, aber sie lassen sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und
-Gruppen wie andere Lebewesen auch.
-
-Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich aussehender
-Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt mit Vorträgen über die
-Gefahren des Alkohols bereiste und auf einer Ferientour unterwegs war.
-Er blieb nur eine Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein
-angenehmes Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen und gehöre
-einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender Menschen an.
-
-Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein regsamer,
-begeisterter Herr in einem weiten altmodischen Gehrocke, zu welchem
-er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd, gelbe karrierte Beinkleider
-und auf dem Kopfe einen hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut
-trug. Dieser Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm
-sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte seinen Namen so
-bescheiden lächelnd und alle zu hohen Ehrbezeugungen im voraus etwas
-nervös ablehnend, daß Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da
-er ihn nicht kannte und seinen Namen nie gehört hatte.
-
-Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte hervorging, ein
-hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog wundersame Heilungen, wegen
-deren er zwar von Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja
-grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und Gerechten aber
-desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben in Italien einer Gräfin,
-deren Namen er nicht verraten dürfe, durch bloßes Händeauflegen das
-schon verloren gegebene Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein
-Verächter der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß auf
-dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche Bedürftige sehnlich
-erwarteten. Leider sehe er sich die Reise durch Geldmangel erschwert,
-denn es sei ihm unmöglich, für seine Heilungen anderen Entgelt
-anzunehmen, als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich
-daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn gewiesen,
-um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht seiner Person -- an
-welcher nichts gelegen sei -- sondern eben den auf seine Rückkunft
-harrenden Bedürftigen zugute kommen sollte.
-
-Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann von russischem
-Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach, und dessen feine
-Gesichtszüge und Hände in Widerspruch standen mit seiner äußerst
-dürftigen Arbeiterkleidung und den zerrissenen groben Schuhen. Er
-sprach nur wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er
-einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen Künstler oder
-einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling begnügte sich damit,
-einen glühend forschenden Blick in Reichardts Gesicht zu tun und ihn
-dann mit einem geheimen Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen. Er
-ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem verwunderten Wirte
-gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende Kammer mit einer breiten
-Wandbank und fragte demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt
-nickte, lud den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener Bank
-ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch ein Wort gesprochen
-hätte. Am nächsten Morgen nahm er noch eine Tasse Milch an, sagte mit
-tiefem Gurgelton »Danke« und ging fort.
-
-Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der erste einer
-langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen und einer Art von
-baumwollener Hemdhose. Er hatte, wie die meisten Brüder seiner Zunft,
-außer einiger Arbeitsscheu keine Laster, sondern war ein lieber,
-kindlicher Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem
-sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken
-ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie er äußerlich seine etwas
-theaterhafte Wüstentracht nicht ohne Würde trug.
-
-Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf Reichardt.
-Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern war in stolzer Demut
-überzeugt, daß auf dem Grunde seiner Lehre ganz von selbst ein neues
-paradiesisches Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich
-schon teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht
-töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, sondern
-als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen auffaßte. Ein Tier
-zu töten, schien ihm scheußlich, und er glaubte fest daran, daß nach
-Ablauf der jetzigen Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit
-von diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand es aber
-auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume zu fällen; von allen
-Gaben der Natur schienen ihm nur die Früchte dem Menschen bestimmt
-und erlaubt zu sein, welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen
-zu schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu fällen, ja
-keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore eifrig nickte: »Ganz
-recht! Wir sollen ja auch keine Häuser haben, so wenig wie Kleider,
-das alles trennt uns von der Natur und führt uns weiter zu allen den
-Bedürfnissen, um deren willen Mord und Krieg und alle Laster entstanden
-sind.« Und als Reichardt wieder einwarf, es möchte sich kaum irgendein
-Mensch finden, der in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen
-Winter überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig und
-sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet. Eben das ist
-ja die Hauptquelle alles Elends in der Welt, daß der Mensch seine Wiege
-und natürliche Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der Weg
-der Menschheit zurückführen, und dann werden wir alle wieder im Garten
-Eden sein.«
-
-Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse Freude
-an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von manchen
-anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und er hätte
-ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse
-ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke gemacht und
-sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt, wie er sie jetzt sah und
-nicht anders sehen konnte, bestand aus dem kleinen Kreise primitiver
-Tätigkeiten, denen er oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als
-auf der einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von ihm
-verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt verteilte kleine
-Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich zurechnen mußte, und zu der
-auch alle die Gäste zählten, deren manche tagelang bei ihm blieben und
-gegen deren drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während ihr
-Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus die Luft war, in der
-sein Geist atmete.
-
-Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen
-Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder hatten. Askese und
-Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase waren nicht Erscheinungen gewisser
-Zeiten und Religionen, sondern immer und überall in tausend Formen
-unter den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und alle diese
-Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten gehörten in diesen Kreis.
-Sie waren das Salz der Erde, die Umschaffenden und Zukunftbringenden,
-geheime geistige Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den
-Fasten und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien der
-langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern der Magnetiseure oder
-Gesundbeter.
-
-Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald wieder eine
-systematische Theorie oder Weltanschauung werde, dafür sorgte nicht
-nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis, sondern auch eine ganze
-Literatur von Schriften, die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht,
-teils zugesandt, teils als notwendig empfohlen wurden. Eine
-seltsame Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend mit
-vegetarischen Kochbüchern und endend mit den tollsten mystischen
-Systemen, über Christentum, Platonismus, Gnostizismus, Spiritismus
-und Theosophie hinweg alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen
-diesen Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei
-umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der pythagoreischen Lehre
-mit dem Spiritismus darzutun, der andere Jesus als Verkündiger des
-Vegetarismus zu deuten, der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine
-Übergangsstufe der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung nur
-vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die wandellose leibliche
-Unsterblichkeit der Individuen anstrebe.
-
-Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und Herbstes und mit
-dieser Büchersammlung fand sich Berthold schließlich bei rasch
-abnehmenden Tagen seinem zweiten tiroler Winter gegenübergestellt. Mit
-dem Eintritt der kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte
-nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte, urplötzlich auf
-wie mit der Schere abgeschnitten. Die Apostel und Brüder saßen jetzt
-entweder still im eigenen Winternest oder hielten sich, soweit sie
-heimatlos von Wanderung und Bettel lebten, an andere Gegenden und an
-die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen.
-
-Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung, die er bezog, die
-Nachricht von dem Tode des Eduard van Vlissen. Der hatte in einem
-Dorf an der russischen Grenze, wo er der Cholera wegen in Quarantäne
-gehalten, aber kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den
-Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen worden.
-
-
-6
-
-Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale zu. Seit
-einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden nimmer verlassen und sich
-zugeschworen, auch ferner dem Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die
-Genügsamkeit und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in
-seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen im Schnee
-herum, denn der Winter war viel härter als der vorjährige, und überließ
-die häusliche Handarbeit immer häufiger dem Xaver, der sich längst in
-dem kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen so ziemlich
-verlernt hatte.
-
-Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben, so mußte
-er doch alle die unendlich langen, stillen, toten Abende allein in
-der Hütte sitzen, und ihm gegenüber mit furchtbaren großen Augen saß
-die Einsamkeit wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als
-durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen, und der ihn
-doch von hinten überfiel, so oft er den Blick abwandte. Die Einsamkeit
-saß nachts auf seinem Bett, wenn er durch leibliche Ermüdung den
-Schlaf gefunden hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und
-wenn am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen Schritten
-pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das Dorf verschwand, sah
-ihm sein Herr nicht selten mit nacktem Neide nach. Für unbefestigte
-Menschen ist nichts gefährlicher und seelenmordender als die beständige
-Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen Leben,
-der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche. Die ganze Krankheit
-dieses Zustandes mußte nun der gute Eremit an sich erleben, und durch
-die Lektüre so manches mystischen Buches geschult konnte er nun an sich
-selbst beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden von
-den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler in der Wüste Thebais
-waren. Von den Entrückungen und dem Einswerden mit dem Herzschlag der
-Natur, welche jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts
-zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des freiwillig
-Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt.
-
-So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet und an der
-Wurzel der Seele krank. Er sah übel aus, und seine früheren Freunde
-hätten ihn nicht mehr erkannt; denn über dem wetterfarbenen, aber
-eingesunkenen Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus dem
-hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit scheu geworden
-die Augen, als hätten sie niemals gelacht und niemals sich unschuldig
-an der Buntheit der Welt gefreut.
-
-Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in einer schlimmen
-Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus auf. Sauber gebürstet
-und gekämmt, doch fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte
-sich an einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur wenige
-Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille bei seinem Eintritt,
-das einsilbige Grüßen und nachherige Wegrücken der Tischnachbarn, das
-verhaltene Lachen am Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen
-ihn bereuen, daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet wie
-van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine Überlegenheit bewahrt
-hatte! Bedrückt und beinahe weinend vor Enttäuschung und Schwächegefühl
-ging er bald wieder davon.
-
-Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines Tages der Knecht
-mit der Zeitung auch einen kleinen Brief herauf, die gedruckte
-Einladung zu einer Versammlung aller derer, die mit Wort oder Tat
-sich um eine Reform des Lebens und der Menschheit mühten. Die
-Versammlung, zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und
-andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende des Februar
-in München abgehalten werden. Wohlfeile Wohnungen und fleischfreie
-Kosttische zu vermitteln erbot sich ein dortiger Verein.
-
-Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm diese Einladung eine
-Erlösung oder Versuchung bedeute, dann aber faßte er seinen Entschluß
-und meldete sich in München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an
-nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise, so einfach
-sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr eingesponnen hier gehaust
-hatte, Gedanken und Sorgen; er ließ sich ein Kursbuch kommen und las
-nachdenklich die Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er
-von mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte. Gern hätte
-er auch zum Bader geschickt und sich Bart und Haar zuschneiden lassen,
-doch scheute er davor zurück, da es ihm als eine feige Konzession
-an die Weltsitten erschien, und da er wußte, daß manche der ihm
-befreundeten Sektierer auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf
-die religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses. Dafür ließ
-er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen, gleich in Art und Schnitt
-wie sein van Vlissensches Büßerkleid, aber von gutem Tuche, und einen
-langen, landesüblichen Lodenkragen als Mantel.
-
-Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen sein Häuschen,
-dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver abgab, und wanderte in der
-Dämmerung das stille Tal hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun
-im Wartesaal, von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet,
-und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne wäre er in der zweiten
-oder ersten Klasse gefahren, nicht so sehr aus alter Gewohnheit als um
-weniger beobachtet unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die
-Schändlichkeit eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht
-war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier schöner
-Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte er sich die Kinder
-einer Bauernfrau zu Freunden und kam mit den Leuten in ein leidliches
-Gespräch, das ihm wohltat und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen
-und nahm beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied.
-Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr gekosteten frohen
-Reiseunruhe im Münchener Zug und fuhr aufmerksam durch das schöne Land,
-unendlich froh, dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse
-Tage entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung. Wie war
-das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim und München und die ganze
-alte Welt noch unverändert und gleichmütig dastand, und daß alles
-das, was er sich aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen
-ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte!
-
-Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und es begrüßten
-den Ankommenden gleich am Bahnhof die ersten Zeichen derselben.
-Aus einem Zug, der mit dem seinen zugleich ankam, stieg eine ganze
-Gesellschaft von Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen
-und auf Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere
-Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten die Brüder,
-bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession in Bewegung setzten.
-Reichardt, den ein ebenfalls heute zugereister Buddhist, einer seiner
-Sommerbesuche, erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt
-er seinen Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen,
-deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde augenblicklich peinlich
-störend auffiel. Unter dem lauten Vergnügen einer nachfolgenden
-Knabenhorde und den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte
-die seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale.
-
-Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene Wohnung
-und bekam einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt. Er
-verabschiedete sich, nahm an der nächsten Straßenecke einen Wagen
-und fuhr, ermüdet und verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da
-rauschte um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn nichts
-mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude, in denen er
-einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik getrieben hatte, dort lag
-seine ehemalige Wohnung, mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte
-früher der Justizrat Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und
-beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem zu tun, und
-doch bereitete jede von den wieder erweckten Erinnerungen ihm einen
-leisen süßen Schmerz. Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie
-ehemals und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge noch
-Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen Rädern zu den
-Theatern, und Soldaten hatten ihre Mädel am Arm.
-
-Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche Licht, das im
-feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte, und das
-Gesumme der Wagen und Schritte, das ganze wie selbstverständlich
-spielende Getriebe. Da war Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber
-da war auch Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem
-war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige Lebenslust
-einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte sein wollen, und die ihn
-einfach beiseite getan hatte, ohne einen Verlust zu fühlen, während
-sein bißchen Glück darüber in Scherben gegangen war. Und dies alles
-sprach zu ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und machte
-ihn traurig.
-
-Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem Zettel folgend
-stieg er zwei Treppen hinan und wurde von einer kleinen roten Frau,
-die ihn fast mißtrauisch musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen
-geführt, das ihn kalt und ungastlich empfing.
-
-»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl und bedeutete
-ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im Voraus zu erlegen sei.
-
-Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während sie auf die Zahlung
-lauerte, nach einem besseren Zimmer.
-
-»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren Zimmer, in ganz
-München nicht,« sagte die Frau kurz und sachlich. Nun mußte er lächeln.
-
-»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte er rasch. »Ich
-suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer, nicht eine Schlafstelle.
-Die Herren, die hier für mich bestellt haben, waren so freundlich,
-meine Börse möglichst schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am
-Preise, wenn Sie ein schöneres Zimmer haben.«
-
-Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran, öffnete ein
-anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht an und sagte: »Das hier
-wäre noch frei, das kostet aber dreieinhalb.«
-
-Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und wohnlich, fast
-behaglich eingerichteten Zimmer um, legte den Mantel ab, gab der Frau
-ihr Geld für einige Tage voraus und sah erst nachträglich, als er
-in dem fremden Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er
-allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung ohne anderes
-Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf einen besseren Empfang
-machen durfte.
-
-
-7
-
-Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen fremden Bett erwachte
-und sich auf den vorigen Abend besann, ward ihm bewußt, daß seine
-Unzufriedenheit mit der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges
-Verlangen nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen
-sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg vielmehr munter aus
-dem Bette und sah dem Tag mit Spannung entgegen. Früh ging er aus,
-und beim nüchternen Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte
-er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit einer gewissen
-frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte. Es war herrlich, hier
-umherzugehen und als kleiner Mitbewohner dem großen Mechanismus einer
-schönen Stadt anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit zu
-lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren. Sogar die weither
-ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken klangen ihm nicht häßlich und
-erinnerten ihn nicht an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur,
-daß jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen.
-
-Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen, er suchte
-daher eine volkstümliche Frühstückshalle, um eine Schale Milch zu
-genießen.
-
-»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon einzugießen.
-Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und roch mit heimlichem Vergnügen
-den Duft des Trankes, den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er
-es bei diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot dazu und
-nahm eine Zeitung zur Hand.
-
-Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige Versammlung
-angekündigt und begrüßt wurde. Man sei gespannt, hieß es, auf
-diesen Kongreß von Menschen, die ein redliches Bemühen um wichtige
-Lebensfragen vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei
-widerstreitender Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag
-gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott wurde einiger
-Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht und mit Aufrichtigkeit
-bedauert, daß die Mehrzahl dieser Weltverbesserer allzufern vom
-Tagesleben sich in Spekulationen verliere, statt tätig da und dort
-mitzuwirken und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen der
-Zeit zu beteiligen.
-
-Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel dem stillen
-Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von der gehässigen
-Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher die meisten Schriften
-der neuen Propheten die Welt beurteilten. Nachdenklich ging er weg
-und suchte den Versammlungssaal auf, den er mit Palmen und Lorbeer
-geschmückt und schon von vielen Gästen belebt fand. Die Naturburschen
-waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen oder
-tropischen Kostüme fielen auch hier als Seltsamkeiten auf, dafür sah
-man manchen feinen Gelehrtenkopf und viel Künstlerjugend. Die gestrige
-Gruppe von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche Insel im
-Gewoge.
-
-Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und sprach den Wunsch
-aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen möchten sich hier nicht
-noch weiter auseinanderreden, sondern das Gemeinsame suchen und Freunde
-werden. Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen
-der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des Weltfriedens. Ihm folgte
-ein greiser Theosoph aus England, der seinen Glauben als universale
-Vereinigung der einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl.
-Ihn löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit
-für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen
-Weltreligion als eine gefährliche Utopie brandmarkte, da jede Nation
-oder doch jede Rasse das Bedürfnis und Recht auf einen eigenen, nach
-seiner Sonderart geformten und gefärbten Glauben habe.
-
-Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende Frau unwohl,
-und er begleitete sie hilfreich durch den Saal bis zum nächsten
-Ausgang. Um nicht weiter zu stören, blieb er alsdann hier stehen und
-suchte den Faden des Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick
-über die benachbarten Stuhlreihen wanderte.
-
-Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung eine schöne
-Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen hielt, und während sein
-Herz unruhig wurde und jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn
-jäh verließ, erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er
-sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung als die eines
-Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung unerwartet über fremde Höhen
-hinweg die Türme der Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie,
-stolze Haltung ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen Umriß
-ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und Rasse, Menschenmenge und
-Ort wie Nebel dahin, und er wußte nichts auf der Welt als sich und
-sie, und wußte, der Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen
-und der Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben fehle und
-ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm helfen könne. Und dies
-alles schien ihm möglich und in Treue aufbewahrt; denn er meinte mit
-liebender Ahnung zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge
-wenig Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken an ihn
-diese Versammlung aufgesucht habe.
-
-Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur Erwiderung, und es
-machte sich bereits die erste Woge der Rechthaberei und Unduldsamkeit
-bemerklich, welche fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite,
-Freiheit und Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt
-der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte.
-
-Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher Stürme kein
-Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten, als sei sein ganzes
-Wesen sich bewußt, daß es einzig von ihr gerettet und zu Leben und
-Glück zurückgeleitet werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob
-sich das Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu und
-zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein Widerwille
-gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt wurde. Sie ging ganz nahe
-an Berthold vorbei, ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich
-sehen, wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer
-Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter und stiller
-geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich frohem Stolz, wie die
-Vorüberschreitende überall von bewundernden und achtungsvollen Blicken
-begleitet wurde.
-
-Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst in tadelloser
-Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig gleichmäßigen Schritt,
-nicht eben fröhlich, aber aufrecht und elastisch wie in einem guten
-Lebensglauben. Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor
-einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich vergnügend, ohne
-zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu folgte und in ihrer Nähe war. Und er
-blieb hinter ihr bis zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im
-Tor ihrer alten Wohnung verschwinden sah.
-
-Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte er an sich nieder. Er
-war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte, und die ganze ungepflegte
-Dürftigkeit seiner Erscheinung, die ihn schon seit gestern bedrückt
-hatte, schien ihm jetzt unerträglich. Sein erster Gang war zu einem
-Barbier, der ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte, und
-als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die Gasse trat und die
-duftige Frische der rasierten Wangen im leisen Winde spürte, fiel alle
-Befangenheit und einsiedlerische Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig
-fuhr er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen Anzug
-und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner Figur anpassen, kaufte
-nebenan weiße Wäsche, Halsbinde, Hut und amerikanische Stiefel, sah
-sein Geld zu Ende gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug
-einen Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und fand am Abend, als
-er in angenehmer Ermüdung heimkehrte, alles schon in Schachteln und
-Paketen daliegen und auf ihn warten.
-
-Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu machen, und zog
-sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit den neuen Sachen an, lächelte
-sich etwas verlegen im Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je
-in seinem Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt
-zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl geworfen, sein
-asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich geworden wie die brüchige
-Puppenhülle eines jungen Schmetterlings.
-
-Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob er noch einmal
-ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft, und er hatte kaum Antwort
-gegeben, so trat geräuschvoll ein stattlicher Mann herein, in welchem
-er sofort den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen reisenden
-Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler Einsiedelei besucht
-hatte.
-
-Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln und nahm mit
-Verwunderung dessen frische Eleganz wahr. Er selbst trug den braunen
-Hut und alten Gehrock von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze
-Weste dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für längere
-Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie oberhalb der Stiefel
-eine harmonikaähnliche Anordnung von kleinen widerwilligen Querfalten
-aufwiesen. Er beglückwünschte den Doktor zu seinem guten Aussehen und
-hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen einlud.
-
-Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon Adolfus mit Leidenschaft
-von den heutigen Reden und Verhandlungen zu sprechen und konnte es
-kaum glauben, daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag
-hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost und soziales
-Elend gesprochen und dadurch Skandal erregt, daß er beständig den
-nichtvegetarianischen Teil der Menschheit als Leichenfresser bezeichnet
-hatte. Darüber waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten
-im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt und mußte
-durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt werden. Die Buddhisten
-hatten stumm in geschlossenem Zuge den Saal verlassen, die Theosophen
-vergebens zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst
-verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem Refrain:
-
- »Ich laß der Welt ihr Teil,
- Im All allein ist Heil!«
-
-und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen
-auseinandergegangen.
-
-Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde dann gelassen
-und heiter, indem er ankündigte, er werde morgen selbst im Saale
-sprechen. Es sei ja traurig, all diesen Streit um nichts mit anzusehen,
-wenn man selbst im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er
-entwickelte seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte und in
-der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen magischen Seelenkräfte
-das Heilmittel für die Übel der Welt erblickte.
-
-»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte er einladend.
-
-»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd. »Ich kenne ja
-Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg wünsche. Ich selber bin in
-Familiensachen hier in München und morgen leider nicht frei. Aber wenn
-ich Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich es sehr
-gerne.«
-
-Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts Mienen nur
-Freundliches entdecken.
-
-»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer mit einem
-Darlehen von zehn Kronen geholfen, die nicht vergessen sind, wenn ich
-auch bis jetzt nicht in der Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir
-nun nochmals mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten -- mein Aufenthalt
-hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden, die niemand mir
-ersetzt.«
-
-Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals Glück für morgen,
-dann nahm er Abschied und ging nach Hause, um zu schlafen.
-
-Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht, da war
-Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und er lag die ganze Nacht
-brennend in Gedanken an Agnes und in tausend bitteren Zweifeln, denen
-doch das Herz in stiller Ahnung tapfer widersprach.
-
-Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von der schlaflosen
-Nacht erschöpft. Er brachte die frühen Stunden auf einem Spaziergange
-und im Schwimmbad zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor
-einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien, in einem
-hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung vor.
-
-Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile warten, dann fragte
-ihn ein kleines neues Mädchen, keine richtige Magd, erstaunt und
-unbeholfen nach seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und die
-Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche davon. Dort wurde
-nun ein Gespräch hörbar und zur Hälfte verständlich.
-
-»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt sagen, daß die gnädige
-Frau krank ist. -- Wie sieht er denn aus?«
-
-Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem blauen leinenen
-Küchenkleide, sah ihn fragend an und sprach kein Wort, da sie ihn
-unverweilt erkannte.
-
-Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?« fragte er,
-und ehe weiteres gesagt wurde, traten sie in das bekannte Wohnzimmer,
-wo die Frau Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß, sich bei
-seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos aufrichtete.
-
-»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes zur Mutter, die
-dem Besuch die Hand gab.
-
-Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube den Mann an,
-las die Not eines verfehlten und schweren Jahres in seinem mageren
-Gesicht und die Sicherheit und den Willen einer geklärten Liebe in
-seinen Augen.
-
-Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern wortlos
-angezogen gaben sie einander nochmals die Hand.
-
-»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens ihre
-Tochter große Tränen in den Augen hatte und ihr erbleichtes Gesicht
-neben dem der Mutter im Lehnstuhl verbarg.
-
-Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen sogleich wieder
-auf und lächelte noch mit Tränen in den Augen.
-
-»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann nun die alte Dame.
-Da stand das hübsche Paar schon Hand in Hand bei ihr und sah dabei so
-gut und lachend aus, als habe es schon seit langem zusammengehört.
-
-
-
-
-Emil Kolb
-
-
-Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer Teil der
-Menschheit zu bestehen scheint, könnte man als Karikaturen der
-Willensfreiheit bezeichnen. Indem sie nämlich, unendlich weit von der
-Natur abgeirrt und von der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die
-ursprüngliche Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den Ruf
-der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben sie leichtsinnig und
-unentschlossen in einem wertlosen Leben scheinbarer Willkür dahin. Da
-sie Eigenes nicht in sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen
-verwiesen und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage und
-Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich als Affen der
-Natur.
-
-Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb in Gerbersau, und der
-Zufall (da man bei solchen Menschen doch wohl nicht von Schicksal reden
-darf) brachte es dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich
-vielen anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre und Elend
-kam, obwohl er um nichts schlimmer war als tausend seiner Art.
-
-Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster, und nur seine
-Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien der Dierlamm und
-der Giebenrath hielt ihn im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades
-von Mißachtung, dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst unter ihren
-Mitbürgern genießen.
-
-Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb vorsichtigerweise
-von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen Gebrauch. Es fiel ihm nicht
-ein, etwa bei einer Leichenfeier oder in einem Festzuge neben einem
-Giebenrath schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm
-zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger und stolzer
-erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen an die ehrenvolle
-Verwandtschaft, die ihm immerhin von Nutzen war. Es war diesem
-Manne die Gabe versagt, im Walten der Natur und in der Entfaltung
-menschlicher Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen und
-anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch, was seinem Tun und Leben
-versagt war, wenigstens seinen Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt
-und schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren, schöneren
-Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete Phantasie dessen
-fähig war.
-
-Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich rüstigen
-Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien auf dessen Zukunft,
-und damit rückte dies alles, was bisher nur Gedankensünde und
-Fabelvergnügen gewesen war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen,
-das bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde. Denn
-der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche und Träume schon
-frühe als eine warme und treibende Luft um sich und gedieh darin wie
-der Kürbis im Dünger, er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren
-vor, der Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal
-unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen Religion
-das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der Eltern und Vorfahren
-schuldete. Emil Kolb fühlte den Mut in sich, einmal das Schicksal eines
-Gewaltigen auf sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs,
-und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln bei
-seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei Schüchternheit
-ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und mit ruhigem Lächeln die
-ehrerbietigen Grüße der Mitbürger einzustreichen.
-
-Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte das beste Recht
-aller Jugend sein und manchem tüchtigen Manne die Jahre schwerer
-Erwartung tragen helfen -- jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas
-anders, als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können, Macht
-des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte, sondern lediglich gut
-Essen und Wohnen, schöne Kleider und feistes Wohlergehen. Schon früh
-erschienen ihm die wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte,
-lächerlich und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen
-Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen, statt ihre
-guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar zu machen. So zeigte
-er auch für alle jene Fächer der Schulwissenschaft reichlichen Eifer,
-die von den Dingen dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung
-mit Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und anderen
-ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien.
-
-Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber vor
-der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die Torheiten der
-Dichter verstand, sondern die Pflege des Ausdruckes zugunsten realer
-geschäftlicher Handlungen und Vorteile. Er las alle Dokumente
-geschäftlicher oder rechtlicher Natur, von der einfachen Rechnung
-oder Quittung bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit
-tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er sah gar wohl, daß
-die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von der gemeinen Sprache der
-Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet
-sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und über Unverständige Vorteile
-zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er diesen Vorbildern
-beharrlich nach und brachte manche Blüte hervor, die einer kleineren
-Kanzlei kaum unwürdig gewesen wäre. Und einen in seiner Sammlung
-solcher Dokumente befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des
-Vaters ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar
-mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen bereitete.
-Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung des Vermißten: »Wer etwas
-über den Gesuchten weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt
-melden«. Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen, welche in der
-Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten beizubringen -- --«.
-
-Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den Anlaß und
-Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft. Der Lehrer hatte seine
-Klasse einst einen Aufsatz über den Frühling verfassen und mehrere
-dieser Arbeiten von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher
-zwölfjährige Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land der
-schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten ihre Aufsätze
-mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen gangbarer
-Dichter. Es war vom Amselruf und von Maifesten die Rede, und ein
-besonders Belesener hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle
-diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht zu rühren
-vermocht, er fand das alles blöd und töricht. Da kam, vom Lehrer
-aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts, Franz Remppis, an die Reihe,
-seinen Aufsatz vorzulesen. Und gleich bei den ersten Worten »Es ist
-nicht zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme
-Jahreszeit genannt zu werden verdient« -- gleich bei diesen Worten
-merkte Kolb mit entzücktem Ohre den Klang einer ihm verwandten Seele,
-lauschte scharf und beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies
-war der Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt
-und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon mit einiger
-Sicherheit anzuwenden wußte.
-
-Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler seine Anerkennung
-aus, und von der Stunde ab hatten die beiden Knaben das Gefühl,
-einander zu verstehen und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen
-je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte es auch keiner
-vom andern, vielmehr spürten sie, daß es gut sei, einander gelten und
-bestehen zu lassen, um einmal einer am andern etwas zu haben und etwa
-später größere Dinge gemeinsam unternehmen zu können.
-
-Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen
-Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile des Zusammenlegens und der
-gegenseitigen Ermunterung zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß
-Franz Remppis darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes
-dieser Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu bestehen,
-daß das Geld solange in seinen Händen bleibe, bis auch der Freund eine
-bare Einlage gemacht habe, und da es hierzu niemals kommen wollte,
-versank der gute Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den
-Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin fand Kolb sehr
-bald einen Weg, seine kümmerlichen Umstände vorteilhaft mit den weit
-bessern des Wirtssohnes zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen
-kleine Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern mit seinen
-Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum Ende der Schulzeit, und gegen
-das Versprechen eines Honorars von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb
-dem Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen, welches sie auf
-diese Weise beide wohl bestanden. Emil hatte sogar so gute Zeugnisse
-eingeheimst, daß sein Vater darauf schwor, an dem prächtigen Jungen
-sei ein Gelehrter verloren gegangen. Allein an fernere Studien war
-nicht zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und tat manchen
-sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten, um seinem Sohne einen
-besonderen Platz im Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine
-glänzende Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung
-der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen Knaben als Lehrling im
-Bankgeschäft der Brüder Dreiß unterzubringen. Damit schien ihm ein
-bedeutender Schritt nach oben hin getan und eine Gewähr für die
-Erfüllung weit kühnerer Träume gegeben.
-
-Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe widmen wollten,
-gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere Eröffnung dieser
-Laufbahn als die Lehrlingschaft bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und
-Warengeschäft war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes
-Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten Klassen, deren
-sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge in ihr Geschäft aufnahmen.
-So hatten sie stets, da die Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und
-sechs junger Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr
-an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung erhielten.
-Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des alten ehrwürdigen Hauses als
-eine überall im Lande gültige Empfehlung ins Leben mitnehmen.
-
-Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende Lehrling und
-wurde darum von manchem beneidet, der sich selbst auf diesen Ehrenplatz
-gewünscht hatte. Er selbst fand hingegen die Ehre gering und recht
-teuer bezahlt; denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem
-alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel glaubten
-abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu tun war, das zu tun sich
-jeder scheute und zu gut hielt, da rief man nach Emil, dessen Name
-immerzu gleich einer Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so
-daß der junge Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter
-den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren Kisten eine
-kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der Zukunft nachzuhängen. Es
-entschädigte ihn für dies rauhe Leben nur die sichere Rechnung auf den
-Glanz späterer Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder
-Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten und sich
-außerdem noch einen gut zahlenden Volontär hielten, pflegten an allem
-zu sparen, nur am Essen für ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb
-sich jeden Tag dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat,
-und wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung
-zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch der Lehrlinge gehörende
-Übung, welcher er mit derselben Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am
-Morgen und dem Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend.
-
-Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt in diese Vorhölle
-seines Berufes sich von dem Freund hatte trennen müssen. Franz
-Remppis wurde von seinem Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt
-und erschien eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm
-seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf dessen Ecken
-aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens Trost, daß sie beide
-einander fleißig schreiben wollten, leuchtete dem armen Emil wenig ein;
-denn er wußte nicht, woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen
-sollen.
-
-Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin Remppis von
-seinem Einstand am neuen Orte berichtete. Dieses Schreiben, das mit
-großem Fleiß und Vergnügen aus vielen vortrefflichen Phrasen und
-kaufmännischen Ausdrücken zusammengestellt war, regte Emil zu einer
-langen, sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere Abende
-hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste nicht möglich war.
-Endlich gelang es ihm doch, und er sah es vor sich selbst als eine
-Entschuldigung und halbe Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt
-dem edlen Gefühle der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige
-Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling ihm
-die Briefmarken dazu in die Hand, die er unterwegs aufkleben solle.
-Diese Gelegenheit nahm Emil wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den
-er in der Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen
-Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen ohne Marke
-in den Postkasten.
-
-Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt über eine Grenze,
-die für ihn besonders gefährlich und lockend war. Wohl hatte er auch
-zuvor schon je und je, gleich den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu
-sich gesteckt, die seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte
-Zwetschgen oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte ein
-jeder mit ganz heilem Gewissen -- sie stellten eine flotte und
-herrische Gebärde dar, womit der Täter vor sich selber prahlte und
-seine Zugehörigkeit zum Hause und dessen Vorräten dartat. Hingegen war
-mit dem Diebstahl der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit
-Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den keine Gewohnheit
-und kein Beispiel entschuldigen konnte. Es schlug denn auch dem jungen
-Missetäter das Herz in geziemender Angst, und einige Tage lang war
-er zu jeder Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und
-er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige
-Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus genascht und
-gediebelt haben, dennoch der erste richtige Diebstahl ein unheimliches
-Erlebnis, und mancher trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden.
-Wenigstens zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe ihre
-erste Untat nicht zu tragen vermögen und ohne äußere Nötigung sich
-durch ein Geständnis erleichtern und für immer reinigen.
-
-Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor der möglichen
-Entdeckung, und vermutlich brannte auch sein wenig feines Gewissen ein
-wenig, aber als die Tage gingen und die Sonne weiter schien und die
-Geschäfte ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als
-habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese Möglichkeit, in
-allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen zu ziehen, als ein Ausweg aus
-hundert Nöten, ja vielleicht als der ihm bestimmte Weg zum Glücke.
-Denn da ihn die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg zum
-Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er stets wie alle Toren
-nur das Ziel und nie den Weg bedachte, mußte die Erfahrung, daß man
-unter Umständen sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn
-gewaltig in Versuchung führen.
-
-Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für ein Männlein
-seines Alters hundert kleine schwer entbehrte Dinge, die vor seinen
-Träumen wie begehrenswerte Früchte des Paradieses hängen und welchen
-das Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt. Sobald Emil
-Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung weiteren unredlichen Erwerbs
-zu spielen, sobald der Besitz eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze
-ihm keine Unmöglichkeit mehr, sondern jederzeit erreichbar schien,
-richtete sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen, an die
-er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling Färber ein
-Taschenmesser mit einer Säge und einem Stahlrädchen zum Glasschneiden
-daran, und obwohl das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein
-Bedürfnis war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes
-von Messer überaus wünschenswert vorkommen. Und nicht übel wäre es
-auch, am Sonntag eine solche blau und braun gefärbte Krawatte zu
-tragen, wie sie jetzt bei den feineren Lehrjungen die Mode waren.
-Sodann war es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen
-Fabriklehrbuben am Feierabend schon zum Bier gingen, während ein
-Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und an Stande so viel
-höher als jene, jahraus, jahrein kein Wirtshaus von innen zu sehen
-bekam. Und war es nicht ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen
-halbwüchsigen Stricker oder Weber aus den Fabriken schon am Sonntag
-freimütig mit den Kolleginnen verkehren oder gar Arm in Arm gehen? Und
-ein junger Kaufmann sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit
-erst abwarten müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen Mädel das
-Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel anzubieten?
-
-Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende zu machen. Es
-war weder sein Gaumen für die herbe Würze des Bieres noch sein Herz
-und Auge für die Reize der Mädchen reif, aber er strebte selbst im
-Vergnügen fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und
-zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen Kollegen.
-
-Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er bedachte seine
-Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig, als er zuvor seine erste
-Berufswahl bedacht hatte, und es blieb seinem Nachdenken nicht
-verborgen, daß auch dem besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere.
-Es durfte durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum
-wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache weitläufig
-vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb den Hals wagen. So
-überlegte und untersuchte er alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm
-etwa offen standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten
-Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein erstes Lehrjahr
-tadelfrei abdiene, so würden die Herren ihm die sogenannte Portokasse
-übertragen, welche stets der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um
-also seine Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können,
-diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit. Er wäre
-darüber beinahe seinem Entschlusse untreu und wieder ehrlich geworden;
-denn der ältere von seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer
-bemerkte und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab ihm
-gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen zu, welche
-ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen. So war er häufig im Besitz
-kleinen Geldes und brachte es dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde
-sich eine von den braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit
-die Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten.
-
-Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen ersten Schritt
-in die Welt der Erwachsenen und feierte sein erstes Fest. Bisher hatte
-er sich wohl des Sonntags manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn
-sie langsam und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten,
-vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen und recht heimatlos
-und verstoßen sich umhertrieben, aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade
-entlassen und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen. Da
-hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch weit bis zu Glück und
-Ehre hätten, und hatte nicht ohne bitteren Neid den jungen Fabriklern
-nachgeschaut, die mit langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der
-Musik einer Ziehharmonika folgten.
-
-Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit einen
-festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund Remppis hatte in
-Lächstetten, wie es schien, mehr Glück gehabt als Emil daheim. Und
-neulich hatte er einen Brief geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf
-der feinen Halsbinde veranlaßt hatte.
-
-Lieber, sehr geehrter Freund!
-
-Im Besitz Deines Werten vom 12. _hujus_ bin in der angenehmen Lage,
-Dich für kommenden Sonntag, 23. _hj._, zu kleiner Fidelität einzuladen.
-Unser Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag
-seinen Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu herzlich
-einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag, da erst noch bei meinem Chef
-essen muß. Werde Sorge tragen, daß alles Deine Anerkennung findet,
-und bitte, Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen.
-Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls erbitte
-Antwort wie sonst _poste restante_ Merkur 01137. Deinem Werten mit
-Vergnügen entgegensehend empfiehlt sich mit Gruß Dein
-
- Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H.
-
-Sofort hatte Emil Kolb geantwortet:
-
-Lieber, sehr geehrter Freund!
-
-In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von gestern sage für
-Deine gütige Einladung besten Dank und wird es mir ein Vergnügen
-sein, derselben Folge zu leisten. Die Aussicht auf die Bekanntschaft
-mit den werten Herren und Damen eures löblichen Vereins ist mir so
-wertvoll wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem
-regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen.
-Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches Zusammentreffen
-verschiebend, verbleibe mit besten Grüßen Dein ergebener Freund
-
- Emil Kolb.
-
-_P. S._ In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die geschäftliche
-Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar Gebrauch machen werde, da
-zurzeit leider meine Kasse größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein
-dürfte.
-
- Dein treuer Obiger.
-
-Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen Ende Juni und da seit
-wenigen Tagen nach langem Regen heißes Sommerwetter eingetreten war,
-sah man überall die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den
-ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld für die kleine
-Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten. Darum machte er sich zeitig
-am Vormittag auf den Weg und war bis zur verabredeten Stunde lange
-genug unterwegs, um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in
-reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben tat er
-an günstigen Orten auch den eben reifenden Kirschen Ehre an und kam
-bequemlich zur rechten Zeit in Lächstetten an, das er noch nie gesehen
-hatte. Nach den Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich
-diese Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen Gerbersau
-als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster Lebenslust vorgestellt
-und war nun etwas enttäuscht, die Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen
-eher geringer und schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch
-das Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die Geheimnisse
-des Handels erlernen sollte, konnte sich mit dem stattlichen Hause
-der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht messen. Dies alles stimmte Emils
-Erwartungen und Freudebereitschaft einigermaßen herab, doch stärkten
-diese kritischen Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung, er würde
-neben der weltgewandteren und lebensfroheren Jugend dieser Stadt
-bestehen können.
-
-Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus, ohne daß er den
-Mut gefunden hätte, einzutreten und nach seinem Landsmann zu fragen.
-Er ging hin und wieder, atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft
-und wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu pfeifen, der
-in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz Remppis und ihm gegolten
-hatte. Nach einiger Zeit erschien der Gesuchte denn auch in einem
-hohen Mansardenfensterchen, winkte hinab und wies den Freund durch
-Zeichen an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz zu
-erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg und brachte seine
-Wartezeit vor dem Schaufenster eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem
-feststellte, daß es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und
-zugehe als daheim in Gerbersau.
-
-Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils Kritiklust zusammen,
-da er den Schulfreund in einem ganz neuen Anzug mit einem steifen,
-unmäßig hohen Hemdkragen und sogar mit Manschetten geschmückt sah.
-
-»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann es also
-losgehen. Hast du Zigarren?«
-
-Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll in die
-Brusttasche.
-
-»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte ich heut nicht
-frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf. Aber jetzt wollen wir
-marschieren.«
-
-So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine Enttäuschung
-doch nicht verbergen. Er war zu einem Vereinsausfluge eingeladen, er
-hatte Fahnen und vielleicht sogar Musik erwartet.
-
-»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes?«
-fragte er mißtrauisch.
-
-»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter den Fenstern der
-Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem so wie so kein Vergnügen. Nein,
-wir treffen uns vor der Stadt beim alten Galgen.«
-
-»So so. Beim Galgen?«
-
-»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da sind wir ganz sicher,
-daß keiner von den Alten hinkommt.«
-
-Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines Gehölz und ein
-altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie rasch eintraten, nachdem Franz
-sich scharf umgesehen hatte, ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden
-sie von sechs oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle
-vor hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis stellte
-seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil ward feierlich willkommen
-geheißen.
-
-»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er.
-
-»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen Verein ins Leben
-gerufen, um die Interessen unseres Standes zu fördern, vor allem aber
-um unter uns die Geselligkeit zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind,
-Herr Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.«
-
-Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen, die doch
-eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese später im Walde zu treffen
-hoffe.
-
-Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden Sommertag hinein.
-Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer Franz sich seiner Vaterstadt
-rühmte, die er in seinen Briefen beinahe verleugnet hatte.
-
-»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr, Emil, da geht es
-anders zu als hierzuland! Und was es dort für schöne Mädchen gibt!«
-
-Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig und erzählte
-freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten im Vergleich mit
-Gerbersau finde. Einige von den jungen Leuten, die schon in Gerbersau
-gewesen waren, gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los,
-rühmte ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes
-und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest, und die paar
-geborenen Lächstettener, die dabei waren, gaben ihnen recht und
-schimpften auf die eigene Heimat. Sie alle waren voll unerlöster
-Kindlichkeit und zielloser Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren
-und rückten an ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild,
-als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton, den er
-daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt hatte, und wurde mit
-allen gut Freund.
-
-Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines prächtigen
-Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft von vier
-halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern. Es waren Töchter
-geringer Häuser, denen es an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil
-schon als Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche Verhältnisse
-unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb als Fräulein Berta, Luise, Emma
-und Agnes vorgestellt. Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse
-und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die beiden anderen gingen
-lose nebenher und gaben sich Mühe, die ganze Gesellschaft zu
-unterhalten. Es war nämlich nach dem Hinzutritt der Damen die frühere
-lärmende Gesprächigkeit der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren
-Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten, in deren
-Bann auch Franz und Emil fielen. Alle diese jungen Leute waren noch
-durchaus Kinder, und ihnen allen fiel es weit leichter, die Manieren
-von Männern nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß
-zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber ohne Mädchen gewesen oder
-hätten doch mit diesen wie mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt,
-aber das schien nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die
-Mädchen ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für ihren Ruf
-diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen jungen Handelsleuten
-das nachzuahmen, was er sich nach Hörensagen und Lektüre unter einem
-feinen geselligen Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und
-gaben den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei gestimmt war,
-und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld doch der Liebe noch
-nicht fähig waren, bewegten sich recht ängstlich und befangen in einer
-phantastisch verlogenen Sphäre zierlicher Sentimentalität.
-
-Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit, und das Fräulein Emma
-verstrickte ihn bald in ein schönes Gespräch über den Reiz sommerlicher
-Waldausflüge, das später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft
-und Lebensumstände überging und wobei Emil sich nicht übel bewährte,
-da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald wußte das Mädchen alles
-Wissenswerte über den jungen Mann, den sie sich zum Kavalier für
-diesen Tag erlesen hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über
-sich und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib
-als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn Fräulein Emma nach dem
-Stande seines Vaters fragte, schien ihm das Wort Flickschuster gar zu
-schroff und häßlich und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein
-Papa habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie ein
-glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger Schuhwaren, dem ein
-solcher Duft von Eleganz und geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg,
-daß ihre weiteren Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes
-als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt zu immer
-kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit nötigten. Es entstand aus
-Fragen und Antworten eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben
-war Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht eben
-reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung und Begabung früh
-von den Schulstudien zum Handel hingeführt hatte. Er erlernte als
-Volontär, welches Wort auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen
-alten Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes und
-war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen, um
-seinen Schulfreund Franz zu besuchen. Was die Zukunft betraf, so konnte
-Emil ohne Gefahr und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden,
-und je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je mehr von
-Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war, desto mehr kam er ins
-Feuer und desto besser gefiel er dem Fräulein Emma. Diese hatte von
-ihrer Abstammung nichts und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel
-erzählt, daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten und
-leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches zu leiden habe,
-das sie jedoch kraft eines tapferen Herzens ohne Murren zu ertragen
-wisse.
-
-Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen Eigenschaften
-wie auch das Äußere des Fräuleins einen starken Eindruck. Vielleicht
-und vermutlich hätte er sich in irgendeine andere, sofern sie nicht
-gerade häßlich war, ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit
-einem Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn zeigte
-und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das er in der Stille
-sich selber noch zu jung erschien. Desto feierlicher lauschte er den
-Erzählungen der Emma und gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen.
-Es blieb ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg bei
-Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich dem Franz imponierte.
-
-So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik und lärmender
-Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein stilles Erlebnis und
-jedenfalls etwas nicht minder Schönes geworden. Es geschahen zwischen
-ihm und seinem schönen Fräulein keine Liebeserklärungen und keine
-Zärtlichkeiten, vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es
-entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen, er war zum
-erstenmal verliebt und zum erstenmal Kavalier, und beides gefiel ihm
-nicht wenig.
-
-Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge einzukehren,
-wurden in der Nähe eines Dorfes zwei von den Jünglingen auf Proviant
-ausgeschickt. Sie kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern
-wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen, wobei die
-Mädchen das Brotschneiden und Einschenken übernahmen und mit ihren
-hellen Sommerkleidern froh und festlich aussahen. Emil, der den ganzen
-Tag auf den Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit
-eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste von allen.
-Doch mußte er bei diesem ersten Fest seines Mannesalters die bittere
-Erfahrung machen, daß nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß
-seine Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines Kindes
-waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder vierten Glase Bier und
-mußte den Heimweg nach Lächstetten als Nachzügler unter des Freundes
-Obhut in Schmerzen und Reue zurücklegen.
-
-Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied und trug ihm Grüße
-an die Kameraden und an die lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu
-Gesicht bekommen hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet
-für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren durchs Fenster
-die schöne sommerliche Landschaft abendlich werden und festlich
-verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung der Rückkehr zu Arbeit und
-Entbehrung voraus und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen
-wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten zu legen.
-
-Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen seinem Freunde
-schreiben:
-
- »Lieber Freund!
-
-In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht unterlassen,
-Dir nochmals meinen Dank auszusprechen. Zu meinem lebhaften Bedauern
-ist mir unterwegs jenes Versehen passiert und hoffe ich sehr, es
-möchte Dir und den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört
-haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn Du die Güte
-haben wolltest, dem Fräulein Emma einen Gruß von mir und meine Bitte
-um Entschuldigung für jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich
-sehr gespannt, Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen,
-da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt und
-ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem Anlaß an selbe mit
-ernsteren Anträgen heranzutreten. Diesbezüglich Deine strengste
-Diskretion erbittend und voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in
-freundschaftlicher Ergebenheit Dein Emil Kolb.«
-
-Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ wissen, daß
-der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren vom Verein sich freuen
-würden, Emil bald einmal wieder bei sich zu sehen. Der Sommer ging
-hin, und die Freunde sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal,
-bei einer Zusammenkunft in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte
-zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil den Schulfreund
-bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige Wiedersehensfreude auf,
-denn Emil hatte keinen anderen Gedanken, als etwas über das Fräulein
-Emma zu erfahren, und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder
-hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem Sonntage selbst
-seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet und seinen Freund bei ihr
-auszustechen versucht. Unschönerweise hatte er damit begonnen, daß
-er dessen Legende zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung
-dargetan hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde, noch mehr
-aber wegen einer sogenannten Hasenscharte, welche Franz am Munde hatte
-und die der Emma mißfiel, wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch
-nichts erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen und
-enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen am Abend nur
-darin einig, daß keiner von beiden eine baldige Wiederholung dieser
-Zusammenkunft für notwendig hielt.
-
-Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen zwar nicht eben
-beliebt, wohl aber nützlich gemacht und soviel Vertrauen erworben,
-daß im Herbst, nach dem Avancement des ältesten Lehrlings und dem
-Eintritt eines neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer
-alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte Portokasse
-übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult angewiesen und zugleich Büchlein
-und Kasse übergeben, ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte,
-worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das bare Geld geordnet
-lagen.
-
-Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne angelangt, verwaltete
-in der ersten Zeit die paar Taler seiner Kasse mit äußerster
-Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten mit dem Gedanken vertraut, aus dieser
-Quelle zu schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese
-Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in der klugen
-Voraussetzung, man werde seine Führung in dieser ersten Zeit besonders
-genau beobachten. Vielmehr war es ein Gefühl von Feierlichkeit und
-innerer Befriedigung, das ihn gut machte und vom Bösen abhielt.
-Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor und als
-Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen und Geachteten
-emporgerückt; er genoß diese Stellung mit Andacht und sah auf
-den soeben neu eingetretenen jüngsten Lehrling mit großem Mitleid
-hernieder. Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen.
-Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung vom Bösen abzuhalten
-vermochte, so genügte auch eine Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze
-zu erinnern und diese zur Ausführung zu bringen.
-
-Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute, an einem Montage.
-Dieser Tag, an welchem nach kurzer Sonntagsfreiheit und mancher
-Lustbarkeit die Nebel des Dienstes, des Gehorchenmüssens und der
-Arbeit sich wieder für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und
-tüchtige junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten
-den Sonntag der Lust geweiht und alle gute Laune einer Woche im voraus
-verbraucht haben.
-
-Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden älteren Lehrlinge
-waren tags zuvor samt dem Herrn Volontär in der Vorstellung einer
-durchreisenden Theatertruppe gewesen und hatten nun, durch das
-gemeinsame seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander
-zu flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der Hauptstadt,
-ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden eines Komikers nach
-und weckte die Erinnerung an gestrige Genüsse jeden Augenblick von
-neuem. Emil, der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und
-kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit Neid und
-Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am frühen Morgen schon in
-bitterer Montagslaune angebrummt, allein und ausgeschlossen stand er
-an seinem Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn ohne
-Zweifel bemitleideten.
-
-Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines Prinzipals, den
-er abschicken sollte und aus dem er zuvor noch Stilistisches zu lernen
-hoffte. Es war ein Brief an einen großen Lieferanten und begann »Sehr
-geehrter Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend,
-bitte nun endlich, Berechnung über die am 11. Vorigen erhaltenen Waren
-einzusenden.« Es war nichts Neues, enttäuscht legte der Lehrling den
-Brief zu den anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem
-Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der sich zweimal
-wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen der ganzen Stadt vertraut,
-kündete den Ausrufer der Schauspielerfamilie an, der auch sogleich
-auf dem Platz erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang
-und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften! Damen und
-Herren! Es findet heute Abend acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen
-Hecht die unwiderruflich letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira
-statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der Graf von Felsheim
-oder Vaterfluch und Brudermord«. Zu dieser unwiderruflich allerletzten
-Hauptgalavorstellung wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen.
-Trara! Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände
-statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten und zweiten Rang erhält
-vollständig gratis ein Los. Trara! Trara! Letztes Auftreten
-der berühmten Truppe! Letztes Auftreten auf Wunsch zahlreicher
-Kunstfreunde! Heute Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!«
-
-Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen Montagmorgens
-traf den einsamen Lehrling ins Herz. Die Gebärden und Gesichter des
-Volontärs, das Tuscheln der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von
-unerhörtem Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden Verlangen zusammen,
-endlich auch einmal dies alles zu sehen und zu genießen, und das
-Verlangen ward alsbald zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner
-Hand.
-
-An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche Zahlen in sein
-kleines sauberes Kassabüchlein und nahm einige Nickelstücke von dem ihm
-Anvertrauten weg. Aber obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener
-Diebstahl einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig. Er
-hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat gewöhnt, er fürchtete
-keine Entdeckung, ja er fühlte einen leisen Triumph, als er sich abends
-vom Prinzipal verabschiedete. Da ging er nun hinweg, das Geld des
-Mannes in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und der
-dumme Kerl würde nichts merken.
-
-Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten, hatte er
-sagen hören, gab es noch weit größere und glänzendere Theater, und da
-gab es Leute, die jeden lieben Abend hineingingen, immer auf die besten
-Plätze. So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der Sinn des
-Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch die farbigen Figuren
-und Bilder der Bühne, außerdem war es nobel und gab Ansehen, wenn einer
-so im Parkett sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was
-vorspielen lassen konnte.
-
-Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein unsichtbares Loch,
-durch welches in aller Stille immerzu ein kleiner dünner Geldfluß
-entwich und dem Lehrling Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich
-zog hinweg in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder.
-Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf dem Brühel ein
-Karussell, und außer dem Fahrgeld und Bier oder Kuchen war meistens
-dazu auch ein neuer Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides.
-Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem verwöhnten Manne,
-der sich überlegt, wo er am kommenden Sonntag vergnügt sein will, und
-der aufs Geld nicht zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es
-beim Vergnügen auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und tat mit
-Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit gehalten hätte. Beim
-Bier schrieb er an die jungen Herren in Lächstetten Ansichtskarten,
-und nicht die billigsten, sondern stets von den lackierten farbigen
-mit den tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen jede
-Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage. Und wo er sonst ein
-trockenes Brot verzehrt hatte, fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu,
-er lernte in Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen
-und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen.
-
-Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes vorsichtig
-sein und durfte nicht immer auftreten, wie es ihm gerade Spaß gemacht
-hätte. Die paar ersten Male spürte er auch vor dem Monatsende und
-der Kontrolle seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles
-gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen Unfug
-einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb, trotz aller
-Vorsicht am Ende sicher und blind.
-
-Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben Briefe statt für
-vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr ihm den falschen Eintrag
-vorhielt, blieb er frech dabei, es müßten sieben Briefe gewesen sein.
-Und da der Herr Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil
-friedlich seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne daß
-der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und studierte es sorgsam
-durch. Denn es war ihm nicht nur der größere Portoverbrauch in letzter
-Zeit aufgefallen, sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der
-Vorstadt erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag öfter zu
-ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als der Vater ihm dafür geben
-könne. Und nun hatte der Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen
-und die Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben seines jungen
-Kassiers zu erkennen.
-
-Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war, ließ der jüngere
-der Sache zunächst ihren Lauf, indem er nur täglich in der Stille die
-kleinen Unterschlagungen betrachtete und notierte. Er sah, daß sein
-Verdacht dem jungen Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich
-ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der ihn der
-Bursche eine so lange Zeit hintergangen und bestohlen hatte.
-
-Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen beriefen die beiden
-Herren den Sünder in ihr Privatkontor. Da versagte denn doch die
-erworbene Sicherheit des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden
-ernsten Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein schmales
-Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht und verlor den
-Atem.
-
-Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein schmucker Marktplatz
-durchsichtig, oder eine nette helle Gasse, und man sähe unterm Boden
-Kanäle, Kloaken und trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel
-riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen jungen
-Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner Herren Augen da. Das
-Schlimmste, was er je gefürchtet, war hereingebrochen, und es war
-übler, als er gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in
-seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein Fleiß und Gehorsam
-war nicht gewesen, es blieb von einem fleißigen Leben zweier Jahre
-nichts übrig als die Schmach seines Vergehens.
-
-Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm und bescheidener
-Hausdieb gewesen war, wurde nun zu dem, was die Zeitungen ein Opfer der
-Gesellschaft nennen.
-
-Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet, in ihren
-vielen Lehrbuben junge Menschen mit jungen wartenden Schicksalen zu
-sehen, sondern nur eben Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und
-die für Jahre eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten.
-Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges Leben an
-der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht, wenn nicht ein guter und
-williger Mensch zu helfen bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre
-ihnen im Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten einem
-Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und ihr Haus geöffnet, nun
-hatte dieser Mensch sie hintergangen und ihr Vertrauen mißbraucht --
-das war eine klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und kamen
-überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben, und doch wäre
-dies das Beste gewesen, wenn sie doch einmal selbst die Hand von dem
-Entgleisten abziehen wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten
-und zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem Vater gehen
-und ihm selber sagen, weshalb man ihn in einem anständigen Handelshause
-nicht mehr brauchen könne.
-
-Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf gemacht werden. Sie
-waren ehrenwerte Männer und auf ihre Art wohlmeinend, sie waren nur
-gewohnt, in allem Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je
-nachdem eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten. So war auch
-Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und untersinkender Mensch,
-sondern ein bedauerlicher Fall, welchen sie nach allen Regeln ohne
-Härte erledigten.
-
-Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt und gingen am
-folgenden Tage selber zu Emils Vater, um mit ihm zu reden, die Sache
-zu erzählen und etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb
-wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war gestern nicht nach
-Hause gekommen, er war davongelaufen und hatte die Nacht im Freien
-hingebracht. Zur Stunde, da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten,
-stand er frierend und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte sich, im
-Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen Untergangs, so
-hart und trotzig gemacht, wie es dem schwachen Jungen sonst in Jahren
-nicht möglich gewesen wäre.
-
-Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur zu flüchten,
-sich zu verbergen und die Augen zu schließen, da er die Schande wie
-einen großen giftigen Schatten über sich fühlte. Erst allmählich,
-da er einsah, er müsse zurückkehren und irgendwie das Leben weiter
-führen, hatte sein Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte
-sich vorgenommen, den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden. Indessen war
-auch diese Rachelust vergangen. Emil sah ein, wie sehr er sich den
-weiteren Weg zu jedem Glück erschwert habe, und kam am Ende mit seinen
-Gedanken zu dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut
-und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten Kräften den Weg des
-Bösen gehen, um doch noch auf seine Weise Recht zu behalten und das
-Schicksal zu zwingen.
-
-Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach einer
-verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger Bösewicht nach der
-Heimat zurück, auf Schmach und üble Behandlung gefaßt und zu Krieg und
-Widerstand gegen die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt.
-
-Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne Umgehung der
-Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu nehmen und den geschwächten
-Willen nicht vollends zu brechen, sondern langsam wieder zu erheben
-und zum Guten zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster Kolb
-vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser Mann das Gesetz
-des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung zu erkennen oder doch zu
-fühlen. Statt die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner
-schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer Besserung an
-sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr Kolb so, als sei von seiner
-Seite her alles in Ordnung und als habe er allen Grund gehabt, von
-seinem Söhnlein nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte nie
-gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen, der allein
-in den Seelen der Kinder das Gewissen wecken und der Lust zur Entartung
-trotzen kann.
-
-Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden Sünder wie ein
-Höllenwächter bellend und fauchend, er rühmte ohne Grund den guten
-Ruf seines Hauses, ja er rühmte seine redliche Armut, die er sonst
-hundertmal verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und
-Enttäuschung seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der sein Haus
-in Schande gebracht und seinen Namen in den Schmutz gezogen habe.
-Alle diese Ausdrücke kamen nicht aus seinem erschrockenen und völlig
-ratlosen Herzen, sondern aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel
-und erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß getan
-hatten.
-
-Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er hielt den Kopf
-gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend, aber beinahe doch dem
-ohnmächtig wetternden Alten überlegen. Alles was der Vater von der
-ehrlichen Armut vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam ihm
-nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft in der Welt gewußt
-hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen. Er war in der überlegenen
-Lage dessen, dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren
-Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat. Dagegen verstand
-er die Mutter wohl, die hinten am Tische saß und stille weinte. Er
-fühlte, daß sie in dieser Stunde etwas von dem kosten mußte, woran
-er selber diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu ihr,
-der er am wehesten getan hatte und von der er doch am ehesten Mitleid
-erwartete.
-
-Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens, einen nahezu
-erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen zu haben.
-
-Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft hatte,
-hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel trotz allem eine feinere
-Zukunft zu ermöglichen. Aber ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn
-auch aus unbekannten Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in
-Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister Kiderle,
-der doch im Blatt einen Lehrbuben bei freier Kost gesucht hatte, konnte
-sich entschließen, den Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war
-noch da, der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil selbst
-so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen mußte.
-
-Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte der Vater:
-»Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in die Fabrik!«
-
-Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil sagte ganz
-zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen mach' ich die Freude
-nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen sehen.«
-
-Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach Lächstetten hinüber.
-Da sprach er beim Fabrikanten Erler vor, der tannene Faßspunden
-herstellte, fand aber kein Gehör, und dann beim Walkmüller, der
-ebenfalls eilig dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor
-dem Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig war, auch noch
-in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo er im Werkführer zu seiner
-Überraschung einen Bekannten fand, der sich für ihn verwendete. So ließ
-man den Zug fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig
-Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte.
-
-Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb froh, als am folgenden
-Montag sein mißratener Sohn das Haus verließ, um sein Fabriklerleben
-in Lächstetten zu beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den
-Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es für wenige Tage,
-und hatte doch fest im Sinne, sich daheim nimmer oder doch lange Zeit
-nicht mehr zu zeigen.
-
-Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten Vorsätze
-doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn auch nur als geringstes
-Glied, zu den geachteten Ständen zu gehören und über den Pöbel die Nase
-zu rümpfen, dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den
-guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll.
-
-Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten sich darauf
-verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde Remppis einen guten
-Halt finden werde. Darin hatte der schlaue Jüngling sich indessen
-verrechnet. Er hatte nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des
-Prinzipals aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten Abend auf
-der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief ihn bei Namen.
-
-»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich bin jetzt auch in
-Lächstetten!«
-
-Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich weiß schon,« sagte
-er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.«
-
-Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte einen leichten
-Ton anzustimmen, aber die Mißachtung, die der Freund ihm so deutlich
-zeigte, drückte ihn nieder. Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein
-Zusammentreffen am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete
-Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig Zeit, sei
-auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte ihn ein Kamerad in einer
-wichtigen Angelegenheit, und auf einmal war er weg und Emil ging allein
-durch den Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig.
-Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue in einem beweglichen
-Briefe vorzuhalten, und fand in diesem Vorsatz einigen Trost.
-
-Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am folgenden Tage erhielt
-der junge Fabrikler beim abendlichen Nachhausekommen einen Brief, den
-er mit Sorgen öffnete und mit Schrecken las:
-
-Geehrter Emil!
-
-Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern, möchte Dir
-nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen angenehmen Beziehungen zu
-verzichten. Ohne Dir im geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es
-doch angezeigt sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise seiner
-Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch vorzuschlagen, uns
-künftig gegebenenfalls lieber mit dem höflichen Sie anzureden.
-
-Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger
-
- Franz Remppis.
-
-Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig abwärts führte,
-war hier der Punkt des letzten Zurückschauens, der letzten Besinnung,
-ob es nicht auch anders hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch
-eine Wandlung möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan
-dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings in der engen
-Sackgasse seines Schicksals weiter.
-
-Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie ihm geschildert
-worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste zu tun, Kisten zu
-öffnen oder zu vernageln, Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge
-zum Magazin und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte jedoch
-nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl zu besorgen,
-und da er sich anstellig zeigte, saß er in Bälde an seinem eigenen
-Stuhl und arbeitete im Akkord, so daß es ganz von seinem Fleiß und
-Willen abhing, wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses
-Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet, gefiel dem
-jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine Freiheit mit grimmigem
-Behagen, indem er am Feierabend und Sonntag mit den wildesten
-Kameraden aus der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal
-mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine Hausordnung
-eines alten strengen Handelshauses, keine Eltern und nicht einmal
-ein Standesbewußtsein, das störende Forderungen machen konnte. Geld
-verdienen und Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen
-bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren vor allem im Gefühl frecher
-Unabhängigkeit, womit man am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten
-und anderen Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand
-gab, der einem verbieten oder befehlen durfte.
-
-Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen Vaterhause in die
-höheren Stände empor zu gelangen, rächte sich Emil Kolb nun an diesen
-höheren Ständen. Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott
-seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch Katechese je
-besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen gewohnt gewesen war, beim
-Begegnen auf der Straße vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins
-Gesicht blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete
-Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling Remppis noch saure
-Abendstunden an der Arbeit war, oder in den Laden selbst hinein zu
-gehen und mit dem baren Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu
-verlangen.
-
-Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen. In der ersten
-Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der Fabrik fern, bis er eines
-Tages in der Mittagspause aus dem Saal der Sortiererinnen eine junge
-Mädchengestalt hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen
-alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an.
-
-»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?«
-
-Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen Umständen
-er das Mädchen im vorigen Jahre kennen gelernt hatte und wie wenig sein
-jetziger Zustand dem entsprach, was er ihr damals von sich erzählt
-hatte.
-
-Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu erinnern, denn
-sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte: »So, Sie sind's? Ja, was tun
-denn Sie hier?«
-
-Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem er mit lebhafter
-Galanterie antwortete: »Es versteht sich doch von selbst, daß ich nur
-Ihretwegen hier bin!«
-
-Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug mit dem Verein
-jüngerer Angehöriger des Handelsstandes ein wenig an Anmut und
-Mädchenzierlichkeit verloren, hingegen sehr an Lebenserfahrung und
-Kühnheit gewonnen. Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie
-sich des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage stolz
-und herrisch am Arm der Schönen verbummelte und an Tanzplätzen und
-Ausflugsorten seine junge Mannheit sehen ließ.
-
-Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein junger
-Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr Schatz damals gewesen waren.
-Da mochten nun die Herren Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen
-und fremd tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen so
-frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch so laut und hing
-ihm so hingegeben an, daß freilich die Handelsständler an ihrem Glücke
-nicht zweifeln konnten.
-
-Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach seinem Belieben
-ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein lang ersehntes Vergnügen, dessen
-er jetzt schwelgerisch genoß. Trotzdem aber und trotz seines blühenden
-Liebesfrühlings war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm fehlte,
-war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der Kitzel des schlechten
-Gewissens. Zum Stehlen gab es in seinem jetzigen Leben kaum eine
-Gelegenheit. Nichts ist dem Menschen schwerer zu entbehren als ein
-Laster, und wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem hatte
-der junge Mensch in seiner Verwahrlosung einen Haß gegen die Reichen
-und Angesehenen in sich ausgebildet, aus deren Reihen er für immer
-ausgestoßen war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach
-Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl, am Samstag
-Abend mit einigen wohlverdienten Talern im Beutel aus der Fabrik zu
-gehen, war ganz angenehm. Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde
-Gelder zu verfügen und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig prellen
-zu können, war doch weit köstlicher gewesen.
-
-Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer gieriger auf neue
-Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb. Eine neue Leidenschaft, die
-soeben Gewalt über ihn zu üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub.
-Es kam neuerdings manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er über
-seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch einen Zeitungsartikel
-angeregt, sich in den Gedanken verliebt, einmal durch einen
-Lotteriegewinn reich zu werden. Das war schon seinem Vater im Blut
-gelegen, der in früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit
-langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte. Emil kaufte sich
-mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen, die Spannung aber im
-Erwarten und Lesen der Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte,
-wurde es ihm zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden
-Hoffnungen zu wagen.
-
-Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im täglichen Leben und
-zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte, fand er in seinen Diebesplänen
-wieder. Geduldig suchte er Gelegenheit und Ort eines größeren
-Unternehmens ausfindig zu machen, und da er durch die heimatlichen
-Erfahrungen gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal das eigene
-Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres zu suchen. Da stach ihm
-der Laden ins Auge, wo Franz Remppis als Lehrling diente, das größte
-Geschäft des Städtchens.
-
-Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa dem der
-Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer Kolonialwaren und
-landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel des täglichen Gebrauches, vom
-Briefpapier und Siegellack bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und
-hielt nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb genau, er
-war oft genug darin gewesen und über die Standorte mancher Kiste und
-Lade sowie über Ort und Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet.
-Über die sonstigen Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen
-seines Freundes einigermaßen Bescheid, und was ihm zu wissen noch
-unentbehrlich schien, erfragte er bei gelegentlichen Besuchen des
-Ladens. Er sagte etwa, wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden
-betrat, zum Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald
-Feierabend!« Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb neune
-werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann kannst du wenigstens
-gleich weglaufen, das Ladenschließen wird nicht deine Sache sein.« Und
-dann erfuhr er, daß der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn
-des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse, und richtete
-nach alle dem seine Pläne ein.
-
-Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt in die Fabrik
-schon ein Jahr vergangen. Diese lange Zeit war auch an dem Fräulein
-Emma nicht spurlos vorübergegangen. Sie begann etwas gealtert und
-unfrisch auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte,
-war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß sie ein Kind erwartete.
-Das verdarb ihm die Lächstettener Luft, und je näher die gefürchtete
-Niederkunft heranrückte, desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch
-vor diesem Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher
-fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte fest, daß er
-nichts zu verlieren habe, wenn er sich der Schweiz zuwendete.
-
-Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann Löhleschen
-Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu verzichten. Ja es schien
-ihm sehr gut und schlau, seinen Abgang aus der Stadt mit der Tat zu
-verbinden. Darum hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel
-und Aussichten, schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte zur
-Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig Mut. Der kam ihm
-jedoch während einer sehr untröstlichen Unterredung mit der Emma, so
-daß er im Ärger der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und
-beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde ihm ohne Erfolg
-zum Dableiben geraten, und da er vom Wandern nicht abzubringen war,
-versprach ihm der Aufseher ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an
-mehrere Schweizer Fabriken mitzugeben.
-
-So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am Abend zuvor
-beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle auszuführen. Er war auf
-den Einfall gekommen, sich am Abend in das Haus einschließen zu lassen.
-So suchte er denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd, schon
-mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche, einen Eingang und fand
-ihn in einem Augenblick, da niemand in der Nähe schien, durch das
-große, weit offen stehende Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das
-Magazin hinüber, das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung stand,
-und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen, bis es nachtete
-und das Leben im Geschäfte erlosch. Gegen acht Uhr war es in dem Raume
-schon völlig dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle
-das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem oberen
-Stockwerk, wo seine Wohnung lag.
-
-Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei ganze Stunden, ehe
-er den Mut fand, einen Schritt zu tun. Dann wurde es ringsum stille,
-auch von Straße und Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören,
-und Emil trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die
-Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das Herz, und als er
-an der Türe zum Laden hin den Riegel zurückschob, kam ihm plötzlich
-zum Bewußtsein, daß Einbruch ein schweres Verbrechen sei und schwer
-bestraft werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der guten
-und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen. Es wurde ihm
-feierlich zumute, da er die Laden und Wandfächer voller Waren ansah.
-Da lagen in einem Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von
-schönen Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon weitere
-Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte lange Würste und
-Blechkästen voll Zwieback schauten ihn heiter an, und er konnte nicht
-widerstehen, fürs erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in
-seine Brusttasche zu stopfen.
-
-Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte er alsdann die
-Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im Ladentisch, die jedoch
-verschlossen war. Aus Vorsicht, damit es ihn nicht verriete, hatte er
-keinerlei Werkzeuge mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst
-Stemmeisen, Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er sorgfältig
-das Schloß der Lade los und hatte bald ohne Mühe die Kasse eröffnet.
-Mit Begier schaute er beim schwachen Lichte hinein und sah erregt in
-kleinen Abteilungen geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner
-bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen mit den
-größeren Münzstücken, deren aber sehr wenige da waren, und hatte bald
-zu seiner zornigen Enttäuschung überrechnet, daß der ganze Inhalt
-der erbrochenen Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so wenigem
-hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend betrogen vor. Sein Zorn
-war so groß, daß er das Haus hätte anzünden mögen. Da war er nun, so
-sorgfältig vorbereitet, zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen,
-hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr
-begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten! Den großen
-Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich liegen, tat das andere in seinen
-Geldbeutel und hielt nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens
-wert sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten, aber lauter
-große und schwere Sachen, die ohne Hilfe nicht hinwegzubringen waren.
-Wieder kam er sich betrogen vor und war vor Enttäuschung und Kränkung
-dem Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken, noch einige
-Zigarren und von einem großen Vorrat, der auf dem Tische gestapelt
-lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten zu sich steckte und den Laden
-verließ. Ängstlich suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin
-in den Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor
-seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt arbeitete
-er am großen Riegel, der in seiner Steinritze am Boden spannte, und
-atmete tief auf, als er nachgab und das Tor langsam aufging. Er zog es
-hinter sich notdürftig zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen
-Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten nächtigen Gassen
-zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne Schlaf drei bange Stunden
-wartend, bis der Morgen graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen
-klar und trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein,
-um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt und viel gute
-Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am Stock über die Schulter und ging
-zum Bahnhof. Und als im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche
-Hausknecht beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand, da fuhr Emil
-Kolb schon ein paar Meilen weiter durch ein schönes Waldland, das er
-vom Wagenfenster mit Neugierde betrachtete, denn es war die erste so
-große Reise seines Lebens.
-
-Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des Verbrechens großen
-Sturm, und auch nachdem der Schaden festgestellt und als recht
-geringfügig erkannt war, summte die lüsterne Aufregung weiter und
-verbreitete sich durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft
-erschien, nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen vor und
-stieß die vor dem berühmt gewordenen Hause sich drängende Menschenmenge
-hin und wider.
-
-Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die schlimme
-Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden noch ahnen. Es ward
-der Hausknecht und der Packer und die ganze Reihe der erschrockenen
-und dennoch über das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins
-Verhör genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die gestern den
-Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens. Alsdann setzte der
-Amtsrichter einen Bericht über das Schrecknis auf samt einem genauen
-Verzeichnis der gestohlenen Sachen. An Emil Kolb dachte niemand.
-
-Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten und das Haus
-Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen, hernach mit Genugtuung die
-heimatlichen Zeitungen, deren mehrere sich mit dem Fall beschäftigten,
-und da er sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute er
-sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der kleinen Beute
-mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden.
-
-Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade in der Gegend
-des Bodensees auf, denn er hatte wenig Eile und wollte unterwegs auch
-etwas sehen. Seine erste Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst
-einzutreffen gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde.
-
-Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause bei einer guten
-Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und reichlich mit Senf bestrich,
-dessen Schärfe er sodann mit einem kühlen guten Bier bekämpfte.
-Darüber ward ihm wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter
-Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken konnte. Es schien
-ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm gemeint, ja sie tat ihm leid und
-er hätte sie gerne ein wenig versöhnt und getröstet. Je länger er daran
-kaute, desto mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte
-oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete, kam er zu
-dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben.
-
-Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner Vorrat von den
-Löhleschen Zigarren übrig war, und zog das kleine steife Päcklein
-heraus, worin die Lächstettener Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin
-lieh ihm einen Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze
-befeuchtete, schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal
-genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten vor und war auf
-eine ganz neue Manier mit glänzenden Farben gedruckt, wie sie die arme
-Wirklichkeit nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm
-einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm eben gebracht
-hatte, und fing zu schreiben an.
-
-Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der Stift abbrach.
-Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht verderben, schnitzte
-den Stift in aller Ruhe wieder zurecht und schrieb dann unter das
-schönfarbene Bild: »Gedenke Deiner in der Fremde und bin mit vielen
-Grüßen Dein getreuer E. K.«
-
-Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar zu Gesicht, jedoch
-nicht ohne Verzögerung und nicht aus den Händen des Briefboten, sondern
-aus denen des Herrn Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche
-Vorladung auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte.
-
-Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz wenigen Tagen in den
-Löhleschen Laden gekommen und von dem ganzen Vorrate waren erst drei
-oder vier Stück verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen
-können. Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen Karten die
-Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden und die davon unterrichteten
-Postbeamten hatten die vom Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem
-Bild der unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten.
-
-Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so daß seine
-Gefangennehmung und Überlieferung nicht so einfach und glanzlos
-verlief, sondern mit den Stempeln und Uniformen zweier Länder als
-feierliche Auslieferung der Schweiz an das Deutsche Reich als
-Staatsaktion verlief.
-
-Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine Einlieferung in
-Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest, wobei der Triumph der
-Einwohnerschaft über den gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen
-Dieb einer kleinen Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche
-dem Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert und die
-Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß dauerte nicht lange.
-Ob er nun aus dem Zuchthause, das ihn einstweilen aufgenommen hat,
-zu längerem Aufenthalt in unsere Welt zurückkehren oder -- wie ich
-glaube -- den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends in solchen
-Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird seine Geschichte uns
-wenig mehr zu sagen und zu lehren haben. Denn Emil Kolb war kein
-Charakter, auch nicht als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher
-nur eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen Anspruch
-hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht als mancher, dessen
-Unglück weniger in seiner eigenen Seele begründet scheint.
-
-
-
-
-Pater Matthias
-
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-Erstes Kapitel
-
-An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der Mitte der hügeligen
-alten Stadt, lag im Vormittagslicht eines sonnigen Spätsommertages
-das stille Kloster. Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten,
-vom ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß getrennt,
-ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit am gekrümmten
-Ufer und schaute mit vielen blinden Fensterscheiben hochmütig in die
-entartete Zeit. In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg
-die fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen
-Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber aber jenseits des
-Wassers und des einsam stehenden Schwesterklosters lag helle Sonne auf
-der steilen Halde, deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von
-goldbraun schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen wurden.
-
-An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß lesend der Pater
-Matthias, ein blondbärtiger Mann im besten Alter, der im Kloster
-und anderwärts den Ruf eines freundlichen, wohlwollenden und sehr
-achtbaren Herrn genoß. Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines
-hübschen Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter
-Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder, sofern sie ihn wahrnahmen,
-als einen gelinden Nachklang der tiefen Jugendmelancholie betrachteten,
-welche vor zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben
-hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken und in
-liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien. Aber der Schein trügt, und
-Pater Matthias selbst war der einzige, der um die verborgenen Ursachen
-dieses Schattens wußte.
-
-Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend hatte ein
-Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in das Kloster geführt, wo
-er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung und Schwermut hinbrachte,
-bis die geduldige Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner
-Natur ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er war ein beliebter
-Bruder geworden und stand im gesegneten Ruf, er habe eine besondere
-Gabe, auf Missionsreisen und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden
-die Herzen zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen
-Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und rechtskräftigen
-Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte.
-
-Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein Glanz jedoch und der
-des klingenden Geldes hatte die Väter für einige andere Züge im Bild
-ihres lieben Bruders blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias
-die Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und machte
-den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend frohgesinnten
-Mannes, dessen Wünsche und Gedanken im Frieden mit seinen Pflichten
-beisammen wohnten; wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen
-müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur einen Teil seines
-inneren Zustandes wirklich ausdrückte, über manchen verschwiegenen
-Unebenheiten aber nur als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias
-war nicht ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals
-untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung seiner Seele auch
-der alte, eingeborne Kern dieses Menschen wieder eine Genesung begangen
-und schaute, wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst
-wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben der Welt.
-
-Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon mehrmals die
-Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen Natur widerstrebte es zwar,
-unterm Mantel der Frömmigkeit Weltlust zu suchen, und er hatte seine
-Kutte nie befleckt. Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas
-wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich zu erhalten und
-nach einem Ausflug ins Weltliche wieder anzulegen.
-
-Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er besaß, an sicherem
-Orte verborgen, eine angenehme, ja elegante Bürgerkleidung samt
-Wäsche, Hut und Schmuck, und wenn er auch neunundneunzig von hunderten
-seiner Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte,
-so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu oft bei jenen
-seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und dort als Weltmann unter
-Weltmenschen verlebt hatte.
-
-Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters Gemüt viel zu
-redlich war, lastete als ungebeichtetes Verbrechen auf seiner Seele.
-Wäre er ein schlechter, uneifriger und unbeliebter Pater gewesen,
-so hätte er längst den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig
-zu bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So aber sah er
-sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden die trefflichsten
-Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen seine Verfehlungen beinahe
-verzeihlich erscheinen wollten. Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn
-er in ehrlicher Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte.
-Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den Begierden seiner
-Natur Genüge tun und lang unterdrückte Wünsche ihres Stachels berauben
-konnte. In allen müßigen Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten
-Blick der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit
-begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und Angst hin und wider,
-und bald beneidete er jeden Mitbruder um seine Unschuld, bald jeden
-Städter draußen um seine Freiheit.
-
-So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem Fenster
-und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus. Indem er mit müßigem
-Auge den lichten frohen Hügelhang gegenüber betrachtete, sah er
-einen merkwürdigen Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der
-Höhenstraße her auf einem Fußpfad näher kam.
-
-Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant, die anderen
-schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein Landjäger in glitzernder
-Uniform ging ihnen voraus und zwei andere Landjäger folgten hinten
-nach. Der neugierig zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte
-waren, welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem
-Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen hatte.
-
-Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte
-Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen Mißmut unzufriedene
-Betrachtungen daran zu knüpfen. Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit
-diesen armen Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen
-ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte er, es
-ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre augenblickliche Lage
-andeute.
-
-»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als ersehntes Ziel den
-Tag vor Augen, da er entlassen und wieder frei wird. Ich aber habe
-keinen solchen Tag vor mir, nicht nah noch ferne, sondern eine endlose
-bequeme Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden einer
-eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine oder andere von den armen
-Kerlen da drüben mag mich jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich
-beneiden. Sobald sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren,
-hat der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen armen
-Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter sitzt.«
-
-Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten und Soldaten
-verloren, solchen Gedanken nachhing, trat ein Bruder bei ihm ein
-und meldete, er werde vom Guardian in dessen Amtszimmer erwartet.
-Freundlich kam der gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd
-erhob er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den braunen
-Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom Wasser herauf in
-rostfarbenen Flecken tanzte, und ging sogleich mit seinem unfehlbar
-anmutig-würdigen Schritt über die langen kühlen Korridore zum Guardian
-hinüber.
-
-Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm einen Stuhl an
-und begann ein Gespräch über die schlimme Zeit, über das scheinbare
-Abnehmen des Gottesreiches auf Erden und die zunehmende Teuerung.
-Pater Matthias, der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft
-die erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah mit froher
-Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich denn auch der würdige Herr
-ohne Eile näherte. Es sei, so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins
-Land sehr notwendig, auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen
-ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle und von welcher
-er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute von Liebesgaben heimbringen
-werde. Der Zeitpunkt sei nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in
-einem fernen südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution
-Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden, wovon alle Zeitungen
-meldeten. Und er gab dem Pater eine sorgfältige Auswahl von teils
-schrecklichen, teils rührenden Einzelheiten aus diesen neuesten
-Martyrien der kämpfenden Kirche.
-
-Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen in sein
-kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen Augen seine
-Aufgabe und fand eine glückliche Wendung und Lösung um die andere,
-ging zur gewohnten Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den
-Nachmittag mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise hin.
-Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen; weit mehr Zeit und
-Sorgfalt erforderten die Anmeldungen in Pfarrhäusern und bei treuen
-gastfreien Anhängern, deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine
-Handvoll Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile auf
-dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch einen tüchtigen
-Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern und frommen Bildchen
-bereit und schlief danach fest und friedevoll als ein Mann, der
-wohlgerüstet einer ehrenvollen Arbeit entgegengeht.
-
-
-Zweites Kapitel
-
-Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch eine kleine
-unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster ein junger Laienbruder von
-geringem Verstand, der früher an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner
-zutraulichen Unschuld und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen
-im Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete den
-Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche tragend. Schon
-unterwegs zeigte er ein etwas erregtes und gestörtes Wesen, auf dem
-Bahnhofe aber zog er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen
-Pater in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den Augen,
-er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise abstehen, deren
-unheilvollen Ausgang ihm eine sichere Ahnung vorausverkünde.
-
-»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend mit verzerrtem
-Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet nimmer wiederkommen!«
-
-Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen, dessen Zuneigung er
-kannte, zuzureden; er mußte sich am Ende beinahe mit Gewalt losreißen
-und sprang in den Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann.
-Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht des
-Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet. Der unscheinbare
-Mensch in seiner schäbigen und verflickten Kutte winkte ihm noch lange
-nach, Abschied nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden
-noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach.
-
-Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude am Reisen, das
-er über alles liebte, so daß er die peinliche Szene rasch vergaß und
-mit zufriedenem Blick und gespannten Seelenkräften den Abenteuern und
-Siegen seines Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche
-Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag entgegen,
-schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen, und der reisende
-Pater ließ bald das Brevier wie das kleine wohlgerüstete Notizbuch
-ruhen und schaute in wohliger Erwartung durchs offne Wagenfenster
-in den siegreichen Tag, der über Wälder hinweg und aus noch
-nebelverschleierten Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um bald in Blau
-und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine Gedanken gingen elastisch
-zwischen diesem Reisevergnügen und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin
-und wider. Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage
-hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst und Wein, und wie würde
-sich von diesem paradiesischen Grunde das Entsetzliche abheben, das
-er von den heimgesuchten Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu
-berichten hatte!
-
-Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen schnell. An dem
-bescheidenen Bahnhofe, an welchem Pater Matthias ausstieg und welcher
-einsam neben einem kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn
-ein hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast mit
-Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort, stieg vergnügt
-in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich an Ackerland und schöner
-Weide vorbei dem stattlichen Dorfe entgegen, wo seine Tätigkeit
-beginnen sollte und das ihn bald einladend und festlich anlachte,
-zwischen Weinbergen und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende
-betrachtete das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs Korn
-und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel und Kohl in Fülle, da
-war überall Wohlsein und feiste Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte
-nicht von diesem Born des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem
-anklopfenden Gaste zugut kommen?
-
-Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im Pfarrhause an,
-teilte ihm auch mit, daß er schon auf den heutigen Abend des Paters
-Gastpredigt in der Dorfkirche angekündigt habe und daß, bei dem Ruf
-des Herrn Paters, ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu
-erwarten sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit
-auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit einzuspinnen, da
-er die Neigung kleiner Landpfarrer wohl kannte, auf wortgewandte und
-erfolgreiche Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden.
-
-Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen Mittagessen im
-Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft im Pfarrhause aufgetragen
-wurde. Und auch hier wußte Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht
-und Neigung zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung
-hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder Begierde
-zusprach, ohne doch -- zumal beim Weine -- ein ihm bekömmliches
-Maß zu überschreiten und seiner Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und
-fröhlich konnte er schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber
-mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine Arbeit im
-Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also der Wirt etwa den schlimmen
-Plan gehabt, unseren Pater durch die so reichliche Bewirtung lahm zu
-legen, so war er ihm völlig mißlungen.
-
-Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine Arbeit
-eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse nichts zu wünschen
-ließ. Seit kurzem lebte im Dorf, als am Heimatorte ihres Mannes, in
-einem neu erbauten Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die
-wegen ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten Zunge
-nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war als wegen ihres Geldes.
-Diese Frau Franziska Tanner stand zuoberst auf der Liste derer, deren
-spezielle Heimsuchung der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte.
-
-So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen Kollegen wenig
-vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde im Landhause
-und begehrte mit der Frau Tanner zu sprechen. Eine nette Magd
-führte ihn in das Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten
-mußte, was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte und
-warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine ländliche Person
-und schwarzgekleidete Witwe, sondern eine grauseidene damenhafte
-Erscheinung in das Zimmer, die ihn gelassen willkommen hieß und nach
-seinem Begehren fragte.
-
-Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und jedes versagte,
-und Schlag um Schlag ging ins Leere, während die geschickte Frau
-lächelnd entglitt und von Satz zu Satz neue Angeln auslegte. War
-er weihevoll, so begann sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen
-Bedrohungen, so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu
-mildtätigen Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing und ins
-Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken, sie kenne seine
-Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld zu geben, wenn es ihm nur
-gelänge, ihr die tatsächliche Nützlichkeit einer solchen Gabe zu
-beweisen. War es ihr kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn
-in einen leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn
-plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er sie wieder
-geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so war sie unversehens eine
-kühle Dame.
-
-Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die beiden ein
-Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem hübschen Pater die männliche
-Aufmerksamkeit, mit der er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen
-zu schonen suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis eine
-heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich beweglicher
-Koketterie, so daß es trotz schwieriger Augenblicke zu einer ganz guten
-Unterhaltung kam und der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei
-unausgesprochenerweise freilich der moralische Sieg auf der Seite der
-Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende eine Banknote und sprach
-ihm und seinem Orden ihre Anerkennung aus, doch geschah es in ganz
-gesellschaftlichen Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie, und
-auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch aus, daß
-er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch vergaß.
-
-Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt und verliefen nach
-der Regel. Pater Matthias zog sich noch eine halbe Stunde in seine
-Stube zurück, aus welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt
-wieder hervorging.
-
-Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen Süden
-geplünderten Altären und Klöstern und dem Bedürfnis des eigenen
-Klosters nach einigen Geldern entstand ganz zauberhaft ein inniger
-Zusammenhang, der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf
-einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung des Mitleids und
-unbestimmter frommer Erregung beruhte. Die Frauen weinten und die
-Opferbüchsen klangen, und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner
-unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne Aufregung, doch
-mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen.
-
-Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters seinen
-glänzenden Anfang genommen. Auf seinem Angesicht glänzte Pflichteifer
-und herzliche Befriedigung, in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und
-wuchs der kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke
-umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen draußen in der Welt
-berichteten, es stehe um die bei jener Revolution geschädigten Klöster
-bei weitem nicht so übel, als es im ersten Wirrwarr geschienen habe,
-das wußte der Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören
-lassen.
-
-Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei sich zu sehen, und
-die ganze Reise verlief aufs erfreulichste. Nun, indem er sich schon
-gegen die protestantische Nachbargegend hin dem letzten kleinen Weiler
-näherte, den zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz und
-Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran, daß nun für eine
-ungewisse Weile Klosterstille und mißmutige Langeweile den genußreichen
-Erregungen seiner Fahrt nachfolgen würden.
-
-Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich gewesen,
-da das Geräusch und die Leidenschaft einer frohen außerordentlichen
-Tätigkeit sich legte und hinter den prächtigen Kulissen der klanglose
-Alltag hervorschaute. Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im Beutel,
-nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze Freude der Ablieferung
-und Anerkennung daheim, und diese Freude war auch schon keine richtige
-mehr.
-
-Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt, wo er sein
-merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je mehr die Feststimmung in ihm
-verglühte und je näher die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward
-seine Begierde, die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen Tag
-ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte er davon nichts wissen
-mögen, allein so ging es jedesmal und er war es schon müde, dagegen
-anzukämpfen: am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher
-plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen.
-
-So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde noch besucht und
-gewissenhaft erledigt, dann wanderte Pater Matthias zu Fuße nach dem
-nächsten Bahnhof, ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig
-davonfahren und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren
-Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für ihn sicher war. In
-der Hand aber trug er einen kleinen hübschen Reisekoffer, den gestern
-noch niemand bei ihm gesehen hatte.
-
-
-Drittes Kapitel
-
-Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig viele Züge aus-
-und einliefen, stieg Pater Matthias aus, den Koffer in der Hand, und
-bewegte sich ruhig, von niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen
-Gebäude zu, auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer« stand.
-An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde, bis gerade wieder
-mehrere ankommende Züge ein Gewühl von Menschen ergossen, und da er
-in diesem Augenblicke wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben
-Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr, sondern ein
-angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon nicht ganz modischer
-Kleidung, der sein Gepäck am Schalter in Verwahrung gab und alsdann
-ruhig der Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform eines
-Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster zu sehen war und endlich im
-Straßengetöse sich verlor.
-
-Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause schwingenden Getöne,
-mit dem Glanz der Geschäfte, dem durchsonnten Staub der Straßen atmete
-Herr Matthias die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der
-törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne empfänglich
-waren, und gab sich jedem frohen Eindruck willig hin. Es schien ihm
-herrlich, die eleganten Damen in Federhüten spazieren oder in feinen
-Equipagen fahren zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem
-schönen Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und einen
-zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und daraufhin, innerlich
-erwärmt und erheitert, hin und wider zu gehen, sich an Plakatsäulen
-über die für den Abend versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten
-und darüber nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag werde
-speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern wohl. Allen diesen größeren
-und kleineren Genüssen ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit
-nach, und wer ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken
-gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr könnte verbotene Wege
-gehen.
-
-Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen Kaffee und
-einer Zigarre weit in den Nachmittag hinein. Er saß nahe an einer der
-gewaltigen bis zum Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants
-und sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen auf die
-belebte Straße hinaus. Vom Essen und Sitzen war er ein wenig schwer
-geworden und schaute gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden.
-Nur einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte
-aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher er einen
-Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen glaubte. Er sah jedoch, daß
-er sich getäuscht habe, fühlte eine leise Ernüchterung und erhob sich,
-um weiter zu gehen.
-
-Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln eines
-kinematographischen Theaters und las die großgedruckten Titel der
-versprochenen Darbietungen. Dabei hielt er eine brennende Zigarre
-in der Hand und wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann
-unterbrochen, der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine Zigarette bat.
-
-Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den Fremden an und
-sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon gesehen. Waren Sie nicht heute
-früh im Café Royal?«
-
-Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den Hut und wollte
-weiter gehen, besann sich aber plötzlich anders und sagte lächelnd:
-»Ich glaube, wir sind beide fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche
-hier nichts als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht ein
-bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn es Ihnen nicht zuwider
-ist, könnten wir ja zusammen bleiben.«
-
-Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden Müßiggänger
-flanierten nun nebeneinander weiter, wobei der Fremde sich dem Älteren
-stets höflich zur Linken hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit
-ein wenig nach Herkunft und Absichten des neuen Bekannten, und da
-er merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe etwas
-befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig fallen und begann ein
-munteres Geplauder, das Herrn Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr
-Breitinger schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen,
-wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag macht. Auch am
-hiesigen Ort war er schon je und je gewesen und erinnerte sich einiger
-Vergnügungslokale, wo er damals recht nette Gesellschaft gefunden und
-köstliche Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst, daß
-er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung die Führung übernahm.
-Nur einen heiklen Punkt erlaubte sich Herr Breitinger im voraus zu
-berühren. Er bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe,
-daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort aus dem eigenen
-Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend bei, er sei zwar kein
-Rechner und Knicker, habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung
-und sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen mehr als ein
-paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa sein Begleiter großartigere
-Gewohnheiten habe, so würde es besser sein, sich in Frieden zu trennen,
-statt etwaige Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen.
-
-Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack. Er erklärte, auf
-einen goldenen Zwanziger hin oder her komme es ihm allerdings nicht an,
-doch sei er gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie beide
-aufs beste miteinander auskommen würden.
-
-Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen Durst bekommen,
-und ohnehin war es jetzt nach seiner Meinung Zeit, die angenehme
-Bekanntschaft durch Anstoßen mit einem Glase Wein zu feiern. Er
-führte den Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits
-gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe, einen raren Tropfen
-zu bekommen, und sie traten durch eine klirrende Glastüre in die
-enge niedere Stube, in der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas
-unfreundlicher Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche
-herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen einen hellgelben
-kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte, mit welchem sie denn
-anstießen. Darauf zog sich der Wirt zurück, und bald erschien statt
-seiner ein großes hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte
-und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken übernahm.
-
-»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er sich zu dem
-Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!«
-
-Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß zum Anstoßen hin.
-
-»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger und holte
-selbst von der Kredenz ein Glas für sie. »Kommen Sie, Fräulein, und
-leisten Sie uns ein bißchen Gesellschaft!«
-
-Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich nicht sträubte,
-zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen. Diese zwanglose Leichtigkeit
-der Anknüpfung machte Herrn Matthias Eindruck. Er stieß nun auch
-seinerseits mit dem Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe.
-Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel geworden, die
-Kellnerin zündete ein paar Gasflammen an und bemerkte nun, daß kein
-Wein mehr in der Flasche sei.
-
-»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief Herr Breitinger.
-Aber der andere wollte das nicht dulden, und es gab einen kleinen
-Wortkrieg, bis er sich unter der Bedingung fügte, daß nachher auf seine
-Rechnung noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein Meta
-hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht und ihren Platz wieder
-eingenommen, und während der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt
-war, streichelte sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias,
-der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging und sie weiter
-verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren setzte. Nun zog sie den Fuß
-zwar zurück, liebkoste dafür aber wieder seine Hand, und so blieben sie
-in stillem Einverständnis triumphierend beieinander sitzen. Matthias
-ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte von Zechgelagen,
-die er früher mitgemacht habe, stieß immer wieder mit den beiden an,
-und der erhitzende falsche Wein machte seine Augen glänzen.
-
-Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe in der
-Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin, da hatte keiner
-von den Kavalieren etwas dagegen, daß sie diese einlade, den Abend
-mitzufeiern. Eine alte Frau, die inzwischen den Wirt abgelöst hatte,
-wurde mit dem Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für
-Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an sich und küßte sie
-heftig auf den Mund. Sie ließ es still und lächelnd geschehen, da er
-aber stürmisch ward und mehr begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen
-Augen an und wehrte: »Später, du, später!«
-
-Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende Gebärde hielt
-ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht nur die erwartete Freundin
-herein, sondern auch noch eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem
-halbeleganten Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte
-gescheiteltem schwarzem Haar, dessen Mund unter einem gezwickelten
-Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig ausschaute. Zugleich
-trat auch Breitinger wieder ein, es entstand eine Begrüßung und man
-rückte zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen. Matthias
-sollte bestellen und war für einen Fisch mit nachfolgendem Rindsbraten,
-dazu kam auf Metas Vorschlag noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und
-Sardinen, sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte. Der
-Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter Verächtlichkeit, ohne
-Geflügel tauge ein Abendessen nichts, und wenn auf das Rindfleisch
-nicht ein Fasanenbraten folge, so esse er schon lieber gar nicht mit.
-Meta wollte ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem
-Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen: »Ach was, man
-soll doch den Fasan bestellen! Die Herrschaften sind doch hoffentlich
-alle meine Gäste?«
-
-Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem Speisezettel, der
-Wirt tauchte auch wieder auf. Meta hatte sich nun ganz an Matthias
-angeschlossen, ihre Freundin saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das
-Essen, das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt
-schien, wurde rasch aufgetragen und war gut. Beim Nachtisch machte
-Fräulein Meta ihren Verehrer mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam
-in einem großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht,
-das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte, aus
-Champagner, Sherry und Kognak gemischt war. Es schmeckte gut, nur
-etwas schwer und süß, und sie nippte jedesmal selber am Glase, wenn
-sie ihn zum Trinken einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger
-ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er das Süße nicht
-liebe, auch habe dies Getränk den leidigen Nachteil, daß man darauf hin
-nur noch Champagner genießen könne.
-
-»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut. »Ihr Leute,
-Champagner her!«
-
-Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die Augen voll Wasser
-liefen, und war von diesem Augenblicke an ein hoffnungslos betrunkener
-Mann, der beständig ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß
-und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch und Wohlleben
-dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich für eine Minute, blickte
-verwundert in die Lustbarkeit und griff nach Metas Hand, die er küßte
-und streichelte, um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen.
-Einmal erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen, doch fiel ihm
-das schwankende Glas aus der Hand und zersprang auf dem überschwemmten
-Tische, worüber er wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes
-Gelächter begann. Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger
-bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser an, das er leerte
-und dessen scharfer brennender Geschmack das Letzte war, was ihm von
-diesem Abend dunkel im Gedächtnis blieb.
-
-
-Viertes Kapitel
-
-Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias blinzelnd zu einem
-schauderhaften Gefühl von Leere, Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel.
-Kopfweh und Schwindel hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken
-und entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter Riß,
-an dessen Herkunft er keine Erinnerung hatte. Nur langsam erholte sich
-sein Bewußtsein, da richtete er sich plötzlich auf, sah an sich nieder
-und suchte Stützen für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb
-entkleidet, in einem fremden Zimmer und Bett, und da er erschreckend
-aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in eine morgendliche
-unbekannte Straße hinab. Stöhnend goß er ein Waschbecken voll und
-badete das entstellte heiße Gesicht, und während er mit dem Handtuch
-darüber fuhr, schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz
-ins Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am Boden lag,
-riß ihn an sich, betastete und wendete ihn, griff in alle Taschen und
-ließ ihn erstarrt aus zitternden Händen sinken. Er war beraubt. Die
-schwarzlederne Brustmappe war fort.
-
-Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es waren über tausend
-Kronen in Papier und Gold gewesen.
-
-Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl eine halbe
-Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst und Schlaftrunkenheit
-waren völlig verflogen, auch die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur
-eine große Müdigkeit und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch
-sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten Kleider nach
-Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute in den Spiegel, wo ein
-gedunsenes trauriges Gesicht ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle
-Kraft mit einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine Lage.
-Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige, was ihm zu tun übrigblieb.
-
-Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch Bett und
-Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid jedoch fand sich ein
-zerknitterter Schein von fünfzig Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst
-war kein Geld mehr da.
-
-Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden Kellner, um welche
-Zeit er heute Nacht angekommen sei. Der junge Mensch sah ihm lächelnd
-ins Gesicht und meinte, wenn der Herr selber sich nimmer erinnern
-könne, so werde einzig der Portier Bescheid wissen.
-
-Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück und fragte ihn
-aus. Wann er ins Haus gebracht worden sei? -- Gegen zwölf Uhr. -- Ob
-er bewußtlos gewesen? -- Nein, nur anscheinend bezecht. -- Wer ihn
-hergebracht habe? -- Zwei junge Männer. Sie hätten erzählt, der Herr
-habe sich bei einem Gastmahl übernommen und begehre hier zu schlafen.
-Er habe ihn zuerst nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes
-Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. -- Ob der Portier die beiden
-Männer wieder erkennen würde? -- Ja, das heißt wohl nur den einen, den
-mit dem steifen Hut.
-
-Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung samt einer Tasse
-Kaffee. Den trank er heiß hinunter, bezahlte und ging weg.
-
-Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus lag, nicht, und ob
-er wohl nach längerem Gehen bekannte und halbbekannte Straßen traf, so
-gelang es ihm doch in mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht,
-jenes kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert war.
-
-Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht, etwas von dem
-Verlorenen wieder zu gewinnen. Von dem Augenblick an, da er
-in plötzlich aufzuckendem Verdacht seinen Rock untersucht und
-die Brusttasche leer gefunden hatte, war er von der Erkenntnis
-durchdrungen, es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl
-hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls oder
-Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von jeder Auflehnung und
-glich mehr einer zwar bitteren, doch entschiedenen Zustimmung zu dem
-Geschehenen. Dies Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen
-Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen ganz geringe
-Menschen niemals fähig sind, rettete den armen betrogenen Pater vor der
-Verzweiflung. Er dachte nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch
-List reinzuwaschen und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen,
-noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. Nein, er
-fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte Notwendigkeit, die
-ihn zwar traurig machte, gegen welche er jedoch mit keinem Gedanken
-protestierte. Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch
-verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm die Empfindung
-einer großen Erlösung vorhanden, da jetzt unzweifelhaft seiner
-bisherigen Unzufriedenheit und dem unklaren, durch Jahre geführten
-und verheimlichten Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie
-früher zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere
-Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl kniet und dem zwar
-eine Demütigung und Bestrafung bevorsteht, dessen Seele aber die
-beklemmende Last verheimlichter Taten schon weichen fühlt.
-
-Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, keineswegs im
-klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt aus dem Orden schon
-genommen und Verzicht auf alle Ehren getan, so schien es ihm doch
-ärgerlich und recht unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen
-einer feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen.
-Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so schändliches
-Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld hatte ja nicht er
-gestohlen, sondern offenbar jener Herr Breitinger.
-
-Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes zu
-geschehen habe; denn blieb er länger als noch diesen Tag dem Kloster
-fern, so entstand Verdacht und Untersuchung und ward ihm die Freiheit
-des Handelns abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein
-Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, rasch gesättigt
-und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, mit müden Augen durchs
-Fenster auf die Straße hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um
-dieselbe Zeit getan hatte.
-
-Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm grausam auf die
-Seele, daß er auf Erden keinen einzigen Menschen habe, dem er mit
-Vertrauen und Hoffnung seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und
-riete, der ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt,
-den er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder vergessen
-hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich in seinem Gedächtnis
-auf: der junge halbgescheite Laienbruder in seiner verflickten Kutte,
-wie er am heimischen Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und
-beschwörend.
-
-Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang seinen Blick, dem
-Straßenleben draußen zu folgen. Da trat ihm, auf seltsamen Umwegen der
-Erinnerung, mit einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele,
-woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.
-
-Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, jener reichen
-jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst kürzlich bewundert, und
-deren anmutig strenges Bild ihn heimlich begleitet hatte. Er schloß
-die Augen und sah sie, im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und
-beinahe spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer
-er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig entschlossene
-Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig beobachtende Blick
-ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte, desto leichter, ja
-selbstverständlicher schien es ihm, das Vertrauen dieser ungewöhnlichen
-Frau in seiner ungewöhnlichen Lage anzurufen.
-
-Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges endlich klar vor sich
-zu sehen, machte er sich sofort daran, seinen Entschluß auszuführen.
-Von dieser Minute an bis zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner
-stand, tat er jeden Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal
-geriet er ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes
-wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel begonnen hatte
-und wo seither sein Köfferchen in Verwahrung stand. Er war des Sinnes
-gewesen, wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau
-zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken, und hatte
-deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch, da er nur eines Schrittes
-bedurfte, um am Schalter sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese
-Absicht ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie nie
-zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen wahren Schreck
-und Abscheu, so daß er seinen Plan im Augenblick änderte und vor sich
-selber schwor, die Kutte niemals wieder anzulegen, es komme, wie es
-wolle.
-
-Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein entwendet
-worden war, wußte und bedachte er dabei gar nicht.
-
-Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste denselben Weg,
-den er gestern in der Frühe noch als Pater gefahren, im schlichten
-Bürgerrocke zurück. Dabei schlug ihm das Herz immerhin, je näher er
-dem Ziele kam, desto peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch
-die Gegend, welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und mußte in
-jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen, der ihn erkennen
-und als erster seine Schande sehen würde. Doch war der Zufall und der
-einbrechende Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt
-und unbelästigt erreichte.
-
-Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen den Weg zum Dorfe hin,
-den er zuletzt bei Sonnenschein im Einspänner gefahren war, und zog, da
-er noch überall Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend
-die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses.
-
-Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte nach seinem
-Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias bat, die Hausfrau noch heute
-abend sprechen zu dürfen, und gab dem Mädchen ein verschlossenes
-Billett mit, das er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte.
-Sie ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien warten,
-schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange Weile aus. Dann aber
-schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn mit verlegener Entschuldigung
-ihrer vorigen Ängstlichkeit eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer
-der Frau, die ihn dort allein erwartete.
-
-»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener Stimme, »darf
-ich Sie nochmals für eine kleine Weile stören?«
-
-Sie grüßte gemessen und sah ihn an.
-
-»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen Sache
-kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. -- Aber wie sehen Sie denn aus?«
-
-»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie nicht! Ich wäre
-nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht das Zutrauen hätte, Sie werden
-mich in einer sehr schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen.
-Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!«
-
-Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn Tränen. Doch hielt
-er sich tapfer, entschuldigte sich mit großer Erschöpfung und begann
-alsdann, in einem bequemen Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing
-damit an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens müde
-sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe. Dann gab er eine
-kurze Darstellung seines früheren Lebens und seiner Klosterzeit, seiner
-Predigtreisen und auch seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er
-ohne viel Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer in
-der Stadt.
-
-
-Fünftes Kapitel
-
-Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau Tanner hatte
-aufmerksam und ohne jede Unterbrechung zugehört, zuweilen gelächelt
-und zuweilen den Kopf geschüttelt, schließlich aber jedes Wort mit
-einem gleichbleibenden gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie
-beide eine Weile.
-
-»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß nehmen?« fragte
-sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die Nacht hier und können in der
-Gärtnerwohnung schlafen.«
-
-Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch von Essen und
-Trinken nichts wissen.
-
-»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie langsam.
-
-»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau, woher mein Vertrauen
-zu Ihnen kommt. Aber in allen diesen schlimmen Stunden ist mir niemand
-sonst eingefallen, auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie
-mir, was ich tun soll!«
-
-Nun lächelte sie ein wenig.
-
-»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das nicht neulich
-schon gefragt haben. Daß Sie für einen Mönch zu gut oder doch zu
-lebenslustig sind, kann ich wohl begreifen. Es ist aber nicht schön,
-daß Sie Ihre Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten.
-Dafür sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt aus Ihrem
-Orden, den Sie freiwillig und in Ehren hätten suchen sollen, jetzt
-eben unfreiwillig tun. Mir scheint, Sie können gar nichts anderes tun,
-als Ihre Sache mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das
-nicht Ihre Meinung?«
-
-»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.«
-
-»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?«
-
-»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im Orden behalten
-werden, was ich auch keinesfalls annehmen würde. Mein Wille ist, ein
-stilles Leben als ein fleißiger und ehrlicher Mensch anzufangen; denn
-ich bin zu jeder anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse,
-die mir nützen können.«
-
-»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.«
-
-»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster entlassen werden,
-sondern muß auch für die mir anvertrauten Summen, die dem Kloster
-gehören, mit meiner Person eintreten. Da ich diese Summen in der
-Hauptsache nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren habe,
-wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein gemeiner Betrüger zur
-Rechenschaft gezogen zu werden.«
-
-»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das verhüten?«
-
-»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich ist, das
-Geld so bald und so vollkommen als möglich zu ersetzen suchen. Wenn es
-möglich wäre, dafür eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte
-wohl ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.«
-
-Die Frau sah ihn forschend an.
-
-»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie dann ruhig.
-
-»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen und mich bemühen, vor
-allem jene Summe abzutragen. Sollte jedoch die Person, welche für mich
-bürgt, mir anders raten und mich anders zu verwenden wünschen, so wäre
-mir natürlich dieser Wunsch Befehl.«
-
-Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte durchs Zimmer.
-Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der Lampe in der Dämmerung stehen
-und sagte leise von dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden
-und die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?«
-
-Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden.
-
-»Wenn Sie wollen -- ja,« sagte er tief atmend. »Da ich mich Ihnen,
-die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet habe, mag auch das gewagt
-sein. Ach, liebe Frau Tanner, es ist mir wunderlich, wie ich in meiner
-elenden Lage zu solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter,
-dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch überließe, wie
-Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich heute noch für immer aus Ihren
-Augen.«
-
-Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch eine feine
-Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag, und verbarg ihre leicht
-zitternden Hände hinter ihrem Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und
-sagte: »Danke für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen
-sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung ab. Wir
-wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd wird Sie ins Gärtnerhaus führen.
-Morgen früh um sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden,
-dann können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.«
-
- * * * * *
-
-In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit besseren Schlaf
-als seine gütige Wirtin. Er holte in einer tiefen achtstündigen Ruhe
-das Versäumte zweier Tage und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit
-ausgeruht und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück
-erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte.
-
-Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil ihrer Nachtruhe.
-Die Bitte des Paters hätte, soweit sie nur das verlorene Geld betraf,
-ihr dies nicht angetan. Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen,
-wie da ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig ihren
-Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so voll Vertrauen zu ihr
-gekommen war, fast wie ein Kind zur Mutter. Und daß ihr selber dies
-doch eigentlich nicht erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres
-verstanden und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen hatte, während
-sie sonst eher zum Mißtrauen neigte, das schien ihr darauf zu deuten,
-daß zwischen ihr und dem Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und
-heimlicher Harmonie bestehe.
-
-Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche neulich einen
-angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte ihn für einen lebenstüchtigen,
-harmlosen Menschen halten, dazu war er ein hübscher und gebildeter
-Mann. An diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert,
-nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas schwankendes Licht
-von Abenteuer gerückt und in seinem Charakter immerhin eine gewisse
-Schwäche enthüllt schien.
-
-Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme zu gewinnen,
-wobei sie die geforderte Bürgschaft oder Geldsumme gar nicht beachtet
-haben würde. Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit dem
-Fremden verband und die auch in den sorgenvollen Gedanken dieser Nacht
-nicht abgenommen hatte, war alles in eine andere Beleuchtung getreten,
-wo das Geschäftliche und Persönliche gar eng aneinander hing und wo
-sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes Aussehen
-gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel Macht über sie hatte und
-so viel Anziehung zwischen ihnen beiden bestand, so war es mit einem
-Geschenke nicht getan, sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse
-und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben großen Einfluß
-gewinnen konnten.
-
-Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe aus der Not und ins
-Ausland zu helfen, unter Ausschluß aller weiteren Beteiligung an seinem
-Schicksal als einfache Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der
-Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf seine immerhin
-seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres in ihr Leben aufzunehmen,
-dessen Freiheit und Übersicht sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und
-schien ihr unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen.
-
-So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als sie nach kurzem
-Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer betrat, sah sie ein wenig
-geschwächt und müde aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar
-in die Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah, es war
-ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen Ernst, und er würde
-zuverlässig dabei bleiben.
-
-Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr als die notwendigen
-geselligen Worte dazu zu sagen, und gab Auftrag, daß später für ihren
-Gast der Wagen angespannt werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß
-sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale Milch dazu,
-und erst als sie damit und der Gast ebenfalls mit seinem Morgenkaffee
-fertig war, begann sie zu sprechen.
-
-»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und Bitte vorgelegt,
-über die ich mich nun besonnen habe. Sie haben auch ein Versprechen
-gegeben, nämlich in allem und jedem es so zu halten, wie ich es gut
-finden werde. Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu
-bekennen?«
-
-Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«.
-
-»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt habe. Sie
-wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte nicht nur mein Schuldner werden,
-sondern mir und meinem Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren
-Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden können. Sie wollen
-nicht ein Geschenk von mir haben, sondern mein Vertrauen und meine
-Freundschaft. Das ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst
-zugeben, daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen ist, wo
-Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches Bedenken wider Sie
-erlaubt und möglich ist.«
-
-Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig dazu, weshalb
-sie ihren Ton sofort um einen Schatten strenger werden ließ.
-
-»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht annehmen, werter
-Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit und Dauer Ihrer guten
-Gesinnung zu wenig Gewähr vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und
-Treue beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was aus meinem
-Gelde würde, kann ich auch nicht wissen, seit Sie mir das mit Ihrem
-Freunde Breitinger erzählt haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim
-Wort zu nehmen. Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden
-möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und unsicher, als daß ich Sie
-ohne weiteres in meinen Lebenskreis aufnehmen könnte. Darum stelle ich
-Ihre Treue auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte:
-Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel dem Kloster, fügen
-Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung durch die Gerichte! Wenn Sie
-das tapfer und ehrlich tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu
-nennen, so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel mehr an
-Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie mit Mut und Fröhlichkeit
-ein neues Leben anfangen wollen. -- Haben Sie mich verstanden und soll
-es gelten?«
-
-Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte ihr mit Bewunderung
-und tiefer Rührung in das schön erregte bleiche Gesicht und machte eine
-sonderbare stürmische Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme
-schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte auf
-die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging er aufrecht aus dem
-Zimmer, ohne weiteren Abschied zu nehmen, und schritt durch den Garten
-und stieg in das draußen wartende Kabriolet, während die überraschte
-Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung in sonderbar
-gemischter Empfindung nachschaute.
-
-
-Sechstes Kapitel
-
-Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug und mit einem
-merkwürdig veränderten Gesicht wieder in sein Kloster gegangen kam
-und ohne Umweg den Guardian aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen
-und lüsterne Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand
-etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde eine geheime
-Sitzung der Oberen statt, in welcher die Herren trotz manchen Bedenken
-schlüssig wurden, den übeln Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten,
-die verlorenen Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer
-längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen.
-
-Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt wurde, setzte
-er die milden Richter durch seine Weigerung, ihren Spruch anzuerkennen,
-in kein geringes Erstaunen. Allein es half kein Drohen und kein gütiges
-Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus dem Orden zu
-bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu, die durch seinen Leichtsinn
-verloren gegangene Opfersumme als persönliche Schuld stunden und deren
-allmähliche Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als eine große
-Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er es vor, daß seine Sache vor
-einem weltlichen Gericht ausgetragen werde.
-
-Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag um Tag einsam in
-strengem Zellenarrest gehalten wurde, beschäftigte seine Angelegenheit
-die Vorgesetzten bis nach Rom hin, ohne daß der Gefangene über den
-Stand der Dinge das Geringste erfahren konnte.
-
-Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können, wäre nicht
-durch einen unvermuteten Anstoß von außen her plötzlich alles in Fluß
-gekommen und nach einer ganz anderen Entwicklung hin gedrängt worden.
-
-Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger Rückkehr, amtlich
-und eilig von der Behörde angefragt, ob etwa dem Kloster neuestens ein
-Insasse oder doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden
-gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines auf dem und dem
-Bahnhofe abgegebenen rätselhaften Handkoffers festgestellt worden sei.
-Es habe dieser Koffer, der seit genau zwölf Tagen an jener Station
-lagere, infolge eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen,
-da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben anderem
-gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer lautenden Gepäckschein bei
-sich getragen habe.
-
-Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um nähere Auskünfte
-und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt in die benachbarte
-Provinzhauptstadt, wo er sich viele, doch vergebliche Mühe gab,
-die Person und die Spuren des guten Paters Matthias als mit dem
-Gaunerprozesse unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt zeigte
-im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes Interesse und eine große
-Lust, den einstweilen als krankliegend entschuldigten Pater Matthias
-selber kennen zu lernen.
-
-Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung in die
-Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten, was noch zu retten wäre,
-der Pater Matthias mit aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen,
-der Staatsanwaltschaft übergeben und wegen Veruntreuung von
-Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte der Prozeß
-des Paters nicht nur die Aktenmappen der Richter und Anwälte, sondern
-auch als Skandalgeschichte alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen
-Lande widerhallte.
-
-Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden ihn völlig preisgab
-und die öffentliche Meinung, dargestellt durch die Artikel der
-liberalen Tagesblätter, den Pater keineswegs schonte und den Anlaß
-zu einer kleinen frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der
-Angeklagte in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung und bekam
-eine schlimmere Suppe auszuessen, als er sich eingebrockt zu haben
-meinte. Er hielt sich aber in aller Bedrängnis brav und tat keine
-einzige Aussage, die sich nicht bewährt hätte.
-
-Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten Prozesse ihren
-raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen sah sich Matthias bald als
-Angeklagter den Pfarrern und Meßnern jener Missionsgegend, bald als
-Zeuge der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt, der
-gar nicht Breitinger hieß und in weiten Kreisen als Gauner und Zuhälter
-unter dem Namen des dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der
-Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser und seine
-Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es wurde in wenigen kräftigen
-Verhandlungen sein eigenes Urteil vorbereitet.
-
-Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt gewesen.
-Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten jenes Tages in der
-Stadt, das Verhalten seiner Oberen und die öffentliche Stimmung auf
-seine allgemeine Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein
-unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen anwendeten und
-ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe verurteilten.
-
-Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und es wollte ihm
-scheinen, eine so harte Buße habe sein in keiner eigentlichen Bosheit
-beruhendes Vergehen doch nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei
-der Gedanke an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung
-einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach diesem unerwartet viel
-beschrieenen Skandal sich ihr wieder vorstelle, noch überhaupt werde
-kennen wollen.
-
-Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau Tanner kaum weniger
-über diesen Ausgang der Sache und machte sich Vorwürfe darüber, daß
-sie ihn doch eigentlich ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb
-auch ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten Zutrauens
-versicherte und die Hoffnung aussprach, er werde gerade in der
-unverdienten Härte seines Urteils eine Mahnung sehen, sich innerlich
-ungebeugt und unverbittert für bessere Tage zu erhalten. Allein dann
-fand sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias zu zweifeln,
-und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen lassen, wie er die
-Probe bestehe. Und sie legte den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals
-anzusehen, in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig
-verschloß.
-
- * * * * *
-
-Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und der Wein schon
-gekeltert, als nach einigen trüben Wochen der Spätherbst noch einmal
-warme, blaue, zart verklärte Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in
-gebrochenen Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses das
-alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben in den zartgolden
-blühenden Tag. Da zog in dem schönen Spätherbstwetter wieder einmal ein
-trauriges Trüpplein unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf
-dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin.
-
-Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater Matthias, der
-zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete und in die sonnige Weite des
-Tales und zum stillen Kloster hinunter sah. Er hatte keine guten Tage,
-aber seine Hoffnung stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört,
-auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren Hand er vor
-dem bitteren Gang in die Schande gehalten und geküßt hatte. Und indem
-er unwillkürlich jenes Tages vor seiner Schicksalsreise gedachte, da
-er noch aus dem Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und
-Mißmut hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln über sein
-mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm das halbzufriedene Damals
-keineswegs besser und wünschenswerter als das hoffnungsvolle Heute.
-
- Ende
-
-
-
-
-Werke von Hermann Hesse
-
-
-Peter Camenzind
-
-Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark.
-
-Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der
-Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du
-einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende
-Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte
-des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu
-einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen
-liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den
-Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen
-hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren
-in die Stadtwirrnis.
-
- (Die Woche)
-
-
-Unterm Rad
-
-Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.
-
-Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit
-der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad
-kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher
-leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner
-Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer
-unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.
-
- (Münchener Zeitung)
-
-Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch
-als der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine
-Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem,
-heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei -- ein klares
-Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.
-
- (Münchener Neueste Nachrichten)
-
-
-Diesseits
-
-Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.
-
-Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen,
-schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit
-weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden
-Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses
-neuen Novellenband »Diesseits« lesen.
-
- (Neue Zürcher Zeitung)
-
-Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es ist
-ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man
-ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, still,
-ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein
-so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse
-bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.
-
- (Münchener Zeitung)
-
-
-Nachbarn
-
-Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.
-
-Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den
-fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
-zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen
-schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese
-Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht,
-und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott
-sei Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.
-
- (Württemberger Zeitung, Stuttgart)
-
-Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum
-fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend.
-Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben.
-
- (Vossische Zeitung, Berlin)
-
-
-Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription:
-
-In "er war in dem großen Atelier heftig hin und wieder geschritten,
-hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen gedreht und sich
-alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes
-Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem
-Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter welchem
-jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestand als dem rasenden
-Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten
-"bestand".
-
-In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse
-Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von
-manchen anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und
-er hätte ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser
-Bekenntnisse ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke
-gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt
-"Welt"
-
-In "Denn er sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von
-der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine
-tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und
-über Unverständige Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt
-"entfernt".
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE ***
-
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-The Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse
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-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
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-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
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-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
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-Title: Umwege
-
-Author: Hermann Hesse
-
-Release Date: October 6, 2019 [EBook #60437]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
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-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE ***
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-Produced by Peter Becker, Heike Leichsenring and the Online
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-by The Internet Archive)
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-</pre>
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-<div class="title">
-<h1 class="gesperrt">Umwege</h1>
-
-<p class="gesperrt">Erzählungen<br />
-
-von<br />
-
-<span class="large">Hermann Hesse</span></p>
-
-<p class="p4">S. Fischer, Verlag, Berlin<br />
-1912</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/signet.jpg" width="100" height="100" alt="Signet" />
-</div>
-
-<p><span class="gesperrt">Neunte Auflage.</span><br />
-Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.<br />
-Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin.
-</p>
-</div>
-
-
-<div class="chapter">
-<h2>Inhalt</h2>
-</div>
-
-
-<table summary="Inhalt">
-<tr><td>Ladidel</td><td class="tdr"><a href="#Ladidel">9</a></td></tr>
-<tr><td>Die Heimkehr</td><td class="tdr"><a href="#Die_Heimkehr">88</a></td></tr>
-<tr><td>Der Weltverbesserer</td><td class="tdr"><a href="#Der_Weltverbesserer">149</a></td></tr>
-<tr><td>Emil Kolb</td><td class="tdr"><a href="#Emil_Kolb">211</a></td></tr>
-<tr><td>Pater Matthias</td><td class="tdr"><a href="#Pater_Matthias">265</a></td></tr>
-</table>
-
-
-
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Ladidel" id="Ladidel">Ladidel</a></h2>
-</div>
-
-<h3>Erstes Kapitel</h3>
-
-<p class="cap">Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das
-Leben leicht zu nehmen. Es war sein Wunsch gewesen,
-sich den höheren Studien zu widmen, doch als er mit
-einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen
-führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß
-er sich nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern
-zu folgen und auf diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum
-war dies geschehen und er als Lehrling in der Schreibstube
-eines Notars untergebracht, so lernte er einsehen,
-wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt
-werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes
-von bestandenen Prüfungen und akademischen Semestern
-abhänge. Gar bald schlug diese Ansicht Wurzel in ihm,
-überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn manchmal
-unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem
-Überlegen gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar
-einfachere Laufbahn erwählt habe, und daß dies der klügste
-und wertvollste Entschluß seines Lebens gewesen sei, wenn
-er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe. Seinen
-Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und
-die er jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse
-antraf, nickte er mit Herablassung zu und freute sich, wenn
-er sie vor ihren Lehrern die Hüte ziehen sah, was er selber
-längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig unter dem
-Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht
-machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und
-stattliche Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und
-schon jetzt äußerlich den älteren Kollegen gleichstellte. Am
-Abend übte er mit Kameraden die Kunst des Zigarrenrauchens
-und des sorglosen Flanierens durch die Gassen,
-auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier
-schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine
-von der Mama erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor
-trug, wie er denn auch im Kontor, wenn die andern
-zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen, stets etwas
-Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein
-Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten
-ein Mohrenkopf, Butterteiggipfel oder Makrönchen.</p>
-
-<p>Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war
-mit Stolz nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus
-wohl gefiel. Erst hier kam der höhere Schwung seiner
-Natur zur vollen Entfaltung, und wenn er bisher immer
-noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in sich getragen
-hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz
-und heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling
-zu den schönen Künsten hingezogen gefühlt und im
-Stillen nach Schönheit und Ruhm Begierde getragen.
-Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und Freunden
-unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl,
-der in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des
-Geschmacks als Führer galt und um Rat gefragt wurde.
-Denn hatte er schon als Knabe mit Kunst und Liebe gesungen,
-gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er in
-allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden,
-ja er hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine
-Gitarre, mit der er Lieder und spaßhafte Verslein begleitete
-und bei jeder Geselligkeit Ruhm und Beifall erntete,
-ferner machte er zuweilen Gedichte, die er aus dem
-Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug,
-und ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte
-er sich auf eine Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes,
-Geniales kennzeichnete. Namentlich schlang er seine Halsbinden
-mit einer kühnen, freien Schleife, die keinem andern
-so gelang, und wußte sein hübsches braunes Haar höchst
-edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel
-sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet
-tanzte und die Damen unterhielt, oder wenn er im
-Verein Fidelitas im Sessel zurückgelehnt seine kleinen lustigen
-Liedlein sang und dazu auf der am grünen Bande
-hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und wie
-er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte
-und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte,
-bis alles stürmisch um einen neuen Gesang bat, der mußte
-ihn hochschätzen, ja beneiden. Da er außer seinem kleinen
-Monatsgehalt von Hause ein anständiges Sackgeld bezog,
-konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne Sorgen
-hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden,
-da er immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen
-Dingen fast noch ein Kind geblieben war. So trank er
-noch immer lieber Himbeerwasser als Bier und nahm,
-wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine
-Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim
-Zuckerbäcker. Die Streber und Mißgünstigen unter seinen
-Kameraden, an denen es natürlich nicht fehlte, nannten
-ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen schönen
-Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und
-je zu schaffen und betrübte Stunden machte.</p>
-
-<p>Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten,
-der leise doch immerhin düsternd über diesen hellen
-Lebensfrühling zog. Seinem Alter gemäß begann der
-junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend nachzuschauen
-und war beständig in die eine oder andre verliebt.
-Das bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges
-Vergnügen, bald aber doch mehr Pein als Lust, denn
-während sein Liebesverlangen wuchs, sanken sein Mut und
-Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr.
-Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel
-viele verliebte und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner
-Mädchen aber entfiel ihm aller Mut. Wohl war er immer
-noch ein vorzüglicher Tänzer, aber seine Unterhaltungskunst
-ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen wollte, einiges
-von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger redete
-und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner
-Freunde, allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren
-gerne für einen Kuß, ja für ein liebes Wort vom
-Munde eines schönen Mädchens hingegeben.</p>
-
-<p>Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht
-recht zu passen schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit
-des Herzens, welche ihm seine Freunde gar nicht
-zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde es wollte,
-ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen
-mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt
-zuging, von Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von
-ewiger Treue und künftigem Ehebund aber keine Rede war.
-Und ohne dies alles mochte der junge Herr Ladidel sich die
-Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in hübsche,
-wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar
-wohl auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine
-richtige, sittsame Brautschaft. An eine solche war nun bei
-seinem Alter und Einkommen nicht von ferne zu denken,
-was er wohl wußte, und da seine Sinne maßvoll beschaffen
-waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten Schmachten
-und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel
-probiert hätte.</p>
-
-<p>Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die
-Mädchen gern. Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine
-Tanzkunst und sein Gesang, und sie hatten auch das schüchterne
-Begehren an ihm gern und fühlten, daß unter seiner
-Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes und
-noch halb kindliches Herz sich verbarg.</p>
-
-<p>Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen
-nichts, und wenn er auch in der Fidelitas noch immer
-Bewunderung und Beliebtheit genoß, ward doch der Schatten
-tiefer und bänglicher und drohte sein bisheriges leichtes
-und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen. In solchen
-übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine
-Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe
-und bereitete sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen
-vor, teils um seine Gedanken auf andere Wege zu zwingen,
-teils um desto eher und sicherer in die ersehnte Lage zu
-kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als ein Bräutigam
-auftreten zu können. Allerdings währten diese
-Zeiten niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit
-seiner Natur nicht angemessen waren. Hatte der Eifer
-ausgetobt, so griff der Jüngling wieder zur Gitarre, spazierte
-zierlich und sehnsüchtig in den schönen hauptstädtischen
-Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein. Neuerdings
-waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art,
-und sie bestanden aus Worten und Versen, Reimen und
-hübschen Wendungen, die er in Liederbüchlein da und dort
-gelesen und behalten hatte. Diese setzte er zusammen,
-ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein sauberes
-Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter
-und andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen,
-diese Verslein mit leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins
-Reine zu schreiben, und er vergaß darüber oft für eine
-Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag es in seiner
-glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern
-ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches
-vergaß. Schon das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung
-gab einen hübschen Zeitvertreib, das Führen
-des Kammes und der Bürste durch das halblange braune
-Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen,
-lichten Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens,
-das genaue Abbürsten des Rockes und das Reinigen
-und Glätten der Fingernägel. Weiterhin beschäftigte ihn
-häufig das Ordnen und Betrachten seiner Kleinodien, die
-er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte. Darunter
-befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe,
-ein in grünen Sammet gebundenes Büchlein mit
-der Aufschrift »Vergißmeinnicht«, worein er seine nächsten
-Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen ließ, ein
-aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen
-gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter,
-der &ndash; wenn man ihn gegen das Licht hielt und
-hineinsah &ndash; eine Ansicht des Niederwalddenkmals enthielt,
-des weiteren ein Herz aus Silber, das man mit einem
-unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein
-Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und
-eingeschnitzten Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene
-Mädchenbrosche mit mehreren zum Teil aufgesprungenen
-Granatsteinen, welche der Besitzer später bei einer festlichen
-Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber verarbeiten
-zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem
-dünnen, eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff
-den Kopf eines Windhundes darstellte, sowie an einer
-Busennadel in Form einer goldenen Leier, versteht sich
-von selbst.</p>
-
-<p>Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke
-verwahrte und wert hielt, so trug er auch sein kleines,
-ständig brennendes Liebesfeuerlein getreu mit sich herum,
-besah es je nachdem mit Lust oder Wehmut und hoffte
-auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von sich
-geben könne.</p>
-
-<p>Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf,
-der Ladideln nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit
-und Autorität stark erschütterte. Irgendein junger Privatdozent
-der technischen Hochschule begann abendliche
-Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die namentlich
-von den Angestellten der Schreibstuben und niedern
-Ämter fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen
-alle hin und in ihren Zusammenkünften erhoben sich nun
-feurige Debatten über soziale Angelegenheiten und innere
-Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen wollte noch
-konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen
-und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun
-und Interesse zu zeigen, es kam ihm das alles doch im
-Grunde der Seele als Streberei und Wichtigtuerei vor.
-Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über dem neuen
-Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen
-und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank
-er mehr und mehr von seiner einstigen Höhe herab in ein
-ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte er noch und nahm
-mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause,
-allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit
-Seufzen wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie
-auf den Ruhm Verzicht.</p>
-
-<p>In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch
-und Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines
-Freitags, sich rasieren zu lassen, was er immer an diesem
-Tage sowie am Dienstag zu besorgen pflegte. Darum
-trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst über
-die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte,
-in der Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen
-Friseurladen, um das Versäumte nachzuholen; denn ob
-ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er dennoch keiner Gewohnheit
-untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde
-beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider,
-wenn er etwa warten mußte, sondern saß alsdann
-vergnügt auf seinem Sessel, blätterte in einer Zeitung
-und betrachtete die mit Bildern geschmückten Anpreisungen
-von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis
-er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte,
-um die vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer
-und zuletzt die zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen
-zu fühlen.</p>
-
-<p>Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den
-im Winde klingenden Messingbecken weg den Laden betrat,
-den Stock an die Wand stellte und den Hut aufhängte,
-sich in den weiten Frisierstuhl lehnte und das Rauschen
-des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es bediente
-ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit,
-rasierte ihn, wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel
-vor, trocknete ihm die Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste
-darüber und fragte höflich: »Sonst nichts gefällig?«
-Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit leisem Tritt,
-bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente
-Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das
-alles hatte den jungen Herrn in eine gütige und zufriedene
-Stimmung gebracht, er spitzte schon die Lippen, um mit
-einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten, da
-hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte,
-fragen: »Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?«</p>
-
-<p>Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den
-Mann ins Auge und erkannte sofort seinen ehemaligen
-Schulkameraden Fritz Kleuber in ihm. Nun hätte er unter
-andern Umständen diese Bekanntschaft mit wenig Vergnügen
-anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit
-einem Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor
-Kollegen zu schämen gehabt hätte. Allein er war in diesem
-Augenblick herzlich gut gestimmt, und außerdem hatte sein
-Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit bedeutend
-nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune
-wie aus einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und
-Anerkennung, daß er dem Friseur die Hand hinstreckte
-und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir werden doch
-noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad
-nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich
-an, und da er im Dienst war und jetzt keine Zeit hatte,
-verabredeten sie eine Zusammenkunft für den Sonntag
-Nachmittag.</p>
-
-<p>Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war
-dem alten Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern
-Stande sich ihrer Schulfreundschaft hatte erinnern
-mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen Nachbarssohn
-und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung
-gehabt, da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen
-war, und Ladidels Eleganz und zierliche Erscheinung
-hatte ihm auch jetzt wieder tiefen Eindruck gemacht. Darum
-bereitete er sich am Sonntag, sobald sein Dienst getan
-war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten
-Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht,
-um nicht staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in
-dem Ladidel wohnte, wischte er die Stiefel mit einer Zeitung
-ab, dann stieg er freudig die Treppen empor und
-klopfte an die Türe, an der er Alfreds große Visitenkarte
-leuchten sah.</p>
-
-<p>Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem
-Landsmann und Jugendfreund gern einen glänzenden
-Eindruck machen wollte. Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit,
-wennschon nicht ohne rücksichtsvolle Überlegenheit,
-und hatte einen vortrefflichen Kaffee mit feinem Gebäck
-auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos einlud.</p>
-
-<p>»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken
-unsern Kaffee zusammen und machen nachher einen
-Spaziergang, wenn dir's recht ist.«</p>
-
-<p>Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank
-Kaffee und aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und
-zeigte über diese schöne Gastlichkeit eine so unverstellte
-Freude, daß auch dem Notariatskandidaten das Herz aufging.
-Sie plauderten bald im alten heimatlichen Ton von
-den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und Mitschülern
-und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte
-ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo
-er überall herumgekommen sei, dann hub der andre an
-und berichtete ausführlich über sein Leben und seine Aussichten.
-Und am Ende nahm er die Gitarre von der Wand,
-stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um
-Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen
-und Wohlbehagen die Tränen in den Augen standen. Sie
-verzichteten auf den Spaziergang und beschauten statt
-dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und darüber
-kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen
-sich unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte.
-Da waren freilich des Barbiers Ansprüche an das
-Glück um vieles bescheidener als die seines Freundes, aber
-am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen Trumpf aus,
-mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte
-nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den
-Freund ein, bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen,
-wo er willkommen sein werde.</p>
-
-<p>»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit
-bin ich leider noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr
-heiraten könnet?«</p>
-
-<p>»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre
-warten wir nimmer, wir sind schon über ein Jahr versprochen.
-Ich habe ein Muttererbe von dreitausend Mark,
-und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig bin
-und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft
-aufmachen. Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen
-in der Schweiz, da habe ich zwei Jahre gearbeitet,
-der Meister hat mich gern und ist alt und hat mir noch nicht
-lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir überlasse er
-seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja
-das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und
-ist gerade neben einem Hotel, da kommen viele Fremde,
-und außer dem Geschäft ist ein Handel mit Ansichtskarten
-dabei.«</p>
-
-<p>Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes
-und zog eine Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl
-den Brief des schaffhausener Meisters, wie auch eine
-in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte mitgebracht,
-die er seinem Freunde zeigte.</p>
-
-<p>»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das
-Bild zusammen an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen
-bengalischen Beleuchtung, der Friseur beschrieb
-alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte davon und
-von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen,
-kam dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft,
-las seinen Brief vor und war voller Eifer und Freude, so
-daß sein Kamerad schließlich auch wieder zu Wort kommen
-und etwas gelten wollte. Darum fing er an vom Niederwalddenkmal
-zu sprechen, das er selber zwar nicht gesehen
-hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine
-Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und
-ließ den Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die
-Pracht verbarg. Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine
-nicht mindere Schönheit sei als sein roter Wasserfall, und
-überließ bescheiden dem andern wieder das Wort, der sich
-nun, sei es aus wirklichem Interesse oder zum Teil aus
-Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte.
-Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues
-zu fragen und Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft.
-Es war vom Schliff der Rasiermesser, von den Handgriffen
-beim Haarschneiden, von Pomaden und Ölen die
-Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine Porzellandose
-mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem
-Freunde und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot.
-Nach einigem Zögern nahm dieser die Gabe an, die
-Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig probiert und
-endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred Gelegenheit,
-Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne
-Luxus doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit
-der Seife wollte Kleuber nicht einverstanden sein und
-empfahl eine andere, welche zwar etwas weniger dufte,
-dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte.</p>
-
-<p>Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei
-seiner Braut speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich
-für das Genossene freundlich zu bedanken. Auch Alfred
-fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter Nachmittag
-gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder
-Mittwoch abend wieder zu treffen.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Zweites Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die
-Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren
-und auch ihm wieder eine Ehre antun müsse. Darum
-schrieb er ihm Montags einen Brief mit goldnem Rande
-und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud ihn
-ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem
-Fräulein Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen.
-Darauf erhielt er mit der nächsten Post Ladidels elegante
-Visitenkarte mit den Worten »&ndash; dankt für die freundliche
-Einladung und wird um acht Uhr kommen.«</p>
-
-<p>Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller
-Sorgfalt vor. Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber
-erkundigt und in Erfahrung gebracht, daß sie neben einer
-ebenfalls noch ledigen Schwester von einem lang verstorbenen
-Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine Beamtentochter
-war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte.
-Diese Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige
-Schwester veranlaßten ihn, sich besonders schön zu machen
-und auch im voraus ein wenig an die Konversation zu
-denken.</p>
-
-<p>Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse
-und hatte das Haus bald gefunden, ging aber
-nicht hinein, sondern aus der Gasse auf und ab, bis nach
-einer Viertelstunde sein Freund Kleuber daherkam. Dem
-schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die hochgelegene
-Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre
-empfing sie die Witwe Weber, eine schüchterne kleine
-Dame mit einem versorgten alten Leidensgesicht, das dem
-Notariatskandidaten wenig Frohes zu versprechen schien.
-Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den Gang geführt,
-wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von
-da ging es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich,
-wie man es nicht erwartet hätte; und vom Fenster her,
-wo Geranien im Abendscheine tief wie Kirchenfenster leuchteten,
-traten munter die zwei Töchter der kleinen Witwe.
-Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und überboten
-das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein
-erwarten ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf
-schlanken, kräftigen Gestalten kluge, frische Blondköpfe
-und waren ganz hell gekleidet.</p>
-
-<p>»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die
-Hand.</p>
-
-<p>»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte
-sich dem hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne
-Tadel, zog die hinterm Rücken versteckte Hand hervor und
-bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß dar, den er unterwegs
-gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und schob
-ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und
-blond war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt
-an den gedeckten Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat
-bekränzten Eierspeise. Während der Mahlzeit wurde
-fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner Braut,
-die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute
-mühsam kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen
-Blick, hinter dem es ihr recht wohl war, der
-aber auf Ladidel einen beängstigenden Eindruck machte,
-so daß er wenig aß und sich bedrückt und still verhielt wie
-in einem Trauerhaus.</p>
-
-<p>Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand
-jedoch in einem Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen
-sie zuvor geschlossen hatte, und schien zu schlummern. Die
-Jugend blühte dafür munter auf, und die Mädchen verwickelten
-den Gast in ein neckendes und kampflustiges Gespräch,
-wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der
-Wand schaute der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen
-Rahmen verwundert und bescheiden hernieder,
-außer seinem Bildnis aber war alles in dem behaglichen
-Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung
-verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein
-der Mädchen und bis zu einer an der Schmalwand
-hängenden Mandoline. Auf diese fiel, als das Gespräch
-ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er äugte
-heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort,
-die ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von
-den Schwestern denn musikalisch sei und die Mandoline
-spiele. Das blieb nun an Martha hängen, und sie wurde
-sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht, da die
-Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten
-Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von
-sich gegeben hatte. Dennoch bestand Herr Ladidel mit
-Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas vorspielen,
-und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund.
-Da das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war,
-griff schließlich Meta nach dem Instrument und legte es
-vor sie hin, und da sie abwehrend lachte und rot wurde,
-nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise
-mit suchenden Fingern darauf herum.</p>
-
-<p>»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein
-Schöner, bringen andre Leute in Verlegenheit und können
-es nachher selber besser.«</p>
-
-<p>Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe
-kaum jemals so ein Ding in Händen gehabt, hingegen
-spiele er allerdings seit mehreren Jahren die Gitarre.</p>
-
-<p>»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast
-du auch das Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du
-nächstesmal tun, gelt!«</p>
-
-<p>Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der
-Gast begann einigen Glanz zu gewinnen und auszustrahlen.
-Zögernd erklärte er sich bereit, die Bitte zu erfüllen, wenn
-er wirklich den Damen mit seiner Stümperei ein bißchen
-Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde
-ihn hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha
-sich doch noch als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen
-immer noch zu halten geneigt sei.</p>
-
-<p>Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden
-Jünglinge Abschied nahmen, erhob sich am Fenster klein
-und sorgenvoll die vergessene Mutter, legte ihre schmale,
-wesenlose Hand in die warmen, kräftigen Hände der Jungen
-und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar
-Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes
-voll war.</p>
-
-<p>In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde
-gleich nach dem Weggange der Gäste der Tisch geräumt
-und das Licht gelöscht. In der Schlafstube hielten wie gewöhnlich
-die beiden Mädchen sich still, bis die Mutter eingeschlafen
-war. Alsdann begann Martha, anfänglich flüsternd,
-das Geplauder.</p>
-
-<p>»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?«</p>
-
-<p>»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.«</p>
-
-<p>&ndash; »Ach ja. Gut Nacht!« &ndash;</p>
-
-<p>»Ja, bist müd?«</p>
-
-<p>»Ein bißchen.«</p>
-
-<p>»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel
-geschleckt, nicht?«</p>
-
-<p>»Warum?«</p>
-
-<p>»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte
-Notar werden sollen und dafür der andre Friseur. Findest
-du nicht auch? Er hat so was Süßes.«</p>
-
-<p>»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack.
-Hast du seine Krawatte gesehen?«</p>
-
-<p>»Freilich.«</p>
-
-<p>»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs
-war er ja ganz schüchtern.«</p>
-
-<p>»Er ist auch erst zwanzig Jahr. &ndash; Na, gut Nacht also!«</p>
-
-<p>Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief,
-an den Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und
-sie ließ einstweilen, ohne sich weiter preiszugeben, eine
-kleine Kammer in ihrem Herzen für den hübschen Jungen
-offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten und
-Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr
-nicht gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten
-hinter sich gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte),
-teils weil sie nicht Lust hatte, noch lange neben der um ein
-Jahr jüngeren Meta unverlobt einherzugehen. Was an
-diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat nicht weh
-und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes,
-vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines
-Tages, der sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu
-werden verspricht.</p>
-
-<p>Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt
-geblieben. Zwar lebte er noch in dem dumpfen
-Liebesdurst eines kaum flügge Gewordnen und verliebte
-sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu sehen bekam;
-und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch war
-diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu
-haben, und Martha konnte sich neben jener wohl auch
-zeigen; so war Alfreds Herz im Laufe des Abends mehr
-und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug ihr Bildnis
-mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in
-unbestimmter Verehrung davon.</p>
-
-<p>Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis
-die kleine Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube
-beisammen saß; nur daß diesmal die jungen Herren
-später gekommen waren, da der Tisch der Witwe eine so
-häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte. Dafür
-brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit
-Stolz vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer
-vergnüglich in den warmen Abend hinaus, an der
-alten Mutter vorüber, die am Fenster ruhte und unbeschadet
-ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und
-Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant
-wußte es so einzurichten, daß zwar seine Kunst zur
-Geltung kam und reichen Beifall erweckte, er aber doch
-nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn nachdem er
-einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines
-Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern
-mit ins Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich
-beim ersten Takt von selber zum Mitsingen verlockten.</p>
-
-<p>Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung
-erwärmt und benommen, rückte nahe zusammen
-und sang nur leise und strophenweise mit, dazwischen plaudernd
-und sich mit verstohlenen Fingern streichelnd, wogegen
-Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge
-behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei
-Paare entstanden, ohne daß jemand dessen achtete, und
-war ein Anfang für Alfred und Martha gewonnen, den
-sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis
-zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft
-führten.</p>
-
-<p>Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten
-Gang das Brautpaar seine Küsse tauschte, standen
-die beiden andern, mit dem Adieusagen schon fertig, eine
-Minute lang verlegen wartend da. Im Bett brachte sodann
-Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn
-immer nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob.
-Aber die Schwester sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf
-auf beide Hände und lag lange still und wach, ins Dunkle
-schauend und tief atmend. Später, als die Schwester schon
-schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus, der
-jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem
-dumpfen Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen
-entsprang, und den sie nicht wiederholte. Vielmehr
-entschlief sie bald darauf leicht und mit einem innigen
-Lächeln auf dem frischen Munde.</p>
-
-<p>Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber
-nannte den eleganten Alfred mit Stolz seinen Freund,
-Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter nicht allein kam,
-sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha gewann
-den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche
-Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und
-lenksame Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie
-geschaffen, mit dem sie sich zeigen und auf den sie stolz
-sein könnte, ohne ihm doch jegliche Herrschaft überlassen
-zu müssen.</p>
-
-<p>Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen
-sehr zufrieden war, spürte in Marthas Freundlichkeit
-eine heimliche Wärme, die er bei aller Schüchternheit
-wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und Verlobung
-mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen
-Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert
-und selig lockend erscheinen.</p>
-
-<p>Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes.
-Alfred kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch,
-zweimal wurden auch gemeinsame Sonntagsspaziergänge
-unternommen, aber es blieb bei dem Zustande
-vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend
-begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche
-Gründe. Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne
-im längeren Umgang manches allzu Unreife und Knabenhafte
-entdeckt und es rätlich gefunden, einem noch so unerfahrenen
-Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr
-zu erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen
-selber fände und unterwegs etwa, sei es auch nicht
-ohne Bitternis, einige Reife und Zuverlässigkeit gewänne.
-Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes wäre, ihn an sich zu
-nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar nicht so
-eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht
-unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen
-erster Liebeswege hervorgegangen. So erschien
-es ihr billig, daß der junge Herr es auch nicht allzuleicht
-habe und nicht am Ende gar den Eindruck gewänne, sie
-habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille,
-ihn zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl
-im Auge zu behalten und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten,
-da er seines Glückes würdig sein würde.</p>
-
-<p>Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die
-Zunge banden. Da war zuerst seine Schüchternheit, die
-ihn immer wieder dazu brachte, seinen Beobachtungen
-zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde geliebt und
-begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen,
-gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und
-unfertig, &ndash; nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder
-vier Jahre älter sein konnte als er. Und schließlich erwog
-er in ernsthaften Stunden mit Bangen, auf welch unfesten
-Grund seine äußere Existenz gebaut war. Je näher nämlich
-das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige untergeordnete
-Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine
-Fähigkeit und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender
-wurden seine Zweifel. Wohl hatte er alle hübschen,
-kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des Amtes rasch und
-sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und
-spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das
-Studium der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles
-das dachte, was im Examen verlangt wurde, brach ihm
-der Schweiß aus. Konnte er denn um ein Mädchen anhalten
-oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er
-diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches
-und ehrenhaftes Leben vor sich sah?</p>
-
-<p>Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube
-ein und beschloß, den steilen Berg der Wissenschaft im
-Sturm zu nehmen. Kompendien, Gesetzbücher und Kommentare
-lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er handschriftliche
-Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer
-Examina, er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd
-hin, er spitzte Bleistifte und machte sich genaue
-Arbeitspläne für Wochen voraus. Aber sein Wille war
-schwach, er hielt niemals lange aus, er fand immer andres
-zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien;
-und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto
-bitterer und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob
-es wieder, es war ja noch Zeit, und er meinte, wenn es
-erst brennend würde und zu drängen begänne, werde wohl
-das Notwendige doch noch bewältigt werden.</p>
-
-<p>Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber
-immer fester und erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß
-Fritz ihn abends aufsuchte und, wenn es eben nötig schien,
-sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel es Alfred ein, diese
-nette, leichte, saubere Hantierung selber ein wenig zu probieren,
-und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf
-seine ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem
-hochgeschätzten Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein
-Messer tadellos abziehen und einen guten, haltbaren Seifenschaum
-schlagen. Alfred zeigte sich, wie der andre vorausgesagt
-hatte, überaus gelehrig und fingerfertig. Bald
-vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu
-barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister
-diesen Dienst zu tun, und er fand darin ein Vergnügen
-und eine Befriedigung, die ihm manchen von den Studien
-verbitterten Tag auf den Abend noch rosig machte. Eine
-ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch
-in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich,
-von seinen schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages
-einen künstlichen Zopf aus Frauenhaar mit und zeigte
-ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe. Ladidel war sofort
-begeistert für dieses zarte Handwerk und machte sich
-mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu
-lösen und wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm
-bald, und nun kam Fritz mit schwereren und feineren Arbeiten,
-und Alfred lernte spielend, zog das lange seidne
-Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte sich
-in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das
-Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein
-mit dem Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen
-über fachmännische Dinge. Er schaute nun auch die Frisuren
-aller Frauen und Mädchen, denen er begegnete, mit
-prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber
-durch manches treffende Urteil.</p>
-
-<p>Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden
-Fräulein Weber nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen.
-Er fühlte, daß er mit dieser neuen Kunst dort wenig Ehre
-ernten würde. Und dennoch war es sein Lieblingstraum
-und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen blonden
-Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben
-und ihr neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten.</p>
-
-<p>Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers.
-Es war in den letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an
-einem Spaziergang der Familie Weber teil. Man wanderte
-das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und ruhte
-in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen
-aus. Martha war an diesem Tage besonders freundlich
-und vertraulich mit Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner
-Nähe auf dem grünen Hang, ordnete einen Strauß von
-späten Feldblumen, tat ein paar silbrige zitternde Grasblüten
-hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß Alfred
-den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß
-etwas an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe
-und sagte es, und zugleich wagte er es, streckte seine Hände
-nach den blonden Zöpfen aus und erbot sich, sie in Ordnung
-zu bringen. Martha aber, einer solchen Annäherung von
-ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn
-kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken.
-Alfred schwieg betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich
-und nahm später die Einladung, bei Frau Weber zu speisen,
-nicht an, sondern ging nach der Rückkehr in die Stadt
-sogleich seiner Wege.</p>
-
-<p>Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten
-und sie hätte wohl dazu dienen können, ihre
-Sache zu fördern und in Gang zu bringen. Doch ging es
-umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen.</p>
-
-<p>War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur
-und zum Glücke geboren, so sollte doch auch er einigen
-Sturm erleben und einmal das Wasser an der Kehle
-spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Drittes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint
-und war nun erstaunt, als sie wahrnahm, daß
-Alfred eine Woche und länger ihr Haus mied. Er tat ihr ein
-wenig leid und sie hätte ihn gar gerne wiedergesehen. Als
-er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu grollen
-schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu
-einem so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt
-habe. Nun begann sie selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme
-und den gnädig Versöhnten spielen würde, wollte
-sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe.</p>
-
-<p>Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben
-hatte nicht Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit
-und Furcht vor Marthas Strenge zur Ursache. Er
-wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine damalige
-Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit
-vergessen und die Scham überwunden habe. In dieser
-Bußzeit spürte er deutlich, wie sehr er sich schon an den
-Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie sauer es ihn
-ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens
-wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur
-Verstärkung seiner Buße und zum Kampf wider die lange
-Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn zu trösten und geduldiger
-zu machen. So hielt er es denn nicht länger als
-bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines
-Tages sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen
-Hemdkragen und sprach bei den Weberschen vor, diesmal
-ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen seiner Beschämtheit
-machen wollte.</p>
-
-<p>Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler
-zu erscheinen, hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht.
-Es stand für die letzte Woche des September ein großes
-Fest- und Preisschießen bevor, worauf die ganze Stadt
-schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte Alfred
-Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war,
-die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit
-eine hübsche Begründung seines Besuches wie auch gleich
-einen Stein im Brett bei Martha zu gewinnen.</p>
-
-<p>Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte
-den Verliebten, der seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt
-war, getröstet und zum treuen Diener gemacht. Nun hatte
-aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie für Trotz hielt,
-verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte kaum,
-als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung
-ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt,
-im Zimmer ab und zu, als wäre sie allein. Ladidel
-war sehr eingeschüchtert, machte ein betrübtes, demütiges
-Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da sein verlegenes
-Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte zu wenden
-und seine Einladung vorzubringen, von welcher er
-sich einen Umschwung und Marthas Versöhnung versprach.</p>
-
-<p>Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung
-und demütige Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß,
-das Bürschlein diesmal in die Kur zu nehmen und
-ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte kurz
-und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung,
-es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste
-zu besuchen, und was ihre Schwester angehe, so sei diese
-verlobt und sei es Sache ihres Bräutigams, sie einzuladen
-und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe.</p>
-
-<p>Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds
-guten Willen so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und
-ernstlich verletzt sich an Meta mit der Frage wandte, ob
-sie diese Meinung teile. Und da Meta, wenn schon höflicher,
-der Schwester recht gab, griff Ladidel nach seinem
-Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann,
-der bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben,
-und nicht im Sinn hat wiederzukommen. Die alte Frau
-Weber war nicht da, Meta versuchte zwar ihn zurückzuhalten
-und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine Verbeugung
-mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und
-Alfred war es nicht anders zumute, als hätte sie ihm für
-immer abgewinkt. Er ging hinaus und schnell die Treppe
-hinab, und je schneller er lief und je weiter er wegkam,
-desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und Enttäuschung
-in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme
-seines redlichen Willens durchaus nicht verdient
-zu haben glaubte.</p>
-
-<p>Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß
-er sich in dieser Sache männlich und stolz gezeigt habe.
-Zorn und Trauer überwogen jedoch, grimmig lief er nach
-Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn besuchen wollte,
-ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen, ohne sich
-zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre
-hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen,
-ging aus und trieb sich den Abend in den Gassen herum,
-bis er müde war. Dabei fiel ihm alles ein, was er je Böses
-über die Falschheit und Wandelbarkeit der Weiber hatte
-sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und scheelsüchtiges
-Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles,
-fand auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu
-milde, und hätte wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen
-solcher Art zusammengestellt, wenn es ihm nicht doch zu
-elend ums Herz gewesen wäre.</p>
-
-<p>Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig,
-gegen seinen Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen,
-ein Brieflein oder eine Botschaft durch Fritz kommen,
-denn nachdem der erste Groll vertan war, schien ihm eine
-Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit, und
-sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu
-dem bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und
-es kam niemand. Das große Schützenfest jedoch rückte
-näher, und ob es dem betrübten Ladidel gefiel oder nicht,
-er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie jedermann
-sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden
-Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser
-mit Tannenzweigen geschmückt und Torbögen mit Inschriften,
-die große Festhalle am Wasen war fertig und ließ
-schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst seine schönste
-Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln
-täglich klarer und festlicher empor.</p>
-
-<p>Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut
-hatte, und obwohl ihm und seinen Kollegen ein freier Tag
-oder gar zwei bevorstanden, verschloß er sich doch der Freude
-gewaltsam und hatte fest im Sinn, die Festlichkeiten mit keinem
-Auge zu betrachten und in den Tagen der allgemeinen
-Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben.
-Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte
-da und dort in den Gassen hinter offenen Fenstern die
-Musikkapellen Proben halten und die Mädchen bei der
-Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und
-Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in
-dem Getümmel seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis
-und grimmiger Entsagung. In der Schreibstube hatten
-die Kollegen schon seit einiger Zeit von nichts als dem Fest
-mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der Herrlichkeit
-recht schlau und gründlich froh werden wollen.
-Zuweilen gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen
-und so zu tun, als freue auch er sich und habe seine Absichten
-und Pläne; meistens aber saß er schweigend an seinem
-Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei
-brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß
-mit ihr, sondern mehr und mehr auch um die große
-Festlichkeit, auf die er so lang und freudig gewartet hatte
-und von der er nun nichts haben sollte.</p>
-
-<p>Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte,
-wenige Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser
-machte ein betrübtes Gesicht und erzählte, er wisse gar
-nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei, sie hätten
-seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren
-Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen.
-Nun machte er Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen
-sich frohe Festtage zu schaffen, wenn auch in aller Bescheidenheit,
-denn wenn er auch nicht gesonnen sei, auf alles
-zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande als
-Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden
-Jungfern ganz recht, wenn er nun eben ohne sie den einen
-oder andern Taler draufgehen lasse. Allein Ladidel widerstand
-auch dieser Versuchung. Er dankte freundlich, erklärte
-aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die freie
-Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen.
-Von diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so
-viel erzählt und so viele Kunstausdrücke und Fremdwörter
-dabei aufgewendet, daß Fritz nun in tiefem Respekt keine
-Einwände wagte und traurig wieder ging. Aber als er
-fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und
-präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das
-Lied: »Wie die Blümlein draußen zittern.« Und als der
-Refrain zum zweiten Male wiederkehrte: »O bleib bei
-mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja dein Heimatort!«,
-da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf über
-die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen.
-Erst eine Stunde später, als er schon im Bette lag,
-fiel ihm ein, daß das Instrument leiden könnte, und er
-stand auf, um es abzuwischen, aber die Tropfen waren
-schon im trocknen Holz verronnen.</p>
-
-<p>Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet
-werden sollte. Es war ein Sonntag, und das Fest sollte
-die ganze Woche dauern. Die Stadt hallte von Gesang,
-Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen wider, aus
-allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine
-aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der
-Bahnhof wimmelte von Festbesuchern, die in Extrazügen
-gefahren kamen. Allenthalben schallte Musik, und die
-Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen
-trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen,
-wo das Volk seit dem Morgen zu Tausenden
-wartend stand. Schwarz drängte der Zug in dickem Fluß
-heran, schwer wankten die Fahnen darüber und stellten
-sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande
-um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen
-Platz. Auf alle diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher
-Wärme eine heitere Sonntagssonne hernieder.
-Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf den geröteten
-Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie
-Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch
-Zurufe angefeuert; wer in der Nähe war und Zutritt fand,
-nahm die Gelegenheit wahr, schon um diese frühe Stunde
-an den wohlversehenen Trinkhallen einen frischen Trunk
-zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten und
-befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten
-und Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten,
-in der Stille lachend, für diesen Glanztag einen
-Goldregen voraus.</p>
-
-<p>Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in
-seiner Stube auf dem Bett und hatte noch nicht einmal
-Stiefel an, so wenig schien ihm an der Freude gelegen.
-Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden Nachtgedanken,
-mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben.
-Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu
-nennen, ihr sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen,
-von dem er noch immer in leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit
-und Freundschaft versah. Nun zog er aus der
-Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen
-mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues
-Kuvert, steckte eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie
-mit der Zunge naß, prüfte die Tinte und schrieb alsdann
-in einer runden, elegant ausholenden Kanzleischrift zunächst
-die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha
-Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile
-stimmte ihn das aus der Ferne herübertönende Geblase
-und Festgelärme elegisch und er fand es gut, seinen
-Brief mit der Schilderung dieser Stimmung anzufangen.
-So begann er mit Sorgfalt:</p>
-
-<p class="center p2">
-»Sehr geehrtes Fräulein!
-</p>
-
-<p>Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag
-morgen und die Musik spielt von ferne, weil das
-Schützenfest beginnt. Nur ich kann an demselben nicht
-teilnehmen und bleibe daheim.«</p>
-
-<p>Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich
-weiter. Da fiel ihm noch manche schöne und treffende
-Wendung ein, mit welcher er seinen betrübten Zustand
-schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm klar,
-daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben
-konnte, als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und
-Werbung wäre. Und wie konnte er dies wagen? Und je
-länger er sann, desto mehr ward ihm klar, daß es mit dem
-Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und ausfand,
-es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen
-und damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun
-hätte er dies ja wohl im Dunkeln lassen und die Zeit bis
-dahin als Wartezeit und kurzen Aufschub betrachten können;
-allein er wußte recht wohl, wie es um seine Aussichten
-im Examen stand, und konnte weder sich selber noch
-das Mädchen über diese Sorge wegtäuschen.</p>
-
-<p>Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder
-schien ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen
-und was er zu seinen Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich
-ungewiß und gering. Eine Stunde verging und er kam
-nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe, da alles
-draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die
-ferne Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing
-seiner Trauer nach und bedachte, wieviel Freude und Lust
-ihm heute verloren ging, und daß er kaum in langer Zeit,
-ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben würde,
-eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber
-überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches
-Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen
-vermochte.</p>
-
-<p>Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht
-hatte tun wollen. Er zog seine Stiefel an und verließ das
-Haus, und während er nur hin und wider zu wandeln
-meinte und bald wieder daheim sein und an den Brief
-und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm
-und Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg
-ein Schiff, und unversehens stand er bei dem Schützenhaus.
-Da wachte er auf und schämte sich seiner Schwäche
-und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch währte
-alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste
-betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem
-Jubel fest zu bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt
-wirkten, wie bei einem Kinde und wie beim niederen
-Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend und erregend,
-der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn
-wie eine mächtige Wolke von sich selber und allem kaum
-Gewesenen hinweg in ein verzaubertes Reich des Feiertags
-und der besinnungslosen Lust.</p>
-
-<p>Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von
-der Menge mitgenommen, und sah und hörte und roch
-und atmete so viel Fremdes, Erregendes ein, daß ihm
-wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles, was der
-Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das
-Schießen erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen
-die Festtafel bald anhebe, daß nach Tische vielleicht der
-König herauskommen werde, um sich das auch zu besehen,
-ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und wer
-sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein
-Gedeck an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus
-Trompeten und Hörnern da und dort und überall feurige
-Musik, und in Pausen drang von der Ferne her, wo das
-Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die weichere
-Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf
-Schritt und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares,
-Erheiterndes und Erschreckendes, es wurden Pferde
-scheu, Kinder fielen um und schrien, ein vorzeitig Betrunkener
-sang unbekümmert, als wäre er allein, sein Lied und
-schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus
-belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher,
-mit Orangen und Zuckerwaren, mit Luftballonen für die
-Kinder, mit Backwerk und mit künstlichen Blumensträußchen
-für die Hüte der Burschen, abseits drehte sich unter
-heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer
-laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen
-wollte, dort führte ein Polizeidiener ein verlaufenes Büblein
-an der Hand.</p>
-
-<p>Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich
-und fühlte sich beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen
-und Dinge mit Augen zu sehen, von denen man
-noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war ihm
-wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte,
-und als es ihm gelungen war, in die Nähe der
-Ehrenhalle zu dringen, wo die Tafel auf einer fahnengeschmückten
-Höhe stattfand, schaute er mit Bewunderung
-und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände,
-den Oberamtmann und andre Würdenträger mit
-Orden und Abzeichen zumitten des Ehrentisches sitzen
-und speisen und weißen Wein aus geschliffenen Gläsern
-trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer,
-und wer etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit
-ihnen zu tun gehabt hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein
-bekannter Fabrikant und Millionär wurde erkannt und
-besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und schließlich
-wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel
-einen Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen
-vor sich ging und soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt
-war, machte einen jeden glücklich. Auch der kleine Ladidel
-staunte und bewunderte und fühlte sich groß und bedeutend
-als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus,
-da er Leuten, die weniger glücklich waren und nicht
-hatten dabei sein können, die ganze Herrlichkeit genau beschreiben
-würde.</p>
-
-<p>Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen
-Stunden Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines
-Zuckerbäckers und verzehrte ein paar Stücke Kuchen.
-Dann eilte er, um ja nichts zu versäumen, wieder ins Gewühl,
-und war so glücklich, den König zu sehen, wenn auch
-nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den
-Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts
-verstand, sah er doch mit Vergnügen und Spannung den
-Schützen zu, ließ sich einige berühmte Helden zeigen und
-betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel und Augenzwinkern
-der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell
-auf und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen
-in der frohen Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte
-mit dem Bildnis des Königs und dem Landeswappen,
-hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier zu, der
-seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern
-machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten
-Volksscharen. Errötend entwich er von der Bude eines
-Photographen, dessen Frau ihn zum Eintritt eingeladen
-und unter dem Gelächter der Umstehenden einen entzückenden
-jungen Don Juan genannt hatte. Und immer
-wieder blieb er stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte
-Melodien mitzusummen und sein Stöcklein im Takt dazu
-zu schwingen.</p>
-
-<p>Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte
-ein Ende, und es begann da und dort ein Zechen in Hallen
-oder unter Bäumen. Während der Himmel noch in zartem
-Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in der Herbstabendklarheit
-standen, glommen hier und dort schon Lichter
-und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche
-dahin und bedauerte das Sinken des Tages. Die solide
-Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum Abendessen, müdgewordene
-Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der
-Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten
-sich Lust und Übermut der Jugend, die sich auf Tanz
-und Wein freute, und wie es auf dem Platze und den Gassen
-leerer ward, tauchte da und dort und an jeder Ecke bald
-scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch
-mit sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und
-Ahnung nächtlicher Lust.</p>
-
-<p>Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit
-Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende
-Tageslicht. Die Erinnerung an Trauer und Leid
-kehrte mählich wieder, vermischt mit einem ungelöschten
-Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig werdend
-strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend.
-Es kicherte kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht
-nachsah, und als nun in einem Garten unter hohen schwarzen
-Kastanien mit lockender Pracht Reihen von roten Papierampeln
-aufglühten und aus eben diesem Garten her
-eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf
-der heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen
-Tischen aß und trank viel junges Volk, dahinter wartete
-ein großer Tanzplan erst halb erleuchtet. Der junge Mann
-nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und verlangte,
-als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte
-er aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik,
-aß ein weniges und trank langsam in kleinen Schlücken
-den ungewohnten Wein. Je länger er in die roten Lampen
-schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft der
-Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich
-vor, und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte
-seliger Lust, von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen
-sei. Wohin er blickte, sah er rote Wangen und begierige
-Augen leuchten, junge Burschen in Sonntagskleidern mit
-kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit verlangenden
-Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen.
-Und er war noch nicht lange mit seinem Abendessen fertig,
-als die Musik mit erneuter Wucht und Süße anstimmte,
-der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte und Paar auf
-Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte.</p>
-
-<p>Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine
-Weile dableiben zu können, und als der Wein doch schließlich
-zu Ende war, konnte er sich nicht entschließen, heimzugehen.
-Er ließ nochmals ein kleines Fläschlein kommen
-und saß und starrte und fiel in eine stachelnde Unruhe, als
-müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück
-blühen und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn
-abfallen. Und wenn es nicht geschah, so schrieb er sich in
-Leid und Trotz das Recht zu, wenigstens dem Fest und
-seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch seines Lebens
-zu trinken.</p>
-
-<p>Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen,
-denn so schlimm er es meinte, seine Natur war klüger und
-hätte ihm nicht erlaubt, mehr als einen kindlichen Versuch
-nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch keineswegs der
-Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer
-nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den
-Kopf hinreichend erhitzt und verwirrt hatten. Aber der
-mäßige und zierliche Jüngling konnte soviel Übermut und
-Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den Anblick so vieler
-hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne gleichfalls
-ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und
-blühender Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen,
-je heftiger rings um ihn die Freude tobte, sein Unglück
-sowohl wie sein Trostbedürfnis höher, und rissen den Unbeschützten
-zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die
-Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben
-oder sich Lust schaffen mußte.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Viertes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß
-und mit heißen Augen in das Tanzgewühl blickte, vom
-roten Licht der Ampeln und vom raschen Takt der Musik
-bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung überdrüssig,
-hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die
-fragte: »Ganz allein?«</p>
-
-<p>Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der
-Bank gebeugt ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren,
-mit einem weißen linnenen Hütlein und einer roten leichten
-Bluse angetan. Sie lachte mit einem hellroten Munde,
-während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln Augen
-ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie
-mitleidig und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja,
-leider.« Da nahm sie sein Weinglas, fragte mit einem
-Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank es in einem
-durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals, der
-bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und
-indessen sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen,
-daß sich hier ein Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht
-ohne Schrecken, aber er war allsofort entschlossen, dabei
-zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie es wollte.</p>
-
-<p>Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu
-tun, schenkte Ladidel das leere Glas wieder voll und bot
-es dem Mädchen an. Aber sie schüttelte den Kopf und blickte
-rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben eine neue Musik
-erscholl.</p>
-
-<p>»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in
-die Augen, der augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte
-und seinen Namen nannte.</p>
-
-<p>»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich
-heiße Fanny.«</p>
-
-<p>Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom
-und Schwall des Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet
-getanzt hatte. Früher war er beim Tanzen lediglich
-seiner Geschicklichkeit, seiner flinken Beine und feinen
-Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran gedacht,
-wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache.
-Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen
-Wirbel mit, gezogen und hingeweht und wehrlos, aber
-glücklich und im Innersten erregt. Bald zog und schwang
-ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem verloren
-ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre Pulse
-an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte.</p>
-
-<p>Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in
-den ihres Begleiters und zog ihn mit sich weg. Tief atmend
-wandelten sie langsam einen Laubengang entlang,
-zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung voll
-warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel
-mit blanken Sternen herein, von der Seite her
-spielte, von beweglichen Schatten unterbrochen, der rote
-Schein der Festampeln, und in diesem ungewissen Licht
-bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die
-Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und
-Hüten, mit bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen
-Fächern versehen, die gleich Pfauenrädern spielten.
-Ladidel nahm das alles nur als einen farbigen Nebel wahr,
-der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und daraus
-nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles
-Gesicht mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund
-mit glänzenden Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer
-Arm für Augenblicke deutlich hervorschimmerte.</p>
-
-<p>»Alfred!« sagte Fanny leise.</p>
-
-<p>»Ja, was?«</p>
-
-<p>»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach
-Amerika.«</p>
-
-<p>»Nein, ich hab keinen.«</p>
-
-<p>»Willst du nicht mein Schatz sein?«</p>
-
-<p>»Ich will schon.«</p>
-
-<p>Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten
-hellroten Mund. Liebestaumel wehte in den Bäumen
-und Wegen; Ladidel küßte den roten Mund und küßte den
-weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und
-den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an
-einen Tisch abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen
-und trank mit ihr aus einem Glase, hatte den Arm um ihre
-Hüfte gelegt und fühlte Feuer in allen Adern. Seit einer
-Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter ihm
-versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig
-die glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen.</p>
-
-<p>Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes
-und ihrer blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos
-und gedankenlos als ihr Liebster, dessen Feuer sie mit der
-einen Hand zu mehren, mit der andern abzuwehren bemüht
-war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl,
-und sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden
-Augen; doch war sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten
-und Zwecke zu vergessen, und diese gingen nicht
-auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern auf
-soliden Erwerb.</p>
-
-<p>Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen
-Wein und Tanz, von seiner Geliebten eine lange traurige
-Geschichte, die mit einer kranken Mutter begann und mit
-Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete. Sie bot
-dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen
-nicht auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während
-deren er sich stets wieder erholen und neue Glut fassen
-konnte, sie bat ihn sogar, nicht allzuviel daran zu denken
-und sich den schönen Abend nicht verderben zu lassen, bald
-aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die Augen.
-Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen
-Anfängern, das Mitleid eher entflammend als niederschlagend,
-sodaß er das Mädchen gar nimmer aus den
-Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für
-die Zukunft versprach.</p>
-
-<p>Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand
-dann plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke
-Mutter nicht länger warten lassen. Ladidel bat und flehte,
-wollte sie dabehalten oder zumindest begleiten, schalt und
-klagte und ließ auf alle Weise merken, daß er die Angel geschluckt
-habe und nimmer entrinnen könne.</p>
-
-<p>Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos
-die Achseln, streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun
-für immer von ihr Abschied zu nehmen. Denn, wenn sie
-bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert Mark sei,
-so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt
-werden und könne für das, wozu die Verzweiflung
-sie dann treiben würde, nicht einstehen. Ach, sie wollte
-ja gern lieb sein und ihrem Alfred jede Gunst gewähren,
-da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber unter diesen
-Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und
-sich mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend
-zu begnügen.</p>
-
-<p>Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu
-besinnen, versprach er das Geld morgen Abend herzubringen,
-und schien fast zu bedauern, daß sie seine Liebe
-auf keine größere Probe stelle.</p>
-
-<p>»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei
-schmiegte sie sich an ihn, daß er beinahe den Atem verlor.</p>
-
-<p>»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie
-nach Hause begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich
-eine so furchtbare Angst, man möchte sie sehen und ihr
-guter Ruf möchte notleiden, daß er mitleidig nachgab und
-sie allein ziehen ließ.</p>
-
-<p>Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher.
-Da und dort tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche
-Festlichkeit. Erhitzt und müde kam er endlich nach Hause,
-ging zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf,
-aus dem er schon nach einer Stunde wieder erwachte.
-Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr
-verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich
-und grau im Fenster, die Stube war dunkel und alles still,
-sodaß Ladidel, der nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war,
-verwirrt und ängstlich in die Finsternis blickte und den noch
-nicht verwundenen Rausch des Abends im Kopf rumoren
-fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran
-zu denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute
-Weile. Am Ende klärte sich jedoch die peinigende Trübe
-und der ernüchterte Träumer wußte wieder genau, um
-was es sich handle. Und nun drehten seine Gedanken sich
-die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das
-Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen
-hatte. Er begriff nimmer, wie er das Versprechen
-hatte geben können, es mußte in einer Bezauberung geschehen
-sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort zu
-brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er
-den Sieg nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit
-den Jüngling abhielt, eine Notleidende umsonst auf die
-zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch mächtiger freilich
-war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre Küsse
-und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung,
-das alles schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum
-entschlug und schämte er sich des Gedankens, ihr untreu
-zu werden, und wandte allen Scharfsinn daran, einen sicheren
-und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde
-zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer
-ward in seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher
-ihre Erlangung.</p>
-
-<p>Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten
-Augen und schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich
-an seinen Platz setzte, wußte er noch immer keinen Ausweg
-und hätte gern für die hundert Mark seine Seligkeit
-verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem Pfandleiher
-gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen seinen
-kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure
-und beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte
-ihm für das Ganze nicht mehr als zehn Mark geben wollen.
-Nun bückte er sich traurig über seine Arbeit und brachte
-eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit der Post,
-die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt
-öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche
-und las heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin
-gefunden hatte. »Liebster, gelt du kommst heut Abend?
-Mit Kuß deine Fanny.«</p>
-
-<p>Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen
-Umständen und um jeden Preis sein Versprechen zu halten.
-Das Brieflein verbarg er in der Brusttasche und zog es je und
-je heimlich hervor, um daran zu riechen, denn es hatte
-einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg.</p>
-
-<p>Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht
-war der Gedanke in ihm aufgestiegen, im Notfalle das
-Geld auf eine verbotene Weise an sich zu bringen, doch hatte
-er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun kamen
-sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden.
-Ob ihm auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl
-und Betrug im Herzen graute, so wollte ihm doch der Gedanke,
-es handle sich dabei nur um eine erzwungene Anleihe,
-deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr und
-mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach
-er sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen,
-sich die Summe auf der Bank, wo man ihn kannte,
-zu verschaffen, wenn er sich hätte entschließen können, die
-Handschrift seines Prinzipals zu fälschen. Aber zu einem
-solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch nicht.
-Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante,
-und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser
-Prüfung hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in
-der letzten Stunde, eine allzu verlockende Gelegenheit doch
-noch zum Schelm gemacht hätte.</p>
-
-<p>Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen
-Wertbrief zu senden, und zählte ihm die Banknoten hin.
-Es waren sieben Scheine, die er zweimal durchzählte. Da
-widerstand er nicht länger, brachte mit zitternder Hand
-eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse ein,
-die denn auch zur Post kamen und abreisten.</p>
-
-<p>Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den
-Siegelbrief wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem
-Inhalte stimmte. Von allen Arten der Unterschlagung
-schien ihm diese nun die törichtste und gefährlichste, da im
-besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das Fehlen
-des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde.
-Als der Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im
-Bösen unbewanderte Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders,
-der den Strick um den Hals und den Schemel
-schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben
-möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht
-aber auch nur einen, dann bin ich meines guten Rufes,
-meiner Freiheit und Zukunft ledig, und alles um die hundert
-Mark, die nicht einmal für mich sind. Er sah sich verhört,
-verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins Gefängnis
-gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus
-verdient und in der Ordnung sei.</p>
-
-<p>Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es
-könnte am Ende auch besser ablaufen. Daß die Sache gar
-nicht entdeckt werden würde, wagte er zwar nicht zu hoffen;
-aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte man beweisen,
-daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er
-wider seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging
-dann nach Hause, um sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock
-und seiner besten Wäsche angetan, erschien er eine
-Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs war seine
-Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder erwachten
-heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle
-übertäubt.</p>
-
-<p>Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es
-dem einsam wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von
-der guten Bürgerschaft, sondern zumeist von geringeren
-Leuten und auch von manchen verdächtig Aussehenden
-besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte
-und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen
-an dieser Gesellschaft und er verließ den Garten,
-um draußen hinterm Zaun zu warten. Da lehnte er in der
-Abendkühle an einer finstern Stelle des Geheges, sah in
-das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten
-derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen
-war und so ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm
-alles weniger gefallen; von den Mädchen sahen viele frech
-und liederlich aus, die Burschen hatten üble Manieren und
-unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes Einverständnis
-durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen
-sahen weniger festlich und leuchtend aus, als
-sie ihm gestern erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur
-Müdigkeit und Ernüchterung, oder ob sein schlechtes Gewissen
-daran schuld sei; aber je länger er zuschaute und
-wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder kommen,
-und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme,
-von diesem Ort wegzugehen.</p>
-
-<p>Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und
-ungeduldig zu werden begann, sah er am jenseitigen Eingang
-des Gartens sein Mädchen ankommen, in der roten
-Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und betrachtete
-sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte
-er nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch
-reizte es ihn, sie so aus dem Verborgenen zu belauschen.</p>
-
-<p>Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten
-und suchte; und da sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite
-an einen Tisch. Ein Kellner kam, doch winkte sie ihm
-ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr ein Bursche näherte,
-der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher Patron
-aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit
-Ladidel sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl
-nach ihm, und der Bursche zeigte nach dem Ausgang und
-schien zu erzählen, der Gesuchte sei dagewesen, aber wieder
-fortgegangen.</p>
-
-<p>Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr
-eilen, doch sah er in demselben Augenblick mit Schrecken,
-wie der unangenehme Bursche die Fanny ergriff und mit
-ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete er sie beide,
-und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des
-Mannes das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das
-Mädchen gleichgültig zu sein, ja ihn abzuwehren.</p>
-
-<p>Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem
-Begleiter einem andern zugeschoben, der den Hut vor ihr
-zog und sie höflich zur neuen Tour aufforderte. Ladidel
-wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu ihr hinein,
-doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung
-zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit
-ihm den Schottischen begann. Und während des Schottischen
-sah er sie schön mit dem andern tun und seine Hände
-streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie es gestern
-ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm
-werden und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes
-mit ihr durch die dunkleren Laubengänge wandeln, wobei
-das Paar dem Lauscher peinlich nahe kam und er ihre Worte
-und Küsse gar deutlich hörten konnte.</p>
-
-<p>Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden
-Augen, das Herz voll Scham und Wut und dennoch froh,
-der Hure entgangen zu sein. Junge Leute kehrten von den
-Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang
-aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf
-ihn und alle Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war
-er todmüde und hatte kein Verlangen mehr als zu schlafen.
-Und da er seinen Sonntagsrock auszog und gewohnterweise
-seine Falten glatt strich, knisterte es in der Tasche
-und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig
-lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische;
-er sah es eine Weile an, schloß es dann in die Schublade
-und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu erleben, hatte
-er nun gestohlen und sein Leben verdorben.</p>
-
-<p>Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in
-dieser Zeit nicht mehr an Fanny und nicht mehr an die
-hundert Mark, noch an das, was jetzt über ihn kommen
-würde, sondern er dachte an Martha Weber und daran,
-daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Fünftes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte
-erfahren, wie bitter es ist, sich vor sich selber schämen
-zu müssen, und stand sein Mut auch tief, so war er dennoch
-fest entschlossen, mit dem Gelde und einem ehrlichen Geständnis
-zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner Ehre
-und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre.</p>
-
-<p>Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden
-Tage der Notar nicht ins Kontor kam. Er wartete bis
-Mittag und vermochte seinen Kollegen kaum in die Augen
-zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen noch an diesem
-Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde.</p>
-
-<p>Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete,
-er sei unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft
-kommen. Da hielt Ladidel es nicht länger aus. Er
-ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs in die
-Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen,
-er bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte
-seinen Namen und begehrte in einer wichtigen Sache den
-Herrn zu sprechen. So wurde er in ein Vorzimmer geführt
-und aufgefordert zu warten.</p>
-
-<p>Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung
-und Angst zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf
-jeden Ton im Hause und hatte das Sacktuch in der Hand,
-da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über die Stirn lief.
-Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher,
-Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort
-ein Löwe aus grauem Stein und in Stehrahmen eine
-Menge von Photographien. Es sah hier feiner, doch ähnlich
-aus wie in der schönen Stube von Ladidels Eltern, und
-alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und Würde. Die
-Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor,
-Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von
-guter Familie und zweifellos bestem Rufe, und von der
-Wand schaute ein wohl lebensgroßer Mannskopf herab,
-dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des verstorbenen
-Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten.
-Zwischen so viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in
-seinen eigenen Augen von Augenblick zu Augenblick tiefer,
-er fühlte sich durch seine Übeltat von diesem und jedem
-ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die Abgängigen
-und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien
-gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben
-rechter Leute aufgestellt werden.</p>
-
-<p>Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren
-nennt, schwang ihren messingenen Perpendikel
-gleichmütig und unangefochten hin und wider, und einmal,
-nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte,
-räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen,
-vollen Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben
-Augenblick trat ihm gegenüber der Notar durch die
-Türe. Er beachtete Ladidels Verbeugung nicht, sondern
-wies sogleich befehlend auf einen Sessel, nahm selber Platz
-und sagte: »Was führt Sie her?«</p>
-
-<p>»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre &ndash; &ndash;.«
-Dann aber schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich
-habe Sie bestehlen wollen.«</p>
-
-<p>Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar
-wirklich bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer
-Stunde telegraphiert worden. Sie haben also wirklich
-einen von den Hundertmarkscheinen genommen?«</p>
-
-<p>Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche
-und streckte ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die
-Finger, spielte damit und sah Ladidel scharf an.</p>
-
-<p>»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?«</p>
-
-<p>»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen
-hatte. Ich habe ihn nicht gebraucht.«</p>
-
-<p>»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld
-genommen hätten, wußte ich sofort. Es konnte ja sonst
-niemand sein. Und außerdem wurde mir gestern erzählt,
-man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz in
-einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt
-es nicht damit zusammen?«</p>
-
-<p>Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe
-gab, das Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider
-seinen Willen doch fast alles heraus. Der alte Herr unterbrach
-ihn nur zwei-, dreimal durch kurze Fragen, im übrigen
-hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem Beichtenden
-ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören.</p>
-
-<p>Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und
-wider. Nachdenklich nahm er eine von den Photographien
-in die Hand. Plötzlich bot er das Bild dem Übeltäter hin,
-der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen kauerte.</p>
-
-<p>»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen
-Fabrik in Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen
-es ja nicht jedermann zu erzählen, und er hat als junger
-Mensch in einer ähnlichen Lage wie Sie tausend Mark entwendet.
-Er wurde von seinem Vater preisgegeben, mußte
-hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.«</p>
-
-<p>Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel
-das Bild des stattlichen Mannes ansah und einigen Trost
-daraus sog, daß also auch in dieser ehrenwerten Familie
-ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der Sünder es
-doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten
-gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener
-Leute stehen dürfe.</p>
-
-<p>Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen
-und trat zu Ladidel, der ihn schüchtern anschaute.</p>
-
-<p>Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich
-glaube nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen
-wieder auf rechte Wege. Am Ende würde ich es sogar
-wagen und Sie behalten. Aber das geht doch nicht. Es
-wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine
-Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht
-empfehlen, wenn ich auch an Ihre guten Vorsätze gern
-glauben will. Wir wollen also die Sache zwischen uns für
-abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen. Aber
-bei mir bleiben können Sie nicht.«</p>
-
-<p>Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich
-behandelt zu sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt
-und so ins Ungewisse geschickt fand, verzagte er doch
-und klagte: »Ach, was soll ich aber jetzt anfangen?«</p>
-
-<p>»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte
-er. »Seien Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre
-es Ihnen wohl nächstes Frühjahr im Staatsexamen gegangen?
-Schauen Sie, Sie werden rot. Nun, wenn Sie
-auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen
-können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich
-hatte ohnehin schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber
-mit Ihnen zu reden. Jetzt ist ja die beste Gelegenheit dazu.
-Meine Überzeugung, und vielleicht im Stillen auch Ihre,
-ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie passen
-nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben.
-Nehmen Sie an, Sie seien im Examen durchgefallen, und
-suchen Sie recht bald einen andern Beruf, in dem Sie es
-weiter bringen können. Vielleicht ist es für eine Kaufmannslehre
-noch nicht zu spät &ndash; aber das ist Ihre und Ihres
-Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen.
-Wenn Sie noch etwas im Kontor liegen haben, was
-Ihnen gehört, so holen Sie es jetzt. &ndash; Nur noch eins: Ihr
-Vater muß die Sache natürlich wissen!«</p>
-
-<p>Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf.</p>
-
-<p>»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie
-es gewiß, und warten Sie damit nicht lang, denn schreiben
-muß ich ihm doch. Am besten fahren Sie gleich morgen
-nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins Gesicht!
-Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie
-mir später einmal Bericht geben, wird es mich freuen.
-Nur jetzt den Kopf nicht ganz hängen lassen und keine neuen
-Dummheiten machen! &ndash; Adieu denn, und grüßen Sie
-den Herrn Vater von mir!«</p>
-
-<p>Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine
-kräftig und schob ihn, der noch reden und danken wollte,
-zur Tür.</p>
-
-<p>Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte
-sehen, was weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar
-schwarze Ärmelschoner zurückgelassen, an denen war ihm
-nichts gelegen, und er zog es vor, sich dort nimmer zu zeigen
-und sich das Abschiednehmen von den Kollegen zu ersparen.
-Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor der
-Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden
-Zeit graute, auf dem Grund seiner Seele war er doch dankbar
-und beinahe vergnügt, der furchtbaren Angst vor Polizei
-und Schande ledig zu sein; und während er langsam durch
-die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er nun kein
-Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl
-in sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage
-auszuruhen und aufzuatmen begehrte.</p>
-
-<p>So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch
-das ungewohnte Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit
-frei durch die Stadt zu spazieren, recht wohl zu gefallen.
-Er blieb vor den Auslagen der Kaufleute stehen, betrachtete
-die Kutschenpferde, die an den Ecken warteten, schaute
-auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für
-eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl.
-Dann kehrten seine Gedanken in den alten engen Kreis
-zurück, und als er, schon wieder gedrückt und ziemlich mutlos,
-in der Nähe seiner Wohnung um eine Gassenecke bog,
-mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen,
-die dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm
-alles wieder recht aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen
-Versuche auf dem Gebiete der Liebe zumal, und er
-mußte sich vorstellen, was wohl die Martha denken und
-sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe.
-Erst jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht
-nur von Amt und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des
-geliebten Mädchens entführe. Und alles um diese Fanny.</p>
-
-<p>Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen,
-nicht ohne einen Gruß an Martha fortzugehen.
-Schreiben mochte und durfte er ihr nicht, es blieb ihm nur
-der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte er, kurz vor
-dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube
-auf.</p>
-
-<p>Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder
-zu sehen. Doch deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er
-müsse aus besonderen Gründen seine Stelle verlassen und
-wegreisen.</p>
-
-<p>»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber
-wenigstens noch einmal zusammensein, wer weiß, wann
-man sich wieder sieht! Wann mußt du denn reisen?«</p>
-
-<p>Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen.
-Also übermorgen.«</p>
-
-<p>»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme
-zu dir, wenn dir's recht ist.«</p>
-
-<p>»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut
-kommst, sagst du viele Grüße von mir &ndash; an alle!«</p>
-
-<p>»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?«</p>
-
-<p>»Ach, das geht jetzt nimmer. &ndash; Also morgen!«</p>
-
-<p>Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden
-Tag, ob er es nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den
-Mut dazu. Was hätte er sagen und wie seine Abreise erklären
-sollen? Ohnehin überfiel ihn heute eine heillose
-Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater, vor den
-Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging.
-Und er packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner
-Wirtin die Stube zu kündigen. Statt all dies Notwendige
-zu tun, saß er und füllte Bogen mit Entwürfen zu einem
-Brief an seinen Vater.</p>
-
-<p>»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen
-&ndash;«</p>
-
-<p>»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe
-&ndash;«. Es war nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch
-deutlich zu sagen. Aber es war immerhin leichter, diesen
-Brief zusammenzudichten als heimzufahren und zu sagen:
-Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt. Und so ward
-denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der
-Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen
-oftmals überdenken und den bittern Trank der Scham
-und Reue leeren müssen, so hatte er im Verlauf doch auch
-Gelegenheit gefunden, die böse Sache von freundlicheren
-Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu
-streichen.</p>
-
-<p>Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen,
-und Kleuber fand ihn so milde und weich wie noch nie.
-Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk, eine kleine geschliffene
-Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die
-bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken
-mitgeben? Es wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen
-sah er sich um und rief verwundert: »Du hast ja noch
-gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?«</p>
-
-<p>Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin
-noch nicht soweit. Ich muß noch auf einen Brief warten.«</p>
-
-<p>»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch
-Zeit zum Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich
-heut Abend miteinander zu den Webers gehen. Es wäre
-doch schade, wenn du so wegreisen würdest.«</p>
-
-<p>Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum
-Himmel auf und würde im selben Augenblick wieder zugeschlagen.
-Er wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den
-Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten die Worte
-ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten
-Fritz in ein Schluchzen aus.</p>
-
-<p>»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel
-winkte schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß
-er seinen bewunderten und stolzen Freund in Tränen sah,
-so ergriffen und gerührt, daß er ihn in die Arme nahm wie
-einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in unbestimmten
-Ausdrücken seine Hilfe anbot.</p>
-
-<p>»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er
-wieder reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe,
-und schließlich kam es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer
-so wohlmeinenden Seele zu beichten, so daß er nachgab.
-Sie setzten sich einander gegenüber, Ladidel wandte sein
-Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals als
-wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen
-sind &ndash;« und erzählte weiter, alles und alles, von seiner
-Liebe zu Martha, von ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen,
-und wie leid ihm das tue. Sodann kam
-er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung
-und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny,
-von dem Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet
-geblieben sei, endlich von dem gestrigen Gespräch mit dem
-Notar und seiner jetzigen Lage. Er gestand auch, daß er
-das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu kommen, daß
-er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden
-warte.</p>
-
-<p>Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu,
-betrübt und in der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse.
-Als der andre schwieg und das Wort an ihm war,
-sagte er leise und schüchtern: »Da tust du mir leid.« Und
-obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig
-veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas
-passieren, und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht.
-Was soll ich da sagen? Die Hauptsache ist jetzt,
-was du anfangen sollst.«</p>
-
-<p>»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.«</p>
-
-<p>»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du
-denn wirklich nichts?«</p>
-
-<p>»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.«</p>
-
-<p>»Das wird nicht nötig sein. &ndash; Wenn ich nur wüßte, ob
-es dir keine Beleidigung ist &ndash; &ndash;«</p>
-
-<p>»Was denn?«</p>
-
-<p>»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist
-eine Dummheit von mir, und du nimmst es übel.«</p>
-
-<p>»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.«</p>
-
-<p>»Sieh, ich denke mir so &ndash; du hast ja hie und da dich für
-meine Arbeit interessiert, und hast selber zum Vergnügen
-es damit probiert. Du hast auch viel Genie dafür und könntest
-es bald besser als ich, weil du geschickte Finger hast und
-so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn sich vielleicht
-nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit unsrem
-Handwerk probieren möchtest?«</p>
-
-<p>Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das
-Gewerbe eines Barbiers war ihm bisher zwar nicht
-schimpflich, doch aber wenig nobel vorgekommen. Nun
-aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und
-hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe
-gering zu achten. Das fühlte er auch; und daß Fritz sein
-Talent so rühmte, tat ihm wohl. Er meinte nach einigem
-Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das Dümmste.
-Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an
-einen andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun,
-noch einmal als Lehrbub bei irgendeinem Meister anzufangen.«</p>
-
-<p>Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!«</p>
-
-<p>»Ja wie denn sonst?«</p>
-
-<p>»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu
-lernen ist. Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft
-habe, das dauert nimmer lang. Du könntest aber
-auch schon jetzt zu mir kommen. Mein Meister nähme ganz
-gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen Lohn will.
-Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes
-Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja
-vielleicht nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber
-wenn man eine gute und feine Kundschaft hat, ist es doch
-kein übles Geschäft.«</p>
-
-<p>Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und
-spürte im Herzen, daß hier sein Schicksal sich entschied.
-War es auch vom Notar zum Friseur ein gewisser Rückschritt,
-so empfand er doch zum erstenmal im Leben die
-innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren
-Beruf entdeckt und den ihm bestimmten Weg gefunden
-hat.</p>
-
-<p>»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte
-Kleubern die Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in
-meiner Haut. Mein Alter wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden
-sein, aber er muß es ja einsehen. Gelt, du
-redest dann auch ein Wort mit ihm?«</p>
-
-<p>»Wenn du meinst &ndash;«, sagte Fritz schüchtern.</p>
-
-<p>Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen
-Beruf und so voll Eifers, daß er begehrte, augenblicklich
-eine Probe abzulegen. Kleuber mochte wollen oder nicht,
-er mußte sich hinsetzen und sich von seinem Freunde rasieren,
-den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es glückte
-alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge
-zu geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den
-Weingeistkocher und setzte Tee an, plauderte und setzte
-seinen Freund durch diese rasche Heilung von seinem Trübsinn
-nicht wenig in Erstaunen. Fritz brauchte länger, um
-sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß Alfreds
-Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser
-wie in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen
-und Schelmenlieder angestimmt. Es hielt ihn davon nur
-der Anblick des Briefes an seinen Vater ab, der noch auf dem
-Tische lag und ihn am spätern Abend nach Kleubers Weggehen
-noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch,
-war nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den
-Entschluß, nun doch heimzufahren und seine Beichte selber
-abzulegen. Nun wagte er es, da er einen Ausweg aus der
-Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte.</p>
-
-<div class="chapter">
-<h3>Sechstes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte,
-war er zwar etwas stiller geworden, hatte aber
-seine Absicht erreicht und trat für ein halbes Jahr als Volontär
-bei Kleubers Meister ein. Fürs erste sah er damit
-seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr verdiente
-und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen
-war. Er mußte seine hübsche Stube aufgeben und
-eine geringe Kammer nehmen, auch sonst trennte er sich
-von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen Stellung
-nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb
-bei ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner
-Neigung zu sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und
-Schnurrbartes, seiner Hände und Fingernägel jetzt ohne
-Beschränkung frönen. Er schuf sich nach kurzem Studium
-eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner
-Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und
-Pudern das Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als
-dies alles beglückte und mit dem Wechsel seines Standes
-versöhnte, war die Befriedigung, die er im neuen Berufe
-fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier
-zu betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem
-er Aussicht hatte, Bedeutendes zu leisten.</p>
-
-<p>Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete
-Arbeiten tun. Er mußte Knaben die Haare schneiden,
-Arbeiter rasieren und Kämme und Bürsten reinigen, doch
-erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten künstlicher
-Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach
-kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten,
-nobel aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden
-und gab sogar ein Trinkgeld, und nun ging es
-Stufe für Stufe vorwärts. Ein einzigesmal schnitt er
-einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über sich
-ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung
-und Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber,
-der ihn bewunderte und nun erst recht für einen Auserwählten
-ansah. Denn wenn er selbst auch ein tüchtiger
-Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm doch
-sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort
-die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das
-leichte, unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit
-nobler Kundschaft. Hierin war Ladidel bedeutend, und
-nach einem Vierteljahr begehrten schon die verwöhnteren
-Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand
-es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren
-Ankauf neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen,
-teurer Bürstchen und Kämme zu überreden; und in der Tat
-mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat willig und
-dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos
-und wohlbestellt aus.</p>
-
-<p>Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte,
-trug er jede Entbehrung leichter, und so hielt er auch die
-lange Trennung von Martha Weber geduldig aus. Ein
-Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in seiner neuen
-Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten, seinen
-neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war
-allerdings nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta,
-der die Neigung ihrer Schwester zu dem hübschen Notar
-nicht unbekannt geblieben war, hatte sich hinter Fritz gesteckt
-und bald ohne Mühe alles herausbekommen. So
-konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten
-enthüllen und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel
-ihres Geliebten, den er jedoch aus Gesundheitsrücksichten
-vorgenommen habe, sondern auch seine unveränderte treue
-Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich seines neuen
-Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls
-nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas
-gebracht und begründete Aussichten für die Zukunft habe.</p>
-
-<p>Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom
-»Notar« die Rede. Meta hatte ihn über den Schellenkönig
-gelobt, Martha aber sich wie immer spröde verhalten und
-es vermieden, Farbe zu bekennen.</p>
-
-<p>»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß
-er am Ende noch vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.«</p>
-
-<p>»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.«</p>
-
-<p>»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem
-Notar durchaus nicht?«</p>
-
-<p>»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon
-wissen, wo er sich eine zu suchen hat.«</p>
-
-<p>»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen,
-und jetzt ist er scheu und findet den Weg nimmer
-recht. Dem wenn man einen Wink gäbe, er käm auf allen
-Vieren gelaufen.«</p>
-
-<p>»Kann schon sein.«</p>
-
-<p>»Wohl. Soll ich winken?«</p>
-
-<p>»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer,
-mein ich.«</p>
-
-<p>Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl,
-wie ihrer Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie
-gar zu gern ihren Alfred auf gute Art wieder zu Handen
-gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den Scheugewordenen
-wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten
-Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu.</p>
-
-<p>Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens
-alter Meister wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald
-sich einen Feierabend zu gönnen. Da frage er an, wie
-es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich nannte er die
-Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel
-davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen
-waren nun billig und wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers
-Mittel dazu nicht hin, so daß er in Sorgen umherging,
-und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden und
-Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand
-er sich und schrieb ab, und erst dann erzählte er die
-ganze Sache Ladideln.</p>
-
-<p>Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen,
-und machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit
-vor seinen Vater bringen. Wenn der zu gewinnen
-sei, könnten sie ja das Geschäft gemeinsam übernehmen.</p>
-
-<p>Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen
-Leute mit ihrem Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht
-sogleich daran, obwohl die Summe seinen Beutel nicht
-erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz Kleuber, der sich
-seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl angenommen
-hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred
-von seinem jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis
-mitgebracht. Ihm schien, sein Sohn sei jetzt auf gutem
-Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein darein zu werfen.
-Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß
-er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich
-alles anzusehen.</p>
-
-<p>Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone
-wurden von allen Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß
-im Frühjahr Hochzeit zu halten und bat sich Ladidel
-als ersten Brautführer aus. Da war ein Besuch im Hause
-Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens
-Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor
-Herzklopfen kaum die vielen Treppen hinaufkommen.
-Oben empfing ihn der gewohnte Duft und das gewohnte
-Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die alte Mutter
-schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der
-hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß
-in einem dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war
-diesmal kaum minder verwirrt als er selber. Man tauschte
-Höflichkeiten, fragte nach der Gesundheit, trank aus kleinen
-altmodischen Kelchgläsern einen hellroten süßen Stachelbeerwein
-und besprach dabei die Hochzeit und alles dazu
-gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein
-Marthas Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen,
-sich nun auch wieder fleißig im Hause zu zeigen. Beide
-sprachen miteinander nur höfliche und unbedeutende Worte,
-sahen einander aber heimlich an, und jedes fand das andre
-auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert.
-Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes,
-daß auch das andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen
-heimlich, einander nicht wieder ohne Grund weh
-zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit Verwunderung,
-daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht
-entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte
-ihnen scheinen, nun seien wenig Worte mehr notwendig
-und die Hauptsache zwischen ihnen in Ordnung.</p>
-
-<p>So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei,
-daß Meta und Fritz die beiden nach schweigendem Übereinkommen
-wie ein versprochenes Paar ansahen. Wenn Ladidel
-ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah, so
-schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen
-komme und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel
-half treulich bei den Vorbereitungen zur Hochzeit mit
-und tat es so eifrig und mit dem Herzen, als gälte es seine
-eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit unendlicher
-Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue Frisur.</p>
-
-<p>Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber
-und drunter ging, erschien er eines Tages feierlich,
-wartete einen Augenblick ab, da er mit Martha still allein
-war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine gewagte Bitte an
-sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu
-ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand,
-wollte sie doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort,
-er möge nur reden. Ermutigt brachte er dann seine
-Bitte vor, die auf nichts andres zielte als auf die Erlaubnis,
-dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von ihm
-ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen.</p>
-
-<p>Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht
-werde. Meta mußte helfen, und nun erlebte Ladidel
-den Augenblick, daß sein alter Wunsch in Erfüllung ging,
-und er Marthas lange blonde Haare in den Händen hielt.
-Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein sie
-frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich
-nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand
-zugreifen und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das
-Haargebäude seiner Vollendung nahe war, ließ Meta
-die beiden allein, angeblich nur für einen Augenblick, doch
-blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit seiner
-Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich
-verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch
-bessernd. Da übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem
-schönen Mädchen mit leiser Hand liebkosend über die
-Schläfe strich. Und da sie sich beklommen umwandte und
-ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst, daß
-er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen
-festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam
-wieder aufstand.</p>
-
-<p>»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr
-erstes schmeichelndes Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm
-vor der betrübten alten Witwe ein wenig bange war. Als
-er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand führte und
-um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein wenig
-den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte
-nichts dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie
-Meta herbei, und nun umarmten sich die Schwestern,
-lachten und weinten, bis Meta plötzlich stehen blieb, die
-Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann festhielt
-und begierig ihre Frisur bewunderte.</p>
-
-<p>»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand,
-»das ist Ihr Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu
-einander?«</p>
-
-<p>Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit
-und zugleich die Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel
-in Eile nach Schaffhausen, während die Kleubers
-in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise antraten. Der
-alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing
-sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den
-Tagen bis zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es
-war nötig, denn die Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah
-bald, daß hier sein Weizen blühe, und als Kleuber mit seiner
-Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her ankam, und
-er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine
-Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus.</p>
-
-<p>Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der
-jungen Frau zum Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit
-reichlich Wasser führte. Hier saßen sie zufrieden unter
-jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser strömen
-und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit.
-»Ja,« sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden
-Strom hinab, »nächste Woche wäre mein Examen gewesen.«</p>
-
-<p>»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine
-Antwort. Er schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog
-er aus der Brusttasche ein kleines Paket, machte es auf und
-brachte ein halb Dutzend feine kleine Kuchen hervor, von
-denen er den andern anbot und sich selber nahm.</p>
-
-<p>»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du,
-das Geschäft trage schon soviel?«</p>
-
-<p>»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und
-muß noch mehr tragen.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a name="Die_Heimkehr" id="Die_Heimkehr">Die Heimkehr</a></h2>
-
-
-<p>Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und
-es ist Herkommen, daß ein junger Mensch ein Stück
-Welt und fremde Sitte sieht, ehe er sich selbständig macht,
-heiratet und sich für immer in den Bann der heimischen
-Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten
-schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat
-einzusehen und wiederzukehren, und es ist eine Rarität,
-daß einer bis in die höheren Mannesjahre oder gar für
-immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin kommt
-es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer
-widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit
-in der Heimatstadt.</p>
-
-<p>Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn
-des Weißgerbers Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging
-wie andere junge Leute auf Wanderschaft, und zwar als
-Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich gewesen
-und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später
-freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht,
-daß die Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre
-gewesen und dieser August ein recht kräftiger und
-zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun schon den Handelsberuf
-ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit
-Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch
-mit einigem Mitleid herab, seinen Vater nicht ausgenommen.
-Und sei es nun, daß der alte Schlotterbeck dadurch
-an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in Ermangelung
-weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die
-alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten &ndash;
-kurz, er begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich
-zu vernachlässigen und es sich wohl sein zu lassen, als
-wäre keine Nachkommenschaft da, und endete damit, daß
-er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und seinem einzigen
-Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß
-August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen
-jungen, eben Meister gewordenen Gerber loszuwerden.</p>
-
-<p>Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als
-nötig in der Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut
-erging, und schließlich überhaupt nimmer an die Heimkehr
-dachte. Als er etwas über dreißig Jahre alt war und weder
-zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch zu einer
-Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein
-Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt
-in einer Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er
-diese Stellung auf und begab sich nach England, um mehr
-zu lernen und nicht einzurosten. Obwohl ihm England und
-die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen hatte, nicht
-sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an ein
-Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte
-und das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor
-oder auf die ganze Welt ausdehnte. Und da ihn nichts
-hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago, als Direktor eine
-große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war bald in
-Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie
-an den früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr
-den Gerbersauer an, und wenn er einmal Landsleute traf,
-was alle paar Jahre vorkam, begrüßte und behandelte er
-sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch ihm
-in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig,
-aber auch gar hochmütig und amerikanisch geworden.</p>
-
-<p>Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug
-erspart zu haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde,
-einem Deutschen aus Südrußland, in dessen Heimat und
-tat dort in Bälde eine kleine Fabrik auf, die ihn ernährte
-und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die Tochter seines
-Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens unter
-Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem
-Sinn. Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er
-ohne Kinder blieb, worüber seine Ehe an Frieden und Genüge
-viel verlor. Dann starb die Frau, was ihm trotz allem
-weh tat und den rüstigen, fast noch jünglinghaften Mann
-etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen weiteren
-Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern
-und infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich
-zu stocken. Als aber wiederum ein Jahr später auch noch
-sein Freund und Schwiegervater starb und ihn ganz allein
-ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und Seßhaftigkeit
-des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder
-Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen,
-dessen Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt.
-Es geschah, daß er die gesicherten politischen Zustände der
-Heimat in Gedanken mit dem dortigen Skandal verglich,
-daß er mit Unbehagen an das Altwerden und den Feierabend
-zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen
-und Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen.
-Aus diesen Zeichen schloß August Schlotterbeck, daß er trotz
-seiner guten Gesundheit und obwohl er kaum mehr als
-fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr sei, und mit
-dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging
-ihm auch das des Weltbürgertums und der unbedingten
-Freiheit verloren. Er dachte mehr und mehr daran, wie
-er sich noch eines zufriedenen Alters versichern möchte, und
-da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn hatten, andrerseits
-der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren
-Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und
-Hoffnung des alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung
-immer enger und begehrlicher um das Heimatland
-und um das Städtlein Gerbersau, dessen er in Jahrzehnten
-nur selten und ohne Rührung gedacht hatte.</p>
-
-<p>Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit
-gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein
-letztes Lebenszeichen ihm den Ruf großen Edelmutes und
-Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein Vetter
-von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen
-mäßigen großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt
-an ihn fiel. Die Sache war ihm mitgeteilt und er zu einer
-Äußerung aufgefordert worden, da hatte er zu Gunsten
-der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet. Seither
-aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet
-noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man
-wußte zwar oder nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst
-aber keinen Stoff zum Bereden an dem Entfernten, den
-die jetzige junge Generation nicht mehr kannte, und so erlosch,
-wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft,
-sein Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im
-selben Maße als er selber neuerdings sich in Gedanken
-wieder der fernen Heimat näherte, und von seinen Jugendgenossen
-erwartete keiner ihn wiederzusehen.</p>
-
-<p>Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten
-ihm lästig und eines Tages faßte er mit
-der Schnelligkeit und Ruhe seiner früheren Zeiten den
-Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik aufzugeben
-und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen.
-Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er
-den Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und
-endlich des gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene
-Vermögen vorläufig in süddeutschen Banken unter, brach
-sein Zelt ab und reiste über Venedig und Wien nach
-Deutschland.</p>
-
-<p>Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste
-bayrische Bier seit vielen Jahren, aber erst als die Namen
-der Städte heimatlicher zu tönen begannen und als die
-Mundart der Mitreisenden immer deutlicher und schneller
-nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine
-starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe
-mit Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den
-Gesichtern der Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast
-verwandtschaftlich anmutende Züge fand. Und endlich
-fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen Windungen
-talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung
-zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein
-am Fluß, zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden
-lag ein starker Druck auf dem Herzen, wie er alles noch
-stehen sah wie vor Zeiten, und unversehens fielen ihm
-lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus der
-Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte.
-Das tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des
-Flusses und des Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten
-bedrückte ihn mit einer Art von Tadel, daß er das alles so
-lang vernachlässigt und vergessen und aus dem Herzen verloren
-hatte.</p>
-
-<p>Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende
-Rührung nicht lange, und am Bahnhofe stieg
-Herr Schlotterbeck aus und ergriff seine hübsche gelblederne
-Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften unterwegs
-ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher her
-bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der
-Station die Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen
-Eindruck von Fortschritt und Entwickelung machte, und da
-der eine auf seiner Mütze den Namen des alten Gasthauses
-zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der Vergangenheit
-her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und
-ging allein zu Fuß stadteinwärts.</p>
-
-<p>Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch
-gekleidete Fremde zog bei seinem langsamen Dahinschreiten
-manche Blicke auf sich, ohne darauf zu achten. Er hatte die
-alte, beobachtungsfrohe Reiselaune wieder gefunden und
-betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne es mit
-Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens
-eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die
-etwas veränderte Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen
-grünem Spiegel wie sonst die Gänse schwammen und dem
-wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten Rückseiten und
-winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über
-den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen
-der Gegend zu, wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei
-gewesen war. Da suchte er jedoch das hohe Giebelhaus
-und den großen Grasgarten mit den Lohgruben vergebens.
-Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz
-überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er
-sich ab und weiter, um den Marktplatz zu besuchen, den er
-im alten Zustande fand, nur schien er kleiner geworden,
-und auch das stattliche Rathaus war weniger ansehnlich,
-als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die
-Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht
-mehr die von damals, sondern junge, die aber auch schon
-wieder recht ehrwürdige Wipfel zur Schau trugen.</p>
-
-<p>Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen
-und fand ohne Mühe den Weg zum Schwanen, wo er ein
-gutes Essen verlangte und auf die erste Erkennungsszene
-gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht
-mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder
-Gast behandelt, was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er
-auch erst, daß seine Redeweise und Aussprache, die er in
-allen den Jahren immer für gut schwäbisch und kaum verändert
-gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und
-von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde.
-Es fiel auch auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies
-und neuen verlangte, den er sich selber anmachte, und daß
-er statt der süßen Mehlspeise, aus der in Gerbersau jedes
-Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von dem er dann
-einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen
-zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um
-ein wenig zu ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber
-heftigst erstaunt. Ein Gast am Nebentisch, den diese
-fremde Sitte aufregte, stand auf und wischte seinen Stuhl
-mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz vergessen
-abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen
-Stiefel drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck
-drehte aber nur den Kopf hinüber und schnell wieder
-zurück, dann legte er die Hände zusammen und pflegte der
-Verdauung.</p>
-
-<p>Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals
-durch die ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die
-Scheiben in manchen Laden und manche Werkstatt, um
-zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von den ganz
-Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren,
-übrig wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen
-Lehrer, bei dem er einstmals sein erstes Alphabet auf die
-Tafel gemalt hatte, auf der Straße vorübergehen. Der
-Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig sein und ging
-alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch
-noch deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen
-erkennbar, noch leidlich aufrecht und zufrieden
-einher. Schlotterbeck hatte Lust ihn anzusprechen, doch
-hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem Sturm der
-Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter,
-ohne jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von
-keinem erkannt, und brachte so diesen ganzen ersten Tag
-in der Heimat als ein Fremder und Unbekannter zu.</p>
-
-<p>Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung
-mangelte, sprach doch die Stadt selber desto
-deutlicher und eindringlicher zu ihrem heimgekehrten Kinde.
-Wohl gab es überall Veränderungen und Neues, das Angesicht
-des Städtleins aber war nicht älter noch anders
-geworden und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich
-an, so daß es ihm wohl und geborgen zu Mute ward
-und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen und Abenteuer
-wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären
-sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte
-gemacht und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte
-auch in der Ferne ein Weib genommen und verloren, sich
-wohl gefühlt und Leid erfahren, allein zugehörig und daheim
-war er doch nur hier, und während er für einen
-Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde,
-kam er sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen
-Leuten, Gassen und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen
-nicht ohne eine kleine Wehmut ab; denn statt nun
-hier Haus und Arbeit, Familie und Nachkommen zu haben,
-hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht und
-weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten
-befestigt und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht
-Meister werden, hörte ihnen nur mit halber Billigung zu
-und war im ganzen doch der Meinung, es sei nicht zu spät,
-daß er heimkomme, und er habe noch ein hinreichendes
-Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu
-werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen.</p>
-
-<p>Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel.
-Er fand, es sei auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen,
-wenn auch mit Maß, und sowohl die Gasanstalt wie das
-neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die Bevölkerung
-schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen
-hatte, recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt
-einheimisch wie vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten
-noch durchaus für Fremde gegolten hatten.
-Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den
-Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs
-aus Eindringlingen war nur unter der Arbeiterschaft deutlich
-zu spüren. Es mußte also das bürgerliche Leben von
-einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es war zu
-hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit
-sich bald zurechtfinden und wieder heimisch
-machen könne.</p>
-
-<p>Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen
-Manne kam die Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der
-Fremde durch Heimweh und Erinnerungslust unnütz verklärt
-hatte, nun lieblich vor und atmete einen friedvoll
-wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene
-und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am
-Abend in das Gasthaus zurückkehrte, war er in guter Stimmung
-und bereute nicht, diese Reise getan zu haben. Er
-nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben und abzuwarten,
-und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich
-am Ort niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig
-oder im Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken
-mit der Zeit eine neue, erfreuliche Tätigkeit beginnen.
-Denn er glaubte doch schon jetzt zu spüren, daß ein
-beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht
-seine Sache sein werde.</p>
-
-<p>Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein
-und doch von keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt
-zu werden, tat ihm gar nicht weh, wenn es auch wunderlich
-war, so wie in einer Maske zwischen lauter Schulfreunden,
-Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen.
-Er genoß es mit schlauer Freude und mit dem
-Hintergedanken, daß er jetzt immer noch ohne alles Aufheben
-wieder verschwinden könnte, wenn es ihm einfiele.
-Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen
-und Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte
-die hiesige Art noch wohl genug, um sich das alles recht gut
-vorausdenken zu können. Er hatte es damit nicht eilig, da
-ja nach einer so langen Zeit auch von den ehemaligen Freunden
-mehr Neugierde und freundliche Überraschung als
-Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war.</p>
-
-<p>Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten
-Weltfahrers nahm denn auch bald sein Ende. Nach dem
-Abendessen brachte der Schwanenwirt seinem Gaste das
-Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken unter
-Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil
-es unbedingt notwendig war, als weil er selber es satt
-hatte, sich über Herkunft und Rang des Fremdlings den
-Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das dicke Buch,
-las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm
-dann dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus
-der Hand und schrieb mit kräftigen, deutlichen Buchstaben,
-alle Fächlein gewissenhaft ausfüllend. Der Wirt sagte
-Dank, streute Sand auf und entfernte sich mit dem Folianten
-wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine
-Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August &ndash; aus
-Rußland &ndash; auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die
-Herkunft und Geschichte des Mannes nicht kannte, so schien
-der Name Schlotterbeck doch auf einen Gerbersauer hinzudeuten.
-In die Gaststube zurückkehrend, fing der Wirt
-mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch
-an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum
-der hiesigen Stadt, kam auf Straßenverbesserungen und
-neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen, berührte die Stadtpolitik,
-äußerte sich über die letztjährige Dividende der
-Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem
-Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr
-nicht Verwandte am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck
-gelassen, ja, er habe Verwandte hier und gedenke
-etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte aber nach keinem
-und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald versiegend
-dahinschwankte und in sich selbst versank, und der
-Wirt mit Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank
-einen guten Wein mit Maß und Genuß, las unberührt von
-den Gesprächen des Nachbartisches eine Zeitung und suchte
-früh seine Schlafstube auf.</p>
-
-<p>Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die
-Unterhaltung mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre
-Wirkung, und während August Schlotterbeck ahnungslos
-und zufrieden in dem guten, auf heimische Art geschichteten
-Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im Vaterlande
-tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft
-manche Leute munter und gesprächig und einen sogar
-schlaflos. Dieser war Augusts leiblicher Vetter und nächster
-Verwandter, der Kaufmann Lukas Pfrommer an der
-Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und hatte früher
-als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen
-Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau
-eine bescheidene Werkstätte eröffnet und lange Zeit den
-Schulkindern ihre ruinierten Fibeln wieder geflickt und der
-Frau Amtsrichter halbjährlich die Gartenlaube eingebunden,
-auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen eingerahmt,
-vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben
-und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien
-graue und grüne Aktendeckel, Mappen und Kartonbände
-geliefert. Dabei hatte er unmerklich etwas erspart
-und hinter sich gebracht, jedenfalls keine Sorgen gehabt.
-Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen Handwerker
-hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft
-angefangen, die größeren waren Fabrikanten
-geworden. Da hatte auch Pfrommer die Vorderwand
-seines Häusleins durchschlagen und ein Schaufenster eingesetzt,
-sein Erspartes von der Bank genommen und einen
-Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine
-Frau den Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber
-zu kurz kommen ließ, indessen der Mann weiter in seiner
-Werkstatt schaffte. Doch war der Laden jetzt die Hauptsache,
-wenigstens vor den Leuten, und wenn er nicht mehr
-einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und
-machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann
-geworden. Mit der Zeit gewöhnte er sich an diese geachtete
-und stattlichere Stellung, zeigte sich in den Straßen
-nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im guten
-Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und
-konnte sich zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit
-teurer als früher. Die Vorräte an unverkäuflich gewordenen
-Neujahrskarten, Bildchen, Albumen, an abgelegenen
-Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram
-wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht
-selten im Traume vor. Und seine Frau, eine geborene
-Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die früher ein lustiges
-und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte sich
-durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie
-später durch die Sorgen und Rechenkünste allmählich in
-eine unruhige Sorgerin, der das seßhaft gewordene süße
-Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene Gesicht
-paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt
-in seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten
-Bürgerstandes, aber ihm selber war es in den bescheidenen
-Handwerkszeiten, in die er doch jetzt nimmer zurückgekehrt
-wäre, bedeutend wohler gewesen und besser gegangen
-als in der neuen Pracht.</p>
-
-<p>Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend
-gegen neun Uhr, als er mit der Zeitung bei der Lampe saß,
-zu seiner großen Überraschung einen Besuch des Schwanenwirtes
-erhalten. Er hatte ihn erstaunt empfangen, jener
-aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt,
-er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er
-übrigens den Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur
-selten habe sehen dürfen. Aber er sei der Meinung, unter
-Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner Liebesdienst
-selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in
-allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein
-fremder Herr logiere, mit wohlhabenden Manieren, der
-sich Schlotterbeck schreibe und aus Rußland zu kommen
-vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen und
-hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die
-schon im Bette war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut
-gekeucht und sich sogar in aller Eile noch die Hände
-gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem Wirte her
-in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen
-Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und
-ihn in der Schlafstube aufzusuchen wagte er doch nicht,
-denn er mußte sich sagen, wenn der Vetter extra seinetwegen
-die große Reise getan hätte, so hätte er ihn wohl
-schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb
-enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um
-dem Wirte eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung
-einiger Stammgäste und hütete sich, etwas von dem
-eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu verraten.</p>
-
-<p>Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern
-und zum Kaffee heruntergekommen, als ein älterer Mann
-von kleinem Wuchs, der offenbar schon eine gute Weile
-bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte, sich
-seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem
-recht schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck
-sagte guten Morgen und fuhr fort, sein Butterbrot mit
-herrlichem Honig zu bestreichen; der Besucher aber blieb
-stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie ein Redner,
-ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als
-ihn der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit
-einem zweiten Kompliment an den Tisch heranzutreten
-und mit seinen Eröffnungen zu beginnen.</p>
-
-<p>»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute
-den Rußländer erwartungsvoll an.</p>
-
-<p>»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie
-Buchbinder, wenn ich fragen darf?«</p>
-
-<p>»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse.
-Sind Sie &ndash; &ndash;«</p>
-
-<p>Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und
-suchte nicht länger hinterm Berg zu halten.</p>
-
-<p>»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast
-du schon gefrühstückt?«</p>
-
-<p>»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte
-dich kaum mehr gekannt.«</p>
-
-<p>Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die
-Hand entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden
-und Armbewegungen der Ergriffenheit am Tische Platz
-nehmen.</p>
-
-<p>»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht,
-daß wir dich einmal wiedersehen würden. Aus
-Rußland! Ist es eine Geschäftsreise?«</p>
-
-<p>»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich
-hergeführt?«</p>
-
-<p>Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon
-er jedoch vorerst schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der
-Vetter sei wieder im Land, und da habe er keine Ruhe mehr
-gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn gesehen und begrüßt;
-es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm
-jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl?
-Und was denn die liebe Familie mache?</p>
-
-<p>»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«</p>
-
-<p>Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?«
-rief er mit tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts
-gewußt und haben nicht einmal kondolieren können!
-Meine herzliche Teilnahme, Vetter!«</p>
-
-<p>»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei
-dir? Du bist Kaufmann geworden?«</p>
-
-<p>»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten
-und womöglich was für die Kinder auf die Seite zu
-tun. Ich führe auch recht gute Zigarren. &ndash; Und du? Was
-macht die Fabrik?«</p>
-
-<p>»Die hab' ich aufgegeben.«</p>
-
-<p>»Im Ernst? Ja warum denn?«</p>
-
-<p>»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben
-Hungersnot und Aufstände gehabt.«</p>
-
-<p>»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen
-gewundert, daß du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen
-hast. Schon dieser Despotismus, und dann die
-Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft muß ja arg sein.
-Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden gehalten,
-du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort
-wußte. Der Pobjedonoszeff &ndash; &ndash;«</p>
-
-<p>»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst
-du sicher mehr als ich.«</p>
-
-<p>»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein
-bißchen im Blatt, aber &ndash; &ndash; Nun, und was machst du
-denn jetzt für Geschäfte? Hast du viel verloren?«</p>
-
-<p>»Ja, tüchtig.«</p>
-
-<p>»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben
-hier ja keine Ahnung gehabt.«</p>
-
-<p>Schlotterbeck lächelte ein wenig.</p>
-
-<p>»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der
-schlimmsten Zeit daran, mich vielleicht an euch hier zu
-wenden. Nun, es ist schließlich auch so gegangen. Es wäre
-auch dumm gewesen. Wer wird einem so entfernten Verwandten,
-den man kaum mehr kennt, noch Geld in die
-Pleite nachwerfen.«</p>
-
-<p>»Ja du mein Gott, &ndash; Pleite, sagst du?«</p>
-
-<p>»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich
-fand dann anderwärts Hilfe ...«</p>
-
-<p>»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind
-ja arme Teufel und brauchen unser bißchen nötig genug;
-aber daß wir dich gerade hätten stecken lassen, nein, es ist
-nicht recht von dir, daß du das hast meinen können.«</p>
-
-<p>»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner
-Frau?«</p>
-
-<p>»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen,
-ich soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst
-doch?«</p>
-
-<p>»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit
-für die Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit
-nehmen und deine Frau einstweilen von mir grüßen.«</p>
-
-<p>Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut
-mit einem Paketchen nach Hause, und da der Inhalt sich
-als recht nobel erwies, nahm seine Meinung von des Vetters
-Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war indessen
-froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu
-haben, und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen
-und sich zu einem hiesigen Aufenthalt für unbestimmte
-Zeit anzumelden.</p>
-
-<p>Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks
-Heimkehr in der Stadt bekannt zu machen. Dies
-geschah ohne sein Bemühen durch eine geheimnisvolle
-drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt und Tritt
-angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch
-Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte
-schon gar viel von ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen
-in der Leute Mund schnell einen fürstlichen Umfang
-an. Einige verwechselten beim Weiterberichten in
-der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der
-Türkei, nur das mit unbekannten Geschäften erworbene
-Vermögen blieb ein fester Glaubenssatz, und in den nächsten
-Tagen wimmelte es in Gerbersau von Lesarten, die
-zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen
-den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler
-je nach Temperament und Phantasie der Erzähler
-auf und nieder spielten. Man erinnerte sich des
-längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck und
-der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche,
-die ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden
-noch im Gedächtnis hatten, und eine verstorbene
-Fabrikantenfrau wurde zu seiner unglücklichen Jugendliebe
-ernannt.</p>
-
-<p>Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von
-diesen Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem
-Vetter zu Tisch geladen war, hatte ihn vor dessen Frau
-und Kindern ein unüberwindliches Grauen erfaßt, so übel
-maskiert war ihm die Spekulation auf den Erbvetter entgegengetreten.
-Er hatte um des Friedens willen dem Verwandten,
-der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges
-Darlehn gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg
-geworden und hatte sich für weitere Einladungen einstweilen
-im voraus freundlich bedankt. Die Frau war enttäuscht
-und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von
-dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet.</p>
-
-<p>Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen.
-Dann fand er ein Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb
-der Stadt gegen die Wälder hin eine neue Straße
-entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger Steinbrüche,
-die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister,
-der in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen
-Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch
-für wenige Kreuzer käuflichen Boden am Beginn des neuen
-Weges einstweilen drei hübsche kleine Häuschen gebaut,
-weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute von hier
-aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören,
-was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts
-den Fluß durch die Wiesen laufen und gegenüber
-die roten Felsenhöhen hängen, und rückwärts hatte man
-in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei hübschen
-Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines
-hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher
-gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser
-aber der Vollendung entgegenrückte und nur noch wenige
-Handwerker darin zu tun hatten, ging es hier oben recht
-still und friedevoll zu. Denn auch der Gerichtsvollzieher,
-übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war schon
-nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen
-und war einem alten Leiden, das er bis dahin manche
-Jahrzehnte lang mit Arbeit und Humor überwunden hatte,
-nach kurzer Zeit erlegen. In dem Häuschen saß nun ganz
-allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe des Gerichtsvollziehers,
-ein recht frisches und sauberes Frauchen,
-von welcher noch zu reden sein wird.</p>
-
-<p>In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem
-Witwensitz und dem Neubau entfernt lag, richtete nun
-Schlotterbeck sich ein. Er mietete den unteren Stock, der
-drei Zimmer und eine Küche enthielt, und da er keine Lust
-hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger Einsamkeit
-einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische,
-Stühle, Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen
-Aufwartung eine Frau, die zweimal des Tages kam.
-Den Kaffee kochte er sich am Morgen, wie früher in langen
-Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags und
-abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm
-eine Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer
-aus Rußland ein, deren Inhalt die leeren Wandschränke
-füllte. Täglich erhielt und las er einige Zeitungen, darunter
-zwei ausländische, auch ein lebhafter Briefwechsel
-kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der
-Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten,
-teils bei den Geschäftsleuten, namentlich in den
-Fabriken. Denn er suchte ohne Hast, doch aufmerksam nach
-einer bequemen und vorteilhaften Gelegenheit, sich mit
-Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen zu
-beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen
-Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung.
-Er wurde da und dort eingeladen, auch zu den
-geselligen Vereinen und an die Stammtische der Honoratioren.
-Freundlich und mit den Manieren eines gereisten
-Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne
-sich fest zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel
-Kritik hinter seinem Rücken an ihm geübt wurde.</p>
-
-<p>August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes
-in einer Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte
-zwar ein klein wenig über seinen Landsleuten zu stehen,
-lebte aber doch in dem Gefühl, ein Gerbersauer zu sein
-und in allem Wesentlichen recht wieder an den alten Ort
-zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte
-nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken
-und Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach.
-Diese empfanden das desto besser, und wenn auch
-Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines Geldbeutels
-eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen
-gar viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört
-hätte. Manches, was er ahnungslos in alter Gewohnheit
-tat, erregte hier Kritik und Mißfallen, man fand seine
-Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd, seine Anschauungen
-amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen
-mit jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit
-seiner Aufwärterin wenig anders als mit dem Stadtschultheißen,
-er ließ sich zu Tisch laden, ohne innerhalb
-sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten, er machte
-zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber
-Dinge, die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen,
-auch in Familien in Gegenwart der Damen harmlos heraus.
-Namentlich in den Beamtenkreisen, die in der Stadt
-wie billig zuoberst standen und den feinen Ton angaben,
-in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister,
-machte er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich
-geschonte und behütete Welt amtlicher Machthaber
-und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger Hochachtung
-und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf
-den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause
-sitzt, hatte an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude,
-um so mehr da sie von seinem sagenhaften Reichtum doch
-keinen Vorteil zu ziehen hoffen konnte. Und in Amerika
-hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte einfach für
-Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre
-Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme,
-gefürchtete Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld
-etwas vermochte. Da war es schwer für ihn, dem niemand
-Anweisungen gab, die Heiligkeit der Titel und die
-ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu begreifen,
-am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht
-mit Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr
-überall den rechten Ton zu treffen. Als Fremder
-kannte er auch die verwickelten Familiengeschichten nicht
-und es konnte gelegentlich ohne seine Schuld passieren,
-daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete. Da
-sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit
-und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten
-seiner Verfehlungen zu säuberlich gebuchten und kontrollierten
-Sümmchen an, von denen er keine Ahnung hatte,
-und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch andere
-Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen
-beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand,
-dessen Stiefel ihm gefielen, ohne lange Einleitungen
-nach ihrem Preise fragen. Und eine Advokatenfrau, die
-zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren
-dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke
-Zeigefinger fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit
-Kunst und Eifer zu verbergen suchte, wurde von ihm mit
-aufrichtigem Mitleid gefragt, wann und wo sie denn ihres
-Fingers verlustig geworden sei. Der Mann, der Jahrzehnte
-in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt
-und seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen,
-daß man einen Amtsrichter nicht fragen darf, was seine
-Hosen kosten. Er hatte wohl gelernt, im Gespräch mit
-jedermann höflich und vorsichtig zu sein, er wußte, daß
-manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube verzehren,
-daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken
-es vermeidet, sich zu einer allein wahren Religion zu
-bekennen; aber daß mitten in Europa es große Gesellschaftskreise
-und Stände gab, in welchen es für roh gilt, von Leben
-und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit freiweg
-zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer
-unbekannt geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen
-legen nach Belieben, aber von niemand geradezu sagen
-darf, man könne ihn nicht ausstehen, das war nebst mancher
-andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch
-in Rußland beigebracht worden.</p>
-
-<p>Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit
-ihm zufrieden sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen
-machte, viel weniger als sie an ihn. Er ward zu allerlei
-guten Zwecken um Beiträge angegangen und gab sie
-jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst
-und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man
-auch hier nur halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten
-erwartet, wo er Silber und Nickel gab. Zum Glück
-erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und lebte eine
-gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier
-Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann
-zu sein.</p>
-
-<p>Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere
-Male, kam Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause
-der Frau Entriß vorbei, der Witwe des Gerichtsvollziehers,
-die hier in Gesellschaft einer schweigsamen und
-etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte.</p>
-
-<p>Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene
-Witwe hätte im Genuß ihrer Freiheit und eines
-kleinen Vermögens ganz angenehme und unterhaltsame
-Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl
-ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf
-ihrer Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte
-aus dem Badischen, und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht
-für ihren in der Stadt wohlbeliebten Mann, freundlich
-und erwartungsvoll aufgenommen. Doch hatte mit
-der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet,
-dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit
-war. Daraus machte das Gerede einen giftigen Geiz,
-und da man einmal kein Gefallen an der Frau gefunden
-hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere und sie
-wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin,
-sondern auch als Hausdrache verrufen. Der
-Gerichtsvollzieher selber war nun nicht der Mann, der
-über die eigene Frau schlecht gesprochen hätte, aber immerhin
-blieb es nicht verborgen, daß der heitere und gesellige
-Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei
-der Frau als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen
-Biersitzungen suchte. Nicht daß er ein Trinker geworden
-wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter der angesehenen
-Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er
-sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen
-und auch tagsüber zwischenein gelegentlich
-einen Schoppen zu nehmen. Trotz seiner schlechten Gesundheit
-setzte er dieses Leben so lange fort, bis ihm vom
-Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein
-anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner
-bedürftigen Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner
-Pensionierung eher schlimmer gegangen, und jetzt war
-alles darüber einig, daß die Frau ihm das Haus verleidet
-und von Anfang an den Untergang des braven Mannes
-verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine
-Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der
-Schwägerin sitzen und fand weder Frauentrost noch männliche
-Beschützer, obwohl außer dem schuldenfreien Haus
-auch noch einiges Vermögen vorhanden war.</p>
-
-<p>Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit
-nicht unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat,
-Bankbüchlein und Garten in bester Ordnung und hatte
-damit genug zu tun, denn die Schwägerin litt an einer
-leisen Verdunkelung des Verstandes und tat nichts anderes
-als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln,
-Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten
-Bilderalbums vertreiben. Die Gerbersauer, damit das
-Gerede über die Frau auch nach des Mannes Tode nicht
-aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das arme Wesen
-zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die
-Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit
-angehalten, schlafe in einem nie gereinigten und gelüfteten
-Verschlag, Hitze und Kälte ausgesetzt, und werde das alles
-sicherlich nimmer lange aushalten, was ja auch im Interesse
-der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese Gerüchte
-immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts
-wegen etwas getan werden, und eines Tages erschien im
-Haus der erstaunten Frau der Stadtschultheiß mit dem
-Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende Worte über die
-Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne
-und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der
-Drohung, wenn nicht alles einwandfrei befunden werde,
-müsse die Gestörte in einem staatlichen Krankenhause versorgt
-werden, natürlich auf Kosten der Frau Entriß. Diese
-verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge nur alles
-untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich,
-wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme,
-müsse er aus einer andern Quelle kommen, und wenn man
-die Kranke anderwärts versorgen wolle, könne es ihr nur
-lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der Stadt geschehen
-und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser haben
-werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke
-keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war
-und bei der wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo
-leben möchte, wo sie es sehr gut haben werde, furchtbar
-erschrak und flehentlich sich an ihrer Schwägerin festhielt.
-Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und ohne
-alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß
-verlegen wieder fort.</p>
-
-<p>Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man
-darüber verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter
-und Lebensführung einer schutzlosen Frau zu tadeln.
-Daß sie sparsam war, steht fest. Sie hatte nicht nur vor
-dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem noch so
-kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter
-schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas
-wegzuwerfen oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde,
-das ihr Mann seinerzeit in die Wirtshäuser getragen hatte,
-tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid wie ein unsühnbares
-Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die Eintracht
-ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte
-sie, was der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung
-im Hause und durch fleißige Arbeit einigermaßen
-einzubringen gesucht. Und nun, da er gestorben und damit
-das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war, da
-kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause
-ging und ein Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen
-werden konnte, erlebte die gute Haushalterin ein spätes,
-ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß sie sich irgendetwas
-über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher mehr
-als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und
-sich langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille
-Zufriedenheit, die sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen
-war.</p>
-
-<p>Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand
-Frau Entriß, wenn sie irgend etwas Wertloses zu Wert
-bringen, etwas finden oder erobern konnte, etwas Weggeworfenes
-doch noch brauchen und etwas Verachtetes
-verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf
-den baren Nutzen gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken
-und Begehren den engen Kreis des Notwendigen und erhob
-sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die Frau Gerichtsvollzieher
-war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt,
-sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben,
-nur durfte das niemals einen Pfennig bares Geld kosten.
-So war ihre Kleidung äußerst bescheiden, aber sauber und
-nett, und seit sie mit dem Häuslein auch ein kleines Stück
-Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und Erfreulichem
-ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine
-eifrige Gärtnerin.</p>
-
-<p>Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin
-vorüberschritt, schaute er jedesmal mit Freude und einem
-leisen Neid in die kleine bescheidene Gartenpracht der stillen
-Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete waren appetitlich von
-Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber auch mit
-Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und
-Reseden schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames
-Glück zu verkünden.</p>
-
-<p>Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und
-in dem hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen
-solchen Wuchs zu erzielen. Hier hatte Frau Entrißens
-Leidenschaft Wunder getan, und tat sie noch immer. Sie
-brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze
-Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren
-der schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem
-Schäufelein den goldeswerten Dung, den die Pferde
-und ihre Herren achtlos liegen ließen. Hinterm Hause tat
-sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale sorgsam auf den
-Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung
-das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte.
-Sie brachte aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge
-von Maiblumen und Schneeglöckchen mit, und den
-Winter hindurch zog sie im Zimmer und Keller ihre Ableger
-mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles
-Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt
-verborgen duftet, eine Freude am Nützen des Brachliegenden
-und Verwenden des umsonst zu Habenden, und vielleicht
-unbewußt auch ein still glimmender Rest unbefriedigter
-Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen Gartenmutter.</p>
-
-<p>Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr
-Schlotterbeck täglich mehrmals anerkennende Blicke in die
-von jedem Unkraut reinen Beete und Wegchen, labte seine
-Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten
-Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn
-ein leichter Wind ging und ihm beim Weitergehen eine
-Handvoll süßen Gartenduftes nachwehte, freute er sich
-dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer zunehmenden
-Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen
-er ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht
-eben leicht mache, und sich einigermaßen vereinsamt und
-betrogen vorkam.</p>
-
-<p>Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin
-erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen
-Gerichtsvollziehers und viel arge Urteile über seine Witwe
-zu hören, so daß er nun eine Zeitlang das friedevolle Haus
-im Garten mit einem traurigen Erstaunen darüber betrachtete,
-daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz
-einer so verworfenen Seele sein müsse.</p>
-
-<p>Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal
-hinter ihrem niederen Zaune sah und anredete. Bisher
-war sie stets, wenn sie ihn von weitem daherkommen sah,
-still ins Haus entwichen. Diesmal hatte sie ihn, über ein
-Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören, und
-nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand
-und sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider
-ihren Willen, den Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig,
-sondern fragte sie: »Schon fleißig, Frau Nachbarin?«</p>
-
-<p>»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort:
-»Was Sie für einen schönen Garten haben!«</p>
-
-<p>Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die
-schon wieder an ihren Gräslein zupfte, verwundert an.
-Er hatte sie sich, jenem Gerede nach, mehr furienmäßig
-vorgestellt, und nun war sie zu seinem angenehmen Erstaunen
-recht ordentlich und gefällig von Gestalt, das Gesicht
-ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne
-Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche
-Erscheinung.</p>
-
-<p>»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich.
-»Adieu, Frau Nachbarin.«</p>
-
-<p>Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah
-ihm drei, vier Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig
-in ihrer Arbeit fort, ohne sich über den Nachbar Gedanken
-zu machen. Dieser aber dachte noch eine Weile an
-sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches
-Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu
-beobachten. Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger
-Mann sah er bald aus vielen kleinen Zügen ein Bild
-zusammen, das keinem Engel gleichsah, aber auch nicht
-zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen wollten.
-Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt
-still und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte,
-er sah sie den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen,
-stellte fest, daß sie keine Besuche empfing, und belauschte
-das kleine, einsame Leben der fleißigen Frau mit
-Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen,
-abendlichen Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr
-verschrien war, blieben ihm nicht verborgen. Doch fiel es
-ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn er auch darüber
-lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden, aber
-ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß
-soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet
-werde. Zum erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall
-stutzig geworden, dem Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen
-und manches faul zu finden, was er bisher gläubig
-hingenommen hatte.</p>
-
-<p>Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder
-und wechselte ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt
-mit ihrem Namen an, und auch sie wußte ja, wer er sei, und
-sagte Herr Schlotterbeck zu ihm. Er wartete gern mit dem
-Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging dann nicht
-vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und
-Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen,
-ehrlichen und recht gescheiten Antworten zu freuen.</p>
-
-<p>Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler
-auf die Frau zu sprechen. Er erzählte, wie der saubere
-Garten ihm aufgefallen sei, wie er die Frau in ihrem stillen
-Leben beobachtet habe und nicht begreifen könne, daß sie
-in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu, dann
-meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt.
-Ein Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber
-Kamerad, und so gut wie ein Kind! Und den hat sie einfach
-auf dem Gewissen.«</p>
-
-<p>»An was ist er denn gestorben?«</p>
-
-<p>»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang
-gehabt und ist fidel dabei gewesen. Dann nach seiner
-Pensionierung, statt daß ihm die Frau es jetzt nett und
-freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz hausscheu geworden.
-Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen,
-weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen
-leichtsinnig mag er ja von Natur gewesen sein, aber daß
-er am Ende gar zuviel geschöppelt hat, daran ist allein sie
-schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie. Da hat sie
-zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes
-Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig
-so behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum
-bekümmern und sie kontrollieren mußte.«</p>
-
-<p>Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt
-gewesen. Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache
-ward ihm überall bestätigt, wo er darum anklopfte. Es
-schien ihm wunderlich und wollte ihm leid tun, daß er sich
-in der Frau so hatte täuschen können. Aber so oft er sie
-wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand aller
-Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und
-ging zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren.
-Er wurde mit Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch
-seine Frage vorbrachte, wie es denn mit der Frau Entriß
-und ihrer Schwägerin stehe, ob sie wirklich im Verdacht der
-Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da meinte der Stadtschultheiß
-abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich für Ihre
-Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese
-Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie
-können es uns ruhig überlassen, daß wir zum Rechten sehen.
-Oder haben Sie eine Beschwerde vorzubringen?«</p>
-
-<p>Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es
-in Amerika manchmal hatte sein müssen. Er ging leise
-und machte die Türe zu, setzte sich dann wieder und sagte:
-»Herr Stadtschultheiß, Sie wissen, wie über die Frau Entriß
-geredet wird, und da Sie selber bei ihr waren, müssen
-Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine
-Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch.
-Oder nicht? &ndash; Also. Warum dulden Sie das?«</p>
-
-<p>Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell
-wieder gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber
-Herr, ich habe wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen
-Sachen zu befassen. Es kann sein, daß da und dort
-der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht recht ist, aber
-dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.«</p>
-
-<p>»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben
-mir also die Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens
-in guter Behandlung ist?«</p>
-
-<p>»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich
-Ihnen raten darf, lassen Sie die Finger davon! Sie kennen
-die Leute hier nicht und machen sich bloß mißliebig,
-wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.«</p>
-
-<p>»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen.
-Aber einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau
-reden höre, werde ich ihn einen Ehrabschneider heißen
-und mich dabei auf Ihr Zeugnis berufen.«</p>
-
-<p>»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch
-nichts, und Sie haben nur Verdruß davon. Ich warne
-Sie, weil es mir leid täte, wenn &ndash;«</p>
-
-<p>»Ja, ich danke schön.«</p>
-
-<p>Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck
-von seinem Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es
-hatte sich herumgeredet, daß er ein merkwürdiges Interesse
-für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer war
-von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter
-möchte auf seine alten Tage noch Torheiten machen.
-Wenn es zum Schlimmsten käme und er die Frau heiratete,
-würden seine Kinder von den ganzen Millionen keinen
-Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen
-Vetter von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam
-auf die Nachbarschaft zu sprechen und ließ vermuten,
-er wisse viel über die Frau Entriß zu erzählen, falls es den
-Vetter interessiere. Der winkte jedoch gleichmütig ab,
-bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und
-ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht
-kommen.</p>
-
-<p>Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin
-im Garten erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal
-hatte er ein langes, vertrauliches Gespräch mit ihr, worin
-er auf sein einsames Leben hinwies und ihre freundlich-tröstliche
-Nachbarschaft dankbar rühmte. Sie ging klug
-und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns ungewohnt
-und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie
-ihm schien, auch Anmut.</p>
-
-<p>Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an
-täglich, immer über den Staketenzaun hinweg, denn seine
-Bitte, ihn auch einmal im Garten selber oder gar im Hause
-zu empfangen, lehnte sie mit stiller Entschiedenheit ab.</p>
-
-<p>»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide
-keine jungen Leute mehr, aber die Gerbersauer haben
-immer gern was zu plappern und es wäre schnell ein dummes
-Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel angeschrieben,
-und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen
-Sie.«</p>
-
-<p>Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins,
-und seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten
-hatte schon bedeutend nachgelassen. Er begann zu
-merken, daß er hier doch fremd sei und daß Höflichkeit,
-Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem
-Namen und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten
-Mitbürger, sondern eben seinem Geldsack galt.
-Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit überschätzte,
-und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters
-Pfrommer und anderer Angelkünstler machte ihm einen
-gewissen Spaß, aber für die beginnende Enttäuschung
-konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte den Wunsch,
-sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder
-zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist
-und hätte nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft
-gekostet, wovor ihm nicht bange war. Es hielt
-ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß er spürte, er
-werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein
-Stücklein von sich hängen zu lassen.</p>
-
-<p>Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem
-kleinen, weiß und braunen Nachbarhaus vorüber. Das
-Schicksal der Frau Entriß war ihm jetzt nimmer so dunkel,
-da er sie besser kannte und sie ihm auch manches erzählt
-hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen Gerichtsvollzieher
-jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die
-Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im
-Grunde genommen ein Windbeutel gewesen sein mußte,
-daß er es nicht verstanden hatte, unter der Herbe und
-Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und
-ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt,
-daß sie neben einem verständigen Manne, vollends in
-reichlichen Verhältnissen, eine Perle abgeben müßte. Ihr
-Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung zur Leidenschaft
-ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war
-auch eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor
-jedem Werte besaß, um ihn auch ohne eigenen Vorteil
-möglichst zu retten und zu bewahren.</p>
-
-<p>Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr
-bekam, worin freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen
-halfen, desto besser begriff er, daß sie in Gerbersau
-unmöglich verstanden werden konnte. Denn auch der
-Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher geworden,
-wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte
-er, daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht
-mehr habe und hier ebensowenig gedeihen und sich entfalten
-könne wie die Frau Entriß. Diese Gedanken waren,
-ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu seinem
-stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und
-Versuch, sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar
-und unsterblich zu machen.</p>
-
-<p>Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten
-der Witwe duftete mitten in der sandigen und glühenden
-Umgebung triumphierend weit über seinen niederen Zaun
-hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom nahen
-Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten
-und aus dem Tale in der Stille nach dem Schluß der
-Fabriken der Fluß leise herauf rauschte. An einem solchen
-Abend kam August Schlotterbeck zu Frau Entriß und
-trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch in
-die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete
-und die Hausfrau ihn verwundert und fast ein
-wenig ungehalten ansprach. Er erklärte aber, heute durchaus
-hereinkommen zu müssen, und ward denn von ihr
-in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings
-etwas kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig
-fand. Die Frau legte schnell ihre Schürze ab, setzte
-sich auf einen Stuhl beim Fenster und hieß auch ihn sich
-setzen.</p>
-
-<p>Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an.
-Er erzählte sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht
-ausgenommen, mit einfacher Trockenheit, schilderte dann
-etwas wärmer seine Heimkehr nach Gerbersau, seine erste
-Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an manche Gespräche,
-in denen sie einander so gut verstanden hätten.
-Und nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie
-sei nicht gar zu sehr überrascht.</p>
-
-<p>»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich
-bin kein Millionär, wie die Leute hier herumreden, aber
-so ungefähr eine viertel Million oder etwas drüber wird
-schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien beide noch
-zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht
-zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie
-Sie schon allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden,
-statt noch einmal anzufangen und vielleicht hereinzubringen,
-was früher am rechten Glück gefehlt hat?«</p>
-
-<p>Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien
-liegen und hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich
-warm und lebhaft wurde und wiederholt seine rechte
-Hand ausstreckte, als fordere er sie auf, sie zu nehmen und
-festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie saß ganz
-still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken
-zu erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit
-und Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden
-Leute saßen einander nahe gegenüber, er von seinem
-Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie aber
-von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten
-Ehrung leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide
-Gesichter glühte mit feiner Abschiedsröte die tiefstehende
-Sonne durch das offene Fenster. Da sie weder Antwort
-gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle aufsah, fuhr
-Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und
-hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden
-könnte, wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem
-andern, neuen Ort ohne unliebe Erinnerungen sich ein
-friedlich fleißiges Leben führen ließe, bescheiden und doch
-etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren Garten
-und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich
-zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick
-besänftigt und von dem rotgelben, innigen Abendscheine
-leicht und wohlig geblendet, recht milde mit halber
-Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte und
-ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und
-schwieg, von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele
-leicht gelähmt. Es ward ihr nicht völlig bewußt, daß das
-eine Werbung und eine Entscheidung für ihr Leben bedeute,
-auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch
-Qual, denn sie war durchaus entschieden und dachte keine
-Sekunde daran, das für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten
-gingen so gleitend und leicht und wie von einer Musik
-getragen, daß sie benommen lauschte und keines Entschlusses
-fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu
-schütteln oder aufzustehen.</p>
-
-<p>Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie
-fragend an und sah sie unverändert mit niedergeschlagenen
-Augen und fein geröteten Wangen verharren, als schaue
-sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche einer seltenen
-Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die
-sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig
-wie ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er
-schon an einem kleinen goldenen Faden zu halten meinte.
-Ihre Bewegung verstand er nicht, denn er deutete sie zu
-seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben hingenommenen
-und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die
-merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden
-Flügeln durch das abendhelle Stüblein und durch sein
-Gemüt reisen.</p>
-
-<p>Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so
-halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur
-Minuten, denn die Sonne stand noch immer nah am Rande
-der jenseitigen Berge, als sie aus dieser Stille jäh erweckt
-wurden.</p>
-
-<p>Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten
-und war, schon durch den ungewohnten Besuch
-in Aufregung und einige Angst geraten, bei dem langen,
-leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden von argen
-Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es
-schien ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen
-und allmählich ergriff sie, die nur an sich selber zu denken
-vermochte, eine wachsende Furcht, der fremde Mann möchte
-gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine stille, argwöhnische
-Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches
-der Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts
-noch so Geringes im Hause vorfallen, ohne daß die arme
-Jungfer mit Entsetzen an eine gewaltsame Hinwegführung
-und Einsperrung an einem unbekannten fernen Orte
-denken mußte.</p>
-
-<p>Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer
-abnehmenden Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte,
-gewaltsam schluchzend und in Verzweiflung aufgelöst in
-die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer Schwägerin nieder
-und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem
-Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die
-Frau Entriß plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen
-alles wieder mit nüchternem Verstande wahrnahm und
-sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte.</p>
-
-<p>Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor,
-fuhr ihr mit tröstender Hand übers Haar und redete halblaut
-und eintönig auf sie ein wie auf ein heulendes Kind.</p>
-
-<p>»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst
-jetzt nicht mehr? Komm, Kindelchen, komm, wir sind
-vergnügt und kriegen was Gutes zum Nachtessen. Hast
-gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es
-nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben,
-kein Mensch darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein,
-nimmer weinen!«</p>
-
-<p>August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit
-Rührung zu, die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit
-einem kindlichen Genuß, wiegte den Kopf hin und wider,
-klagte mit abnehmender Stimme und verzog ihr verzweifeltes
-Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen
-unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln.
-Doch kam sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr
-als entbehrlich vor, er hustete darum ein wenig und sagte:
-»Das tut mir leid, Frau Entriß, hoffentlich geht es gut
-vorbei. Ich werde so frei sein und morgen wiederkommen,
-wenn ich darf.«</p>
-
-<p>Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz,
-wie er um sie geworben und sie ihm zugehört und es
-geduldet habe, ohne daß sie doch willens war, ihn zu erhören.
-Sie erstaunte über sich selber, es konnte ja aussehen,
-als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht fortgehen
-und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie
-ein, und sie sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber.
-Wir müssen noch reden.« Ihre Stimme war ruhig
-und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte der Sonne und
-die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre
-Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen
-bangen Glanz von Trauer auf den Werber, der mit dem
-Hute in den Händen wieder niedersaß und nicht begriff,
-wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme gekommen
-sei.</p>
-
-<p>Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und
-kehrte an ihren vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie
-im Zimmer lassen,« sagte sie leise, »sonst wird sie wieder
-unruhig und macht Dummheiten. &ndash; Ich habe Sie vorher
-reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum,
-ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie
-es nicht falsch gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein
-fester Entschluß, mich nicht mehr zu verändern. Ich bin
-fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß reichlich
-fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute
-nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar
-gut und dankbar bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen,
-können wir es weiter so haben. Aber damit wollen wir
-zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden haben.«</p>
-
-<p>Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an.
-Unter Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen
-und ihr recht geben. Allein der Glanz, den sie vor
-einer Viertelstunde im Gesicht gehabt hatte, war ihm noch
-wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im Gedächtnis
-und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der
-Glanz nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel
-im Herzen seiner Wege gegangen; so aber schien ihm, er
-habe das Glück schon wie einen zutraulichen Vogel auf
-dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick des
-Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe
-gehabt, läßt man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine
-neue Gelegenheit zum Fang entrinnen. Außerdem, und
-trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem sie schon so
-fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie
-jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war
-es seine Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche
-Vernunftheirat zu betreiben, nun aber hatte die stille
-Weichheit dieser Abendstunde ihn vollends wahrhaft verliebt
-gemacht, so daß jetzt an ein einfaches, freundlich
-kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war.</p>
-
-<p>»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind
-jetzt erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag
-zu sehr überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig
-gesagt und mich zu sehr an das Praktische und Geschäftliche
-der Sache gehalten, wenn es auch nicht so gemeint war.
-Ich will darum nur sagen, daß mein Herz es ernst meint
-und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch Gründe
-dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es
-steht mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer
-zu lassen. Ich habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande
-Widerstand leisten, kann ich mich nicht zufrieden
-geben wie ein Handelsmann, den man um ein Haus weiterschickt.
-Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg weiterzuführen
-und Sie nach meinen Kräften zu belagern,
-damit es sich zeigt, wer der Stärkere ist.«</p>
-
-<p>Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang,
-wenn auch nicht überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft
-in ihr Frauengemüt und tat ihr im Innern wohl wie
-ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es auch nicht
-wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln
-Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den
-Angriff abzuwehren und ihre liebgewordene Freiheit zu
-behalten.</p>
-
-<p>Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar!
-Die Männer bleiben eben länger jung als unsereine, und
-es tut mir leid, daß Sie mit meinem Bescheide nicht zufrieden
-sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal
-nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder
-jung machen und verliebt tun, es käme nicht von Herzen.
-Auch ist mir mein Leben, so wie es jetzt ist, lieb und gewohnt
-geworden, ich habe meine Freiheit und keine Sorgen.
-Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin,
-die mich braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab'
-ich ihr versprochen und will dabei bleiben. &ndash; Aber was
-rede ich lang, wo nichts zu sagen ist! Ich will nicht und
-ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir meinen, so
-lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit
-Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen
-und würde kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn
-Sie wollen, so vergessen wir das heutige und bleiben gute
-Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer sehen.«</p>
-
-<p>Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch
-nicht, sondern ging in erregten Gedanken, als wäre er im
-eigenen Hause, heftig auf und ab, um einen Weg aus dieser
-Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu, ein wenig belustigt,
-ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es
-ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht
-töricht, Herr Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen,
-und für Sie wird es auch Zeit sein.«</p>
-
-<p>Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er
-nahm seinen Hut, den er in der Aufregung weggelegt
-hatte, manierlich in die linke Hand, verbeugte sich und sagte
-mit einem schwachen, etwas mißlungenen Lächeln: »Gut,
-ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen
-Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und
-werde Sie eine Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen
-mich nicht für gewalttätig halten. Aber ich komme wieder,
-sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich bitte um nichts,
-als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal in
-Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort
-geben, ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird.
-Ich reise fort, das hatte ich ohnehin im Sinn, und Sie werden
-also alle Ruhe vor mir haben. Und wenn ich wiederkomme,
-ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie
-dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein
-und werde dann Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien.
-Sie sind das Einzige, was mich noch in Gerbersau
-halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und auf Wiedersehen!«</p>
-
-<p>Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab
-aber in freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen
-Sie schon, sie wird nicht anders werden. Damit Sie
-meinen guten Willen sehen, will ich Ihren Vorschlag gelten
-lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen, sehen
-Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen,
-und bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute
-Reise!«</p>
-
-<p>»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den
-Türgriff in die Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück,
-den nur die Schwägerin erwiderte, und trat unbegleitet
-aus dem Hause in die noch lichte Dämmerung.
-Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende
-Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit
-zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich
-für immer zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau.
-Dieser Entschluß tat ihm in seinem übrigen schwebenden
-und abhängigen Zustande wohl, als ein Ausblick auf selbständigere
-und gesichertere Zeiten, nach denen ihn sehnlich
-verlangte.</p>
-
-<p>Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung
-hinüber, nicht ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen
-zurückzuschauen, das mit geschlossener Tür und
-Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte Sommernacht
-erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch
-eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend
-in einem sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen.
-Bei ihrem Anblick fühlte der Mann noch einmal
-die feine, innig glühende Erregung der vergangenen Stunde
-vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten Kopf zu
-den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat
-er sein einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen
-in der Stadt, aß nur ein halbes Pfund Kirschen, die er
-morgens gekauft hatte, und fing noch am selben Abend an,
-sich für die Reise zu rüsten.</p>
-
-<p>Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab
-die Schlüssel seiner Aufwärterin und den Koffer einem
-Dienstmann, seufzte befreit und ging davon, in die Stadt
-hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im Vorbeigehen einen
-Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß zu
-wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger
-begleitet, elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte
-ihm von Herzen gute Erholung.</p>
-
-<p>Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes
-Leben glitt wieder in die vorige Einsamkeit
-zurück, es kam niemand zu ihr und es schaute niemand mehr
-über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt wußte man
-genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer
-geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die
-natürlich keinen Tag verborgen blieb. Sie kümmerte sich
-nach ihrer Art um das alles nicht, sondern ging ruhig ihren
-Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr leid, daß
-es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie
-hatte ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit
-mit Bedauern gestört. Doch war sie sich keiner Schuld
-bewußt und in langen Jahren an das Alleinleben so gewöhnt,
-daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen Kummer
-machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden
-Beeten, goß am Morgen und Abend, erntete das
-Beerenobst, machte ein und tat mit zufriedener Emsigkeit
-die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr die
-Schwägerin unverhofft zu schaffen.</p>
-
-<p>Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien
-aber seither noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst
-zu kämpfen, welche eine Art von Verfolgungswahnsinn
-war und in einem mißtrauischen Träumen von Entführung
-und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der
-ungewöhnlich viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht
-gut, und schließlich konnte Frau Entriß kaum mehr auf eine
-halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da die Kranke das
-Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte
-sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin
-sicher und umgab die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen
-und scheuen Blicken einer grundlosen Furcht. Am
-Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke in neues
-Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung
-wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder
-ein Grund, von erneuter Mißhandlung und behördlicher
-Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun in Verbindung
-mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu
-einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet.</p>
-
-<p>Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren,
-wo es ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde,
-so daß er, auch von einiger innerer Unrast geplagt, bald
-wieder aufpackte und weiterfuhr, diesmal nach Freudenstadt,
-das ihm von jungen Zeiten her bekannt war. Dort
-gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines schwäbischen
-Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und
-über technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung
-reden konnte. Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß
-und gleich ihm selber weit in der Welt herumgekommen
-war, machte er täglich lange Spaziergänge in den kühlen
-Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder
-das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner
-Landschaft und Waldnähe marschieren und in hübschen
-Ortschaften und guten Gasthäusern sich ausruhen kann.
-Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine Lederwarenfabrik
-von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund
-fragte ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei,
-seine Erholungstage in so angenehmen und vertrauten
-Gesprächen hinbringen zu können. Es entstand zwischen
-den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit und
-gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in
-der Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem
-eine Bekanntschaft mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier
-erstaunlich war. So währte es nicht lange, bis er
-dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage genauer mitteilte,
-und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter
-Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden
-werden.</p>
-
-<p>Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich,
-er vergaß sogar für halbe Tage seinen schwebenden
-Handel mit der Witwe in Gerbersau, von dem er Herrn
-Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen. Den alten
-Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit
-einem gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige
-neue Unternehmungen nicht wenig, und die Bedürfnisse
-seines Herzens zogen sich, da er ihnen nie allzuvielen
-Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück. Nur wenn er
-allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn
-das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder
-warm. Doch auch dann schien ihm die Angelegenheit
-nicht mehr gar so verzweifelt und gewichtig. Er dachte an
-jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und fand schließlich,
-sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein, daß
-der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen
-Teil an seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien.
-Nicht daß er nun kalt und untreu geworden wäre, das lag
-nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie zu vermuten war,
-es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde, schien
-ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen
-nicht unerträglich.</p>
-
-<p>Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von
-Herrn Trefz eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und
-seinen Betrieb anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort
-von geschäftlichen Beziehungen die Rede gewesen, doch
-wußten beide, wie es stand und daß der Besuch sehr wohl zu
-einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts führen
-könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem
-Freunde die Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne.</p>
-
-<p>»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen
-wir dann, falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.«</p>
-
-<p>Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen,
-dem er nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt
-zugesehen hatte. Er sah Arbeit und Sorge, Gewinn
-und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und
-mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute
-er sich jetzt auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines
-Arbeiters und Unternehmers, auf Einrichtungen und
-Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf Telegramme,
-Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger
-des Geldes wegen, dessen er für den Bedarf seines Alters
-genug besaß, als aus Freude an Umtrieb und Wagnis,
-aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem Welthandel
-und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich
-stieg er an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne
-heut ein einziges Mal an seine Witwe gedacht zu haben.</p>
-
-<p>Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe
-und seinen Beistand wohl hätte brauchen können. Die
-Schwägerin war unter der Beobachtung des Oberamtsarztes
-noch scheuer und unheimlicher geworden und machte
-das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem
-sie bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend
-die Treppen auf und ab stieg und durch die Stuben
-wanderte, bald auch sich in ihrer Kammer einschloß und
-eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln bestand.
-Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden,
-wenn auch ruhige Tage dazwischen kamen, und der
-geängstigte Doktor, der in solchen Dingen keine Erfahrung
-hatte, drängte zur Fortschaffung und Versorgung in einer
-Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange sie
-konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen
-Jungfer in langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft
-der völligen Einsamkeit immerhin vor, auch hoffte
-sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht lange dauern,
-und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten, die
-möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt
-ihr entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen
-ihr Lebenlang kochen, waschen und aufwarten,
-ihre Launen ertragen und sich um sie sorgen; aber die Aussicht,
-es möchte für dies zerstörte Leben vielleicht jahrelang
-ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne
-Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der
-täglichen Sorge um die Gemütskranke auch noch diese
-Angst und Last zu tragen, und sie fing trotz ihrer Zähigkeit
-an, etwas vom Fleisch zu fallen und im Gesicht ein wenig
-zu altern.</p>
-
-<p>Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war
-der sicheren Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in
-ihrem hübschen kleinen Hause und sei womöglich froh, den
-lästigen Nachbarn und Bewerber für eine Weile los zu sein.</p>
-
-<p>Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte
-die Abreise des Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt,
-ihr nach dem Entfernten Sehnsucht zu wecken und
-ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre sie jetzt in
-ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater
-zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus
-nicht mehr so stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls
-es mit der Schwägerin schlimm gehen sollte, sich wohl auch
-die Bewerbung des reichen Mannes noch einmal näher
-und freundlicher angesehen.</p>
-
-<p>In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die
-Abreise Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung
-und Dauer verstummt, da man jetzt an der Witwe Entriß
-wieder für eine Weile die Mäuler voll hatte. Und während
-unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die
-beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden
-und schon deutlicher von künftigen gemeinsamen
-Unternehmungen miteinander plauderten, saß daheim in
-der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei lange
-Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl
-und Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage
-später hielt August Schlotterbeck diesen Brief, der auf das
-beste Papier mit einem goldenen Rande geschrieben war,
-verwundert in den Händen und las ihn langsam zweimal
-durch. Er lautete:</p>
-
-<p>Lieber und werter Vetter Schlotterbeck!</p>
-
-<p>Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine
-Schwarzwaldtour gemacht hat, hat uns berichtet, daß er
-Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du wohl bist und
-in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte
-ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen.
-Wenn man es vermag, ist ja eine solche Sommerkur
-immer sehr gut, ich war auch einmal ein paar Tage in
-Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat mir vorzügliche
-Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg,
-und wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem
-Tannenrauschen auch Dir gewiß nur gut gefallen.</p>
-
-<p>Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir,
-und wenn du nach guter Erholung wieder heimkommst,
-wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder recht gut gefallen.
-Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es auch
-draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man
-doch bloß in der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich
-auch in der Stadt sehr beliebt gemacht, alle freuen sich bis
-Du wiederkommst.</p>
-
-<p>Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es
-in Deiner Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß
-es nicht, ob es Dir schon bekannt ist. Die Frau Entriß hat
-jetzt also doch ihre kranke Schwägerin hergeben müssen.
-Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche Geschöpf
-es nimmer hat aushalten können und hat Tag und
-Nacht um Hilfe gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt
-hat. Da hat sich gezeigt, daß es mit der kranken Jungfer
-furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß drauf bestehen
-und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann
-sich denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt,
-man hat ihr die Schwägerin weggenommen und vielleicht
-muß sie sich noch anderswo verantworten. Dieselbe ist
-im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht worden, und
-die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie
-früher so an der Kranken gespart!</p>
-
-<p>Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest
-Du sehen sollen, es war ein Jammer. Sie hatten einen
-Wagen genommen, da saß die Entriß, der Oberamtsarzt,
-ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da
-fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt,
-daß alles nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem
-Heimweg hat die Entriß dann allerlei zu hören gekriegt,
-ein Bub hat ihr sogar einen Stein nachgeworfen.</p>
-
-<p>Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen
-kann, tue ich es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang
-von der Heimat fortgewesen, aber das macht nichts und
-für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt, nichts zuviel.
-Meine Frau läßt Dich auch grüßen.</p>
-
-<p>Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische.
-In dem Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als
-hier in dem engen Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter.
-Im Bayrischen Hof hat es vorgestern eingeschlagen,
-aber kalt.</p>
-
-<p>Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung.
-In alter Treue Dein Vetter und Freund</p>
-
-<p class="right">
-Lukas Pfrommer.<br />
-</p>
-
-<p class="p2">Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch,
-steckte ihn in die Tasche, zog ihn wieder heraus und las
-ihn nochmals, dann sagte er: »O du Simpel,« was seinem
-Vetter galt. Doch hielt er sich nicht lange mit Gedanken
-an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich den Brief
-selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen
-ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten
-vor Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und
-Zorn, er sah das arme Frauelein verhöhnt und preisgegeben,
-mit Tränen kämpfen und ohne Trost allein sitzen.
-Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles sah und
-begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über
-den briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und
-über ganz Gerbersau herzlich empört und wollte schon
-Rache beschließen, da fiel ihm allmählich ein, wie wenig
-er selber in dieser letzten Zeit an die Frau Entriß gedacht
-hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel Heimweh
-gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der
-lieben Frau übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und
-vielleicht auf seinen Beistand gehofft.</p>
-
-<p>Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen.
-Das Bildnis der kleinen Witwe stand ihm nun wieder so
-klar und nett vor Augen, daß er nicht begriff, wie er sie
-tagelang fast ganz habe vergessen können. Was war jetzt
-zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne
-Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine
-Abreise an und teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der
-sich darüber sehr betrübt zeigte. Doch ward verabredet,
-daß Schlotterbeck ihn bald besuchen und seine Fabrik ansehen
-solle. Dann packte dieser seinen Koffer, worin er
-viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat
-und die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham
-und den Zorn und alle Bedenken und verfiel in eine muntere,
-tröstliche Heiterkeit, die ihn den ganzen Abend nimmer
-verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle diese Geschichten
-nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin
-war fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt
-und traurig und hatte wohl auch Geldsorgen, da
-war es Zeit, daß er nochmals vor sie trat und in dem abendsonnigen
-Stüblein ihr sein Angebot wiederholte. Vergnügt
-pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch
-noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte
-er mit Herrn Trefz bei einem guten Markgräflerwein.
-Die Männer stießen auf ein gutes Wiedersehen und
-eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein
-Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr
-wiederzusehen.</p>
-
-<p>Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der
-Eisenbahn und erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn
-begleitet und drückte ihm nochmals die Hand, der Hausknecht
-hob den Koffer in den Wagen und bekam sein Trinkgeld,
-der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen
-Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte
-an dem grüßenden Stationsvorstande vorbei in die Stadt
-hinein.</p>
-
-<p>Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege
-lag, ließ sich dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden
-Weges zur Frau Entriß hinauf, deren Garten ihn
-in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor war verschlossen
-und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die
-Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht &ndash;
-denn sie hatte ihn nicht kommen sehen &ndash; die Tür auftat.
-Da sie ihn erkannte, wurde sie rot und versuchte ein strenges
-Gesicht zu machen, er trat aber mit freundlichem Gruß herein
-und sie führte ihn in die Stube.</p>
-
-<p>Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der
-vergangenen Zeit wenig an ihn denken können, doch war
-seine Wiederkunft ihr immerhin kein Schrecken mehr, sondern
-eher ein Trost. Er sah das auch, trotz ihrer Stille und
-künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich selber
-die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern
-faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte:
-»Es ist jetzt recht, nicht wahr?«</p>
-
-<p>Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und
-Worte machen; aber unversehens übernahm sie die Bewegung,
-die Erinnerung an so viel Sorge und Bitterkeit
-dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer und trocken
-durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem
-eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach
-aber erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne
-Glücksschein, den Herr Schlotterbeck vom letztenmal her
-kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ sich von ihm umfangen, und
-als nach einem sanften Kusse der Bräutigam sie auf einen
-Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank, das
-stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft,
-oder willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?«</p>
-
-<p>Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin
-ich froh! Und das Privatisieren hört auch bald auf. Was
-meinst du zum Beispiel zu einer Lederwarenfabrik?«</p>
-
-
-
-
-<h2><a name="Der_Weltverbesserer" id="Der_Weltverbesserer">Der Weltverbesserer</a></h2>
-
-
-<h3>1</h3>
-
-<p>Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus
-einem guten bürgerlichen Hause stammend, besaß er
-einen angeborenen Sinn für das Schickliche und Angenehme,
-den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege und
-Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit
-des Philistertums bewahrte. Zum Unglück
-hatte er die Eltern früh verloren und von seinen mehrmals
-wechselnden Erziehern hatte nur ein einziger Einfluß auf
-ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch und frommer
-Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit
-eines Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit
-doch eben nicht ohne Hochmut den Dingen seine
-Form aufzwang.</p>
-
-<p>Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen,
-unbefangen seine Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen
-und im Anschluß an irgendeinen Kreis tätigen Lebens sich
-unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast sich nach dem
-ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen,
-auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher
-und wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten
-brauchen.</p>
-
-<p>Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch
-zwei Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang
-als seiner Natur begründet, beide unschuldig
-und edel von Ansehen. Zunächst war da, von jenem wohlmeinenden
-Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling
-eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen
-Dingen auf den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen
-war, und aus Zuständen, für die er nicht verantwortlich
-war, persönliche Gedanken- und Gewissensprobleme
-zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei denn jeder
-natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens
-erkrankt und verkümmert war.</p>
-
-<p>Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben:
-Berthold Reichardt hatte keinen bestimmten Beruf gewählt.
-Gewissenhaft und eifrig hatte er seine Neigungen
-und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben,
-sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und
-zu festigen, ehe er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte
-und verantwortliche Tätigkeit wage. Seinen Neigungen
-gemäß hatte er bei guten Lehrern, auf Reisen und
-aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit einer
-Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher
-Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den
-Studienjahren abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt;
-schließlich war er, um doch ein festes Ergebnis
-zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen geblieben und
-hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit
-über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen
-Renaissance abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun
-in München ein, wo er im Zusammenströmen so vieler
-junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am ehesten die
-Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine
-Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker
-hinstrebte. Er dürstete danach, Verkehr mit dem Leben
-und Einfluß auf Menschen zu üben, am Entstehen neuer
-Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und im
-Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.</p>
-
-<p>Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf
-und Stellung von allem Anfang an ein festes, klares
-Verhältnis zum Leben und eine berechtigte Stelle im Gefüge
-der menschlichen Tätigkeiten zu haben, dieses Vorteils
-also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und
-ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete
-keine Arbeit und Stellung, kein Amt und keine Richtung,
-er war nur ein Titel und Schmuck, am Sonntag zu
-tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen Mangel
-an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit,
-welche er hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten
-Preis, um die Krone des Lebens selber, daranzugeben
-gewillt war.</p>
-
-<p>In München, wo er schon früher ein Jahr als Student
-gelebt hatte, war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren
-Häusern eingeführt, hatte es aber mit den Begrüßungen
-und den Besuchen nicht eilig, da er seinen Umgang in aller
-Freiheit suchen und unabhängig von früheren Verpflichtungen
-sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er
-auf die Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder
-voll neuer Ideen gärte und beinahe täglich Zustände,
-Gesetze und Sitten entdeckte, welchen der Krieg zu erklären
-war.</p>
-
-<p>Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt,
-ohne sich darum Mühe gegeben zu haben, bald in
-näheren Umgang mit einem kleinen Kreise moderner junger
-Künstler dieser Art. Man traf sich bei Tische und im
-Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch
-freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens
-in dem des Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger
-Führerschaft in dieser Künstlergruppe ausübte.</p>
-
-<p>Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute
-hatte sich Berthold vor allem durch die Bescheidenheit erworben,
-mit welcher er ihren oft verblüffend kühnen Reden
-zuhörte und auch die gegen seine Person und seinen
-Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans
-Konegen ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und
-Reichardt sich als eine Art von Privatgelehrten vorstellte,
-der sich durch kunstgeschichtliche Studien den Doktorgrad
-erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu ins Gesicht
-gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!«
-und hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit
-betont, als wäre es mit Idiot oder Raubmörder
-gleichbedeutend. Reichardt aber hatte nur verwundert
-mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß allerdings
-das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich
-habe, wie es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung
-bedeute, welche er nun womöglich in einer mehr auf
-das Leben selbst gerichteten Tätigkeit anzuwenden hoffe.</p>
-
-<p>Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand
-er nun noch manchen Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber
-den guten Willen zum Lernen zu verlieren. Es fiel
-ihm vor allem auf, daß die paar berühmten Maler und
-Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung
-mit den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört
-oder gelesen hatte, offenbar diesem reformierenden Denken
-und Treiben der Jungen weit ferner standen, als er
-gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer gewissen Einsamkeit
-und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu
-leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber
-er anfänglich geradezu erschrak, von den jungen Kollegen
-keineswegs als Vorbilder bewundert, sondern mit Schärfe,
-ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum Teil sogar beinahe
-verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler, der unbekümmert
-seine Werke schuf, damit einen Verrat an der
-Sache der revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz
-Goethe es eines rechten Künstlers Art und Pflicht nicht so
-sehr zu malen und zu bilden als zu denken und zu reden.</p>
-
-<p>Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer,
-ideologischer Zug in Reichardts Wesen
-selbst, so daß er trotz gelegentlichen Bedenken dieser ganzen
-Art sehr bald zustimmte. Es fiel ihm nicht auf, wie
-wenig und mit wie geringer Leidenschaft in den Ateliers
-seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne Beruf
-und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es
-ihm wohl, daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit
-und Lust zum reden und theoretisieren hatten. Namentlich
-schloß er sich an Hans Konegen an, dessen kaltblütige
-Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein unverhohlenes
-Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig
-die vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung,
-dabei erstaunlich viel zu lernen, denn es gab kaum ein
-Kunstwerk, an dem Konegen nicht klar und schön darzulegen
-wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte es
-Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild,
-das ihm gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen
-hatte, gröblich und schonungslos hergefallen war;
-mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser Ton und färbte sogar
-auf seinen eigenen ab.</p>
-
-<p>Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit
-bewaldeten Hügeln, von Frühsommerwolken überflogen,
-treu und zart gemalt, das Werk eines noch jungen, doch
-schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das schätzen
-und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu,
-»und es ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind
-sogar direkt gut. Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie,
-kurz &ndash; Rhythmus? Eine nette kleine Arbeit, sauber und
-lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein! Ich
-bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der
-modernen Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie
-im größten Maßstab treibt, das reich geworden ist
-und Machtbewußtsein hat, das eben noch zu den Füßen
-Bismarcks und Nietzsches saß &ndash; und das soll nun unsere
-Kunst sein!«</p>
-
-<p>Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit
-monumentaler Wucht gemalt zu werden, oder ob das Gefühl
-für einfache Schönheiten der ländlichen Natur unseres
-Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht, und tat
-man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt:
-»Nun ja, wir können ja auch über das Ding an sich oder über
-den Kaukasus reden, warum nicht? Aber da wir nun doch
-einmal gerade von diesem Bild hier sprechen, kann ich nur
-wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier Größe?
-Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?«
-und so weiter.</p>
-
-<p>Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung,
-sich still und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen,
-und wenn er schließlich gleich seinen neuen Freunden
-mit Bitterkeit fragte: »Was sollen uns alle diese Ausstellungen?
-Sie lassen uns ja doch alle kalt!« so hatte er
-damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich mochte
-das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck
-reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem
-weit mehr Freude bereiten als dem so kritischen Betrachter
-alle Galerien.</p>
-
-<p>Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten
-keineswegs die Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten,
-denn nach ihren Reden, ihrem Auftreten und ihren
-vielen theoretischen Kenntnissen taten sie das entschieden.
-Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen Durchschnitt,
-ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform
-bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden
-und überklugen Jugend unbeachtet gar viele stille
-Talente hausten und arbeiteten. Er wußte auch nicht, wie
-wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile Konegens
-waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil,
-von Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern
-Bildwirkung und von Staffeleibildern größere
-Naturnähe verlangte, so daß freilich seine Ansprüche stets
-weit größer blieben als die Kunst aller Könner. Und er
-fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so
-mächtig seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen
-und Urteilen gäben. Wie es Art und schönes Recht der
-Jugend ist, unterschied er nicht zwischen seiner Freunde
-Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in lebhafter
-Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als
-Freund neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu
-leben, unter glücklichen Repräsentanten der zeitgenössischen
-Jugend.</p>
-
-<p>Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender
-Bescheidenheit. Während sie nämlich über Hodler wie über
-Botticelli zu reden und alle Forderungen der höchsten Kunst
-genau zu formulieren wußten, galt ihre eigene Arbeit
-meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen Gegenständen
-und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art.
-Aber wie das Können des größten Malers klein wurde
-und elend dahinschmolz, wenn man es an ihren Forderungen
-an ihn und ihren Urteilen über ihn maß, so wuchsen
-ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige,
-wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine
-ganz hübsche Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht
-und wußte nachzuweisen, daß diese Arbeit, so unscheinbar
-sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als mancher Saal voll
-Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das Gepräge
-des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen
-und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen
-Gegenstandes, ja des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer
-versah ein Stück graues Papier, das zu Büchereinbänden
-dienen sollte, mit einigen regellos verteilten gelblichen
-Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde
-lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener
-Flecken etwas Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel
-und Unendlichkeit zu wecken vermöge und wie der
-Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas melancholisch
-Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe.</p>
-
-<p>Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der
-Jugend als eine Mode betrieben; mancher kluge, doch
-schwache Künstler mochte es auch ernstlich darauf anlegen,
-mangelnden natürlichen Geschmack durch solche Raisonnements
-zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber
-in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit
-lang ernst und lernte dabei von Grund aus die verderbliche
-Müßiggängerkunst eines intellektualistischen Beschäftigtseins,
-das der Todfeind jeder wertvollen Arbeit ist.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>2</h3>
-</div>
-
-<p>Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als
-ein ziemlich gut erzogener Mensch, doch auf die Dauer
-nicht alle gesellschaftlichen Verpflichtungen vergessen, und
-so erinnerte er sich vor allem eines Hauses, in dem er einst
-als Student verkehrt hatte, da der Hausherr vor Zeiten mit
-Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden war.
-Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals
-Diplomat gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt
-war und als leidenschaftlicher Freund der Kunst
-und der Geselligkeit ein belebtes und glänzendes Haus geführt
-hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem er schon
-gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch
-machen und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause
-vor, dessen erste Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da
-fand er zu seinem Erstaunen einen fremden Namen auf
-dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig heraustretenden
-Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats
-fragte, erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der
-Herr Rat selbst sei vor mehr als Jahresfrist gestorben.</p>
-
-<p>Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben
-hatte, lag weit draußen in einer unbekannten stillen
-Straße am Rande der Stadt, und ehe er dorthin ging,
-suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren er einige noch
-von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über Schicksal
-und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu
-erhalten. Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat
-ein weithin gekannter Mann gewesen war, und so erfuhr
-Berthold eine ganze Geschichte: Weinland hatte allezeit
-weit über seine Verhältnisse gelebt und war so tief in
-Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte
-hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für
-einen natürlichen hatte halten mögen. Jedenfalls hatte
-sofort nach diesem unerklärten Todesfall die Familie alle
-Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch in der Stadt
-wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die angesehenen
-Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten
-und die ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein
-Haus zu machen. Schade sei es dabei am meisten um die
-Tochter, der jedermann ein besseres Schicksal gegönnt hätte.</p>
-
-<p>Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und
-mitleidig ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein
-dieser Tochter, welche je gesehen zu haben er sich nicht erinnern
-konnte, und es geschah zum Teil aus Neugierde
-auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen beschloß, die
-Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und
-fuhr hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die
-Grenze des freien Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz
-eingenommen wurde, wo im nassen Herbstwetter
-einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der Wagen
-hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause,
-das trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen
-schon den trüben Duft der Ärmlichkeit angenommen hatte.</p>
-
-<p>Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten
-Stockwerk, dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar
-erstaunt über den eleganten Besuch, geöffnet hatte. Sogleich
-erkannte er in der einfachen Stube mit neuen billigen
-Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere Gestalt
-und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert
-und nur um einen Schatten reservierter und kühler geworden
-schien. Neben ihr aber tauchte die Tochter auf,
-und nun wußte er genau, daß er diese noch nie gesehen
-habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz vergessen
-können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr
-im Gesicht ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden
-Gesicht, in der strammen, elastischen Haltung und einfachen,
-doch tadellosen Toilette wie eine junge Offiziersfrau oder
-Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck, und schon
-der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab
-sich dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige
-dunkelbraune Augen ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen
-Augen sowohl, wie in manchen weichen Bewegungen
-der strengen und beherrschten Gestalt schien erst
-der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen,
-den das übrige Äußere härter und kälter vermuten ließ,
-als er war.</p>
-
-<p>Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das
-Fräulein Agnes war, wie er nun erfuhr, während der
-Zeit seines früheren Verkehrs in ihrem Vaterhause im
-Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu erinnern,
-daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch
-vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren,
-und so kam es von selbst, daß vor allem des Besuchers
-Person und Leben besprochen wurde. Beide
-Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend
-und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu
-sehen, und Agnes meinte geradezu, wenn er einiges Talent
-zum Baumeister in sich fühle, so sei das ein so herrlicher
-Beruf, daß sie sein Zaudern nicht begreife. Beim
-Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen
-die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören
-würde, und erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder
-einzufinden.</p>
-
-<p>Von den veränderten Umständen der Familie, von
-ihrer Vereinsamung und Verarmung hatte zwar die Lage
-und Bescheidenheit ihrer Wohnung Kunde gegeben, die
-Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit keinem
-Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und
-Benehmen kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt,
-vielmehr den Ton innegehalten, der in ihrer früheren
-weitläuftigen Lebensführung ihnen geläufig und selbstverständlich
-gewesen war. Erst als Reichardt sich, die Damen
-im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern
-Flur allein fand und tappend nach dem Türgriff suchen
-mußte, kam ihm die Lage dieser Frauen wieder in den
-Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte Teilnahme
-und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich
-in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht
-und zum Augenblick des Einschlafens von einer wohlig
-reizenden Atmosphäre umgeben, wie vom tiefen, warmen
-Braun ihrer Blicke.</p>
-
-<p>Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen
-Arbeitsgedanken und Lebensplänen an. Wenige Tage
-nach seinem Besuche bei den Frauen Weinland hatte er
-ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen,
-das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm
-noch unerkannten Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft
-brachte. Hans Konegen hatte auf Reichardts Klagen
-hin sofort einen breiten, genial konstruierten Arbeitsplan
-entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin
-und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit
-nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine
-unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen,
-das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem
-Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich,
-unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts
-bestund als dem rasenden Kreisschwung seines Degens.</p>
-
-<p>Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt,
-indem er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen
-ausführte, die als kritische und heimlich mitschöpferische
-Berater der Kunst helfen und dienen könnten.
-Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert und unseren
-materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein
-richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht
-überhaupt nur noch den Künstlern selber und etwa
-noch solchen emsigen und klugen Kunstgelehrten, wie Reichardt,
-möglich sei. Um so mehr nun sei es also dessen
-Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und
-als unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er
-als den Sinn und das Ideal der modernen Kunst erkannt
-habe. Er möge daher trachten, an einer angesehenen Kunstzeitschrift
-oder noch besser an einer Tageszeitung kritischer
-Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann
-würde er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung
-seiner Schöpfungen Gelegenheit geben, einer guten
-Sache zu dienen und der Welt etwas Neues zu zeigen.</p>
-
-<p>Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran
-erinnerte, wie verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle
-Zeitungen und Zeitschriften und über das Amt des Kritikers
-im allgemeinen geäußert habe, bekannte sich der
-Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die er zu jeder
-Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm
-sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten
-und legte dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der
-Kritik ein wahrhaft edler und freier Geist auf diesem Gebiete
-zum Reformator werden könne, zum Lessing unserer
-Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem freundlichen
-Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein anderer
-und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches.
-Er selbst habe schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe
-einer Monographie über ihn, Hans Konegen, zu
-veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der rechte Mann
-für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den
-Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme
-er selbst, werde auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte
-in Japanabzügen beiheften und schon dadurch jeden echten
-und reichen Kunstfreund zum Erwerb des Buches geradezu
-nötigen.</p>
-
-<p>Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer
-zunehmenden Verstimmung an. Heute, da er das Übel
-seiner berufslosen Entbehrlichkeit besonders stark empfand
-und für einen guten Rat oder auch schon für ein wenig
-Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre, tat es ihm
-weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts
-anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen
-Ruhm oder Vorteil dienstbar zu machen.</p>
-
-<p>Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und
-diese Pläne kurz von der Hand wies, war Hans Konegen
-keineswegs geschlagen.</p>
-
-<p>»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie
-vollkommen und muß Ihnen eigentlich recht geben. Die
-Kritik und die verfluchte Federfuchserei überhaupt ist ja
-im Grunde eine entbehrliche und lächerliche Sache. Sie
-wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun Sie das!
-Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich
-und einige Freunde und dadurch eine direkte Verbindung
-mit dem schaffenden Geist der Zeit. Gründen Sie also
-ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen unmittelbaren
-Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen
-Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für
-Herstellung und Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu
-das Verlagsrecht meiner Holzschnitte und zahlreicher
-Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre Druckerei und
-Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit
-Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen
-wir eine kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe!
-Nehmen Sie mich als Berater oder Direktor,
-für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein Freund von mir
-modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich auch
-auf Bronzeguß.«</p>
-
-<p>Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt
-beinahe wieder lachen konnte. Überall sollte er der
-Unternehmer sein, das Geld aufbringen und riskieren,
-Konegen aber war der Direktor, der Beirat, der technische
-Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten Male erkannte
-Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle
-Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur
-um dessen eigene Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht
-kreisten, und er sah nachträglich mit Unbehagen, wie wenig
-schön die Rolle war, die er in der Vorstellung und den Absichten
-dieser Leute gespielt hatte.</p>
-
-<p>Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf
-dachte, sich still von diesem Umgang zurückzuziehen,
-unter möglichster Delikatesse und Schonung. Denn kaum
-hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten Beredungsversuchen
-eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht
-gesonnen war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen,
-so fiel die ganze Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie
-gewesen. Der Doktor hatte diesen Leuten ihre paar Holzschnitte
-und Töpfchen längst abgekauft, einigen auch kleine
-Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen
-wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten
-der Boheme noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem
-Erstaunen von seinen Künstlerfreunden vergessen
-und kaum mehr gegrüßt, während er sich noch damit
-quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig
-einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch
-den Entwurf zu einem Exlibris zu, das Herr Reichardt
-einmal mündlich bei ihm bestellt habe. Er kaufte das kleine
-Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages nicht erinnerte,
-und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens
-Holzschnitte barg.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>3</h3>
-</div>
-
-<p>Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause
-bei der Frau Rat Weinland vor, wo es ihm
-jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der vornehme Ton
-dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz zu
-den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der
-junge Mann sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz
-anzunehmen, und immer ernsthafter beschäftigte ihn die
-Tochter, die ihn zweimal allein empfing, und deren strenge
-Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte. Denn er
-fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden
-oder doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer
-damenhaften Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein
-schien. Und zwar besaß sie jene praktische, auf das Notwendige
-und Nächste gerichtete Klugheit, welche das nur
-spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht kennt
-und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß
-als philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm
-doch jedesmal Eindruck machte.</p>
-
-<p>Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für
-den Zustand, in dem sie ihn befangen sah, und wurde
-nicht müde, ihn auszufragen und ihm zuzureden, ja sie
-machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines Mannes
-unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen
-wie man Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und
-festem Willen an einem bestimmten Punkte zu beginnen.
-Von den Weisheiten des Malers Konegen hielt sie ebenso
-wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt mitgebracht
-hatte.</p>
-
-<p>»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe,
-Ihr Freund treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es
-sind, so viel ich davon verstehe, Nachahmungen japanischer
-Arbeiten, die vielleicht den Wert von Stilübungen haben
-können. Mein Gott, was sind denn das für Männer, die
-in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün
-und ein Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau
-von einigem Geschmack leistet ja mehr, wenn sie sich ihre
-Kleiderstoffe aussucht!«</p>
-
-<p>Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen,
-doch sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das
-Beispiel einer solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit
-der Nase darauf stoßen, hatte sein Glück ihm diese prächtige
-Figur in seinen Weg gestellt, daß er sich an sie halte
-und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der Mensch
-ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn
-er einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen
-geraten ist.</p>
-
-<p>Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem
-Maler Konegen abgetan war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit
-ungesäumt einen neuen stattlichen Gang erwählt,
-der überallhin führen konnte, und den er jetzt mit dem
-Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider meist
-nur für Undinge fähig sind.</p>
-
-<p>Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst
-und Leben, oder neue Wege zu einer künstlerischen Kultur«
-hatte er etwas erfahren, das er umso bereitwilliger aufnahm,
-als es seiner augenblicklichen enttäuschten Gedankenlage
-entsprach, nämlich daß es nottue, aus allen ästhetischen
-und intellektualistischen Interessantheiten herauszukommen.
-Fort mit der formalistischen und negativen
-Kritik unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun
-auf Kosten heiliger Güter und Angelegenheiten unserer
-Zeit! Dies war der Ruf, dem er wie ein Erlöster
-folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung sofort
-und unbedingt, einerlei wohin er führe.</p>
-
-<p>Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds
-Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer
-neuen Ethik. War nicht ringsum alles faul und verdorben,
-wohin der Blick auch fallen mochte? Unsere Häuser, Möbel
-und Kleider geschmacklos, auf Schein berechnet und unecht,
-unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere Wissenschaft
-verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum
-verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem,
-und war es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche
-Widerspiel ihres wahren Ideals darstellte? Warf sie etwa,
-wie sie könnte und sollte, Schönheit und Heiterkeit in die
-Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie Freude und
-Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte
-Geld verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst
-war jede geistige Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß
-mit der Unkultur.</p>
-
-<p>Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit
-und Schwindel umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch
-beschmutzt und vom Geldhunger korrumpiert, das
-Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend; jede echte
-und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge,
-die er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen
-betrachtet hatte, enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis.
-Berthold fühlte sich für dies alles mit verantwortlich und
-zur Mitarbeit an der neuen Ethik und Kultur verpflichtet.</p>
-
-<p>Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon
-berichtete, wurde sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold
-gerne und traute es sich zu, ihm zu einem tüchtigen
-und schönen Leben zu verhelfen, und nun sah sie ihn, der
-sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und Umtriebe
-stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen
-er nur zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung
-recht deutlich und meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle
-mache oder einen Knopf annähe, sei der Menschheit
-und der Kultur gewiß nützlicher und lieber als alle Propheten.
-Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß
-genug, edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige
-seien dazu berufen, das Bestehende anzugreifen und Lehrer
-der Menschheit zu werden.</p>
-
-<p>Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung,
-die sie äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit
-welcher es zu halten sein Gewissen ihm verbiete. Es war
-der erste kleine Streit, den die beiden hatten, und Agnes
-sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer weiter
-von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in
-endlose Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen
-wurde. Schon war er im Begriffe, blind und
-stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu segeln, wo sie
-auf ihn wartete.</p>
-
-<p>Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den
-Einfluß eines wirklichen Propheten geriet, den er in einem
-ethischen Verein kennen gelernt hatte. Dieser Mann,
-welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst Theologe, dann
-Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam, rasch
-eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten
-gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur
-unerbittlich im Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände,
-sondern persönlich auch zu jeder Stunde bereit
-war, für seine Gedanken einzustehen und sich ihnen zu opfern.
-Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über den heiligen
-Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang
-seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum
-erklärt und den Gegensatz von heiliger Intuition und
-echter Sittlichkeit gegen Dogma und Kirchenmacht auf das
-Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel deshalb vertrieben,
-nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte
-bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber
-seltsamer mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden
-machten. Seit Jahren aber lebte er nun auf Reisen, ohne
-Erwerb und ohne festen Wohnort, ganz dem Drange seiner
-Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos sein
-letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den
-Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig,
-stets in dasselbe anständige, doch überaus einfache
-Lodenkleid gehüllt, das er auch auf seinen Fußwanderungen
-und Reisen trug. Seine Lehre war ohne feste Dogmen,
-er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit
-und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge
-verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er
-kennen lernte, sagte »Es freut mich,« so galt das für eine
-Auszeichnung, und eben das hatte er zu Reichardt gesagt.</p>
-
-<p>Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann
-gesehen hatte und seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis
-zu Agnes Weinland immer lockerer und unsicherer.
-Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in seinem
-Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen
-kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder
-Beichtvater einen jungen Menschen, der mit sich unzufrieden
-ist, vor allem nach einer etwaigen Liebe oder
-Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran
-nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten
-jungen Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten
-Platz finden konnte, und den er keineswegs zu beruhigen
-und zu versöhnen dachte, denn er liebte und brauchte
-solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus deren Bedürfnis
-und Auflehnung er die Entstehung der besseren
-Zeiten erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer
-stets an ihren eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie
-der Weltordnung zuschreiben, und über die sie niemals
-hinauskommen, war dieser holländische Prophet gegen sein
-eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und
-richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf
-jene Übel, die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer
-menschlichen Friedens ansah. Er haßte den Krieg und die
-Machtpolitik, er haßte das Geld und den Luxus, und er
-sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und aus
-dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie
-einst das Übel vernichte. In der Tat kannte er Hunderte
-und Tausende von notleidenden und suchenden Seelen
-in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen reichten
-vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die Friedens-
-und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste
-und auf Madeira.</p>
-
-<p>Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen.
-Van Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München
-auf und wohnte bei einem schwedischen Maler, in
-dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte ausspannte,
-und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug
-reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten.
-Öffentliche Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis
-spät und selbst bei Gängen auf der Straße umgeben von
-einem Kreise Gleichgesinnter oder Ratsuchender, mit denen
-er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu ermüden.
-Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle
-Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen
-und ihre Sprüche als Belege für seine Lehre zu
-zitieren, nicht nur den heiligen Franz, sondern ebenso Jesus
-selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius. Hätte Berthold
-seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie vielleicht
-wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte
-er sofort ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit
-erkannt. So aber unterlag er willig dem Einfluß einer
-so starken und seltsam anziehenden Persönlichkeit.</p>
-
-<p>Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van
-Vlissens Nähe hielten. Aber Reichardt war einer von den
-ganz Wenigen, die sich nicht mit der Sensation und Stimmung
-des gegenwärtigen Augenblicks begnügten, sondern
-eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten,
-wozu es gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber
-eines ungetrübten und zarten sittlichen Empfindens bedarf.</p>
-
-<p>In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre
-Mutter nur ein einzigesmal. Die Frauen bemerkten die
-Veränderung seines Wesens alsbald; seine fast knabenhafte
-Begeisterung, die doch keinen kleinsten Widerspruch ertragen
-konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner
-Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos
-in seinem glücklichen Eifer sich immer heißer und immer
-weiter von Agnes weg redete, sorgte der böse Feind dafür,
-daß auch noch gerade heute ihn das denkbar unglücklichste
-Thema beschäftigen mußte.</p>
-
-<p>Dieses war die damals vielbesprochene Reform der
-Frauenkleidung, welche von vielen Seiten fanatisch gefordert
-wurde, von Künstlern aus ästhetischen Gründen,
-von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern aus ethischen.
-Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften
-Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen
-die bisherigen Frauenkleider auftrat und der Mode ihre
-Lebensberechtigung absprach, sah man freilich die schönen
-und eleganten Frauen der berühmten Künstler, Ärzte
-und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen Schein
-dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer
-begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung
-der Augen liegen, diese eleganten Frauen gefielen sich
-und der Welt entschieden besser als die Erstlingsopfer der
-neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast faltenlosen
-Kostümen einhergingen.</p>
-
-<p>Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite
-der Reformer. Die anfangs humoristischen, dann ernster
-werdenden und schließlich leicht indignierten Einwürfe der
-beiden Damen beantwortete er nicht gerade heftig oder
-unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen Tone,
-wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame
-versuchte mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken,
-doch vergebens, bis schließlich Agnes mit Entschiedenheit
-sagte: »Sprechen wir nicht mehr davon! Ich bin darüber
-erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem Gebiet
-verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen
-glaubte, denn ich mache alle meine Kleider selber.
-Da habe ich denn also, ohne es zu ahnen, Ihre Gesinnungen
-und Ihren Geschmack durch meine Trachten fortwährend
-beleidigt.«</p>
-
-<p>Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat
-und anmaßend sein Predigen gewesen sei, und errötend
-bat er um Entschuldigung. »Meine Überzeugung
-zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft, »aber es
-ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen Augenblick
-dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche
-Kritik viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich
-selbst wider meine Anschauungen sündige, indem Sie mich
-in einer Kleidung sehen, deren Prinzip ich verwerfe. Mit
-anderen Änderungen meiner Lebensweise, die ich schon
-vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen,
-mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen
-darf.«</p>
-
-<p>Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine
-Gestalt, die in ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung
-recht hübsch und nobel aussah, und sie rief mit einem
-Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst hier in München
-in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!«</p>
-
-<p>»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich
-und unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich
-überhaupt nicht in das Stadtleben tauge, und will mich
-in Bälde auf das Land zurückziehen, um in schlichter Tätigkeit
-ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.«</p>
-
-<p>Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen,
-lag lähmend über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt
-nach wenigen Minuten Abschied nahm. Er reichte
-der Rätin die Hand, dann der Tochter, die jedoch erklärte,
-ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie noch
-nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und
-wartete, bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die
-Tür zur Treppe, und als er ihr nun Abschied nehmend die
-Hand gab, hielt sie diese einen Augenblick fest, sah ihn mit
-dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht durchdringend
-an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von
-dem, was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.«</p>
-
-<p>Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief
-ihn ein süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick
-mußte er es sich wie eine selige Erlösung vorstellen,
-sein Leben dieser Frau in die Hände zu geben. Er fühlte,
-wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit sie ihm hatte
-entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang
-schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze
-Gebäude seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen.</p>
-
-<p>Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die
-Türe hinter ihm geschlossen.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>4</h3>
-</div>
-
-<p>Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein
-Jünger unsicher geworden und von fremden Einflüssen
-gestört war. Er sah ihm lächelnd ins Gesicht, mit seinen
-merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch tat er
-keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick
-in Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange
-ein. Das hatte er noch nie getan, und Berthold
-ließ alsbald einen Wagen kommen, in dem sie weit vor
-die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde ließ
-van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der
-Wald stand vorwinterlich verlassen unter dem bleichen
-grauen Himmel, es war weit und still, nur aus großer
-Ferne her hörten sie die Axtschläge von Holzhauern durch
-die graue Kühle klingen.</p>
-
-<p>Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt
-mit leichtem, wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam
-mit allen Sinnen die Waldstille einatmend und durchdringend.
-Wie er die Luft eintrank und den Boden trat,
-wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit
-lautloser Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden
-Specht aufmerksam machte, da war etwas still Zwingendes
-in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit und überall
-mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige
-Mann wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu
-durchwandern schien, dessen heimlicher König er war. Aus
-dem Walde tretend sahen sie weite Äcker ausgebreitet, ein
-Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren Gäulen
-dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von
-Saat und Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen
-Dingen und entfaltete in einfachen Worten ein
-Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe Bauer unbewußt
-führe, das aber, von bewußten und dankbaren
-Menschen geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer
-Kraft sein müsse. Und der Jünger fühlte, wie die
-Weite und Stille und der ruhige große Atem der ländlichen
-Natur Sprache gewann und sich seines Herzens bemächtigte.
-Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück.</p>
-
-<p>Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach
-Tirol, und Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen
-südlichen Tal kaufte er einen Obstgarten und ein kleines,
-etwas verfallenes Weinberghäuschen, in das er ohne
-Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu beginnen.
-Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie
-das des Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach
-München zurück, wo er sein Zelt abbrechen und Abschied
-nehmen wollte.</p>
-
-<p>Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen,
-daß ihr Rettungsversuch vergeblich gewesen sei.
-Das stolze Mädchen war betrübt, den Mann und die an
-ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht minder
-in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von
-ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung
-so weit entgegengekommen war.</p>
-
-<p>Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie
-alle Lust, ihn gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre
-Verstimmung und sah ihm ohne eigentliche Hoffnung, doch
-mit einer gewissen erregten Neugierde entgegen. Die
-Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung
-zu Bette.</p>
-
-<p>Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten,
-um den sie mit einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und
-der nun etwas verlegen und wunderlich verändert vor
-ihr stand. Er trug nämlich die Tracht van Vlissens, Wams
-und Beinkleider von grobem Filztuch, statt steifgebügelter
-Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem
-ziemlich breiten weichen Halskragen.</p>
-
-<p>Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock
-oder im modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete
-ihn einen Augenblick mit Enttäuschung und Staunen,
-dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte mit einem kleinen
-Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr
-Doktor.«</p>
-
-<p>Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie
-wissen ja auch, was diese Veränderung bedeutet. Ich
-komme, um Abschied zu nehmen, denn ich übersiedele dieser
-Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.«</p>
-
-<p>»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja
-gar nichts.«</p>
-
-<p>»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört
-mir erst seit einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt,
-sich um mein Vorhaben und Ergehen zu kümmern,
-darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft schuldig zu
-sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht
-mehr rechnen?«</p>
-
-<p>Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah
-ihn an.</p>
-
-<p>»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert,
-so lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil
-daran nehmen konnte. Für die Versuche mit Tolstoischer
-Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich aber leider nur
-wenig Interesse aufbringen.«</p>
-
-<p>»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber
-wie Sie auch von mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich
-werde Sie nicht vergessen können, und ich hoffe von Herzen,
-Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen, sobald
-Sie mich hierin ganz verstehen.«</p>
-
-<p>»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.«</p>
-
-<p>Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn
-wir beide guten Willens wären, glauben Sie nicht, daß
-Sie dann vielleicht diesen Weg mit mir gemeinsam gehen
-könnten?«</p>
-
-<p>Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr
-Reichardt, das glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück
-wünschen. Aber ich bin in all meiner Armut gar nicht so
-unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg zu teilen, der aus
-der Welt hinaus ins Unsichere führt.«</p>
-
-<p>Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen
-Sie nur Ihren Weg! Gehen Sie ihn!«</p>
-
-<p>Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie
-ihn ein sich zu verabschieden, was er betroffen und bekümmert
-tat, und indessen er draußen die Türe öffnete und
-schloß und die Treppe hinabstieg, hatte sie, die seine Schritte
-verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich bittere und
-hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende
-Mann, als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und
-köstliche Sache zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit
-des andern dachte.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>5</h3>
-</div>
-
-<p>Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den
-ersten Anfängen sah es gar nicht übel aus. Wenn er
-ziemlich früh am Morgen das Lager verließ, das er sich
-selber bereitete, schaute durch das kleine Fenster seiner
-Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an dessen
-tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann
-mit angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings,
-mit dem Waschen oder auch Baden im
-Brunnentrog, je nach der Wärme des Tages, mit dem
-Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer,
-Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich
-zu seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber
-und Minister Xaver aus dem Dorfe, der auch das
-Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold nun an die Arbeit,
-bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen
-oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes
-Anleitung die wichtigsten Geräte handhaben, die Gais
-melken und füttern, den Boden graben, Obstbäume putzen,
-den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den Herd spalten
-und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst,
-so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe
-und Strohseile geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche
-Dinge betrieben, wobei der Knecht vergnügt seine
-Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk hervor
-eine Menge Geschichten erzählte.</p>
-
-<p>Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes
-und halbmüßiges wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die
-kräftige Würze der Arbeit, die ihm nicht minder gefiel und
-wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst gespaltenen
-Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen schwarzen
-Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und
-das Wasser oder die Milch im viel zu großen Hängekessel
-zu sieden begann, dann konnte er ein robustes Lebensgefühl
-robinsonschen Behagens in den Gliedern spüren,
-das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte, und
-in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren
-Erlösung zu kosten meinte.</p>
-
-<p>In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter
-nichts Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher
-Arbeit zu spielen, die Gedanken ruhen zu lassen
-und die Glieder zu ermüden, früh schlafen zu gehen und
-früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und erworbene
-Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden
-wechseln, und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend
-mit dem Gehirn zu arbeiten, der kann kein Kleinbauer
-mehr werden. Diese Binsenwahrheit mußte auch
-Reichardt erfahren.</p>
-
-<p>Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann
-ging der Knecht mit seinem guten Tagelohn nach Hause
-oder ins Wirtshaus, um unter seinesgleichen froh zu sein
-und von dem Treiben seines wunderlichen Brotgebers zu
-erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den
-Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten-
-und Obstbau handelten. Diese vermochten ihn aber nicht
-lange zu fesseln. Er las und lernte gläubig, daß das Steinobst
-die Neigung hat, mit seinen Wurzeln in die Breite zu
-gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß dem
-Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige
-feuchte Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß
-die Samen von Lauch und Zwiebeln ihre Keimkraft nach
-zwei Jahren verlieren, während die Kerne von Gurken und
-Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste Jahr
-behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese
-Dinge, die er von Xaver doch besser lernen konnte, und er
-gab diese Lektüre auf.</p>
-
-<p>Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor,
-der sich in der letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt,
-da er dies und jenes Zeitbuch auf dringende Empfehlungen
-hin gekauft hatte, zum Lesen aber nie gekommen
-war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode
-in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen.
-Beim Ordnen dieser Bücher und Schriften fielen ihm freilich
-einige in die Hände, die er als unnütz beiseite tat, denn
-sie stammten aus den Tagen seines Verkehrs mit Hans
-Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«,
-vom »Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann
-folgten zwei Bändchen von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung
-über den Heiligen von Assisi, Schriften wider den
-Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den Luxus,
-den Industrialismus, den Krieg.</p>
-
-<p>Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige
-wieder kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien
-bestätigt, er sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an
-der Philosophie der Unzufriedenen, Asketen und Idealisten,
-aus deren Schriften her ein feiner Heiligenschein über sein
-eigenes jetziges Leben fiel. Und als nun bald der Frühling
-begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen natürlicher
-Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem
-Rechen hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem
-Leben die schöne, vertrauensvolle Arbeit des Säens
-und hatte seine Lust am Keimen und Gedeihen der Gewächse.
-Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die Abende
-hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten,
-und in den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie
-ein rechter Bauer. Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf
-den Spaten gestützt oder am Brunnen das Vollwerden
-der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland denken
-mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber
-das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es
-mit der Zeit wohl vollends zu überwinden, denn er meinte,
-es wäre doch töricht und schade gewesen, hätte er sich von
-dieser Liebe verführen und in der argen Welt zurückhalten
-lassen.</p>
-
-<p>Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich
-auch die Einsamkeit mehr und mehr verlor wie ein Winternebel.
-Von dieser Zeit an erschienen je und je unerwartete,
-freundlich aufgenommene Gäste verschiedener Art, lauter
-fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren
-eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle
-aus unbekannter Quelle seine Adresse wußten und keiner
-ihres Ordens durch das Tal zog, ohne ihn heimzusuchen.
-Es waren dies verstreute Angehörige jener großen Schar
-von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen
-Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen,
-und deren einzelne Typen nun Berthold allmählich
-unterscheiden lernte. Denn ihrer sind viele, aber sie lassen
-sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und Gruppen
-wie andere Lebewesen auch.</p>
-
-<p>Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich
-aussehender Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt
-mit Vorträgen über die Gefahren des Alkohols bereiste und
-auf einer Ferientour unterwegs war. Er blieb nur eine
-Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein angenehmes
-Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen
-und gehöre einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender
-Menschen an.</p>
-
-<p>Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein
-regsamer, begeisterter Herr in einem weiten altmodischen
-Gehrocke, zu welchem er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd,
-gelbe karrierte Beinkleider und auf dem Kopfe einen
-hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut trug. Dieser
-Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm
-sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte
-seinen Namen so bescheiden lächelnd und alle zu hohen
-Ehrbezeugungen im voraus etwas nervös ablehnend, daß
-Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da er ihn nicht
-kannte und seinen Namen nie gehört hatte.</p>
-
-<p>Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte
-hervorging, ein hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog
-wundersame Heilungen, wegen deren er zwar von
-Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja
-grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und
-Gerechten aber desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben
-in Italien einer Gräfin, deren Namen er nicht verraten
-dürfe, durch bloßes Händeauflegen das schon verloren gegebene
-Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein Verächter
-der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß
-auf dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche
-Bedürftige sehnlich erwarteten. Leider sehe er sich die
-Reise durch Geldmangel erschwert, denn es sei ihm unmöglich,
-für seine Heilungen anderen Entgelt anzunehmen,
-als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich
-daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn
-gewiesen, um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht
-seiner Person &ndash; an welcher nichts gelegen sei &ndash; sondern
-eben den auf seine Rückkunft harrenden Bedürftigen zugute
-kommen sollte.</p>
-
-<p>Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann
-von russischem Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach,
-und dessen feine Gesichtszüge und Hände in Widerspruch
-standen mit seiner äußerst dürftigen Arbeiterkleidung
-und den zerrissenen groben Schuhen. Er sprach nur
-wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er
-einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen
-Künstler oder einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling
-begnügte sich damit, einen glühend forschenden Blick
-in Reichardts Gesicht zu tun und ihn dann mit einem geheimen
-Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen.
-Er ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem
-verwunderten Wirte gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende
-Kammer mit einer breiten Wandbank und fragte
-demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt nickte, lud
-den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener
-Bank ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch
-ein Wort gesprochen hätte. Am nächsten Morgen nahm
-er noch eine Tasse Milch an, sagte mit tiefem Gurgelton
-»Danke« und ging fort.</p>
-
-<p>Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der
-erste einer langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen
-und einer Art von baumwollener Hemdhose. Er hatte,
-wie die meisten Brüder seiner Zunft, außer einiger Arbeitsscheu
-keine Laster, sondern war ein lieber, kindlicher
-Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem
-sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken
-ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie
-er äußerlich seine etwas theaterhafte Wüstentracht nicht
-ohne Würde trug.</p>
-
-<p>Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf
-Reichardt. Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern
-war in stolzer Demut überzeugt, daß auf dem Grunde
-seiner Lehre ganz von selbst ein neues paradiesisches
-Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich schon
-teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht
-töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog,
-sondern als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen
-auffaßte. Ein Tier zu töten, schien ihm scheußlich,
-und er glaubte fest daran, daß nach Ablauf der jetzigen
-Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit von
-diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand
-es aber auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume
-zu fällen; von allen Gaben der Natur schienen ihm nur
-die Früchte dem Menschen bestimmt und erlaubt zu sein,
-welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen zu
-schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu
-fällen, ja keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore
-eifrig nickte: »Ganz recht! Wir sollen ja auch keine
-Häuser haben, so wenig wie Kleider, das alles trennt uns
-von der Natur und führt uns weiter zu allen den Bedürfnissen,
-um deren willen Mord und Krieg und alle
-Laster entstanden sind.« Und als Reichardt wieder einwarf,
-es möchte sich kaum irgendein Mensch finden, der
-in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen Winter
-überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig
-und sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet.
-Eben das ist ja die Hauptquelle alles Elends
-in der Welt, daß der Mensch seine Wiege und natürliche
-Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der
-Weg der Menschheit zurückführen, und dann werden wir
-alle wieder im Garten Eden sein.«</p>
-
-<p>Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine
-gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie,
-die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen
-Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein
-müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse
-ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke
-gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt,
-wie er sie jetzt sah und nicht anders sehen konnte, bestand
-aus dem kleinen Kreise primitiver Tätigkeiten, denen er
-oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als auf der
-einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von
-ihm verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt
-verteilte kleine Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich
-zurechnen mußte, und zu der auch alle die Gäste zählten,
-deren manche tagelang bei ihm blieben und gegen deren
-drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während
-ihr Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus
-die Luft war, in der sein Geist atmete.</p>
-
-<p>Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen
-Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder
-hatten. Askese und Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase
-waren nicht Erscheinungen gewisser Zeiten und Religionen,
-sondern immer und überall in tausend Formen unter
-den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und
-alle diese Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten
-gehörten in diesen Kreis. Sie waren das Salz der Erde,
-die Umschaffenden und Zukunftbringenden, geheime geistige
-Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den Fasten
-und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien
-der langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern
-der Magnetiseure oder Gesundbeter.</p>
-
-<p>Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald
-wieder eine systematische Theorie oder Weltanschauung
-werde, dafür sorgte nicht nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis,
-sondern auch eine ganze Literatur von Schriften,
-die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht, teils zugesandt,
-teils als notwendig empfohlen wurden. Eine seltsame
-Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend
-mit vegetarischen Kochbüchern und endend mit
-den tollsten mystischen Systemen, über Christentum, Platonismus,
-Gnostizismus, Spiritismus und Theosophie hinweg
-alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen diesen
-Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei
-umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der
-pythagoreischen Lehre mit dem Spiritismus darzutun, der
-andere Jesus als Verkündiger des Vegetarismus zu deuten,
-der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine Übergangsstufe
-der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung
-nur vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die
-wandellose leibliche Unsterblichkeit der Individuen anstrebe.</p>
-
-<p>Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und
-Herbstes und mit dieser Büchersammlung fand sich Berthold
-schließlich bei rasch abnehmenden Tagen seinem zweiten
-tiroler Winter gegenübergestellt. Mit dem Eintritt der
-kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte
-nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte,
-urplötzlich auf wie mit der Schere abgeschnitten. Die
-Apostel und Brüder saßen jetzt entweder still im eigenen
-Winternest oder hielten sich, soweit sie heimatlos von Wanderung
-und Bettel lebten, an andere Gegenden und an
-die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen.</p>
-
-<p>Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung,
-die er bezog, die Nachricht von dem Tode des Eduard van
-Vlissen. Der hatte in einem Dorf an der russischen Grenze,
-wo er der Cholera wegen in Quarantäne gehalten, aber
-kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den
-Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen
-worden.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>6</h3>
-</div>
-
-<p>Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale
-zu. Seit einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden
-nimmer verlassen und sich zugeschworen, auch ferner dem
-Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die Genügsamkeit
-und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in
-seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen
-im Schnee herum, denn der Winter war viel härter
-als der vorjährige, und überließ die häusliche Handarbeit
-immer häufiger dem Xaver, der sich längst in dem
-kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen
-so ziemlich verlernt hatte.</p>
-
-<p>Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben,
-so mußte er doch alle die unendlich langen, stillen,
-toten Abende allein in der Hütte sitzen, und ihm gegenüber
-mit furchtbaren großen Augen saß die Einsamkeit
-wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als
-durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen,
-und der ihn doch von hinten überfiel, so oft er den Blick
-abwandte. Die Einsamkeit saß nachts auf seinem Bett,
-wenn er durch leibliche Ermüdung den Schlaf gefunden
-hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und wenn
-am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen
-Schritten pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das
-Dorf verschwand, sah ihm sein Herr nicht selten mit nacktem
-Neide nach. Für unbefestigte Menschen ist nichts gefährlicher
-und seelenmordender als die beständige Beschäftigung
-mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen
-Leben, der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche.
-Die ganze Krankheit dieses Zustandes mußte nun der
-gute Eremit an sich erleben, und durch die Lektüre so manches
-mystischen Buches geschult konnte er nun an sich selbst
-beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden
-von den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler
-in der Wüste Thebais waren. Von den Entrückungen
-und dem Einswerden mit dem Herzschlag der Natur, welche
-jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts
-zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des
-freiwillig Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt.</p>
-
-<p>So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet
-und an der Wurzel der Seele krank. Er sah übel
-aus, und seine früheren Freunde hätten ihn nicht mehr erkannt;
-denn über dem wetterfarbenen, aber eingesunkenen
-Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus
-dem hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit
-scheu geworden die Augen, als hätten sie niemals
-gelacht und niemals sich unschuldig an der Buntheit der
-Welt gefreut.</p>
-
-<p>Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in
-einer schlimmen Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus
-auf. Sauber gebürstet und gekämmt, doch
-fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte sich an
-einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur
-wenige Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille
-bei seinem Eintritt, das einsilbige Grüßen und nachherige
-Wegrücken der Tischnachbarn, das verhaltene Lachen am
-Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen ihn bereuen,
-daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet
-wie van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine
-Überlegenheit bewahrt hatte! Bedrückt und beinahe weinend
-vor Enttäuschung und Schwächegefühl ging er bald
-wieder davon.</p>
-
-<p>Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines
-Tages der Knecht mit der Zeitung auch einen kleinen Brief
-herauf, die gedruckte Einladung zu einer Versammlung
-aller derer, die mit Wort oder Tat sich um eine Reform
-des Lebens und der Menschheit mühten. Die Versammlung,
-zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und
-andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende
-des Februar in München abgehalten werden. Wohlfeile
-Wohnungen und fleischfreie Kosttische zu vermitteln erbot
-sich ein dortiger Verein.</p>
-
-<p>Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm
-diese Einladung eine Erlösung oder Versuchung bedeute,
-dann aber faßte er seinen Entschluß und meldete sich in
-München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an
-nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise,
-so einfach sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr
-eingesponnen hier gehaust hatte, Gedanken und Sorgen;
-er ließ sich ein Kursbuch kommen und las nachdenklich die
-Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er von
-mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte.
-Gern hätte er auch zum Bader geschickt und sich Bart und
-Haar zuschneiden lassen, doch scheute er davor zurück, da
-es ihm als eine feige Konzession an die Weltsitten erschien,
-und da er wußte, daß manche der ihm befreundeten Sektierer
-auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf die
-religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses.
-Dafür ließ er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen,
-gleich in Art und Schnitt wie sein van Vlissensches Büßerkleid,
-aber von gutem Tuche, und einen langen, landesüblichen
-Lodenkragen als Mantel.</p>
-
-<p>Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen
-sein Häuschen, dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver
-abgab, und wanderte in der Dämmerung das stille Tal
-hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun im Wartesaal,
-von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet,
-und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne
-wäre er in der zweiten oder ersten Klasse gefahren, nicht so
-sehr aus alter Gewohnheit als um weniger beobachtet
-unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die Schändlichkeit
-eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht
-war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier
-schöner Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte
-er sich die Kinder einer Bauernfrau zu Freunden und kam
-mit den Leuten in ein leidliches Gespräch, das ihm wohltat
-und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen und nahm
-beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied.
-Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr
-gekosteten frohen Reiseunruhe im Münchener Zug und
-fuhr aufmerksam durch das schöne Land, unendlich froh,
-dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse Tage
-entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung.
-Wie war das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim
-und München und die ganze alte Welt noch unverändert
-und gleichmütig dastand, und daß alles das, was er sich
-aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen
-ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte!</p>
-
-<p>Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und
-es begrüßten den Ankommenden gleich am Bahnhof die
-ersten Zeichen derselben. Aus einem Zug, der mit dem
-seinen zugleich ankam, stieg eine ganze Gesellschaft von
-Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen und auf
-Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere
-Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten
-die Brüder, bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession
-in Bewegung setzten. Reichardt, den ein ebenfalls
-heute zugereister Buddhist, einer seiner Sommerbesuche,
-erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt er seinen
-Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen,
-deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde
-augenblicklich peinlich störend auffiel. Unter dem
-lauten Vergnügen einer nachfolgenden Knabenhorde und
-den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte die
-seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale.</p>
-
-<p>Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene
-Wohnung und bekam einen Zettel mit der Adresse
-in die Hand gedrückt. Er verabschiedete sich, nahm an der
-nächsten Straßenecke einen Wagen und fuhr, ermüdet und
-verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da rauschte
-um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn
-nichts mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude,
-in denen er einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik
-getrieben hatte, dort lag seine ehemalige Wohnung,
-mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte früher der Justizrat
-Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und
-beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem
-zu tun, und doch bereitete jede von den wieder erweckten
-Erinnerungen ihm einen leisen süßen Schmerz.
-Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie ehemals
-und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge
-noch Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen
-Rädern zu den Theatern, und Soldaten hatten ihre
-Mädel am Arm.</p>
-
-<p>Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche
-Licht, das im feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte,
-und das Gesumme der Wagen und Schritte, das
-ganze wie selbstverständlich spielende Getriebe. Da war
-Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber da war auch
-Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem
-war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige
-Lebenslust einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte
-sein wollen, und die ihn einfach beiseite getan hatte, ohne
-einen Verlust zu fühlen, während sein bißchen Glück darüber
-in Scherben gegangen war. Und dies alles sprach zu
-ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und
-machte ihn traurig.</p>
-
-<p>Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem
-Zettel folgend stieg er zwei Treppen hinan und wurde
-von einer kleinen roten Frau, die ihn fast mißtrauisch
-musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen geführt, das
-ihn kalt und ungastlich empfing.</p>
-
-<p>»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl
-und bedeutete ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im
-Voraus zu erlegen sei.</p>
-
-<p>Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während
-sie auf die Zahlung lauerte, nach einem besseren
-Zimmer.</p>
-
-<p>»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren
-Zimmer, in ganz München nicht,« sagte die Frau kurz
-und sachlich. Nun mußte er lächeln.</p>
-
-<p>»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte
-er rasch. »Ich suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer,
-nicht eine Schlafstelle. Die Herren, die hier für mich bestellt
-haben, waren so freundlich, meine Börse möglichst
-schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am Preise, wenn
-Sie ein schöneres Zimmer haben.«</p>
-
-<p>Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran,
-öffnete ein anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht
-an und sagte: »Das hier wäre noch frei, das kostet aber
-dreieinhalb.«</p>
-
-<p>Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und
-wohnlich, fast behaglich eingerichteten Zimmer um, legte
-den Mantel ab, gab der Frau ihr Geld für einige Tage
-voraus und sah erst nachträglich, als er in dem fremden
-Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er
-allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung
-ohne anderes Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf
-einen besseren Empfang machen durfte.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>7</h3>
-</div>
-
-<p>Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen
-fremden Bett erwachte und sich auf den vorigen Abend
-besann, ward ihm bewußt, daß seine Unzufriedenheit mit
-der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges Verlangen
-nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen
-sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg
-vielmehr munter aus dem Bette und sah dem Tag mit
-Spannung entgegen. Früh ging er aus, und beim nüchternen
-Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte
-er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit
-einer gewissen frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte.
-Es war herrlich, hier umherzugehen und als kleiner Mitbewohner
-dem großen Mechanismus einer schönen Stadt
-anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit
-zu lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren.
-Sogar die weither ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken
-klangen ihm nicht häßlich und erinnerten ihn nicht
-an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur, daß
-jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen.</p>
-
-<p>Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen,
-er suchte daher eine volkstümliche Frühstückshalle,
-um eine Schale Milch zu genießen.</p>
-
-<p>»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon
-einzugießen. Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und
-roch mit heimlichem Vergnügen den Duft des Trankes,
-den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er es bei
-diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot
-dazu und nahm eine Zeitung zur Hand.</p>
-
-<p>Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige
-Versammlung angekündigt und begrüßt wurde. Man
-sei gespannt, hieß es, auf diesen Kongreß von Menschen,
-die ein redliches Bemühen um wichtige Lebensfragen
-vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei widerstreitender
-Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag
-gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott
-wurde einiger Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht
-und mit Aufrichtigkeit bedauert, daß die Mehrzahl dieser
-Weltverbesserer allzufern vom Tagesleben sich in Spekulationen
-verliere, statt tätig da und dort mitzuwirken
-und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen
-der Zeit zu beteiligen.</p>
-
-<p>Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel
-dem stillen Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von
-der gehässigen Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher
-die meisten Schriften der neuen Propheten die Welt beurteilten.
-Nachdenklich ging er weg und suchte den Versammlungssaal
-auf, den er mit Palmen und Lorbeer geschmückt
-und schon von vielen Gästen belebt fand. Die
-Naturburschen waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen
-oder tropischen Kostüme fielen auch hier
-als Seltsamkeiten auf, dafür sah man manchen feinen Gelehrtenkopf
-und viel Künstlerjugend. Die gestrige Gruppe
-von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche
-Insel im Gewoge.</p>
-
-<p>Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und
-sprach den Wunsch aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen
-möchten sich hier nicht noch weiter auseinanderreden,
-sondern das Gemeinsame suchen und Freunde werden.
-Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen
-der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des
-Weltfriedens. Ihm folgte ein greiser Theosoph aus England,
-der seinen Glauben als universale Vereinigung der
-einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl. Ihn
-löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit
-für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen
-Weltreligion als eine gefährliche Utopie
-brandmarkte, da jede Nation oder doch jede Rasse das Bedürfnis
-und Recht auf einen eigenen, nach seiner Sonderart
-geformten und gefärbten Glauben habe.</p>
-
-<p>Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende
-Frau unwohl, und er begleitete sie hilfreich durch den Saal
-bis zum nächsten Ausgang. Um nicht weiter zu stören,
-blieb er alsdann hier stehen und suchte den Faden des
-Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick über
-die benachbarten Stuhlreihen wanderte.</p>
-
-<p>Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung
-eine schöne Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen
-hielt, und während sein Herz unruhig wurde und
-jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn jäh verließ,
-erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er
-sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung
-als die eines Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung
-unerwartet über fremde Höhen hinweg die Türme der
-Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie, stolze Haltung
-ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen
-Umriß ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und
-Rasse, Menschenmenge und Ort wie Nebel dahin, und er
-wußte nichts auf der Welt als sich und sie, und wußte, der
-Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen und der
-Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben
-fehle und ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm
-helfen könne. Und dies alles schien ihm möglich und in
-Treue aufbewahrt; denn er meinte mit liebender Ahnung
-zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge wenig
-Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken
-an ihn diese Versammlung aufgesucht habe.</p>
-
-<p>Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur
-Erwiderung, und es machte sich bereits die erste Woge
-der Rechthaberei und Unduldsamkeit bemerklich, welche
-fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite, Freiheit und
-Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt
-der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte.</p>
-
-<p>Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher
-Stürme kein Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten,
-als sei sein ganzes Wesen sich bewußt, daß es einzig
-von ihr gerettet und zu Leben und Glück zurückgeleitet
-werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob sich das
-Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu
-und zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein
-Widerwille gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt
-wurde. Sie ging ganz nahe an Berthold vorbei,
-ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich sehen,
-wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer
-Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter
-und stiller geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich
-frohem Stolz, wie die Vorüberschreitende überall
-von bewundernden und achtungsvollen Blicken begleitet
-wurde.</p>
-
-<p>Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst
-in tadelloser Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig
-gleichmäßigen Schritt, nicht eben fröhlich, aber aufrecht
-und elastisch wie in einem guten Lebensglauben.
-Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor
-einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich
-vergnügend, ohne zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu
-folgte und in ihrer Nähe war. Und er blieb hinter ihr bis
-zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im Tor ihrer
-alten Wohnung verschwinden sah.</p>
-
-<p>Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte
-er an sich nieder. Er war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte,
-und die ganze ungepflegte Dürftigkeit seiner Erscheinung,
-die ihn schon seit gestern bedrückt hatte, schien ihm jetzt unerträglich.
-Sein erster Gang war zu einem Barbier, der
-ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte,
-und als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die
-Gasse trat und die duftige Frische der rasierten Wangen
-im leisen Winde spürte, fiel alle Befangenheit und einsiedlerische
-Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig fuhr
-er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen
-Anzug und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner
-Figur anpassen, kaufte nebenan weiße Wäsche, Halsbinde,
-Hut und amerikanische Stiefel, sah sein Geld zu Ende
-gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug einen
-Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und
-fand am Abend, als er in angenehmer Ermüdung heimkehrte,
-alles schon in Schachteln und Paketen daliegen
-und auf ihn warten.</p>
-
-<p>Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu
-machen, und zog sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit
-den neuen Sachen an, lächelte sich etwas verlegen im
-Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je in seinem
-Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt
-zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl
-geworfen, sein asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich
-geworden wie die brüchige Puppenhülle eines jungen
-Schmetterlings.</p>
-
-<p>Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob
-er noch einmal ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft,
-und er hatte kaum Antwort gegeben, so trat geräuschvoll
-ein stattlicher Mann herein, in welchem er sofort
-den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen
-reisenden Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler
-Einsiedelei besucht hatte.</p>
-
-<p>Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln
-und nahm mit Verwunderung dessen frische Eleganz
-wahr. Er selbst trug den braunen Hut und alten Gehrock
-von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze Weste
-dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für
-längere Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie
-oberhalb der Stiefel eine harmonikaähnliche Anordnung
-von kleinen widerwilligen Querfalten aufwiesen. Er beglückwünschte
-den Doktor zu seinem guten Aussehen
-und hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen
-einlud.</p>
-
-<p>Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon
-Adolfus mit Leidenschaft von den heutigen Reden und
-Verhandlungen zu sprechen und konnte es kaum glauben,
-daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag
-hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost
-und soziales Elend gesprochen und dadurch Skandal
-erregt, daß er beständig den nichtvegetarianischen Teil der
-Menschheit als Leichenfresser bezeichnet hatte. Darüber
-waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten
-im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt
-und mußte durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt
-werden. Die Buddhisten hatten stumm in geschlossenem
-Zuge den Saal verlassen, die Theosophen vergebens
-zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst
-verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem
-Refrain:</p>
-
-<div class="poem">
-<p>»Ich laß der Welt ihr Teil,</p>
-<p>Im All allein ist Heil!«</p>
-</div>
-
-<p class="noindent">und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen
-auseinandergegangen.</p>
-
-<p>Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde
-dann gelassen und heiter, indem er ankündigte, er werde
-morgen selbst im Saale sprechen. Es sei ja traurig, all
-diesen Streit um nichts mit anzusehen, wenn man selbst
-im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er entwickelte
-seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte
-und in der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen
-magischen Seelenkräfte das Heilmittel für die Übel der
-Welt erblickte.</p>
-
-<p>»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte
-er einladend.</p>
-
-<p>»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd.
-»Ich kenne ja Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg
-wünsche. Ich selber bin in Familiensachen hier in
-München und morgen leider nicht frei. Aber wenn ich
-Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich
-es sehr gerne.«</p>
-
-<p>Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts
-Mienen nur Freundliches entdecken.</p>
-
-<p>»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer
-mit einem Darlehen von zehn Kronen geholfen, die
-nicht vergessen sind, wenn ich auch bis jetzt nicht in der
-Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir nun nochmals
-mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten &ndash; mein Aufenthalt
-hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden,
-die niemand mir ersetzt.«</p>
-
-<p>Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals
-Glück für morgen, dann nahm er Abschied und ging nach
-Hause, um zu schlafen.</p>
-
-<p>Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht,
-da war Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und
-er lag die ganze Nacht brennend in Gedanken an Agnes
-und in tausend bitteren Zweifeln, denen doch das Herz
-in stiller Ahnung tapfer widersprach.</p>
-
-<p>Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von
-der schlaflosen Nacht erschöpft. Er brachte die frühen
-Stunden auf einem Spaziergange und im Schwimmbad
-zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor
-einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien,
-in einem hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung
-vor.</p>
-
-<p>Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile
-warten, dann fragte ihn ein kleines neues Mädchen,
-keine richtige Magd, erstaunt und unbeholfen nach
-seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und
-die Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche
-davon. Dort wurde nun ein Gespräch hörbar und zur
-Hälfte verständlich.</p>
-
-<p>»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt
-sagen, daß die gnädige Frau krank ist. &ndash; Wie sieht er
-denn aus?«</p>
-
-<p>Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem
-blauen leinenen Küchenkleide, sah ihn fragend an und
-sprach kein Wort, da sie ihn unverweilt erkannte.</p>
-
-<p>Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?«
-fragte er, und ehe weiteres gesagt wurde,
-traten sie in das bekannte Wohnzimmer, wo die Frau
-Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß,
-sich bei seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos
-aufrichtete.</p>
-
-<p>»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes
-zur Mutter, die dem Besuch die Hand gab.</p>
-
-<p>Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube
-den Mann an, las die Not eines verfehlten und schweren
-Jahres in seinem mageren Gesicht und die Sicherheit und
-den Willen einer geklärten Liebe in seinen Augen.</p>
-
-<p>Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern
-wortlos angezogen gaben sie einander nochmals die
-Hand.</p>
-
-<p>»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens
-ihre Tochter große Tränen in den Augen hatte
-und ihr erbleichtes Gesicht neben dem der Mutter im Lehnstuhl
-verbarg.</p>
-
-<p>Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen
-sogleich wieder auf und lächelte noch mit Tränen in
-den Augen.</p>
-
-<p>»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann
-nun die alte Dame. Da stand das hübsche Paar schon
-Hand in Hand bei ihr und sah dabei so gut und lachend
-aus, als habe es schon seit langem zusammengehört.</p>
-
-
-
-
-<h2><a name="Emil_Kolb" id="Emil_Kolb">Emil Kolb</a></h2>
-
-
-<p>Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer
-Teil der Menschheit zu bestehen scheint, könnte man
-als Karikaturen der Willensfreiheit bezeichnen. Indem
-sie nämlich, unendlich weit von der Natur abgeirrt und von
-der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die ursprüngliche
-Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den
-Ruf der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben
-sie leichtsinnig und unentschlossen in einem wertlosen Leben
-scheinbarer Willkür dahin. Da sie Eigenes nicht in
-sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen verwiesen
-und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage
-und Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich
-als Affen der Natur.</p>
-
-<p>Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb
-in Gerbersau, und der Zufall (da man bei solchen Menschen
-doch wohl nicht von Schicksal reden darf) brachte es
-dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich vielen
-anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre
-und Elend kam, obwohl er um nichts schlimmer war als
-tausend seiner Art.</p>
-
-<p>Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster,
-und nur seine Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien
-der Dierlamm und der Giebenrath hielt ihn
-im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades von Mißachtung,
-dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst
-unter ihren Mitbürgern genießen.</p>
-
-<p>Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb
-vorsichtigerweise von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen
-Gebrauch. Es fiel ihm nicht ein, etwa bei einer Leichenfeier
-oder in einem Festzuge neben einem Giebenrath
-schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm
-zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger
-und stolzer erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen
-an die ehrenvolle Verwandtschaft, die ihm immerhin
-von Nutzen war. Es war diesem Manne die Gabe versagt,
-im Walten der Natur und in der Entfaltung menschlicher
-Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen
-und anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch,
-was seinem Tun und Leben versagt war, wenigstens seinen
-Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt und
-schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren,
-schöneren Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete
-Phantasie dessen fähig war.</p>
-
-<p>Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich
-rüstigen Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien
-auf dessen Zukunft, und damit rückte dies alles,
-was bisher nur Gedankensünde und Fabelvergnügen gewesen
-war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen, das
-bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde.
-Denn der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche
-und Träume schon frühe als eine warme und treibende
-Luft um sich und gedieh darin wie der Kürbis im Dünger,
-er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren vor, der
-Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal
-unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen
-Religion das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der
-Eltern und Vorfahren schuldete. Emil Kolb fühlte den
-Mut in sich, einmal das Schicksal eines Gewaltigen auf
-sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs,
-und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln
-bei seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei
-Schüchternheit ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und
-mit ruhigem Lächeln die ehrerbietigen Grüße der Mitbürger
-einzustreichen.</p>
-
-<p>Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte
-das beste Recht aller Jugend sein und manchem
-tüchtigen Manne die Jahre schwerer Erwartung tragen
-helfen &ndash; jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas anders,
-als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können,
-Macht des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte,
-sondern lediglich gut Essen und Wohnen, schöne Kleider
-und feistes Wohlergehen. Schon früh erschienen ihm die
-wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte, lächerlich
-und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen
-Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen,
-statt ihre guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar
-zu machen. So zeigte er auch für alle jene Fächer der
-Schulwissenschaft reichlichen Eifer, die von den Dingen
-dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung mit
-Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und
-anderen ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien.</p>
-
-<p>Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber
-vor der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die
-Torheiten der Dichter verstand, sondern die Pflege des
-Ausdruckes zugunsten realer geschäftlicher Handlungen und
-Vorteile. Er las alle Dokumente geschäftlicher oder rechtlicher
-Natur, von der einfachen Rechnung oder Quittung
-bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit
-tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er
-sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse,
-von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt
-wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck
-zu machen, Macht zu üben und über Unverständige
-Vorteile zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er
-diesen Vorbildern beharrlich nach und brachte manche Blüte
-hervor, die einer kleineren Kanzlei kaum unwürdig gewesen
-wäre. Und einen in seiner Sammlung solcher Dokumente
-befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des Vaters
-ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar
-mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen
-bereitete. Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung
-des Vermißten: »Wer etwas über den Gesuchten
-weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt melden«.
-Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen,
-welche in der Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten
-beizubringen &ndash; &ndash;«.</p>
-
-<p>Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den
-Anlaß und Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft.
-Der Lehrer hatte seine Klasse einst einen Aufsatz
-über den Frühling verfassen und mehrere dieser Arbeiten
-von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher zwölfjährige
-Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land
-der schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten
-ihre Aufsätze mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen
-gangbarer Dichter. Es war vom Amselruf
-und von Maifesten die Rede, und ein besonders Belesener
-hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle
-diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht
-zu rühren vermocht, er fand das alles blöd und töricht.
-Da kam, vom Lehrer aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts,
-Franz Remppis, an die Reihe, seinen Aufsatz vorzulesen.
-Und gleich bei den ersten Worten »Es ist nicht
-zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme
-Jahreszeit genannt zu werden verdient« &ndash; gleich
-bei diesen Worten merkte Kolb mit entzücktem Ohre den
-Klang einer ihm verwandten Seele, lauschte scharf und
-beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies war der
-Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt
-und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon
-mit einiger Sicherheit anzuwenden wußte.</p>
-
-<p>Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler
-seine Anerkennung aus, und von der Stunde ab
-hatten die beiden Knaben das Gefühl, einander zu verstehen
-und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen
-je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte
-es auch keiner vom andern, vielmehr spürten sie, daß es
-gut sei, einander gelten und bestehen zu lassen, um einmal
-einer am andern etwas zu haben und etwa später größere
-Dinge gemeinsam unternehmen zu können.</p>
-
-<p>Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen
-Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile
-des Zusammenlegens und der gegenseitigen Ermunterung
-zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß Franz Remppis
-darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes dieser
-Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu
-bestehen, daß das Geld solange in seinen Händen bleibe,
-bis auch der Freund eine bare Einlage gemacht habe, und
-da es hierzu niemals kommen wollte, versank der gute
-Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den
-Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin
-fand Kolb sehr bald einen Weg, seine kümmerlichen
-Umstände vorteilhaft mit den weit bessern des Wirtssohnes
-zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen kleine
-Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern
-mit seinen Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum
-Ende der Schulzeit, und gegen das Versprechen eines Honorars
-von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb dem
-Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen,
-welches sie auf diese Weise beide wohl bestanden. Emil
-hatte sogar so gute Zeugnisse eingeheimst, daß sein Vater
-darauf schwor, an dem prächtigen Jungen sei ein Gelehrter
-verloren gegangen. Allein an fernere Studien war nicht
-zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und
-tat manchen sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten,
-um seinem Sohne einen besonderen Platz im
-Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine glänzende
-Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung
-der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen
-Knaben als Lehrling im Bankgeschäft der Brüder Dreiß
-unterzubringen. Damit schien ihm ein bedeutender Schritt
-nach oben hin getan und eine Gewähr für die Erfüllung
-weit kühnerer Träume gegeben.</p>
-
-<p>Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe
-widmen wollten, gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere
-Eröffnung dieser Laufbahn als die Lehrlingschaft
-bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und Warengeschäft
-war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes
-Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten
-Klassen, deren sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge
-in ihr Geschäft aufnahmen. So hatten sie stets, da die
-Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und sechs junger
-Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr
-an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung
-erhielten. Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des
-alten ehrwürdigen Hauses als eine überall im Lande gültige
-Empfehlung ins Leben mitnehmen.</p>
-
-<p>Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende
-Lehrling und wurde darum von manchem beneidet, der
-sich selbst auf diesen Ehrenplatz gewünscht hatte. Er selbst
-fand hingegen die Ehre gering und recht teuer bezahlt;
-denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem
-alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel
-glaubten abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu
-tun war, das zu tun sich jeder scheute und zu gut hielt,
-da rief man nach Emil, dessen Name immerzu gleich einer
-Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so daß der junge
-Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter
-den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren
-Kisten eine kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der
-Zukunft nachzuhängen. Es entschädigte ihn für dies rauhe
-Leben nur die sichere Rechnung auf den Glanz späterer
-Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder
-Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten
-und sich außerdem noch einen gut zahlenden Volontär
-hielten, pflegten an allem zu sparen, nur am Essen für
-ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb sich jeden Tag
-dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat, und
-wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung
-zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch
-der Lehrlinge gehörende Übung, welcher er mit derselben
-Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am Morgen und dem
-Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend.</p>
-
-<p>Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt
-in diese Vorhölle seines Berufes sich von dem Freund
-hatte trennen müssen. Franz Remppis wurde von seinem
-Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt und erschien
-eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm
-seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf
-dessen Ecken aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens
-Trost, daß sie beide einander fleißig schreiben wollten,
-leuchtete dem armen Emil wenig ein; denn er wußte nicht,
-woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen
-sollen.</p>
-
-<p>Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin
-Remppis von seinem Einstand am neuen Orte berichtete.
-Dieses Schreiben, das mit großem Fleiß und Vergnügen
-aus vielen vortrefflichen Phrasen und kaufmännischen Ausdrücken
-zusammengestellt war, regte Emil zu einer langen,
-sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere
-Abende hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste
-nicht möglich war. Endlich gelang es ihm doch, und er
-sah es vor sich selbst als eine Entschuldigung und halbe
-Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt dem edlen Gefühle
-der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige
-Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling
-ihm die Briefmarken dazu in die Hand, die er
-unterwegs aufkleben solle. Diese Gelegenheit nahm Emil
-wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den er in der
-Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen
-Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen
-ohne Marke in den Postkasten.</p>
-
-<p>Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt
-über eine Grenze, die für ihn besonders gefährlich und lockend
-war. Wohl hatte er auch zuvor schon je und je, gleich
-den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu sich gesteckt, die
-seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte Zwetschgen
-oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte
-ein jeder mit ganz heilem Gewissen &ndash; sie stellten eine
-flotte und herrische Gebärde dar, womit der Täter vor
-sich selber prahlte und seine Zugehörigkeit zum Hause und
-dessen Vorräten dartat. Hingegen war mit dem Diebstahl
-der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit
-Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den
-keine Gewohnheit und kein Beispiel entschuldigen konnte.
-Es schlug denn auch dem jungen Missetäter das Herz in
-geziemender Angst, und einige Tage lang war er zu jeder
-Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und
-er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige
-Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus
-genascht und gediebelt haben, dennoch der erste richtige
-Diebstahl ein unheimliches Erlebnis, und mancher
-trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden. Wenigstens
-zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe
-ihre erste Untat nicht zu tragen vermögen und
-ohne äußere Nötigung sich durch ein Geständnis erleichtern
-und für immer reinigen.</p>
-
-<p>Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor
-der möglichen Entdeckung, und vermutlich brannte auch
-sein wenig feines Gewissen ein wenig, aber als die Tage
-gingen und die Sonne weiter schien und die Geschäfte
-ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als
-habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese
-Möglichkeit, in allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen
-zu ziehen, als ein Ausweg aus hundert Nöten, ja vielleicht
-als der ihm bestimmte Weg zum Glücke. Denn da ihn
-die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg
-zum Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er
-stets wie alle Toren nur das Ziel und nie den Weg bedachte,
-mußte die Erfahrung, daß man unter Umständen
-sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn gewaltig
-in Versuchung führen.</p>
-
-<p>Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für
-ein Männlein seines Alters hundert kleine schwer entbehrte
-Dinge, die vor seinen Träumen wie begehrenswerte
-Früchte des Paradieses hängen und welchen das
-Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt.
-Sobald Emil Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung
-weiteren unredlichen Erwerbs zu spielen, sobald der Besitz
-eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze ihm keine Unmöglichkeit
-mehr, sondern jederzeit erreichbar schien, richtete
-sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen,
-an die er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling
-Färber ein Taschenmesser mit einer Säge und einem
-Stahlrädchen zum Glasschneiden daran, und obwohl
-das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein Bedürfnis
-war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes
-von Messer überaus wünschenswert vorkommen.
-Und nicht übel wäre es auch, am Sonntag eine solche blau
-und braun gefärbte Krawatte zu tragen, wie sie jetzt bei
-den feineren Lehrjungen die Mode waren. Sodann war
-es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen Fabriklehrbuben
-am Feierabend schon zum Bier gingen, während
-ein Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und
-an Stande so viel höher als jene, jahraus, jahrein kein
-Wirtshaus von innen zu sehen bekam. Und war es nicht
-ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen halbwüchsigen
-Stricker oder Weber aus den Fabriken schon
-am Sonntag freimütig mit den Kolleginnen verkehren
-oder gar Arm in Arm gehen? Und ein junger Kaufmann
-sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit erst abwarten
-müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen
-Mädel das Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel
-anzubieten?</p>
-
-<p>Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende
-zu machen. Es war weder sein Gaumen für die herbe
-Würze des Bieres noch sein Herz und Auge für die Reize
-der Mädchen reif, aber er strebte selbst im Vergnügen
-fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und
-zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen
-Kollegen.</p>
-
-<p>Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er
-bedachte seine Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig,
-als er zuvor seine erste Berufswahl bedacht hatte, und
-es blieb seinem Nachdenken nicht verborgen, daß auch dem
-besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere. Es durfte
-durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum
-wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache
-weitläufig vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb
-den Hals wagen. So überlegte und untersuchte er
-alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm etwa offen
-standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten
-Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein
-erstes Lehrjahr tadelfrei abdiene, so würden die Herren
-ihm die sogenannte Portokasse übertragen, welche stets
-der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um also seine
-Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können,
-diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit.
-Er wäre darüber beinahe seinem Entschlusse
-untreu und wieder ehrlich geworden; denn der ältere von
-seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer bemerkte
-und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab
-ihm gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen
-zu, welche ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen.
-So war er häufig im Besitz kleinen Geldes und brachte es
-dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde sich eine von den
-braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit die
-Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten.</p>
-
-<p>Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen
-ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen und feierte
-sein erstes Fest. Bisher hatte er sich wohl des Sonntags
-manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn sie langsam
-und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten,
-vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen
-und recht heimatlos und verstoßen sich umhertrieben,
-aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade entlassen
-und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen.
-Da hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch
-weit bis zu Glück und Ehre hätten, und hatte nicht ohne
-bitteren Neid den jungen Fabriklern nachgeschaut, die mit
-langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der
-Musik einer Ziehharmonika folgten.</p>
-
-<p>Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit
-einen festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund
-Remppis hatte in Lächstetten, wie es schien, mehr Glück
-gehabt als Emil daheim. Und neulich hatte er einen Brief
-geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf der feinen
-Halsbinde veranlaßt hatte.</p>
-
-<p>Lieber, sehr geehrter Freund!</p>
-
-<p>Im Besitz Deines Werten vom 12. <span class="antiqua">hujus</span> bin in der angenehmen
-Lage, Dich für kommenden Sonntag, 23. <span class="antiqua">hj.</span>,
-zu kleiner Fidelität einzuladen. Unser Verein jüngerer
-Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag seinen
-Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu
-herzlich einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag,
-da erst noch bei meinem Chef essen muß. Werde Sorge
-tragen, daß alles Deine Anerkennung findet, und bitte,
-Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen.
-Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls
-erbitte Antwort wie sonst <span class="antiqua">poste restante</span>
-Merkur 01137. Deinem Werten mit Vergnügen entgegensehend
-empfiehlt sich mit Gruß Dein</p>
-
-<p class="right">
-Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H.<br />
-</p>
-
-<p class="p2">Sofort hatte Emil Kolb geantwortet:</p>
-
-<p class="p2">Lieber, sehr geehrter Freund!</p>
-
-<p>In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von
-gestern sage für Deine gütige Einladung besten Dank und
-wird es mir ein Vergnügen sein, derselben Folge zu leisten.
-Die Aussicht auf die Bekanntschaft mit den werten Herren
-und Damen eures löblichen Vereins ist mir so wertvoll
-wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem
-regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen.
-Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches
-Zusammentreffen verschiebend, verbleibe mit besten
-Grüßen Dein ergebener Freund</p>
-
-<p class="right">
-Emil Kolb.<br />
-</p>
-
-<p><span class="antiqua">P. S.</span> In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die
-geschäftliche Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar
-Gebrauch machen werde, da zurzeit leider meine Kasse
-größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein dürfte.</p>
-
-<p class="right">
-Dein treuer Obiger.<br />
-</p>
-
-<p class="p2">Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen
-Ende Juni und da seit wenigen Tagen nach langem Regen
-heißes Sommerwetter eingetreten war, sah man überall
-die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den
-ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld
-für die kleine Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten.
-Darum machte er sich zeitig am Vormittag auf den Weg
-und war bis zur verabredeten Stunde lange genug unterwegs,
-um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in
-reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben
-tat er an günstigen Orten auch den eben reifenden
-Kirschen Ehre an und kam bequemlich zur rechten Zeit in
-Lächstetten an, das er noch nie gesehen hatte. Nach den
-Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich diese
-Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen
-Gerbersau als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster
-Lebenslust vorgestellt und war nun etwas enttäuscht, die
-Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen eher geringer und
-schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch das
-Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die
-Geheimnisse des Handels erlernen sollte, konnte sich mit
-dem stattlichen Hause der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht
-messen. Dies alles stimmte Emils Erwartungen und Freudebereitschaft
-einigermaßen herab, doch stärkten diese kritischen
-Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung,
-er würde neben der weltgewandteren und lebensfroheren
-Jugend dieser Stadt bestehen können.</p>
-
-<p>Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus,
-ohne daß er den Mut gefunden hätte, einzutreten und
-nach seinem Landsmann zu fragen. Er ging hin und wieder,
-atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft und
-wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu
-pfeifen, der in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz
-Remppis und ihm gegolten hatte. Nach einiger Zeit erschien
-der Gesuchte denn auch in einem hohen Mansardenfensterchen,
-winkte hinab und wies den Freund durch Zeichen
-an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz
-zu erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg
-und brachte seine Wartezeit vor dem Schaufenster
-eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem feststellte, daß
-es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und
-zugehe als daheim in Gerbersau.</p>
-
-<p>Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils
-Kritiklust zusammen, da er den Schulfreund in einem ganz
-neuen Anzug mit einem steifen, unmäßig hohen Hemdkragen
-und sogar mit Manschetten geschmückt sah.</p>
-
-<p>»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann
-es also losgehen. Hast du Zigarren?«</p>
-
-<p>Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll
-in die Brusttasche.</p>
-
-<p>»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte
-ich heut nicht frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf.
-Aber jetzt wollen wir marschieren.«</p>
-
-<p>So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine
-Enttäuschung doch nicht verbergen. Er war zu einem
-Vereinsausfluge eingeladen, er hatte Fahnen und vielleicht
-sogar Musik erwartet.</p>
-
-<p>»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des
-Handelsstandes?« fragte er mißtrauisch.</p>
-
-<p>»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter
-den Fenstern der Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem
-so wie so kein Vergnügen. Nein, wir treffen uns vor
-der Stadt beim alten Galgen.«</p>
-
-<p>»So so. Beim Galgen?«</p>
-
-<p>»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da
-sind wir ganz sicher, daß keiner von den Alten hinkommt.«</p>
-
-<p>Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines
-Gehölz und ein altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie
-rasch eintraten, nachdem Franz sich scharf umgesehen hatte,
-ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden sie von sechs
-oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle vor
-hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis
-stellte seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil
-ward feierlich willkommen geheißen.</p>
-
-<p>»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er.</p>
-
-<p>»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen
-Verein ins Leben gerufen, um die Interessen unseres
-Standes zu fördern, vor allem aber um unter uns die Geselligkeit
-zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind, Herr
-Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.«</p>
-
-<p>Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen,
-die doch eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese
-später im Walde zu treffen hoffe.</p>
-
-<p>Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden
-Sommertag hinein. Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer
-Franz sich seiner Vaterstadt rühmte, die er in seinen Briefen
-beinahe verleugnet hatte.</p>
-
-<p>»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr,
-Emil, da geht es anders zu als hierzuland! Und was es
-dort für schöne Mädchen gibt!«</p>
-
-<p>Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig
-und erzählte freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten
-im Vergleich mit Gerbersau finde. Einige von den
-jungen Leuten, die schon in Gerbersau gewesen waren,
-gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los, rühmte
-ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes
-und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest,
-und die paar geborenen Lächstettener, die dabei waren,
-gaben ihnen recht und schimpften auf die eigene Heimat.
-Sie alle waren voll unerlöster Kindlichkeit und zielloser
-Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren und rückten an
-ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild,
-als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton,
-den er daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt
-hatte, und wurde mit allen gut Freund.</p>
-
-<p>Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines
-prächtigen Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft
-von vier halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern.
-Es waren Töchter geringer Häuser, denen es
-an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil schon als
-Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche
-Verhältnisse unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb
-als Fräulein Berta, Luise, Emma und Agnes vorgestellt.
-Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse
-und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die
-beiden anderen gingen lose nebenher und gaben sich Mühe,
-die ganze Gesellschaft zu unterhalten. Es war nämlich
-nach dem Hinzutritt der Damen die frühere lärmende Gesprächigkeit
-der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren
-Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten,
-in deren Bann auch Franz und Emil fielen. Alle
-diese jungen Leute waren noch durchaus Kinder, und ihnen
-allen fiel es weit leichter, die Manieren von Männern
-nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß
-zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber
-ohne Mädchen gewesen oder hätten doch mit diesen wie
-mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt, aber das schien
-nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die Mädchen
-ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für
-ihren Ruf diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen
-jungen Handelsleuten das nachzuahmen, was er sich nach
-Hörensagen und Lektüre unter einem feinen geselligen
-Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und gaben
-den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei
-gestimmt war, und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld
-doch der Liebe noch nicht fähig waren, bewegten
-sich recht ängstlich und befangen in einer phantastisch verlogenen
-Sphäre zierlicher Sentimentalität.</p>
-
-<p>Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit,
-und das Fräulein Emma verstrickte ihn bald in ein schönes
-Gespräch über den Reiz sommerlicher Waldausflüge, das
-später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft und Lebensumstände
-überging und wobei Emil sich nicht übel
-bewährte, da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald
-wußte das Mädchen alles Wissenswerte über den jungen
-Mann, den sie sich zum Kavalier für diesen Tag erlesen
-hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über sich
-und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib
-als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn
-Fräulein Emma nach dem Stande seines Vaters fragte,
-schien ihm das Wort Flickschuster gar zu schroff und häßlich
-und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein Papa
-habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie
-ein glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger
-Schuhwaren, dem ein solcher Duft von Eleganz und
-geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg, daß ihre weiteren
-Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes
-als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt
-zu immer kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit
-nötigten. Es entstand aus Fragen und Antworten
-eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben war
-Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht
-eben reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung
-und Begabung früh von den Schulstudien zum Handel
-hingeführt hatte. Er erlernte als Volontär, welches Wort
-auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen alten
-Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes
-und war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen,
-um seinen Schulfreund Franz zu besuchen.
-Was die Zukunft betraf, so konnte Emil ohne Gefahr
-und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden, und
-je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je
-mehr von Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war,
-desto mehr kam er ins Feuer und desto besser gefiel er dem
-Fräulein Emma. Diese hatte von ihrer Abstammung nichts
-und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel erzählt,
-daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten
-und leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches
-zu leiden habe, das sie jedoch kraft eines tapferen
-Herzens ohne Murren zu ertragen wisse.</p>
-
-<p>Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen
-Eigenschaften wie auch das Äußere des Fräuleins einen
-starken Eindruck. Vielleicht und vermutlich hätte er sich
-in irgendeine andere, sofern sie nicht gerade häßlich war,
-ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit einem
-Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn
-zeigte und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das
-er in der Stille sich selber noch zu jung erschien. Desto
-feierlicher lauschte er den Erzählungen der Emma und
-gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen. Es blieb
-ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg
-bei Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich
-dem Franz imponierte.</p>
-
-<p>So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik
-und lärmender Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein
-stilles Erlebnis und jedenfalls etwas nicht minder Schönes
-geworden. Es geschahen zwischen ihm und seinem schönen
-Fräulein keine Liebeserklärungen und keine Zärtlichkeiten,
-vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es
-entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen,
-er war zum erstenmal verliebt und zum erstenmal
-Kavalier, und beides gefiel ihm nicht wenig.</p>
-
-<p>Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge
-einzukehren, wurden in der Nähe eines Dorfes
-zwei von den Jünglingen auf Proviant ausgeschickt. Sie
-kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern
-wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen,
-wobei die Mädchen das Brotschneiden und Einschenken
-übernahmen und mit ihren hellen Sommerkleidern froh
-und festlich aussahen. Emil, der den ganzen Tag auf den
-Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit
-eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste
-von allen. Doch mußte er bei diesem ersten Fest
-seines Mannesalters die bittere Erfahrung machen, daß
-nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß seine
-Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines
-Kindes waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder
-vierten Glase Bier und mußte den Heimweg nach Lächstetten
-als Nachzügler unter des Freundes Obhut in Schmerzen
-und Reue zurücklegen.</p>
-
-<p>Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied
-und trug ihm Grüße an die Kameraden und an die
-lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu Gesicht bekommen
-hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet
-für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren
-durchs Fenster die schöne sommerliche Landschaft abendlich
-werden und festlich verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung
-der Rückkehr zu Arbeit und Entbehrung voraus
-und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen
-wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten
-zu legen.</p>
-
-<p>Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen
-seinem Freunde schreiben:</p>
-
-<p class="center p2">
-»Lieber Freund!<br />
-</p>
-
-<p>In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht
-unterlassen, Dir nochmals meinen Dank auszusprechen.
-Zu meinem lebhaften Bedauern ist mir unterwegs jenes
-Versehen passiert und hoffe ich sehr, es möchte Dir und
-den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört
-haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn
-Du die Güte haben wolltest, dem Fräulein Emma einen
-Gruß von mir und meine Bitte um Entschuldigung für
-jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich sehr gespannt,
-Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen,
-da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt
-und ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem
-Anlaß an selbe mit ernsteren Anträgen heranzutreten.
-Diesbezüglich Deine strengste Diskretion erbittend und
-voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in freundschaftlicher
-Ergebenheit Dein Emil Kolb.«</p>
-
-<p>Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ
-wissen, daß der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren
-vom Verein sich freuen würden, Emil bald einmal wieder
-bei sich zu sehen. Der Sommer ging hin, und die Freunde
-sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal, bei einer Zusammenkunft
-in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte
-zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil
-den Schulfreund bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige
-Wiedersehensfreude auf, denn Emil hatte keinen anderen
-Gedanken, als etwas über das Fräulein Emma zu erfahren,
-und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder
-hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem
-Sonntage selbst seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet
-und seinen Freund bei ihr auszustechen versucht. Unschönerweise
-hatte er damit begonnen, daß er dessen Legende
-zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung dargetan
-hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde,
-noch mehr aber wegen einer sogenannten Hasenscharte,
-welche Franz am Munde hatte und die der Emma mißfiel,
-wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch nichts
-erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen
-und enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen
-am Abend nur darin einig, daß keiner von
-beiden eine baldige Wiederholung dieser Zusammenkunft
-für notwendig hielt.</p>
-
-<p>Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen
-zwar nicht eben beliebt, wohl aber nützlich gemacht und
-soviel Vertrauen erworben, daß im Herbst, nach dem Avancement
-des ältesten Lehrlings und dem Eintritt eines
-neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer
-alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte
-Portokasse übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult
-angewiesen und zugleich Büchlein und Kasse übergeben,
-ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte,
-worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das
-bare Geld geordnet lagen.</p>
-
-<p>Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne
-angelangt, verwaltete in der ersten Zeit die paar Taler
-seiner Kasse mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten
-mit dem Gedanken vertraut, aus dieser Quelle zu
-schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese
-Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in
-der klugen Voraussetzung, man werde seine Führung in
-dieser ersten Zeit besonders genau beobachten. Vielmehr
-war es ein Gefühl von Feierlichkeit und innerer Befriedigung,
-das ihn gut machte und vom Bösen abhielt.
-Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor
-und als Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen
-und Geachteten emporgerückt; er genoß diese
-Stellung mit Andacht und sah auf den soeben neu eingetretenen
-jüngsten Lehrling mit großem Mitleid hernieder.
-Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen.
-Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung
-vom Bösen abzuhalten vermochte, so genügte auch eine
-Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze zu erinnern und
-diese zur Ausführung zu bringen.</p>
-
-<p>Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute,
-an einem Montage. Dieser Tag, an welchem nach kurzer
-Sonntagsfreiheit und mancher Lustbarkeit die Nebel des
-Dienstes, des Gehorchenmüssens und der Arbeit sich wieder
-für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und tüchtige
-junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten
-den Sonntag der Lust geweiht und alle gute
-Laune einer Woche im voraus verbraucht haben.</p>
-
-<p>Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden
-älteren Lehrlinge waren tags zuvor samt dem Herrn
-Volontär in der Vorstellung einer durchreisenden Theatertruppe
-gewesen und hatten nun, durch das gemeinsame
-seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander zu
-flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der
-Hauptstadt, ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden
-eines Komikers nach und weckte die Erinnerung
-an gestrige Genüsse jeden Augenblick von neuem. Emil,
-der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und
-kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit
-Neid und Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am
-frühen Morgen schon in bitterer Montagslaune angebrummt,
-allein und ausgeschlossen stand er an seinem
-Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn
-ohne Zweifel bemitleideten.</p>
-
-<p>Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines
-Prinzipals, den er abschicken sollte und aus dem er zuvor
-noch Stilistisches zu lernen hoffte. Es war ein Brief
-an einen großen Lieferanten und begann »Sehr geehrter
-Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend,
-bitte nun endlich, Berechnung über die am 11.
-Vorigen erhaltenen Waren einzusenden.« Es war nichts
-Neues, enttäuscht legte der Lehrling den Brief zu den
-anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem
-Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der
-sich zweimal wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen
-der ganzen Stadt vertraut, kündete den Ausrufer der
-Schauspielerfamilie an, der auch sogleich auf dem Platz
-erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang
-und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften!
-Damen und Herren! Es findet heute Abend
-acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen Hecht die unwiderruflich
-letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira
-statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der
-Graf von Felsheim oder Vaterfluch und Brudermord«.
-Zu dieser unwiderruflich allerletzten Hauptgalavorstellung
-wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen. Trara!
-Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände
-statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten
-und zweiten Rang erhält vollständig gratis ein Los. Trara!
-Trara! Letztes Auftreten der berühmten Truppe! Letztes
-Auftreten auf Wunsch zahlreicher Kunstfreunde! Heute
-Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!«</p>
-
-<p>Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen
-Montagmorgens traf den einsamen Lehrling ins Herz.
-Die Gebärden und Gesichter des Volontärs, das Tuscheln
-der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von unerhörtem
-Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden
-Verlangen zusammen, endlich auch einmal dies alles zu
-sehen und zu genießen, und das Verlangen ward alsbald
-zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner Hand.</p>
-
-<p>An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche
-Zahlen in sein kleines sauberes Kassabüchlein und nahm
-einige Nickelstücke von dem ihm Anvertrauten weg. Aber
-obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener Diebstahl
-einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig.
-Er hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat
-gewöhnt, er fürchtete keine Entdeckung, ja er fühlte einen
-leisen Triumph, als er sich abends vom Prinzipal verabschiedete.
-Da ging er nun hinweg, das Geld des Mannes
-in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und
-der dumme Kerl würde nichts merken.</p>
-
-<p>Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten,
-hatte er sagen hören, gab es noch weit größere und
-glänzendere Theater, und da gab es Leute, die jeden lieben
-Abend hineingingen, immer auf die besten Plätze.
-So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der
-Sinn des Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch
-die farbigen Figuren und Bilder der Bühne, außerdem
-war es nobel und gab Ansehen, wenn einer so im Parkett
-sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was
-vorspielen lassen konnte.</p>
-
-<p>Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein
-unsichtbares Loch, durch welches in aller Stille immerzu
-ein kleiner dünner Geldfluß entwich und dem Lehrling
-Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich zog hinweg
-in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder.
-Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf
-dem Brühel ein Karussell, und außer dem Fahrgeld und
-Bier oder Kuchen war meistens dazu auch ein neuer
-Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides.
-Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem
-verwöhnten Manne, der sich überlegt, wo er am kommenden
-Sonntag vergnügt sein will, und der aufs Geld nicht
-zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es beim Vergnügen
-auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und
-tat mit Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit
-gehalten hätte. Beim Bier schrieb er an die jungen
-Herren in Lächstetten Ansichtskarten, und nicht die billigsten,
-sondern stets von den lackierten farbigen mit den
-tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen
-jede Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage.
-Und wo er sonst ein trockenes Brot verzehrt hatte,
-fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu, er lernte in
-Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen
-und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen.</p>
-
-<p>Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes
-vorsichtig sein und durfte nicht immer auftreten,
-wie es ihm gerade Spaß gemacht hätte. Die paar ersten
-Male spürte er auch vor dem Monatsende und der Kontrolle
-seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles
-gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen
-Unfug einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb,
-trotz aller Vorsicht am Ende sicher und blind.</p>
-
-<p>Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben
-Briefe statt für vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr
-ihm den falschen Eintrag vorhielt, blieb er frech dabei,
-es müßten sieben Briefe gewesen sein. Und da der Herr
-Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil friedlich
-seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne
-daß der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und
-studierte es sorgsam durch. Denn es war ihm nicht nur
-der größere Portoverbrauch in letzter Zeit aufgefallen,
-sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der Vorstadt
-erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag
-öfter zu ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als
-der Vater ihm dafür geben könne. Und nun hatte der
-Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen und die
-Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben
-seines jungen Kassiers zu erkennen.</p>
-
-<p>Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war,
-ließ der jüngere der Sache zunächst ihren Lauf, indem er
-nur täglich in der Stille die kleinen Unterschlagungen betrachtete
-und notierte. Er sah, daß sein Verdacht dem jungen
-Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich
-ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der
-ihn der Bursche eine so lange Zeit hintergangen und
-bestohlen hatte.</p>
-
-<p>Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen
-beriefen die beiden Herren den Sünder in ihr Privatkontor.
-Da versagte denn doch die erworbene Sicherheit
-des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden ernsten
-Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein
-schmales Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht
-und verlor den Atem.</p>
-
-<p>Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein
-schmucker Marktplatz durchsichtig, oder eine nette helle
-Gasse, und man sähe unterm Boden Kanäle, Kloaken und
-trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel
-riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen
-jungen Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner
-Herren Augen da. Das Schlimmste, was er je gefürchtet,
-war hereingebrochen, und es war übler, als er
-gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in
-seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein
-Fleiß und Gehorsam war nicht gewesen, es blieb von einem
-fleißigen Leben zweier Jahre nichts übrig als die
-Schmach seines Vergehens.</p>
-
-<p>Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm
-und bescheidener Hausdieb gewesen war, wurde nun zu
-dem, was die Zeitungen ein Opfer der Gesellschaft
-nennen.</p>
-
-<p>Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet,
-in ihren vielen Lehrbuben junge Menschen mit
-jungen wartenden Schicksalen zu sehen, sondern nur eben
-Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und die für Jahre
-eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten.
-Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges
-Leben an der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht,
-wenn nicht ein guter und williger Mensch zu helfen
-bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre ihnen im
-Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten
-einem Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und
-ihr Haus geöffnet, nun hatte dieser Mensch sie hintergangen
-und ihr Vertrauen mißbraucht &ndash; das war eine
-klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und
-kamen überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben,
-und doch wäre dies das Beste gewesen, wenn sie
-doch einmal selbst die Hand von dem Entgleisten abziehen
-wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten und
-zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem
-Vater gehen und ihm selber sagen, weshalb man ihn
-in einem anständigen Handelshause nicht mehr brauchen
-könne.</p>
-
-<p>Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf
-gemacht werden. Sie waren ehrenwerte Männer und auf
-ihre Art wohlmeinend, sie waren nur gewohnt, in allem
-Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je nachdem
-eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten.
-So war auch Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und
-untersinkender Mensch, sondern ein bedauerlicher Fall,
-welchen sie nach allen Regeln ohne Härte erledigten.</p>
-
-<p>Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt
-und gingen am folgenden Tage selber zu Emils
-Vater, um mit ihm zu reden, die Sache zu erzählen und
-etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb
-wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war
-gestern nicht nach Hause gekommen, er war davongelaufen
-und hatte die Nacht im Freien hingebracht. Zur Stunde,
-da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten, stand er frierend
-und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte
-sich, im Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen
-Untergangs, so hart und trotzig gemacht, wie es
-dem schwachen Jungen sonst in Jahren nicht möglich gewesen
-wäre.</p>
-
-<p>Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur
-zu flüchten, sich zu verbergen und die Augen zu schließen,
-da er die Schande wie einen großen giftigen Schatten über
-sich fühlte. Erst allmählich, da er einsah, er müsse zurückkehren
-und irgendwie das Leben weiter führen, hatte sein
-Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte sich vorgenommen,
-den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden.
-Indessen war auch diese Rachelust vergangen. Emil sah
-ein, wie sehr er sich den weiteren Weg zu jedem Glück erschwert
-habe, und kam am Ende mit seinen Gedanken zu
-dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut
-und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten
-Kräften den Weg des Bösen gehen, um doch noch auf
-seine Weise Recht zu behalten und das Schicksal zu
-zwingen.</p>
-
-<p>Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach
-einer verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger
-Bösewicht nach der Heimat zurück, auf Schmach und üble
-Behandlung gefaßt und zu Krieg und Widerstand gegen
-die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt.</p>
-
-<p>Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne
-Umgehung der Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu
-nehmen und den geschwächten Willen nicht vollends zu
-brechen, sondern langsam wieder zu erheben und zum Guten
-zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster
-Kolb vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser
-Mann das Gesetz des Zusammenhanges von Ursache
-und Wirkung zu erkennen oder doch zu fühlen. Statt
-die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner
-schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer
-Besserung an sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr
-Kolb so, als sei von seiner Seite her alles in Ordnung
-und als habe er allen Grund gehabt, von seinem Söhnlein
-nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte
-nie gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen,
-der allein in den Seelen der Kinder das Gewissen
-wecken und der Lust zur Entartung trotzen kann.</p>
-
-<p>Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden
-Sünder wie ein Höllenwächter bellend und fauchend,
-er rühmte ohne Grund den guten Ruf seines Hauses, ja
-er rühmte seine redliche Armut, die er sonst hundertmal
-verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und Enttäuschung
-seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der
-sein Haus in Schande gebracht und seinen Namen in den
-Schmutz gezogen habe. Alle diese Ausdrücke kamen nicht
-aus seinem erschrockenen und völlig ratlosen Herzen, sondern
-aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel und
-erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß
-getan hatten.</p>
-
-<p>Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er
-hielt den Kopf gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend,
-aber beinahe doch dem ohnmächtig wetternden Alten überlegen.
-Alles was der Vater von der ehrlichen Armut
-vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam
-ihm nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft
-in der Welt gewußt hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen.
-Er war in der überlegenen Lage dessen,
-dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren
-Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat.
-Dagegen verstand er die Mutter wohl, die hinten am
-Tische saß und stille weinte. Er fühlte, daß sie in dieser
-Stunde etwas von dem kosten mußte, woran er selber
-diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu
-ihr, der er am wehesten getan hatte und von der er doch
-am ehesten Mitleid erwartete.</p>
-
-<p>Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens,
-einen nahezu erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen
-zu haben.</p>
-
-<p>Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft
-hatte, hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel
-trotz allem eine feinere Zukunft zu ermöglichen. Aber
-ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn auch aus unbekannten
-Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in
-Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister
-Kiderle, der doch im Blatt einen Lehrbuben
-bei freier Kost gesucht hatte, konnte sich entschließen, den
-Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war noch da,
-der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil
-selbst so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen
-mußte.</p>
-
-<p>Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte
-der Vater: »Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in
-die Fabrik!«</p>
-
-<p>Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil
-sagte ganz zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen
-mach' ich die Freude nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen
-sehen.«</p>
-
-<p>Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach
-Lächstetten hinüber. Da sprach er beim Fabrikanten Erler
-vor, der tannene Faßspunden herstellte, fand aber kein
-Gehör, und dann beim Walkmüller, der ebenfalls eilig
-dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor dem
-Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig
-war, auch noch in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo
-er im Werkführer zu seiner Überraschung einen Bekannten
-fand, der sich für ihn verwendete. So ließ man den Zug
-fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig
-Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte.</p>
-
-<p>Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb
-froh, als am folgenden Montag sein mißratener Sohn das
-Haus verließ, um sein Fabriklerleben in Lächstetten zu
-beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den
-Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es
-für wenige Tage, und hatte doch fest im Sinne, sich daheim
-nimmer oder doch lange Zeit nicht mehr zu zeigen.</p>
-
-<p>Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten
-Vorsätze doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn
-auch nur als geringstes Glied, zu den geachteten Ständen
-zu gehören und über den Pöbel die Nase zu rümpfen,
-dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den
-guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll.</p>
-
-<p>Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten
-sich darauf verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde
-Remppis einen guten Halt finden werde. Darin hatte
-der schlaue Jüngling sich indessen verrechnet. Er hatte
-nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des Prinzipals
-aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten
-Abend auf der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief
-ihn bei Namen.</p>
-
-<p>»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich
-bin jetzt auch in Lächstetten!«</p>
-
-<p>Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich
-weiß schon,« sagte er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.«</p>
-
-<p>Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte
-einen leichten Ton anzustimmen, aber die Mißachtung,
-die der Freund ihm so deutlich zeigte, drückte ihn nieder.
-Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein Zusammentreffen
-am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete
-Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig
-Zeit, sei auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte
-ihn ein Kamerad in einer wichtigen Angelegenheit, und
-auf einmal war er weg und Emil ging allein durch den
-Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig.
-Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue
-in einem beweglichen Briefe vorzuhalten, und fand in
-diesem Vorsatz einigen Trost.</p>
-
-<p>Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am
-folgenden Tage erhielt der junge Fabrikler beim abendlichen
-Nachhausekommen einen Brief, den er mit Sorgen
-öffnete und mit Schrecken las:</p>
-
-<p class="p2">Geehrter Emil!</p>
-
-<p>Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern,
-möchte Dir nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen
-angenehmen Beziehungen zu verzichten. Ohne Dir im
-geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es doch angezeigt
-sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise
-seiner Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch
-vorzuschlagen, uns künftig gegebenenfalls lieber mit dem
-höflichen Sie anzureden.</p>
-
-<p>Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger</p>
-
-<p class="right">
-Franz Remppis.<br />
-</p>
-
-<p class="p2">Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig
-abwärts führte, war hier der Punkt des letzten Zurückschauens,
-der letzten Besinnung, ob es nicht auch anders
-hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch eine Wandlung
-möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan
-dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings
-in der engen Sackgasse seines Schicksals weiter.</p>
-
-<p>Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie
-ihm geschildert worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste
-zu tun, Kisten zu öffnen oder zu vernageln,
-Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge zum Magazin
-und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte
-jedoch nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl
-zu besorgen, und da er sich anstellig zeigte, saß er
-in Bälde an seinem eigenen Stuhl und arbeitete im Akkord,
-so daß es ganz von seinem Fleiß und Willen abhing,
-wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses
-Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet,
-gefiel dem jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine
-Freiheit mit grimmigem Behagen, indem er am Feierabend
-und Sonntag mit den wildesten Kameraden aus
-der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal
-mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine
-Hausordnung eines alten strengen Handelshauses, keine
-Eltern und nicht einmal ein Standesbewußtsein, das störende
-Forderungen machen konnte. Geld verdienen und
-Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen
-bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren
-vor allem im Gefühl frecher Unabhängigkeit, womit man
-am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten und anderen
-Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand
-gab, der einem verbieten oder befehlen durfte.</p>
-
-<p>Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen
-Vaterhause in die höheren Stände empor zu gelangen,
-rächte sich Emil Kolb nun an diesen höheren Ständen.
-Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott
-seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch
-Katechese je besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen
-gewohnt gewesen war, beim Begegnen auf der Straße
-vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins Gesicht
-blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete
-Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling
-Remppis noch saure Abendstunden an der Arbeit war, oder
-in den Laden selbst hinein zu gehen und mit dem baren
-Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu verlangen.</p>
-
-<p>Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen.
-In der ersten Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der
-Fabrik fern, bis er eines Tages in der Mittagspause aus
-dem Saal der Sortiererinnen eine junge Mädchengestalt
-hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen
-alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an.</p>
-
-<p>»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?«</p>
-
-<p>Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen
-Umständen er das Mädchen im vorigen Jahre kennen
-gelernt hatte und wie wenig sein jetziger Zustand dem
-entsprach, was er ihr damals von sich erzählt hatte.</p>
-
-<p>Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu
-erinnern, denn sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte:
-»So, Sie sind's? Ja, was tun denn Sie hier?«</p>
-
-<p>Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem
-er mit lebhafter Galanterie antwortete: »Es versteht sich
-doch von selbst, daß ich nur Ihretwegen hier bin!«</p>
-
-<p>Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug
-mit dem Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes
-ein wenig an Anmut und Mädchenzierlichkeit verloren,
-hingegen sehr an Lebenserfahrung und Kühnheit gewonnen.
-Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie sich
-des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage
-stolz und herrisch am Arm der Schönen verbummelte
-und an Tanzplätzen und Ausflugsorten seine junge Mannheit
-sehen ließ.</p>
-
-<p>Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein
-junger Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr
-Schatz damals gewesen waren. Da mochten nun die Herren
-Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen und fremd
-tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen
-so frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch
-so laut und hing ihm so hingegeben an, daß freilich die
-Handelsständler an ihrem Glücke nicht zweifeln konnten.</p>
-
-<p>Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach
-seinem Belieben ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein
-lang ersehntes Vergnügen, dessen er jetzt schwelgerisch genoß.
-Trotzdem aber und trotz seines blühenden Liebesfrühlings
-war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm
-fehlte, war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der
-Kitzel des schlechten Gewissens. Zum Stehlen gab es in
-seinem jetzigen Leben kaum eine Gelegenheit. Nichts ist
-dem Menschen schwerer zu entbehren als ein Laster, und
-wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem
-hatte der junge Mensch in seiner Verwahrlosung
-einen Haß gegen die Reichen und Angesehenen in sich
-ausgebildet, aus deren Reihen er für immer ausgestoßen
-war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach
-Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl,
-am Samstag Abend mit einigen wohlverdienten Talern
-im Beutel aus der Fabrik zu gehen, war ganz angenehm.
-Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde Gelder zu verfügen
-und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig
-prellen zu können, war doch weit köstlicher gewesen.</p>
-
-<p>Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer
-gieriger auf neue Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb.
-Eine neue Leidenschaft, die soeben Gewalt über ihn zu
-üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub. Es kam neuerdings
-manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er
-über seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch
-einen Zeitungsartikel angeregt, sich in den Gedanken verliebt,
-einmal durch einen Lotteriegewinn reich zu werden.
-Das war schon seinem Vater im Blut gelegen, der in
-früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit
-langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte.
-Emil kaufte sich mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen,
-die Spannung aber im Erwarten und Lesen der
-Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte, wurde es ihm
-zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden
-Hoffnungen zu wagen.</p>
-
-<p>Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im
-täglichen Leben und zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte,
-fand er in seinen Diebesplänen wieder. Geduldig suchte
-er Gelegenheit und Ort eines größeren Unternehmens ausfindig
-zu machen, und da er durch die heimatlichen Erfahrungen
-gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal
-das eigene Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres
-zu suchen. Da stach ihm der Laden ins Auge, wo Franz
-Remppis als Lehrling diente, das größte Geschäft des
-Städtchens.</p>
-
-<p>Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa
-dem der Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer
-Kolonialwaren und landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel
-des täglichen Gebrauches, vom Briefpapier und Siegellack
-bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und hielt
-nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb
-genau, er war oft genug darin gewesen und über die
-Standorte mancher Kiste und Lade sowie über Ort und
-Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet. Über die sonstigen
-Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen
-seines Freundes einigermaßen Bescheid, und
-was ihm zu wissen noch unentbehrlich schien, erfragte er
-bei gelegentlichen Besuchen des Ladens. Er sagte etwa,
-wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden betrat, zum
-Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald Feierabend!«
-Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb
-neune werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann
-kannst du wenigstens gleich weglaufen, das Ladenschließen
-wird nicht deine Sache sein.« Und dann erfuhr er, daß
-der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn
-des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse,
-und richtete nach alle dem seine Pläne ein.</p>
-
-<p>Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt
-in die Fabrik schon ein Jahr vergangen. Diese lange
-Zeit war auch an dem Fräulein Emma nicht spurlos vorübergegangen.
-Sie begann etwas gealtert und unfrisch
-auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte,
-war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß
-sie ein Kind erwartete. Das verdarb ihm die Lächstettener
-Luft, und je näher die gefürchtete Niederkunft heranrückte,
-desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch vor diesem
-Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher
-fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte
-fest, daß er nichts zu verlieren habe, wenn er sich der
-Schweiz zuwendete.</p>
-
-<p>Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann
-Löhleschen Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu
-verzichten. Ja es schien ihm sehr gut und schlau, seinen
-Abgang aus der Stadt mit der Tat zu verbinden. Darum
-hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel und Aussichten,
-schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte
-zur Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig
-Mut. Der kam ihm jedoch während einer sehr untröstlichen
-Unterredung mit der Emma, so daß er im Ärger
-der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und
-beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde
-ihm ohne Erfolg zum Dableiben geraten, und da er vom
-Wandern nicht abzubringen war, versprach ihm der Aufseher
-ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an mehrere
-Schweizer Fabriken mitzugeben.</p>
-
-<p>So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am
-Abend zuvor beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle
-auszuführen. Er war auf den Einfall gekommen, sich am
-Abend in das Haus einschließen zu lassen. So suchte er
-denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd,
-schon mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche,
-einen Eingang und fand ihn in einem Augenblick, da niemand
-in der Nähe schien, durch das große, weit offen stehende
-Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das Magazin hinüber,
-das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung
-stand, und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen,
-bis es nachtete und das Leben im Geschäfte erlosch.
-Gegen acht Uhr war es in dem Raume schon völlig
-dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle
-das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem
-oberen Stockwerk, wo seine Wohnung lag.</p>
-
-<p>Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei
-ganze Stunden, ehe er den Mut fand, einen Schritt zu
-tun. Dann wurde es ringsum stille, auch von Straße und
-Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören, und Emil
-trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die
-Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das
-Herz, und als er an der Türe zum Laden hin den Riegel
-zurückschob, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Einbruch
-ein schweres Verbrechen sei und schwer bestraft
-werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der
-guten und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen.
-Es wurde ihm feierlich zumute, da er die Laden
-und Wandfächer voller Waren ansah. Da lagen in einem
-Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von schönen
-Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon
-weitere Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte
-lange Würste und Blechkästen voll Zwieback schauten
-ihn heiter an, und er konnte nicht widerstehen, fürs
-erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in seine
-Brusttasche zu stopfen.</p>
-
-<p>Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte
-er alsdann die Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im
-Ladentisch, die jedoch verschlossen war. Aus Vorsicht, damit
-es ihn nicht verriete, hatte er keinerlei Werkzeuge
-mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst Stemmeisen,
-Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er
-sorgfältig das Schloß der Lade los und hatte bald ohne
-Mühe die Kasse eröffnet. Mit Begier schaute er beim
-schwachen Lichte hinein und sah erregt in kleinen Abteilungen
-geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner
-bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen
-mit den größeren Münzstücken, deren aber sehr
-wenige da waren, und hatte bald zu seiner zornigen Enttäuschung
-überrechnet, daß der ganze Inhalt der erbrochenen
-Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so
-wenigem hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend
-betrogen vor. Sein Zorn war so groß, daß er das Haus
-hätte anzünden mögen. Da war er nun, so sorgfältig vorbereitet,
-zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen,
-hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr
-begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten!
-Den großen Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich
-liegen, tat das andere in seinen Geldbeutel und hielt
-nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens wert
-sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten,
-aber lauter große und schwere Sachen, die ohne Hilfe
-nicht hinwegzubringen waren. Wieder kam er sich betrogen
-vor und war vor Enttäuschung und Kränkung dem
-Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken,
-noch einige Zigarren und von einem großen Vorrat, der
-auf dem Tische gestapelt lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten
-zu sich steckte und den Laden verließ. Ängstlich
-suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin in den
-Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor
-seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt
-arbeitete er am großen Riegel, der in seiner Steinritze
-am Boden spannte, und atmete tief auf, als er nachgab
-und das Tor langsam aufging. Er zog es hinter sich notdürftig
-zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen
-Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten
-nächtigen Gassen zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne
-Schlaf drei bange Stunden wartend, bis der Morgen
-graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen klar und
-trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein,
-um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt
-und viel gute Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am
-Stock über die Schulter und ging zum Bahnhof. Und als
-im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche Hausknecht
-beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand,
-da fuhr Emil Kolb schon ein paar Meilen weiter durch
-ein schönes Waldland, das er vom Wagenfenster mit Neugierde
-betrachtete, denn es war die erste so große Reise
-seines Lebens.</p>
-
-<p>Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des
-Verbrechens großen Sturm, und auch nachdem der Schaden
-festgestellt und als recht geringfügig erkannt war,
-summte die lüsterne Aufregung weiter und verbreitete sich
-durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft erschien,
-nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen
-vor und stieß die vor dem berühmt gewordenen
-Hause sich drängende Menschenmenge hin und wider.</p>
-
-<p>Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die
-schlimme Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden
-noch ahnen. Es ward der Hausknecht und der Packer
-und die ganze Reihe der erschrockenen und dennoch über
-das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins Verhör
-genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die
-gestern den Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens.
-Alsdann setzte der Amtsrichter einen Bericht über das
-Schrecknis auf samt einem genauen Verzeichnis der gestohlenen
-Sachen. An Emil Kolb dachte niemand.</p>
-
-<p>Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten
-und das Haus Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen,
-hernach mit Genugtuung die heimatlichen Zeitungen, deren
-mehrere sich mit dem Fall beschäftigten, und da er
-sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute
-er sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der
-kleinen Beute mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden.</p>
-
-<p>Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade
-in der Gegend des Bodensees auf, denn er hatte wenig
-Eile und wollte unterwegs auch etwas sehen. Seine erste
-Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst einzutreffen
-gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde.</p>
-
-<p>Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause
-bei einer guten Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und
-reichlich mit Senf bestrich, dessen Schärfe er sodann mit
-einem kühlen guten Bier bekämpfte. Darüber ward ihm
-wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter
-Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken
-konnte. Es schien ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm
-gemeint, ja sie tat ihm leid und er hätte sie gerne ein wenig
-versöhnt und getröstet. Je länger er daran kaute, desto
-mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte
-oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete,
-kam er zu dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben.</p>
-
-<p>Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner
-Vorrat von den Löhleschen Zigarren übrig war, und zog
-das kleine steife Päcklein heraus, worin die Lächstettener
-Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin lieh ihm einen
-Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze befeuchtete,
-schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal
-genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten
-vor und war auf eine ganz neue Manier mit glänzenden
-Farben gedruckt, wie sie die arme Wirklichkeit
-nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm
-einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm
-eben gebracht hatte, und fing zu schreiben an.</p>
-
-<p>Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der
-Stift abbrach. Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht
-verderben, schnitzte den Stift in aller Ruhe wieder zurecht
-und schrieb dann unter das schönfarbene Bild: »Gedenke
-Deiner in der Fremde und bin mit vielen Grüßen Dein
-getreuer E. K.«</p>
-
-<p>Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar
-zu Gesicht, jedoch nicht ohne Verzögerung und nicht aus
-den Händen des Briefboten, sondern aus denen des Herrn
-Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche Vorladung
-auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte.</p>
-
-<p>Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz
-wenigen Tagen in den Löhleschen Laden gekommen und
-von dem ganzen Vorrate waren erst drei oder vier Stück
-verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen können.
-Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen
-Karten die Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden
-und die davon unterrichteten Postbeamten hatten die vom
-Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem Bild der
-unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten.</p>
-
-<p>Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so
-daß seine Gefangennehmung und Überlieferung nicht so
-einfach und glanzlos verlief, sondern mit den Stempeln
-und Uniformen zweier Länder als feierliche Auslieferung
-der Schweiz an das Deutsche Reich als Staatsaktion verlief.</p>
-
-<p>Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine
-Einlieferung in Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest,
-wobei der Triumph der Einwohnerschaft über den
-gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen Dieb einer kleinen
-Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche dem
-Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert
-und die Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß
-dauerte nicht lange. Ob er nun aus dem Zuchthause,
-das ihn einstweilen aufgenommen hat, zu längerem Aufenthalt
-in unsere Welt zurückkehren oder &ndash; wie ich glaube
-&ndash; den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends
-in solchen Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird
-seine Geschichte uns wenig mehr zu sagen und zu lehren
-haben. Denn Emil Kolb war kein Charakter, auch nicht
-als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher nur
-eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen
-Anspruch hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht
-als mancher, dessen Unglück weniger in seiner eigenen
-Seele begründet scheint.</p>
-
-
-
-
-<h2><a name="Pater_Matthias" id="Pater_Matthias">Pater Matthias</a></h2>
-
-
-<h3>Erstes Kapitel</h3>
-
-<p class="cap">An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der
-Mitte der hügeligen alten Stadt, lag im Vormittagslicht
-eines sonnigen Spätsommertages das stille Kloster.
-Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten, vom
-ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß
-getrennt, ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit
-am gekrümmten Ufer und schaute mit vielen
-blinden Fensterscheiben hochmütig in die entartete Zeit.
-In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg die
-fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen
-Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber
-aber jenseits des Wassers und des einsam stehenden
-Schwesterklosters lag helle Sonne auf der steilen Halde,
-deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von goldbraun
-schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen
-wurden.</p>
-
-<p>An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß
-lesend der Pater Matthias, ein blondbärtiger Mann im
-besten Alter, der im Kloster und anderwärts den Ruf eines
-freundlichen, wohlwollenden und sehr achtbaren Herrn genoß.
-Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines hübschen
-Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter
-Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder,
-sofern sie ihn wahrnahmen, als einen gelinden Nachklang
-der tiefen Jugendmelancholie betrachteten, welche vor
-zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben
-hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken
-und in liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien.
-Aber der Schein trügt, und Pater Matthias selbst war
-der einzige, der um die verborgenen Ursachen dieses Schattens
-wußte.</p>
-
-<p>Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend
-hatte ein Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in
-das Kloster geführt, wo er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung
-und Schwermut hinbrachte, bis die geduldige
-Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner Natur
-ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er
-war ein beliebter Bruder geworden und stand im gesegneten
-Ruf, er habe eine besondere Gabe, auf Missionsreisen
-und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden die Herzen
-zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen
-Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und
-rechtskräftigen Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte.</p>
-
-<p>Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein
-Glanz jedoch und der des klingenden Geldes hatte die
-Väter für einige andere Züge im Bild ihres lieben Bruders
-blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias die
-Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und
-machte den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend
-frohgesinnten Mannes, dessen Wünsche und Gedanken
-im Frieden mit seinen Pflichten beisammen wohnten;
-wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen
-müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur
-einen Teil seines inneren Zustandes wirklich ausdrückte,
-über manchen verschwiegenen Unebenheiten aber nur
-als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias war nicht
-ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals
-untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung
-seiner Seele auch der alte, eingeborne Kern dieses
-Menschen wieder eine Genesung begangen und schaute,
-wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst
-wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben
-der Welt.</p>
-
-<p>Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon
-mehrmals die Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen
-Natur widerstrebte es zwar, unterm Mantel der Frömmigkeit
-Weltlust zu suchen, und er hatte seine Kutte nie befleckt.
-Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas
-wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich
-zu erhalten und nach einem Ausflug ins Weltliche wieder
-anzulegen.</p>
-
-<p>Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er
-besaß, an sicherem Orte verborgen, eine angenehme, ja
-elegante Bürgerkleidung samt Wäsche, Hut und Schmuck,
-und wenn er auch neunundneunzig von hunderten seiner
-Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte,
-so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu
-oft bei jenen seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und
-dort als Weltmann unter Weltmenschen verlebt hatte.</p>
-
-<p>Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters
-Gemüt viel zu redlich war, lastete als ungebeichtetes
-Verbrechen auf seiner Seele. Wäre er ein schlechter, uneifriger
-und unbeliebter Pater gewesen, so hätte er längst
-den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig zu
-bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So
-aber sah er sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden
-die trefflichsten Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen
-seine Verfehlungen beinahe verzeihlich erscheinen wollten.
-Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn er in ehrlicher
-Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte.
-Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den
-Begierden seiner Natur Genüge tun und lang unterdrückte
-Wünsche ihres Stachels berauben konnte. In allen müßigen
-Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten Blick
-der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit
-begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und
-Angst hin und wider, und bald beneidete er jeden Mitbruder
-um seine Unschuld, bald jeden Städter draußen
-um seine Freiheit.</p>
-
-<p>So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem
-Fenster und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus.
-Indem er mit müßigem Auge den lichten frohen Hügelhang
-gegenüber betrachtete, sah er einen merkwürdigen
-Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der Höhenstraße
-her auf einem Fußpfad näher kam.</p>
-
-<p>Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant,
-die anderen schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein
-Landjäger in glitzernder Uniform ging ihnen voraus und
-zwei andere Landjäger folgten hinten nach. Der neugierig
-zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte waren,
-welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem
-Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen
-hatte.</p>
-
-<p>Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte
-Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen
-Mißmut unzufriedene Betrachtungen daran zu knüpfen.
-Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit diesen armen
-Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen
-ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte
-er, es ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre
-augenblickliche Lage andeute.</p>
-
-<p>»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als
-ersehntes Ziel den Tag vor Augen, da er entlassen und wieder
-frei wird. Ich aber habe keinen solchen Tag vor mir,
-nicht nah noch ferne, sondern eine endlose bequeme
-Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden
-einer eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine
-oder andere von den armen Kerlen da drüben mag mich
-jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich beneiden. Sobald
-sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren, hat
-der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen
-armen Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter
-sitzt.«</p>
-
-<p>Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten
-und Soldaten verloren, solchen Gedanken nachhing, trat
-ein Bruder bei ihm ein und meldete, er werde vom Guardian
-in dessen Amtszimmer erwartet. Freundlich kam der
-gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd erhob
-er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den
-braunen Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom
-Wasser herauf in rostfarbenen Flecken tanzte, und ging
-sogleich mit seinem unfehlbar anmutig-würdigen Schritt
-über die langen kühlen Korridore zum Guardian hinüber.</p>
-
-<p>Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm
-einen Stuhl an und begann ein Gespräch über die schlimme
-Zeit, über das scheinbare Abnehmen des Gottesreiches auf
-Erden und die zunehmende Teuerung. Pater Matthias,
-der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft die
-erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah
-mit froher Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich
-denn auch der würdige Herr ohne Eile näherte. Es sei,
-so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins Land sehr notwendig,
-auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen
-ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle
-und von welcher er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute
-von Liebesgaben heimbringen werde. Der Zeitpunkt sei
-nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in einem fernen
-südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution
-Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden,
-wovon alle Zeitungen meldeten. Und er gab dem Pater
-eine sorgfältige Auswahl von teils schrecklichen, teils rührenden
-Einzelheiten aus diesen neuesten Martyrien der
-kämpfenden Kirche.</p>
-
-<p>Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen
-in sein kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen
-Augen seine Aufgabe und fand eine glückliche
-Wendung und Lösung um die andere, ging zur gewohnten
-Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den Nachmittag
-mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise
-hin. Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen;
-weit mehr Zeit und Sorgfalt erforderten die Anmeldungen
-in Pfarrhäusern und bei treuen gastfreien Anhängern,
-deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine Handvoll
-Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile
-auf dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch
-einen tüchtigen Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern
-und frommen Bildchen bereit und schlief danach
-fest und friedevoll als ein Mann, der wohlgerüstet einer
-ehrenvollen Arbeit entgegengeht.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Zweites Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch
-eine kleine unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster
-ein junger Laienbruder von geringem Verstand, der früher
-an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner zutraulichen Unschuld
-und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen im
-Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete
-den Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche
-tragend. Schon unterwegs zeigte er ein etwas erregtes
-und gestörtes Wesen, auf dem Bahnhofe aber zog
-er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen Pater
-in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den
-Augen, er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise
-abstehen, deren unheilvollen Ausgang ihm eine sichere
-Ahnung vorausverkünde.</p>
-
-<p>»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend
-mit verzerrtem Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet
-nimmer wiederkommen!«</p>
-
-<p>Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen,
-dessen Zuneigung er kannte, zuzureden; er mußte sich am
-Ende beinahe mit Gewalt losreißen und sprang in den
-Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann.
-Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht
-des Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet.
-Der unscheinbare Mensch in seiner schäbigen und
-verflickten Kutte winkte ihm noch lange nach, Abschied
-nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden
-noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach.</p>
-
-<p>Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude
-am Reisen, das er über alles liebte, so daß er die peinliche
-Szene rasch vergaß und mit zufriedenem Blick und gespannten
-Seelenkräften den Abenteuern und Siegen seines
-Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche
-Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag
-entgegen, schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen,
-und der reisende Pater ließ bald das Brevier wie das
-kleine wohlgerüstete Notizbuch ruhen und schaute in wohliger
-Erwartung durchs offne Wagenfenster in den siegreichen
-Tag, der über Wälder hinweg und aus noch nebelverschleierten
-Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um
-bald in Blau und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine
-Gedanken gingen elastisch zwischen diesem Reisevergnügen
-und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin und wider.
-Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage
-hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst
-und Wein, und wie würde sich von diesem paradiesischen
-Grunde das Entsetzliche abheben, das er von den heimgesuchten
-Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu
-berichten hatte!</p>
-
-<p>Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen
-schnell. An dem bescheidenen Bahnhofe, an welchem
-Pater Matthias ausstieg und welcher einsam neben einem
-kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn ein
-hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast
-mit Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort,
-stieg vergnügt in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich
-an Ackerland und schöner Weide vorbei dem stattlichen Dorfe
-entgegen, wo seine Tätigkeit beginnen sollte und das ihn
-bald einladend und festlich anlachte, zwischen Weinbergen
-und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende betrachtete
-das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs
-Korn und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel
-und Kohl in Fülle, da war überall Wohlsein und feiste
-Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte nicht von diesem Born
-des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem anklopfenden
-Gaste zugut kommen?</p>
-
-<p>Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im
-Pfarrhause an, teilte ihm auch mit, daß er schon auf den
-heutigen Abend des Paters Gastpredigt in der Dorfkirche
-angekündigt habe und daß, bei dem Ruf des Herrn Paters,
-ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu erwarten
-sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit
-auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit
-einzuspinnen, da er die Neigung kleiner Landpfarrer
-wohl kannte, auf wortgewandte und erfolgreiche
-Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden.</p>
-
-<p>Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen
-Mittagessen im Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft
-im Pfarrhause aufgetragen wurde. Und auch hier wußte
-Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht und Neigung
-zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung
-hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder
-Begierde zusprach, ohne doch &ndash; zumal beim Weine &ndash;
-ein ihm bekömmliches Maß zu überschreiten und seiner
-Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und fröhlich konnte er
-schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber
-mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine
-Arbeit im Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also
-der Wirt etwa den schlimmen Plan gehabt, unseren Pater
-durch die so reichliche Bewirtung lahm zu legen, so war
-er ihm völlig mißlungen.</p>
-
-<p>Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine
-Arbeit eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse
-nichts zu wünschen ließ. Seit kurzem lebte im Dorf,
-als am Heimatorte ihres Mannes, in einem neu erbauten
-Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die wegen
-ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten
-Zunge nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war
-als wegen ihres Geldes. Diese Frau Franziska Tanner
-stand zuoberst auf der Liste derer, deren spezielle Heimsuchung
-der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte.</p>
-
-<p>So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen
-Kollegen wenig vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde
-im Landhause und begehrte mit der Frau
-Tanner zu sprechen. Eine nette Magd führte ihn in das
-Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten mußte,
-was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte
-und warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine
-ländliche Person und schwarzgekleidete Witwe, sondern
-eine grauseidene damenhafte Erscheinung in das Zimmer,
-die ihn gelassen willkommen hieß und nach seinem Begehren
-fragte.</p>
-
-<p>Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und
-jedes versagte, und Schlag um Schlag ging ins Leere,
-während die geschickte Frau lächelnd entglitt und von Satz
-zu Satz neue Angeln auslegte. War er weihevoll, so begann
-sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen Bedrohungen,
-so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu mildtätigen
-Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing
-und ins Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken,
-sie kenne seine Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld
-zu geben, wenn es ihm nur gelänge, ihr die tatsächliche
-Nützlichkeit einer solchen Gabe zu beweisen. War es ihr
-kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn in einen
-leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn
-plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er
-sie wieder geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so
-war sie unversehens eine kühle Dame.</p>
-
-<p>Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die
-beiden ein Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem
-hübschen Pater die männliche Aufmerksamkeit, mit der
-er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen zu schonen
-suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis
-eine heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich
-beweglicher Koketterie, so daß es trotz schwieriger
-Augenblicke zu einer ganz guten Unterhaltung kam und
-der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei unausgesprochenerweise
-freilich der moralische Sieg auf der Seite
-der Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende
-eine Banknote und sprach ihm und seinem Orden ihre
-Anerkennung aus, doch geschah es in ganz gesellschaftlichen
-Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie,
-und auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch
-aus, daß er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch
-vergaß.</p>
-
-<p>Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt
-und verliefen nach der Regel. Pater Matthias zog
-sich noch eine halbe Stunde in seine Stube zurück, aus
-welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt wieder
-hervorging.</p>
-
-<p>Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen
-Süden geplünderten Altären und Klöstern und
-dem Bedürfnis des eigenen Klosters nach einigen Geldern
-entstand ganz zauberhaft ein inniger Zusammenhang,
-der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf
-einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung
-des Mitleids und unbestimmter frommer Erregung beruhte.
-Die Frauen weinten und die Opferbüchsen klangen,
-und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner
-unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne
-Aufregung, doch mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen.</p>
-
-<p>Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters
-seinen glänzenden Anfang genommen. Auf seinem
-Angesicht glänzte Pflichteifer und herzliche Befriedigung,
-in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und wuchs der
-kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke
-umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen
-draußen in der Welt berichteten, es stehe um die bei jener
-Revolution geschädigten Klöster bei weitem nicht so übel,
-als es im ersten Wirrwarr geschienen habe, das wußte der
-Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören
-lassen.</p>
-
-<p>Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei
-sich zu sehen, und die ganze Reise verlief aufs erfreulichste.
-Nun, indem er sich schon gegen die protestantische Nachbargegend
-hin dem letzten kleinen Weiler näherte, den
-zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz
-und Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran,
-daß nun für eine ungewisse Weile Klosterstille und
-mißmutige Langeweile den genußreichen Erregungen seiner
-Fahrt nachfolgen würden.</p>
-
-<p>Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich
-gewesen, da das Geräusch und die Leidenschaft
-einer frohen außerordentlichen Tätigkeit sich legte und
-hinter den prächtigen Kulissen der klanglose Alltag hervorschaute.
-Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im
-Beutel, nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze
-Freude der Ablieferung und Anerkennung daheim, und
-diese Freude war auch schon keine richtige mehr.</p>
-
-<p>Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt,
-wo er sein merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je
-mehr die Feststimmung in ihm verglühte und je näher
-die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward seine Begierde,
-die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen
-Tag ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte
-er davon nichts wissen mögen, allein so ging es jedesmal
-und er war es schon müde, dagegen anzukämpfen:
-am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher
-plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen.</p>
-
-<p>So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde
-noch besucht und gewissenhaft erledigt, dann wanderte
-Pater Matthias zu Fuße nach dem nächsten Bahnhof,
-ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig davonfahren
-und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren
-Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für
-ihn sicher war. In der Hand aber trug er einen kleinen
-hübschen Reisekoffer, den gestern noch niemand bei ihm
-gesehen hatte.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Drittes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig
-viele Züge aus- und einliefen, stieg Pater Matthias
-aus, den Koffer in der Hand, und bewegte sich ruhig, von
-niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen Gebäude zu,
-auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer«
-stand. An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde,
-bis gerade wieder mehrere ankommende Züge ein Gewühl
-von Menschen ergossen, und da er in diesem Augenblicke
-wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben
-Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr,
-sondern ein angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon
-nicht ganz modischer Kleidung, der sein Gepäck am
-Schalter in Verwahrung gab und alsdann ruhig der
-Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform
-eines Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster
-zu sehen war und endlich im Straßengetöse sich
-verlor.</p>
-
-<p>Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause
-schwingenden Getöne, mit dem Glanz der Geschäfte, dem
-durchsonnten Staub der Straßen atmete Herr Matthias
-die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der
-törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne
-empfänglich waren, und gab sich jedem frohen Eindruck
-willig hin. Es schien ihm herrlich, die eleganten Damen
-in Federhüten spazieren oder in feinen Equipagen fahren
-zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem schönen
-Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und
-einen zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und
-daraufhin, innerlich erwärmt und erheitert, hin und wider
-zu gehen, sich an Plakatsäulen über die für den Abend
-versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten und darüber
-nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag
-werde speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern
-wohl. Allen diesen größeren und kleineren Genüssen
-ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit nach, und wer
-ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken
-gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr
-könnte verbotene Wege gehen.</p>
-
-<p>Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen
-Kaffee und einer Zigarre weit in den Nachmittag
-hinein. Er saß nahe an einer der gewaltigen bis zum
-Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants und
-sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen
-auf die belebte Straße hinaus. Vom Essen und
-Sitzen war er ein wenig schwer geworden und schaute
-gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden. Nur
-einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte
-aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher
-er einen Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen
-glaubte. Er sah jedoch, daß er sich getäuscht habe, fühlte
-eine leise Ernüchterung und erhob sich, um weiter zu
-gehen.</p>
-
-<p>Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln
-eines kinematographischen Theaters und las
-die großgedruckten Titel der versprochenen Darbietungen.
-Dabei hielt er eine brennende Zigarre in der Hand und
-wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann unterbrochen,
-der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine
-Zigarette bat.</p>
-
-<p>Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den
-Fremden an und sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon
-gesehen. Waren Sie nicht heute früh im Café Royal?«</p>
-
-<p>Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den
-Hut und wollte weiter gehen, besann sich aber plötzlich
-anders und sagte lächelnd: »Ich glaube, wir sind beide
-fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche hier nichts
-als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht
-ein bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn
-es Ihnen nicht zuwider ist, könnten wir ja zusammen
-bleiben.«</p>
-
-<p>Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden
-Müßiggänger flanierten nun nebeneinander weiter, wobei
-der Fremde sich dem Älteren stets höflich zur Linken
-hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit ein wenig nach Herkunft
-und Absichten des neuen Bekannten, und da er
-merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe
-etwas befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig
-fallen und begann ein munteres Geplauder, das Herrn
-Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr Breitinger
-schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen,
-wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag
-macht. Auch am hiesigen Ort war er schon je und je gewesen
-und erinnerte sich einiger Vergnügungslokale, wo
-er damals recht nette Gesellschaft gefunden und köstliche
-Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst,
-daß er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung
-die Führung übernahm. Nur einen heiklen Punkt erlaubte
-sich Herr Breitinger im voraus zu berühren. Er
-bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe,
-daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort
-aus dem eigenen Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend
-bei, er sei zwar kein Rechner und Knicker,
-habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung und
-sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen
-mehr als ein paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa
-sein Begleiter großartigere Gewohnheiten habe, so würde
-es besser sein, sich in Frieden zu trennen, statt etwaige
-Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen.</p>
-
-<p>Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack.
-Er erklärte, auf einen goldenen Zwanziger hin
-oder her komme es ihm allerdings nicht an, doch sei er
-gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie
-beide aufs beste miteinander auskommen würden.</p>
-
-<p>Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen
-Durst bekommen, und ohnehin war es jetzt nach seiner
-Meinung Zeit, die angenehme Bekanntschaft durch Anstoßen
-mit einem Glase Wein zu feiern. Er führte den
-Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits
-gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe,
-einen raren Tropfen zu bekommen, und sie traten durch
-eine klirrende Glastüre in die enge niedere Stube, in
-der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas unfreundlicher
-Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche
-herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen
-einen hellgelben kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte,
-mit welchem sie denn anstießen. Darauf zog
-sich der Wirt zurück, und bald erschien statt seiner ein großes
-hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte
-und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken
-übernahm.</p>
-
-<p>»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er
-sich zu dem Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!«</p>
-
-<p>Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß
-zum Anstoßen hin.</p>
-
-<p>»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger
-und holte selbst von der Kredenz ein Glas für sie.
-»Kommen Sie, Fräulein, und leisten Sie uns ein bißchen
-Gesellschaft!«</p>
-
-<p>Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich
-nicht sträubte, zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen.
-Diese zwanglose Leichtigkeit der Anknüpfung machte Herrn
-Matthias Eindruck. Er stieß nun auch seinerseits mit dem
-Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe.
-Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel
-geworden, die Kellnerin zündete ein paar Gasflammen
-an und bemerkte nun, daß kein Wein mehr in der Flasche
-sei.</p>
-
-<p>»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief
-Herr Breitinger. Aber der andere wollte das nicht dulden,
-und es gab einen kleinen Wortkrieg, bis er sich unter
-der Bedingung fügte, daß nachher auf seine Rechnung
-noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein
-Meta hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht
-und ihren Platz wieder eingenommen, und während
-der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt war, streichelte
-sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias,
-der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging
-und sie weiter verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren
-setzte. Nun zog sie den Fuß zwar zurück, liebkoste dafür
-aber wieder seine Hand, und so blieben sie in stillem Einverständnis
-triumphierend beieinander sitzen. Matthias
-ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte
-von Zechgelagen, die er früher mitgemacht habe, stieß
-immer wieder mit den beiden an, und der erhitzende
-falsche Wein machte seine Augen glänzen.</p>
-
-<p>Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe
-in der Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin,
-da hatte keiner von den Kavalieren etwas dagegen, daß
-sie diese einlade, den Abend mitzufeiern. Eine alte Frau,
-die inzwischen den Wirt abgelöst hatte, wurde mit dem
-Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für
-Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an
-sich und küßte sie heftig auf den Mund. Sie ließ es still
-und lächelnd geschehen, da er aber stürmisch ward und mehr
-begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen Augen an und
-wehrte: »Später, du, später!«</p>
-
-<p>Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende
-Gebärde hielt ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht
-nur die erwartete Freundin herein, sondern auch noch
-eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem halbeleganten
-Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte gescheiteltem
-schwarzem Haar, dessen Mund unter einem
-gezwickelten Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig
-ausschaute. Zugleich trat auch Breitinger wieder
-ein, es entstand eine Begrüßung und man rückte
-zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen.
-Matthias sollte bestellen und war für einen Fisch mit
-nachfolgendem Rindsbraten, dazu kam auf Metas Vorschlag
-noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und Sardinen,
-sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte.
-Der Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter
-Verächtlichkeit, ohne Geflügel tauge ein Abendessen nichts,
-und wenn auf das Rindfleisch nicht ein Fasanenbraten
-folge, so esse er schon lieber gar nicht mit. Meta wollte
-ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem
-Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen:
-»Ach was, man soll doch den Fasan bestellen!
-Die Herrschaften sind doch hoffentlich alle meine Gäste?«</p>
-
-<p>Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem
-Speisezettel, der Wirt tauchte auch wieder auf. Meta
-hatte sich nun ganz an Matthias angeschlossen, ihre Freundin
-saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das Essen,
-das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt
-schien, wurde rasch aufgetragen und war gut.
-Beim Nachtisch machte Fräulein Meta ihren Verehrer
-mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam in einem
-großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht,
-das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte,
-aus Champagner, Sherry und Kognak gemischt
-war. Es schmeckte gut, nur etwas schwer und süß, und sie
-nippte jedesmal selber am Glase, wenn sie ihn zum Trinken
-einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger
-ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er
-das Süße nicht liebe, auch habe dies Getränk den leidigen
-Nachteil, daß man darauf hin nur noch Champagner genießen
-könne.</p>
-
-<p>»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut.
-»Ihr Leute, Champagner her!«</p>
-
-<p>Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die
-Augen voll Wasser liefen, und war von diesem Augenblicke
-an ein hoffnungslos betrunkener Mann, der beständig
-ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß
-und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch
-und Wohlleben dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich
-für eine Minute, blickte verwundert in die Lustbarkeit
-und griff nach Metas Hand, die er küßte und streichelte,
-um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen. Einmal
-erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen,
-doch fiel ihm das schwankende Glas aus der Hand und
-zersprang auf dem überschwemmten Tische, worüber er
-wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes Gelächter begann.
-Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger
-bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser
-an, das er leerte und dessen scharfer brennender
-Geschmack das Letzte war, was ihm von diesem Abend
-dunkel im Gedächtnis blieb.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Viertes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias
-blinzelnd zu einem schauderhaften Gefühl von Leere,
-Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel. Kopfweh und Schwindel
-hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken und
-entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter
-Riß, an dessen Herkunft er keine Erinnerung
-hatte. Nur langsam erholte sich sein Bewußtsein, da richtete
-er sich plötzlich auf, sah an sich nieder und suchte Stützen
-für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb entkleidet,
-in einem fremden Zimmer und Bett, und da er
-erschreckend aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in
-eine morgendliche unbekannte Straße hinab. Stöhnend
-goß er ein Waschbecken voll und badete das entstellte heiße
-Gesicht, und während er mit dem Handtuch darüber fuhr,
-schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz ins
-Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am
-Boden lag, riß ihn an sich, betastete und wendete ihn,
-griff in alle Taschen und ließ ihn erstarrt aus zitternden
-Händen sinken. Er war beraubt. Die schwarzlederne Brustmappe
-war fort.</p>
-
-<p>Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es
-waren über tausend Kronen in Papier und Gold gewesen.</p>
-
-<p>Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl
-eine halbe Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst
-und Schlaftrunkenheit waren völlig verflogen, auch
-die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur eine große Müdigkeit
-und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch
-sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten
-Kleider nach Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute
-in den Spiegel, wo ein gedunsenes trauriges Gesicht
-ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle Kraft mit
-einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine
-Lage. Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige,
-was ihm zu tun übrigblieb.</p>
-
-<p>Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch
-Bett und Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid
-jedoch fand sich ein zerknitterter Schein von fünfzig
-Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst war kein Geld
-mehr da.</p>
-
-<p>Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden
-Kellner, um welche Zeit er heute Nacht angekommen sei.
-Der junge Mensch sah ihm lächelnd ins Gesicht und meinte,
-wenn der Herr selber sich nimmer erinnern könne, so werde
-einzig der Portier Bescheid wissen.</p>
-
-<p>Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück
-und fragte ihn aus. Wann er ins Haus gebracht
-worden sei? &ndash; Gegen zwölf Uhr. &ndash; Ob er bewußtlos
-gewesen? &ndash; Nein, nur anscheinend bezecht. &ndash; Wer ihn
-hergebracht habe? &ndash; Zwei junge Männer. Sie hätten
-erzählt, der Herr habe sich bei einem Gastmahl übernommen
-und begehre hier zu schlafen. Er habe ihn zuerst
-nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes
-Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. &ndash; Ob der Portier
-die beiden Männer wieder erkennen würde? &ndash; Ja,
-das heißt wohl nur den einen, den mit dem steifen Hut.</p>
-
-<p>Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung
-samt einer Tasse Kaffee. Den trank er heiß hinunter,
-bezahlte und ging weg.</p>
-
-<p>Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus
-lag, nicht, und ob er wohl nach längerem Gehen bekannte
-und halbbekannte Straßen traf, so gelang es ihm doch in
-mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht, jenes
-kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert
-war.</p>
-
-<p>Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht,
-etwas von dem Verlorenen wieder zu gewinnen. Von
-dem Augenblick an, da er in plötzlich aufzuckendem Verdacht
-seinen Rock untersucht und die Brusttasche leer gefunden
-hatte, war er von der Erkenntnis durchdrungen,
-es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl
-hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls
-oder Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von
-jeder Auflehnung und glich mehr einer zwar bitteren, doch
-entschiedenen Zustimmung zu dem Geschehenen. Dies
-Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen
-Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen
-ganz geringe Menschen niemals fähig sind, rettete den
-armen betrogenen Pater vor der Verzweiflung. Er dachte
-nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch List reinzuwaschen
-und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen,
-noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun.
-Nein, er fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte
-Notwendigkeit, die ihn zwar traurig machte, gegen
-welche er jedoch mit keinem Gedanken protestierte.
-Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch
-verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm
-die Empfindung einer großen Erlösung vorhanden, da
-jetzt unzweifelhaft seiner bisherigen Unzufriedenheit und
-dem unklaren, durch Jahre geführten und verheimlichten
-Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie früher
-zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere
-Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl
-kniet und dem zwar eine Demütigung und Bestrafung
-bevorsteht, dessen Seele aber die beklemmende Last verheimlichter
-Taten schon weichen fühlt.</p>
-
-<p>Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei,
-keineswegs im klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt
-aus dem Orden schon genommen und Verzicht auf
-alle Ehren getan, so schien es ihm doch ärgerlich und recht
-unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen einer
-feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen.
-Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so
-schändliches Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld
-hatte ja nicht er gestohlen, sondern offenbar jener
-Herr Breitinger.</p>
-
-<p>Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes
-zu geschehen habe; denn blieb er länger als
-noch diesen Tag dem Kloster fern, so entstand Verdacht
-und Untersuchung und ward ihm die Freiheit des Handelns
-abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein
-Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann,
-rasch gesättigt und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält,
-mit müden Augen durchs Fenster auf die Straße
-hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um dieselbe
-Zeit getan hatte.</p>
-
-<p>Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm
-grausam auf die Seele, daß er auf Erden keinen einzigen
-Menschen habe, dem er mit Vertrauen und Hoffnung
-seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und riete, der
-ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt, den
-er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder
-vergessen hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich
-in seinem Gedächtnis auf: der junge halbgescheite Laienbruder
-in seiner verflickten Kutte, wie er am heimischen
-Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und beschwörend.</p>
-
-<p>Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang
-seinen Blick, dem Straßenleben draußen zu folgen. Da
-trat ihm, auf seltsamen Umwegen der Erinnerung, mit
-einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele,
-woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.</p>
-
-<p>Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner,
-jener reichen jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst
-kürzlich bewundert, und deren anmutig strenges Bild ihn
-heimlich begleitet hatte. Er schloß die Augen und sah sie,
-im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und beinahe
-spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer
-er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig
-entschlossene Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig
-beobachtende Blick ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte,
-desto leichter, ja selbstverständlicher schien es ihm,
-das Vertrauen dieser ungewöhnlichen Frau in seiner ungewöhnlichen
-Lage anzurufen.</p>
-
-<p>Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges
-endlich klar vor sich zu sehen, machte er sich sofort daran,
-seinen Entschluß auszuführen. Von dieser Minute an bis
-zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner stand, tat er jeden
-Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal geriet er
-ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes
-wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel
-begonnen hatte und wo seither sein Köfferchen
-in Verwahrung stand. Er war des Sinnes gewesen,
-wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau
-zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken,
-und hatte deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch,
-da er nur eines Schrittes bedurfte, um am Schalter
-sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese Absicht
-ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie
-nie zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen
-wahren Schreck und Abscheu, so daß er seinen Plan
-im Augenblick änderte und vor sich selber schwor, die Kutte
-niemals wieder anzulegen, es komme, wie es wolle.</p>
-
-<p>Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein
-entwendet worden war, wußte und bedachte er
-dabei gar nicht.</p>
-
-<p>Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste
-denselben Weg, den er gestern in der Frühe noch als Pater
-gefahren, im schlichten Bürgerrocke zurück. Dabei schlug
-ihm das Herz immerhin, je näher er dem Ziele kam, desto
-peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch die Gegend,
-welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und
-mußte in jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen,
-der ihn erkennen und als erster seine Schande
-sehen würde. Doch war der Zufall und der einbrechende
-Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt
-und unbelästigt erreichte.</p>
-
-<p>Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen
-den Weg zum Dorfe hin, den er zuletzt bei Sonnenschein
-im Einspänner gefahren war, und zog, da er noch überall
-Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend
-die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses.</p>
-
-<p>Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte
-nach seinem Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias
-bat, die Hausfrau noch heute abend sprechen zu dürfen,
-und gab dem Mädchen ein verschlossenes Billett mit, das
-er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte. Sie
-ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien
-warten, schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange
-Weile aus. Dann aber schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn
-mit verlegener Entschuldigung ihrer vorigen Ängstlichkeit
-eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer der Frau,
-die ihn dort allein erwartete.</p>
-
-<p>»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener
-Stimme, »darf ich Sie nochmals für eine kleine
-Weile stören?«</p>
-
-<p>Sie grüßte gemessen und sah ihn an.</p>
-
-<p>»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen
-Sache kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. &ndash;
-Aber wie sehen Sie denn aus?«</p>
-
-<p>»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie
-nicht! Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich
-nicht das Zutrauen hätte, Sie werden mich in einer sehr
-schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen.
-Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!«</p>
-
-<p>Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn
-Tränen. Doch hielt er sich tapfer, entschuldigte sich mit
-großer Erschöpfung und begann alsdann, in einem bequemen
-Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing damit
-an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens
-müde sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe.
-Dann gab er eine kurze Darstellung seines früheren Lebens
-und seiner Klosterzeit, seiner Predigtreisen und auch
-seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er ohne viel
-Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer
-in der Stadt.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Fünftes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau
-Tanner hatte aufmerksam und ohne jede Unterbrechung
-zugehört, zuweilen gelächelt und zuweilen den Kopf geschüttelt,
-schließlich aber jedes Wort mit einem gleichbleibenden
-gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie
-beide eine Weile.</p>
-
-<p>»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß
-nehmen?« fragte sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die
-Nacht hier und können in der Gärtnerwohnung schlafen.«</p>
-
-<p>Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch
-von Essen und Trinken nichts wissen.</p>
-
-<p>»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie
-langsam.</p>
-
-<p>»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau,
-woher mein Vertrauen zu Ihnen kommt. Aber in allen
-diesen schlimmen Stunden ist mir niemand sonst eingefallen,
-auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie
-mir, was ich tun soll!«</p>
-
-<p>Nun lächelte sie ein wenig.</p>
-
-<p>»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das
-nicht neulich schon gefragt haben. Daß Sie für einen
-Mönch zu gut oder doch zu lebenslustig sind, kann ich
-wohl begreifen. Es ist aber nicht schön, daß Sie Ihre
-Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten. Dafür
-sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt
-aus Ihrem Orden, den Sie freiwillig und in Ehren
-hätten suchen sollen, jetzt eben unfreiwillig tun. Mir
-scheint, Sie können gar nichts anderes tun, als Ihre Sache
-mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das
-nicht Ihre Meinung?«</p>
-
-<p>»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.«</p>
-
-<p>»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?«</p>
-
-<p>»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im
-Orden behalten werden, was ich auch keinesfalls annehmen
-würde. Mein Wille ist, ein stilles Leben als ein fleißiger
-und ehrlicher Mensch anzufangen; denn ich bin zu jeder
-anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse,
-die mir nützen können.«</p>
-
-<p>»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.«</p>
-
-<p>»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster
-entlassen werden, sondern muß auch für die mir anvertrauten
-Summen, die dem Kloster gehören, mit meiner
-Person eintreten. Da ich diese Summen in der Hauptsache
-nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren
-habe, wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein
-gemeiner Betrüger zur Rechenschaft gezogen zu werden.«</p>
-
-<p>»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das
-verhüten?«</p>
-
-<p>»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich
-ist, das Geld so bald und so vollkommen als
-möglich zu ersetzen suchen. Wenn es möglich wäre, dafür
-eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte wohl
-ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.«</p>
-
-<p>Die Frau sah ihn forschend an.</p>
-
-<p>»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie
-dann ruhig.</p>
-
-<p>»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen
-und mich bemühen, vor allem jene Summe abzutragen.
-Sollte jedoch die Person, welche für mich bürgt, mir anders
-raten und mich anders zu verwenden wünschen, so
-wäre mir natürlich dieser Wunsch Befehl.«</p>
-
-<p>Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte
-durchs Zimmer. Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der
-Lampe in der Dämmerung stehen und sagte leise von
-dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden und
-die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?«</p>
-
-<p>Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden.</p>
-
-<p>»Wenn Sie wollen &ndash; ja,« sagte er tief atmend. »Da
-ich mich Ihnen, die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet
-habe, mag auch das gewagt sein. Ach, liebe Frau Tanner,
-es ist mir wunderlich, wie ich in meiner elenden Lage zu
-solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter,
-dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch
-überließe, wie Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich
-heute noch für immer aus Ihren Augen.«</p>
-
-<p>Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch
-eine feine Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag,
-und verbarg ihre leicht zitternden Hände hinter ihrem
-Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und sagte: »Danke
-für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen
-sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung
-ab. Wir wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd
-wird Sie ins Gärtnerhaus führen. Morgen früh um
-sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden, dann
-können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.«</p>
-
-<p class="cap p2">In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit
-besseren Schlaf als seine gütige Wirtin. Er holte in
-einer tiefen achtstündigen Ruhe das Versäumte zweier Tage
-und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit ausgeruht
-und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück
-erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte.</p>
-
-<p>Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil
-ihrer Nachtruhe. Die Bitte des Paters hätte, soweit sie
-nur das verlorene Geld betraf, ihr dies nicht angetan.
-Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen, wie da
-ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig
-ihren Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so
-voll Vertrauen zu ihr gekommen war, fast wie ein Kind
-zur Mutter. Und daß ihr selber dies doch eigentlich nicht
-erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres verstanden
-und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen
-hatte, während sie sonst eher zum Mißtrauen neigte,
-das schien ihr darauf zu deuten, daß zwischen ihr und dem
-Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und heimlicher
-Harmonie bestehe.</p>
-
-<p>Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche
-neulich einen angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte
-ihn für einen lebenstüchtigen, harmlosen Menschen halten,
-dazu war er ein hübscher und gebildeter Mann. An
-diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert,
-nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas
-schwankendes Licht von Abenteuer gerückt und in seinem
-Charakter immerhin eine gewisse Schwäche enthüllt schien.</p>
-
-<p>Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme
-zu gewinnen, wobei sie die geforderte Bürgschaft
-oder Geldsumme gar nicht beachtet haben würde.
-Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit
-dem Fremden verband und die auch in den sorgenvollen
-Gedanken dieser Nacht nicht abgenommen hatte, war alles
-in eine andere Beleuchtung getreten, wo das Geschäftliche
-und Persönliche gar eng aneinander hing und wo
-sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes
-Aussehen gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel
-Macht über sie hatte und so viel Anziehung zwischen ihnen
-beiden bestand, so war es mit einem Geschenke nicht getan,
-sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse
-und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben
-großen Einfluß gewinnen konnten.</p>
-
-<p>Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe
-aus der Not und ins Ausland zu helfen, unter Ausschluß
-aller weiteren Beteiligung an seinem Schicksal als einfache
-Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der
-Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf
-seine immerhin seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres
-in ihr Leben aufzunehmen, dessen Freiheit und Übersicht
-sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und schien ihr
-unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen.</p>
-
-<p>So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als
-sie nach kurzem Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer
-betrat, sah sie ein wenig geschwächt und müde
-aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar in die
-Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah,
-es war ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen
-Ernst, und er würde zuverlässig dabei bleiben.</p>
-
-<p>Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr
-als die notwendigen geselligen Worte dazu zu sagen, und
-gab Auftrag, daß später für ihren Gast der Wagen angespannt
-werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß
-sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale
-Milch dazu, und erst als sie damit und der Gast ebenfalls
-mit seinem Morgenkaffee fertig war, begann sie zu sprechen.</p>
-
-<p>»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und
-Bitte vorgelegt, über die ich mich nun besonnen habe.
-Sie haben auch ein Versprechen gegeben, nämlich in allem
-und jedem es so zu halten, wie ich es gut finden werde.
-Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu
-bekennen?«</p>
-
-<p>Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«.</p>
-
-<p>»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt
-habe. Sie wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte
-nicht nur mein Schuldner werden, sondern mir und meinem
-Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren
-Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden
-können. Sie wollen nicht ein Geschenk von mir haben,
-sondern mein Vertrauen und meine Freundschaft. Das
-ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst zugeben,
-daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen
-ist, wo Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches
-Bedenken wider Sie erlaubt und möglich ist.«</p>
-
-<p>Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig
-dazu, weshalb sie ihren Ton sofort um einen Schatten
-strenger werden ließ.</p>
-
-<p>»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht
-annehmen, werter Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit
-und Dauer Ihrer guten Gesinnung zu wenig Gewähr
-vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und Treue
-beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was
-aus meinem Gelde würde, kann ich auch nicht wissen,
-seit Sie mir das mit Ihrem Freunde Breitinger erzählt
-haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim Wort zu nehmen.
-Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden
-möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und
-unsicher, als daß ich Sie ohne weiteres in meinen Lebenskreis
-aufnehmen könnte. Darum stelle ich Ihre Treue
-auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte:
-Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel
-dem Kloster, fügen Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung
-durch die Gerichte! Wenn Sie das tapfer und ehrlich
-tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu nennen,
-so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel
-mehr an Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie
-mit Mut und Fröhlichkeit ein neues Leben anfangen
-wollen. &ndash; Haben Sie mich verstanden und soll es gelten?«</p>
-
-<p>Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte
-ihr mit Bewunderung und tiefer Rührung in das schön
-erregte bleiche Gesicht und machte eine sonderbare stürmische
-Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme
-schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte
-auf die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging
-er aufrecht aus dem Zimmer, ohne weiteren Abschied zu
-nehmen, und schritt durch den Garten und stieg in das
-draußen wartende Kabriolet, während die überraschte
-Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung
-in sonderbar gemischter Empfindung nachschaute.</p>
-
-
-<div class="chapter">
-<h3>Sechstes Kapitel</h3>
-</div>
-
-<p class="cap">Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug
-und mit einem merkwürdig veränderten Gesicht wieder
-in sein Kloster gegangen kam und ohne Umweg den Guardian
-aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen und lüsterne
-Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand
-etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde
-eine geheime Sitzung der Oberen statt, in welcher die
-Herren trotz manchen Bedenken schlüssig wurden, den übeln
-Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten, die verlorenen
-Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer
-längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen.</p>
-
-<p>Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt
-wurde, setzte er die milden Richter durch seine Weigerung,
-ihren Spruch anzuerkennen, in kein geringes Erstaunen.
-Allein es half kein Drohen und kein gütiges
-Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus
-dem Orden zu bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu,
-die durch seinen Leichtsinn verloren gegangene Opfersumme
-als persönliche Schuld stunden und deren allmähliche
-Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als
-eine große Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er
-es vor, daß seine Sache vor einem weltlichen Gericht
-ausgetragen werde.</p>
-
-<p>Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag
-um Tag einsam in strengem Zellenarrest gehalten wurde,
-beschäftigte seine Angelegenheit die Vorgesetzten bis nach
-Rom hin, ohne daß der Gefangene über den Stand der
-Dinge das Geringste erfahren konnte.</p>
-
-<p>Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können,
-wäre nicht durch einen unvermuteten Anstoß von außen
-her plötzlich alles in Fluß gekommen und nach einer ganz
-anderen Entwicklung hin gedrängt worden.</p>
-
-<p>Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger
-Rückkehr, amtlich und eilig von der Behörde angefragt,
-ob etwa dem Kloster neuestens ein Insasse oder
-doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden
-gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines
-auf dem und dem Bahnhofe abgegebenen rätselhaften
-Handkoffers festgestellt worden sei. Es habe dieser Koffer,
-der seit genau zwölf Tagen an jener Station lagere, infolge
-eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen,
-da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben
-anderem gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer
-lautenden Gepäckschein bei sich getragen habe.</p>
-
-<p>Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um
-nähere Auskünfte und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt
-in die benachbarte Provinzhauptstadt, wo er sich
-viele, doch vergebliche Mühe gab, die Person und die
-Spuren des guten Paters Matthias als mit dem Gaunerprozesse
-unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt
-zeigte im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes
-Interesse und eine große Lust, den einstweilen als
-krankliegend entschuldigten Pater Matthias selber kennen
-zu lernen.</p>
-
-<p>Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung
-in die Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten,
-was noch zu retten wäre, der Pater Matthias mit
-aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen, der Staatsanwaltschaft
-übergeben und wegen Veruntreuung von
-Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte
-der Prozeß des Paters nicht nur die Aktenmappen der
-Richter und Anwälte, sondern auch als Skandalgeschichte
-alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen Lande widerhallte.</p>
-
-<p>Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden
-ihn völlig preisgab und die öffentliche Meinung, dargestellt
-durch die Artikel der liberalen Tagesblätter, den
-Pater keineswegs schonte und den Anlaß zu einer kleinen
-frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der Angeklagte
-in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung
-und bekam eine schlimmere Suppe auszuessen, als er
-sich eingebrockt zu haben meinte. Er hielt sich aber in
-aller Bedrängnis brav und tat keine einzige Aussage,
-die sich nicht bewährt hätte.</p>
-
-<p>Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten
-Prozesse ihren raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen
-sah sich Matthias bald als Angeklagter den Pfarrern
-und Meßnern jener Missionsgegend, bald als Zeuge
-der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt,
-der gar nicht Breitinger hieß und in weiten
-Kreisen als Gauner und Zuhälter unter dem Namen des
-dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der
-Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser
-und seine Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es
-wurde in wenigen kräftigen Verhandlungen sein eigenes
-Urteil vorbereitet.</p>
-
-<p>Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt
-gewesen. Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten
-jenes Tages in der Stadt, das Verhalten seiner
-Oberen und die öffentliche Stimmung auf seine allgemeine
-Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein
-unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen
-anwendeten und ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe
-verurteilten.</p>
-
-<p>Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und
-es wollte ihm scheinen, eine so harte Buße habe sein in
-keiner eigentlichen Bosheit beruhendes Vergehen doch
-nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei der Gedanke
-an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung
-einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach
-diesem unerwartet viel beschrieenen Skandal sich ihr wieder
-vorstelle, noch überhaupt werde kennen wollen.</p>
-
-<p>Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau
-Tanner kaum weniger über diesen Ausgang der Sache
-und machte sich Vorwürfe darüber, daß sie ihn doch eigentlich
-ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb auch
-ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten
-Zutrauens versicherte und die Hoffnung aussprach, er
-werde gerade in der unverdienten Härte seines Urteils
-eine Mahnung sehen, sich innerlich ungebeugt und unverbittert
-für bessere Tage zu erhalten. Allein dann fand
-sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias
-zu zweifeln, und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen
-lassen, wie er die Probe bestehe. Und sie legte
-den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals anzusehen,
-in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig verschloß.</p>
-
-<p class="cap p2">Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und
-der Wein schon gekeltert, als nach einigen trüben Wochen
-der Spätherbst noch einmal warme, blaue, zart verklärte
-Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in gebrochenen
-Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses
-das alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben
-in den zartgolden blühenden Tag. Da zog in dem schönen
-Spätherbstwetter wieder einmal ein trauriges Trüpplein
-unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf
-dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin.</p>
-
-<p>Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater
-Matthias, der zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete
-und in die sonnige Weite des Tales und zum stillen Kloster
-hinunter sah. Er hatte keine guten Tage, aber seine Hoffnung
-stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört,
-auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren
-Hand er vor dem bitteren Gang in die Schande gehalten
-und geküßt hatte. Und indem er unwillkürlich jenes Tages
-vor seiner Schicksalsreise gedachte, da er noch aus dem
-Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und Mißmut
-hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln
-über sein mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm
-das halbzufriedene Damals keineswegs besser und wünschenswerter
-als das hoffnungsvolle Heute.</p>
-
-<p class="center p2">
-Ende<br />
-</p>
-
-
-
-<div class="chap p4">
-<p class="center xlarge gesperrt">Werke von Hermann Hesse</p>
-</div>
-
-<p class="center p2 xlarge gesperrt">Peter Camenzind</p>
-
-<p class="center">Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark.</p>
-
-<p>Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der
-Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn
-du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch
-blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die
-Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre,
-bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen
-liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von
-den Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu
-erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder
-heimkehren in die Stadtwirrnis.</p>
-
-<p class="right">
-(Die Woche)<br />
-</p>
-
-
-<p class="center p2 xlarge gesperrt">Unterm Rad</p>
-
-<p class="center">Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p>
-
-<p>Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der
-Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad
-kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher
-leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner
-Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen
-sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.</p>
-
-<p class="right">
-(Münchener Zeitung)<br />
-</p>
-
-<p>Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als
-der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine
-Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem,
-heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei &ndash; ein klares
-Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.</p>
-
-<p class="right">
-(Münchener Neueste Nachrichten)<br />
-</p>
-
-
-<p class="center p2 xlarge gesperrt">Diesseits</p>
-
-<p class="center">Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p>
-
-<p>Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen,
-schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit
-weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden
-Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann
-Hesses neuen Novellenband »Diesseits« lesen.</p>
-
-<p class="right">
-(Neue Zürcher Zeitung)<br />
-</p>
-
-<p>Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es
-ist ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das
-man ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt,
-still, ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein
-so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse
-bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.</p>
-
-<p class="right">
-(Münchener Zeitung)<br />
-</p>
-
-
-<p class="center p2 xlarge gesperrt">Nachbarn</p>
-
-<p class="center">Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.</p>
-
-<p>Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf Erzählungen
-des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt
-erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne
-Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten
-erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, und die den
-Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank,
-daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.</p>
-
-<p class="right">
-(Württemberger Zeitung, Stuttgart)<br />
-</p>
-
-<p>Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum
-fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend.
-Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben.</p>
-
-<p class="right">
-(Vossische Zeitung, Berlin)<br />
-</p>
-
-
-<p class="center p2 small">Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.</p>
-
-
-<div class="tnote p2">
-<p>Anmerkungen zur Transkription:</p>
-
-<p>In "er war in dem großen Atelier heftig hin
-und wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit
-nervösen Händen gedreht und sich alsbald, wie es seine
-unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes Gehäuse eingesponnen,
-das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem
-Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich,
-unter welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts
-bestand als dem rasenden Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten "bestand".</p>
-
-<p>In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine
-gewisse Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie,
-die er noch von manchen anderen Verkündern in anderen
-Tönungen zu hören bekam, und er hätte ein Riese sein
-müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse
-ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke
-gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt "Welt"</p>
-
-<p>In "Denn er
-sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse,
-von der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt
-wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck
-zu machen, Macht zu üben und über Unverständige
-Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt "entfernt".</p>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Umwege, by Hermann Hesse
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UMWEGE ***
-
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