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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59222 ***
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+ Schwedenklees Erlebnis
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+ von
+ Bernhard Kellermann
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+ 1923
+ S. Fischer / Verlag / Berlin
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+ Erste bis zehnte Auflage
+ Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
+ Copyright 1923 by S. Fischer, Verlag A.-G., Berlin
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+ Schwedenklees Erlebnis
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+ 1
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+Es gibt Menschen, die vom Glück geradezu verfolgt werden. Sie wachsen in
+angenehmen Verhältnissen auf, behütet von Eltern und Verwandten, ihre
+Gesundheit ist vorzüglich, sie sind begabt genug, um ohne besondere
+Anstrengungen und Qualen ihre Erziehung zu beenden. Sie haben gerade
+soviel Leidenschaftlichkeit, als dazu gehört, das Leben zu genießen,
+allen wirklichen Konflikten aber weichen sie instinktiv aus -- oder
+weichen die Konflikte vor ihnen zurück? Was immer sie anpacken, gelingt,
+sie kommen nach Monte Carlo und setzen auf eine ganz unmögliche Nummer,
+schon schiebt ihnen der Croupier zur Verblüffung der ergrauten
+Serienspieler einen Haufen Banknoten zu. Aber sie, diese vom Schicksal
+Verwöhnten, finden das vollkommen in Ordnung, so sehr sind sie an die
+Ovationen des Glücks gewöhnt. Es kann vorkommen, daß solch ein
+Umschmeichelter einmal aufs Trockene gerät, schon wird ihm der Atem
+etwas kurz -- aber da stirbt im rechten Augenblick irgendein Verwandter,
+den man völlig vergessen hatte ...
+
+Wie fangen diese Auserwählten es an, daß das Glück ihnen wie ihr
+Schatten folgt? Tragen sie einen Talisman auf der Brust? Vielleicht die
+Konstellation der Gestirne --?
+
+Wie kommt es, das ist die Antwort, daß ein Vogel als Papagei am
+Amazonenstrom zur Welt kommt, dem Paradies der Vögel, in einer Luft,
+schwirrend von Insekten, warm selbst in den kalten Jahreszeiten -- und
+ein anderer Vogel wird als Sperling in einer Dachrinne Berlins oder
+Londons geboren, wo jeder Tag ein Problem ist und jeder Winter ein Kampf
+auf Leben und Tod?
+
+ * * * * *
+
+Zu jener Klasse von Umschmeichelten gehörte ohne Zweifel der Architekt
+Philipp Schwedenklee. Schwedenklee war wohlhabend, ohne gerade ein
+Rothschild zu sein. Er konnte es sich jedenfalls, zum Beispiel, leisten,
+einer jungen Dame ein Paar der elegantesten Lackschuhe zu schenken, nur
+dafür, daß sie einen Abend mit ihm bei einer Flasche Wein verplauderte.
+Er besaß ein schönes Wohnhaus im alten Westen von Berlin, daneben einige
+große Bauplätze am Kurfürstendamm, auf denen seit Jahren Scharen von
+Möbelwagen standen. Diese Bauplätze verzinsten sich mit nur drei
+Prozent, aber ihr Wert hatte sich im Laufe der Jahre verdreißigfacht.
+Daneben besaß er ein Landgut in Mecklenburg -- aber Schwedenklee
+kümmerte sich wenig um seine Reichtümer. Sie schimmerten beruhigend im
+Hintergrund seines Bewußtseins, genug.
+
+Schwedenklee hatte sein Vermögen von seinem Vater geerbt. Der alte
+Schwedenklee hatte schon mit fünfzehn Jahren im Schweiße seines
+Angesichts die Maurerkelle geschwungen, zehn Stunden täglich. Mit
+fünfunddreißig heiratete er eine reiche Gastwirtstochter und wurde
+Bauunternehmer, und im Alter von fünfundvierzig hatte er bereits einen
+ganzen Straßenzug einer Provinzstadt in der Mark aufgebaut. Mit fünfzig
+kam er nach Berlin, und damals erwarb er das schöne Wohnhaus im alten
+Westen, etwas später, spottbillig, die Bauplätze, deren Wert sich
+seitdem verdreißigfacht hatte.
+
+Die Begabung des alten Schwedenklee, aus Mauerflächen, Fenstern und
+Türen ein Haus zusammenzustellen -- so sahen seine Bauten aus --, war
+verfeinert in das Blut des Sohnes übergegangen. Philipp Schwedenklee
+wurde Architekt. Er war über den Durchschnitt begabt, in der Sauberkeit
+und Reinheit seiner Zeichnungen übertraf er alle seine Kameraden. Er
+hatte auch kaum seine Studien beendet, als er sich schon auszeichnete.
+
+Eines Tages nämlich veröffentlichte die kleine Stadt in der Mark, die
+der alte Schwedenklee zum Teil aufgebaut hatte, ein Preisausschreiben:
+Eine alte Apotheke sollte in ein kleines Provinzmuseum umgebaut werden.
+Der alte Schwedenklee machte seinen Sohn auf den Wettbewerb aufmerksam.
+Und siehe da, schon hatte Philipp Schwedenklee -- unter vierzig
+Bewerbern! -- das Preisausschreiben gewonnen. Nun aber zögerte der alte
+Schwedenklee nicht länger. Er übertrug seinem Sohn die Aufgabe, ihm die
+Pläne für eine Villa in Schmargendorf, wo er seine Tage zu beschließen
+gedachte, zu entwerfen. Die Villa war im Rohbau kaum fertig, als ein
+Nachbar, ein Ofenfabrikant, den jungen Schwedenklee ebenfalls mit dem
+Entwurf einer Villa beauftragte. Dann kam ein Gastwirt, bei dem der alte
+Schwedenklee zweimal in der Woche Kegel spielte. Dieser Gastwirt wollte
+sich vergrößern und wünschte die Entwürfe zu einem Tanzlokal, in einem
+ganz besonderen, heiteren Stil, mit chinesischen Anklängen. Philipp
+Schwedenklee aber lehnte diesen Auftrag ohne Umstände ab! Er wollte sich
+nicht verzetteln, denn, bei Gott, er hatte höhere Pläne, als Tanzlokale
+mit chinesischen Anklängen zu entwerfen. Der alte Schwedenklee stimmte
+ihm bei. Philipp reiste zur weiteren Ausbildung nach Italien, und von
+Italien nach Paris. Einige Jahre blieb er im Ausland. Er gab viel Geld
+aus, man hörte wenig von ihm. Einmal wurde erzählt, daß er in Paris wie
+ein wahrer Zigeuner lebe, daß er in sozialistischen, ja sogar
+anarchistischen Kreisen verkehre. Aber das war offenbar eine
+Verleumdung, denn er kehrte aus Paris sehr elegant und als
+ausgezeichneter Billardspieler zurück.
+
+Philipp Schwedenklee nahm sofort fieberhaft den Umbau der
+Parterrewohnung in dem alten Haus im Westen in Angriff. Wände, Türen und
+Fenster riß er heraus, zuletzt stand nichts mehr auf dem alten Fleck.
+Ja, er wollte Berlin, dieser Kapitale des Kitsches, zeigen, was
+Architektur war! Umbau und Einrichtung dauerten über zwei Jahre: nun
+aber war jeder Raum, jedes Möbelstück genau nach seinem Geschmack!
+Führende Zeitschriften veröffentlichten Photographien von Schwedenklees
+Wohnung. Zusammen mit einem befreundeten Architekten baute er dann ein
+Riesenhaus am Kurfürstendamm, ein Palais mit Marmortreppen und
+Marmorsäulen, das großes Aufsehen erregte. Beinahe wäre das Unternehmen
+eine finanzielle Katastrophe geworden, aber nur beinahe! Die
+Kinematographie war eigens zu dem Zwecke erfunden worden, um
+Schwedenklee vor dem Ruin zu bewahren. Sein Palast wurde in ein Kino
+umgebaut und er verdiente Unsummen.
+
+Schwedenklee wurde später in den Zeitungen noch als der Erbauer eines
+Elektrizitätswerkes voller Achtung genannt, er baute eine Reihe von
+Bureauhäusern und Villen. Dann hörte man nichts mehr von ihm. Seine
+Laufbahn als Architekt, die so verheißungsvoll begonnen, schien zu Ende
+zu sein.
+
+Er hatte sich in seine Parterrewohnung zurückgezogen und arbeitete, wie
+verlautete, an einem Werke über Städtebau. Es hieß, daß er Berlin von
+Grund auf umbauen wolle! Dieses ganze Berlin war völlig falsch angelegt!
+Er verschob Straßenzüge, ganze Stadtviertel. Sollte jemals aus Berlin
+etwas werden, so mußte man seinen Schwerpunkt an die Flußläufe verlegen!
+Der Reiz anderer Großstädte -- Paris, London, Neuyork -- bestand darin,
+daß sie von den Flußläufen aus sich entwickelt hatten. Berlin hatte
+unglücklicherweise seinen Aufschwung in einer Zeit genommen, da die
+Frachten der Bahnen kaum höher waren als jene der wenig entwickelten
+Flußschiffahrt. Es hatte sich in die Sandwüste des Westens
+hinausgeschoben und das landschaftlich schönste Gelände untergeordneten
+Vororten überlassen. Nun er, Schwedenklee, würde jedenfalls versuchen zu
+retten, was zu retten war. Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er dem
+Wirrwarr der Berliner Verkehrsverhältnisse. Auch in dieser Hinsicht
+würde er eine Lösung finden.
+
+Jahrelang beschäftigten Schwedenklee diese Probleme. Er tat
+geheimnisvoll -- eines Tages würde er Berlin mit seinem Werke
+überraschen! Zuweilen schlug er sogar einen etwas überheblichen Ton an.
+
+Der alte Schwedenklee jedenfalls erlebte die Veröffentlichung des Werkes
+nicht mehr.
+
+
+
+
+ 2
+
+
+Schwedenklee pflegte spät aufzustehen, da er häufig, wie er dem Mädchen
+sagte, bis »zum frühen Morgen« arbeitete. Gegen zehn Uhr, wunderbar
+ausgeschlafen, ausgehöhlt vom Hunger, frühstückte er mit Genuß: Kaffee,
+Weißbrot, Honig, Butter, Schinken, Eier, abwechselnd gekocht und
+gebraten. Nach dem Frühstück zog er sich in die geheiligten Räume,
+Bibliothek und Arbeitszimmer, zurück, wo ihn niemand stören durfte. Hier
+legte er sich noch etwas auf die Ottomane und las ausführlich die
+Zeitungen -- er war sogar auf die Frankfurter Zeitung abonniert, die
+dreimal täglich erscheint. Er arbeitete an seinen Zeichnungen,
+telephonierte, sah nach dem Wetter, schrieb einen Brief -- schon war es
+zwölf Uhr geworden. Schwedenklee ging spazieren, um »das Leben zu
+betrachten«.
+
+Ohne jeden Tadel, fast etwas auffallend elegant gekleidet, das zart
+gepuderte runde Kinn in den Pelzkragen gedrückt, in Schuhen der letzten
+Mode, schwang er sich dahin, mit der Miene eines Menschen, der sich
+seines Wertes wohl bewußt ist. Zuweilen erschien er auch -- ohne jeden
+Anlaß -- im glänzenden Zylinder. Sein rascher, etwas kecker Blick
+streift Mädchen und Frauen, während ein zufriedenes Lächeln seine vollen
+Lippen umspielt. Er beobachtet sich, wie er, etwas voll, durch den
+schwarzen Glanz der Spiegelscheiben schreitet -- sein Pelzkragen, seine
+koketten Schuhe. Voller Genuß zieht er die Luft in die breite Brust.
+Eine anziehende junge Dame geht an ihm vorüber und Schwedenklee folgt
+ihr eine Weile in angemessener Entfernung, voller List, um sich keine
+Blöße zu geben. Einen Augenblick später sieht man ihn in einem
+Antiquitätengeschäft, eine kleine blaue Vase in den Händen.
+
+Um zwei Uhr aß er zu Mittag. Er hatte das Glück gehabt, eine
+ausgezeichnete Köchin zu finden, ein Wunder von einer Kochkünstlerin:
+Augusta, die sein Hauswesen führte. Sie hatte nur den einen Fehler, daß
+sie zuweilen Weinkrämpfe bekam, die Küchendünste und das Stehen vor dem
+Herde hatten ihre Nerven ruiniert. Und er, Schwedenklee, der nichts so
+sehr haßte als Tränen! Aber schließlich ging es immer wieder vorüber.
+Vollkommen war ja nichts auf dieser Welt.
+
+Schwedenklee liebte es, gut zu essen, und er machte gar kein Hehl
+daraus. Er hatte einen ausgezeichneten Appetit und einen noch besseren
+Magen. Sein Magen -- lieber Himmel, was für einen Magen hatte
+Schwedenklee! Diese Veranlagung verdankte er seiner Mutter, Tochter
+eines Provinzwirts. Er konnte essen, so oft und so viel er wollte. Er
+konnte, für gewöhnlich war er mäßig, auch trinken, so viel es sein
+mußte. Wenn andere schon lallten, begann Schwedenklee erst zu tanzen!
+Diese Veranlagung verdankte er dem alten Schwedenklee, der Tag für Tag
+schon von sechs Uhr morgens an mit allen denkbaren Getränken den Kampf
+gegen den Baustaub aufgenommen hatte. Schwedenklee, es muß ausdrücklich
+betont werden, stammte nicht von wohlhabenden Eltern ab, die das
+Wohlleben schon verweichlicht hat, die ihren Kindern mit ihrem Gelde
+degenerierte Organe hinterlassen, o nein, er wuchs mit beiden Füßen
+direkt aus der Scholle. Seine Gesundheit war ausgezeichnet.
+
+Nach Tisch schlief Schwedenklee bis vier Uhr, dann schlürfte er den Tee,
+während er sich über seine Zeichnungen beugte oder die Abendzeitungen
+las. Zuweilen spielte er auch in der Dämmerstunde Geige. In den letzten
+Jahren allerdings seltener. Schwedenklee war ein ganz ausgezeichneter
+Dilettant! Seine Eltern, vernarrt in den Knaben, hatten keine Ausgabe
+für seine Erziehung gescheut. Zwei Jahre lang hatte Schwedenklee jeden
+Mittwoch und Sonnabend mit einigen Musikschülern, die er sehr gut
+bezahlte, Quartett gespielt. Die Musik erschien ihm damals als das
+Herrlichste auf der Welt, herrlicher noch als die Frauen! In dieser Zeit
+hatte er sich sogar mit dem Gedanken beschäftigt, Geiger zu werden. Er
+vernachlässigte seine Projekte vollkommen -- wie nebensächlich
+erschienen sie ihm doch! -- und übte täglich mehrere Stunden. Er
+träumte, ganz im geheimen, davon, wie er im Konzertsaal erscheinen
+würde, umbrandet vom Beifall. Die Damen steigen auf die Stühle und
+schwingen die Taschentücher: Schwedenklee, Schwedenklee! Oft gab er sich
+diesen Ausschweifungen hin.
+
+Indessen, die Quartettabende fielen schließlich ganz aus, die Geige
+ruhte in ihrem Kasten, nur zuweilen -- wie gesagt -- nahm er sie noch
+heraus, nicht ohne Sehnsucht, Inbrunst, Reue ...
+
+Um sieben Uhr ging Schwedenklee wieder etwas an die frische Luft, um
+»das Leben zu betrachten«, um acht Uhr aß er zu Abend, mit Genuß und
+Appetit. Dann wusch er sich, polierte die Nägel und erschien heiter und
+strotzend von guter Laune in seinem Stammcafé in der Potsdamer Straße.
+
+In den früheren Jahren noch hatte er häufig Theater und Konzerte
+besucht, in der letzten Zeit aber verbrachte er die Abende fast
+ausschließlich im Café.
+
+Acht Jahre verkehrte er in diesem Café. Nach drei Jahren gab ihm der
+Oberkellner den Titel »Herr Baurat«. Nach fünf Jahren »Herr Oberbaurat«.
+Jedermann nannte ihn so, die Kellner, die Gäste. Also selbst seinen
+Titel hatte Schwedenklee ohne Mühe erworben! Wie lange Jahre sitzt
+mancher Beamte in einer Behörde, bis er einen solch herrlichen Titel wie
+»Oberbaurat« erhält? Schwedenklee erhielt ihn vom Oberkellner eines
+Cafés in der Potsdamer Straße, und er war genau so gut, als ob ihn ein
+Ministerium verliehen hätte.
+
+Schwedenklee war heute fünfundvierzig Jahre alt. Die Anstrengungen
+seines Berufes hatten ihn fast sämtliche Haare gekostet -- nur im
+Nacken, der sich feist über den weißen Kragen schob, stand noch ein
+dünner fahlblonder Saum. Die Pflege, die er genoß, hatte ihm eine
+gewisse vornehme Wohlbeleibtheit verliehen. Seine Wangen waren rund und
+leuchtend rot wie die eines Prälaten. Das Kinn fett und glänzend. Was er
+tief beklagte, war, daß sich sein Bauch nur noch schlecht in der elegant
+geschnittenen Kleidung verbergen ließ. Mit bekümmerten Blicken
+beobachtete er sich oft im Spiegel.
+
+Übrigens, sonderbar: Schwedenklees Augen -- einst förmliche Lampen --
+schienen von Jahr zu Jahr kleiner zu werden. Wie war es nur möglich?
+Seit einiger Zeit sah er auch schlechter. Er war genötigt, beim Lesen
+eine Hornbrille zu tragen.
+
+
+
+
+ 3
+
+
+In den letzten Wochen allerdings war Schwedenklee, der immer Heitere,
+Strahlende, der Sieghafte, vom Glück Umschmeichelte, verändert. Er war
+zerstreut, nachdenklich. Nur noch selten waren seine lauten Lachsalven,
+die jedermann mit fortrissen, zu hören. Sprach man ihn unvermutet an, so
+öffnete er erschrocken und hilflos den Mund, oft gab er überhaupt keine
+Antwort. Allen Stammgästen des Cafés fiel die Veränderung auf.
+
+»Der Herr Oberbaurat scheinen in der letzten Zeit nicht ganz wohl«,
+sagte der von schlaflosen Nächten bleiche Oberkellner, ein alter Wiener.
+Also selbst ihm fiel die Veränderung auf!
+
+»Etwas abgearbeitet.« Schwedenklee runzelte die Stirn.
+
+»Ich habe gelesen, der Herr Oberbaurat haben einen Vortrag im
+Architektenhaus gehalten.«
+
+Schwedenklee seufzte.
+
+»Nichts als Plackereien, die nichts einbringen.«
+
+Ja, so hatte man zu tun. Schwedenklee hatte über »Moderne
+Bahnhofsarchitektur« gesprochen -- ein ganzer Winter Arbeit!
+
+Schwedenklees Stammcafé war scheinbar ein Café wie jedes andere. Ein
+altes Berliner Café mit Gold und Stuck, verräuchert, die Plüschsofas
+zusammengesessen, die Kellner in befleckten Fräcken und ausgetretenen
+Schuhen. Unten saß das gewöhnliche Publikum, Familien, Liebespaare,
+einsame Zeitungsleser. Eine vergoldete Treppe mit Plüschgeländer führte
+zu dem großen Billardsaal empor, wo sechs Billards standen, und erst
+wenn man den Billardsaal durchquert hatte, gelangte man in das
+Allerheiligste: das Spielzimmer! Hier waren von fünf Uhr nachmittags an
+bis zum grauenden Morgen einige Spieltische, umgeben von Kiebitzen, im
+Gange, und hier kannte ein Gast den andern. Ärzte, Rechtsanwälte,
+Kaufleute, ein Bassist von der Oper, ein bekannter Pianist und einige
+junge Herren, die keinen ausgesprochenen Beruf zu haben schienen. Die
+Karten wurden gemischt, die Zigarren qualmten, die Kellner flogen mit
+Kaffeegeschirr und Biergläsern hin und her. Einzelne der Stammgäste
+kamen hierher schon um fünf Uhr und blieben bis drei Uhr nachts. Andere
+kamen nach dem Essen, wie Schwedenklee, nach Schluß der Theater und
+Konzerte kam noch ein Trüppchen Nachzügler. Es wurde in Schichten
+gearbeitet, fieberhaft und ohne jede Pause.
+
+Die Billardbälle knallten nebenan im Saal. Zuweilen verirrte sich sogar
+eine Dame mit ihrem Freund in den Billardsaal und einer der Spieler
+machte es bekannt.
+
+»Haben Sie die hübsche Person im Billardsaal gesehen?«
+
+Der eine oder der andere der Kartenspieler warf einen Blick durch die
+Tür, während die Karten neu gegeben wurden, oder er machte sogar rasch
+einen Gang durch den Saal, wenn es sich lohnte. »Eine verteufelt hübsche
+Person, und Augen hat sie!«
+
+Aber es geschah nur sehr selten, daß eine Dame sich zu den Billards
+hinan verirrte. Sonst gab es im Spielzimmer keinerlei Ereignisse. Das
+Spielzimmer ignorierte Berlin und die große Welt, wie Berlin und die
+große Welt das Spielzimmer ignorierten. Nur flüchtig wurden besondere
+Ereignisse gestreift: ein Krieg irgendwo, ein Sensationsprozeß, ein
+Schneesturm, eine Stockung der elektrischen Bahnen -- blitzschnell
+flogen die Karten über die grünbespannten fleckigen Tische.
+
+Es gab sogar Stammgäste, die noch länger als Schwedenklee im Café
+verkehrten. Ein Rechtsanwalt war zwölf Jahre lang Stammgast, und der
+Bassist kam schon seit fünfzehn Jahren hierher. In den Sommermonaten
+zerflatterten die Gäste auf einige Wochen, aber es blieb doch immer ein
+Spieltisch wenigstens im Gange.
+
+So also sah Schwedenklees Heim aus, wo er seine Abende verbrachte,
+anstatt Museen, Bahnhöfe und Kaufhäuser zu entwerfen, wie er es früher
+plante.
+
+Schwedenklee spielte vorzüglich Karten! Er war als Gegner gefürchtet,
+als Partner gesucht. Er war frisch und gut ausgeruht, natürlich, während
+zum Beispiel die Rechtsanwälte und Ärzte, die schon seit acht Uhr
+morgens in den Gerichtssälen und Kliniken arbeiteten, manchmal vor
+Müdigkeit einschliefen, wenn die Karten gemischt wurden.
+
+Zuweilen war man der Karten überdrüssig. Man machte ein Spiel auf dem
+großen Matchbillard, und der Kellner mußte das sorgfältig
+eingeschlossene Privatqueue Schwedenklees aus dem Schrank holen. Dann
+und wann auch spielte Schwedenklee mit dem Bassisten eine Partie Schach.
+
+Gegen drei Uhr, vier Uhr morgens leerte sich das Spielzimmer, die
+letzten Kiebitze verließen den Kartentisch, und schließlich riefen auch
+die leidenschaftlichsten Spieler, dem Erschöpftsein nahe, nach dem
+Zahlkellner.
+
+Schwedenklee blieb selten länger als bis zwei Uhr. Nur während einer
+ganz kurzen Periode hatte der Spielteufel so heftig von ihm Besitz
+ergriffen, daß er jede Nacht hindurch bis sechs Uhr morgens Bakkarat
+spielte. Doch das war schon einige Jahre her, und nicht er allein war
+schwach geworden, die sämtlichen Spieler hatte plötzlich eine Art
+Besessenheit befallen.
+
+Um zwei ging Schwedenklee nach Hause, um tief und ohne Pause zu
+schlafen, ganz allein in einem großen zweischläfrigen Bett mit einem
+hellgrünen Seidenhimmel.
+
+Schwedenklee war Junggeselle, natürlich. Über Frauen und Ehe hatte er
+seine ganz besonderen Ansichten!
+
+Ein einziges Mal hatte er den Kopf so weit in der Schlinge, daß er das
+Schlimmste befürchtete! Es war die »furchtbarste Zeit seines Lebens«,
+wie er sagte. Er hatte sich mit einer hübschen Base eingelassen, nettes
+Gesichtchen, plapperte erfrischend, und die Sache war gerade deshalb so
+verzweifelt, weil die ganze Verwandtschaft, die er jahrelang völlig
+ignoriert hatte, dabei im Spiele war. Schwedenklee verlor den Appetit
+und verbrachte die Nächte ohne Schlaf. Er entwarf hundert
+Abschiedsbriefe, ohne den Mut zu haben, die Base zu verabschieden. Es
+war ja ganz unmöglich, ein so entzückendes Geschöpf bloßzustellen. Das
+Wunderbare ereignete sich in dieser Periode: Schwedenklee hielt der
+Braut die Treue, so schwer es ihm auch zuweilen wurde! »Eine herrliche
+Sache ist die Treue,« pflegte er in dieser Zeit zu sagen, »aber sie
+kostet Nerven, mein Freund!« Eines Tages aber übersandte das entzückende
+Geschöpf ihm einen Abschiedsbrief! Voller Zerknirschung und Tränen: sie
+hatte sich auf einer Bahnfahrt in einen Offizier verliebt.
+
+Gott sei gelobt! Glück zu, Schwedenklee!
+
+Ja, in der Tat, es war eine furchtbare Zeit!
+
+Schwedenklee schlief prachtvoll unter seinem hellgrünen Seidenhimmel,
+obschon neben ihm noch recht gut Platz gewesen wäre.
+
+ * * * * *
+
+Wie gesagt, aber in den letzten Tagen gefiel Schwedenklee den
+Kartenspielern nicht mehr! Wer sollte sich sonst um ihn kümmern, wenn
+nicht sie? Etwa Augusta? Nein, Augusta wich ihm aus, floh ihn direkt,
+wenn sie merkte, daß er in schlechter Laune war, mit Rücksicht auf ihre
+zerstörten Nerven. Augusta hatte nur beobachtet, daß eines Tages ein
+Brief mit einem schwarzen Trauerrand angekommen war, und Schwedenklee
+die Augen rollte. Die Kartenspieler aber, sie kannten ja jeden Zug in
+seinem feisten, leuchtenden Gesicht. Und wenn ein gewiegter Spieler wie
+Schwedenklee ein »angesagtes« Solo verlor, soviele Buben, soviele Asse,
+Könige, Damen, eine Farbe blank -- was sollte man dann sagen? Wie? Ja,
+nun war es offenbar, nicht mehr wegzuleugnen: etwas war bei Schwedenklee
+nicht in Ordnung!
+
+Es entstand eine solch furchtbare Aufregung, daß man eine Runde
+aussetzte und die Kellner aus dem Billardsaal zusammenliefen.
+
+Schwedenklee war sogar erbleicht, als das Solo so katastrophal
+zusammenbrach! In all den Jahren hatte niemand beobachtet, daß
+Schwedenklee erbleichte. Heute aber, in der Tat, war das Blut aus seinen
+roten Wangen gewichen, und seine Nasenspitze war für eine Sekunde
+schneeweiß geworden.
+
+Es nützte Schwedenklee nichts, daß er seine bekannte Lachsalve losließ.
+Die Ärzte, die Notare blickten prüfend und argwöhnisch in sein Gesicht.
+
+Schwedenklee hatte trotz der geheuchelten Heiterkeit immer noch einen
+verwirrten Gesichtsausdruck. Sein Blick war flackernd, nicht unbekümmert
+und etwas keck wie gewöhnlich. Nun errötete er sogar. Er tat, als schäme
+er sich, ein mit solch triumphierendem Lächeln angesagtes Solo verloren
+zu haben.
+
+Die Erregung verflog. Die Kiebitze, die aufgesprungen waren, saßen
+wieder ruhig auf ihren Stühlen, der Wollust hingegeben, die Chancen des
+Spielers besser zu kennen als die einzelnen Spieler, die große
+Überraschung, die jede Sekunde offenbar werden mußte, schon lange vorher
+genießend. Hinter Schwedenklees breitem Rücken verschanzt saßen drei
+Kiebitze dicht nebeneinandergedrängt. Schwedenklees Spiel interessierte
+heute abend am meisten. Er erhielt eine große Karte nach der andern, er
+spielte nunmehr konzentriert, führte jedes Spiel in großem Stil durch
+und gewann. Er wurde rot, sooft er die Karte aufnahm: so wie heute hatte
+ihn das Glück noch nie umschmeichelt. Den Kiebitzen aber fiel es auf,
+daß er gepreßt atmete, sooft er ein großes Spiel gewonnen hatte.
+
+Plötzlich aber -- mitten in der Glücksserie! -- zog er die Uhr und erhob
+sich ohne alle Umstände, zum Erstaunen der Spieler, zur Enttäuschung der
+erregten Kiebitze. Er entschuldigte sich hastig mit dringlichen
+Arbeiten. Sofort sprang ein anderer Spieler, der schon eine Stunde
+lauerte, für ihn ein. Der Pikkolo lief mit seinem Überzieher herbei.
+
+Begleitet von einem der Kiebitze, dem bekannten Nervenarzt Wittmann,
+einer Kapazität, durchschritt Schwedenklee, in Gedanken versunken, das
+Billardzimmer. Und er erbleichte tatsächlich an diesem Abend zum
+zweitenmal! Es war heute wirklich alles wie verhext, es gibt solche
+Tage. Auf dem Mittagsspaziergang hatte er jene ganz in sich
+zusammengekrümmte Bettlerin auf der Potsdamer Brücke getroffen, die wie
+eine Verkünderin von Unheil an jenen Tagen auftauchte, da irgend etwas
+Unangenehmes sich ereignen würde. Nun dieses Gesicht! Es saß gegenüber
+der Tür des Spielzimmers im Billardsaal an einem kleinen
+Marmortischchen. Das Gesicht eines zermürbten, alternden, grauhaarigen
+Künstlers, eines völlig Hoffnungslosen, eines Bittstellers, fahl, mit
+dunkeln, fiebernden Augen, und diese Augen streiften seinen Blick scheu
+und tastend. Vielleicht hatte dieser Hoffnungslose, Hungrige voller Neid
+beobachtet, wie Schwedenklee seinen Kartengewinn in die Tasche steckte?
+Jedenfalls gehörte dieses Antlitz voller Gram und Elend zur Klasse jener
+Gesichter, die Schwedenklee fürchtete, denen er aus dem Wege ging. Sie
+verdarben ihm die gute Laune und riefen in ihm augenblicklich die
+tausend Unannehmlichkeiten wach, große und kleine, die ihm das Leben
+getrübt hatten.
+
+»Sie sind nervös, Schwedenklee«, sagte der berühmte Nervenarzt, die
+Kapazität, mit einem mahnenden Blick hinter dem schiefsitzenden Kneifer.
+»Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun. Die ganzen Tage fiel mir schon
+Ihr Wesen auf. Ich möchte fast vermuten, daß irgend etwas
+Außergewöhnliches -- ich will nicht aufdringlich erscheinen ...«
+
+Schwedenklee schlug den Pelzkragen hoch, um sein Frösteln -- dieser
+Nervenarzt! -- zu verbergen. Dann reckte er sich ein wenig und lachte
+laut heraus, während er stehen blieb. »Was soll ich haben?« rief er
+etwas zu laut. »Bedenken Sie, schon morgens um sieben Uhr kommt ein
+falscher telephonischer Anruf. Ich hatte nachts gearbeitet und nur
+wenige Stunden geschlafen. Dann kommen allein am Vormittag drei
+unangenehme Besuche. Es ist ein Wahnsinn, in dieser Stadt zu leben!«
+
+»Ja, dieses Berlin ist eine Hölle!«
+
+»Eine völlig sinnlose Hölle -- eine Hölle ohne jeden Scharm. Bedenken
+Sie dagegen, zum Beispiel, Paris, eine Hölle mit Reizen ...«
+
+»Mit fürchterlichen Reizen, Schwedenklee! Vielleicht ist Swedenborgs
+Ansicht berechtigt, daß diese Erde überhaupt nichts anderes ist als eine
+Art Fegefeuer, eine Vorhölle ...?«
+
+»Swedenborg?«
+
+»Ja, Swedenborg.«
+
+Schwedenklee gestand nicht ein, daß er diesen Namen heute zum erstenmal
+hörte.
+
+»Oft scheint es mir, als ob diese Großstädte Exponenten der
+Swedenborgschen Hölle seien: riesenhafte Kloaken, in die Tag und Nacht,
+ohne Unterbrechung, der Schmutz rinnt, Bordelle, Mördergruben,
+infernalische Verneinungen des göttlichen Gedankens!«
+
+Der kleine Arzt fröstelte.
+
+»Ja, in der Tat, vielleicht leben wir mitten in der Hölle, ohne es zu
+wissen! Vielleicht sind all unsere Freunde, die jetzt da droben Karten
+spielen, nichts als Teufel, Gespenster, Verdammte, Verfluchte ...«
+Bleich und erschöpft von der Stubenluft blinzelte der berühmte
+Nervenarzt in Schwedenklees rotes Gesicht.
+
+Plötzlich lächelte Schwedenklee und streckte dem Arzt die Hand hin.
+»Hölle hin, Hölle her!« rief er mit einem sieghaften Lächeln. »Das Leben
+ist doch schön! Gute Nacht, Doktor!«
+
+»Trotzdem« -- der Arzt berührte wohlwollend Schwedenklees Ärmel --
+»sollten Sie sich etwas Ruhe gönnen. Gehen Sie doch in Ihre Villa an der
+Ostsee!«
+
+»Jetzt, im April? Sie ahnen nicht, Doktor, wie entsetzlich kalt es da
+oben ist. Übrigens regnet es immer. Nein, danke herzlich!«
+
+Schwedenklee stand und sah dem kleinen, unsicher gehenden Arzt, der
+Kapazität, betroffen nach. Welch eindringliche Ermahnungen! Und
+»Fegefeuer, Gespenster --«?
+
+»Ja,« sagte Schwedenklee, »vielleicht hat er sogar recht! Aber, was für
+eine Welt wäre das -- ein Betrug, nichts sonst! Und doch --?«
+
+In tiefes Nachdenken versunken ging er weiter. Es half nichts, daß er
+die vorübergehenden Frauen musterte, um sich zu zerstreuen. Ein Paar
+herrische, schöne Augen leuchteten aus der feuchten Dunkelheit der Bäume
+-- vergebens.
+
+Schwedenklee atmete die laue Luft ein, er blickte in das knospende Geäst
+der hohen Bäume empor, sah die Sterne durch das leichte, schillernde
+Gewölk am Himmel jagen -- aber seine Gedanken wurden düsterer und
+düsterer. Immer schwerer wurde die Last auf seinem Herzen.
+
+Endlich blieb er stehen und holte tief Atem.
+
+»Ja,« sagte er halblaut vor sich hin, »vielleicht sind wir in der Tat
+von Gespenstern umgeben und vielleicht ist es _wahr_, daß die Toten nach
+mir greifen!« Und er nickte ein paarmal schwer mit dem Kopfe.
+
+Wie? Schwedenklee?
+
+Wie ist es möglich, daß gerade er, Schwedenklee, der immer gut Gelaunte,
+Strahlende, der vom Glück Umschmeichelte, von der Melancholie übermannt
+wird?
+
+
+
+
+ 4
+
+
+Beruhigend brennt die grüne Schirmlampe auf dem riesigen
+Diplomatenschreibtisch. Besänftigend blicken all die vertrauten Dinge
+des Arbeitszimmers. Dort die Büste der Nubierin. Sie lächelt
+vertraulich, fast etwas verschämt.
+
+Schon scheint das Düstere nicht mehr so drohend.
+
+In weichen gefütterten Hausschuhen gleitet Schwedenklee über den
+Teppich, sein Blick wandert über die Decke. Schwedenklee schüttelt
+abwehrend den Kopf. »Es ist ja alles Unsinn!« sagt er zu sich. »Diese
+pathetische Phrase von den Toten -- und auch das mit dem kalten Hauch!«
+
+In der letzten Zeit war es ihm zuweilen gewesen, als ob ihm ein kalter
+Hauch ins Genick blase.
+
+»Alles Unsinn! Es sind deine Nerven, mein Freund! Wie kann ein Brief,
+ein unsinniger Brief -- ja, wie ist es nur möglich?«
+
+Schwedenklee bleibt stehen und mustert entschlossen den riesigen
+Diplomatenschreibtisch. Plötzlich steuert er mit zwei, drei großen
+Schritten auf den Schreibtisch zu und zieht, etwas asthmatisch atmend,
+die unterste Schublade heraus.
+
+Es ist das beste! Er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen,
+da es sich als unmöglich herausstellte, darüber hinwegzugleiten. Es war
+feige, keine Worte, _nicht nachzuforschen_! Nein, heute hatte es ihm bei
+den Karten keine Ruhe mehr gelassen ...
+
+Diese Schublade stellte er auf einen niedrigen Rauchtisch und
+betrachtete, schon wieder etwas mutlos, den Wust von Karten, Bildern,
+Briefen, Theaterzetteln. Sogar eine graue Seidenschleife befand sich
+darunter.
+
+Schwedenklee warf sich in einen Sessel und streckte die Hand nach einem
+der vergilbten Briefe aus. Aber schon erhob er sich wieder. Er entkorkte
+eine Flasche Bordeaux und zündete sich umständlich -- um Zeit zu
+gewinnen -- eine Zigarre an.
+
+Ja, nun war er bereit!
+
+»Eine von euch weilt also nicht mehr unter den Lebenden!« sagte er laut,
+um sich Mut zu machen, und blies heftig in die Zigarre. Eine leise, aber
+nicht quälende, ja fast angenehme Trauer überkam ihn. Ja, es ist
+sonderbar, er fühlte sich sogar als eine gewissermaßen wichtige
+Persönlichkeit, weil eine jener Frauen, die er geliebt hatte, schon ins
+Reich der Schatten entwichen war.
+
+»Und sie gedachte meiner noch in ihrer letzten Stunde!« Wieder schwebte
+Schwedenklee in den gefütterten Hausschuhen hin und her. Dann aber warf
+er sich in den Sessel und griff entschlossen mitten in die vergilbten
+Briefe hinein.
+
+Dieses graue Seidenband -- o, so deutlich erinnerte er sich -- vor
+Jahren schmückte es Lissis blonden lockeren Haarschopf. Und es fiel ihm
+ein: wie sie einmal unerwartet in sein Zimmer stürmte, es war im Winter,
+Schneegestöber. Ihr Pelz war dick mit Schnee bedeckt -- und so, wie sie
+war, im beschneiten Pelz, schloß er sie in die Arme. Noch heute fühlte
+er die stechende Kälte der einzelnen Schneekristalle ... Und hier ist
+eine Karte von Lissi, aus Oberhof, Lissi im Skikostüm.
+
+Nein, Lissi, die Heitere, war es gewiß nicht! Lissi kann nicht sterben!
+Sie saß jetzt irgendwo in Nizza oder Gardone in der Diele eines Hotels
+und blies lächelnd den Rauch der Zigarette in die Luft.
+
+Schwedenklee zog einen vergilbten Brief aus der Lade und begann ihn mit
+hochgezogenen Brauen zu lesen. Er erinnerte sich an diesen Brief nicht
+mehr! Wie? Er erinnerte sich auch nicht, jemals auf der Rennbahn in
+Karlshorst gewesen zu sein? Der Brief war signiert: M. Z.? Wer war M.
+Z.? Vorwürfe, Beteuerungen, Verdächtigungen, Küsse -- voller Interesse
+las er den Brief vom Anfang bis zum Ende.
+
+Aber wie merkwürdig -- und er erinnerte sich gar nicht mehr!
+
+Schwedenklee schlug die Schenkel behaglich übereinander und machte es
+sich im Sessel bequem: Diese Briefe, diese Erinnerungen waren weder so
+langweilig, noch so erschreckend, noch so unangenehm, wie er es
+befürchtet hatte.
+
+Wo mochte, zum Beispiel, jetzt diese Martha sein, die ihn Sonnabend ein
+Viertel vor acht im Foyer des Lessingtheaters erwartete? Sie hatte wohl
+einen kleinen Beamten geheiratet und schlief jetzt Seite an Seite mit
+ihrem Gatten. Breit und weich waren ihre Hüften, eine schneeweiße, etwas
+volle Büste hatte sie, und plötzlich erinnerte er sich an den Geruch
+ihres Körpers: süße, frischgemolkene Milch. Martha schwärmte fürs
+Theater, wöchentlich zweimal führte er sie aus. Dann soupierten sie
+irgendwo, um bei ihm noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Nie hatte er
+eine bescheidenere, sanftere Frau gekannt.
+
+»So geht das Leben dahin!« sagte Schwedenklee und legte die Karte zur
+Seite.
+
+Wer war Otti? Unmöglich, sich rasch an alles zu erinnern. Sie schrieb
+etwas von Halensee -- ja, o richtig, es war Otti mit der Matrosenbluse!
+Eine zierliche Stenotypistin, mit der er vor Jahren eine kleine Liebelei
+unterhielt. Otti liebte es, in zweitklassigen Lokalen zu tanzen und sich
+den frechen Blicken der Männer preiszugeben, die sie erregten. Sie war
+eitel auf ihre Beine, edle, rassige Beine, glatt und hart wie Elfenbein,
+und diese Beine stellte sie gern zur Schau. Auf Zurufe antwortete sie
+mit seltener Schlagfertigkeit, wobei sie das Stupsnäschen keck in die
+Luft warf. Unaufhörlich wanderten die Blicke ihrer großen blassen Augen,
+unausgesetzt auf der Suche nach neuen Abenteuern, neuen Erregungen.
+Sobald aber er auch nur einen Seitenblick wagte --! Verwirrend süß, die
+Ungerechtigkeit der Frauen!
+
+Ihre Lippen waren breit und weich, dachte Schwedenklee, und sie standen
+immer vor Erregung etwas offen. Ihre Brüste aber waren klein und spitz,
+die Knospen waren deutlich unter der Bluse zu erkennen und gerade darauf
+war Otti stolz.
+
+»Hoffentlich aber haben wir Ottis Abschiedsbrief noch!« Ja, er erinnerte
+sich jetzt plötzlich, daß sie ihm einen solch amüsanten Abschiedsbrief
+geschrieben hatte, seinerzeit, und er suchte ihn hastig in heiterster
+Laune.
+
+Er hatte damals, als er mit dem Kompagnon das Haus am Kurfürstendamm
+baute, das ihn beinahe ruiniert hätte, Otti in sein Bureau genommen. Ein
+unverzeihlicher Fehler! Otti erschien, wann es ihr behagte, saß rauchend
+bald auf diesem, bald auf jenem Zeichentisch, kokettierte mit dem
+Kompagnon, zeigte allen Besuchern ihre schönen Beine -- kurz und gut, er
+mußte, so leid es ihm tat, eines Tages ein offenes Wort mit ihr reden.
+Es gab eine schreckliche Szene, an die er sich jetzt voller Behagen
+erinnerte. Diese kleine Otti bebte vor Wut, und ehe er es sich versah,
+schlug sie ihm mit ihrer kleinen, festen Hand ins Gesicht. Ja,
+tatsächlich! Und dann schrieb sie ihm einen Brief, er entsann sich
+genau, einen äußerst drolligen Brief.
+
+Hier ist er!
+
+Laut auflachend las Schwedenklee diesen Brief.
+
+Ja, sie, Otti, wußte es schon vom ersten Tage an, daß sein Wesen im
+Grunde genommen ordinär war, obgleich er sich immer so aufspiele. Und
+wie geizig er doch sei: welche Vorwürfe -- ein Dutzend Seidenstrümpfe,
+zwei Paar Tanzschuhe, ein Sommerhut -- nein, nicht geizig, einfach
+schmutzig war er! Ja, sie, Otti, würde wohl nicht so verrückt sein und
+ihm die tausend Mark, die er ihr geliehen hatte, zurückzahlen, nein, für
+so wahnsinnig werde er sie gewiß nicht halten. »Was die Ohrfeige
+betrifft,« schloß Otti, »so wird es mir noch in meiner letzten Stunde
+eine Befriedigung sein, daß ich Dich in Dein hochmütiges, aufgeblasenes
+Gesicht geschlagen habe, auf das Du Dir so viel einbildest.«
+
+Noch in ihrer letzten Stunde! Schwedenklee lachte so laut, daß er husten
+mußte und seine rote Zunge herausfuhr. »Auf deine Gesundheit, Otti!«
+
+Schwedenklee hatte nie Mangel an Frauen gelitten. Er war wohl keine
+Schönheit, aber er war auch nicht häßlich, und wenn er lächelte -- seine
+Lippen waren voll und schön geschwungen --, so erhielt sein Gesicht
+sogar einen angenehmen Ausdruck. Er war elegant und er hatte stets Geld.
+Er besaß eine schöne, behagliche Wohnung und er war gesund. In der Tat,
+Schwedenklee konnte den Frauen etwas bieten. Schon als Student hatte er
+vor den Kameraden einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gehabt. Er
+verstand es ja ebenso gut wie sie, schöne Worte zu machen und
+schlagfertig zu antworten, aber es reichte bei ihm noch etwas weiter: zu
+einem kleinen Blumenstrauß, zu einer Einladung in eine Konditorei --
+siehst du!
+
+Schwedenklee wählte für gewöhnlich die Frauen aus der sozialen Schicht,
+die gerade etwas unter der seinen lag. Diese Frauen schienen ihm am
+umgänglichsten. Natürlich gab es auch Ausnahmen, und zuweilen mußte er
+alle seine Energie aufbieten, um sich nicht zu verlieren. Man denke an
+die Base!
+
+Nein, nein, Schwedenklee hatte geschworen, seine Freiheit nie
+aufzugeben! Man konnte als Junggeselle tun und lassen, was man wollte.
+Willst du ein Theater besuchen, so gehst du, ziehst du im letzten
+Augenblick doch das Café vor, nun so wendest du noch im Foyer um. Du
+willst ein paar Tage reisen, gut, du reisest, du wählst Reisetag und Zug
+ganz nach deinem Belieben. Einmal verheiratet, ist es mit aller Freiheit
+vorbei. Jeder deiner Schritte wird beobachtet, wann du dich niederlegst,
+wann du aufstehst, alles. Deine Frau erkrankt, das Kind hustet, schon
+telephonierst du erschrocken nach dem Arzt. Es könnte ein Unglück
+geschehen -- nein, daran wollte er gar nicht denken! Als er die Mutter
+verlor, war er ein leichtsinniger Student, der es nicht allzu schwer
+nahm -- als sein Vater starb, war er schon gereift genug, um sich zu
+beherrschen. Es war sein letzter wirklicher Schmerz. Nein, nein,
+Schwedenklee hatte alles genau durchdacht, es war am besten so, wie es
+war, und damit genug! Er wollte keine Aufregungen, keine Spannungen,
+keine Qualen.
+
+Konnte man -- um nur etwas zu sagen -- als Ehemann mitten in der Nacht
+in einem bequemen Sessel sitzen, bei einer Flasche Wein und einer
+Zigarre, und in alten Liebesbriefen und Erinnerungen wühlen?
+
+Wie? Versuch' es. Und dazu, solange man wollte, es konnte Morgen werden
+...
+
+Da war noch diese und jene Freundin -- diese und andere, in Rom, in
+Paris, in Wien -- alle zogen sie vorüber: jung, heiter, strahlend.
+Tanzfeste, Ausflüge, eine Reise im Schlafwagen, eine Dampferfahrt nach
+Kopenhagen, ein kleiner Abstecher ins Holländische ...
+
+Alle diese Freundinnen gehörten mit wenigen Ausnahmen jener bequemen
+sozialen Schicht an, die um ein Etwas tiefer lag als Schwedenklees
+Gesellschaftsklasse. Es waren Stenotypistinnen, Modistinnen,
+Erzieherinnen, kleine Schauspielerinnen, Tänzerinnen, sogar eine Dame
+vom Varieté war dabei. Sie alle waren gierig nach dem Leben, wollten
+zuweilen in einem eleganten Restaurant dinieren, wie feine Damen,
+wollten zu einem Rennen fahren, im Auto über den Kurfürstendamm rollen,
+wollten eine Oper besuchen, um vor ihren Freundinnen damit prahlen zu
+können. Eine kleine Reise, lieber Himmel, wie wunderbar, ein Paar
+Sommerschuhchen mit Seidenstrümpfen, herrlich! Ein Ausflug aufs Land,
+mein Gott, sie wurden sofort um Jahre jünger, dreizehn, plapperten wie
+Kinder. Sie genossen jede Kleinigkeit, das Nichts selbst, diese guten
+Geschöpfe, schlürften, waren berauscht. Sie schrien vor Erregung, wenn
+das Pferd, auf das sie gesetzt hatten, mit einer vollen Länge in den
+Einlauf einbog, und zerbrachen den Sonnenschirm, wenn es knapp vor dem
+Ziel noch geschlagen wurde.
+
+Es war nicht schwierig, ihre Bekanntschaft zu machen. Schwedenklee war,
+es ist die Wahrheit, in gewissem Sinne schüchtern, und das Herz schlug
+ihm im Halse vor jedem Abenteuer, aber es gelang fast immer. Schwieriger
+war es schon, sie, wie er es nannte, »in der rechten Distanz zu halten«.
+O, oft war es eine Kunst! Sie durften in ihren Gefühlen und Ansprüchen
+niemals eine gewisse Linie überschreiten, die Beziehungen mußten leicht
+und immer unverbindlich bleiben. Und doch lag es im Wesen dieser
+Sehnsüchtigen, diese Linie stündlich, in jeder Minute zu verletzen.
+
+Das schwierigste aber war es, sie zu verabschieden! Ein unerfreuliches
+Kapitel. Wirkliches oder geheucheltes Erkalten der Empfindungen, eine
+vorgebliche Geschäftsreise, etwas Schauspielerei -- und, wenn es sein
+mußte, sogar Härte! Es fiel Schwedenklee nicht leicht, Härte zu zeigen.
+Zorn, Tränen, verzweifelte Briefe, Drohungen. Nein, nicht immer ging es
+so leicht und einfach wie bei Otti, die einfach auf ihn einschlug und
+einen rasenden Brief schrieb.
+
+Schwedenklee saß hingestreckt in dem bequemen Ledersessel, die Beine
+übereinandergeschlagen, die Zigarre im Mund, und sah zur Decke empor.
+Der Wein ging zur Neige, er war in eine warme, heitere Laune geraten.
+Die Stunden flogen. Lächelnd, träumerisch war Schwedenklees Miene.
+
+Gestehen wir es nur, er hatte es verstanden, sein Leben zu genießen!
+Seine Freundinnen waren alle gute, liebe Geschöpfe gewesen, auch Otti
+natürlich, er hatte wenige, fast keine Enttäuschungen mit ihnen erlebt.
+
+Sonderbar, er hatte sie fast alle vergessen! Er erinnerte sich kaum noch
+an ihr Aussehen, die Züge waren in seinem Gedächtnis verblaßt. Welche
+Farbe hatten, zum Beispiel, ihre Augen? Die Farbe der Haare war
+einigermaßen haften geblieben, ähnlich wie die Haare sich in den Gräbern
+am längsten erhalten, wenn alles andere längst vermodert ist. Einzelne
+hatten nicht den geringsten Eindruck hinterlassen, von anderen wußte er
+nur, daß sie groß oder daß sie klein und zierlich waren. Von Otti hatte
+er am klarsten die Matrosenbluse in Erinnerung und, wie gesagt, die
+herrlichen Beine. Von einer Tänzerin wußte er noch, daß sie hohe
+Straßenstiefelchen trug, aus einem Leder wie graue rauhe
+Glacéhandschuhe. Von einer Französin war kaum mehr in seinem Gedächtnis
+verblieben, als daß sie einen Bleistift mit den nackten Zehen hochheben
+konnte.
+
+Für eine gewisse Ellen, eine Schauspielerin, hatte er fortwährend Villen
+und Landhäuser entwerfen müssen, mit einem Schwimmbassin, das in ein
+Palmenhaus eingebaut war. Er erinnerte sich an Ellens zarte
+Fingerspitzen, die leise bebten, wenn sie ihn berührte. Diese Ellen
+errötete leicht und sehr merkwürdig. Ihre Haut war sehr zart, und die
+Röte überflog ganz unvermittelt wie ein Gluthauch ihr Gesicht und
+bedeckte auch Hals und Nacken. Nichts sonst fiel ihm in dieser Sekunde
+von Ellen ein.
+
+Eine andere quälte ihn eifersüchtig, und ihre schwarzen Augen funkelten.
+Die Tänzerin sah er vor sich, wie sie im Varieté auftrat, abwechselnd
+kalkgrün und korallenrot beleuchtet. Ihre Züge waren ihm entfallen, aber
+er erinnerte sich, daß sie beim Souper nach dem Theater immer noch etwas
+Farbe von der Schminke um die Augenlider hatte. Das sah ungeheuer
+interessant aus.
+
+Berta mit dem pechschwarzen, schnurgeraden Scheitel hatte die Unart an
+sich, in den Restaurants unbemerkt kleine Brotkugeln nach den
+Nachbartischen zu werfen. Sie trug eine Narbe von einer
+Blinddarmoperation am Leibe, und diese silbrige Narbe sah er ganz scharf
+vor sich. Die Dame vom Varieté, die er bald verabschiedete, weil sie
+täglich größere Ansprüche stellte, liebte es, eine schwermütige Miene
+anzunehmen, während sie ihn mit ihren glasig-glänzenden braunen
+Tieraugen ansah, um dann seufzend zu lächeln und ihr herrliches Gebiß zu
+zeigen.
+
+Hier, siehst du, Schwedenklee, ist ein kleines, von schwarzen Haaren
+umflattertes Gesichtchen, das große Tränen in den schönen Augen hat. Und
+hier, Schwedenklee, da ist sie, wie hieß sie doch gleich, sie konnte so
+wunderbar lachen! Sie war eine Virtuosin im Lachen, sie steckte die
+Nachbartische an, sie gab Gastspiele im Lachen -- ach Gott, wie hieß sie
+denn? Sie ging von dir zu einem Karikaturenzeichner über, der sie dann
+hundertmal zeichnete, in allen Witzblättern war sie zu sehen. Es wird
+ihr wohl nicht schlecht ergangen sein -- wir wünschen es ihr.
+
+Und da: Hanny im Schlafwagen -- mit der kleinen blauseidenen Nachthaube
+...
+
+Schwedenklee saß und träumte. Er war so tief in Gedanken versunken, daß
+er regungslos zur Decke blickte und in der Tat mehr schlief als wachte.
+Aus seinem vollen, satten Gesicht stieg kerzengerade der Rauch der
+Zigarre.
+
+Die Gesichte glitten ineinander; ein Rücken wie aus frischgefallenem
+Schnee geformt, ein Haarschopf, der im Nacken funkelt, rasche,
+flüchtende nackte Füße, ein Knie, wie aus der Hand Rodins, zitternde
+Hände, die das Haar aufstecken ...
+
+Sonderbar! Schwedenklee sah fast keine seiner Freundinnen wieder, sobald
+er sich von ihnen getrennt hatte. Berlin verschlang sie, die Welt, das
+große Leben verschlang sie, ohne daß sie je wieder auftauchten. Sie
+verwehten wie die Blätter im Walde.
+
+Schwedenklee sitzt inmitten einer Wolke von Träumen, der Zauber
+versunkener Herrlichkeiten hat ihn gebannt. Das Leben! Gab es etwas
+Wunderbareres als dieses verwirrende, unverständliche, dreimal
+verfluchte, dreimal gepriesene Leben? Er lächelt, und sein Lächeln
+verändert sich nicht mehr. Er ist glücklich.
+
+
+
+
+ 5
+
+
+»Aber Rosa?«
+
+Plötzlich sprang Schwedenklee auf und ging mit erregten Schritten in den
+gefütterten Hausschuhen hin und her. Es war schon zwei Uhr morgens. Erst
+in diesem Augenblick war ihm wieder eingefallen, aus welchem Anlaß er
+nach den verblaßten Briefen gegriffen hatte.
+
+»Aber Rosa? Wer ist diese Rosa?«
+
+Unter all den Frauen gab es ja keine Rosa weit und breit! Wer war also
+diese Rosa, von der ihm dieser Unbekannte geschrieben hatte?
+
+Geschrieben hatte --? Also hatte Augusta, die sonst wenig scharf
+beobachtete, doch recht, daß ein Brief -- irgendein sonderbarer Brief --
+die Veränderung in Schwedenklees Laune hervorgerufen hatte!
+
+»Wie kommt dieser Unglückselige überhaupt dazu, mir, einem Unbekannten,
+zu schreiben?« fuhr Schwedenklee fast drohend fort.
+
+In großer, ja förmlich unbegreiflicher, krankhafter Erregung eilte
+Schwedenklee im Zimmer auf und ab.
+
+»Wie kommt dieser Unbekannte dazu?«
+
+»Vielleicht aber hat diesen Unglückseligen der Verlust seiner Gattin um
+den Verstand gebracht -- wie?«
+
+»Rosa? Rosa? Aber, zum Satan, es gibt ja keine Rosa!«
+
+»Vielleicht habe ich sie einmal gekannt, möglich -- ganz flüchtig,
+vielleicht gab sie einen falschen Namen an -- alles ist möglich!«
+
+»Möglich, ja, natürlich! Was sollte sie dann aber bewegen, sich nach
+Jahren, in der Stunde ihres Todes, meiner zu erinnern --?«
+
+Ja, unbegreiflich, unverständlich, ganz unerklärlich!
+
+»Oder --?« Schwedenklee blieb mit einem triumphierenden Lächeln stehen.
+
+O ja! Auch das war recht gut denkbar!
+
+Vielleicht war dieser Unglückselige gar kein fassungsloser Ehemann, der
+seine Frau betrauerte? Wie? Vielleicht war er nicht mehr und nicht
+weniger als ein Schwindler, der einen Pumpversuch schlau einleitete? Ein
+Erpresser? Schwedenklee war geneigt, sich wegen seines Scharfsinns
+selbst zu bewundern. »Man braucht nur die Zeitungen zu öffnen, beim
+großen Gott, welche Sorte von Spitzbuben haust in diesem Berlin! Sie
+simulieren epileptische Anfälle in der Untergrundbahn, um die
+mitleidigen Reisenden ungestört ausplündern zu können -- sie verfallen
+auf die unmöglichsten Dinge! Ein Freund übersendet dir ein Billett zur
+Oper, du gehst hin, und unterdessen plündern sie dir die Wohnung aus.«
+
+»Nein, mein Freund, du bist an den Unrechten gekommen. So einfach ist
+die Sache mit mir nicht!« rief Schwedenklee mit überlegenem Lächeln aus.
+Aber schon klang sein Lachen wieder unsicher, schon wurde er wieder
+nachdenklich.
+
+Der _Ton_ dieser Briefe! Denn Schwedenklee hatte ja nicht einen, er
+hatte _eine Reihe_ von Briefen erhalten -- seit Wochen erhielt er
+Briefe! Und diese Briefe waren es ja, die in der letzten Zeit seinen
+Gemütszustand so sehr beeinflußten. Der _Ton_ dieser Briefe war ohne
+Zweifel -- _echt_!
+
+»Prüfen wir, überlegen wir,« rief Schwedenklee eifrig, schon etwas
+berauscht -- »weshalb diese unsinnige Beunruhigung? Wir werden, wenn es
+nicht anders geht, den Unglückseligen selbst aufsuchen. Ja, selbst, das
+wird das allerbeste sein!«
+
+In dieser Minute war Schwedenklee außergewöhnlich mutig und
+entschlossen. Er kam sich in seiner Entschlossenheit fast verwegen vor
+-- beinahe wie Don Juan, der mitten in der Nacht im Friedhof das
+Standbild des Comturs zu Tische lädt.
+
+»Gehen wir der Sache auf den Grund!«
+
+Aus einem Winkel der Bibliothek zog er einen Stoß Briefe hervor.
+
+Fast überkam ihn wieder Kleinmut. Wozu schließlich? Was kümmerte ihn das
+Schicksal dieses Unbekannten?
+
+Schwedenklee hatte diese Briefe nie richtig gelesen -- nur durchflogen,
+unwillig, ungehalten -- und doch im Tiefsten, ohne ersichtlichen Grund!
+erschrocken. Drohung des Schicksals ging von diesen Blättern aus und
+dumpfe Traurigkeit. Sie rochen nach welken Kränzen, und diesen Geruch
+hatte er noch deutlich in der Erinnerung von der Beerdigung des alten
+Schwedenklee her. Er haßte diesen Geruch von Moder, er haßte diese
+Kränze in den Blumengeschäften, mit den Aufschriften in bleicher
+Silberschrift auf den schwarzen Seidenbändern. Er schloß sogar die
+Augen, wenn er an einem jener Geschäfte mit den häßlichen plumpen Särgen
+vorbeiging, deren öffentliche Ausstellung die Polizei, die sich sonst in
+alles mischt, verbieten sollte. Diese Särge waren in der Tat solch
+unglaubliche Monstrositäten, daß Schwedenklee sich einmal die Mühe
+genommen hatte, einige Särge zu entwerfen, die nobel und würdig
+aussahen, wie sie eigentlich sein sollten. Er haßte wie gesagt alles,
+was mit dem Tode und den Zeremonien der Bestattung zusammenhing. Vor
+zwei Jahren war einer der Kartenspieler gestorben, der Doktor Helm, ein
+Landgerichtsrat, ein sympathischer Mann -- einige der Spieler waren zur
+Beerdigung gegangen, aber Schwedenklee hatte sich wohl gehütet.
+
+Er liebte es nicht, an den Tod zu denken, nein, ganz im Gegenteil, diese
+Gedanken haßte er! Manchmal erwachte er mitten in der Nacht und mußte
+daran denken, daß auch er einmal sterben mußte! Diese entsetzliche
+Stunde wird kommen, so sicher wie etwas -- er sah sich liegen, er
+röchelte noch, eine Pflegerin stand am Bett mit einer Kompresse. Oh, es
+konnte auch ganz anders sein! Zum Beispiel, ein Autobus konnte ihn auf
+der Potsdamer Straße zermalmen. Diese Gedanken folterten ihn zuweilen
+derart, daß er Licht machen mußte. Und doch, die Menschen lebten dahin,
+lachten, rauchten Zigarren, spielten Billard, tanzten -- unbegreiflich!
+
+Aus all diesen Gründen machte er sich hart und gefühllos gegen das
+Geschick dieses Unglücklichen, den der Schmerz gezwungen hatte, an ihn,
+Schwedenklee, zu schreiben.
+
+»Nun wohl«, sagte Schwedenklee und setzte sich, ergeben in sein
+Schicksal, zurecht. »Dieser hier, ohne Trauerrand, war der erste!«
+
+Schwedenklee holte tief Atem.
+
+»Mein Herr!« Schon diese fahrige Schrift, diese Gespenster von
+Buchstaben! »Ich fühle mich gedrängt, Ihnen mitzuteilen, daß eine Frau,
+die wir beide geliebt haben -- heute abend nach langem Krankenlager zur
+ewigen Ruhe heimgegangen ist. Das edelste Frauenherz hat aufgehört zu
+schlagen. Rosa hielt ein Leben lang die Freundschaft, die sie einst mit
+Ihnen verband, hoch in Ehren. Es wird Ihnen gewiß ein Bedürfnis sein,
+der edlen Verblichenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Beisetzung
+findet am Freitag, den 21., statt ... In tiefstem Schmerz -- Edgar
+Blank, ehemaliger Hofopernsänger.«
+
+Schwedenklee las den Brief mit fast der gleichen Verwunderung,
+Verblüffung, dem gleichen leisen Grauen, wie vor Wochen, da er ihn
+erhalten hatte. In einer Art von leichter Lähmung hielt ihn der Sessel
+fest.
+
+Was sagt man dazu? Er war natürlich nicht zur Beerdigung gegangen, wie
+sollte es ihm in den Sinn kommen -- eine ihm völlig Unbekannte! Als er
+seinen Vater begraben hatte, hatte er sich geschworen, nie mehr einer
+solchen Zeremonie beizuwohnen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
+Unvergeßlich war ihm dieser schreckliche Vormittag. Der alte
+Schwedenklee ließ sich verbrennen. Im Krematorium warteten schon mehrere
+Parteien, und Schwedenklee geriet, noch heute empfand er die
+Peinlichkeit, zuerst in eine falsche Gruppe von Seidenhüten. Alle hatten
+Eile. Dann sank der Sarg in die Versenkung. Der alte Schwedenklee hatte
+noch im Alter den typischen Kopf eines Maurers gehabt, mit etwas zu
+langem Schnurrbart, etwas abstehenden Ohren und verwittertem Gesicht.
+Als der Sarg sank, verwandelte sich, so schien es Schwedenklee, der
+ganze Sarg in den Kopf des Vaters. Schwedenklee jagte voller Schrecken
+nach Hause, und noch heute sah er, wie der langsam sinkende Sarg sich in
+den Kopf des Vaters verwandelte, noch heute hörte er das fürchterliche
+kalte Klirren der sich schließenden Eisenplatten.
+
+Der zweite Brief des Unglücklichen schilderte ausführlich die Beerdigung
+der Unbekannten. »Wir haben heute Rosa zu Grabe getragen. Sie sind nicht
+gekommen! Es hätte die Tote geehrt. Aber vielleicht sind Sie gar nicht
+in Berlin. Vielleicht hat mein erster Brief Sie überhaupt nicht
+erreicht! Wir waren nur zwei im Trauergefolge, von den Trägern
+abgesehen. Ein jämmerliches Trauergefolge -- und doch jubelten Rosa
+früher auf der Bühne Tausende zu -- vergessen und einsam ging sie zur
+Ruhe, und selbst Sie, den sie ihren Freund nannte, sind nicht gekommen
+...«
+
+Diesen Brief hatte Schwedenklee vor Wochen, als er ihn empfing, entsetzt
+zur Seite gelegt, ohne ihn zu Ende zu lesen. Der Briefschreiber verlor
+sich selbstquälerisch in all die traurigen Einzelheiten: der Regen, der
+Schmutz, die Grabsteine, der Trott der Sargträger, das lehmige Grab --.
+
+»-- ich schäme mich nicht, Ihnen zu bekennen, daß mich der Schmerz
+übermannte, als der Sarg hinabglitt. Ich schrie und fiel zu Boden ...«
+
+Schwedenklee war erbleicht und wischte sich die Stirn ab. Er ging auf
+und ab in seinen weichen Schuhen und suchte Beruhigung bei einer neuen
+Zigarre. Man durfte nicht vergessen, daß ein Unglücklicher diesen Brief
+schrieb!
+
+Aber Rosa? Ja, bei Gott, wer sollte --?
+
+Vielleicht war es ein Mißverständnis, eine Verwechselung --? Aber nein,
+nein, in einem der Briefe schrieb der Unglückliche, daß Rosa mit
+Schwedenklee in dem und dem Jahre in Paris zusammengetroffen sei. Er,
+Schwedenklee, habe damals im Hotel Panthéon gewohnt. Alles stimmte.
+
+In einem der zuletzt eingetroffenen Briefe drückte der Unbekannte seine
+Verwunderung darüber aus, daß Schwedenklee sich in Stillschweigen hülle.
+»Ich habe mir in meinem letzten Brief«, schrieb er, »die Freiheit
+genommen, anzudeuten, daß ich glücklich wäre -- so weit ich es in dieser
+Zeit sein kann -- wenn ich Sie aufsuchen dürfte. Ich habe zwei Wochen
+vergebens gewartet. Sie zögern, aus welchem Grund? Ich weiß, daß Sie in
+Berlin sind. Vielleicht erscheine ich aufdringlich. Befürchten Sie
+nichts. Ich befinde mich in tiefer Not, ich bin ein Bettler, aber nichts
+läge mir ferner, als Rosas freundschaftliche Beziehung zu Ihnen zu
+beflecken. Was ich wünsche, ist, einen Menschen zu sprechen, der Rosa
+kannte, den Rosa liebte -- ich wiederhole: liebte!«
+
+Schwedenklee schüttelte den Kopf. Immer wirrer, dunkler schien das
+Labyrinth. Ein Unglücklicher wollte sich in seinem Schmerze an ihm
+aufrichten!
+
+Den Rosa liebte --? War es möglich, daß eine der vielen, die durch sein
+Leben gegangen waren, noch nach zwanzig Jahren seiner gedachte? Daß eine
+der vielen, die er »in der nötigen Distanz hielt«, für ihn eine
+wirkliche Liebe empfunden haben sollte?
+
+»Ich werde ihn besuchen«, beschloß Schwedenklee mit feierlichem Ernst.
+»Morgen -- und wenn es morgen nicht geht, spätestens übermorgen.« Er war
+plötzlich von schwerer Müdigkeit überwältigt worden. Der Wein, die
+Zigarren ...
+
+Fast augenblicklich schlief Schwedenklee hinter den hellgrünen
+Seidenvorhängen ein.
+
+
+
+
+ 6
+
+
+Schwedenklee hatte in dieser Nacht verworrene, aber angenehme Träume:
+Fremde, phantastische Landschaften, transparente Wälder, glühende Meere,
+fremde, bezaubernd schöne Städte, unwirklich, wie aus Alabaster
+geschnitten, sonderbare Begegnungen, seltsame Abenteuer, Frauen,
+bekannte und fremde, eigenartig, aber alle in Tun und Gefühl nach ihm,
+Schwedenklee, strebend. Er war umdrängt von Zuneigung, von Bewunderung,
+von Liebe, es war ein großer und einziger Reichtum, man verschwendete
+sich an ihn. Er genoß diese Bevorzugung, sie schien ihm
+selbstverständlich, und gerade der Umstand, daß sie selbstverständlich
+schien, erfüllte seine Seele mit Ruhe und Heiterkeit.
+
+Trotz der angenehmen Träume erwachte Schwedenklee spät am Morgen in
+gereizter Laune und mit schmerzenden Schläfen. Er nahm sein Bad, und von
+der Badewanne aus gab er das dreimalige Klingelzeichen zum Frühstück, so
+scharf und hart, daß Augusta genau wußte, woran sie war. In grau- und
+weißgestreiftem seidenen Pyjama betrat Schwedenklee das Speisezimmer.
+Beschwörend hatte Augusta den Frühstückstisch gedeckt: Lachs und
+Appetitsild, Oliven und gekochte Eier.
+
+Schwedenklee näherte sich dem Tisch mit gerunzelten Brauen. Ein Brief!
+Wieder ein Brief mit den Gespensterbuchstaben! Mit zitternder Hand nahm
+ihn Schwedenklee auf.
+
+»Sie verschmähen es, mir zu antworten. Sie ahnen wohl kaum, daß ich
+Ihnen unter Umständen Mitteilungen machen könnte, die für Sie von
+Wichtigkeit wären. Ich werde mir die Freiheit nehmen, bei Ihnen
+anzurufen, und hoffe, daß Sie einer Begegnung nicht länger ausweichen.«
+
+Schwedenklee war an diesem Morgen schonungsbedürftig. Er hatte in der
+Nacht eine Flasche schweren Bordeaux getrunken -- hingerissen von den
+Erinnerungen, er hatte ein halbes Dutzend Zigarren geraucht. Er war
+übernächtig, abgespannt, und seine Schläfe schmerzten.
+
+Ohne zu denken, ohne die Herrlichkeiten des Frühstückstisches zu
+beachten: Lachs, Appetitsild, Oliven, stürzte er an den Schreibtisch und
+schrieb mit wütender Hand, ihn endlich gefälligst mit diesen sinnlosen
+Zuschriften verschonen zu wollen. »Sie mögen der Ansicht sein, daß Sie
+mir wichtige Mitteilungen zu machen haben, behalten Sie diese
+Mitteilungen für sich, ich lege nicht den geringsten Wert darauf.«
+
+Fort, Rohrpost -- augenblicklich!
+
+Augusta zitterte, sie hatte ihren Gebieter nie mit solch zornrotem
+Gesicht gesehen.
+
+»Das überschreitet doch alle Grenzen!« schrie Schwedenklee wütend.
+
+»Welche unverschämte Zudringlichkeit! Besuchen, habe ich gesagt, ich
+will ihn besuchen? -- Aber ich bin doch kein Narr!«
+
+Nun, nachdem er seinem Herzen Luft gemacht hatte, schmeckten all die
+Leckerbissen des Frühstückstisches plötzlich wunderbar. Der Ärger
+verflog, und Schwedenklee vertiefte sich in die Zeitung.
+
+Sein Unmut verrauchte vollends. Der Ausbruch von Raserei kam ihm nun
+selbst lächerlich vor. Als er das Frühstückszimmer verließ, hatte er
+sich soweit wiedergefunden, daß es ihn befriedigte, den zudringlichen
+Brief noch einmal in die Hand zu nehmen. Offenbar hatte der Unbekannte
+dieses letzte Schreiben in der größten Erregung hingeworfen. Die
+Buchstaben waren kaum zu entziffern. Mit einem verächtlichen Lächeln riß
+Schwedenklee den Brief mitten durch -- die Antwort würde ihre Wirkung
+nicht verfehlen, er hätte schon lange Schluß machen sollen.
+
+Zu seinem Erstaunen entdeckte er aber plötzlich auf der Rückseite des
+Briefbogens eine Nachschrift!
+
+»Ihr mir so unverständliches Verhalten, Ihre unbegreifliche
+Gleichgültigkeit kann ich mir nur so erklären, daß Sie sich offenbar
+nicht mehr entsinnen, wer Rosa ist -- oder leider -- war, dieser Gedanke
+zuckt eben durch mein _krankes_ Gehirn! Rosa, meine geliebte Frau, die
+ich, selbst dem Tode nahe, betrauere, war eine geborene Rosa Ellen
+Fröhlich, ihr Bühnenname lautete Rosa Froh.«
+
+ * * * * *
+
+Eine leise Lähmung befiel die Hand, die den Brief hielt. »Ellen
+Fröhlich!« sagte Schwedenklee leise. »Dieses reizende Geschöpf! Sie also
+...«
+
+Ein leises flüchtiges Bedauern, andere Empfindungen der Trauer löste
+diese Mitteilung nicht aus. Diese lebenslustige Frau, für die er Villen
+und das berühmte Schwimmbassin entwerfen mußte! Sie, die so sonderbar
+rasch errötete, die Röte überzog sogar den Nacken -- diese Arme, sie
+schien nicht glücklich geworden zu sein ...
+
+Und er, dieser Törichte, der sein Gehirn selbst ein _krankes_ Gehirn
+nannte, hätte er ihm nicht schon früher sagen können, wer sich hinter
+dieser Frau Rosa Blank versteckte?
+
+Schwedenklee fühlte sich ordentlich erleichtert. Die Ungewißheit, das
+Grübeln wider Willen hatten ihn gemartert. Was hatte er weiter mit der
+ganzen Sache zu schaffen? Er hatte vier Wochen lang, oder vielleicht
+sechs, eine Liebschaft mit dieser Frau gehabt, eine kleine reizende
+Liebelei, vor achtzehn, zwanzig Jahren -- damals in Paris -- das war
+alles.
+
+Er instruierte Augusta, daß heute vormittag ein gewisser Herr Blank
+anrufen werde. Sie möge sagen, er sei auf unbestimmte Zeit verreist.
+
+In bester Laune kleidete er sich an, um auszugehen. Seit langen Tagen
+kam endlich die Sonne wieder durch.
+
+Schwedenklee war gerade mit der Toilette fertig, als das Telephon
+klingelte.
+
+Er öffnete die Türe und hörte Augusta mit weinerlicher Stimme einigemal
+wiederholen, daß der Herr Oberbaurat verreist sei. Offenbar gab sich
+Blank mit dieser Auskunft nicht zufrieden.
+
+Augusta geriet in große Erregung. »Unverschämte Leute gibt es schon!«
+rief sie aus, als sie abgehängt hatte.
+
+»So und damit ist die Sache erledigt«, dachte Schwedenklee und begab
+sich in ausgezeichneter Laune zu seinem Schneider in der
+Charlottenstraße.
+
+Bei diesem Schneider in der Charlottenstraße -- einer großen Firma --
+war eine junge Dame, ein Fräulein Wiedehopf, als Buchhalterin tätig. Die
+dicken, glänzend braunen Flechten turmartig über dem heiteren, offenen
+Gesicht aufgebaut, die Fingernägel glänzend poliert, duftend nach
+Frische, wie aus dem Ei geschält, ohne das kleinste Staubkörnchen -- auf
+diese junge Dame hatte Schwedenklee seit einiger Zeit ein Auge geworfen.
+
+»Ich lebe zu stumpfsinnig«, sagte er zu sich, als er dahinschlenderte.
+»Immer das ewige Kaffeehaus. Dieses Leben bekommt dir nicht,
+Schwedenklee. Wir werden diese kleine Wiedehopf heute abend zu >Figaros
+Hochzeit< einladen.«
+
+Unterwegs löste er Karten zur Oper, und obwohl die Schar der Verkäufer
+und Zuschneider diesen weiblichen Schatz mit eifersüchtigen Blicken
+bewachte, hatte er Fräulein Wiedehopf, ohne daß es irgendwie auffiel,
+beim Hinausgehen zu >Figaros Hochzeit< eingeladen. Man mußte es nur
+verstehen.
+
+
+
+
+ 7
+
+
+Eine ganze Woche blieb Schwedenklee dem Kaffeehause fern. Theater,
+Ballhäuser, Bars, sogar in ein Kino führte er die junge Dame mit den
+turmartig aufgebauten Haaren und den glänzenden Fingernägeln.
+
+Diese kleine Wiedehopf war verlobt, nahezu verlobt, der Auserwählte war
+zur Zeit auf Reisen -- wie oft hatte er das schon gehört! Sie spielte
+die Dame, ließ sich verwöhnen, lockte an, wehrte ab -- sie tat, bei
+Gott, wie eine Generalstochter ...
+
+Als Schwedenklee nach so langer Abwesenheit wieder das Kaffeehaus
+aufsuchte, fand er die Spielergesellschaft von einer neuen Spielwut
+besessen wieder. Man hatte die Karten verlassen und war zum Billard
+übergegangen.
+
+Man spielte »vom roten«. Jeder Billardspieler kennt dieses Spiel. Die
+Karambolage wird nur dann gezählt, wenn der rote Ball zuerst getroffen
+wurde. Es spielten drei bis vier der besten Spieler, und auf sie wurde
+gesetzt wie auf Pferde.
+
+Die Ärzte, die Rechtsanwälte, die Kaufleute, Spieler und Kiebitze,
+Kellner saßen und standen in dichten Reihen um das Matchbillard herum,
+in atemloser Spannung jeden Stoß verfolgend.
+
+Schwedenklee wurde freudig begrüßt.
+
+»Wie gut Sie aussehen, Schwedenklee!« rief der Nervenarzt Wittmann. »Sie
+waren also doch verreist!«
+
+»Nein, ich war hier, habe gearbeitet und abends ein bißchen
+Zerstreuung.«
+
+»Sie haben Ihr altes Aussehen wiederbekommen, prächtig!«
+
+»Ah, der Herr Oberbaurat. Nun wird es interessant! Kellner, das Queue
+des Herrn Oberbaurat!«
+
+Sofort stiegen die Einsätze ums Dreifache.
+
+Einige Abende hintereinander spielte Schwedenklee hier vier, fünf
+Stunden »vom roten«. Es wurden hohe Summen umgesetzt. Seine Kopfstöße,
+Rückzieher, Zwei- und Dreibänder riefen lautes Händeklatschen hervor.
+
+Schwedenklee war bei bester Laune. Selbst das graue kreidige Antlitz des
+alternden Künstlers, der nun häufiger ins Café kam, störte ihn in seinem
+jetzigen Gemütszustande nicht mehr. Er genoß den Triumph. Nach dem
+dritten Abend ließ er seinen schwarzseidenen weitärmeligen Billardkittel
+von Augusta ins Kaffeehaus bringen, und nun konnte man fast meinen, es
+mit einem Billardchampion zu tun zu haben. Er mußte seinen Gegnern
+zuerst zwei Points auf zehn vorgeben, sodann drei. Je länger er spielte,
+desto vollendeter wurde sein Spiel.
+
+»Schwedenklee ist in großer Form!« Man tuschelte.
+
+Es war Schwedenklee äußerst angenehm, für einige Abende Zerstreuung
+gefunden zu haben: es war gewiß das beste Mittel, den Hochmut der
+kleinen Wiedehopf zu beugen, wenn er eine Woche lang nichts von sich
+hören ließ. Diese Methode nannte er die Methode des »Aushungerns«, im
+Gegensatz zur Methode der »Belagerung«, die darin besteht,
+ununterbrochen um die geliebte Frau zu werben, so daß sie -- wie
+Schwedenklee sich ausdrückte -- überhaupt »nicht mehr zur Besinnung
+kam«.
+
+In der Tat, die Methode des Aushungerns schien Erfolg zu versprechen.
+Fräulein Wiedehopf wurde mürbe, schrieb ein violettes Kärtchen: Weshalb
+hört man nichts mehr von Ihnen? Sind Sie verstimmt?
+
+O nein, nein, gar nicht verstimmt, gnädiges Fräulein Wiedehopf. Ganz im
+Gegenteil! In vorzüglicher -- ich wiederhole: vorzüglicher Laune.
+
+Zwei Tage beantwortete Schwedenklee das Billett gar nicht. Dann schrieb
+er einige höfliche Zeilen: gesellschaftliche Verpflichtungen -- in
+einigen Tagen aber würde er wieder zur Verfügung sein.
+
+»Sonderbare Wesen sind doch diese Frauen!« dachte Schwedenklee, als er
+nach dem Billardspiel nach Hause ging und den gleißenden Vollmond über
+den Dächern betrachtete. »Zeigt man ihnen seine Verliebtheit, so neigen
+sie augenblicklich dazu, ihre Macht zu mißbrauchen, zeigt man
+Zurückhaltung, so lassen sie sofort wieder alle ihre Künste spielen.
+Merken sie, daß man sich zurückziehen will, so entdecken sie plötzlich
+ihre große Liebe. Ja, wie soll man sich bei ihnen zurechtfinden?«
+
+»Heiratet man sie, so ist man vollkommen verloren! Sieh dich doch um,
+Schwedenklee -- die Ehen all deiner Bekannten und Freunde, mit ganz
+vereinzelten Ausnahmen? Gleichgültigkeit, Untreue, Kampf bis aufs
+Messer, Lüge.
+
+Ja, wie soll man es anstellen? Etwas ist hier sicher nicht in Ordnung,
+das Leben ist zu kompliziert.«
+
+Es war gegen Abend etwas Schnee gefallen -- der Vollmond brachte die
+Kälte mit -- Schwedenklee steckte das rasierte Kinn wohlig in den
+Pelzkragen, während er langsam zwischen den hohen Bäumen am Kanal
+dahinschlenderte. Die Straße war fast menschenleer, nur hinter ihm, in
+einiger Entfernung, kroch eine hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die
+zuweilen scharf hüstelte. Die dünne Schneeschicht war an den Sohlen der
+Passanten haften geblieben, so daß eine Anzahl geisterhafter schwarzer
+Fußspuren kreuz und quer über die Straße lief, aus dem Unbekannten
+kommend, ins Unbekannte verschwindend, verwirrend, wenn man sie lange
+betrachtete.
+
+Plötzlich blies ein kalter Hauch in Schwedenklees Genick, ja, so schien
+es ihm wenigstens. Er blieb erschrocken stehen und fröstelte. Kalte
+Schauer überrieselten seinen Rücken. Weshalb mußte er gerade in diesem
+Augenblick an die tote Ellen Fröhlich denken? Und weshalb hatte die
+Erinnerung an diese Frau den Beigeschmack einer leisen, unerklärlichen
+Scham?
+
+Unergründlich ist das Leben, und auch sein Herz, Schwedenklees Herz, war
+ein unerforschtes Labyrinth. Weshalb? Weil die Fußspuren schwarz kreuz
+und quer liefen? Ja, nur aus diesem Grunde! In Paris fällt selten Schnee
+-- aber einmal hatte er Ellen abends nach Hause gebracht, und durch ihre
+verschneite einsame Straße liefen genau dieselben schwarzen verwirrenden
+Fußstapfen. Er sah sie in dieser Sekunde, zierlich, in ihren weiten
+Mantel eingehüllt, klar vor sich, Schneekristalle glitzerten auf ihren
+Haaren, und aus dem dunklen Gesicht glänzten heiter und lebensfreudig
+die Augen. Fast zwanzig Jahre lang hatte diese Erinnerung in seinem
+Kopfe geschlummert.
+
+Fragend, lauschend waren diese Augen gewesen, sie waren bernsteingelb,
+wenn das Licht voll in sie fiel, dunkel, fast schwarz, wenn sie
+beschattet waren -- Schwedenklee gab sich mit einer gewissen Wehmut der
+Erinnerung hin, obgleich ihn dieses unerklärliche Schamgefühl im
+Innersten peinigte. Er hatte sich jedoch nichts vorzuwerfen, o nein, er
+erinnerte sich sogar, daß er ihr später zwei- oder dreimal noch geholfen
+hatte, als sie sich an ihn wandte. Sie war damals Anfängerin und hatte
+noch zu kämpfen.
+
+Plötzlich kroch eisige Kälte an ihm empor. Vielleicht -- wer weiß es --
+schritt ihr Geist in der Tat neben ihm? Schwedenklee war sehr
+abergläubisch.
+
+»Ellen Fröhlich!« sagte er leise zu sich, etwas betreten. »Ich habe
+keine Furcht, an dich zu denken!«
+
+Klar bis in die kleinsten und unscheinbarsten Einzelheiten stand vor ihm
+die erste Begegnung mit Ellen. Er sitzt an einem kleinen Marmortisch auf
+den großen Boulevards, zwei Damen, Mädchen, nehmen neben ihm Platz. Sie
+sprechen deutsch, sie sprechen ungeniert und vergessen ganz oder wissen
+es nicht, daß auf den großen Boulevards in Paris jeder vierte Mensch
+deutsch versteht. Ihre Ungezwungenheit entzückt Schwedenklee: die jungen
+Damen sprechen mit einer gewissen Kühnheit von unschuldigen
+Liebesabenteuern. Eine hat wunderbar warme und weiche Augen, die
+offenbar die Farben wechseln, von hell zu dunkel leuchten. Zuweilen
+streifen diese fragenden Augen, lächelnd, voller Übermut, Schwedenklees
+absichtlich kühl beobachtenden Blicke. Das ist Ellen Fröhlich! Die
+Freundin ist eine Schwedin, eine Bildhauerin.
+
+Die jungen Damen gehen. Sie wandern zu Fuß durch die wimmelnden Straßen
+bis zum Boulevard Raspail. Die Schwedin verabschiedet sich von der
+Freundin, die in ein kleines Hotel verschwindet. Es ist sieben Uhr. Als
+sie um neun Uhr das Hotel wieder verläßt -- wer tritt ihr in den Weg?
+Schwedenklee.
+
+»Ein Landsmann, der das Vergnügen hatte, Ihr Gespräch heute nachmittag
+im Café zu belauschen, bittet tausendmal um Entschuldigung --«
+
+Ihr Blick gesteht, daß sie ihn wiedererkennt. Sie ist verwirrt. Er habe
+also alles gehört? Ja. Sie bricht in Lachen aus.
+
+»Aber,« sagt sie -- »wie kommt es, daß Sie hier sind?«
+
+»Ich wartete auf Sie!«
+
+»Es ist nicht schön von Ihnen, so etwas zu sagen, selbst wenn Sie es
+getan haben sollten. Sie hätten sagen sollen: zufällig!«
+
+»Gut -- also zufällig!«
+
+Schwedenklee war ja nicht zwei Stunden auf und ab gegangen, so war es
+nicht gerade. Gegenüber lag eine kleine Speisewirtschaft, und hier aß er
+zu Abend; dann trank er Kaffee, und gerade als er gezahlt hatte, war sie
+wieder aus dem Hotel getreten.
+
+Jedenfalls aber -- sie verzieh -- sie hatte nichts vor, und er brachte
+sie in ein Tanzlokal, das er als äußerst anständig kannte.
+
+Museen, Ausstellungen, Ausflüge, Tanzlokale -- wie Ellen Fröhlich genoß!
+Sie saugte die Eindrücke in sich, sie staunte, wunderte sich,
+bewunderte. Ellen sprühte auf, berauscht, verwandelt, verhundertfacht.
+
+Und Schwedenklee, obgleich weniger schwärmerisch, lebt und atmet
+leichter und heiterer in ihrer Nähe.
+
+Ja, es war die Jugend, nichts sonst. Die Sonne schien, man fuhr auf dem
+Dach des Omnibusses, unvergleichlich, herrlich, als sei man nie auf dem
+Omnibus im Sonnenschein gefahren.
+
+»Die Jugend, nichts anderes!« dachte Schwedenklee. »Wie herrlich! Ein
+Zauber! Ist die Jugend ein Zauber?«
+
+Ein Ausflug nach St. Cloud. Vorfrühling. Das erste Grün, einige
+versteckte Blümchen, die Knospen glänzen, die schwarzen Baumstämme
+schwitzen Feuchtigkeit. Rasch schnellen die hohen Wasser der Seine
+dahin. Auf dem Dampfer einige Pärchen -- er und Ellen unter ihnen, zu
+den »Pärchen« gehören sie! Ein junger Geck mit einem dünnen
+Spazierstöckchen amüsiert sämtliche Passagiere. Ellen klemmt zu ihrem
+Vergnügen ein Monokel ins Auge, der junge Geck macht ihr den Hof, und
+Ellen mustert ihn durchs Monokel und spielt etwas Theater. Wie sie
+lachten, die »Pärchen«. Ja, worüber lachten sie so furchtbar? Und damals
+gehörten sie zu den »Pärchen« und waren jung wie die anderen.
+
+Der frische Wind hat ihre Gesichter gerötet, die reine Luft hat den
+Glanz in ihren Augen entfacht. Ihre Stimmen sind klar und laut geworden.
+Ellen wirbelt und tanzt. Sie kriecht in die triefenden Büsche und findet
+unter dem faulenden Laub Veilchen und gelbe Sternblumen. Sie steht auf
+einem Stein und spricht voller Inbrunst ein paar wundervolle Verse, die
+er vergessen hat. Sie essen zu Abend in einer kleinen Wirtschaft mit
+fleckigen Tischtüchern und feuchter Tapete. Der Kellner bringt eine
+verstaubte Macon in einem Körbchen.
+
+Sie plaudern. Ellens schöner frischer Mund steht nicht eine Sekunde
+still. Sie lachen den ganzen Abend. Worüber? Wie herrlich war dieser
+Tag, wie lang! War es nicht sonderbar, die Tage der Jugend schienen so
+lang, sie nahmen kein Ende. Was war heute ein Tag? Nichts. Kaum hatte er
+begonnen, war er schon zu Ende.
+
+»Es ist die Jugend, nichts anderes! Es gibt keine andere Erklärung
+dafür«, rief Schwedenklee aus. »Sie verleiht dem Unscheinbarsten einen
+zauberhaften Glanz. Ja, wie lang war dieser Tag doch. Reich an
+Erlebnissen, an guten Einfällen, an schönen Gefühlen. Und Ellen mit dem
+Monokel auf dem Dampfer! Ja, die Jugend! Und das da, was dahinten keift
+und hustet« -- Schwedenklee drehte sich um, empört, daß man ihn in
+seiner Träumerei störte -- »das ist das Alter! Das häßliche Alter!«
+
+Die hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die den ganzen Weg hinter ihm
+herkroch, stand wenige Schritte hinter ihm, mit der Hand an einen Baum
+gestützt, geschüttelt von einem Hustenanfall.
+
+»Das abscheuliche Alter! In zwanzig Jahren wirst du auch so häßlich
+husten, und die Jüngeren, die nicht gestört werden wollen, werden dich
+verfluchen. Oh, wie boshaft und grausam ist dieses Leben eingerichtet!«
+
+Aber Schwedenklee schüttelte die düsteren Gedanken ab. Ellen! Wo waren
+wir doch gleich geblieben?
+
+Ellen klagte über ihr Hotel. Schwedenklee, befreundet mit dem Pförtner,
+Kellner und der Besitzerin seines Hotels, arrangierte alles aufs
+vorzüglichste. Er trat Ellen sein großes bequemes Zimmer ab und bezog
+eine kleine danebenliegende Kammer. Ellen staunte, wie billig ihr
+schönes Zimmer war! Ja, man mußte nur Freunde und Beziehungen haben!
+
+»Wir werden Ihren Einzug feiern, Ellen, und heute abend zu Hause
+speisen. Sie sollen sehen. Lassen Sie mich nur machen.«
+
+Schwedenklee besorgt den ganzen Nachmittag lang alles, was Paris an
+leckeren Dingen zu bieten vermag. Geröstete Hähnchen und Hummer,
+Vorspeisen und Nachtisch, Früchte. Auch Blumen vergißt er nicht.
+
+»Muß man in Abendtoilette kommen?«
+
+»Es wird gebeten, Ellen!«
+
+Von sieben bis acht ist Schwedenklee fieberhaft tätig. Punkt acht Uhr
+klopft Ellen -- herein! Ellen ist im Abendkleid, er im Frack -- und
+schon lachen sie, daß sie kaum die Tür zu schließen vermögen.
+
+Der Hausknecht, der im Kamin nachlegte -- Ellen sollte es recht
+behaglich haben -- wird von der Heiterkeit mit fortgerissen. Der
+Kellner, der den Wein angeschleppt bringt, wird ebenfalls angesteckt,
+und so lachen sie alle -- weshalb? Gott allein weiß es.
+
+Ellen steht und staunt: »Jetzt sehe ich, daß Sie ein Künstler sind,
+Schwedenklee!« ruft sie aus. »Mein Gott, wir sind ja Hunderte von
+Personen!«
+
+»Sie sind in großer Gesellschaft, Ellen!«
+
+Dank Schwedenklees Freundschaft mit dem Pförtner und Hausknecht war es
+ihm möglich gewesen, einige große Spiegel und Leuchter aus anderen
+Zimmern des Hotels auszuleihen für den Abend. Die Kerzen blendeten, und
+infolge der Spiegelung glaubte man in einem langen, sonderbar gebauten
+Saale voller Lichter und Blumen zu sein. Schwedenklee führte seine Dame
+zum Sessel -- und im gleichen Augenblick geleiteten Dutzende von
+befrackten Kavalieren ihre Dame in heller Seide zu Tisch. Er sah Ellen
+gleichzeitig von allen Seiten, und nie kam ihr herrlicher schmaler
+Nacken mit dem braunroten Haarknoten reizvoller zur Geltung ... Ellens
+Augen richteten sich blitzend im Schein der Kerzen auf ihn, und
+augenblicklich funkelten Dutzende von gleichen Augen von allen Seiten
+ihm entgegen.
+
+»Das Diner kann beginnen, Ellen -- aber ich habe vergessen« -- und er
+erhebt sich und küßt Ellen auf den Mund.
+
+»Willkommen!«
+
+Sie errötet. Auch ihr Busen wird behaucht von flüchtigem Rot.
+
+»Das Diner kann beginnen«, wiederholt sie mit einem verwirrten Lächeln,
+mit etwas matter Stimme.
+
+ * * * * *
+
+Schwedenklee war bei seinem Hause angelangt. Automatisch stieg er die
+Treppe empor, automatisch schloß er auf.
+
+So tief war er in die Erinnerung dieses Diners versunken, daß die Kerzen
+ihn in der Tat blendeten und Ellens zarter wunderbarer Nacken aus all
+den blitzenden und flammenden Spiegeln ihm entgegenleuchtete.
+
+»Und zu denken, daß ich zwanzig Jahre lang nicht an diesen Abend
+dachte!« sagte er seufzend, als er in das kalte finstere Haus trat, und
+begann zu pfeifen, um seine melancholische Anwandlung zu überwinden.
+
+In diesem Augenblick glaubte er das hastige, ungeduldige Scharren eines
+raschen Schrittes draußen auf der Treppe zu vernehmen. Irgend jemand,
+der die Gelegenheit benutzen wollte, ins Haus zu kommen.
+
+Aber auch das ist nicht völlig sicher. Jedenfalls wußte Schwedenklee nie
+zu erklären, was in dieser Sekunde vorgegangen war. Hatte er diesen
+hastig scharrenden Schritt gehört oder nicht? Es schien ihm später, als
+ob er in der Tat gar nichts gehört habe, aber ein gänzlich
+unverständlicher, ja mysteriöser Zwang ihn veranlaßt habe, das Haustor
+nochmals zu öffnen.
+
+Jedenfalls, Schwedenklee ging, ohne viel zu denken, zur Türe, öffnete
+sie ...
+
+Kaum aber hatte Schwedenklee das Tor geöffnet, da erschrak er so heftig,
+daß er zurückprallte und am ganzen Körper entlang einen Schlag
+verspürte, wie von einem schweren Eisenstab. Später erinnerte er sich
+deutlich, daß sich ihm die Haare im Nacken gesträubt hatten, eine
+Erscheinung, die er bisher nur für eine leere Redensart gehalten hatte.
+
+Dicht vor ihm war ein Gesicht erschienen, eine gespenstische
+Erscheinung, etwas größer als er, die offenbar in diesem Augenblick
+ausholte, um zu pochen. Gerade diese Geste hatte etwas ungeheuer
+Drohendes und Erschreckendes an sich gehabt.
+
+Die Erscheinung prallte ebenfalls erschrocken zurück und tastete sich
+hastig rückwärts die Stufen hinab. Das unter einem weichen, flachen
+Filzhut verborgene Gesicht der Erscheinung glitt durch den Lichtschein
+der Straßenlaterne, und in diesem Augenblick erkannte Schwedenklee das
+Gesicht: es war das bleiche, vergrämte Antlitz jenes alternden,
+verbrauchten Künstlers, das ihm zuweilen unangenehm und störend im
+Billardsaal des Cafés aufgefallen war.
+
+Am Fuße der Treppe blieb die hagere, etwas zusammengekrümmte Gestalt
+stehen und griff hastig nach dem flachen Hut. Es sah aus, als wollte sie
+den Hut im Winde festhalten.
+
+Im Augenblick, da Schwedenklee das Gesicht erkannte, ließ das tödliche
+Erschrecken nach. Er öffnete das Tor völlig und machte einen
+entschlossenen Schritt vorwärts, obgleich der Schrecken noch in all
+seinen Gliedern zitterte.
+
+»Was wünschen Sie?« fragte er, unnötig laut, und seine Stimme bebte noch
+vor Erregung.
+
+Der Hagere wich noch einen kleinen unsicheren Schritt zurück, die Hand
+aufs Herz gepreßt. Es schien Schwedenklee, als ob er heftig zittere.
+Deutlich hörte er seinen hastig keuchenden Atem.
+
+»Was wollen Sie von mir?« wiederholte Schwedenklee, weniger laut, aber
+härter im Ton. Er erkannte die völlige Gefahrlosigkeit der Situation.
+
+Der Hagere nahm den Filzhut ab und verbeugte sich, den Hut gegen die
+Brust pressend. Sein graues wirres Haar bewegte sich im Winde.
+
+»Ich heiße Blank!« stammelte er, ganz Demut. Seine Stimme klang leise,
+kaum vernehmbar, heiser dazu. Aber Schwedenklee verstand den Namen
+augenblicklich!
+
+
+
+
+ 8
+
+
+Schwedenklee hatte schon manches erlebt. Nicht ohne weiteres wird man
+fünfundvierzig Jahre alt! Einmal, zum Beispiel, war in einer hellen,
+heißen Sommernacht ein Herr auf ihn zugetreten und hatte in
+liebenswürdigstem Ton gefragt, ob er die Ehre habe, mit Herrn
+Schwedenklee zu sprechen? Schwedenklee aber hatte kaum bejaht, als der
+Liebenswürdige schon den Stock gegen ihn schwang. Es stellte sich
+heraus, daß er der Gatte einer schönen Frau war, mit der Schwedenklee
+zuweilen im Bristol Tee trank. Damals war es zu einer regelrechten
+Schlägerei gekommen, und der Eifersüchtige brachte sogar die Passanten
+gegen ihn auf. Erst als Schwedenklee heilige Eide schwor, daß die
+bewußte Beziehung völlig platonisch sei, war der Rasende ruhiger
+geworden. Die schöne Frau hatte ganz einfach gelogen, um ihren Gatten
+bis aufs Blut zu reizen. Immerhin, Geständnis und Eide in der Bedrängnis
+waren so peinlich, daß Schwedenklee den Auftritt als einen dunkeln
+Schatten in seinen Erinnerungen empfand.
+
+Ja, schon mancherlei hatte er erlebt, Herr Schwedenklee -- nie aber
+hatte er sich in einer Situation befunden, die peinlicher und
+unbehaglicher war.
+
+Die unverständlichen Briefe Blanks schossen ihm wirr durch den Kopf,
+auch sein brutaler Rohrpostbrief, der ihm im Augenblick noch weitaus
+brutaler erschien, auch jene alberne, pathetische Phrase: »Die Toten
+greifen nach dir!«
+
+Und hier unten also, dieser Grauhaarige, der sich demütig verbeugte und
+vor Erregung kaum stammeln konnte, das war also Ellens Gatte -- der ihn
+aus unerklärlichen Gründen zu sprechen wünschte ...
+
+Schwedenklee hatte das Gefühl, langsam in den Boden zu sinken. Es schien
+ihm später, wenn er an diese unbehagliche Szene dachte, als habe er für
+Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Er glaubte sich auch zu
+erinnern, wie seltsame Ahnungen, daß diese Begegnung ungeheure Bedeutung
+für sein Leben gewinnen sollte, ihn erfüllten und erschreckten.
+Jedenfalls empfand er deutlich die Ungewöhnlichkeit dieser nächtlichen
+Begegnung, anders wäre sein Verhalten nicht zu erklären.
+
+Verlegen und unschlüssig starrte Schwedenklee auf die hagere Gestalt,
+die unter ihm stand. Vor kaum fünf Minuten -- sonderbar genug! -- hatte
+er sich der Erinnerung an Ellen hingegeben. Er konnte Blanks Gesicht nur
+sehen, wenn ein schwankender Zweig das Licht des Mondes durchließ.
+Gleich verlegen und hilflos starrten Blanks dunkle Augen aus dem
+bleichen Gesicht zu ihm empor.
+
+Schwedenklees Empfindungen waren Chaos. Er wollte die Türe wütend ins
+Schloß werfen, wollte seiner Empörung, daß Blank es wagte, ihn zu
+verfolgen, unverblümt Ausdruck geben -- aber er tat nichts dergleichen.
+
+Im Gegenteil! »Herr Blank?« sagte er nach einer Weile, mit einer
+unsicheren und unterwürfigen Stimme, deren er sich später schämte, und
+einer verstümmelten Verbeugung.
+
+»Sie haben mir geschrieben, Herr Blank?« fuhr er fort, nur um das
+unerträgliche Schweigen zu unterbrechen.
+
+Blank antwortete mit einer Verbeugung. Er erwiderte nichts.
+
+Ratlos stand Schwedenklee auf der Treppe. Nacht ringsum, kein Mensch auf
+der Straße. Und ohne Unterbrechung fühlte er Blanks Blick auf sich
+gerichtet. Schwedenklee trat wieder etwas mehr in das Haustor zurück.
+
+»Vielleicht erklären Sie mir --«, begann er von neuem.
+
+Endlich bewegte sich Blank.
+
+»Ich handle unter einem geheiligten Willen«, begann er leise, mit
+heiserer Stimme, aber doch verständlich, ja sogar etwas deklamatorisch,
+wie Schauspieler es häufig zu tun pflegen. Schwedenklee sah deutlich,
+daß er hin und her schwankte und nach Atem rang.
+
+»Ich bitte um Verzeihung! Ich persönlich würde es ja nie gewagt haben.«
+
+Die Hand Blanks fuhr in die Rocktasche, er zog einen hellen
+Briefumschlag heraus.
+
+»Hier«, sagte er, sehr leise. »Ich bitte.« Und er streckte Schwedenklee
+mit flatternder Hand den Briefumschlag hin. »Die Tote hat mich
+beauftragt.«
+
+Schon streckte Schwedenklee die Hand aus, aber er zog sie sofort wieder
+erschrocken zurück. Eine tödliche Kälte strömte ihm von diesem
+Briefumschlag entgegen. Und Schwedenklee sammelte sich zu einem letzten
+Widerstand. Jene gewisse Brutalität, die, meist schlummernd, einen Teil
+seines Wesens bildete, erwachte plötzlich und formte seine Gedanken zu
+einer letzten Abwehr.
+
+»Mein Herr! Sie besaßen die Kühnheit, mir eine Anzahl von Briefen zu
+schreiben, obgleich Sie mir völlig unbekannt sind. Sie verfolgen mich
+und sind unverfroren genug, mich vor meinem Hause zu überfallen! Ihre
+Unverschämtheit überschreitet alle Grenzen. Lassen Sie mich gefälligst
+in Ruhe mit Ihrem Brief, lassen Sie mich überhaupt zufrieden. Scheren
+Sie sich zum Teufel!«
+
+Das also war es, was Schwedenklee dieser zitternden, hageren Gestalt,
+die demütig vor ihm stand, entgegenschrie, in äußerster Empörung. Aber
+was geschah? Blank wagte es, die Treppe emporzusteigen -- und
+Schwedenklee selbst war es, der ihm höflich das Tor öffnete -- Blank
+verbeugte sich mit großer Förmlichkeit und trat ein.
+
+Schwedenklee hatte diese Ansprache ja nur in Gedanken gehalten. In
+Wirklichkeit aber hatte er höflich, ergeben in sein Schicksal, wie sein
+wahres Wesen es ihm befahl, Blank gebeten einzutreten.
+
+So geschah es, daß der unheimliche Gast, die »Erscheinung«, wie
+Schwedenklee in seiner ersten Verwirrung gedacht hatte, zur großen
+Verwunderung Schwedenklees sich ins Haus tastete.
+
+ * * * * *
+
+»Nun wohl,« dachte Schwedenklee, als er das Licht in der Diele andrehte,
+halb benommen im Kopf, »es muß wohl so sein. Irgend etwas Merkwürdiges,
+Unabwendbares ist hier im Spiel. Im übrigen vergessen wir nicht, daß
+dieser arme Teufel Ellens Gatte ist. Nun, wir werden ja sehen, komme,
+was kommen soll ...«
+
+Ein fadendünner Überzieher mit einem abgeschabten lächerlich schmalen
+Pelzkragen und zu kurzen Ärmeln, ein schmales, fast schönes, wachsfahles
+Gesicht, von hundert kleinen Fältchen zerknittert wie Papier, mit einer
+hohen, mächtigen Stirn, die graue Haarsträhnen umflatterten, mit
+bläulichen Lippen und fiebrisch glänzenden, dunkeln, aber gutartigen, ja
+gütigen Augen -- so sah die Erscheinung aus, als Schwedenklee sie bei
+Licht besah. Ein ins Elend geratener, vergrämter Künstler mit der Miene
+fatalistischer Hoffnungslosigkeit -- sein erster, obwohl flüchtiger und
+unbewußter Eindruck war völlig richtig gewesen. Vielmehr noch: ein
+körperlich und seelisch vollkommen Erschöpfter, der in dem überheizten
+Zimmer von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde, während er mit
+heiserer, bescheidener Stimme Entschuldigungen stammelte.
+
+Schwedenklee betrachtete das Abenteuer schon mit ruhigeren Augen. Die
+Erscheinung hatte gänzlich ihre Unheimlichkeit eingebüßt -- ein Kranker,
+ein Hilfsbedürftiger, das war alles, was von ihr geblieben war. Ja,
+schon empfand Schwedenklee, der brutale Schwedenklee, der Leute, die ihn
+störten, zum Teufel schickte, Mitleid mit seinem Gast.
+
+Wie hatte Blank seinerzeit geschrieben? »Mein _krankes_ Gehirn.«
+Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, war manches nicht mehr ganz in
+Ordnung bei ihm. Er erweckte ohne Zweifel den Eindruck, besonders diese
+_leuchtenden_ gütigen Augen! Wir werden sehen, höflich, freundlich, um
+ihn nicht zu erregen, und dann wird sich ja alles weitere von selbst
+finden.
+
+Schwedenklee setzte also eine alltägliche, freundliche Miene auf, als
+sei überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen.
+
+»Ich bitte doch abzulegen, Herr Blank!« sagte er mit großer
+Liebenswürdigkeit.
+
+Blank schälte sich, verwirrt und zerstreut um sich blickend, aus dem
+fadenscheinigen Überzieher. Sein Anzug war so jämmerlich, daß
+Schwedenklee sich betroffen abwandte.
+
+»Ich werde ihm helfen!« dachte er nun schon. »Ich habe ja genug alte
+Kleider, Herrgott noch einmal!«
+
+»Mein Benehmen --,« stammelte Blank, während er zu einem Sessel
+schwankte, »mein Benehmen muß aufdringlich und unverständlich
+erscheinen. Eine abscheuliche Rolle, die ich nie in meinem Leben spielte
+-- die ich verabscheue ...«
+
+»Ich bitte, Herr Blank.«
+
+Blank erhob sich wieder aus dem Sessel und tastete nach Schwedenklees
+Hand. »Jedenfalls Dank, daß Sie mich nicht abweisen, Herr Schwedenklee!«
+sagte er mit einem heißen Blick der dunklen Augen. »Allein das teuerste
+Wesen, das ich besaß, eine Tote, befiehlt und ich gehorche!«
+
+»Eine Zigarre vielleicht?« Wollte er doch aufhören, von Toten zu
+sprechen, dachte Schwedenklee, um Gottes willen!
+
+»Nein, unmöglich -- mein Husten --«
+
+Schwedenklee war bestrebt, die Peinlichkeit der Situation, die noch
+immer, wenn auch gemildert, bestand, durch eine zerstreute
+Geschäftigkeit zu verwischen.
+
+Blank saß im Sessel, die Hände auf die Lehne gelegt, und versuchte, ein
+Zittern, das seinen kranken Körper ohne Aufhören durchlief, zu
+verbergen. Wie sein Gesicht waren auch die Hände von hundert Fältchen
+zerknittert, wie weiches Papier. Sie waren lang, wachsfahl und peinlich
+gepflegt.
+
+»Ich zittere noch immer!« begann Blank, seine Schwäche verspottend.
+»Aber Sie ahnen ja nicht, welche Angst ich hatte, als ich Ihnen folgte«,
+fuhr er flüsternd, bekennend fort. »Kaum, daß mich die Füße trugen.
+Schon gestern, vorgestern folgte ich Ihnen, aber ich wagte es nicht.
+Gestern wollte ich Ihren Namen rufen, aber die Stimme versagte. In der
+letzten Nacht nun mahnte mich ein Gesicht« -- er hielt inne, als erwarte
+er, daß Schwedenklee etwas sagen werde, aber Schwedenklee sagte nichts
+--, »ich legte ein Gelübde ab, und so wagte ich es heute, obschon die
+Furcht mich fast tötete. Nie werde ich wissen, woher ich den Mut nahm
+--«
+
+»Ich bitte Sie, sich nicht zu erregen, Herr Blank,« entgegnete
+Schwedenklee, »vielleicht würde ein Gläschen Wein Sie beruhigen?« Hastig
+war Schwedenklee bemüht, den Gast von dem unheimlichen Thema abzulenken.
+Ohne jede Frage, eine sehr peinliche Geschichte! Aber es würde
+sich ja wohl nach einiger Zeit Gelegenheit bieten, den Gast
+hinauszukomplimentieren.
+
+Blank errötete flüchtig, als er die zitternde Hand nach dem Glase
+ausstreckte. Sein Handgelenk war von einer erschreckenden Magerkeit, wie
+Schwedenklee es noch nie beobachtet hatte. Langsam und bedächtig
+schlürfte Blank den Wein, der ihn augenblicklich zu erfrischen schien.
+Das Zittern seines Körpers ließ nach, ruhig glitt sein Blick durch
+Schwedenklees Bibliothek.
+
+»Was für ein herrlicher Raum«, sagte er, indem er mehrmals nickte und
+die Lippe hob, als versuche er zu lächeln. »Ich verstehe wohl, daß Sie
+das Unglück meiden.«
+
+Schwedenklee wurde blutrot vor Scham.
+
+»Ich verstehe wohl, daß Sie die Armut meiden.«
+
+»Verzeihen Sie ...«, stammelte Schwedenklee.
+
+»Ich verstehe alles so gut. Ich bin ja selbst nicht anders gewesen --
+früher!«
+
+»Ich bin, wenn ich offen sein darf,« verteidigte sich Schwedenklee,
+etwas stotternd, »aus Ihren Briefen nicht recht klug geworden. Zuerst
+glaubte ich überhaupt an ein Mißverständnis. Ich dachte -- dazu war ich
+sehr überarbeitet in dieser Zeit.«
+
+Blank nickte und hob abwehrend die Hand.
+
+»Meine Briefe waren wohl sehr verwirrt? Heute noch bin ich nicht
+imstande, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich verstehe Sie jetzt,
+heute vollkommen, Herr Schwedenklee! Vielleicht dachten Sie sogar, ein
+Bettler -- oder noch schlimmer: ein Erpresser ...«
+
+»Aber nein!« Schwedenklee lachte verlegen. »Wie können Sie so etwas
+denken. Ich wüßte nicht« -- endlich kam Schwedenklee der rettende
+Einfall --, »ich ahnte ja nicht -- Sie schrieben mir erst ganz zuletzt,
+welche Geborene Ihre Frau Gemahlin war.«
+
+»Ich nahm in meiner Verwirrung, meinem Schmerze an, jeder Mensch müsse
+es wissen! Ich glaubte auch, es schon geschrieben zu haben. Habe ich es
+nicht in der ersten Mitteilung geschrieben?«
+
+»Ich bitte Sie, sich jedenfalls in meine Lage versetzen zu wollen, Herr
+Blank.«
+
+Blank schüttelte den Kopf und hob beide Hände beschwichtigend empor.
+
+»Kein Wort mehr, ich bitte Sie herzlich. Wer hier um Verzeihung zu
+bitten hat, das bin ich und nicht Sie!« sagte er mit einer Verbeugung.
+Zum erstenmal, seit er das Zimmer betreten hatte, blickte er
+Schwedenklee ins Gesicht. »Sie erinnern sich nicht mehr, daß wir uns
+schon einmal trafen?« begann er nach einem langen, wie es Schwedenklee
+schien, forschenden Blick, mit etwas veränderter, leichterer Stimme.
+
+»Wir?« Schwedenklees Blick wurde unsicher. Nun wird sich das Geheimnis
+enthüllen, dachte er voller Spannung und sofort wieder erregt.
+
+»Ja, ich hatte schon einmal die Ehre -- vor vielen Jahren. Vor etwa
+zwanzig Jahren.«
+
+»Zwanzig --?« rief Schwedenklee erschrocken aus, als sei so etwas
+gänzlich unmöglich.
+
+»Ja, vor mehr als zwanzig Jahren.«
+
+»Mehr als zwanzig!«
+
+»Ja, es war in München. Erinnern Sie sich an den Maler Pfitzner?«
+
+»Pfitzner? Aber natürlich. Ein guter alter Freund!«
+
+»Pfitzner hatte damals seinen ersten Porträtauftrag erhalten und gab
+seinen Freunden ein Atelierfest, das drei Tage und drei Nächte dauern
+sollte. Aber schon am ersten Abend gab es Zwistigkeiten. Einer der Gäste
+war auf Pfitzner eifersüchtig geworden, es kam nahezu zu Tätlichkeiten
+--«
+
+»Richtig, nun dämmert es in mir! Aber Sie, Herr Blank -- ich muß offen
+gestehen ...«
+
+»Vielleicht entsinnen Sie sich noch, daß einer der Gäste sang?«
+
+»Ein junger Mann, jawohl.«
+
+»Er sang den Prolog von >Bajazzo<.«
+
+»Ja! Deutlich erinnere ich mich. Der Sänger stand dicht in meiner Nähe,
+ich höre heute noch, in diesem Augenblick, seine prächtige, kernige
+Stimme. -- Aber es ist doch wohl nicht möglich, Herr Blank, daß Sie
+...?« rief Schwedenklee mit naivem Erstaunen aus und sprang auf.
+
+Blank nickte. »Doch, ich war dieser Sänger!« sagte er errötend, und die
+Heiserkeit seiner Stimme drückte tiefste Traurigkeit aus.
+
+Sofort sah Schwedenklee ein, daß er eine ganz unbegreifliche
+Taktlosigkeit begangen hatte. »Ist es möglich,« rief er hastig aus, »vor
+zwanzig Jahren, sogar mehr als zwanzig Jahren, sagen Sie? Um Gottes
+willen, wohin sind diese zwanzig Jahre nur gekommen? Ja, wunderbar haben
+Sie damals gesungen -- es ist volle Wahrheit, was ich Ihnen sage, all
+die Jahre habe ich den Klang Ihrer Stimme im Ohr behalten. Merkwürdig,
+und Sie erinnern sich meiner noch? Das finde ich erstaunlich.«
+
+»Ich erinnere mich noch ganz deutlich an Sie. Sie haben sich nicht sehr
+verändert.«
+
+»Nicht sehr?«
+
+»Sie sind etwas voller geworden und etwas breiter. Ich habe Sie auch
+sofort wiedererkannt, als ich Sie vor Wochen auf der Straße sah.«
+
+»Als Sie mich auf der Straße sahen?«
+
+»Ja, vor Ihrem Hause«, gestand Blank errötend.
+
+»Ich erinnerte mich ganz besonders an Sie, weil Sie auf Pfitzners
+Atelierfest eine Theorie vortrugen, die mich lange und oft
+beschäftigte.«
+
+»Ich -- eine Theorie, sagen Sie?«
+
+»Ja, Sie erklärten, es sei an der Zeit, eine über den Staaten stehende
+Republik der freien Geister und Künstler zu gründen.«
+
+»Ich hätte --?« Schwedenklee war äußerst erstaunt.
+
+»Ja, Sie führten diesen Gedanken bis ins einzelne aus und wir hörten
+voller Interesse zu. Sie sprachen sehr ketzerische und revolutionäre
+Gedanken aus, und wir waren um so mehr erstaunt, als Sie ja aus
+Norddeutschland kamen.«
+
+Schwedenklee füllte die Gläser. »Sonderbare Einfälle hat man in der
+Jugend!« rief er lachend aus. »Ja, ganz verrückte Gedanken!«
+
+»Sie gingen bald darauf nach Paris. Als ich Pfitzner wieder eines Tages
+im Atelier besuchte, sagte er mir: Schwedenklee ist nach Paris gegangen,
+um seine überstaatliche Republik der freien Geister und Künstler zu
+gründen.«
+
+Hier lachte Schwedenklee laut und belustigt auf.
+
+»Im nächsten Jahre wurde ich nach Nürnberg engagiert«, fuhr Blank fort,
+und seine Stimme veränderte sich wieder. »Und hier war es, wo ich Rosa
+Fröhlich traf«, schloß er leise.
+
+»Ja, sie ging damals nach Nürnberg, ich entsinne mich«, warf
+Schwedenklee etwas unsicher ein. Er war plötzlich rot geworden.
+
+»Ich kam mit ihr ins Gespräch und sie sagte mir gleich, daß sie aus
+Paris käme. Aus Paris? Haben Sie vielleicht zufällig einen Bekannten von
+mir, einen Architekten Schwedenklee getroffen? -- Nie werde ich Rosas
+verblüfftes, ja entgeistertes Gesicht vergessen ...«
+
+»Ist das Leben nicht sonderbar?«
+
+»Ohne daß Sie es ahnten, haben Sie, Herr Schwedenklee, rasch unsere
+Freundschaft vermittelt.«
+
+»Welch merkwürdige Zufälle es gibt!«
+
+»So also begann es. Mit Ihrem Namen!« sagte Blank leise und nickte vor
+sich hin. »So also begann es!« wiederholte er, die Stimme von Trauer
+überschattet.
+
+Sein Blick verlor sich ins Unbestimmte. Er bewegte die dünnen blutleeren
+Lippen und feuchtete sie mit der Zunge an. Er schien noch um einen Grad
+bleicher geworden zu sein.
+
+Schwedenklee erhob sich und bewegte sich lautlos über die Teppiche.
+Diese ganze Erde sei in der Tat nichts als ein großes Bauerndorf! Und er
+erzählte hastig und mit halblauter Stimme einige ähnliche Erlebnisse,
+die ihm begegnet waren und seine Ansicht bestätigten, daß die Erde
+nichts als ein Bauerndorf sei. Blank antwortete nicht, er schien gar
+nicht zuzuhören.
+
+Mit aller Umständlichkeit machte sich Schwedenklee eine Zigarre zurecht.
+Wieder bewegte er sich lautlos über die Teppiche. »Und was ist
+eigentlich aus Pfitzner geworden?« Er blieb stehen.
+
+Aber Blank hörte ihn gar nicht. Er saß, den verschleierten Blick ins
+Ungewisse verloren. Er hatte vergessen, wo er war, wandelte in einer
+fernen, unbegreiflichen Welt. Ein wundes Lächeln spielte um seine
+Lippen. Die schmalen gepflegten Hände lagen regungslos auf den Lehnen
+des Sessels, sie zitterten nicht mehr, nur sein gebeugter Oberkörper
+schwankte leise hin und her.
+
+Verstohlen blickte Schwedenklee auf die Uhr. Da erwachte Blank aus
+seiner tiefen Versunkenheit. Er atmete tief auf und blickte sich
+verstört um.
+
+»Verzeihung«, sagte er und schüttelte sich, als friere er.
+
+Schwedenklee streckte sich in den Sessel.
+
+»Und nun, Herr Blank,« begann er mit einer Stimme, die seinen Gast
+ermutigen sollte, »Sie hatten mir etwas mitzuteilen?«
+
+Blank erschrak heftig. Die nervöse Hand zuckte, seine dunkeln Augen
+weiteten sich.
+
+»Mitzuteilen --?« stammelte er, anscheinend tief betroffen.
+
+Schwedenklees Miene, der etwas leichtfertige und gutmütige
+Gesichtsausdruck, versuchte ihn zu beruhigen.
+
+»Ja«, sagte Schwedenklee, sich lächelnd vorbeugend. »Sie schrieben mir
+in einem Ihrer Briefe, Sie hätten mir Mitteilungen zu machen, die für
+mich unter Umständen von Interesse sein könnten.«
+
+»Schrieb ich das?« Blank erhob sich erregt, ließ sich aber sofort wieder
+in den Sessel fallen. »Nein, nein, mein Herr,« fuhr er hastig fort,
+zuweilen errötend, »was ich zu tun habe, ist, Sie tausendfältig um
+Entschuldigung zu bitten, das ist alles. Ich befinde mich in einem
+Zustande der Verwirrung, der Verzweiflung -- ja, des, Sie verzeihen, es
+klingt wie Pose, des Irrsinns. Ich muß um Nachsicht bitten. Ich weiß
+nicht mehr, was ich in diesen furchtbaren Wochen sagte oder schrieb.
+Verzeihen Sie mir. Aber, mitzuteilen? Nein, bei Gott, nein! Ich habe
+Ihnen nichts mitzuteilen.« Rote fieberische Flecke erschienen unter den
+Augen des fahlen Gesichts.
+
+Blank war in großer, ganz unbegreiflicher Erregung. Aber allmählich
+beruhigte er sich.
+
+»Was ich Ihnen gerne sagen möchte, wenn Sie noch eine Minute Geduld mit
+mir haben wollen,« fuhr er mit ruhigerer, feierlicher Stimme fort, »ist
+dies --« Er holte tief Atem und senkte den Blick zu Boden. »Meine
+Gattin, deren Verlust mich nahezu um meine Sinne gebracht hat, sagte mir
+wenige Stunden vor dem Tode: Gehe zu Schwedenklee und grüße ihn von mir.
+Sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle.«
+
+»Nicht mehr grolle --?« Schwedenklee horchte auf.
+
+»Ja, so sagte sie. Vielleicht aber habe ich auch die Worte verwirrt.
+Sage ihm, daß ich ihm stets gut war und noch heute gut bin --«
+
+Hier wurde Schwedenklee plötzlich ergriffen.
+
+»Sagte sie das wirklich?« flüsterte er.
+
+»Ja, und sie beauftragte mich, Ihnen dies Bild zu bringen. Es würde Sie
+freuen, dachte sie. Eine Erinnerung aus der Pariser Zeit.« Blank schlug
+sich an die Stirn. »Ja, dieses Bild, das war ja die Ursache meines
+Besuches! Schon habe ich es wieder vergessen, ich sitze hier und
+plaudere --«
+
+Blank erhob sich und tastete nervös die Taschen des Überrocks ab.
+
+»Mein Himmel, ich werde es doch nicht draußen verloren haben!« rief er
+in äußerstem Schrecken. »Nein, hier, gottlob, hier ist es. Das ist ja
+der eigentliche Grund, weshalb ich Sie aufsuchte.«
+
+ * * * * *
+
+Eine verblaßte Photographie, in Paris aufgenommen -- seinerzeit. In
+irgendeiner übermütigen Stunde.
+
+Eine zierliche Dame, in einem großen Hut -- das Gesicht kaum
+erkenntlich. Daneben er, Schwedenklee, zwanzig Jahre jünger, mit einem
+flotten kleinen Schnurrbart. Schwedenklee zerbrach sich den Kopf, wo das
+Bild aufgenommen sein konnte. Er erinnerte sich nicht mehr.
+
+Er trat unter die Lampe und nahm eine Lupe vom Schreibtisch.
+
+Nun erkannte er die Züge der jungen Dame wieder, die in all den vielen
+Jahren nur selten, flüchtig und verblaßt in seiner Erinnerung wieder
+auflebten. Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn -- daß diese herrliche
+Jugendzeit vorbei war für immer.
+
+»Ellen Fröhlich!« sagte er vor sich hin.
+
+»Sie hatte zwei Namen«, warf Blank mit verletzter, fremder Stimme ein.
+»Da Sie sie Ellen genannt hatten, wählte ich ihren anderen Namen. Ellen
+für Sie, Rosa für mich!«
+
+Schwedenklee blickte ihn verständnislos an.
+
+
+
+
+ 9
+
+
+Als Schwedenklee am nächsten Morgen, etwas müde und abgespannt, in
+seinem breiten Himmelbett erwachte, fiel ihm augenblicklich ein, daß er
+Blank für heute zum Abendessen eingeladen hatte.
+
+Was für ein Dummkopf bin ich doch, dachte er, unzufrieden mit sich
+selbst, immer diese alte Gutmütigkeit. Ich bin wütend über einen
+Menschen und doch kann ich es mir nicht versagen, den Liebenswürdigen zu
+spielen. Aber sofort erinnerte er sich auch, daß es ganz unmöglich war,
+Blank, der Begriffe wie Zeit und Nachtruhe nicht zu kennen schien, auf
+andere Weise zu verabschieden. Er hatte sich auch in der verflossenen
+Nacht hin und her überlegt, wie er Blank seine Hilfe anbieten könnte,
+aber keine Möglichkeit gefunden. Da war ihm der Einfall der Einladung
+gekommen.
+
+Lieber Himmel, dachte er plötzlich erschreckend und setzte sich auf, wie
+mag dieser arme kranke Mensch in der Nacht nach Hause gekommen sein?
+Nach dem Osten. Ob er wohl, wie er ihm riet, eine Droschke genommen
+hatte? Aber vielleicht hatte er gar nicht das Geld dazu? Ich selbst
+hätte ihm eine Droschke holen und den Kutscher bezahlen sollen -- aber
+dieser Einfall kam reichlich spät.
+
+Etwas Gutes hatte die gestrige Begegnung auf jeden Fall. Schwedenklee
+fühlte sich erleichtert! Das »im Hintergrund lauernde Schicksal«, wie er
+sich ausdrückte, hatte sich entschleiert. Obgleich Schwedenklee
+eigentlich nicht an Gott, an ein zweites Leben, an Auferstehung,
+Seelenwanderung und derartige Dinge glaubte, glaubte er doch an
+mystische Einflüsse, an ein Fatum, das unheilvoll in das Leben eines
+Menschen eingreifen konnte. In den zwei letzten Jahren hatte er sich
+unsicher gefühlt. Es war ihm, als wäre er von heimtückischen Gefahren
+umlauert. Einer seiner Bekannten starb plötzlich am Herzschlag, und
+schon dachte er: wer weiß es, ob du morgen erwachen wirst? Zuweilen sah
+er sich alt und krank als Bettler auf der Straße stehen und der Wind
+blies eisig. Oder ein unheilbares Leiden befiel ihn, zum Beispiel Krebs.
+Ganz deutlich spürte er die fortwährende Drohung feindseliger Mächte,
+und nur so -- nicht anders -- läßt es sich erklären, daß die Briefe
+Blanks auf ihn einen solch ungeheuren Eindruck machten. Nun also kam es,
+heimtückisch schlich es näher, um ihn zu umstricken und zu vernichten!
+Deutlich witterte er die Vorboten eines bösen Schicksals, das seine
+Demütigung und Vernichtung beschlossen hatte.
+
+An diesem Morgen atmete er seit vielen Wochen befreit auf, seine
+düsteren Grübeleien erschienen ihm unsinnig und albern. Seine
+Hilfsbereitschaft für Blank entsprang ebenfalls, ohne daß er sich dessen
+bewußt wurde, diesem Gefühl der Erleichterung und einer gewissen
+Dankbarkeit gegen das Schicksal, das sich ihm nicht ungnädig gezeigt
+hatte.
+
+Werde ich ihm denn abgelegte Kleider geben können? dachte er. Vielleicht
+aber wird es ihn verletzen? Also Geld. Aber wieviel und in welcher Form?
+
+Man könnte ihm auch einen Korb mit Früchten und guten Sachen schicken,
+eine Flasche Kognak dazu. Das war ein ausgezeichneter Einfall, und
+Schwedenklee beschloß, noch heute den Korb zurecht machen zu lassen.
+
+Den ganzen Vormittag war Schwedenklee mit dem gestrigen Abenteuer
+beschäftigt. Blank hatte ihm, mit einer gewissen Schwatzhaftigkeit, im
+Laufe der Nacht sein Herz ausgeschüttet, er hatte ihm jede Einzelheit
+seines Lebens erzählt -- und all das nur aus dem Grunde, weil er einige
+Wochen lang eine Liebschaft mit seiner Frau gehabt hatte! Notabene: noch
+bevor sie überhaupt seine Frau war ...
+
+Schwedenklee konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er ging an den
+Schreibtisch und nahm -- seine Hand zitterte etwas -- das verblichene
+Bild aus dem Schubfach.
+
+Bei Tageslicht war das Gesicht unter der Lupe etwas deutlicher zu
+erkennen. Lange, mit einer Art furchtsamer Neugierde, betrachtete er das
+Bild, und sonderbarerweise begann sein Herz stark zu klopfen, als wäre
+es frevelhaft, dieser Toten ins Gesicht zu sehen.
+
+Je länger er das verblaßte Bild betrachtete, desto klarer formte es sich
+in seiner Phantasie, und plötzlich stand es, wie durch ein Wunder,
+lebendig vor ihm.
+
+Ellen hatte Grübchen in den Wangen gehabt, auf der einen Wange war das
+Grübchen um ein geringes tiefer als auf der andern -- das fiel ihm jetzt
+ein, obschon die Grübchen auf dem verblaßten Bild nur dann zu erkennen
+waren, wenn man wußte, daß sie existierten. Er erinnerte sich an ihre
+schönen weißen Zähne, die sich beim Lachen ganz entblößten, als lachten
+sie mit -- und wie scharf waren diese Zähne gewesen! Er erinnerte sich
+an die Glätte ihrer Haut, die er nie wieder gefunden hatte bei einer
+Frau, an die Ebenmäßigkeit ihres zarten Körpers, die weiche Biegsamkeit
+ihrer schlanken Taille. Klar sah er in diesem Augenblick die
+Modellierung ihrer sanften Schultern vor sich.
+
+Zartheit, Behutsamkeit, Stille und unendliche Sanftheit ging von dieser
+Frau aus. Ihr Schritt war still, die Berührung ihrer Hand leise.
+Schmiegte sie sich an ihn, so war es kaum zu fühlen, und doch war die
+Berührung unsagbar innig.
+
+Ja, jetzt in dieser Sekunde fühlte er deutlich ihre zärtliche
+Liebkosung.
+
+Sein Herz wurde schwer und er legte das Bild zurück. »Ein rührendes
+Wesen, in der Tat«, sagte er. »Vorbei -- tot! Ja, das Leben ist eine
+höllische Einrichtung!«
+
+Traurig das Schicksal dieser Frau, die das Leben so heiß geliebt hatte.
+Von Paris war sie in ein Sommerengagement nach Nürnberg gegangen. Daran
+erinnerte er sich noch deutlich. Sie hatten noch einige kurze Briefe
+gewechselt, bis die Korrespondenz plötzlich ohne jeden sichtbaren Grund
+einschlief. In Nürnberg hatte sie Blank kennengelernt, der sie -- wie er
+selbst gesagt hatte -- liebte, bevor er sie sah.
+
+»Ich sah sie noch gar nicht. Die Tür ging auf -- ihre Seele strömte vor
+ihr her. Wer kommt hier? dachte ich. Und ich liebte diese Frau, die im
+Begriffe stand, über die Schwelle zu treten, bevor ich sie überhaupt
+sah. Es ist mir heute noch rätselhaft!«
+
+Blank sollte in Köln gastieren. Sie begleitete ihn. Er sang »um Rosa«.
+Er gefiel, zweijähriger Kontrakt, auch Ellen wurde engagiert. Sie
+heirateten auf Grund dieses Engagements. Drei Jahre hier, zwei Jahre
+dort, in kleineren und größeren Provinzstädten -- ein Nomadendasein,
+fröhlich und heiter ertragen, obwohl voller Sorgen. Plötzlich aber ging
+es in die Höhe: München, Mannheim, endlich Dresden! Blank hatte den
+Gipfel erreicht. Das Dasein der beiden war ohne Sorgen -- einen
+Pelzmantel mit Bärenkragen trug Blank, wie er sagte. Sie reisten im
+Sommer nach der Schweiz, ans Meer.
+
+»Nie gab es wohl zwei glücklichere Menschen als uns beide! Ein Kreis
+prächtiger Freunde, immer Blumen in den Zimmern, und ein Heim, das
+widerhallte von der herrlichsten Musik! Der und der spielte Cello, der
+und der Geige, der und der den Flügel -- erste Künstler, die in der
+ganzen Welt konzertierten. Berühmte Dirigenten aßen bei uns zu Abend.
+Und Rosa im Mittelpunkt, Rosa umschwärmt, bewundert, geliebt ...«
+
+In Dresden aber holte Blank das Geschick ein. Eine Erkältung, wenig
+beachtet. Eine Wucherung an den Stimmbändern. Blanks Laufbahn als Sänger
+war besiegelt. Ellen dagegen spielte noch, sie erhielt ihn Jahre
+hindurch. Kuren, Ärzte. Der Niedergang begann. Schließlich erkrankte
+auch Ellen, die Lunge. Das war das Ende.
+
+Furchtbarer Sturz in das tiefste Elend. Auch Blank wurde brustkrank.
+
+»Wir liefen um die Wette nach dem Tode, Rosa und ich. Sie hat das Ziel
+zuerst erreicht, aber ich bin nicht weit hinter ihr.«
+
+Gestorben an der Schwindsucht, zwei Menschen trugen sie zu Grabe ...
+
+»Arme Ellen!« sagte Schwedenklee und legte das Bild zurück in das
+Schubfach.
+
+Er war in solch melancholische Stimmung geraten, daß er, was selten
+vorkam, schon am Nachmittag das Stammcafé aufsuchte.
+
+Hier saß er an einem kleinen Marmortisch und sah lustlos zu, wie der
+Rechtsanwalt Cohnstamm mit dem Polizeileutnant Hammerstein eine
+Cadrepartie auf dem Matchbillard ausfocht. Er war wortkarg und
+zerstreut, trank ohne Genuß seine Tasse Kaffee. Der Rechtsanwalt erbat
+seinen Rat bei einer schwierigen Stellung. Sprang Schwedenklee auf, wie
+es sonst seine Art war, um sein Licht leuchten zu lassen? Er zuckte
+gleichgültig die Achseln.
+
+»Und zu denken, wie diese Ellen lachen konnte! Wie sie es verstand, auch
+das Nichtigste zu genießen! Und wie drollig sie sein konnte! Immer
+bereit zu einem übermütigen Streich!«
+
+Der Oberkellner näherte sich, zutraulich: Es seien schon große Beträge
+auf Herrn Oberbaurat für heute abend gesetzt.
+
+»Ich werde heute abend nicht spielen«, sagte Schwedenklee, mit Falten in
+der Stirn. »Ich habe Gäste zu Hause.«
+
+Schon um einhalb acht Uhr begab sich Schwedenklee nach Hause. Er freute
+sich auf Blanks Besuch. Ja, er freute sich, ist es zu glauben?
+
+»Und gestern zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ihn loswerden könnte!«
+
+ * * * * *
+
+Schwedenklee bekümmerte sich eigentlich nie um die Wirtschaft. Seine
+ganze Tätigkeit bestand darin, jeden Monat das Wirtschaftsbuch
+nachzuprüfen. Er nahm sich natürlich nie die Mühe, das Buch wirklich
+nachzusehen, da aber Augusta den Eindruck gewinnen solle, als ob er
+ganze Nächte hindurch rechne, so ließ er das Buch stets einige Tage
+liegen. Einmal half ihm der Zufall. Er addierte eine Seite, eigentlich
+aus Zerstreutheit, es stimmte nicht.
+
+»Sie haben sich hier zu Ihren Ungunsten getäuscht, Augusta!«
+
+Es war wirklich eine Fügung des Himmels, geschehen vor drei Jahren. Seit
+dieser Zeit öffnete Schwedenklee dieses furchtbare Wirtschaftsbuch
+überhaupt nicht mehr.
+
+Seine Anordnungen pflegte Schwedenklee in lakonischer Kürze zu erteilen,
+häufig schrieb er sie auch auf einen Zettel. Ja, er liebte Scherereien
+nicht, Schwedenklee. Es ging wunderbar.
+
+Auf den heutigen Abend aber hatte er Augusta besonders hingewiesen. Es
+war seine Absicht, Blank mit der größten Sorgfalt zu bewirten. Dieser
+arme Teufel sollte noch einmal eine Freude haben in seinem Leben ...
+
+Das Unglaubliche geschah. Schwedenklee inspizierte das Speisezimmer.
+Augusta hatte sich wirklich Mühe gegeben. Man konnte jedermann
+empfangen, einen Fürsten, wenn es sein mußte.
+
+»Und wie war das eigentlich, auf dem Atelierfest von Ellens Freundin,
+der schwedischen Bildhauerin, wie hieß sie doch -- sagen wir: Fräulein
+Svenska?« fragte sich Schwedenklee, als er, in der Bibliothek auf und ab
+gehend, auf Blank wartete.
+
+Es war da jemand, der die Mundharmonika spielte, und man saß, da nicht
+genug Stühle da waren, auf dem Boden -- nicht wahr? Es war ein
+Kostümfest!
+
+Mein Gott, was konnte man doch damals alles machen. Man drehte den Rock
+um, band sich ein Taschentuch um den Hals: schon war man ein Apache!
+
+Es war eine ungeheure Hitze in dem Atelier, ganz richtig. Man trank
+schwedischen Punsch, und schon nach dem ersten Glas änderte sich der
+Glanz von Ellens Augen.
+
+Ja, jetzt fiel es ihm ein: Sie, Ellen, führte ihn in einen Winkel neben
+eine der mit nassen Tüchern verhängten Tonbüsten und schlang die Arme
+zart und weich um seinen Hals. »Dich werde ich ewig lieben!« flüsterte
+sie.
+
+Da ertönte die Klingel: Blank!
+
+Schwedenklee spürte noch Ellens weiche Arme, ihre Stimme flüsterte dicht
+an seinem Ohr, als Blank eintrat.
+
+Er errötete, als er Blank die Hand reichte.
+
+
+
+
+ 10
+
+
+Blank hatte sich in große Gala geworfen. Er trug unter dem fadendünnen
+Überzieher mit dem abgeschabten Pelzkragen einen grauen, dünnen Gehrock,
+einen schlechtgebügelten Kragen, eine alte flotte graue Binde. Die
+Knöpfe der altmodischen Weste waren aus Glas und einer fehlte. Seine
+Hände waren gepflegt, wie gestern, die Manschetten ausgefranst, aber
+peinlich sauber.
+
+»Wie glücklich ich bin!« rief er mit seiner heiseren Stimme etwas
+theatralisch aus und drückte Schwedenklee die beiden Hände, mit einer
+Herzlichkeit, die Schwedenklee in Verlegenheit brachte.
+
+»Ich freue mich, daß Sie heute viel wohler aussehen«, erwiderte
+Schwedenklee, der das Bedürfnis empfand, seinem Gaste seinerseits etwas
+Angenehmes zu sagen. In der Tat, die Leichenblässe, die Blank gestern
+zeigte, schien heute etwas gemildert.
+
+»Wohler?« Blank lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich lag den ganzen
+Tag mit Fieber zu Bett.«
+
+»Und Sie haben nicht einfach angerufen?«
+
+»Dieses bißchen Fieber sollte mich abhalten? Bei meinem
+Gesundheitszustand ist es ja völlig einerlei, ob ich mich schone oder
+nicht. Könnten Sie auch nur ahnen, wie ich mich auf das Zusammensein mit
+Ihnen freute!«
+
+Beim Anblick der gedeckten Tafel blieb Blank vor Erstaunen auf der
+Schwelle stehen.
+
+»Ist es möglich?« rief er aus.
+
+Augusta hatte sogar einen Strauß Maiglöckchen in die Mitte des Tisches
+gestellt. Das helle Speisezimmer war von einem herrlichen Duft erfüllt.
+
+»Ist es möglich? Für mich diese Mühe! Nie werde ich Ihnen das
+vergessen.« Und wieder drückte er Schwedenklees beide Hände, während er
+bemüht war, seine Ergriffenheit zu verbergen. Lebhaft fuhr er fort: »Ich
+weiß ja wohl, daß Sie ein Künstler im Arrangement von Festen sind! Rosa
+erzählte mir, daß Sie ihr einst in Paris -- Himmel, daß ich Sie nicht
+belauschen konnte! -- ein Abendessen gaben, mit Dutzenden von Kerzen,
+deren Glanz sich in geschickt aufgestellten Spiegeln verhundertfachte.
+Vielleicht erinnern Sie sich noch? Ja, Sie erinnern sich -- ich sehe es
+--«
+
+»Sonderbar, gerade dieser Tage --«
+
+»Verzeihen Sie mir, ich sehe, daß es Ihnen nicht angenehm ist, an
+vergangene Zeiten erinnert zu werden. Ich muß Sie um Nachsicht bitten,
+wenn ich im Laufe des Abends dann und wann auf das Vergangene
+zurückkomme. Ich fürchte, ich kann nicht anders, denn gerade die Qual,
+die ich bei jeder Erinnerung empfinde, ist mir eine Wollust. Ich darf
+Ihnen wohl sagen, daß Rosa mir alles aus ihrem Leben erzählte, jede
+Einzelheit. Ich bitte auch, obschon es unnötig genug erscheint, erklären
+zu dürfen, daß nicht das geringste Arg gegen Sie in meinem Herzen ist.
+Wie sollte es auch? Einmal war ich ja sehr eifersüchtig auf Sie« --
+Blank lächelte schmerzlich -- »furchtbar eifersüchtig, ich gestehe es
+Ihnen offen. Ich haßte Sie, Sie ahnen nicht, wie ich Sie haßte.« Blank
+errötete und seine dunkeln Augen glühten -- allein bei der Erinnerung an
+diesen Haß.
+
+»Ich begreife nicht, weshalb haßten Sie mich?«
+
+»So wahnsinnig hatte mich die Eifersucht gemacht. Ich hatte natürlich
+nicht den geringsten Grund. Nun, es ist lange her -- zwanzig Jahre.
+Heute empfinde ich für Sie nur Freundschaft und Zuneigung, ohne zu
+erwarten, daß Sie meine Gefühle erwidern. Darf ich dieses Glas auf Ihre
+Gesundheit leeren?«
+
+Mit einem tiefen, wunderbar warmen Blick der dunkeln Augen und einem
+schönen Lächeln des verwüsteten Gesichts hob Blank das Glas ins Licht.
+
+»Wenn jemand hier Ursache hätte, böse zu sein,« fuhr er mit großer
+Lebhaftigkeit, leise lächelnd, fort, »so wären ja wohl Sie es!«
+
+»Ich? Aber, ich bitte --«
+
+»Gewiß, Sie! Denn ich war es ja, der Ihnen diese wundervolle Frau
+entfremdete -- in einer Zeit, da sie noch sehr an Ihnen hing.«
+
+Schwedenklee hob verwundert den Blick vom Teller. »Noch an mir hing?«
+fragte er, errötend und geschmeichelt.
+
+»Ja! Es war nicht so einfach, wie es heute aussieht ...«
+
+»Nicht so einfach?«
+
+»Nein, ganz im Gegenteil -- es war sehr schwer!«
+
+»Reden wir nicht mehr davon«, brummte Schwedenklee.
+
+Nichts mehr von der Peinlichkeit des gestrigen Abends. Man plauderte wie
+alte Bekannte. Blank, dessen krankhafte Erregung gestern Schwedenklee
+folterte, war heute viel ruhiger und beherrschter. Er zeigte sich als
+ein Mann von den besten gesellschaftlichen Formen, wenn er auch seine
+weltmännischen Allüren etwas zu stark betonte. Schwedenklee liebte es
+nicht, bei Tisch viel zu reden, er antwortete nur träge und zerstreut.
+Blank dagegen sprach mit großer Lebhaftigkeit, die Rede, begleitet von
+lebhaften Gesten, schien ihm eine wahre Wohltat zu sein. Seine Wangen
+färbten sich, seine Augen sprühten. Er fühlte sich wohl, er fühlte sich
+fast wie zu Hause, nach dem zweiten Glas nannte er Schwedenklee, der
+zuweilen seine Sicherheit verlor, sogar manchmal »lieber Freund«. Ja,
+dann und wann hatte Schwedenklee den Eindruck, als spielte Blank den
+Überlegenen.
+
+Augusta hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben und ein vorzügliches
+Menü zusammengestellt. Sie servierte aber schmollend. Sobald sie Blank
+erblickt hatte -- sie starrte förmlich auf die ausgefransten Manschetten
+-- hatte sie nur verächtliche Bewegungen. Jede Geste von ihr sagte: und
+wegen dieses Bettlers lassen Sie mich den ganzen Tag herumrennen?
+
+»Eine Flasche Selters, Augusta«, sagte Schwedenklee mit einer gewissen
+rügenden Schärfe, und Augusta zog brummend ab.
+
+Trotz des vorzüglichen Menüs und des herrlichen Weins fühlte sich
+Schwedenklee nicht recht behaglich, ja vorübergehend war er sogar den
+Anwandlungen einer schlechten Laune unterworfen. Die Lebhaftigkeit
+Blanks störte ihn. Er hätte Blank gerne -- so albern es ihm selbst
+vorkam -- bescheidener und demütiger gesehen. Nein, von den
+ausgefransten Manschetten wollte er natürlich nicht sprechen, aber daß
+Blank, den er gestern von der Straße aufgelesen hatte, den er aus purer
+Gutmütigkeit zum Essen eingeladen hatte, ihn »lieber Freund« nannte --
+war das ganz in Ordnung? Mit einem gewissen Neid prüfte er zuweilen mit
+verstohlenen Blicken Blanks Erscheinung. Ohne Zweifel mußte er vor
+Jahren von großer, ja seltener Schönheit gewesen sein. Noch jetzt wirkte
+sein großgeformter Musikerkopf imposant. In dem bleichen, zerknitterten
+Gesicht glühte ein Paar wundervoller Augen. Was für Augen habe ich
+dagegen? dachte Schwedenklee. Diese dunkeln Augen schienen das einzig
+Lebendige -- Überlebende -- in dem wachsfahlen Gesicht zu sein. Sie
+waren Feuer, Gedanke, Seele, Jugend, sie waren dreißigjährig, das
+Gesicht fünfzig-, hundertjährig, wenn man will.
+
+So oft Schwedenklee von einer dieser Anwandlungen schlechter Laune
+ergriffen wurde, verbarg er sie hinter ausgesuchtester Höflichkeit:
+»Bitte zuzugreifen -- bitte sich zu bedienen!«
+
+»Ich sehe, ich ermüde Sie mit meinem Redestrom«, rief Blank aus. »Ich
+muß auch in dieser Hinsicht um Ihre Nachsicht bitten. Seit Jahren habe
+ich fast nie mehr mit einem gebildeten Menschen gesprochen. Sie ahnen
+nicht, welcher Genuß für mich Ihre Gesellschaft ist. Bedenken Sie, diese
+Menschen, mit denen ich noch zusammenkomme -- oh, mein Gott, welches
+Niveau! Sie, mein verehrter Freund, der es wagte, einen Bettler ins Haus
+zu laden ...«
+
+»Jeder Mensch kann einmal eine unglückliche Periode --« murmelte
+Schwedenklee.
+
+»Einen Bettler, sage ich, was bin ich sonst? Sie verkehren mit einem vom
+Unglück Gezeichneten auf gleich und gleich -- unterbrechen Sie mich
+nicht -- wer tut das noch? Es ist das _Alleraußergewöhnlichste_ in der
+heutigen Gesellschaft! Sie bewirten einen Mann, der gewissermaßen an
+einem Wendepunkt Ihres Lebens als Ihr Rivale auftrat. Wie gut Rosa Sie
+doch kannte! Sie kennen keine Vorurteile, keine kleinlichen Gefühle.«
+
+»Ich bitte!« stammelte Schwedenklee, aufs tiefste beschämt. Nichts ist
+ja peinlicher, dachte er, als derartige Lobeshymnen anhören zu müssen.
+Mein Himmel, diese liebe Ellen, was für Vorstellungen sie wohl von mir
+gehabt haben mag!
+
+ * * * * *
+
+»Dieses Glas dem Gedächtnis Rosas!« sagte Blank feierlich nach dem
+dritten Glase und ließ den Wein im Licht funkeln. Obschon den Tod im
+Antlitz, sah er schön aus in diesem Augenblick. Später, wenn
+Schwedenklee sich an den Abend erinnerte, sah er Blank immer in dieser
+Geste vor sich.
+
+Schwedenklee tat ihm Bescheid.
+
+Aber Blank erhob sich vom Sitze, und so konnte auch Schwedenklee, dem
+jede Exaltiertheit ein Greuel war, nicht sitzenbleiben. Wenn er nur
+diese theatralischen Manieren sein ließe, dachte er, tief unglücklich.
+
+Lange verharrte Blank in Schweigen und Versunkenheit. Aber seine Augen,
+ohne Blick auf einen Stich an der Wand gerichtet, leuchteten verklärt.
+
+Augusta servierte mit verdrossener Miene den Nachtisch.
+
+Plötzlich fühlte Schwedenklee Blanks Auge auf sich gerichtet. Er hob die
+Lider und begegnete einem forschenden, sonderbar und befremdend
+forschenden, grübelnden, bohrenden Blick, dessen Ausdruck sich indessen
+augenblicklich änderte.
+
+»Ich dachte eben --« begann Blank mit sonderbar leiser, heiserer,
+zerstreuter Stimme.
+
+»Sie dachten --?«
+
+»Ja.« Blank sammelte sich. »Ich dachte: wie merkwürdig es ist, daß wir
+beiden hier beisammensitzen.«
+
+»Was ist daran so merkwürdig?« sagte Schwedenklee, schon etwas
+gelangweilt. Was kümmerte ihn schließlich dieser Blank, was kümmerte ihn
+schließlich diese Ellen? Nichts, letzten Endes gar nichts. Er fing an,
+die Einladung zu bereuen.
+
+»Merkwürdig ist natürlich ein falscher und völlig unzulänglicher
+Ausdruck«, fuhr Blank mit leiser Stimme fort. »Dieser Augenblick
+bedeutet mehr! Er ist erhaben, nichts anderes als erhaben! Wir drei --
+geeint -- in diesem Augenblick!«
+
+»Wir drei? Geeint?«
+
+»Ja!« Blanks Augen weiteten sich. »Nur uns beide, Sie und mich, hat
+diese wunderbare Frau in ihrem Leben geliebt. Hier sitzen wir beide nun
+-- und sie -- sie ist bei uns! Und sie ist glücklich!«
+
+Es entstand eine Pause.
+
+»Glauben Sie denn an diese Dinge?« fragte Schwedenklee dann betroffen
+und etwas bleich.
+
+»Ob ich daran glaube? Es ist für mich Gewißheit, daß sie in diesem
+Augenblick gegenwärtig ist. Ich empfinde es deutlich. Ein Strom von
+Glück durchrinnt mich. Sie segnet uns aus einer unbegreiflichen,
+vollkommeneren Welt.«
+
+Schwedenklee schüttelte den Kopf.
+
+»Der Gedanke wäre unerträglich, daß Verstorbene uns beobachten.« Er
+erhob sich sogar vor Erregung.
+
+»Weshalb unerträglich?« Blank lächelte voller Nachsicht.
+
+»Ja, unerträglich!« wiederholte Schwedenklee an Stelle einer Antwort und
+sah gereizt aus. Er ist doch wahnsinnig, dachte er, ganz im geheimen.
+
+Blank schwieg und versank in Gedanken. »Sie war ein Genie der Liebe«,
+hub er nach langer Pause, als spräche er für sich, von neuem an.
+»Stellen Sie sich eine Pflanze vor, die täglich neue Blüten treibt,
+immer schönere, immer herrlichere Blüten -- so war sie! Sie konnte
+lieben, wie nie ein Mensch liebte! Die Liebe machte sie genial,
+schöpferisch. Denken Sie, sie wachte eine ganze Nacht, saß aufrecht
+neben mir und sagte am Morgen: ich wollte dich eine ganze Nacht lang
+atmen hören! Denken Sie: Rosa war eine leidenschaftliche Raucherin. Sie
+rauchte zwanzig bis dreißig Zigaretten am Tage. Wenn ich aber verreiste,
+auf ein Gastspiel, und sie konnte nicht mitkommen -- all die zwanzig
+Jahre waren wir zusammengerechnet nicht vier Wochen voneinander
+getrennt! -- so rauchte sie nicht. Das sind natürlich nur geringfügige
+Beispiele, schlecht gewählt dazu. Tausende solcher Züge könnte ich Ihnen
+berichten. Sie war ein unerschöpfliches Wunder. Nein, mein verehrter
+Freund, Sie haben sie nicht gekannt! -- Gottlob, sage ich,« fügte er mit
+einem eigentümlichen, verletzenden Lächeln hinzu, »denn sonst wären Sie
+_seinerzeit nicht eine Stunde länger in Paris geblieben. Nicht eine
+Minute!_« Triumphierend rief Blank dies plötzlich mit seiner heiseren
+Stimme Schwedenklee ins Gesicht.
+
+Schon keimte ein sonderbares Gefühl des Neides in Schwedenklee auf. Und
+Unmut über das Betragen seines Gastes. Man soll mit Leuten vom Theater
+nichts zu tun haben, dachte er. Diese Pathetik, diese Theatralik, die
+Bühne verdirbt den Menschen! Er wurde dunkelrot im Gesicht.
+
+Blank entging diese Veränderung Schwedenklees völlig.
+
+»Rosa erwartete Sie damals!« fuhr er geheimnisvoll und erregt fort. »Ich
+sagte Ihnen ja, in der ersten Minute -- unvergeßlicher Augenblick! --
+fiel Ihr Name. Ihr Name war es ja, der rasch eine Verbindung zwischen
+uns herstellte, erst später begriff ich es. >Schwedenklee,< sagte sie,
+>oh, Sie kennen ihn? Er wird wohl in den nächsten Tagen ebenfalls hier
+sein!<«
+
+»Sie glaubte also, daß ich kommen würde?«
+
+»Sie äußerte diesen Gedanken wiederholt. Aber Sie kamen nicht. Vierzehn
+Tage lang wurden Sie erwartet. Dann sprach sie nicht mehr davon. Aber
+ich fühlte deutlich, daß sie litt.«
+
+»Litt?«
+
+»Ja. Ich -- ohne Besinnung vor Eifersucht -- fühlte es allzu deutlich.«
+
+»Ich hatte seinerzeit -- bestimmte Studien hielten mich in Paris fest
+--«
+
+Spöttisch war Blanks Blick. »Ich zitterte -- ich spreche offen -- jeden
+Tag, daß Schwedenklee eintreffen könne. Aber Schwedenklee _kam nicht_!«
+
+»Nein!« warf Schwedenklee mit schwankendem Blick ein. »Er kam nicht!«
+
+»Und da fühlte ich -- beruhigt, daß Sie Rosa in Wahrheit nicht liebten.
+Sie waren ja unabhängig, Sie konnten reisen --«
+
+»Ich? Wieso? Woraus schließen Sie, daß ich Rosa oder Ellen nicht
+liebte?« Schwedenklee setzte sich zur Wehr.
+
+»Weil Sie nicht kamen!« triumphierte Blank.
+
+»Das sagt nichts«, knurrte Schwedenklee.
+
+»Doch, es sagt alles!« ereiferte sich Blank, unter dessen Augen rote
+Flecke erschienen, in großer Erregung. »Sie hätten kommen _müssen_!«
+
+»Aber Sie sehen ja, daß ich nicht _kam_!« rief Schwedenklee, ebenfalls
+außerordentlich erregt.
+
+»Ja!« Blank lehnte sich triumphierend zurück. Sein Auge funkelte. »In
+der Tat, Sie kamen nicht! Sie waren leichtsinnig, Sie ahnten gar nicht
+die Bedeutung dieser Tage! Sie ahnten gar nicht, daß es um das Glück
+Ihres Lebens, um Ihr Lebensglück ging --«
+
+»Sie werden mir mehr und mehr unverständlich, Herr Blank«, entgegnete
+Schwedenklee und zog die Brauen hoch.
+
+»Wieso? Aber ich bin ja der einzige, der ermessen kann, was Sie
+weggegeben, was Sie verschwendet, was Sie achtlos fortgeworfen haben.
+Ich! Ich allein! Zwanzig Jahre Glück -- wissen Sie, was das bedeutet?«
+rief Blank triumphierend aus. »Verstehen Sie, was zwanzig Jahre Glück
+bedeutet? Als Rosa starb, küßte ich sie, und ich fühlte, wie sie
+versuchte, mich wiederzuküssen, obschon sie halb bewußtlos war. Ich
+küßte sie, als sie schon erkaltete. Das ist das Glück von zwanzig
+Jahren! Verstehen Sie? Ich küßte sie in den Tod. Und wenn ich sterbe --
+bald! -- so werde ich ihr meine Küsse _entgegensenden_! Das ist das
+Glück von zwanzig Jahren. So steht es also. Sie sind reich -- ich bin
+ein Bettler und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll. Und doch: ich
+würde für nichts mit Ihnen tauschen, für nichts!«
+
+Hier wurde Schwedenklee wirklich böse.
+
+»Schweigen Sie doch endlich!« schrie er, indem er aufsprang, rot vor
+Zorn.
+
+Blank, der sich in der Erregung ebenfalls erhoben hatte, taumelte, wie
+von einem Schlage getroffen, zurück. Er rang nach Atem. Dann streckte er
+Schwedenklee flehend die mageren Hände entgegen, er rang diese Hände,
+daß die Finger knackten.
+
+»Verzeihen Sie mir!« schrie er. »Ich weiß nicht, was ich tue!« Er war
+einer Ohnmacht nahe. »Ein Glas Wasser!« stammelte er, und Schwedenklee
+sah, daß sich ganz plötzlich Blanks von hundert Fältchen zerknitterte
+Stirn mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt hatte.
+
+Mit zitternden Händen griff er nach dem Glas Wasser. Sein Blick war
+scheu, Vergebung heischend. Der Blick eines Menschen, der Jahre hindurch
+sich demütigen mußte -- oh, wie abscheulich!
+
+ * * * * *
+
+Ja, grausam und unerbittlich sind die Menschen. Ein Mensch mit 39 Grad
+Fieber kommt zu ihnen -- trotz dem Fieber! Sie sind gerührt. Aber wenn
+der Fiebernde sich nicht wie ein normaler Mensch benimmt, gleich
+verwünschen sie ihn.
+
+Als man bei Kaffee und Likören in der Bibliothek saß, hatte Blank sich
+vollkommen wiedergefunden. Man plauderte über Theater, Oper,
+Bühnenkünstler, Dirigenten, und Blank wußte anregend zu erzählen. Der
+Name Rosa-Ellen fiel nicht mehr.
+
+Schließlich erhob sich Blank und ging an den Flügel.
+
+»Einmal noch wollen wir es versuchen!« sagte er, und seine langen
+blassen Finger glitten scheu und zögernd, als fehle ihm der richtige
+Mut, über die Tasten.
+
+Großer Ernst war über sein weißes Antlitz gebreitet. Er sang. Eine
+italienische Romanze, schwermütig, mit Anläufen der Hoffnung, zuweilen
+geheuchelt heiter. Schwedenklee verstand nicht ganz den Text.
+
+Blanks Stimme klang anfangs heiser und kraftlos, bald aber leuchteten
+einzelne Töne klar und hell auf, und schließlich floß die Stimme groß
+und gleichmäßig dahin. Mit Inbrunst, erschüttert sang Blank, und seine
+Augen füllten sich mit Tränen.
+
+Welch herrliche Stimme er gehabt haben muß, dachte Schwedenklee, der
+sich bedrückt in eine Ecke zurückgezogen hatte.
+
+Da machte ein hartnäckiger Hustenanfall Blanks Gesang ein Ende. Er
+führte das Taschentuch an die Lippen.
+
+Entmutigt und still erhob sich Blank, den Blick zu Boden gerichtet.
+
+Er reichte Schwedenklee die Hand.
+
+»Leben Sie nun wohl, Herr Schwedenklee, und Dank für diesen Abend!«
+sagte er und wandte die glänzenden Augen Schwedenklee zu.
+
+ * * * * *
+
+Auch Schwedenklee griff nach dem Hut.
+
+»Ich bitte dringend, sich nicht bemühen zu wollen.«
+
+»Ich habe das Bedürfnis, noch ein paar Schritte zu gehen.«
+
+Schweigend gingen sie die dunkle Straße hinab.
+
+»Wie lau die Luft ist,« sagte Schwedenklee, sich verlegen räuspernd, »es
+wäre Zeit, daß der Frühling endlich käme.«
+
+»Es wäre wirklich Zeit!« antwortete Blank in Gedanken.
+
+Endlich faßte sich Schwedenklee ein Herz. Er begann damit, wie erfreut
+er wäre, ihn, Blank, näher kennengelernt zu haben. Wie gesagt, er hoffe,
+daß sein Gesundheitszustand sich bald bessere. Nun wisse er ja wohl, daß
+es ihm zur Zeit schwierig sei, seinem Körper jene Pflege angedeihen zu
+lassen, wie es geboten sei. -- Kurz und gut, Schwedenklee nahm einen
+Brief aus der Tasche.
+
+Blank hatte argwöhnisch auf Schwedenklees Rede gelauscht und fuhr nun
+entsetzt zurück. »Nie, nie werde ich unser freundschaftliches Verhältnis
+beflecken«, rief er mit großer Geste aus.
+
+»Aber gerade, wenn Sie das Wort Freundschaft gebrauchen --«
+
+»Nie, niemals.«
+
+Schwedenklee hatte wie gewöhnlich in seiner Unbeholfenheit nicht die
+richtige Form gefunden. In der letzten Minute, er wollte den Brief schon
+entmutigt einstecken, fielen ihm die rechten Worte ein. Er sprach davon,
+daß man einem Freunde die Erlaubnis einräumen müsse, in besonderen
+Fällen ein bescheidenes Darlehen --.
+
+Blank schien zu schwanken.
+
+»Wenn ich Ihr großherziges Anerbieten annehme, so geschieht es aus
+Gründen, die ich Ihnen nicht auseinandersetzen kann!« sagte er dann mit
+einem tiefen, langen Blick und nahm den Brief unter Dankesversicherungen
+in Empfang.
+
+»Sobald ich in der Lage sein werde ...«
+
+»Keine, nicht die geringste Eile!«
+
+Es gelang schließlich Schwedenklee sogar, Blank in eine Droschke zu
+stopfen, deren Kutscher er entlohnte.
+
+»Und wenn Sie einmal einen freien Abend haben, Herr Blank?«
+
+»Ich werde Ihre Güte nicht mißbrauchen. Dank und leben Sie wohl -- für
+immer!« rief Blank. Und dann, schon in der Droschke, fügte er noch
+einige Worte hinzu, denen Schwedenklee an diesem Abend keinerlei
+Bedeutung beimaß. Er sagte: »Ich bin glücklich, Sie näher kennengelernt
+zu haben. _Wie wichtig das für mich ist, werden Sie vielleicht einmal
+erfassen._« Aber, wie gesagt, Schwedenklee beachtete diese Worte an
+diesem Abend kaum.
+
+Blanks bleiche Hand winkte aus dem Fenster. Die Droschke rollte davon
+und im Nu war sie unter anderen Gefährten untergetaucht.
+
+»Nun, Gott sei Dank, das wäre überstanden!« sagte Schwedenklee zu sich
+selbst. »Großer Gott, was für Elend gibt es auf dieser Welt.«
+
+Schwedenklee fühlte sich erleichtert und befreit von einem
+Schuldbewußtsein, das ihn quälte, ohne daß er bestimmte Ursachen hätte
+angeben können.
+
+Das Schicksal seiner Mitmenschen, ja sogar seiner Bekannten und Freunde,
+kümmerte Schwedenklee, der immer mit sich selbst beschäftigt war, nicht
+allzusehr. Von Zeit zu Zeit hatte er das Bedürfnis, diese
+Gleichgültigkeit, die er recht wohl als Mangel empfand, durch irgendeine
+gute Handlung zu sühnen. Er schenkte, zum Beispiel, einer armen Frau,
+die fünf Kinder hatte, eine Summe Geldes, einen Posten Wäsche und
+Kleider.
+
+So hatte er Blank heute eine ziemlich große Summe aufgedrängt, um Ruhe
+zu finden vor peinigenden Gedanken, Reflexionen über die heutige
+Gesellschaft, Ungerechtigkeit der sozialen Schichtung und andere
+peinliche Dinge.
+
+Beruhigt ging er zu Bett.
+
+Sein Schlaf indessen war unruhig. Er träumte von Ellen. Sie hatte ihren
+Koffer gepackt, bereit abzureisen. Er brachte sie in einem Wagen zur
+Bahn, aber schon angesichts der glühenden Uhr des Bahnhofs befahl sie
+dem Kutscher zu wenden und zum Hotel zurückzufahren. Später, da stand
+sie schon im Zuge, der Zug fuhr schon an, aber sie sprang im letzten
+Moment -- zum Erstaunen und Schrecken aller Reisenden, die laut
+aufschrien -- aus dem Zuge. Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie sie.
+Da verfiel Schwedenklee -- im Traum -- auf einen infamen Gedanken. Er
+beschwätzte Ellen, daß er mit ihr reisen werde. Sie war überglücklich,
+und sie fuhren zusammen. Bei der ersten Station verließ er heimtückisch
+den Zug. Es war eine Station voller Dunkelheit und Düster, und er sah
+das schöne glückliche Gesicht der Ahnungslosen an sich vorübergleiten.
+
+Hier erwachte Schwedenklee. Er war heiß, unruhig und voller Ängste. Die
+Nacht war finster und lang. Vielleicht, dachte er, wäre ich mit dieser
+Frau glücklich geworden? Vielleicht hat er recht, vielleicht habe ich
+das Glück meines Lebens leichtsinnig fortgeworfen?
+
+Am Morgen erinnerte er sich deutlich an den Traum. Wie sonderbar, dachte
+er, Ellen reiste in der Tat schwer ab. Wir telegraphierten sogar an das
+Theater, jetzt erinnere ich mich. Aber ich wünschte, daß sie reiste,
+denn -- ich hatte ja schon eine Verabredung mit ihrer Freundin, dieser
+rotbäckigen, stupsnäsigen Schwedin -- wie hieß sie? -- Fräulein Svenska.
+Ja, leichtsinnig ist die Jugend.
+
+»Welch ein Schuft bist du doch gewesen, Schwedenklee!« sagte er zu sich.
+»Und diese Frau hat dich vielleicht wirklich geliebt!«
+
+
+
+
+ 11
+
+
+Ellen -- Blank -- schon nach kurzer Zeit streifte Schwedenklee das
+immerhin nicht alltägliche Erlebnis nur noch selten in seinen Gedanken.
+Er hatte die Verbindung mit Fräulein Wiedehopf wieder aufgenommen, und
+seine Beziehungen zu der jungen Dame waren rasch vertraut geworden, in
+viel kürzerer Zeit, als er anfänglich beabsichtigt hatte. Er hatte
+Verpflichtungen, war wenig zu Hause, seine Gedanken waren durch die neue
+Freundschaft hinlänglich beschäftigt.
+
+Etwa zwei Wochen nach jenem Abendessen, als er nachmittags gerade das
+Programm zu einem Ausflug entwarf, klopfte Augusta und meldete Blank.
+
+»Herr Blank wartet mit einem Wagen vor der Türe.«
+
+»Wer?«
+
+»Herr Blank. Der Herr von neulich!«
+
+Ungläubig und etwas verwirrt starrte Schwedenklee auf Augusta -- schon
+kam ihm Blank mit ausgestreckten Händen entgegen.
+
+»Ich hatte gelobt, Ihre Liebenswürdigkeit nicht mehr zu mißbrauchen!«
+rief er lebhaft aus. »Sie sehen, ich bin schwach geworden. Wenn Sie mich
+nicht tief unglücklich machen, kränken wollen, müssen Sie mir erlauben,
+Sie zu einer Wagenpartie nach dem Grunewald einzuladen.«
+
+»Ich bin leider gerade sehr beschäftigt, Herr Blank.«
+
+»Nein, nein, verletzen Sie mich nicht, ich bitte Sie! Geben Sie mir
+Gelegenheit, mich für Ihre Einladung zu revanchieren.«
+
+Schwedenklee fand sich noch immer nicht zurecht. Wagen -- Grunewald --
+und wie sah Blank aus? Er war kaum wiederzuerkennen!
+
+Er trug einen noch recht ordentlich aussehenden dunkeln Ulster, einen
+neuen Hut, neue Schuhe -- und seine Blässe war völlig verschwunden. Sein
+Gesicht war leicht und gleichmäßig gerötet, wie das eines gesunden,
+glücklich erregten Menschen. Erst später fand Schwedenklee, daß diese
+Röte von hohem Fieber herrührte.
+
+Blanks Augen strahlten vor Freude, es war Schwedenklee ganz unmöglich,
+ihn zu enttäuschen. Er bat noch um eine Minute Geduld.
+
+»Ich werde dem Kutscher unterdessen Bescheid sagen. Sie essen doch im
+Grunewald mit mir?«
+
+Nun rollten sie dahin.
+
+»Mein Freund!« rief Blank unter lebhaften Gesten aus. »Ich sehe, Sie
+sind außerordentlich erstaunt. Ich bin es ja selbst! Noch immer kann ich
+es nicht fassen. Wissen Sie denn, was geschehen ist? Niedergebrochen,
+erschöpft, in Verzweiflung, habe ich plötzlich neuen Lebensmut bekommen.
+Ahnen Sie, was das bedeutet? Neuen Lebensmut? Ich fange wieder an zu
+hoffen. Vielleicht -- ja wer weiß es, aber ich habe immerhin die
+Hoffnung --, vielleicht hat das Schicksal in einer guten Laune
+beschlossen, mir so etwas wie einen Nachsommer zu schenken! He,
+Kutscher, fahren Sie doch etwas hurtiger, nicht so langsam!«
+
+»Ich freue mich aufrichtig, Sie zuversichtlicher zu sehen!«
+
+»Und das kam so, mein lieber und verehrter Herr Schwedenklee! Hören Sie
+nun. Sie, mein verehrter Freund, Sie sind die Ursache! Ja! Ihr, wie
+sagten Sie in Ihrer großen Güte, Ihr Darlehen -- damit begann es. Mein
+Himmel, was ist seitdem alles geschehen! Ich bin verwirrt, kindisch
+geradezu. Ich hatte den Mut, die Selbstüberwindung, Ihren Brief nicht
+sofort zu öffnen. Bei jeder Laterne kämpfte ich mit mir. Nein, sagte
+ich, du bist kein Bettler! Zu Hause öffnete ich Ihren Brief und --
+glauben Sie mir -- ich war vor Erstaunen minutenlang betäubt. Morgen,
+sagte ich, bringe ich ihm das Geld zurück. Morgen! Aber am Morgen dachte
+ich anders. Plötzlich -- es war wie ein Wunder, stieg wieder, nach
+Monaten, ein Gefühl der Hoffnung in meinem Herzen empor. Ich sagte mir:
+wenn Gott dir einen gütigen Freund in den Weg gesandt hat, weshalb
+willst du diesen Wink des Himmels nicht verstehen? Gut, ich brachte das
+Geld nicht zurück!
+
+Ich handelte! Ich raffte mich auf! Ich löste meine Kleider aus -- hier,
+diese Kleider. Ich ging zu einem Friseur. Ich ging in eine Badeanstalt.
+Ich ging in ein Restaurant und aß. Ich wurde plötzlich ein anderer
+Mensch! Hoffnungen beflügelten mich. Ich ging in die Filmbörse. Waren
+Sie schon in der Filmbörse? Ein Kaffeehaus in der Friedrichstraße?«
+
+Schwedenklee schüttelte den Kopf.
+
+»Gehen Sie nicht hin. Sie werden nie so viel Elend, offenes und
+verborgenes, schlecht verborgenes Elend, auf einer Stelle finden. Ich
+gehe hin -- ich bin gesättigt, anständig gekleidet, ich bestelle Kaffee.
+Glückt es heute nicht, so glückt es morgen. Ich fühle Ihr Kuvert in
+meiner Tasche, ich habe keine Eile, ich fühle mich sicher.
+
+Was denken Sie? Regisseure kommen herein. Sie haben das ja nie
+beobachtet. Man kennt diese Regisseure, die Herren und Damen stürzen
+sich förmlich auf sie --! Aber auf _mir_ ruht sein Blick, der Blick des
+Allmächtigen. Ich tue, als kümmere es mich nicht im geringsten. Er
+geruht an meinen Tisch zu kommen. Er stellt sich vor, denken Sie,
+obschon ihn hier jedermann kennt und er es genau weiß. Was denken Sie,
+was geschieht? Er verpflichtet mich für zwei Filme, zwei -- bei sehr
+gutem Honorar! Zwei Filme!« Blank lachte laut heraus und breitete die
+Arme den Vorübergehenden entgegen.
+
+»Ich hatte früher eine Verachtung für den Film, müssen Sie wissen. Er
+erschien mir wie eine Profanierung der Kunst. Ich war immer Idealist,
+das heißt ein Dummkopf -- werde es bleiben bis an mein Lebensende, kann
+nicht anders. Ich lehnte früher, da ich noch auf hohem Rosse saß, jedes
+Engagement ab. Später aber gab sich es bescheidener und war zufrieden,
+in der Komparserie zu filmen, bis ein Regisseur schrie: Bedauere, Sie
+_verhusten_ mir ja jede Aufnahme. Ja, so sagte er: Sie verhusten ...
+hahaha!«
+
+So laut war Blank, so froh erregt, daß Schwedenklee der Überzeugung war,
+er sei etwas angeheitert.
+
+»Zwei Filme also,« fuhr Blank lebhaft fort, »Sie sehen, das Unfaßbare
+war geschehen. Ein Wunder hat sich ereignet! Das Schicksal hatte mich
+völlig vergessen, plötzlich aber ließ es sein Auge wieder in Gnaden auf
+mir ruhen. Ich filme bereits eine ganze Woche, heute, am ersten freien
+Tag, eilte ich zu Ihnen, um Ihnen die große Neuigkeit zu verkünden. --
+Im ersten Film, der zur Zeit gedreht wird, spiele ich die Rolle eines
+Günstlings der großen Katharina, der an schleichendem Gift, das ihm sein
+Rivale, ein französischer Abbé, eingab, dahinsiecht. >Die Rolle ist
+Ihnen wie auf den Leib geschrieben, Blank<, sagte der Regisseur. Sie
+sehen! Ja, eine herrliche Sache: ich sieche dahin, drei Akte hindurch.
+Meine erlauchte Geliebte läßt mich fallen im Augenblick, da ich den
+Stempel des Todes auf der Stirn trage. Aber ich räche mich ...«
+
+Blank nahm eine Schachtel aus der Tasche und bot Schwedenklee eine
+Zigarette an. »Ich habe nicht vergessen, daß Sie ein leidenschaftlicher
+Raucher sind, hoffentlich schmeckt Ihnen die Marke. He, Kutscher, lieber
+Freund, halten Sie einen Augenblick!« Und Blank bot mit fliegender Hand
+Feuer. »Und nun, lassen Sie das Pferdchen wieder laufen!«
+
+Wohlig stieß Blank die Rauchwolken in die durchsonnte Luft, indem er
+fortfuhr:
+
+»Weitaus amüsanter ist der andere Film, den wir in acht Tagen drehen
+werden. Er wird Sie erheitern, mein verehrter Freund. Ich bin also ein
+heruntergekommener Graf und sitze an der Straße als Bettler! Eine Dame,
+die mich in meinem früheren Leben kannte, eine Tänzerin, reicht mir --
+sie ist eben im Begriff, in ihr Auto einzusteigen -- ein Goldstück. Aber
+siehe da, schon erkennt sie mich. Sie nimmt mich in ihren Wagen. Die
+Menge der Neugierigen, die sich ansammelte, spendet ihrem mitleidigen
+Herzen Beifall. Ich werde gefüttert, gepflegt -- und schon bin ich
+wieder ein Graf, ein hochfeudaler, etwas hinfälliger Greis. Die Tänzerin
+unterbreitet mir einen Ehekontrakt. Sie will meinen Adel heiraten, und
+ich soll nach der Trauung, laut Kontrakt, verschwinden für immer. Aber
+was glauben Sie? Ich tue es nicht, ich bin nun wieder an das gute Leben
+gewöhnt, drohe, verteidige meine Ehre, werfe die Liebhaber die Treppe
+hinunter, sperre meine schöne Gattin in die Bügelkammer. Hahaha! Ist es
+nicht lustig? Ja, auch Sie müssen lachen. Ich sehe sogar, daß Sie
+gespannt sind, wie es endet, aber Sie schämen sich zu fragen. Habe ich
+recht?«
+
+»Ja, Sie haben recht.«
+
+»Nun, so sollen Sie hören. Meine Gemahlin ist schlauer als ich. Sie lädt
+eine Nichte ein, ein süßes Geschöpf -- ich bin töricht genug, mich zu
+verlieben, werde bei einem zärtlichen Tete-a-tete ertappt -- Scheidung!
+Meine Aktien stehen schlecht, ich bin genötigt, mich zu verabschieden,
+stecke die Abfindungssumme ein, und in der Schlußszene sehen Sie mich
+als alten Gecken flanieren. Ich mache Bekanntschaft, Sekt, meine Dame
+stiehlt mir die Abfindungssumme und die Kellner werfen mich auf die
+Straße -- hahaha!«
+
+»Aber Kutscher,« unterbrach Blank plötzlich seinen Redeschwall und
+berührte, erschrocken aufspringend, die Schulter des Kutschers, »ist es
+denn nötig, daß Sie uns mitten in den See hineinfahren?« Augenblicklich
+aber sah Blank seine Täuschung ein. »Verzeihung -- ja, es war eine
+Sinnestäuschung. Ich sehe ja, es ist der Himmel, der sich im Asphalt
+spiegelt, es war nur eine vorübergehende -- wie soll ich sagen --?«
+
+»Ich glaube,« fuhr Blank nach einer Pause mit der gleichen Lebhaftigkeit
+fort, »mein Glück hat mich schwindlig gemacht! Ich fiebere in diesen
+Tagen sehr stark, aber ich fiebere, weil ich wieder hoffe. Ich empfinde
+dieses Fieber geradezu angenehm! Ja, merkwürdig und geheimnisvoll ist
+dieses Leben! Ist es nicht sonderbar, daß schon früher einmal Sie, ja
+gerade Sie, verehrter Freund, Sie und kein anderer es waren, der in
+einem Augenblick der größten Verlegenheit entscheidend in mein Leben
+eingriff? Soll man da nicht an Mysterien, an wunderbare, geheime
+Zusammenhänge glauben?«
+
+Schwedenklee war äußerst erstaunt. »Ich sollte schon früher einmal --?«
+
+»Ja!« Blank rückte vertraulich näher und lachte. »Ja! Ein Geständnis.
+Ich habe Ihnen erzählt, daß ich Rosa in Nürnberg kennenlernte. Mein
+Engagement in dieser Stadt war geradezu kläglich, und ich war ziemlich
+abgerissen. Nun schrieb mir ein Kollege aus Köln, daß dort eine Vakanz
+sei. Köln! Aber wie nach Köln kommen, ohne Geld, in diesem Aufzuge --
+zum Verzweifeln. Ich sprach mit Rosa, und Rosa sagte, ich werde an
+Schwedenklee schreiben.«
+
+»Schrieb sie denn?«
+
+»Ja. Sie flunkerte ein bißchen, daß sie notwendige Garderobe brauche.
+Und Sie sandten postwendend tausend Franken.
+
+Tausend Franken! Reise, Anzug, Hotel, oh, wie wichtig ist das -- Sie
+ahnen es nicht, da Sie das Theater nicht kennen. Alles war plötzlich
+ermöglicht! Übrigens haben wir Ihnen die tausend Franken nach zwei
+Monaten zurückgeschickt«, sagte Blank voller Genugtuung.
+
+»Ja -- was für merkwürdige Zusammenhänge! Und nun wieder! Fühlen Sie,
+wie wunderbar die Luft ist!« schwärmte Blank, während sie in den
+Grunewald hineinrollten. »Und die Sonne wärmt schon ordentlich! Sie
+ahnen nicht, wie glücklich ich bin ...«
+
+Blank lehnte sich behaglich in den Wagen zurück. Er nahm den Hut ab und
+ließ die heiße Stirn im Luftzuge kühlen.
+
+
+
+
+ 12
+
+
+Fräulein Nelly Wiedehopf -- die Dame mit den turmartig aufgebauten
+Haaren und den glänzend polierten Fingernägeln -- hatte ihre
+Eigenheiten. Es ging nicht alles so, wie Schwedenklee gedacht hatte.
+Einmal erschien sie höchst erregt -- ihr Polarfuchs war gestohlen worden
+oder sie hatte ihn verloren. Jedenfalls, der Polarfuchs war
+verschwunden. Sie redete tagelang von dem Polarfuchs, war in
+schlechtester Laune, so daß sich Schwedenklee endlich entschloß, ihr
+einen neuen Polarfuchs zu kaufen. Kaum aber hatte er den Pelz gekauft,
+da fand sich der alte Polarfuchs wieder! Und nun ließ sie den alten
+Polarfuchs in einen Muff umarbeiten, mit Seidenfutter und einer
+eleganten Innenausstattung für Spiegel und sonstige Kleinigkeiten --
+vergebens wies Schwedenklee darauf hin, daß der Sommer vor der Türe
+stand.
+
+Kürzlich aber passierte folgende, immerhin etwas peinliche Sache: Nelly
+erschien mit rotgeweinten Augen. Ihre Tante in Lübeck war gestorben. Sie
+brauchte ein Trauerkostüm, Reisegeld und, da die Tante sehr arm war,
+noch einen Zuschuß zu den Beerdigungskosten. »Ich kann die Schwester
+meiner Mutter unmöglich wie eine Armenhäuslerin begraben lassen auf
+städtische Unkosten!« Nelly war völlig aufgelöst. Schwedenklee griff in
+die Brieftasche. Besonders der Zuschuß zu den Beerdigungskosten
+schmerzte ihn. Ging es nicht etwas sehr weit, daß er sogar die
+Bestattungskosten einer Tante tragen sollte, von deren Existenz er erst
+in dem Augenblick etwas erfuhr, da sie starb?
+
+Er empfahl Sparsamkeit, die wahre Trauer zeige sich nicht in
+Äußerlichkeiten. Er, für seine Person, würde zum Beispiel gern mit einer
+einfachen Holzkiste zufrieden sein -- er würde sie einem der
+entsetzlichen Särge sogar vorziehen! Überhaupt mache man zu große
+Scherereien mit Verstorbenen, die ja nur den einen Wunsch hätten, daß
+man sie in Ruhe lasse.
+
+Nelly nannte ihn herzlos. »Natürlich,« rief sie aus, »du hast ein
+herrliches Leben genossen, was kümmert es dich, wenn du in einer
+billigen Kiste begraben wirst? Aber Leute, denen es kümmerlich ging im
+Leben, wollen wenigstens als Tote einigermaßen wohlhabend erscheinen.
+Aber das wirst du nie begreifen.«
+
+Immer wurde Nelly sofort ausfallend!
+
+Um es gleich zu sagen: die ganze Sache mit der verstorbenen Tante war
+eine Lüge. Nelly fuhr nach Lübeck, das ist wahr. Sie erschien nach etwa
+einer Woche wieder, in ihrem schwarzen Trauerkostüm, das die Blässe
+ihres Gesichtes herrlich hervorhob, kokettierte sie nach allen Seiten --
+später aber verplapperte sie sich. Es kam an den Tag, und sie gestand:
+es war ein Einfall von ihr, dem sie nicht widerstehen konnte.
+
+Schwedenklee war verstimmt und zog sich zurück. Das ging denn doch zu
+weit. Und dazu hatte Nelly richtig geweint, aus Schmerz über den Tod
+einer Tante, die gar nicht existierte. Diese Frauen waren wirklich ein
+Rätsel!
+
+»Nein, nein,« sagte Schwedenklee zu sich, »dir kann man ja schon alles
+aufbinden!« Seine Eitelkeit war tief verletzt.
+
+Aber Nelly hatte ihre Vorzüge, ohne Zweifel. So war sie, zum Beispiel,
+sehr leidenschaftlich. Sie zitterte, wenn man sie nur mit den Lippen
+berührte. Aber vielleicht ist auch das nur Komödie? dachte Schwedenklee,
+unsicher geworden. Man weiß wirklich nicht mehr, woran man bei diesen
+Frauen ist!
+
+Sodann war Nelly interessant! Ihr Teint war bleich, und je näher man sie
+betrachtete, desto bleicher erschien ihr Teint. Sie hatte kleine
+rötliche Sommersprossen, die den Teint noch durchsichtiger erscheinen
+ließen. Sie hatte scharfe, helle Vogelaugen, die Brauen wuchsen leicht
+zusammen, und wenn man sie ganz nahe betrachtete, erschien ihr Gesicht
+in der Tat fast gespenstisch.
+
+Nelly verstand es, sich zu kleiden -- mit nichts! Mit nichts täuschte
+sie den Luxus einer reichen Ausländerin vor. Man nahm an, daß
+Schwedenklee Tausende für sie ausgab. Das schmeichelte Schwedenklees
+Eitelkeit immerhin.
+
+Nelly verstand es, sich zu benehmen. Man konnte mit ihr getrost in
+ersten Hotels dinieren -- die Kellner wichen ersterbend zurück. Ein
+Lächeln von ihr entzückte den Direktor, die Herren verdrehten die Hälse.
+(Und doch war sie nur Buchhalterin in einem Herrenschneidergeschäft!)
+Wie sie ihren Fuß setzte -- das allein war ein Roman!
+
+Aber was zuviel ist, ist zuviel. Schwedenklee zog sich zurück. Er
+erkaltete. Aus purer Bosheit reiste er nach Lübeck -- zu Studienzwecken
+-- und sandte ihr eine Ansichtskarte.
+
+Als er zurückkehrte, fand er einen kurzen, aber zu seiner größten
+Verwunderung herzlich und warm gehaltenen Brief von Nelly vor. Dazu ein
+Paar antiker goldener Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte.
+
+Schwedenklee war beschämt. Er hatte kaum den Mantel abgeworfen, so
+schrieb er Nelly schon einen langen Brief. »Das mit den Ohrringen würde
+er ihr nie verzeihen!«
+
+Am nächsten Tage schon kam Nelly. Sie stürzte in seine Arme und biß ihn
+so stark in die Wange, daß man tagelang ihre Zähne sah. »Das zur
+Strafe!« sagte sie. Nach Tisch begann sie plötzlich zu singen -- nun,
+kurz und gut, es stellte sich heraus, daß man während seiner Abwesenheit
+ihre Stimme entdeckt hatte! Sie wollte sich ausbilden lassen. Sie war in
+größter freudiger Erregung. In Wirklichkeit, Nelly hatte eine kräftige,
+wenn auch etwas grelle Stimme.
+
+»Du hast jene unerklärliche Nebenschwingung in der Stimme,« sagte
+Schwedenklee sachverständig, »jenes Timbre, das nur große Sängerinnen
+haben, dazu hat deine Stimme Umfang. Du hast auch die bezeichnende,
+etwas belegte Sprechstimme -- weiß Gott, wieso ich deine Stimme nicht
+früher erkannte.«
+
+»Weil du kein wirkliches Interesse für mich hast!«
+
+Schwedenklee tat gekränkt. Die Versöhnung war vollständig. Schon in den
+nächsten Tagen lud Schwedenklee den Bassisten von der Oper -- mit dem er
+zuweilen Schach spielte -- zu sich zum Abendessen. Er sollte sein Urteil
+abgeben.
+
+Wiederum hatte Augusta sich alle Mühe gegeben. Sie liebte Nelly, denn
+Nelly lief immer in die Küche, umarmte Augusta, die von der Hitze des
+Herdes schwitzte, und küßte sie sogar auf die Backe.
+
+Der Bassist aß mit vorzüglichem Appetit und trank ganz allein eine
+Flasche teuren Rheinwein. Dann sang Nelly zu Schwedenklees Begleitung.
+
+»Herrlich, wunderbar!« schrie der Bassist begeistert und klatschte mit
+den fetten Händen. »Die Patti, die Hempel, die Farrar -- in zwei Jahren
+werden Sie in Neuyork singen!«
+
+»Siehst du?« sagte Nelly mit einem triumphierenden Blick.
+
+Man schmiedete Pläne, entwarf Programme, wählte Lehrer, der Bassist bot
+sich für die stimmtechnische Ausbildung an. Und zwar ohne jegliches
+Honorar! Aber Schwedenklee protestierte energisch und erklärte Schwarz
+klipp und klar, daß er ihm Nellys Ausbildung nur dann anvertrauen würde,
+wenn der Sänger sie zu seinen gewohnten Bedingungen als Schülerin
+annehmen würde. In die Ecke gedrängt, willigte Schwarz endlich ein.
+Schwedenklee war in gehobener Laune und holte neuen Wein aus seinem
+Geheimschrank.
+
+Nelly hauchte ihm in einer Sekunde zehn kleine verliebte Küsse auf die
+Glatze. Es blieb alles beim alten. Trotzdem -- die Sache mit der Tante
+konnte Schwedenklee nie ganz vergessen.
+
+ * * * * *
+
+Es wurde schon heiß. Die Kartentische leerten sich langsam. Die
+Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute fuhren mit ihren Familien aufs Land. Nur
+in dieser Zeit wurde man plötzlich gewahr, daß fast alle Stammgäste und
+Spieler Familienväter waren. Gewöhnlich hielt man sie für Junggesellen
+ohne jegliche Verpflichtungen.
+
+Schwedenklee reiste mit Nelly auf vier Wochen nach Heringsdorf. Der
+Bassist Schwarz -- der die stimmtechnische Ausbildung übernommen hatte
+-- begleitete sie. Schwedenklee hatte ein kleines Gut an der Ostsee, und
+Nelly, der er zuweilen von dem Landgut vorgeschwärmt hatte, wollte
+zuerst dort den Urlaub verbringen. Sie träumte von Hühnern, Schweinen,
+Leiterwagenpartien. Aber Schwedenklee setzte plötzlich die Besitzung
+herab -- das Haus sei feucht! Die Kinder des Pächters hätten
+Diphtheritis! Aus irgendeinem Grunde -- das fühlte Nelly -- wollte er
+sie nicht in »Siebenbirken« haben.
+
+Aber sie tröstete sich schließlich mit Heringsdorf. Sie brachte ein
+halbes Dutzend von Badekostümen mit, die Aufsehen erregten, so kühn
+waren sie. Und woraus waren sie gemacht? Aus _nichts_!
+
+Nelly feierte Triumphe. Nach drei Tagen schon war sie eine der
+bekanntesten Erscheinungen in Heringsdorf. Man beneidete Schwedenklee um
+diese Frau, er fühlte es deutlich. (Und doch war sie nur Buchhalterin in
+einem Herrenschneidergeschäft!)
+
+Die stimmtechnische Ausbildung nahm ziemlich viele Stunden des Tages in
+Anspruch. Es gab sogar kleine Eifersuchtsszenen, obschon es
+Schwedenklees oberstes Prinzip war, nie zu zeigen, daß ihm eine Frau so
+viel wert war, daß er eifersüchtig werden könnte. »Denn dann«, pflegte
+er zu sagen, »bist du verloren, mein Sohn!«
+
+Es war ja selbstverständlich, daß Schwedenklee die Hotelrechnungen des
+Bassisten bezahlte -- sonstige Honorare forderte Schwarz während des
+Badeaufenthalts nicht. Er tat es aus Begeisterung für Nellys Stimme.
+
+Nun, Gott sei Dank, auch diese Wochen gingen vorüber, und nun saß Nelly
+wieder -- duftend, wie aus dem Ei geschält -- in der Herrenschneiderei.
+
+Nellys Unterricht bei Schwarz ging natürlich ohne Unterbrechung weiter
+-- in nächster Zeit begann auch der dramatische Unterricht bei einem
+Schauspieler.
+
+Alles hat schließlich seine Grenzen, dachte Schwedenklee, als er die
+letzten Stundengelder bezahlte.
+
+
+
+
+ 13
+
+
+Schwedenklee hatte im Laufe des Sommers kaum mehr an Blank gedacht. Bei
+seiner Rückkehr fand er einen Brief vor, voller Dankesbeteuerungen --
+die geliehene Summe lag bei -- bei Heller und Pfennig.
+
+Auch das hatte Schwedenklee vergessen, als der Winter anbrach.
+
+Er dachte gar nicht mehr an Blank. Plötzlich aber erhielt er einen
+Brief: Blank war erkrankt. Sein »Nachsommer« hatte ein rasches Ende
+gefunden. Eine Lungenentzündung hatte seiner Tätigkeit als
+Filmschauspieler ein rasches Ende bereitet. Er war in größter Not, in
+Verzweiflung. Selbstverständlich zögerte Schwedenklee nicht, ihm
+beizuspringen. Er fühlte sich förmlich verpflichtet dazu.
+
+Dann hörte er nichts mehr von Blank.
+
+Nelly deutete an, daß sie ihre Stellung in der Herrenschneiderei
+aufgeben wolle. Aber sie fand bei Schwedenklee nur taube Ohren. Eine
+Frau von ihrer wirtschaftlichen Basis loslösen -- was bedeutete das?
+Nein, dafür war Schwedenklee nicht zu haben, sein Verantwortungsgefühl
+war zu groß.
+
+Also blieb Nelly in ihrer Stellung. Sie schmollte indessen, sie warf
+Schwedenklee vor, daß er »nicht großzügig« sei, ja geradezu geizig, eine
+Krämerseele. »Wenn ich nur einen deiner Bauplätze hätte, die heute
+Millionen wert sind,« sagte sie, »da solltest du sehen, wie ich meine
+Freunde behandeln würde! Da könntest du etwas lernen.«
+
+So sind die Frauen, dachte Schwedenklee, unersättlich!
+
+Er bezahlte die Stunden bei Schwarz, wöchentlich vier, und diese Sänger
+hatten ja unerhörte Honorare! Neuerdings kam dazu der dramatische
+Unterricht, und er hatte herausgefunden, daß Nelly mindestens die Hälfte
+der Stunden zuviel notieren ließ. So viel freie Zeit erlaubte ihr ja
+ihre Stellung in der Schneiderei gar nicht!
+
+Überdies mißfiel ihm das Verhältnis zwischen Schwarz und Nelly. Es
+schien eine etwas sonderbare Vertraulichkeit angenommen zu haben. Er
+hatte einmal einen kleinen, gänzlich unscheinbaren Blick zwischen den
+beiden aufgefangen. Nun, er, Schwedenklee, war kein heuriger Hase, er
+wußte genau, zu genau, was solch ein Blick unter Umständen bedeuten
+konnte! Er behandelte den Sänger um einige Grade kühler.
+
+»Ich habe den Eindruck,« sagte der Bassist mit gekränkter Miene, »daß
+Ihnen meine Honorare zu hoch sind?«
+
+»Ihre Honorare? Aber ich bitte Sie, Verehrtester, ich wünsche doch
+nicht, daß Sie mir besondere Preise machen. Mißverstehen Sie mich nicht
+-- die Ausgaben für Nellys Ausbildung im allgemeinen ...«
+
+»Aber ich bitte Sie, Verehrtester -- für solch eine Stimme!«
+
+»Zugegeben! Aber Sie ahnen nicht, welche Beträge ich monatlich zu
+bezahlen habe. Jetzt taucht schon die Frage der Kostüme auf ...«
+
+»Gut.« Der Bassist bearbeitete mit der Kreide kunstgerecht das Leder des
+Billardqueues -- die Unterredung fand im Billardsaal des Cafés statt --
+»Ich werde also künftighin kein Honorar mehr fordern. Ich unterrichte
+aus Interesse für diese ungewöhnliche Begabung.«
+
+Schwedenklee protestierte mit großer Beredsamkeit. Unmöglich konnte er
+diesen Vorschlag annehmen, ganz unmöglich! Er geriet sogar in Erregung.
+Alles blieb beim alten.
+
+Schließlich aber hat alles seine Grenzen, dachte Schwedenklee, während
+er sorgfältig mit der Spitze des kunstvoll aufgestützten Queues nach dem
+Ball zielte.
+
+ * * * * *
+
+Der Winter war lau. Nebel, Dunst, Regen. Nur dann und wann lag schwarzer
+Schnee auf den Dächern. Im Februar aber setzte plötzlich eine solch
+grimmige Kälte ein, daß die Dampfheizung nicht mehr genügte.
+Schwedenklee mußte seinen elektrischen Ofen zu Hilfe nehmen, um nicht zu
+frieren. Nichts haßte er mehr als Kälte.
+
+Gerade als Schwedenklee sich nach Tisch etwas niedergelegt hatte, die
+Decke über den Knien, den elektrischen Ofen neben der Ottomane, wurde er
+von Augusta aufgeweckt.
+
+»Eine Krankenschwester wünscht Sie dringend zu sprechen.«
+
+»Eine Krankenschwester?« fragte Schwedenklee ziemlich mürrisch.
+Plötzlich, schnell erwachend, erschrak er. »Mich? Ja, was in aller Welt
+--?« Vielleicht Nelly, dachte er. Ah, mit diesen Frauen hat man nie
+Ruhe.
+
+Schon trat die Schwester ein, ohne viele Umstände zu machen. Sie war ein
+großes, ungeschlachtes Mädchen mit weißgelbem Haar.
+
+»Herr Schwedenklee?« Ihre Stimme klang gefühllos und herrisch.
+
+Rügend ruhte Schwedenklees Blick auf ihren unförmigen Gummischuhen, die
+sie mit ins Zimmer brachte und die seinen Teppich beschmutzten.
+
+»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, brummte er, während er die Decke
+völlig von sich warf. »Ich bin nicht ganz wohl, etwas erkältet.«
+
+Die Schwester ignorierte seine Erkältung, seine Verlegenheit, seinen
+deutlichen Unwillen über die Störung.
+
+»Ich komme von Herrn Blank«, sagte sie laut und mit völlig gefühlloser
+Stimme, als bitte ihn Blank zu einer Partie Billard. »Er liegt im
+Sterben.«
+
+»Wie sagen Sie --?« Schwedenklee sprang erschrocken auf. Er erbleichte.
+Sterben, Tod ...
+
+Die Schwester erklärte, daß Blank den dringenden Wunsch habe, ihn zu
+sehen.
+
+»Was will er von mir?« stammelte Schwedenklee.
+
+»Das weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Er hat im Fieber viel
+von Ihnen gesprochen. Ich habe den Eindruck, daß er Ihnen etwas
+Wichtiges mitteilen möchte.«
+
+»Mir? Mitteilen? Etwas Wichtiges?«
+
+»Was weiß ich? Es interessiert mich auch nicht. Sie werden also kommen?«
+
+»Ja, gewiß werde ich kommen.« Schwedenklee hätte gar nicht den Mut
+besessen, dieser energischen Person etwas abzuschlagen.
+
+»Ich schreibe Ihnen hier die Adresse auf. Im Osten. Bei der Frankfurter
+Allee.«
+
+»Sie gehen, Schwester?«
+
+»Ich kann ihn nicht allein lassen.«
+
+Schon war sie fort.
+
+»Eine unangenehm energische Person!« dachte Schwedenklee. »Gott soll
+mich davor behüten, daß ich in meiner Sterbestunde solch ein Wesen, mit
+so großen Füßen, um mich habe!«
+
+»Augusta!«
+
+Schwedenklee war sehr erregt. Einen Augenblick dachte er sogar trotz
+seiner Zusage daran, nicht hinzugehen. Der Gedanke entsetzte ihn
+plötzlich, in ein Sterbezimmer treten zu müssen. Armut dazu, vielleicht
+war es schlecht gelüftet? Aber nein, das war ja Feigheit. Ein
+Sterbender! Lieber Himmel, dieses Leben ist in der Tat eine höllische
+Erfindung. Er starrt zur Türe, wartet auf ihn, den Todesschweiß auf der
+Stirn. Nein, unmöglich! Ein Sterbender ist ein heiliges Wesen -- jeden
+Wunsch muß man ihm erfüllen.
+
+Aber in welchem Anzug geht man zu einem Sterbenden? Schwedenklee kam in
+seiner Aufregung auf den unglücklichen Einfall, einen Zylinder
+aufzusetzen -- um die Feierlichkeit zu betonen.
+
+»Mitzuteilen?« Ja, was in aller Welt mochte er ihm mitzuteilen haben?
+Schwedenklee erinnerte sich plötzlich jenes Briefes, in dem Blank
+seinerzeit schrieb, daß er ihm unter Umständen wichtige Mitteilungen zu
+machen habe.
+
+Und später hatte er widerrufen ...
+
+»Ich werde nie Ruhe vor diesem Menschen haben!«
+
+In großer Erregung eilte Schwedenklee auf die Straße. Die unmögliche
+Adresse hielt er in der Hand. Es war ja ganz undenkbar, hier an der
+Potsdamer Brücke einem Chauffeur _diese_ Adresse zu nennen. Schwedenklee
+ging zu Fuß bis zum Potsdamer Platz, um sich zu sammeln.
+
+Nein, eine unangenehmere Sache konnte man sich beim besten Willen nicht
+ausdenken. Und dazu -- plötzlich blieb Schwedenklee verwirrt stehen --
+dazu sollte Nelly um sechs Uhr zum Tee kommen! Schließlich konnte er ja
+telephonieren ... Und diese eisige Kälte, die sich wie Säure in die Haut
+fraß.
+
+Am Potsdamer Platz hatte Schwedenklee folgende Entschlüsse gefaßt.
+Erstens: ich werde hingehen. Zweitens: ich werde bis zum Alexanderplatz
+mit der Untergrundbahn fahren und dort eine Droschke nehmen -- dort
+fällt es nicht auf -- drittens: ich werde Augusta telephonieren, für den
+Fall, daß ich bis sechs Uhr nicht wieder zurück sein sollte. Viertens
+werde ich jetzt erst einen Kaffee trinken.
+
+Es dämmerte schon, als Schwedenklee in der bezeichneten Straße ankam.
+Das Auto, der Herr im Pelz und Zylinder erregten großes Aufsehen.
+Beklemmend war diese düstere Straße voll schleichender, hüstelnder
+Menschen, die seinen Zylinder und Pelz anstarrten, mit gierigen,
+höhnischen, erstaunten Augen. Frech streiften Schwedenklee die Blicke
+halbwüchsiger Mädchen.
+
+Das bezeichnete Haus strömte Armut und Verzweiflung aus. Es stand und
+schwieg, wie ein düsteres Gesicht mit zusammengebissenen Zähnen.
+
+Schwedenklee betrat es klopfenden Herzens.
+
+Das Stiegenhaus war erfüllt von fernem, wirrem Lärm. Gezänk,
+Kinderweinen, schlagende Türen. Ein saurer, unangenehmer Geruch stieg
+von der schmutzigen Treppe auf -- hier roch es nicht nach Lack und dem
+feinen Parfüm emporschwebender Pelze wie im Westen.
+
+Schwedenklee hatte von solchen Häusern bis jetzt nur _gelesen_. Hier
+wurde gemordet, tagelang lagen Verstorbene in den kalten Wohnungen,
+bevor man sie fand, Hoffnungslose lösten den Gasschlauch --
+
+»Pst -- mein Herr -- wollen Sie zu Fräulein Lisa?« Zischeln unter ihm.
+
+Schwedenklee kletterte rascher die Treppe empor, sein Herz klopfte
+erschrocken.
+
+»Pst -- pst -- mein Herr!«
+
+Achtunggebietend räusperte sich Schwedenklee, von Ekel und Furcht
+ergriffen.
+
+Er floh an den Türen vorüber, hinter denen sich unbegreifliche
+Schicksale verbargen, die zu erfahren ihn nicht gelüstete.
+
+Lärm empfing ihn im nächsten Stockwerk. Die Türe öffnete sich und eine
+korpulente Dame, offenbar in festlicher hochzeitlicher Kleidung, trat
+zigarettenrauchend, anscheinend etwas angeheitert, auf den Flur. Drinnen
+lärmten und schrien ausgelassen die Hochzeitsgäste.
+
+Schwedenklee griff an die Krempe des Zylinders.
+
+»Guten Abend!« sagte die zigarettenrauchende Braut und warf Schwedenklee
+einen langen verführerischen Blick zu. Langsam schloß sie die Türe,
+während sie Schwedenklee, der sich nicht enthalten konnte
+zurückzublicken, mit zusammengekniffenem Auge zulächelte. Der Lärm der
+Hochzeitsgäste klang ferner.
+
+Schärfer stieg wieder der schlechte Geruch aus den feuchten
+ausgetretenen Treppenstufen.
+
+Da hielt Schwedenklee den Schritt an: an einer Türe klebte ein Zettel.
+»Leise klopfen, ein Schwerkranker! Man bittet auf der Treppe nicht zu
+lärmen. Schwester Anna.«
+
+Hier also war es. Schwedenklees Herz stockte. Ein schweres, rätselhaftes
+Schnarchen, ein Sägen wie das Schnarchen eines Riesen ertönte hinter der
+Türe. Augenblicklich -- obschon er nicht weiter darüber nachdachte, was
+das sonderbare Schnarchen zu bedeuten habe -- ergriff Schwedenklee die
+Flucht.
+
+Er stieg bis zur Hochzeitsgesellschaft hinab. Dann wandte er um. »Wie
+feige ich doch bin!« dachte er.
+
+
+
+
+ 14
+
+
+Zaghaft pochte Schwedenklee, und sofort, lautlos, öffnete ihm die
+weißblonde, ungeschlachte Pflegerin mit den eckigen Hüften.
+
+»Sie kommen zu spät«, flüsterte sie vorwurfsvoll, mit einem
+mißbilligenden Blick auf Pelz und Zylinder. »Noch vor einer halben
+Stunde hat er nach Ihnen gefragt. Jetzt hat er das Bewußtsein verloren.«
+»Er« nannte sie den Sterbenden, »er« -- nicht mehr wert ist ein Mensch,
+der stirbt.
+
+Der gleiche röchelnde, furchtbare Schnarchton --. Schwester Anna schob
+Schwedenklee resolut durch die Türe.
+
+»Hier, diese Türe!« sagte sie.
+
+In großer Befangenheit trat er ein.
+
+Da sah Schwedenklee, daß dieser röchelnde Schnarchton aus dem weit
+geöffneten Munde eines im Bett halb aufrecht sitzenden leichenfahlen
+Mannes mit großen, gläsernen Augen kam.
+
+Da sah Schwedenklee -- nie wußte er später zu sagen, was er früher
+gesehen hatte, den Sterbenden oder das _Andere_ -- das Wesen, das vor
+dem Bette kniete ...
+
+Das Zimmer war nicht hell. Eine kleine Petroleumlampe ohne Schirm stand
+irgendwo auf dem Tische. Der Sterbende saß in den Kissen eines grau und
+elend aussehenden Bettes. Seine Brust keuchte in kurzen Stößen, sein
+gemarterter Atem stieß Rauchsäulen in die eisige Luft, sein
+eingefallenes Gesicht blendete von Schweiß.
+
+Vor dem Bett aber kniete ein Wesen -- ein Geschöpf, etwas
+Unbegreifliches, Wunderbares, vielleicht nur eine Vision seiner
+aufgeschreckten und verwirrten Sinne? -- ein Mädchen, die Hände betend
+verkrampft, die Augen auf das Antlitz des Sterbenden gerichtet -- ein
+Wesen, verklärt, unfaßbar -- _Ellen Fröhlich_, dieselbe Ellen Fröhlich,
+die er in Paris gekannt hatte -- nur jünger und seltsam verklärt!
+
+Fassungslos stand Schwedenklee und schloß die Augen. Er tastete mit der
+Hand nach der Wand, da er fühlte, wie er schwankte ...
+
+ * * * * *
+
+Wie lange dauerte dieses furchtbare Röcheln? Stunden, eine Ewigkeit. Und
+immerfort, unbeweglich kniete dieses verklärte Wesen, die Hände betend
+verkrampft vor dem Bette.
+
+Zuweilen nahm die Schwester ein feuchtes Tuch und wischte die Stirn des
+Sterbenden ab.
+
+Zuweilen hörte man den heiteren, trunkenen Lärm der
+Hochzeitsgesellschaft fern und wirr durch die Decke.
+
+Schwedenklee hatte nie gesehen, wie ein Mensch starb. Der Tod seiner
+Mutter war ihm telegraphisch mitgeteilt worden. Als der alte
+Schwedenklee im Sterben lag, hatte man ihm telegraphiert, und als er
+ankam, war schon alles vorbei.
+
+Schwedenklee stand versteinert, regungslos in der Ecke, das
+unbeschreibliche, unbegreifliche Wesen kniete, die Schwester tauchte
+zuweilen mit ihren feisten Händen das Handtuch in das Waschbecken -- und
+der Sterbende röchelte.
+
+ * * * * *
+
+Das Röcheln wurde schwächer, pfeifender, und plötzlich -- nach einer
+unfaßbaren Stille -- schrie eine ganz unbegreiflich entsetzte Stimme,
+die Stimme eines Mädchens, eines Kindes: »Papa! Papa!«
+
+Augenblicklich, ins innerste Herz getroffen durch den Ton des Mädchens
+-- der Kinderstimme, diesen Ton der letzten menschlichen Qual --
+augenblicklich wandte Schwedenklee sein Gesicht zur Wand. Nie in seinem
+Leben hat er diesen Schrei vergessen. Er war totenbleich und zitterte an
+allen Gliedern.
+
+
+
+
+ 15
+
+
+Die Schwester zog Schwedenklee in einen feuchten, eisigen Vorraum, eine
+Art Küche mit Ausguß, die Fenster waren gefroren.
+
+»Man hat ihm,« sagte sie, »während er schon todkrank lag, die letzten
+Habseligkeiten gepfändet. Noch gestern kam die Hauswirtin und machte
+eine solch fürchterliche Szene, daß es zu Tätlichkeiten zwischen mir und
+ihr kam. Sie holte die Polizei, die Polizei aber hatte doch mehr
+Einsicht, als sie den Kranken sah, und zog ab.«
+
+»Wie schön von Ihnen!« stammelte Schwedenklee ergriffen. Er drückte der
+Schwester bewundernd die Hand »Was für eine prächtige Frau sind Sie
+doch!« Diese ungeschlachte, kalte Person, ja, es gab immer noch
+Menschen! »Ich komme für alles auf, Schwester Anna,« stotterte er
+verlegen. Immer noch zitterte er am ganzen Körper, und seine Zähne
+klapperten. Seine Nerven hatten völlig versagt.
+
+»Wir haben nichts, auch nicht einen Pfennig, nur Schulden.«
+
+»Nun, so nehmen Sie, bitte. Ich gehe. Morgen früh bin ich wieder hier,
+ich habe heute nicht länger Zeit.«
+
+»Einen Augenblick!« sagte Schwester Anna und nahm ein Päckchen Briefe
+von einem verstaubten Brett.
+
+»Das hier ist für Sie, und hier ist ein Brief, den Blank gestern
+schrieb.«
+
+»Danke«, stammelte Schwedenklee und stürzte mit seinem Zylinder die
+Treppe hinab.
+
+Noch heute wußte Schwedenklee nicht zu sagen, wie er wieder in sein
+Stadtviertel zurückgekommen war. Er erwachte aus einer Art von geistiger
+Starre, als der Chauffeur die Türe des Autos öffnete. Zu seinem großen
+Erstaunen stand das Auto vor seinem Stammcafé.
+
+In einem völlig verstörten, entgeisterten Zustand kam Schwedenklee in
+den Billardsaal. Ohne zu denken hatte er offenbar dem Chauffeur das
+Stammcafé genannt.
+
+Niemand sprach ihn an, der Kellner wagte kaum guten Abend zu sagen --
+jeder fühlte, daß mit Schwedenklee etwas Außergewöhnliches geschehen
+war.
+
+»Lieber Freund!« Hinter einer Zeitung verborgen, zitternd an allen
+Gliedern, zuweilen Kaffee schlürfend, um seine Erregung zu verbergen,
+entzifferte Schwedenklee Blanks letzten Brief.
+
+»Lieber Freund! Ich habe große Eile. Schon umhüllen mich die Schleier
+des Todes. Ich verbrenne vor Qual. Der Gedanke an Sie ist mein einziger
+Trost, und ich klammere mich an Sie.
+
+Erbarmen Sie sich meiner Tochter Ellen! Beim Andenken Ihrer Mutter --
+erbarmen Sie sich meines Kindes. Ich übergebe Ellen Ihrem Schutz!«
+
+Schwedenklee zitterte, totenbleich im Gesicht, hinter seiner Zeitung.
+
+Der Bassist Schwarz näherte sich.
+
+»Nelly ist bitterböse auf Sie!« schrie er laut lachend. »Sie hat eine
+Stunde auf Sie gewartet, mein Gott, wie böse sie war!«
+
+Schwedenklee wich dem Blick des Sängers aus.
+
+»Verzeihen Sie«, sagte er leise und stockend, bebend vor verhaltener
+Erregung. »Ich komme soeben vom Sterbebett eines Freundes.«
+
+»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, stammelte Schwarz und begab sich
+rasch zu den Kartentischen.
+
+»Ich übergehe Ellen Ihrem Schutz ...«
+
+Heiß stieg ein heiliges Gelübde aus Schwedenklees Herzen. Plötzlich nahm
+er Pelz und Zylinder, und mit einem verwirrten Lächeln auf dem
+verstörten Gesicht eilte er zum großen Erstaunen der Gäste rasch die
+Treppe hinab.
+
+ * * * * *
+
+In den folgenden Tagen sah man Schwedenklee sehr geschäftig: im
+Zylinder, schwarzem Überzieher. Er fuhr im Auto ab, er kehrte im Auto
+zurück. Den ganzen Tag war er unterwegs, er aß in der Stadt. Er sprach
+fast nichts, seine Miene war ernst, feierlich.
+
+Stundenlang ging er, tief in Gedanken versunken, durch die Zimmer seiner
+Wohnung. Endlich war er ins reine gekommen. Er klingelte Augusta.
+
+»Augusta,« sagte er, »wir müssen diese Zimmer umräumen. Sagen Sie dem
+Portier, daß er mir morgen früh helfen soll. Ich --« er verlor unter
+Augustas Blick die Sicherheit -- »wir werden Besuch bekommen. Die
+Tochter meines verstorbenen Freundes wird bei uns wohnen.«
+
+Augusta legte den Kopf auf die Seite, zog den Mund breit und betrachtete
+ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Dann wandte sie sich hastig ab und schlug
+die Türe zu. Das war Augustas Antwort.
+
+»Nun gut,« dachte Schwedenklee, »soll sie gehen, die alberne Gans!«
+
+An einem Nachmittag fuhr ein Auto vor Schwedenklees Haus vor. Zuerst
+stieg Schwedenklee aus, sehr erregt, scheue Blicke um sich werfend, und
+dann eine schmächtige, ganz in Schwarz gekleidete, tief verschleierte
+junge Dame, die eine armselige kleine Handtasche trug und den Blick auf
+den Boden heftete.
+
+Unbeweglich, hilflos stand die junge verschleierte Dame auf der Treppe,
+während Schwedenklee den Chauffeur entlohnte.
+
+»Augusta!« rief Schwedenklee. Aber niemand regte sich, das Haus schien
+verlassen.
+
+Schwedenklee war äußerst verlegen und sehr aufgeregt.
+
+Er hatte zwei kleine Zimmer seiner Wohnung mit antiken Möbeln hübsch und
+anheimelnd eingerichtet, so daß ein junges Mädchen von Geschmack daran
+Gefallen haben mußte. Sogar einen kleinen elektrischen Ofen hatte er
+angeschafft, damit sein Gast nicht frieren solle.
+
+»Ich habe diese kleinen Zimmer für Sie eingerichtet, Ellen«, sagte
+Schwedenklee mit unsicherer Stimme. »Hoffentlich fühlen Sie sich wohl
+hier. Auf jeden Fall, Sie sind hier ganz zu Hause.«
+
+»Danke«, sagte die tief verschleierte junge Dame tonlos, ohne einen
+Blick in die Zimmer zu werfen, die Augen zu Boden gerichtet,
+unbeweglich.
+
+»Jedenfalls vergessen Sie nicht, daß Sie hier ganz zu Hause sind«,
+wiederholte Schwedenklee verwirrt und ging zur Türe. »Sie werden gleich
+Tee bekommen. Ich denke, Sie wollen allein sein, und werde Ihnen Augusta
+schicken.«
+
+Das Mädchen in schwarzer Kleidung wandte sich ihm zu.
+
+»Dank für alles, was Sie für Papa getan haben«, flüsterte sie tonlos,
+ohne den Blick zu heben. Sie zitterte heftig. Und plötzlich fiel sie vor
+Schwedenklee in die Knie. »Dank!«
+
+Schwedenklee hob den schlanken, zarten Körper auf. Er war aufs tiefste
+erschüttert.
+
+»Sie sollen nicht so sprechen. Es ist ja alles selbstverständlich.«
+Rasch verließ er das Zimmer.
+
+»Jetzt ist sie hier! Jetzt ist sie bei mir!« flüsterte Schwedenklee, als
+er die Türe seines Zimmers hinter sich geschlossen hatte, und ein Strom
+von Glückseligkeit durchrann ihn.
+
+
+
+
+ 16
+
+
+Immer noch sah er sie vor sich, wie sie, die schlanken Hände verkrampft,
+mit dem Ausdruck letzter Inbrunst, Andacht, Aufgelöstheit vor dem Bette
+kniete, das bleiche, schöne Antlitz verklärt von unbegreiflichem
+Schmerz. Eigentlich, sagte er sich, sah sie aus, als ob sie grenzenlos
+erstaunt wäre, ja, Staunen, Verwunderung -- nein, ich weiß nicht, es ist
+jedenfalls nicht in Worten auszudrücken.
+
+Unauslöschlich hatte sich dieses Bild in sein Gedächtnis eingegraben.
+
+Er liebte es, sich diesem Anblick hinzugeben, obschon ihn die Dampfwolke
+peinigte, die aus dem verzerrten Munde des Sterbenden über die rauhe
+Wolldecke fuhr.
+
+Dann sah er sie, in letzter Schärfe, in ihrer Trauerkleidung vor sich.
+Das schwarze Hütchen, der schwarze Schleier, der ihr Gesicht ganz
+durchsichtig erscheinen ließ -- ihre Lippen, ihr atmender Mund, ihr
+scheues Tierauge, die Grübchen in ihren glatten Wangen -- und wie bei
+ihrer Mutter war das Grübchen auf der rechten Wange etwas tiefer als auf
+der linken. Die schwarze Halskrause, aus der ihr feiner Nacken stieg,
+ganz wie Ellens, der Mutter, Nacken. Und nun war sie hier!
+
+Lieber Himmel, Schwedenklee war ganz verwirrt!
+
+Es war nicht leicht gewesen, Ellen, die der Schmerz fassungslos gemacht
+hatte, in ein Magazin für Trauerkleider zu bringen. Hundertmal
+wiederholte Schwedenklee mit unendlicher Geduld: »Aber Sie können doch
+nicht _so_ Ihren Vater beerdigen, seien Sie doch vernünftig!«
+
+Endlich ließ sie sich bewegen. Aber sie wünschte das Kleid so einfach
+wie nur möglich. Die Verkäuferinnen, gerührt von ihrer Schönheit und
+Hilflosigkeit, bemühten sich um sie. Schließlich stand sie fertig
+angekleidet vor dem Spiegel. Sie blickte hinein und errötete!
+Blitzschnell ergoß sich die Röte, zart, wie ein Hauch, über ihr Gesicht
+und ihren Nacken -- ganz wie bei ihrer Mutter. Sie errötete, weil sie
+sich in der Trauerkleidung gefallen hatte.
+
+»Und nun neue Schuhe, Ellen!«
+
+Sie sah ihn verständnislos an, während sie im Wagen weiterfuhren.
+
+»Aber Sie können doch nicht in diesen abgetretenen Schuhen --?«
+
+»Aber weshalb sorgen Sie sich um mich?« fragte sie unwillig, die kleine
+Stirn zerknittert, und preßte die Hände an die zarten Schläfen.
+
+»Sie vergessen es immer wieder: ich bin ein Freund Ihrer Mutter und
+Ihres Vaters.«
+
+Ellen nickte. »Ich vergaß es, ja!«
+
+»Nun will ich alles tun, wie Sie es wünschen«, sagte sie und schmiegte
+sich an ihn, in kindlicher Aufwallung, obschon sie neunzehn, zwanzig
+Jahre alt sein mußte. »Ich will gehorsam sein.«
+
+Schwedenklee sagte ihr, daß sie sich wegen ihrer Zukunft keine Sorgen zu
+machen brauche.
+
+Sie sah ihn ohne jedes Verständnis an. »Ich mache mir ja keine Sorgen.«
+
+»Ich verstehe wohl. Sie müssen aber doch irgendwo bleiben.«
+
+»Bleiben?« Feindselig blendete ihr Blick.
+
+»Ja, natürlich. Sie müssen essen, trinken, schlafen.«
+
+»Nein, nein« -- unterbrach sie ihn -- »nein, das muß ich nicht!«
+
+»Sie haben mir versprochen, an all diese Dinge für Sie denken zu
+dürfen.«
+
+»Ja!«
+
+Nach einer Pause fühlte er ihren Blick.
+
+»Papa ist sehr arm gewesen, aber er war trotzdem ein großer Künstler!«
+
+»Ein großer Künstler!«
+
+Ellens scheues, verstörtes Tierauge wanderte ruhelos.
+
+Fragmente ihrer kurzen Gespräche fielen Schwedenklee ein, Blicke,
+Bewegungen. Als man den Sarg abholte, kniete Ellen in der Ecke der
+Stube. Bei der Beerdigung war Ellen gefaßt. Sie stand wie versteinert,
+den Blick zu Boden gerichtet. Sie waren nur zu dritt. Ellen, er, die
+weißblonde Schwester, die heftig weinte.
+
+Bei ihrer Mutter waren es nur zwei, dachte Schwedenklee: Blank und
+Ellen. Und er erinnerte sich, daß Blank ihm schrieb, er habe sich auf
+die Erde geworfen ...
+
+Augusta servierte mit feuchten Augen, mit reuevoller Weichheit, das
+Abendessen.
+
+»Sie werden uns also nicht im Stich lassen?« fragte Schwedenklee,
+kauend, ohne vom Teller aufzusehen.
+
+»Sagte ich denn das?« Schon weinte Augusta, diese gute Seele. »Ich habe
+ihr zugeredet, und sie hat eine Tasse Tee getrunken. Nun will ich sehen,
+daß sie noch ein Ei ißt, dieses arme Kind!«
+
+Schwedenklee verbrachte den Abend zu Hause. Die Aufregungen der letzten
+Tage hatten ihn so sehr mitgenommen, daß es ihm unerträglich gewesen
+wäre, Menschen zu sehen. Er genoß jede Minute des Alleinseins. Seit
+vielen Jahren hatte er einen solch zufriedenen, ausgeglichenen Abend
+nicht gehabt. Er strich an seiner Bibliothek entlang. »Ich werde ein
+schönes Buch lesen, ja!« Seit Jahren hatte er nicht mehr die Sammlung
+besessen, sich auf ein umfangreicheres Werk einzulassen.
+
+Er zog eine Reihe von Büchern heraus, ohne sich entschließen zu können.
+Die »erotische Abteilung« betrachtete er mit einem verächtlichen
+Lächeln.
+
+»Augusta?« Schwedenklee erschien in der Küchentür! »Was macht unser
+Gast?«
+
+»Sie hat jetzt den Hut abgenommen. Sie will versuchen zu schlafen, sagte
+sie.«
+
+»Hat sie das Ei gegessen?«
+
+»Sie versprach es zu essen.«
+
+Schwedenklee klopfte an Ellens Türe.
+
+»Ich will Ihnen gute Nacht sagen«, sagte er mit väterlicher Wärme, indem
+er den Kopf ins Zimmer streckte. »Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«
+
+»O nein, danke«, antwortete Ellens kleine Stimme, ganz fern.
+
+Ellen hatte wirklich den Hut abgenommen. Sie stand mitten im Zimmer und
+wandte ihm ihr scheues, helles Auge zu.
+
+»Schlafen Sie wohl. Und wenn Sie Wünsche haben, so klingeln Sie.«
+
+»Ich habe keine Wünsche, danke!«
+
+»Hier ist jener Brief, den Ihr Vater mir hinterließ. Ich lege ihn
+hierher, vielleicht haben Sie jetzt Sammlung genug, ihn zu lesen.«
+
+»Danke!« Regungslos stand Ellen.
+
+ * * * * *
+
+Das Leben hat merkwürdige Einfälle, dachte Schwedenklee verwundert und
+triumphierend zugleich. Ist es nicht sonderbar, daß Ellens Tochter, die
+wiedergeborene und verjüngte Ellen, bei mir ist? Wer hätte sich das je
+träumen lassen?
+
+Dank einer Fügung des Schicksals habe ich, ohne mein Zutun, plötzlich
+eine Tochter bekommen -- ein wunderbares Wesen, ein Kleinod dazu -- den
+angebeteten Liebling unglücklicher Eltern ...
+
+Ja, in der Tat, es war das alte Glück Schwedenklees, immer noch folgte
+es ihm wie sein Schatten. Wie man sich erinnern wird, erhielt er den
+Titel eines »Oberbaurats« vom Oberkellner des Cafés, ohne jede
+Anstrengung -- ohne jedes Verdienst hatte ihn das Schicksal plötzlich,
+gänzlich unerwartet, mit einer Tochter beschenkt.
+
+Schwedenklee war ganz erfüllt von seinem Glück. Als Blank, dieser gute,
+arme Blank, dachte er, mir seinerzeit auflauerte, ahnte ich damals
+nicht, daß diese merkwürdige Begegnung eine besondere Bedeutung für mein
+Leben haben wird? Wie? Und Blanks unverständliche Bemerkungen,
+Anspielungen, seine prüfenden Blicke -- ja, nun verstehe ich alles. Sie
+ist in guten Händen bei mir, teuerster Freund -- unwillkürlich hatte er
+Blanks Tonfall nachgeahmt, als er »teuerster Freund« sagte.
+
+Schwedenklee hatte die Briefe, die ihm Schwester Anna als ein
+Vermächtnis Blanks in der eisigen Küche überreichte, schon flüchtig
+durchflogen. Nun aber war er in der ausgeglichenen, ruhigen Verfassung,
+sie genauer zu lesen.
+
+Es waren im ganzen sechs Briefe, kürzere und längere, die er an Ellen
+von Paris aus geschrieben hatte. Er erkannte seine Handschrift wieder --
+seine Handschrift vor zwanzig Jahren --, heute schrieb er etwas
+kräftiger und klarer.
+
+In dem ersten Briefe nach Ellens Abreise schrieb er ihr, daß er in ihr
+Zimmer gezogen sei (im Hotel Panthéon) und daß sie gegenwärtig sei in
+Möbeln und Wänden und tausend kleinen Dingen.
+
+Es lag ja so nahe, dies zu schreiben! Aber, sagte sich Schwedenklee,
+welch bodenlose Verlogenheit! Um 9 Uhr abends reiste Ellen, ich weiß es
+noch genau -- um 10 Uhr speiste ich mit Fräulein Svenska, mit der
+rotbäckigen Schwedin, in diesem Zimmer -- und am nächsten Morgen schrieb
+ich diesen Brief.
+
+Und hier, das war offenbar die Antwort auf einen Brief Ellens, in dem
+sie ihm für ein Darlehen dankte.
+
+»Kein Wort, liebste Freundin,« schrieb er, »ich bin glücklich, Dir
+gefällig sein zu können. Es ist ja so selbstverständlich! Es gibt eine
+Solidarität des Adels, der Reichen, sollte es nicht auch eine
+Solidarität der Künstler und geistig Schaffenden geben?«
+
+Lesen wir dies nochmals, sagte Schwedenklee, habe ich wirklich diese
+Phrasen geschrieben? Ja, er hatte Ellen ganze tausend Franken geschickt
+und auf ihren Dankesbrief mit derartig hochtrabenden Worten geantwortet!
+
+In einem anderen Brief entwickelte er mit großer Beredsamkeit und vieler
+Wärme ein System, wie die Künstler und geistig Schaffenden zu leben
+hätten! Wie Mönche, nicht anders, arm, anspruchslos, materielle Genüsse
+und Güter verachtend, nur ihrer Kunst ergeben, in einer
+kameradschaftlichen Gemeinschaft. Alle, die dem »Orden« angehörten,
+hätten ihre Einnahmen der Gemeinschaft zu überweisen -- um der Welt ein
+Beispiel zu geben, wie die Menschen eigentlich leben sollten. Es sollte
+künftig nicht mehr Maler geben, die Millionen verdienten, während ihre
+Kollegen darbten -- nein, die Millionen der Erfolgreichen sollten in die
+Kasse der Gemeinschaft der Maler fließen. Wie bei den Malern, so bei den
+Musikern, den Schriftstellern --
+
+»Sind das meine Worte, wahrhaftig? Habe ich je solchen Anschauungen
+gehuldigt?«
+
+Schwedenklee war erstaunt, ja förmlich verblüfft, auf diesen ihm
+gänzlich fremden, jungen Schwedenklee zu stoßen.
+
+War dieser Einfall vielleicht schlecht? O nein, nein!
+
+War es nicht im Gegenteil ein herrlicher Gedanke? Und was ist daraus
+geworden?
+
+Nichts, nichts.
+
+Schwedenklee erhob sich, verlegen. Wirklich nichts! Ich habe diese Idee
+ganz einfach -- _vergessen_.
+
+Je länger er in den Briefen las, desto mehr erkannte er, daß der frühere
+Schwedenklee und er eigentlich zwei völlig verschiedene Personen waren.
+Schwedenklee der Jüngere, der leidenschaftlich soziale Probleme
+erörterte, dessen Religion, wie er schrieb, die »Kameradschaft« war --
+und Schwedenklee der Ältere, der sich, Gott weiß es, den Kopf nicht mehr
+mit derartigen Dingen zerbrach. Ja, in der Tat: zwei Welten. Ein
+behaglicher Bourgeois war aus dem jungen Schwedenklee geworden, gestehen
+wir es nur -- ein Bourgeois wie die andern, mit genau den gleichen
+Ansichten wie der Kaufmann Jaffe, der Kinderkleider fabriziert.
+
+O ja, wahr! Wahr!
+
+Ähnliche Anschauungen kehrten in all den Briefen wieder. Tapfer hatte
+sich Schwedenklee der Jüngere den Problemen entgegengeworfen.
+
+»Vorurteilslosigkeit und Mut brauchen wir,« schrieb er, »um dem Leben
+entgegenzugehen, das vor uns liegt ...«
+
+Schwedenklee las und staunte. War er das wirklich? Etwas wie ein leises
+Schamgefühl überkam ihn.
+
+In einem Briefe fand sich diese Stelle: »Ich finde ja an und für sich,
+daß wir schon korrumpiert sind. Wir Künstler müßten gekleidet sein wie
+Monteure und Arbeiter, in Manchesterhosen, wir müßten _betonen_, daß wir
+und die Bourgeoisie verschiedene Welten sind.«
+
+Er? Er, Schwedenklee in Manchesterhosen? Er bekam einen roten Kopf.
+
+Ja, was ist doch aus diesem Schwedenklee geworden? Mit einem verlegenen
+Lächeln erhob sich Schwedenklee. Was ist aus mir geworden? Sein ganzes
+Leben, das Leben der letzten zehn, zwanzig Jahre erschien ihm plötzlich
+unverständlich ...
+
+ * * * * *
+
+»Herr Schwedenklee!«
+
+Jemand pochte an der Türe. Es war Augustas Stimme.
+
+Schwedenklee streifte die Uhr mit einem Blick. Es war schon spät in der
+Nacht.
+
+»Was wollen Sie, Augusta?« fragte Schwedenklee, weich und versöhnlich
+gestimmt.
+
+»Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Fräulein.«
+
+»Wie --?«
+
+»Ja, es ist etwas nicht in Ordnung!«
+
+Augenblicklich erschien Schwedenklees fahles Gesicht in der Türe.
+
+»Erst stöhnte sie so eigentümlich und jetzt antwortet sie nicht mehr.«
+
+Tödlich erschrocken eilte Schwedenklee an Ellens Türe und pochte. Erst
+leise, dann ohne jede Rücksicht.
+
+Nichts regte sich, kein Laut. Aber durch das Schlüsselloch schimmerte
+Licht.
+
+Schwedenklees Blicke begegneten dem entsetzten Auge Augustas. Das Haus
+schwankte.
+
+Rasch, ohne zu denken, eilte er durch die Zimmer und klinkte die Tür
+auf, die vom Speisezimmer in Ellens Räume führte. Diese Türe war offen:
+Auf das Sofa gekauert sah er Ellen, in ihren Trauerkleidern, bleich,
+still, die blutleeren Lippen schmerzvoll geöffnet, die Augen
+erschrocken, wie die eines überraschten Tieres, auf ihn gerichtet. Ihre
+kleine Hand hing herab, wie gebrochen ... es tropfte und rieselte --
+
+Sofort übersah Schwedenklee alles.
+
+»Aber mein Kind!« rief er aus und berührte die schmale Schulter. Er war
+selbst totenbleich und zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke
+erkannte er ganz die Größe der Leidenschaft, die ihn für dieses Wesen
+erfaßt hatte.
+
+Mit den gleichen Augen eines überraschten, erschrockenen Tieres blickte
+ihn Ellen an.
+
+»Verzeihen Sie mir«, flüsterte sie, ohne jede Regung.
+
+Mit der Scherbe eines zerschlagenen Glases hatte Ellen sich die Pulsader
+geöffnet.
+
+Um den Teppich nicht zu beflecken, hatte sie eine Blumenvase unter die
+herabhängende Hand gestellt.
+
+Im Hause wohnte ein Arzt. In kaum zehn Minuten war er da. Es bestand
+keine Gefahr für Ellens Leben.
+
+Schwedenklee schloß die ganze Nacht kein Auge. Kreidebleich, zuweilen in
+Ellens Zimmer lauschend, schlich er schwankend in seiner Wohnung hin und
+her. Er zitterte und fror entsetzlich. Laß sie leben, großer Gott im
+Himmel! Ja, in der Tat, Schwedenklee betete.
+
+Und wieder stand er im dunkeln Speisezimmer und lauschte gegen die
+offene Tür. Sie schlief -- ruhig und langsam ging ihr Atem. Der Arzt
+hatte ihr Morphium gegeben. Unbegreiflich schön schien es ihm, hier zu
+stehen, im dunkeln Zimmer, und ihren leisen Atemzügen zu lauschen.
+
+
+
+
+ 17
+
+
+Die Türen zu Ellens Zimmer standen immer offen. Am Tage behütete sie
+Augusta und in der Nacht Schwedenklee. Er hatte die Schlösser von Ellens
+Türen abgeschraubt. Jede Nacht wachte er, lesend, rauchend, mit sich
+plaudernd, Gedanken hingegeben, bis er Augusta am Morgen in der Küche
+hörte.
+
+Ellen genas rasch. Eines Tages saß sie in ihrem Bett aufrecht, die
+Wangen gerötet, wie in leichtem Fieber, das brünette lockere Haar, das
+einen Anflug ins Rötliche hatte, lässig um den zart, gleichsam
+zerbrechlich geformten Kopf geschlungen, und _lächelte_. Zum erstenmal
+sah Schwedenklee sie lächeln. Ihr Gesichtsausdruck war verändert. Ihr
+Auge verträumt, voller Glanz und Hoffnung.
+
+»Schrauben Sie die Schlösser wieder an,« sagte sie klar und wach, »ich
+verspreche Ihnen --«
+
+»Kann man Ihnen vertrauen?« fragte er lächelnd.
+
+»Ja!« Sie nickte beschwörend. »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Sie winkte ihn
+heran. »Jetzt erst verstehe ich Papa!« sagte sie, ihn ernst und groß
+anblickend, und berührte seine Hand mit leisen, zarten Fingern. »Er hat
+mir viel von Ihnen erzählt. Ein paarmal sagte er mir: wenn du
+irgendeinen Rat brauchst, man weiß ja nicht, wie es kommen kann -- so
+gehe getrost zu Herrn Schwedenklee. Er ist gütiger als alle Menschen.«
+
+Schwedenklee brachte keine Silbe über die Lippen. Er errötete und schlug
+rasch die Augen nieder.
+
+»Jetzt erst verstehe ich Papa!« wiederholte Ellen nickend und zog sich
+mit leisen Händen an ihn heran. »Wie soll ich Ihnen danken?«
+
+Schwedenklee lachte, um seine Verlegenheit zu verbergen.
+
+»Sie können mir danken, Ellen, indem Sie mir vertrauen. Sprechen Sie mit
+mir, wie mit« -- beinahe hätte er Vater gesagt -- »wie mit einem Bruder.
+Verfügen Sie über mich und versprechen Sie, immer Vertrauen zu mir zu
+haben, was es auch sei.«
+
+»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte Ellen mit einem ernsten, hellen
+Blick. »Ich war so unglücklich!« setzte sie flüsternd hinzu und drückte
+leise, kaum merklich, seine Hand, und er fühlte, daß ihre Finger
+zitterten.
+
+Schwedenklee sagte nichts. Verwirrt und scheu verließ er ihr Zimmer.
+
+ * * * * *
+
+Schwedenklee hatte über eine Woche das Haus nicht verlassen. Er sprach
+mit niemanden, er hütete sein Geheimnis! Natürlich war es nicht zu
+umgehen gewesen, daß er Nelly von den Ereignissen der letzten Wochen
+unterrichtete. Er hatte sie gebeten, ihn für einige Zeit zu
+entschuldigen -- bis alles in Ordnung gebracht sei. Telephonisch hatte
+er ihr alle Einzelheiten erzählt -- besonders den Selbstmordversuch
+Ellens hatte er ausführlich und mit allen Einzelheiten berichtet, obwohl
+er sich seiner Schwatzhaftigkeit schämte, noch während er am Telephon
+stand. Aber es war doch notwendig, Nelly zu überzeugen, daß er für
+einige Zeit ans Haus gebunden sei.
+
+Nelly telephonierte täglich. Der Patient sei noch immer nicht recht in
+Ordnung. Er ermahnte sie, ihren Gesangsunterricht nicht zu
+vernachlässigen und den dramatischen Unterricht ja nicht zu
+unterbrechen. Er sei auch damit einverstanden, daß sie als dramatischen
+Lehrer doch Dunker nehme -- ein ziemlich junger, hübscher Schauspieler,
+der wegen seiner Liebesabenteuer berühmt war.
+
+Schwedenklee hatte keine Eile, Nelly zu sehen.
+
+Eines Tages aber trat Nelly ohne jede telephonische Anmeldung bei ihm
+ein.
+
+Sie erschien Schwedenklee fremd, sozusagen unbekannt. Er erblickte sie
+wie aus weiter Ferne -- ihre Züge, ihre interessante Blässe und die
+turmartige Frisur, diese »schweren Flechten«, ließen ihn völlig
+unberührt.
+
+Nelly verstand seinen Blick sofort: diese unverschämte Gleichgültigkeit
+eines erkaltenden Geliebten! Sie war außerordentlich freundlich,
+teilnahmsvoll.
+
+»Es ist merkwürdig,« sagte sie, »du hast mir nie gesagt, daß du so
+intime Freunde hättest. Im Gegenteil, du klagtest ja immer, du habest
+keine Freunde!«
+
+Sie hielt die Teetasse auf den Fingerspitzen, spielte die Dame auf
+Teebesuch.
+
+Schwedenklee behandelte sie mit grausamer Höflichkeit. Er spielte den
+Herrn, der eine Dame auf Teebesuch bewirtet.
+
+»Natürlich habe ich Freunde -- von früher her. Wir alle haben Freunde
+nur von früher her, aus der Jugend. Es ist allerdings wahr, meine
+Freunde haben sich wenig um mich bekümmert, und es ist ebenso wahr, daß
+ich mich wenig um sie bekümmerte.«
+
+Er sprang auf und reichte ihr Feuer für die Zigarette.
+
+Sie dankte. »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir so lebhaft zu Dunker
+geraten hast!«
+
+»Ist er also doch tüchtig?«
+
+»Oh!« Nelly lächelte sonderbar, indem sie die Augen zur Decke hob. »Er
+ist ein wirklich moderner Künstler! Aber er ist keck --!« Schwedenklee
+sagte nichts. »Er ist sehr keck. Er verfolgt mich unaufhörlich mit
+seinen Anträgen.«
+
+»Aber du bist ja kein Kind mehr, Nelly!« Oh, wie gleichgültig klang hier
+Schwedenklees Stimme!
+
+Welch bösen Blick sie ihm gab! Aber sofort lächelte sie wieder
+gleichmütig. »Ich sagte ihm: spielen Sie Theater auf der Bühne!«
+
+»Sehr gut!« lobte Schwedenklee und lachte.
+
+Pause. Nelly forschte in seinem Gesicht.
+
+»Du bist gar nicht eifersüchtig?« Nelly lachte.
+
+»Eifersüchtig? Ich kenne dich ja, Nelly!« sagte Schwedenklee im Tone
+unerschütterlichen Vertrauens.
+
+Nelly kokettierte über die Teetasse.
+
+»Vielleicht kennst du mich doch nicht? Er ist ein netter Junge! Erst
+fünfunddreißig.« Sie lächelte anmutig.
+
+Schwedenklee ignorierte diesen impertinenten Angriff. Dabei war er
+überzeugt, daß Nelly sich gar nichts aus Dunker machte -- es war ihm
+übrigens völlig gleichgültig.
+
+»Er ist nett. Und was das Reizendste an ihm ist, er ist solch ein Kind.
+Er ist -- trotz allem -- ein kleiner Junge!«
+
+»Wirklich?« Schwedenklee lachte anerkennend. »Gerade diese Naivität
+liebe ich bei Männern.«
+
+Hier richtete sich Nelly in ihrem Sessel auf. Sie gab ihrem Kopf einen
+Ruck und schleuderte die Tasse auf den Teppich. Sie stand auf.
+
+»Aber Nelly?« sagte Schwedenklee, scheinbar völlig erstaunt und gut
+gelaunt.
+
+»Was zuviel ist, ist zuviel!« Nellys Brauen flogen in die Höhe.
+
+»Aber ich bitte dich, Nelly!«
+
+»Wenn du mich loshaben willst --«, schrie Nelly mit funkelnden Augen.
+
+»Einen Augenblick ..« Schwedenklee schloß eine Türe.
+
+»Ach so!« sagte Nelly, voller Hohn.
+
+Schwedenklee wurde rot, seine Schläfe zuckte.
+
+»Sie ist ein Mädchen«, sagte er beruhigend, aber seine Stimme zitterte
+etwas, im Gefühl der Befriedigung, ihren impertinenten Angriff von
+vorhin mit gleicher Impertinenz erwidert zu haben. »Sie soll sich
+erholen, und ich möchte jede Aufregung von ihr fernhalten.«
+
+»Oh, welche Rücksichtnahme! Jede Aufregung von ihr fernhalten --!«
+
+»Bitte, Nelly!« sagte Schwedenklee lächelnd, beschwichtigend.
+
+Seine Ruhe und Gleichgültigkeit versetzten sie in Raserei. Ja,
+Schwedenklee war als Gegner nicht zu verachten, wenn es darauf ankam.
+
+»Bitte, Nelly«, äffte sie ihm nach. »Ich möchte jede Aufregung von ihr
+fernhalten. Ja, ja! Halte mich nicht für so töricht ...«
+
+Schwedenklee sandte ihr einen warnenden Blick zu. Er wußte -- und er
+empfand es triumphierend --, daß sie jetzt verspielen würde.
+
+»Du hast dich in ein kleines Mädchen verliebt, das ist alles«, schrie
+Nelly außer sich. »Und alles andere -- das mit dem Freunde, mit der
+Doppelwaise, mit dem Selbstmordversuch, ist einfach eine dumme Komödie!«
+
+Sie ist verloren, dachte Schwedenklee mit Befriedigung -- und schon mit
+einem gewissen Mitleid.
+
+»Nelly!« sagte er beruhigend, beschwörend. »Ich schwöre dir, alles ist
+Wahrheit. Du bist heute sehr erregt --«
+
+Ja, Nelly war verloren. Sie schrie, sie verleumdete, beschimpfte. Sie
+tobte und verließ rasend das Haus.
+
+Schwedenklee tat aufs tiefste gekränkt und machte keinen Versuch, sie
+zurückzurufen.
+
+»Es ist sehr schade«, sagte Schwedenklee, als er allein war und sich mit
+zitternden Fingern eine Zigarette anzündete. »Es ist sehr schade, daß
+man mit Frauen nicht offen sprechen kann. Nun gut, daß es zu Ende ist!
+Fort mit ihr! Fort mit allen -- ich will sie _alle_ nicht mehr sehen --
+Gott sei Dank!«
+
+Schwedenklee horchte an Ellens Türe. Kein Laut. Ellen hatte von der
+ganzen Szene nichts gehört.
+
+Einige Wochen später aber sagte Ellen: »Es war einmal eine Dame bei
+Ihnen. Sie war sehr erregt. Ich möchte nicht irgendwie im Wege sein.«
+
+»Aber Ellen! Wie können Sie so etwas denken. Sie sind zu jung, um das zu
+verstehen!«
+
+
+
+
+ 18
+
+
+Schwedenklee hatte sich völlig verändert. In all den Wochen von Ellens
+Genesung hatte er kaum das Haus verlassen. Ins Stammcafé kam er nicht
+mehr. Man wunderte sich. Gerüchte schwirrten. Ein Stammgast berichtete,
+Schwedenklee habe in einer Nacht, da er aus dem Café kam, eine junge
+Dame -- eine Lebensüberdrüssige -- aus dem Kanal gezogen und zu sich ins
+Haus genommen.
+
+Er wies auf eine Notiz hin, die in den Zeitungen erschienen war.
+Architekt S. rettete eine Lebensüberdrüssige, die aus Liebeskummer in
+den Landwehrkanal sprang.
+
+Kurzum, Schwedenklee erschien nicht mehr im Café, und eine Woche später
+war er schon vergessen: ganz als ob er tot wäre.
+
+Schwedenklee holte seine großen Mappen aus der Bibliothek. In der
+Bibliothek befanden sich besondere Schränke, und in diesen Schranken
+standen die Mappen, die er vor Jahren hatte anfertigen lassen. Es waren
+zehn graue Mappen, herrlich gebunden -- manche enthielten gar nichts,
+manche enthielten ein, zwei Skizzen, andere mehrere. Die Mappe
+»Fabriken« war besonders umfangreich, die Mappe »Warenhäuser« ebenso.
+Die dickste Mappe hatte die Aufschrift »Städtebau -- Verkehr«.
+
+Über diese Mappe gebeugt saß Schwedenklee in all den Nächten, da er den
+Schlummer Ellens bewachte.
+
+Vor Jahren hatte er sich, man wird sich erinnern, mit
+verkehrstechnischen Problemen Berlins intensiv beschäftigt. Es waren
+seinerzeit sogar einige Notizen darüber in den Zeitungen erschienen. Es
+gab in Berlin ein halbes Dutzend Bahnhöfe: die Bahnhöfe der Stadtbahn,
+den Lehrter Bahnhof, den Potsdamer, Anhalter, Schlesischen Bahnhof -- es
+war, mit einem Wort, ein völliges Durcheinander.
+
+Schwedenklee aber hatte in der Arbeit vieler Jahre eine Lösung gesucht
+und gefunden: von jedem beliebigen Punkte Berlins aus sollte man bequem
+jede Reiseroute antreten können!
+
+Schwedenklee plante einen Riesenbahnhof, der gegenüber dem
+Reichstagsgebäude, mitten im Tiergarten, gelegen war und, über und unter
+der Erde, im Zusammenhang stand mit sämtlichen bereits vorhandenen
+Bahnhöfen.
+
+Dieses interessante Problem fesselte ihn von neuem. Es schien ihm noch
+schwieriger, noch interessanter geworden zu sein. Ganze Nächte hindurch
+zeichnete er. Er plante die Veröffentlichung einer Broschüre, die
+Berlin, die Behörden verblüffen sollte.
+
+Ellen genas.
+
+Der Arzt sagte: »Sobald die Witterung es erlaubt, heraus aus der Stadt.
+Sie haben doch, höre ich, eine Besitzung auf dem Lande?«
+
+»Ja.«
+
+»Nun gut, dann sobald wie möglich aufs Land.«
+
+Es war noch kalt, noch fiel Schnee, und schon machte Schwedenklee Pläne.
+
+»Augusta,« sagte er, »halten Sie sich bereit. Wir werden bald aufs Land
+gehen. Ich hoffe, Sie haben genügend eingekocht --«
+
+Zu Ellen sagte er: »Liebe Ellen, der Arzt will, daß du aufs Land in
+frische Luft kommst. Wir werden bald reisen. Aber, liebes Kind, wir
+müssen dich etwas ausstaffieren.«
+
+Herrliche und ganz wundervolle Tage für Schwedenklee, da er mit Ellen
+einkaufte!
+
+Wäsche, Kleider, Schuhe. Sie besaß ja _nichts_!
+
+Ellen sträubte sich.
+
+»Aber, erlaube doch,« sagte Schwedenklee, so bestimmt, daß Ellen nicht
+zu widersprechen wagte, »wir leben nun einmal in dieser Welt! Du mußt
+Kleider haben, Mäntel, Hüte, Schuhe ...«
+
+Wochenlang waren sie in den Geschäften unterwegs.
+
+Er stattete sie aus wie eine Braut, als ob sie seine Tochter wäre, die
+er zu verheiraten hätte.
+
+Obschon nur Junggeselle, wußte Schwedenklee ganz genau, was eine junge
+Dame alles brauchte -- von den Taschentüchern angefangen bis zu den
+Unterleibchen und Gürteln, an denen die Strumpfbänder befestigt sind.
+Schwedenklee wußte genau, wie Taschentücher einer Dame gearbeitet sein
+müssen, wie der Besatz eines Hemdes auszusehen hatte.
+
+Es war Schwedenklees höchste Freude, wenn er sah, wie Ellen errötete,
+weil sie sich in einem Kostüm, einem Mantel gefiel. Oder, wenn sie
+erregt wurde beim Befühlen von Linnen und Batist.
+
+Ellen war äußerst bescheiden, sie widerstrebte, aber zuletzt gelang es
+ihm doch stets, sie umzustimmen. Zu Hause beobachtete er beglückt, wie
+sie Hüte und Mäntel vor dem Spiegel aufprobierte und die Erregung ihre
+Wangen färbte.
+
+Es war ihm ein Genuß, mit Ellen auf der Straße zu gehen. Niemand ging
+vorüber, ohne daß sein Blick gefesselt auf ihrem Gesicht geruht hätte.
+Voller Stolz kassierte er all ihre Erfolge ein, die sie nicht einmal
+bemerkte. Sie ging leicht, ihr Schritt war leise, wie der ihrer Mutter,
+nie hatte er einen solch schwebenden Gang, eine solche natürliche Würde
+bei einer Frau beobachtet. Sie ging wie ein Tier, eine Katze vielleicht,
+unbewußt und schön, ihre schmalen Hüften spielten.
+
+In einigen Geschäften gebrauchte man die Redensart: »Das gnädige
+Fräulein, Ihre Tochter --«
+
+Schwedenklee wurde verlegen, zuweilen blutrot -- Ellen lachte wie ein
+Kind. Sie hatte die Gewohnheit, wenn sie schelmisch lachte, die oberen
+Zähne in die Unterlippe zu drücken und etwas mit den Augen zu blinzeln.
+
+Einige Sommerkleider für Ellen ließ Schwedenklee bei einer Schneiderin
+Henrietta anfertigen, die er von Nelly her kannte.
+
+»Ich begreife nun, weshalb Nelly so rasend eifersüchtig ist«, flüsterte
+die Schneiderin eines Tages in unverschämt zutraulichem Tone.
+
+»Ich bitte Sie, die Kleider, so wie sie sind, sofort an mich zu senden
+und Rechnung vorzulegen«, schrieb Schwedenklee am gleichen Tage, empört,
+daß die unverschämte Person Nelly und Ellen in einem Atem zu nennen
+gewagt hatte. Ja, diesem Volke mußte man Manieren beibringen!
+
+
+
+
+ 19
+
+
+Endlich waren alle Einkäufe beendet. Koffer wurden gepackt. Der Tag der
+Abreise aufs Land wurde festgesetzt.
+
+Der Zug verließ den Bahnhof.
+
+»Nun gehörst du ganz mir«, dachte Schwedenklee triumphierend, und seine
+Erregung war so groß, daß seine Hände zitterten.
+
+»Was denkst du?« fragte Ellen, verwirrt durch seinen Blick.
+
+»Ich fürchte, Ellen wird sich langweilen«, erwiderte Schwedenklee
+lächelnd, um seine Erregung zu verbergen.
+
+»Ich? Auf dem Lande? Oh, nie!« rief Ellen aus. Dann saß sie still, mit
+großen Augen, die erfüllt waren von Genugtuung, diese grauen Hauswände,
+zwischen denen der Zug sich durchzwang, hinter sich zu lassen.
+
+»Gott sei Dank!« flüsterte sie und atmete auf, als die Stadt zu Ende war
+und die Wiesen kamen.
+
+»Allmächtiger!« dachte Schwedenklee. »Wie wird es sein, wenn ich mit ihr
+allein sein werde?«
+
+ * * * * *
+
+Schwedenklees Landgut »Siebenbirken« lag an der Ostsee, ganz in der Nähe
+von Warnemünde. Es lag nicht direkt am Meer, gewährte aber eine
+herrliche Aussicht über die See.
+
+Der Name stammte von Schwedenklee selbst. Früher hatte dieses Bauerngut
+überhaupt keinen Namen gehabt, nur eine Hausnummer. Aber da gerade
+sieben Birken vor dem Hause standen, hatte Schwedenklee den Besitz sehr
+poetisch »Siebenbirken« genannt.
+
+In einer Anwandlung von Weltflucht hatte Schwedenklee vor Jahren
+»Siebenbirken« gekauft. Er wollte allein, zurückgezogen, »wie ein Bauer«
+leben. Damals. Er hatte das Bauernhaus und die Wirtschaftsgebäude
+gelassen, wie sie waren, etwas krumm, plump, mit Stroh gedeckt, und ein
+Haus auf einem Punkte errichtet, der die schönste und vollkommenste
+Aussicht über die See bot. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr um
+»Siebenbirken« gekümmert. Er hatte einige Monate -- damals als er
+weltflüchtig war -- auf dem Landsitz verbracht und den Bau des
+Landhauses geleitet. Als der Bau fertig dastand, war er noch eine Woche
+geblieben. Aber am Ende der Woche hatte ihn das Grauen der Einsamkeit
+erfaßt. Noch in der Nacht hatte er gepackt: es war ja nicht auszuhalten!
+Mit dem Frühzug schon war er nach Berlin gefahren. Nur einige Male war
+er noch auf zwei, drei Tage in all den Jahren nach Siebenbirken
+gekommen, und stets hatte ihn das Gefühl trostloser Langeweile wieder
+vertrieben. Nein, nein, er hatte kein Talent, einsam zu leben!
+Verschiedenen Anwandlungen, das Landgut zu verkaufen, hatte er nur aus
+Trägheit nicht nachgegeben.
+
+»Ahnte ich etwas?« sagte er sich heute, in sein Inneres horchend.
+
+Der Bauer, an den das Gut verpachtet war, holte sie in einem wackligen
+Stuhlwagen ab.
+
+Der Wagen war so klein, daß Augusta mit den Koffern und Kisten auf der
+Station warten mußte.
+
+»Wie wunderbar! Wie herrlich!« rief Ellen mit leuchtenden Augen aus, als
+sie durch die scharfe Märzluft dahinfuhren. In den Wäldern lag noch da
+und dort Schnee.
+
+»Wird es dir hier gefallen?«
+
+Ellen nickte freudig.
+
+Am ersten Tage hätte Schwedenklee nahezu die gute Laune verloren: die
+Mahlzeiten schienen ihm etwas sehr ländlich. Augusta ging mit Tränen in
+den Augen, fiebernd, aufgelöst, in der völlig kahlen Küche hin und her.
+»Es ist ja nichts da, gar nichts da!« sagte sie. Ellen hatte sich eine
+von Augustas Schürzen umgebunden und versuchte durch ihre Munterkeit
+Augustas Verzweiflung zu verscheuchen.
+
+Am nächsten Tage fuhren Augusta und Ellen zur Stadt, um einzukaufen.
+Bepackt mit Töpfen, Schüsseln, Kochlöffeln, Sieben, Porzellan, Gläsern
+kehrte der Wagen zurück. Augusta strahlte.
+
+ * * * * *
+
+Auf Siebenbirken lebten der Bauer mit seiner Familie, ferner zwei
+Pferde, drei Kühe, ein Rudel Schweine, etliche dreißig Hühner, einige
+Familien Gänse und Enten. -- Es gab einen Hund, eine Art Schäferhund,
+fahlgelb mit dunkelgrauen Rückenhaaren, mit Namen Strolly. Diesen Hund
+hatte Schwedenklee aufgezogen, zur Zeit, da er baute, und obschon er nur
+zwei-, dreimal auf das Gut zurückgekehrt war, hatte der Hund ihn
+wiedererkannt. Das rührte Schwedenklee. »Strolly«, furchtbar bissig und
+rasend allen Fremden gegenüber, war liebenswürdig, untergeben, sittsam
+und von äußerstem Entgegenkommen gegen Freunde. Schon am ersten Tage war
+er zu Ellen übergegangen, obschon ihn sein Feingefühl hinderte, es allzu
+deutlich zu zeigen. Sooft er Schwedenklee sah, tat er so, als ob er ihm
+die gleiche Anhänglichkeit bewahrt habe. Sobald aber Ellen nur sichtbar
+wurde, zeigte sich offen seine Heuchelei.
+
+Es gab einen schwarzen, dicken Kater, Munki, der es liebte, sich auf den
+Schultern spazierentragen zu lassen, ein menschenliebendes Tier, das
+sich an den Beinen rieb, sobald man sich zeigte. Dick, befriedigt,
+glücklich saß der Kater auf Ellens schmaler Schulter. Am dritten Tage
+schon war auch er zu Ellen übergegangen.
+
+Es gab eine Stute »Lotte«, die -- ein Phänomen -- mit der Zunge eine
+Türklinke hob, sobald sie neben dem Pferdestall Stimmen hörte.
+
+Es gab zwei Hähne, einen dicken alten, mit in hundert Schlachten
+zerzausten Federn, und einen jungen -- schlank, graziös, mit den
+Bewegungen eines Fechters --, die sich wie Teufel bekämpften. Zuweilen
+wurde der jüngere von dem alten bis tief hinein in den Wald gejagt.
+
+Es gab ein kleines Schwein, das zärtlich war wie ein Hund und sich gerne
+den Kopf graulen ließ. Das waren die Besonderheiten von Siebenbirken,
+sonst war es ein Landgut wie jedes andere. Nicht zu vergessen eine Gans,
+die -- ein Einzelgänger, nicht auf dem Hof gebrütet -- von den übrigen
+Gänsen verleugnet und gehaßt wurde und den Menschen wie ein Hund folgte.
+Sonst wie überall: Geschrei, Gegacker, Lärm, Blöken, und die Jauche rann
+aus den Ställen in den großen Misthaufen des Wirtschaftshofes.
+
+Beglückt beobachtete Schwedenklee, daß Ellen auf dem Gute auflebte. Vom
+Morgen bis zum Abend war sie unterwegs in Ställen und Scheunen. Munki,
+der schwarze Kater, saß auf ihrer Schulter, Strolly sprang ihr bis an
+die Ohrläppchen -- und sie zankte den fetten Hahn aus, der sich gegen
+den jungen, den sie »Spanier« nannte, albern und eifersüchtig benahm.
+Die Blässe ihres Gesichtes verlor sich, zartrotes Geäder erschien auf
+den Wangen. Ihre Stimme zwitscherte fröhlich.
+
+Nur dann und wann saß sie in sich versunken abseits, den Blick gequält
+in die Ferne gerichtet. An diesen Tagen sprach sie nur selten, leise,
+die Stirn zerknittert. Ihr Blick war verschleiert von Schwermut, die
+Gedanken ferne.
+
+Ein Zittern durchrieselte sie, wenn man sie berührte. Abends brannten
+dann zwei Kerzen in ihrem Zimmer, und am Morgen erschien sie bleich,
+verstört, mit geröteten Augen. Aber immer seltener wurden diese Anfälle
+schwerer Traurigkeit, die Schwedenklee, besonders anfangs, sehr
+beunruhigten.
+
+Ellen interessierte sich für alles, was in der Wirtschaft vorging. Sie
+war als Stadtkind nur flüchtig mit dem Lande in Berührung gekommen. Was
+für Futter erhielten Hühner und Schweine, weshalb wurde der Acker
+gewalzt, wie kam es, daß der Klee zwei, drei Jahre stand, was war
+eigentlich »Winterroggen«, von dem so viel die Rede war -- über all das
+konnte sie nicht ausführlich genug mit dem Bauer sprechen, und sie
+fragte auch Schwedenklee unausgesetzt, Schwedenklee, der kaum Weizen von
+Roggen zu unterscheiden vermochte.
+
+Als die Pferde zum erstenmal auf die Koppel durften, war es ein
+richtiger Festtag für Ellen. Sie selbst brachte die Pferde in den Stall
+zurück. Sie lernte sogar das Melken der Kühe. Schwedenklee hatte sich
+nie überwinden können, das Euter einer Kuh zwischen die Finger zu
+nehmen.
+
+»Dir gefällt es hier?« Seine größte Sorge war, daß es ihr schließlich
+doch nicht gefallen könnte. Allein, fern von allen Menschen wollte er
+sie haben. Ja, so mußte es sein, grenzenlos war sein Egoismus, das
+Schicksal hatte gesprochen.
+
+»Wir werden also hierbleiben? Du wirst sehen, es ist gar nicht zu
+langweilig. Wenn erst die Badegäste kommen werden.«
+
+Ellen zog die Braue hoch, ihre feine nervöse Braue. »Ich will keine
+Menschen sehen!«
+
+Wie dankbar war Schwedenklee.
+
+»Du willst also vorläufig nicht nach Berlin zurückkehren?«
+
+»Berlin?« Ellen war entsetzt. »Ich will bei Strolly und Munki bleiben!«
+
+Schwedenklees Gesicht wurde dunkel: er war eifersüchtig auf die Tiere
+...
+
+
+
+
+ 20
+
+
+Schwedenklee hatte sich von dem Dorftischler einen großen Zeichentisch
+nach eigener Angabe anfertigen lassen. Hingegeben an seine Idee
+zeichnete er: er hatte nun den großen Berliner Zentralbahnhof weiter in
+den Tiergarten hinein verlegt. Er brauchte -- ja, was er brauchte, das
+war vor allem Platz! Monumentalität, Raum, Auffahrts- und
+Abfahrtsalleen! Nicht, daß man nach zehn Jahren sagte: bei aller
+Genialität, Schwedenklee hat es nicht verstanden, zehn, zwanzig, fünfzig
+Jahre in die Zukunft zu blicken. Eine Stadt wie Berlin ging wie eine
+Mine hoch! Also Raum -- immer tiefer hinein in den großen Tiergarten --.
+
+Aber schon nach kurzer Zeit beschäftigte ihn eine neue Idee
+leidenschaftlich.
+
+Das Landhaus war zu klein! Es war nur für ihn, Schwedenklee, berechnet.
+Er hatte es seinerzeit mit Absicht so klein gehalten: anders würden ihn,
+hatte er befürchtet, fortwährend Bekannte überlaufen! Von einem kleinen,
+sehr bescheidenen Gastzimmer abgesehen, das unter dem Dache lag,
+enthielt es nur drei Zimmer. Schwedenklee hatte sich auf einen Raum
+beschränkt, Ellen bewohnte das andere Zimmer, dazwischen lag die
+»Halle«, die als Speiseraum diente. In dem Giebelzimmer hauste Augusta.
+
+Schwedenklee beschloß, das Landhaus in großem Stil auszubauen. In großem
+Stil? Nein, in allergrößtem Stil, mochte es kosten, was es wollte.
+Tagelang tat er geheimnisvoll. Als er mit sich im reinen war, rief er
+Ellen an den Zeichentisch.
+
+Sie kam, den schwarzen Kater auf der Schulter. Strolly sah eifersüchtig
+zum Fenster herein und winselte flehentlich.
+
+Lieber Himmel, was für ein stattliches Gebäude das Landhaus plötzlich
+geworden war! Nach beiden Seiten und nach der Höhe baute Schwedenklee
+aus.
+
+Ellen stimmte allen Plänen zu. So und so -- erklärte Schwedenklee. »Und
+du sollst ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben -- mit einer kleinen
+Loggia.«
+
+»Oh, wie fein!« rief sie aus. »Aber ich brauche alles gar nicht. Ich bin
+so zufrieden mit meinem Zimmer!«
+
+»Und hier, siehst du, werden wir das Badezimmer hinausbauen!«
+
+Schwedenklee schwebte eine Art Glashaus vor: in der Mitte ein versenktes
+Bassin, ringsum eine Art Gewächshaus mit Palmen, Blattpflanzen, Kakteen.
+Schwedenklee sprach mit auffallend unsicherer, stotternder Stimme. Ellen
+war hell begeistert.
+
+Schwedenklee verlor sich in Einzelheiten. Erschrocken und fast mystisch
+erregt erinnerte er sich, daß er die gleichen Pläne, ganz die gleichen,
+mit Ellens Mutter, der unglücklichen Ellen, in vielen Stunden
+durchgesprochen hatte! Sein Atem stockte. Wie viele Jahre ist es her?
+Und nun steht sie hier, ihre Tochter --! Jetzt aber sollten die Pläne
+Wirklichkeit werden!
+
+»Und dann,« sagte er, atemlos vor Erregung -- denn Ellen schmiegte sich,
+zärtlich, mädchenhaft, an seine Schulter -- »weißt du, wenn alles fertig
+ist, was ich dann tun werde?«
+
+Ihr schönes reines Auge blendete. »Nein.«
+
+»Dann werde ich Siebenbirken der kleinen Ellen schenken.«
+
+»Ich will es nicht haben!« rief Ellen aus, und ihr Blick verriet
+Unsicherheit und Argwohn. Sie löste leise die Hände von seiner Schulter
+und lief verlegen lachend davon.
+
+»Meine Freude!« stammelte Schwedenklee und erhob sich schwankend, indem
+er ihr mit den Blicken folgte.
+
+
+
+
+ 21
+
+
+Schon in der nächsten Woche kamen die Werkleute, und der Umbau und
+Ausbau des Hauses begann. Es wimmelte auf Siebenbirken plötzlich von
+Handwerkern.
+
+Schwedenklee erhob sich schon am frühen Morgen. Er ging mit dem
+Meterstab hin und her. Er fertigte für Maurer und Zimmerleute und
+Tischler Detailzeichnungen an.
+
+Man muß es zugeben, in den letzten Jahren war Schwedenklee die
+Entschlußkraft einigermaßen abhanden gekommen. Er sollte zum Beispiel
+einen wichtigen Brief schreiben. Er konnte sich nicht dazu aufraffen. Da
+ist dieser Brief, dachte er, es wird höchste Zeit! Aber die Tinte war
+dick geworden. Der Brief unterblieb.
+
+Schwedenklee hatte sich sehr geändert. Er sieht, daß eine Latte an einem
+Zaun lose ist. Sofort holt er Hammer und Nägel und hämmert, daß es
+lustig widerhallt.
+
+Da steht ein alter Fliederbusch, dessen Blätter matt herabhängen.
+Schwedenklee hätte früher nie einen Finger gerührt. Jetzt holte er
+sofort einen Hammer und einen langen Zimmermannsnagel und meißelt Löcher
+in den zementharten Lehm rings um den Stamm.
+
+»Was tust du?« staunt Ellen, hingerissen und voll äußerster
+Verwunderung.
+
+Schon schleppt Schwedenklee Wasser heran und gießt die Löcher voll,
+sorgfältig, geduldig, bis der Zement sich erweicht. Schon am zweiten
+Tage stellen sich die matten Blätter des Fliederbusches steif und prall.
+Und Ellen staunt!
+
+Schwedenklee ließ sich wiegen -- auf derselben Wage, wo die Schweine, in
+einem Holzverschlag, gewogen wurden. Sein Gewicht war außerordentlich
+hoch. Er verschwieg es! Aber man sah ihn nun schon am frühen Morgen mit
+dem Spaten im Garten. Er arbeitete im Schweiße seines Angesichts den
+ganzen Tag über. Nach einer Woche hatte er bereits fünf Pfund verloren.
+
+Nun begann Schwedenklee schwere Steine, Feldsteine, die in Massen an
+einer Hecke angehäuft waren, zu schleppen und zu rollen. Er hatte
+beschlossen, einen Steingarten zu bauen. Der Schweiß rann ihm in Strömen
+von der Stirne.
+
+In dieser Woche nahm er acht Pfund ab. Schon waren ihm die Hosen zu
+weit. Sein Gang war leichter, er lief sogar zuweilen, allerdings nicht
+lange, da ihm der Atem kurz wurde. In seine schlaffen Arme kam wieder
+Kraft.
+
+Zuweilen strichen Radfahrer flink an Siebenbirken vorbei. Mit einem
+merkwürdigen Interesse sah Schwedenklee diesen flinken Radfahrern nach.
+
+»Kannst du radfahren, Ellen?« fragte er eines Tages, voller
+Entschlossenheit.
+
+»Nein!«
+
+»Vielleicht wäre es hübsch, Partien zu machen?«
+
+»Oh!«
+
+Schon fuhr Schwedenklee in die Stadt und brachte zwei funkelnagelneue
+Räder mit.
+
+Ja, bei Gott, vielleicht hatte Schwedenklee sich doch etwas zuviel
+zugemutet! Er fuhr vor etwa zwanzig Jahren Rad und glaubte nicht, daß es
+möglich wäre, diese Kunst zu verlernen? Kaum aber hatte er das Rad
+bestiegen, als er schon auf der anderen Seite in das Gras hinabstürzte.
+Augusta lachte, Ellen lachte, die Handwerker lachten. Wurde Schwedenklee
+böse? O nein, auch Schwedenklee lachte. Kühn fuhr er einige zwanzig
+Meter geradeaus, um bei einem Holzhaufen zu kentern.
+
+Ellen, zierlich, leicht, gewandt, kletterte in das Rad, und Schwedenklee
+führte die Maschine voller Vorsicht. Ellen schrie, lachte -- und wenn
+sie fallen sollte, landete sie an Schwedenklees Schulter.
+
+Schon am vierten Tage nach den ersten Übungen unternahmen sie eine
+kleine Radtour, die so reich an Erlebnissen war, daß sie tagelang
+darüber sprachen.
+
+Schwedenklee wurde in der Tat täglich schlanker. Sein Blick wurde
+offener, freimütiger. Seine dicken roten Prälatenwangen wurden flächig
+und braun, sein Körper straffte sich. Seine Stimme bekam einen
+metallischen Klang.
+
+Schwedenklee trug beim Lesen eine Hornbrille. Einmal trat Ellen ein, die
+ihn nie mit dieser abscheulichen Brille gesehen hatte. Sie lächelte, ja
+sie mußte laut herauslachen.
+
+In Zukunft trug Schwedenklee diese Brille nicht mehr. Die frische Luft,
+die Bewegung stärkten seine Augen in wenigen Wochen so sehr, daß er
+keine Brille mehr brauchte.
+
+ * * * * *
+
+Eine ganze Woche regnete es. Schwedenklee zeichnete wieder an seinem
+Zentralbahnhof.
+
+Dann packte er die Geige aus und begann, lustlos anfangs, Instrument und
+Klang entfremdet, ganz leise zu spielen.
+
+Da erschien Ellen plötzlich -- ganz entgeistert! -- in der Türe.
+
+»Du spielst Geige?« rief sie maßlos überrascht aus. Freude stand in
+ihren hellen Augen.
+
+»Du spielst ja sehr gut!« sagte sie, noch mehr überrascht.
+
+Schwedenklee kam in Verlegenheit. Er erinnerte sich an die Zeit -- viele
+Jahre war es her -- da er begeistert mit den Musikstudenten zweimal in
+der Woche musizierte, da er sogar den Ehrgeiz besessen hatte, Geiger zu
+werden -- still!
+
+Es stellte sich heraus, daß auch Ellen Geige spielte. Ihr Vater hatte
+sie unterrichtet.
+
+»So spiele.«
+
+»Nein. Ich werde üben, wenn du nicht zuhörst. Ich habe lange nicht
+gespielt.«
+
+»Weshalb nicht?«
+
+Ellen errötete.
+
+»Papa verkaufte seine Geige.«
+
+»Ja, weshalb denn?«
+
+»Er verkaufte sie, als Mama starb. Wir hatten so große Ausgaben damals.«
+
+Schwedenklee fragte nichts mehr.
+
+»Es ist keine besondere Geige«, sagte er. »Aber wenn du mir eine Freude
+bereiten willst, Ellen, so nimm sie als Geschenk an.«
+
+Alles, alles wollte er ihr schenken, nur um ein freudiges Feuer in ihren
+Augen zu entzünden. Zart und kühl war die Haut ihrer Schultern. Sie war
+nicht schöner als andere Frauen, oh, keineswegs, aber sie war jung und
+unerfahren, das war alles, was sie anderen Frauen voraus hatte. Es war
+die Jugend, nicht mehr, nicht weniger.
+
+ * * * * *
+
+Er bemühte sich, Ellens Wünsche und Pläne zu erforschen. Sie war scheu,
+sprach nie von sich und den Dingen, die sie im Innersten beschäftigten.
+Sie errötete, wenn man sie nach ihren Wünschen fragte, und erklärte, sie
+wünsche nichts. Vielleicht aber hatte sie irgendwelche Neigungen, Lust
+zur Musik, zu irgendeinem Berufe? In allen Dingen wollte er ihr wie ein
+Freund zur Seite stehen.
+
+Endlich überwand Ellen ihre Scheu und erschloß sich. Es fand sich, daß
+Ellen längst einen Entschluß gefaßt hatte. Verlegen und errötend
+bekannte sie, daß sie zur Bühne gehen wolle. Mehr als das, es stellte
+sich heraus, daß ihre Ausbildung bei verschiedenen Lehrern bereits so
+weit gefördert war, daß sie schon in diesem Sommer, wäre der Todesfall
+nicht eingetreten, in ihr erstes Engagement in einen kleinen Badeort
+hätte gehen sollen.
+
+Schwedenklee, der fürchtete, daß das Theater sie ihm entfremden könne,
+versuchte sie umzustimmen. Aber Ellen hing voller Leidenschaft an dem
+gewählten Berufe. Sie war fest entschlossen, denselben verführerischen
+und gefährlichen Weg zu gehen wie ihre Eltern.
+
+»Nun gut«, dachte Schwedenklee. »Ich habe gute Beziehungen zu den
+Theatern in Berlin. Sie wird es leichter haben, soll es leichter haben,
+als andere. Freilich: das Theater -- lieber wäre mir ein anderer Beruf
+-- lieber wäre mir gar kein Beruf ...«
+
+Ellen hatte einen hellen, ergreifenden Sopran: vielleicht Sängerin?
+
+Nun, sie sollte wählen, sie sollte werden, was sie wollte!
+
+Tagelang stand eine Überraschung in Schwedenklees Augen. Ellens
+Neugierde war aufs höchste gestiegen.
+
+Eines Tages wurde ein kleiner funkelnagelneuer Stutzflügel vor dem Hause
+abgeladen. Es war ein Glück, daß Ellen im Walde war! Als sie zurückkam,
+fand sie den Flügel im Speisezimmer. Ein kleiner Strauß von
+Frühlingsblumen stand darauf, und an der Vase lehnte eine Karte, auf die
+Schwedenklee geschrieben hatte: der kleinen Ellen für ihre neue
+Wohnstube.
+
+Ellen war überglücklich. Sie schlang ihre weichen, nach Gras und Wald
+duftenden Arme um seinen Hals. Die Berührung ihrer Arme war leise und
+doch unsagbar innig.
+
+Am Abend fand das erste Konzert statt. Schwedenklee spielte aus
+bekannten Opern, und er spielte außerordentlich aufgeregt. Er spielte
+Klavier keineswegs so gut wie Geige. Aber er spielte ohne Mühe, las
+gewandt, und zudem konnte er die meisten Opern auswendig. Schon nach
+wenigen Tagen hatte er sich wieder eingespielt, und der kleine Flügel
+sang und donnerte wie ein Provinzorchester, das sich alle Mühe gibt. Nun
+begann er auch einzelne Partien halblaut zu singen.
+
+Ellen war wie verzaubert. Mit glänzenden Augen saß sie da, den Mund
+offen, die Ohren leuchteten purpurrot. Ihre Kindheit erwachte, da sie in
+einer Luft von Musik aufwuchs.
+
+Bald aber -- wie angezogen -- stand sie hinter Schwedenklees Stuhl und
+begleitete ihn mit leiser, erregt bebender Stimme.
+
+Fast jeden Abend wurde musiziert. Draußen die Nacht, der Mond klettert
+in den samtschwarzen Himmel empor, die Bäume brausen.
+
+Mehr und mehr verlor Ellen ihre Scheu, und ihre Stimme strömte klar,
+rührend, voller Leidenschaft. Sie glühte vor Erregung.
+
+»Vielleicht werden wir doch noch eine Sängerin aus dir machen, Ellen?«
+
+»Papa sagte, meine Stimme sei zu klein«, erwiderte Ellen, errötend über
+das Lob.
+
+»Nun, wir werden ja sehen.« Schon war auch Schwedenklee vom Fieber
+ergriffen: oft sah er sie, Ellen, seine Ellen, auf der Bühne stehen,
+umbrandet vom Beifall.
+
+
+
+
+ 22
+
+
+Ellen verbarg nicht ihre Dankbarkeit für Schwedenklees Fürsorge und
+Anteilnahme an allem, was sie betraf. Sie hielt diese Fürsorge für
+völlig uneigennützig, der tiefen Freundschaft entspringend, die ihn mit
+ihren Eltern verbunden hatte. Natürlich verriet ihr ihr weiblicher
+Instinkt, daß er sie gern um sich sah. Wirkliches und aufrichtiges
+Vertrauen aber empfand sie erst seit den letzten Wochen, da er sich so
+lebhaft für ihre Pläne interessierte.
+
+Er hatte ihr eine kleine Bibliothek, die sie für ihre Studien brauchte,
+besorgt.
+
+Mit allem Eifer gab sie sich der Arbeit hin. Jeden Morgen verschwand sie
+nach dem Frühstück in den Wald, der an Schwedenklees Acker grenzte. Erst
+gegen Mittag kehrte sie zurück, die Wangen gerötet, Glanz und den
+Widerschein frohen Erlebens in den Augen.
+
+Neugierig schlich ihr Schwedenklee eines Tages nach. Er hätte sie nie
+finden können, wenn nicht der Hund ihr Versteck verraten hätte. Auf
+einer Kuppe des Waldes war eine kleine, von Erlen umgebene Lichtung, so
+dicht abgeschlossen, daß es nahezu unmöglich war, die Lichtung zu
+finden.
+
+Dies war Ellens Versteck. Er beobachtete, wie sie mit dem Buche in der
+Hand auf und ab ging. Sie sprach, deklamierte, ohne daß er die Worte
+verstanden hätte. Sie spielte! Sie kniete flüchtig nieder, hob die Arme,
+sie flüchtete, sie wehrte unsichtbare Feinde ab, erstarrte in Qualen,
+löste sich befreit -- wieder klang ihre Stimme.
+
+»Was mag sie wohl spielen?« dachte Schwedenklee neugierig in seinem
+Versteck. Nie kam sie ihm seltsamer, rührender vor als in diesem Moment.
+
+Offenbar war sie nicht zufrieden. Wieder kniete sie nieder, ihre dünnen,
+zarten Hände flehten, ihre ganze Gestalt, die Arme, die Neigung ihres
+Kopfes. Wieder wich sie zurück -- herrlich und wunderbar erschien sie
+ihm, leidenschaftlich hingegeben ihrem Werke, inmitten der Einsamkeit
+und Heiligkeit des Waldes.
+
+Strolly, der Hund, gewöhnt an ihr wunderliches Gebaren, lag im Grase,
+den Kopf zwischen die Pfoten gesteckt. In der Gabel eines Astes
+entdeckte Schwedenklee den schwarzen Kater.
+
+Bei einer lebhaften Geste schreckte der Hund auf und sprang an ihr
+empor. Sie umarmte ihn, küßte ihn und beide wälzten sie sich im Grase.
+Hell und herzlich klang Ellens Gelächter.
+
+Heute, morgen, übermorgen belauschte sie Schwedenklee klopfenden
+Herzens. Aber der Hund lief hin und her, bellte -- endlich stutzte
+Ellen, unterbrach ihre Deklamation und lauschte. Sie machte Miene, dem
+Hund zu folgen.
+
+Schwedenklee entfloh und belauschte sie fortan nicht mehr.
+
+Trotz dem kameradschaftlichen, harmlosen und nahezu kindlichen Tone, der
+zwischen ihnen herrschte, bewahrte Ellen immer noch eine gewisse Scheu
+und Fremdheit. Zuweilen sprach sie von ihren Hoffnungen in der Zukunft,
+niemals, oder fast niemals rührte sie an die Vergangenheit.
+
+Bis zum Alter von ungefähr fünfzehn Jahren hatte sie wohl ein ziemlich
+sorgloses, ja heiteres Leben geführt. Dann kam die Krankheit der Mutter.
+Ellen, ein Kind noch, führte den Haushalt, die Sorge trat ihr ganz nahe.
+Früh gereift in manchen Dingen, hatte die Schwere dieser Jahre sie in
+ihrer seelischen Entwicklung in anderer Beziehung gehemmt.
+Unentwickelter als Mädchen ihres Alters, die sorglos und heiter
+erblühten, war sie in anderen Dingen.
+
+Oft beobachtete Schwedenklee, wie sie mit den Tieren plauderte. Sie
+sprach mit ihnen wie mit kleinen Geschwistern, so naiv gläubig und
+zärtlich. Die Tiere aber schienen sie völlig zu verstehen.
+
+»Wie rührend sie ist!« dachte Schwedenklee, und ein tiefes Gefühl der
+Dankbarkeit und des Glückes erfüllte ihn.
+
+
+
+
+ 23
+
+
+Sterne, das Rauschen der Bäume, der laue Wind haucht, das Gras flüstert
+unter den Büschen, eine Eule schreit schwingend in der Finsternis. Die
+Dunkelheit berauscht, die Seele ist trunken von der Stille.
+
+Unfaßbar war Schwedenklee diese wundervolle, weiche Dunkelheit, die in
+den Städten ausgestorben ist, vertrieben vom elektrisch glühenden
+Kohlenfaden. Jeden Abend überraschte sie ihn aufs neue. Unfaßbar die
+Stille. Unfaßbar die Sterne, die auf ihn herabstürzten, wenn er das Auge
+zum Firmament hob. Matter Glanz lag auf dem Meere, ein feiner roter
+Lichtfunke glitt irgendwo in die Weite.
+
+Wie ein Verzauberter, sich selbst fremd, wanderte Schwedenklee in der
+Dunkelheit hin und her, sobald Ellen sich zurückgezogen hatte. Beglückt
+hörte er zuweilen ihre Stimme in die Stille dringen. Sie sprach mit dem
+Hunde, der in ihrem Zimmer schlief. Ellen schloß die Läden ihres Zimmers
+nicht, wenn sie sich entkleidete. Diese Reinheit rührte ihn, und er
+hütete sich wohl, ihrem Fenster zu nahe zu kommen. Nur aus der Ferne,
+durch die Büsche hindurch, wagte er zuweilen einen kurzen Blick: ihre
+Arme ordneten die Haare, sie schritt im Nachtgewand zur Kerze, spitzte
+den Mund und blies das Licht aus. Ihr schönes mädchenhaftes Profil blieb
+noch lange in der Dunkelheit haften, zuletzt verschwand der kindlich
+gespitzte Mund.
+
+Schwedenklee setzte sich auf die Treppe des Hauses. Hingegeben, voller
+Andacht atmete er Stille und Dunkelheit ein. Zu denken, daß es Menschen
+gab, die in dieser Stunde in rauchigen Kaffeehäusern saßen und
+schmutzige Karten mischten! Zu denken, daß er vor Jahren gerade vor
+dieser Dunkelheit und Stille die Flucht ergriffen hatte! Unvorstellbar
+der Gedanke, daß er einmal wieder in diese Höllenstadt zurückkehren
+würde.
+
+In der Tat, war sein Leben bisher nicht leer, sinnlos? Welche
+Freudlosigkeit, Nüchternheit, Betäubung, Unrast, Lärm, Flucht vor sich
+selbst.
+
+Wunderbare Wendung, die sein Leben genommen hatte! Deutlich erkannte er
+die Hand eines wohlwollenden Schicksals.
+
+Schwedenklee blickte in die Dunkelheit und überließ sich seinen
+Empfindungen. Schon fühlte er die Schwere nicht mehr, schon schien er zu
+schweben, schon schien er zu segeln auf den Fittichen der Nacht.
+
+ * * * * *
+
+Mitten in einer lauten Nacht -- die Zweige peitschten gegen das Fenster
+und der Vollmond flog rasend dahin -- erwachte Schwedenklee plötzlich,
+von einem Gedanken gepeinigt. Dieser Gedanke quälte ihn so sehr, daß
+sein Herz schmerzte. Es war ein Gedanke, den er in all den Wochen
+verscheucht hatte, so oft er sich nahte.
+
+Er erhob sich, in Schweiß gebadet, warf den seidenen Schlafrock über und
+ging in dem schattigen, von Lichtschwertern durchzuckten Zimmer hin und
+her, immer hin und her.
+
+»Und wenn sie doch mein Kind wäre?« flüsterte er. Da! Nun war er
+ausgesprochen, der Gedanke!
+
+Schwedenklee taumelte, so stark erschütterte ihn der Gedanke.
+
+Die arme Ellen, sie war damals von Paris nach Nürnberg gefahren und
+hatte dort schon in den ersten Tagen Blank kennengelernt. Blank hatte
+sich sofort in sie verliebt und sie hatten -- nach anfänglichem Zögern
+Ellens -- geheiratet. Anfangs Januar des nächsten Jahres war die kleine
+Ellen geboren worden.
+
+Soweit die Tatsachen -- gänzlich unverfänglich, wie man zugeben wird,
+von dem verhältnismäßig frühen Termin der Geburt des Kindes abgesehen.
+Ja, wann zum Beispiel hatte Ellen Fröhlich Paris verlassen? April, März,
+früher? Ja, mein Gott, _man lebte damals in den Tag hinein_ -- wer
+dachte an solch abenteuerliche Möglichkeiten?
+
+Nein, der Termin der Geburt war ohne Bedeutung. Leidenschaftlich und
+rasch ist die Jugend, hatte er nicht selbst in dieser Hinsicht genug
+Erfahrungen gesammelt?
+
+Aber Schwedenklee erinnerte sich noch heute deutlich an eine Andeutung
+im ersten Brief, den Ellen Fröhlich von Nürnberg aus schrieb, eine
+Andeutung, die ihm sofort die Hitze ins Gesicht getrieben hatte. Er
+hatte diese Andeutung ignoriert, und in den folgenden Briefen war nicht
+mehr die Rede davon gewesen. Später hatte er sich seiner Feigheit
+geschämt, und gerade aus diesem Grunde erwachte ein leichtes, nicht
+abzuschüttelndes Gefühl der Scham in ihm im Augenblick, da die
+Erinnerung an Ellen Fröhlich unerwartet in ihm geweckt wurde. Es war
+natürlich auch möglich, daß er diese Andeutung, jene dunkel klingende
+Bemerkung, völlig mißverstanden hatte?
+
+Und doch, um ehrlich zu sein, augenblicklich hatte er sich an diese
+seltsame Andeutung erinnert, als Blank ihm seinerzeit schrieb:
+vielleicht habe ich Ihnen Mitteilungen zu machen, die Sie interessieren
+könnten!
+
+Es gab aber ein weiteres gewichtiges Argument: Weshalb hatte Blank, der
+ihm alle Einzelheiten seines Lebens anvertraute, _nie mit einer Silbe
+erwähnt, daß er eine Tochter besaß_? Ja, weshalb, bei allen Göttern?
+
+Schwedenklees Herz blieb stehen. Der Schweiß brach erneut aus seiner
+Stirn.
+
+Ja, war es nicht das allersonderbarste, daß Blank nie von seiner Tochter
+sprach? Wie?
+
+War es -- mehr noch! -- nicht auffallend, daß Blank kurz vor seinem Tode
+alle Papiere, die er besaß, vernichtete?
+
+»Es steht fest,« resümierte Schwedenklee, zitternd vor Erregung, »Ellen
+ist deine Tochter! Ich will es dir beweisen!«
+
+Nehmen wir es einmal an: sofort ist Blanks sonderbares Benehmen, sind
+all seine Worte und Anspielungen sonnenklar.
+
+Ellen Fröhlich trug dein Kind unter dem Herzen, als sie von Paris kam.
+Sie machte eine Andeutung, sie war überzeugt, du würdest auf diese
+Anspielung hin sofort zu ihr eilen. Blank berichtete ja, daß sie dich
+bestimmt erwartete. Du ignoriertest die Andeutung, du kamst nicht. Sie
+haßte dich! Ließ sie dir nicht bestellen: Sage ihm, daß ich ihm nicht
+mehr grolle! Grolle? Oh, ja, nun wurde es klar. Blank liebte sie rasend,
+er nahm das Kind als sein Kind entgegen. Das war das Geheimnis ihrer
+Ehe! Aus welchem anderen Grunde solltest du zwanzig Jahre hindurch in
+dieser Ehe diese wichtige Rolle gespielt haben? Weshalb vergaß man dich
+nicht? Nun, sehr einfach, weil man dich nicht vergessen konnte! Das Kind
+...
+
+Als Ellen fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen, war es da angesichts
+der wirtschaftlichen Not nicht naheliegend, daß die beiden im Interesse
+des Kindes beschlossen, das Geheimnis preiszugeben? Blank sollte zu dir
+kommen, dich sprechen, dir das Geheimnis enthüllen. Aber du wolltest ihn
+nicht empfangen -- er war gezwungen, Anspielungen zu machen, die dich
+stutzig machen sollten. Ja, ja -- so ist es und nicht anders!
+
+Er kam zu dir -- aber im Augenblick, da er dich sah, war es ihm gänzlich
+unmöglich, aus rasender Liebe für das Kind, aus rasender Eifersucht, die
+entscheidenden Worte zu sprechen. Aus diesem Grunde sprach er nie von
+seiner Tochter ...
+
+Es ist ja nur selbstverständlich: wäre mit der jungen Ellen nicht ein
+Geheimnis verknüpft, so würde Blank in der ersten Stunde zu allererst
+nur von ihr erzählt haben ...
+
+»Alles, alles erklärt sich!«
+
+Schwedenklee schwankte durch das Zimmer. »Ja,« sagte er zu sich,
+inbrünstig, bis zu Tränen erregt, »ohne jeden Zweifel -- sie ist dein
+Kind! Und morgen werde ich es ihr sagen. Von morgen an werden unsere
+Beziehungen einen anderen Charakter tragen.«
+
+Schon aber blieb Schwedenklee verwirrt stehen. Obwohl es heiß im Zimmer
+war, zitterte er vor Frost. Nein, das, gerade das war ja gänzlich
+unmöglich!
+
+»Oder werde ich es ihr lieber nicht sagen --?« flüsterte er, aufs
+äußerste erregt.
+
+»Oder werde ich es ihr _nie_ sagen?«
+
+»Aber selbst: wenn ich es ihr sagen würde, wie würde ich sie
+_überzeugen_ können?«
+
+»Nie würde ich sie überzeugen können! Sie wird mich für einen Betrüger
+halten. Sie wird mich hassen, weil ich das Andenken ihrer Eltern schmähe
+...«
+
+Schwedenklee trat an das Fenster und blickte lange, ratlos, verquält,
+zum rasend fliehenden hellblinkenden Mond empor. Dann tauchte er wieder
+in das warme Dunkel des Zimmers zurück.
+
+»Es ist ja alles Unsinn!« dachte er und nahm die Wanderung wieder auf.
+»Völliger Unsinn! Sie ist _nicht_ dein Kind!«
+
+»Nein, nun werde ich es dir beweisen! Die Sache ist ja so einfach, wenn
+man sie ruhig betrachtet, und alles andere sind leere Spekulationen.«
+
+Ellen Fröhlich war lange leidend. Sie lebte wie alle schwer Leidenden,
+fast ausschließlich in der Erinnerung. Ihre Erlebnisse, wie die der
+meisten Frauen, einfach, klar und nicht chaotisch, ließen sich leicht
+überblicken, und so konnte sie nicht umhin, an das Erlebnis in Paris zu
+denken. Sie fand das verblaßte Bild. Vielleicht sagte sie zu Blank:
+bring es ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin, grüße ihn von mir. Ich
+grolle ihm nicht mehr -- weil er mich damals so schwer enttäuschte ...
+
+Blank konnte auch recht gut ganz von selbst auf den Gedanken gekommen
+sein! Verlassen, arm, krank, suchte er Anlehnung, Stütze. Nichts wäre
+verständlicher. Der Gedanke an die Zukunft seines Kindes marterte ihn.
+Mit dem Starrsinn eines Verzweifelten klammerte er sich an dich.
+Vielleicht, sicher, hatte ihm auch seine Frau nahegelegt, daß in der
+letzten Not du dich wohl als Freund erweisen würdest.
+
+Ich reagierte nicht auf seine Briefe. Er machte bedeutsam klingende
+Anspielungen, um meine Neugierde zu reizen -- Anspielungen, die er
+augenblicklich widerrief, als er seine Absicht, mich kennenzulernen,
+erreicht hatte.
+
+Während er harmlos zu plaudern versuchte, während er zu lächeln
+versuchte, marterte ihn vielleicht der Gedanke: kann man diesem da --
+wenn es zum Äußersten kommen sollte --, kann man diesem da, diesem
+Schwedenklee, das Kind anvertrauen? Wird er nicht, teilnahmslos und
+gleichgültig, die Bitte eines Unglücklichen verhallen lassen?
+
+Nun schien auch plötzlich die Bemerkung Sinn zu bekommen, die er machte,
+als er nach dem Abendessen in der Droschke fortrollte: einmal werden Sie
+vielleicht begreifen, welche Bedeutung es für mich hat, Sie näher
+kennengelernt zu haben.
+
+Weshalb aber sprach er nicht von Ellen? Aus Scheu, aus Scham -- aus
+letzter Scham ...
+
+»So und nicht anders ist die Sache«, wiederholte Schwedenklee, »und
+alles andere sind nervöse Konstruktionen --«
+
+»Und ein Argument gibt es, wichtiger als alle, unwiderlegbar!«
+
+»Nehmen wir an, Ellen wäre deine Tochter -- hätte der sterbende Blank,
+der ja noch die Kraft hatte, dir zu schreiben, hätte er in dieser
+furchtbaren Stunde nicht die Wahrheit bekannt? Schon um sicher zu sein,
+daß du Ellen gut aufnehmen würdest?«
+
+»Mit dem Tod vor Augen -- nein, nein, ganz unmöglich!«
+
+»Sie ist natürlich nicht deine Tochter!« rief Schwedenklee beglückt aus.
+
+Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Erregung hatte ihn völlig
+erschöpft.
+
+»Wie albern die Menschen doch sind!« dachte er befreit und leicht. »Wie
+albern! Mit welchem Unsinn sie sich die Köpfe angefüllt haben! Es ist ja
+schließlich höchst einerlei, ob sie nun mein Kind ist oder nicht. Das
+wesentliche ist ja doch, daß sie bei mir ist! Sie ist mein, sie wird
+mein sein, sie wird meine Geliebte, meine Frau sein -- ja, selbst wenn
+ich es wüßte, daß sie mein Kind ist! Ich werde glücklich sein. Was
+kümmert mich schließlich alles andere?«
+
+Schon graute der Tag. Abgezehrt, verhärmt sank der Mond, eine blasse,
+zerfressene Scheibe, in den Morgennebel, der aus den Feldern stieg. Ein
+früher Vogel schrie geisterhaft.
+
+Spät am Morgen erwachte Schwedenklee. Als er sich ankleidete und durchs
+Fenster blickte, sah er Ellen hoch oben auf einem Wagen herrlich
+gehobelter Bretter sitzen, der so eben von einem Gespann starker
+Bauernpferde in den Hof gezogen wurde. Es war der Fußboden des Anbaues.
+Sie lachte mit dem Kutscher. Strolly, der Hund, tanzte wie rasend vor
+den Nasen der Pferde. Ellen erblickte ihn am Fenster, und ihr zarter Arm
+winkte, während die Sonne auf ihren Wangen funkelte.
+
+Verflüchtigt waren die Nachtgespenster.
+
+
+
+
+ 24
+
+
+Die Saat schoß aus der Erde, über Nacht wuchs das Gras auf der Wiese.
+Die Wälder standen plötzlich in dichtem Grün. In Schwedenklees
+verwahrlostem Garten erblühten plötzlich Scharen von Lilien, Päonien,
+Stauden aller Art, Schlingrosen -- vor Jahren hatte er sie gepflanzt und
+völlig vergessen. Der kleine Obstgarten, Pflaumen und Birnen, war eine
+einzige schneeige Wolke, zwischen Haus und Wald gebettet. Ellen war
+nichts als seliges Staunen.
+
+Heiß und plötzlich setzte der Sommer ein. Reichtum quoll aus der Erde,
+Gräser, Blumen, Unkraut. Schon wogte das junge Getreide, der Klee stand
+einen Schuh hoch. Bis an die Knie standen die Kühe im Gras, die Pferde
+grasten in der grünen Koppel, die Schweine grunzten auf dem schwitzenden
+Misthaufen. Die Hühner gackerten lärmend, und Scharen von Küken
+wimmelten um die Glucken. Der Bauer schnitt die erste Mahd, und der
+Schweiß rann ihm über das braune Gesicht.
+
+Ellen hatte bis jetzt fast immer dunkle Kleider getragen. Sie
+vertauschte sie nun endgültig mit hellen Sommerkleidern. So erschien sie
+plötzlich weltlicher, reizender, strahlender -- Schwedenklees Blicke
+hingen an ihr, wie sie durch den Garten schritt, in den Wald lief, sich
+zu einer Blume bückte, das lockere Haar mit der Hand in den Nacken warf.
+
+Schwedenklee schien größer geworden zu sein, da er sich besser hielt.
+Sein Bauch war fast völlig verschwunden, sein Gesicht, wenn auch noch
+massig und viereckig, war straff und braun, niemand konnte leugnen, daß
+er sich um zehn Jahre verjüngt hatte.
+
+Er war in diesem Frühling und Sommer nicht müßig gewesen. Zusammen mit
+Ellen hatte er einen neuen Obstgarten angelegt, gegen hundert Bäume, er
+hatte eine Bewässerungsanlage von fünfzig Meter Länge gebaut. Er hatte
+Wege ausgehoben, Bauschutt und Sand gefahren und festgestampft. Nun war
+er dabei, eine Laube zu zimmern, die eine herrliche Aussicht bot. Er
+hatte Schwielen an den Händen, ganz wie der Bauer. Am Abend sank er
+todmüde ins Bett, um wie ein Stein zu schlafen.
+
+Sie waren viel auf den Rädern unterwegs. Ein wenig außer Atem folgte
+Schwedenklee Ellen, die wie ein Rennfahrer dahinfuhr. Ellen hatte auch
+kutschieren gelernt, etwas ängstlich noch saß sie, die Peitsche in der
+Hand, in steifer Haltung auf dem Bock, und die Pferde trappelten hurtig
+dahin. Schwedenklee hatte ihr einen kleinen eleganten Wagen gekauft.
+
+Das kameradschaftliche Verhältnis zwischen Ellen und Schwedenklee hatte
+an Herzlichkeit gewonnen. Sie lachten und schwatzten zusammen -- nicht
+wie Erwachsene eigentlich, eher wie Kinder. Sie umarmte ihn, schmiegte
+sich an ihn, er gab ihr einen Gutenachtkuß, wenn sie schlafen ging.
+
+Bald!
+
+Schwedenklee war in großer Erregung. Oft ging er, verwirrt und unruhig,
+mit großen Schritten im Garten hin und her und sprach halblaut mit sich
+selbst.
+
+Bald! Bald! Tausend Kosenamen hatte er für Ellen in Gedanken, zärtliche
+Namen, deren er sich vor Wochen noch geschämt hätte.
+
+ * * * * *
+
+Der Sommer stand in voller Glut, die Mückenschwärme tanzten über den
+Wegen, in den Augen glänzte Schweiß. Vom Strande unten stiegen an den
+Abenden häufig bunte Leuchtkugeln in den Nachthimmel empor, der Strand
+wimmelte von Menschen. Die Saison stand auf der Höhe.
+
+Der Anbau war fertig, ein mit Bändern geschmückter Tannenbaum funkelte
+auf dem First.
+
+Schwedenklee hatte den Handwerkern ein Faß Bier gestiftet, am Abend aber
+sollte das Ereignis im Hause gefeiert werden. Schon seit einer Woche war
+das Programm erörtert worden.
+
+»Heute abend um sieben, Ellen, mache dich schön!« sagte Schwedenklee.
+
+Augusta hatte ihr letztes hergegeben. Allerlei Leckerbissen als
+Vorspeise, eine göttliche Suppe mit Leberklößchen, gebratene Hähnchen
+mit dem herrlichsten Salat der Welt. Törtchen von Walderdbeeren, Ellen
+hatte sie gesammelt. Sekt im eisigen Wasser des Brunnens gekühlt. Im
+Speisezimmer brannten zwei Dutzend Kerzen. Zur Feier des Tages durften
+Strolly und Munki bei Tisch gegenwärtig sein. Sie benahmen sich anfangs
+gesittet, aber, ganz wie Kinder bei außerordentlichen Anlässen, wurden
+sie mehr und mehr ausgelassen: zuletzt sprang der Kater, von
+unbezwinglicher Begierde fortgerissen, mitten auf den Tisch und
+versuchte ein Hähnchen zu stehlen.
+
+Ellen war in der herrlichsten Laune. Die Katze kauerte aufgeregt auf
+ihrer Schulter. Der Hund saß, ganz Spannung und Bereitschaft, an ihrer
+Seite -- ihre Augen blendeten vor Freude.
+
+Schwedenklees Fröhlichkeit klang anfangs etwas gezwungen. Ein Schatten
+war über sein Gesicht gebreitet. Gewiß, alles war wunderbar, es war ein
+Abend, auf den er sich seit Wochen freute, ein Abend von ganz besonderer
+Bedeutung, ein Schicksalsabend, und nur um die Feierlichkeit dieser
+Stunde zu betonen, ohne jeden Nebengedanken, hatte er die zwei Dutzend
+Kerzen angezündet. Aber als Ellen eintrat, strahlend, den Widerschein
+der Kerzen in den klaren Augen, mußte er sich plötzlich an das Diner
+erinnern, das er seinerzeit in Paris Ellens Mutter gab, mit den
+Spiegeln, im Hotel Panthéon.
+
+Unvollkommen ist das menschliche Gehirn eingerichtet, dachte er, voller
+Vorwurf gegen den Schöpfer, gänzlich unvollkommen. Die Erfindung eines
+Pedanten. Kaum zündet man ein paar Kerzen an, schon ist man gezwungen,
+an Dinge zu denken, die zwanzig Jahre zurückliegen -- weshalb? Etwas
+steif und melancholisch sah sein Gesicht anfangs aus, etwas
+melancholisch und dunkel klang seine Stimme. Mit einem Faltengekräusel
+in der gebräunten Stirn saß er inmitten der vierundzwanzig Kerzen.
+Vielleicht ist es Vermessenheit? dachte er, und sein Herz wurde
+plötzlich düster. Vielleicht hat ein Mensch wie ich gar nicht mehr das
+Recht, die Hand auszustrecken nach ...! Ellen -- die Liebliche -- sie
+ahnte nichts, wie sollte sie?
+
+In diesem Augenblick aber sprang Munki auf den Tisch und versuchte ein
+geröstetes Hähnchen mit der Kralle zu angeln. Ellen gelang es gerade
+noch in der letzten Sekunde, den Kater abzufangen. Sie warf ihn ein
+paarmal hoch in die Luft, um ihn dann an ihr Herz zu drücken und seinen
+wilden struppigen Kopf mit Küssen zu bedecken. Ihr Lachen klang so
+heiter und glücklich, daß Schwedenklee augenblicklich mit fortgerissen
+wurde. Der Kater hatte den Abend gerettet.
+
+Schwedenklee erhob sich und füllte mit der großen Geste des erfahrenen
+Zechers die Kelche. Fort mit den törichten Gedanken, fort! Gehen wir dem
+Schicksal beherzt entgegen ...
+
+»Auf deine Gesundheit, Ellen!« rief er und ließ das Glas im Lichte der
+Kerzen funkeln.
+
+»Sekt?« sagte Ellen. »Ich habe noch nie Sekt getrunken, es ist das
+erstemal!«
+
+»Versuch' es nur! Es ist noch niemand daran gestorben.«
+
+»Er kitzelt!« rief Ellen und lachte.
+
+In wunderbarer Laune verlief das Diner. Schwedenklee wurde gesprächig.
+Sie tranken auf Ellens Zukunft, ihren Ruhm, sie tranken auf ihre
+Freundschaft und auf die Herrlichkeit dieses Sommers. Der Sekt hatte
+Schwedenklees Gesicht gerötet, seine Augen glänzten, sein Gebiß
+leuchtete jung und stark. Er fühlte sich wieder als derselbe lebensfrohe
+Schwedenklee, der er in Paris war, seinerzeit. Zwanzig Jahre -- was
+sollen sie bedeuten, es ist nur ein albernes Vorurteil ... Nein, damals
+gab es nichts Unmögliches für ihn -- und heute?
+
+Schwedenklee leerte den Kelch und warf ihn lachend gegen die Wand.
+
+Ellen saß mit blendenden Augen, umweht vom Schein der Kerzen. Ihre Haut
+leuchtete wie Blüten. Häufig kühlte sie die heißen Wangen mit den Rücken
+der schmalen Hände. Sie lachte übermütig, und schon nach dem dritten
+Glas lachte sie ausgelassen über die geringste Kleinigkeit. Sie fütterte
+die Tiere mit Leckerbissen, und Strolly, obschon ein großer Hund, durfte
+auf ihrem Schoß sitzen.
+
+»Unser Haus ist also glücklich fertig!« sagte Schwedenklee. »Nun beginnt
+die Einrichtung. Es soll wunderbar werden, warte nur! Ein so behagliches
+Nest wollen wir uns bauen, und hörst du, ein Bett soll Ellen bekommen --
+wie ein Traum!«
+
+»Ja, wie eine Muschel soll es sein und ganz in Spitzen eingehüllt --«
+
+»O, wie fein!« lachte Ellen.
+
+»Und dann werden wir hier in Mecklenburg herumfahren und antike hübsche
+Möbel zusammenkaufen.«
+
+Ausführlich besprachen sie die Einrichtung des Hauses. Schwedenklee
+wurde nicht müde, neue Vorschläge zu machen.
+
+»Und welche Farbe soll dein Schlafzimmer bekommen, Ellen?«
+
+Ellen dachte lange nach. »Rosa!« rief sie. »Weißt du, so ein zartes
+Rosa, wie Korallen.«
+
+»Und dein Wohnzimmer?«
+
+»Himmelblau!«
+
+Schwedenklee lächelte. Ob wohl die Farben zusammenstimmen würden?
+
+»Weshalb sollten sie nicht zusammenstimmen?«
+
+»Gut also -- und dann das Badezimmer. Blattpflanzen, Palmen, Gummibäume,
+Farne, Kakteen -- es wird wie ein Palmenhaus sein, Ellen!«
+
+Wohl eine volle Stunde wurde über das Badezimmer gesprochen, das das
+schönste und originellste in ganz Deutschland werden würde. Dafür sollte
+sein, Schwedenklees Name bürgen!
+
+»Aber Arbeit! Viel Arbeit. Bis alles soweit ist, wird auch schon der
+Herbst da sein, Ellen!«
+
+»Oh, weh!«
+
+»Ja. Und dann werden wir nach Berlin zurückkehren und du wirst deine
+Studien wieder aufnehmen. Ich werde dich zu den ersten Lehrern bringen.
+Viele kenne ich ja persönlich.« Schwedenklee renommierte ein wenig mit
+seinen Bühnenbekanntschaften.
+
+Ellen war hell begeistert. »Wie ich mich auf die Arbeit freue!
+Hoffentlich enttäuscht mein Talent nicht.«
+
+»Weshalb sollte dein Talent enttäuschen? Ich sage dir nur eines« --
+Schwedenklee lächelte vielsagend und zwinkerte ein wenig mit den Augen
+-- »du hast mehr Talent, als du je ahnen kannst, ja!«
+
+»Mein Himmel!« Ellen wirft erregt die Hände in die Luft.
+
+»Du wirst also deine Studien aufnehmen. Aber wir werden immerhin noch
+Zeit haben, um im Winter auf vierzehn Tage nach St. Moritz zu fahren.«
+
+»St. Moritz?«
+
+»Ja. Es ist phantastisch im Winter. Es gibt dort Häuser, zehnstöckig --
+wie in Neuyork. Du wirst sehen. Es ist wunderbar. Am Tage Sport, abends
+Tanz.«
+
+»Und dann,« fuhr Schwedenklee fort, »im Frühling fahren wir auf einige
+Wochen nach Florenz. Du sollst Florenz sehen! Ein Schmuckkästchen! Ein
+Museum! Die Straßen allein sind schon ein Museum!«
+
+»Wie herrlich!«
+
+Schwedenklee entwarf Plan um Plan. Schön und berauschend stand die
+Zukunft vor ihm.
+
+Augusta hatte längst abserviert. Die Kerzen erloschen, es brannten nur
+noch drei. Da sah man auch plötzlich den dunkeln Nachthimmel, flimmernd
+von Sternen, in der offenen Türe stehen. Es funkelten die großen
+Sternbilder, deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte.
+Berauschend strich der Atem der Sommernacht ins Zimmer, die Grillen
+feilten. Wolken von Düften hoben sich aus der trächtigen Erde.
+
+Plötzlich knatterte es und am Himmel erschienen farbige Leuchtkugeln und
+Feuerräder. Rote Lohe schlug aus dem Meer empor, und die Sterne wurden
+bleich und unscheinbar.
+
+Nein, Ellen hatte noch nichts von der Welt gesehen, noch gar nichts.
+Aber ihre Augen weiteten sich, heiß vor Begierde, wenn er erzählte.
+Höher noch schwang sich die feine Braue, und die Lippen atmeten erregt.
+
+Er also war ausersehen, er, ihr die Wunder der Erde zu zeigen, ihr
+keusches Staunen, ihre reine Verzücktheit zu genießen! Er! Dank den
+erhabenen Göttern ...
+
+Dann also würde er ihr Paris zeigen: wimmelnde Stadt, immer auf den
+Beinen, ohne Schlaf, bebend von Lärm, widerhallend von Freude,
+schwimmend in Licht.
+
+Und dann also --
+
+Erregt ging Schwedenklee hin und her, von den großen Sternbildern zu
+Ellen mit den glänzenden Augen und heißen Wangen, immer hin und her.
+
+Auch auf einem großen Dampfer war sie ja noch nicht gewesen: surrend und
+tobend Tag und Nacht, das kühle gischtende Meer durchschneidend,
+angefüllt mit Luxus und Behaglichkeit. Meer, Wolken -- unbeschreiblich
+herrlich! Nein, sie hatte ja noch nichts, gar nichts gesehen -- wie
+glücklich er war!
+
+So würden sie also dahinfahren, Tag um Tag. Indien! Japan!
+
+»Japan?« rief Ellen und schlug die kleinen Hände zusammen.
+
+»Ja, Japan. Ich bin ja auch noch nicht dagewesen, aber es soll ein
+einziges Wunder sein. Man fährt in kleinen Wagen dahin, von braunen,
+flinken Burschen gezogen -- die Teehäuser, die Tempel -- und die ganze
+Bevölkerung in Kimonos und auf hohen Stöckelschuhen. Da gibt es einen
+Berg, den man immer auf den Holzschnitten abgebildet sieht -- wie heißt
+er doch? Fujiyama! Diesen Fujiyama wollen wir besteigen!«
+
+Wie Ellen sich freute zu reisen, die Welt zu sehen! Denn sie hatte ja
+bis jetzt nichts gesehen. Sie kannte nur Dresden, Berlin, und einmal war
+sie in Potsdam gewesen.
+
+Man höre! Schwedenklee lachte laut heraus.
+
+Und wieder ging Schwedenklee erregt hin und her, von den großen
+Sternbildern zu Ellen, von Ellen zu den großen Sternbildern. Immer
+größer wurden seine Schritte. Seine Stimme klang plötzlich unsicher.
+
+Sie würden also reisen, und er versprach, ihr die Welt zu zeigen, so
+wahr er hier auf und ab gehe.
+
+»Aber«, begann Schwedenklee tastend, »in welcher Form -- ich meine, in
+welchem gegenseitigen Verhältnis werden wir zusammen reisen?«
+
+Ellen verstand nicht.
+
+»Ich meine, in welcher Eigenschaft wirst du mit mir reisen?«
+Schwedenklee blieb stehen, sein Herz pochte.
+
+»In welcher Eigenschaft?« Ellen saß mit offenen Lippen. Sie konnte gar
+nicht begreifen.
+
+»Ja.« Aus lauter Hilflosigkeit runzelte Schwedenklee die Stirn. »Du
+kannst doch nicht etwa als meine Nichte mit mir reisen, oder als meine
+Sekretärin.«
+
+Ellen lachte laut heraus!
+
+Ihr Lachen ermutigte Schwedenklee wieder. Er verlor etwas seine
+Befangenheit. »Auch als meine Tochter doch wohl nicht?« fragte er.
+
+»Nein!« Ellen schlug sofort die Augen nieder.
+
+Mutig ergriff Schwedenklee ihre beiden Hände. Er bemühte sich, seiner
+Stimme einen heiteren, harmlosen Klang zu geben, als er fortfuhr: »Dann
+bleibt ja nur eines, Ellen --?«
+
+Groß und hell bis in die tiefsten Tiefen waren Ellens Augen auf ihn
+gerichtet. Sie errötete, ein zarter Gluthauch überzog blitzschnell
+Gesicht und Nacken. Ja, nun hatte sie verstanden. Ihre Arme begannen
+leise zu zittern. Sie zog die Hände an sich, schob den Sessel weit
+zurück und stand auf.
+
+»Sprich nicht!« rief sie und hielt sich die Ohren zu, da sie sah, daß
+Schwedenklee Miene machte, weiterzusprechen. Sie schüttelte hastig den
+Kopf, in entzückender Verwirrung. »Nicht heute, nicht jetzt, frage nicht
+--« stammelte sie -- »wie sollte ich heute antworten können? Sprich
+nicht -- morgen ...«
+
+»Gut, dann morgen. Ich wollte dich nicht erschrecken, Ellen. Gute
+Nacht.« Er streckte ihr die Hand hin.
+
+Sie nahm seine Hand. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, so sanft, daß
+er sie kaum fühlte, und bot ihm -- zum erstenmal -- die Lippen zum
+Gutenachtkuß. Ihr Mund war heiß und weich.
+
+ * * * * *
+
+Fiebernd, mit heißem Kopf, trat Schwedenklee ins Freie.
+
+»Ihr Sterne!« sagte er zu den großen Sternbildern, trunken vom Sekt,
+berauscht von seinem Glück, und blickte lange zum flimmernden Firmament
+empor. »Du grundgütiger Himmel, herrlich und wunderbar ist das Leben!«
+
+Es war ja wohl kein Zweifel, daß sie einwilligen würde. Immer noch
+fühlte er ihren heißen, weichen Mund auf seinen Lippen. So zart, wie ein
+Hauch nur.
+
+»Ja, dies ist die Lösung, und ich werde glücklich sein!«
+
+Mit glühenden Schläfen ging Schwedenklee lautlosen Schrittes durch das
+taunasse Gras. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Kühle hauchte vom
+Walde her. Sternschnuppen schossen über den Himmel.
+
+Schwedenklee träumte, die Augen weit geöffnet. »Und immer wird sie um
+mich sein,« flüsterte er, »am Morgen, am Mittag, in der Nacht. Immer
+werde ich sie sehen, fühlen, sie wird plaudern, und ich werde entzückt
+sein, nur ihre Stimme zu hören.«
+
+»Ich werde mit ihr reisen. Ich habe ja Geld, ich kann alles, alles
+bezahlen! Wenn es sein muß, verkaufe ich die Bauplätze! Die Menschen
+werden auf der Straße, in den Dielen der Hotels die Hälse verdrehen. Und
+meine Bekannten werden sagen: Seht an, Schwedenklee, ja, das ist ein
+Bursche!«
+
+»Schwedenklee, geschworener Gegner der Ehe, wird also plötzlich
+heiraten? Seht an! Nun, laß sie reden. Eine junge Frau, die reizendste
+Frau der Erde werde ich haben -- und glücklich sein -- laß sie reden
+--!«
+
+»Vielleicht aber --?«
+
+Schwedenklee ging hastig weiter, über ein gemähtes Kleefeld, im
+silbernen Licht der Sternennacht.
+
+»Vielleicht aber werde ich Kinder haben? Kinder? Ich, der Väter, die
+ihre Sprößlinge spazieren führen, immer ungeheuer komisch fand -- nun
+weshalb nicht? Man wird sie baden, pudern, pflegen -- sie werden
+schreien -- aber was schadet es, laß sie nur schreien. Sie werden süß
+sein. Und Ellen -- dieses süße Wesen, selbst noch ein Kind -- Mutter!«
+
+Schwedenklee blieb erschüttert stehen. Sternschnuppen fegten über ihn
+hin.
+
+»Eins, zwei, drei --« zählte Schwedenklee. »Also drei Kinder! Gut!«
+
+»Sie, die selbst noch so zart ist, ein Kind fast --!«
+
+Ȇberlegen wir: mein bisheriges Leben -- nein, keine Reue, keine
+Vorwürfe -- was geschehen ist, ist geschehen -- aber es wird von nun an
+_Sinn_ in mein Dasein kommen, dieses In-den-Tag-hinein-Leben hat ein
+Ende.«
+
+Ein Verzauberter, ging Schwedenklee über die Felder. Süß stieg der
+Geruch der Erde auf. Nie in seinem Leben hatte er diesen Glanz der
+Gestirne gesehen.
+
+»Und wir werden reisen, und alle werden mich beneiden! Welch ein junges,
+herrliches Wesen er sich erobert hat, werden sie sagen, seht an, dieser
+tolle Knabe! Und sie -- Ellen -- eine schlechte Partie wird sie ja nicht
+machen. Nein, das kann wohl niemand behaupten ...«
+
+»Und wodurch habe gerade ich dieses Glück verdient?« fragte
+Schwedenklee. »Durch nichts, durch nichts ...«
+
+»Durch nichts!« rief er triumphierend und herausfordernd. »So ist das
+Leben!«
+
+
+
+
+ 25
+
+
+Schwedenklee schlief in dieser Nacht wunderbar! Er träumte angenehm: er
+packte Koffer, Koffer, streute Trinkgelder um sich, Scharen von Kellnern
+dienerten, Autos rollten, Dampfer tuteten, beglückt fühlte er Ellens
+Gegenwart in jeder Sekunde, ohne daß er sie eigentlich je sah -- sie
+waren unterwegs.
+
+Spät am Morgen erwachte er, dampfend und erfrischt vom Schlaf. Es war
+fast schon neun Uhr. Ellen hatte soeben gefrühstückt und erhob sich vom
+Tisch, als er eintrat.
+
+Sie errötete, rasch und tief -- augenblicklich mußte er wieder an ihre
+heißen, weichen Lippen denken -- flüchtig, mit einer gewissen Hast,
+berührten ihre kühlen Finger seine Hand.
+
+»Was für Langschläfer wir doch sind!« rief sie lachend aus. »Ich habe
+einen richtigen Katzenjammer!« Und sie strich sich mit den Fingerspitzen
+über die Schläfen, so daß die Hände ihr Gesicht verbargen. »Und was für
+törichte Dinge ich wohl geschwatzt haben mag, heute nacht?«
+
+Schon war sie zur Türe hinaus.
+
+Schwedenklee fand ihre mädchenhafte Verwirrung entzückend. Sie schämte
+sich, ohne jeden Grund. Wie herrlich, diese Reinheit!
+
+Nein, er hatte natürlich nicht erwartet, daß sie ihm um den Hals fallen
+würde, keineswegs. Sie war ein junges Mädchen, vor eine bedeutsame Frage
+gestellt, sie mußte Zeit zur Überlegung haben -- er würde weder mahnen
+noch drängen, nicht, daß man einmal sagen könnte, er habe sie
+überrumpelt.
+
+Und doch ...
+
+Nein, nein, Schwedenklee war gewissermaßen dankbar, daß sich die erste
+Begegnung nach seinem Antrag so und nicht anders abgespielt hatte.
+
+Er frühstückte mit gutem Appetit. Aber, während er ein Ei in der Hand
+aufschlug, konnte er doch den Gedanken nicht unterdrücken, daß es
+schließlich nicht nötig war für Ellen, so rasch, so verwirrt und
+verlegen wegzulaufen. Nein, nein, ganz unter uns, er hätte es hübscher
+und richtiger gefunden, wenn sie ihm zum Beispiel beim Frühstück
+Gesellschaft geleistet hätte.
+
+Mit einer kleinen Falte in der Stirn zerlegte er eine Sardine.
+
+Schwedenklee begann den Tag mit einer gewissen Feierlichkeit. Er ging
+bedächtig durch die Ställe, was er selten tat, er sprach lange und fast
+freundschaftlich mit dem Pächter, er stand und blickte über Felder und
+Äcker. Hell glänzte der Tag, eine Lerche schmetterte im Sonnendunst,
+sein Herz wurde heiter und froh.
+
+Trotzdem -- je länger er stand und in den hellen Tag hineinblickte --
+desto leerer und verwirrter wurde es in seinem Herzen. Er fühlte sich
+vereinsamt, verlassen, der Glanz des Tages bedrückte ihn. Obschon er
+sich geschworen hatte, Ellen in ihrem Versteck im Walde nie mehr zu
+belauschen, trieb ihn doch ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu
+sehen, hinein in den Wald. Er pirschte sich vorsichtig durch das
+Erlengebüsch, erschreckend bei jedem Knacken eines Astes. Die Naturbühne
+aber war verlassen. Ellen war nicht da.
+
+Schwedenklee kehrte enttäuscht in den Garten zurück und nahm, um die
+Langeweile zu verscheuchen, die Leere, mit übertriebenem Eifer seine
+Arbeit auf. Der Garten, muß man wissen, stieg von der Eingangspforte zur
+Treppe des Hauses sanft an. Schwedenklee beabsichtigte, diese Steigung
+in zwei Terrassen abzubauen, die, mit Stauden und Sommerblumen
+bepflanzt, dem Vorgarten ein heiteres und repräsentatives Gepräge geben
+sollten. Schon seit Wochen war er mit dieser Terrassierung beschäftigt,
+die Arbeit würde noch Wochen beanspruchen.
+
+Eifrig handhabte er den Spaten. Die Sonne stach scharf ins Genick. Und
+Ellen, wo war sie?
+
+ * * * * *
+
+Plötzlich hörte er eine Stimme, eine kernige, helle, etwas
+selbstbewußte, ja arrogante Männerstimme.
+
+»Erlauben Sie mal, hören Sie mal!« rief diese Stimme.
+
+Schwedenklee richtete sich auf. Ein dicker Schweißtropfen lief über
+seine Nase.
+
+An der Gartentüre stand ein junger Mann. So unangenehm ihn der
+selbstbewußte, herrische Ton der Stimme berührt hatte, so sympathisch
+erschien ihm zu seiner Überraschung das Aussehen des jungen Mannes. Er
+war ein hübscher, großer Bursche mit gebräuntem Gesicht und hellen
+blauen Augen, blonden, strähnigen Haaren, die flott zurückgebürstet
+waren. Das Gesicht strahlte Jugend, Gesundheit und Selbstvertrauen. Er
+trug einen lichtgrünen Touristenanzug, graue Wickelgamaschen, gelbe
+Schuhe und einen weichen, breiten Kragen. Keinen Hut. Ein Badegast,
+dachte Schwedenklee. Häufig verirrten sich Badegäste an seine Türe.
+
+»Sind wir hier richtig?« rief die helle, selbstsichere Stimme. »Ist dies
+die Residenz des Herrn Schwedenklee?«
+
+Schwedenklee, etwas verwundert, nickte.
+
+»Nun wohl, Dank den erhabenen Göttern!«
+
+Der junge Mann klinkte die Türe auf und stieg die Stufen empor.
+
+In der Geste des Aufklinkens der Pforte, in der Art des Eintretens
+erkannte Schwedenklees geschultes Auge sofort die Bühne.
+
+Etwas unwillig stach er den Spaten in die Erde und wischte sich den
+Schweiß vom Gesicht.
+
+»Und wo, teurer Freund,« fuhr der Eindringling mit strahlender Miene und
+einer höflichen Verbeugung fort, »wo können wir diesen sagenhaften
+Millionär Schwedenklee finden?«
+
+»Schwedenklee, das bin ich.«
+
+Lachend, mit übertriebenem Erstaunen trat der Gast einen Schritt zurück.
+»Sie? Verzeihen Sie, man sagte mir: ein _älterer Herr_! Es ist mir eine
+Ehre, mich Ihnen zu Füßen zu legen: Richard Pohl -- nicht zu verwechseln
+mit dem berühmten Nord- oder Südpol gleichen Namens -- Mitglied der
+Vereinigten Sommertheater in Hamburg.« Kräftig und zutraulich schüttelte
+er Schwedenklees Hand. »Also Sie sind es, dessen Güte die Himmel rühmen?
+Es ist mir eine hohe Freude!«
+
+»Seit einigen Tagen bin ich hinter Ihnen her«, fuhr Pohl gesprächig und
+lebhaft fort. »Sie sehen eine Art Odysseus vor sich! Ja, in der Tat, es
+ist nicht leicht, Sie zu finden, Ehrwürdiger, und selbst hier im Ort
+hatte ich noch Mühe. Aber nicht Sie suche ich eigentlich, obschon es
+sich der Mühe lohnte, sondern eine Dame: Ellen Blank!«
+
+Aus der weitschweifigen Erzählung erfuhr Schwedenklee, daß Pohl mit der
+Familie Blank schon seit der Dresdener Zeit bekannt war. Er war der Sohn
+eines Musikers der Dresdener Oper, und Blank war sein erster Lehrer
+gewesen. Zufällig hatte er in einer Fachzeitung von Blanks Tod gelesen.
+Er schrieb einen Brief an Ellen nach Berlin, bekam ihn aber als
+unbestellbar zurück, mit einem zweiten Brief erging es ihm ebenso.
+Sobald seine Tätigkeit es ihm erlaubte, fuhr er nach Berlin, um Ellens
+Spur aufzufinden, was ihm erst nach vieler Mühe gelang, nachdem er die
+Hilfe der Polizei in Anspruch genommen hatte. Ja, und nun also war er
+endlich hier, und er strahlte vor Freude und Genugtuung, sein Ziel
+erreicht zu haben.
+
+Schwedenklee hörte ihm mit zerstreuter Miene zu. Ganz offen gestanden,
+zu keiner Zeit hätte ihm der Besuch ungelegener kommen können als gerade
+heute, an einem solch ungeheuer bedeutsamen Tage.
+
+»Welcher Teufel führt ihn gerade heute hierher!« dachte er, während Pohl
+seiner Bewunderung über die herrliche Aussicht beredten Ausdruck
+verlieh. Diese Aussicht riß ihn derart hin, daß er Miene machte zu
+singen. »Gerade heute, da ich auf Ellens Bescheid warte und nicht weiß,
+was ich vor Ungeduld tun soll!« Die überschäumende Fröhlichkeit und
+heitere Natürlichkeit des Sängers -- trotz seiner etwas erkünstelten
+Redeweise -- söhnten ihn indessen rasch wieder aus. »Nun gut, er wird
+über Mittag bleiben, und am Abend sind wir ihn wieder los!«
+
+»Einen kleinen Imbiß werden Sie wohl nicht abschlagen?« Immer wenn
+Schwedenklee in Verlegenheit war, bot er seinen Gästen zu essen oder zu
+trinken an.
+
+Pohl aß mit vorzüglichem Appetit. Er hatte seit Tagen, während seiner
+Irrfahrt, nur sehr wenig zu sich genommen. Mit Genuß schlürfte er eine
+kleine Flasche Bordeaux.
+
+Ellen war noch immer nicht zurückgekehrt.
+
+Pohl wollte sie im Walde suchen, aber Schwedenklee machte ihm klar, daß
+der Wald tief und labyrinthisch sei und Ellen ihre geheimen
+Schleichpfade habe.
+
+»Gut, so werden wir sie rufen!«
+
+Schwedenklee lächelte.
+
+Aber Pohl kümmerte sich nicht darum. Er trat einen Schritt vor, reckte
+sich in die Höhe und legte die Hände an die Wangen. Dann pumpte er die
+breite Brust voller Luft und schrie: »Ellen!« Schwedenklees Ohren
+gellten, der Ruf fuhr hell dahin, das Echo klang aus dem Walde. In der
+Ferne arbeiteten Landleute auf dem Felde, sie alle hoben die Köpfe.
+
+»Sie werden sehen, es wird nicht lange dauern und wir haben sie hier. --
+Ellen!« Noch lauter hallte der Ruf. Die Luft schmetterte, der ganze Wald
+hallte. Laut und hell antwortete das Echo. Die Pferde, die in der Koppel
+grasten, blieben stehen und blickten neugierig herüber.
+
+Das Sonderbare geschah: kurz nach Pohls drittem Rufe erschien etwas
+Gelbes zwischen den Büschen. Es war Strolly, hoch auf den Beinen
+stehend, den Kopf gehoben. Dann teilten sich die Brombeerstauden, und
+Ellen sprang auf den Acker. Ihr weißes Kleid flatterte im Winde.
+
+Pohl rief und schwenkte die Arme. Ellens Haltung war ganz Staunen. Sie
+erkannte ihn nicht. Plötzlich aber stieß Ellen einen hohen Schrei aus
+und winkte und begann zu laufen. Wie der Wind flog der blonde junge
+Bursche ihr entgegen, und während er lief, lachte und rief er.
+
+Schwedenklee kehrte, etwas übelgelaunt, zu seinem Terrassenbau zurück.
+Er wollte bei der Begrüßung nicht stören.
+
+ * * * * *
+
+Ellen erschien bei ihm. Sie umschlang ihn freudig mit den Armen. »Ich
+habe Besuch bekommen!« rief sie, glühend vor Erregung. »Richard ist
+gekommen! Ich muß Augusta verständigen. Er hat Zeit bis zum Frühzug.
+Augusta muß ihm ihr Zimmer abtreten. Du bist doch einverstanden, daß er
+bei uns bleibt? Ich kenne Richard schon seit sieben Jahren.«
+
+»Du bist ja die Herrin im Haus!« antwortete Schwedenklee schweißtriefend
+und strich etwas verlegen über ihre heiße Wange.
+
+Ellen stürzte ins Haus.
+
+Das Mittagessen verlief in ausgelassener Stimmung. Ellen konnte kaum
+einen Bissen über die Lippen bringen, so sehr mußte sie über Pohls
+Schnurren und seine drollige Ausdrucksweise lachen. Er hatte eine Anrede
+für Schwedenklee gefunden, die sie begeisterte! Er nannte Schwedenklee,
+etwas keck und zutraulich nach einer so kurzen Bekanntschaft: Don
+Philipp!
+
+»Don Philipp! Wie herrlich der Name zu dir paßt!« lachte sie, indem sie
+sich an ihn schmiegte.
+
+Nach Tisch legte sich Schwedenklee aufs Ohr. Er war noch müde vom
+gestrigen Abend. Nach einstündigem Schlaf erwachte er: in vorzüglicher
+Laune. Er war nunmehr direkt erfreut über Pohls Besuch! Seit vielen
+Wochen war er mit Ellen allein, ihre Gespräche waren etwas monoton
+geworden, viele Gesprächsstoffe nahezu erschöpft. Oft war es etwas sehr
+still auf Siebenbirken, nicht für ihn, o nein, er liebte die Ruhe, aber,
+wie er fand, für Ellen. Der Besuch regte sie an. Es war sehr wohltuend,
+daß ein Hauch der Umwelt in das Leben auf Siebenbirken strich.
+
+»Don Philipp, Edler von Siebenbirken -- Pauken und Tusch!« begrüßte ihn
+Pohl, der mit Ellen in der hellen Sonne auf einem Heuhaufen der gemähten
+Wiese saß. (Schon mußte Ellen wieder laut herauslachen!) »Habt die
+Gnade, das Programm entgegenzunehmen, das wir für Euch, um unsere
+Ergebenheit zu bezeigen, entworfen haben: Zuerst die olympischen Spiele,
+die sofort ihren Anfang nehmen. Sodann Festtafel bei Don Philipp mit
+königlichen Weinen. Hierauf Festvorstellung im Hoftheater Euer
+Durchlaucht: Figaros Hochzeit. Später Divertissements, Empfang, Defilé,
+Cour. Genehm? -- Anfang! Don Philipp befiehlt den Beginn! Pagen heran!
+Zurück der Pöbel!«
+
+»Ich starte,« fügte Pohl rasch hinzu, »nimm die Uhr, Ellen. Los!« Wie
+ein fliehender Hirsch umrundete er die Wiese. Nie in seinem Leben hatte
+Schwedenklee solch einen Läufer gesehen.
+
+»Ellen Blank!« schrie Pohl. Und Ellen lief. Schwedenklee war ergriffen,
+als er sie laufen sah. Sie schleuderte die Knie, daß man ihre Wäsche
+sah. Ihr Haarschopf fiel herunter und sie steckte ihn im Laufen auf.
+Während sie lief, schrie sie aber ununterbrochen vor Vergnügen und
+Erregung.
+
+Nun kam die Reihe an Schwedenklee. Er tat sein Bestes, um sich nicht zu
+blamieren. Blutrot und schwitzend kam er an.
+
+»Don Philipp hat gewonnen!« entschied Pohl. Er behauptete allen Ernstes,
+daß Schwedenklee ihn um zwei Sekunden geschlagen habe, und überreichte
+ihm mit feierlicher Ansprache einen Birkenzweig.
+
+Es ist eine Tatsache, daß Erwachsene viel kindischer sein können -- in
+besonderen, seltenen Stunden -- als Kinder, und es kann als Maßstab
+ihrer Unverdorbenheit und Güte gelten, wenn sie diese Fähigkeit noch
+besitzen.
+
+Jedenfalls, je länger die olympischen Spiele währten, desto
+ausgelassener wurden die drei.
+
+Pohl war unerschöpflich an Erfindungen. Es gab Läufe, Sprünge, Hüpfen
+auf einem Bein. Dann mußte man mit einer Hand an einem Aste hängen.
+Schwedenklee hing, bis er blau im Gesicht wurde. Er schlug alle Rekorde.
+
+Zuletzt kam der Sprung in den Strohhaufen -- vom Dache des Stalles aus,
+drei Meter tief. Pohl sprang im Hechtsprung, als spränge er ins Wasser.
+Ellen sprang mit festgehaltenen Kleidern, schreiend und lachend.
+Schwedenklee riskierte einen Purzelbaum. Kaum aber war er ins Stroh
+versunken, so spürte er, wie die beiden über ihn herfielen und ihn immer
+wieder mit Stroh bedeckten. Völlig außer Atem (und fast etwas böse!)
+wühlte er sich endlich heraus. Er war mit Strohhalmen gespickt und sah
+so komisch aus, daß Ellen laut herauslachen mußte.
+
+ * * * * *
+
+Pohl kniete vor ihm. »Don Philipp, nehmet mein Haupt!«
+
+Schwedenklee hatte seine gute Laune schon wiedergefunden.
+
+
+
+
+ 26
+
+
+Nach dem Abendessen -- diesmal hatte Ellen die Kerzen angezündet! --
+wurde programmäßig »Figaros Hochzeit« aufgeführt.
+
+Richard sang Figaro -- vollendet, mit einer frischen, kernigen Stimme,
+er agierte, als stände er auf der Bühne. Ellen hatte -- sehr erregt --
+Susanna und Cherubino übernommen. Sie sang schön, rührend, mit leicht
+zitternder Stimme. Was übrigblieb, fiel Schwedenklee zu, der sich recht
+und schlecht aus der Affäre zog.
+
+Es war -- alles in allem -- ein wundervoller Sommertag, ein Tag, der
+kein Ende zu nehmen schien. Die Divertissements fielen aus. Ellen wurde
+ins Bett geschickt, da ihre Augen vor Müdigkeit fieberten.
+
+Die Herren aber saßen noch bei einer Flasche Wein.
+
+»Eine neue Flasche, Don Philipp!«
+
+»Sofort!«
+
+Nach der dritten Flasche bot Pohl Schwedenklee die Brüderschaft an. Sie
+stießen an.
+
+»Selten habe ich einen solch prachtvollen Menschen kennengelernt wie
+dich, Don Philipp!« schrie Pohl, indem er begeistert aufsprang.
+
+Schwedenklee kletterte nun selbst in den Keller, um einen ganz
+besonderen Rheinwein zu holen, einen seltsamen Jahrgang.
+
+»Und nun Schluß mit all den Dummheiten!« rief der Sänger aus. »Ein
+ernstes Wort. Daß du dich des armen Blank erbarmt hast, das soll dir
+ewig unvergessen bleiben! Daß du dich aber wie ein Vater Ellens
+annahmst, das wird dir Gott im Himmel persönlich danken! Dafür laß dich
+umarmen, bester aller Menschen!«
+
+Pohl drückte Schwedenklee an seine Brust und küßte ihn. Beide hatten
+Tränen in den Augen.
+
+Es war das erstemal, daß Schwedenklee von einem Mann geküßt worden war.
+
+
+
+
+ 27
+
+
+Am gestrigen Tage hatte sich wahrhaftig keine Gelegenheit geboten, mit
+Ellen über die Dinge zu sprechen, die Schwedenklee so sehr am Herzen
+lagen. Dieser unglaubliche Bursche, der wie ein Meteor vom Himmel
+gefallen war.
+
+Heute -- um die Wahrheit zusagen --, Schwedenklee war mit etwas schwerem
+Kopf aufgestanden, er war müde, verschlafen, apathisch und freute sich
+während des ganzen Tages schon auf die Stunde des Schlafengehens. Welch
+ein Glück, daß dieser Pohl, so amüsant er auch war, am Mittag wieder
+abreiste!
+
+Aber trotz seiner Müdigkeit beobachtete Schwedenklee, oder sollte er
+sich täuschen? -- daß mit Ellen seit gestern eine Veränderung vor sich
+gegangen war. Sie schien merkwürdig erregt, sie lachte ohne jeden Grund,
+zerstreut lief sie hin und her, den ganzen Nachmittag war sie mit ihrer
+Wäsche und Garderobe beschäftigt.
+
+Von der Antwort auf die bewußte wichtige Frage war nicht die Rede!
+Vergebens wartete Schwedenklee auf ein Wort, einen Blick. Sie stammelte
+erregt, wenn sie mit ihm sprach, ihr Blick flackerte, sie errötete,
+schlug die Augen nieder. Es schien ihm sogar, als ob sie ihm auswiche
+...
+
+Am nächsten Tage aber glaubte Schwedenklee zu seinem nicht geringen
+Staunen zu beobachten, daß Ellen ernsthaft damit beschäftigt war,
+einzupacken.
+
+Die Sache war, kurz gesagt, die: der Direktor der Vereinigten
+Sommertheater in Hamburg war Pohls bester Freund. Es bestand, wie Pohl
+versichert hatte, gar kein Zweifel, daß er Ellen engagieren würde. Im
+Sommer sollte sie sich in kleineren Rollen einspielen, um im Herbst mit
+dem Ensemble nach Bremen überzusiedeln. Ein gutes, ein vorzügliches
+Theater! Der Zufall hatte ihr eine herrliche Gelegenheit geboten, eine
+geradezu selten günstige Gelegenheit, ihre Laufbahn zu beginnen. War
+Ellens glückliche Verwirrtheit nicht verständlich?
+
+Natürlich. Oh, Schwedenklee verstand ja wohl manches, er verschloß sich
+keineswegs vernünftigen Gründen, er wußte nur zu gut, daß eine Frau, die
+sich die Bühne in den Kopf gesetzt hatte, durch nichts abzubringen war.
+Aber, hatte sie, Ellen, denn ganz vergessen, daß sie ihm auf eine
+bestimmte Frage eine bestimmte Antwort schuldig war?
+
+Er bemühte sich, die Sache von der scherzhaften Seite zu nehmen. »Du
+hast ja noch Zeit, Ellen, wozu diese Aufregung?«
+
+»Ich muß bereit sein, wenn das Telegramm kommt!« schrie Ellen.
+
+Ja, sie schien es in der Tat ganz vergessen zu haben. Allen Andeutungen,
+die er wagte, wich sie aus. So oft er sie »antwortheischend« ansah --
+oh, sie verstand seinen Blick sehr wohl! --, geriet sie in hilflose
+Verwirrung. Sie lenkte sofort errötend ab, sie sprach von ihren Plänen,
+Erwartungen, und beschwor ihn, nicht nach Hamburg zu kommen, wenn sie
+das erstemal auftrat. Sie würde auf der Bühne kein Wort hervorbringen
+können. Aber er mußte ihr versprechen zu kommen, sobald sie einigermaßen
+eingespielt wäre.
+
+»Aber, ich sehe schon, du wirst nicht kommen, Don Philipp. Du wirst mich
+rasch vergessen!« sagte sie mit hochgezogener Braue.
+
+Also, er würde _sie_ vergessen? Schwedenklee fand vor Erstaunen kein
+Wort der Entgegnung.
+
+ * * * * *
+
+So vergingen zwei Tage in Unruhe und Spannung. Dann aber sah Ellen den
+Depeschenboten an der Gartentüre, und sie rannte ihm entgegen.
+
+Strahlend vor Freude schwenkte sie das Telegramm.
+
+Sie umarmte Schwedenklee. »Er hat mich engagiert!« schrie sie in größter
+Erregung. »Der Direktor war verreist, daher die Verspätung!« Rasch löste
+sie sich aus der Umarmung und stürzte zu Augusta und beschwor sie, ihr
+zu helfen, sie wisse weder aus noch ein.
+
+»Mein Gott, Augusta, ob die Wäsche noch trocknen wird?«
+
+Schwedenklee fühlte, daß er erbleichte: er wußte nun, daß sie ihn
+verlassen würde.
+
+War es zu glauben: in diesen wenigen Tagen hatte Ellen alles vergessen,
+das Badezimmer mit den Palmen, Florenz, Paris, Japan -- sie dachte gar
+nicht mehr daran. Sie hatte auch ganz vergessen, daß sie ihm versprochen
+hatte, auf eine gewisse Frage zu antworten ...
+
+Aber nein, nein, sie hatte nicht vergessen. Sie dachte vielleicht jede
+Sekunde daran! Sie stammelte, errötend, verlegen, voller Scham: »Du
+verstehst mich doch? Ich freue mich, tätig zu sein, ich freue mich
+_anzufangen_. Es ist ja so schön bei dir, du weißt es, aber --! Ich muß
+ja zusehen, mir mein Leben selbst zu gestalten. Du verstehst mich doch?«
+
+Schwedenklee verstand alles!
+
+»Ich verstehe sehr wohl!« sagte er, lächelnd, nachsichtig, verzeihend.
+
+Aber diese Nachsicht schien sie zu quälen. »Nein, du verstehst mich
+vielleicht doch nicht?«
+
+»Doch, ich verstehe dich, Ellen.«
+
+Ihr Blick ruhte groß und voller Scheu auf ihm, während ihre Hände seine
+Wangen streichelten. Genau so zart und sanft, mit zitternden Fingern,
+wie die Hände ihrer Mutter -- seinerzeit in Paris ...
+
+
+
+
+ 28
+
+
+Schwedenklee sitzt in der Nacht auf der Treppe des Hauses. Das Haus ist
+dunkel, schwarz der Wald, Schwedenklee sitzt in völliger Finsternis.
+Zuweilen schlägt Feuer aus der Treppe des Hauses: das ist Schwedenklees
+Zigarre, die Funken stiebt.
+
+Heute, morgen, übermorgen sitzt Schwedenklee in der Nacht, und nur
+zuweilen fahren wilde Funken aus seiner Zigarre.
+
+Ruhelos rennt der Hund hin und her, die Nase am Boden. Durch den Garten,
+über die Felder, in den Wald, immer die Nase am Boden, alten Spuren
+nach. In der Nacht fällt Regen, und nun ist der Hund plötzlich ruhiger.
+
+Ellen also war ins Engagement abgereist ...
+
+Er hatte nicht mehr erwartet, daß sie ihm auf die gewisse Frage
+antworten würde -- und doch, sie hatte es getan! Auf dem kleinen
+Bahnhof, der wimmelte von lauten Badegästen, hatte sie zart seinen Arm
+berührt und ihn mit einem Blicke angesehen -- ja, was für ein Blick war
+es doch?
+
+Das war ihre Antwort! Schwedenklee atmete tief -- ja! Und er hatte sie
+verstanden. Sie sagte: »Es wäre ja alles so wunderbar gewesen, aber
+siehst du -- es ist nicht so einfach ...«
+
+Nun, er hatte verstanden, vollkommen. O gewiß, es war nicht so einfach
+...
+
+Es ist ja möglich, dachte Schwedenklee, daß ihr, die hilflos und
+vereinsamt im Leben steht, im ersten Augenblick eine Verbindung mit dir
+erwägenswert erschien. Es ist wahrscheinlich, daß sie auf deinen
+Vorschlag eingegangen wäre, da sie einen anderen Ausweg nicht fand! Da
+aber erschien Pohl! Seine Stimme weckte plötzlich die Stimmen ihrer
+Jugend. Und was die Hauptsache ist: er zeigte ihr einen Ausweg, in einem
+Augenblick, da sie ratlos war, keinen Ausweg fand, ja nicht einmal mehr
+an die Möglichkeit eines Ausweges dachte. Daher ihre unverständliche
+Erregung. Blitzschnell folgte sie ihren Instinkten.
+
+»Aber wozu die vielen Worte?« sagte Schwedenklee zu sich. »Es gibt eine
+viel einfachere Erklärung: sie liebte dich nicht! Sie fühlte, daß diese
+Verbindung für sie nie glücklich sein konnte. Ja, die Wahrheit ist
+zuweilen bitter!«
+
+Und dann kam da vielleicht noch etwas hinzu ...
+
+Schwedenklee lächelte.
+
+»Sie versteht es ja heute noch nicht, weshalb sie so begierig war, nach
+Hamburg zu reisen -- die Reine, Wundervolle!« flüsterte er. »Später,
+später! Ich habe vom ersten Augenblick an alles geahnt!«
+
+»Daß ich noch das Wettrennen um die Wiese mitmachte! Und an dem Ast hing
+ich so lange, daß mir heute noch der Arm weh tut!«
+
+Funken fuhren aus Schwedenklees Zigarre.
+
+Jeden Abend saß Schwedenklee in der Dunkelheit auf der Treppe des
+Hauses, und die Funken stoben. Es war Neumond.
+
+Am Tage arbeitete er an seiner Terrasse.
+
+»Diese fünfzig Kubikmeter Erde werden wir schon bewältigen!« sagte er,
+selbstbewußt, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht.
+
+Es darf indessen nicht verschwiegen werden, daß Schwedenklee in diesen
+Tagen sich häufig selbst in den Weinkeller begab.
+
+Es gibt Menschen, die einen Stoß in die Herzgrube ohne besondere
+Erschütterung ertragen, sie sind sehr selten, andere, die lamentieren
+und ein großes Geschrei machen, und wieder andere, die einfach eine
+Flasche aufziehen, sich räuspern und eine Zigarre anzünden ...
+
+Schwedenklee stand in diesen Tagen sehr spät auf und ging erst schlafen,
+wenn der Morgen graute. Augusta betrachtete ihn mit vorwurfsvollen
+Blicken. Er aß ihr zu wenig.
+
+Ja, diese Augusta, sie war keineswegs so albern, wie er glaubte. Sie sah
+in sein eingesunkenes, verstörtes Gesicht und sagte sich: »Diese
+Frauenzimmer, wie sie ihm zusetzen -- es ist schon eine Schande!«
+
+Der Neubau war fertig. Er roch nach Kalk, Gips und Glaserkitt. Auch das
+Badezimmer -- das alle Badezimmer Deutschlands schlagen sollte -- war im
+Rohbau fertig. Die versenkte Wanne war vier Meter lang und zwei Meter
+breit, die Hähne blitzten. Eines Tages mühte sich ein Fuhrwerk, ein
+kleiner Wald auf Rädern, die Straße herauf: die Blattpflanzen kamen. Sie
+hatten ein Vermögen gekostet.
+
+»Stellen Sie sie einfach in den Baderaum!« sagte Schwedenklee. Da
+standen sie, bis sie verkamen.
+
+Weshalb aber, zum Teufel, war es in diesem Neubau so kalt? Strömte der
+Putz diese Kälte aus? Schwedenklee betrat den Neubau nicht mehr.
+
+ * * * * *
+
+Zart und fein stieg die Mondsichel aus dem Meer empor.
+
+Schwedenklee saß im Dunkel auf der Treppe des Hauses und rauchte.
+
+Er hatte heute den ersten Brief Ellens erhalten. »Dank, Dank -- du wirst
+mich verstehen -- du bist mir gewiß nicht böse ...«
+
+Ja, gewiß, Schwedenklee gehörte zur Klasse jener Menschen, die alles
+verstehen und daher alles vergeben, denen nichts Menschliches fremd ist
+-- gewiß, er verstand alles. Mehr als sie ahnte! Und böse? Nein, böse
+konnte Schwedenklee überhaupt nicht werden.
+
+Und doch, gerade an diesem Abend wurde Schwedenklee von starker Unruhe
+erfaßt. Er ging auf und ab, die Funken sprühten aus seiner Zigarre.
+Schweiß brach aus seiner Stirn.
+
+Seine Augen sanken ein. »_Wenn sie nun aber doch mein Kind wäre?_« sagte
+er voller Gram. »Auch die Krankenschwester, du erinnerst dich, sagte,
+sie glaube, Blank habe dir besondere Mitteilungen zu machen ...«
+
+»Hätte ich Gewißheit -- alles wäre ja anders!«
+
+Verraten wir es: Schwedenklee ging in die Dunkelheit, wo sie am
+schwärzesten war, um hier, ganz im Dunklen, obschon niemand in der Nähe
+war, die Finger in die Augen zu drücken und zu stöhnen.
+
+Ja, Schwedenklee hatte heute einen schlechten Tag. Er strich die ganze
+Nacht in der Finsternis hin und her, fröstelte im Nachtnebel.
+
+»Gerade als ich die Hand nach ihr ausstreckte --!« sagte er, aber er
+sprach nicht weiter.
+
+
+
+
+ 29
+
+
+Am nächsten Tage gab Schwedenklee plötzlich seine Arbeit an der Terrasse
+auf. Er stach den Spaten in die Erde, und hier mochte er steckenbleiben,
+bis er verfaulte, wenn ihn der Pächter nicht unter Dach nahm.
+
+Schwedenklee hatte einen neuen resedafarbenen Anzug, den er noch nie
+getragen hatte. Diesen Anzug legte er an. Er rasierte sich sorgfältig
+und begab sich in den Badeort.
+
+Hier saß er auf der Terrasse des Kasinos und betrachtete mit finsterer
+und verächtlicher Miene die promenierenden Badegäste. Was für
+entsetzliche Frauen! Dick, formlos, lächerlich, unverschämt in ihrer
+Einbildung, grotesk in ihrer Eitelkeit, mit falschen Haaren, gemalt, die
+meisten krummbeinig -- ah, Schwedenklee war zur Zeit nicht gut auf die
+Frauen zu sprechen.
+
+Am dritten Tage -- seine Miene war gleich geringschätzig und abweisend
+-- hörte er plötzlich eine Frauenstimme: »Ist es möglich, Herr
+Schwedenklee?« Und ein heiteres Lachen.
+
+Zwei flachsblonde Frauen in dünnen Sommerkleidern standen vor ihm,
+Schwestern. Er hatte die eine der Schwestern gekannt, bevor sie
+verheiratet war, die Unverheiratete lernte er heute erst kennen.
+
+Schwedenklee lächelte verlegen und wich etwas auffällig zurück. Zu nahe
+drangen ihm Atem und Parfüm der beiden Damen. Die heitere Stimme klang
+ihm zu laut ins Ohr. Nichts haßte er mehr als die Aufdringlichkeit der
+Frauen, die der Ansicht waren, daß eine vorübergehende Verliebtheit eine
+Freundschaft fürs ganze Leben bedeute.
+
+Knapp und kühl klangen Schwedenklees Antworten. Die Flachsblonden aber
+schienen seine Zurückhaltung gar nicht zu merken und lachten fröhlich
+und laut.
+
+Schwedenklee erhob sich und ging. Ein paar Tage vergrub er sich in
+Siebenbirken. Dann aber erschien er wieder im Badeort, und schon nach
+einigen Tagen ruderte er die beiden Flachsblonden hinaus in die See.
+
+Von nun an begab sich Schwedenklee schon am Morgen in seinem
+resedafarbenen Anzug in den Badeort. Er aß im Kasino und kehrte erst
+spät nach Siebenbirken zurück.
+
+Nach einer Woche reisten die flachsblonden Schwestern nach Berlin
+zurück.
+
+Schwedenklee blieb zu Hause. Er beschäftigte sich wieder mit seinem
+Zentralbahnhof, rauchte, trank, lebte in den Nächten. Kaum hatte er aber
+einen Brief aus Berlin erhalten, der ihn sehr heiter stimmte, so befahl
+er Augusta zu packen.
+
+
+
+
+ 30
+
+
+Es regnete leise, als Schwedenklee nach Berlin zurückkehrte. Die Stadt
+dampfte. Seine Wohnung umfing ihn mit Behagen.
+
+»Vielleicht ist es doch das beste so! Wer weiß, wozu es gut war --!«
+sagte er sich, indem er in den weichen Hausschuhen auf und ab ging.
+
+Dann telephonierte er lange in bester Laune.
+
+»Augusta,« sagte er, »morgen abend drei Gedecke, lassen Sie es an nichts
+fehlen!«
+
+Gewiß, Schwedenklee erhielt Briefe von Ellen und schrieb ihr wieder. Die
+erste Firma Berlins mußte auf seine Kosten Ellens Bühnengarderobe
+anfertigen, und Schwedenklee selbst überwachte die Fertigstellung der
+Kostüme.
+
+Schwedenklee wußte sehr wohl, was er versprochen hatte. Eines Tages
+packte er einen Handkoffer und fuhr nach Bremen. Er fand Ellen heiter,
+strahlend, wunderbar erblüht, er beobachtete, befriedigt fast, daß die
+beiden, Pohl und Ellen, einander um vieles nähergekommen und sehr
+glücklich waren.
+
+»Don Philipp, herrlichster aller Menschen!« schrie Pohl begeistert und
+umarmte ihn, als sie im Bremer Ratskeller in später Nacht eine Flasche
+leerten.
+
+ * * * * *
+
+_Und wenn sie doch dein Kind wäre?_
+
+Auch diese Frage, die ihn oft in den Nächten gemartert hatte, daß er
+schlaflos auf und ab ging, die sein Herz verbrannte -- auch diese Frage
+verblaßte allmählich in Schwedenklees Herzen -- --
+
+Als der erste Schnee fiel, erschien Schwedenklee eines Abends wieder um
+neun Uhr in seinem alten Stammcafé. Sein Rücken schien etwas gebeugt,
+sein Gesicht hatte die Prälatenröte eingebüßt und schien etwas fahl, die
+dünnen Haare waren grauer -- sonst aber war es ganz der alte
+Schwedenklee. Mit lauter Herzlichkeit wurde er von den Spielern
+empfangen. Nach einer Viertelstunde aber war es, als sei er nicht eine
+Stunde abwesend gewesen. Schon saß er an einem der Pokertische, und drei
+Kiebitze rückten ihre Stühle hinter seinen Sessel.
+
+
+ Ende
+
+
+
+
+ Werke von Bernhard Kellermann
+
+
+ Yester und Li
+
+ Roman. 152. Auflage
+
+
+ Ingeborg
+
+ Roman. 115. Auflage
+
+
+ Der Tor
+
+ Roman. 50. Auflage
+
+
+ Das Meer
+
+ Roman. 87. Auflage
+
+
+ Der Tunnel
+
+ Roman. 227. Auflage
+
+
+ Der 9. November
+
+ Roman. 51. Auflage
+
+
+ Die Heiligen
+
+ Novelle
+
+ Illustriert von Magnus Zeller
+
+ 12. Auflage
+
+
+ Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 17]:
+ ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihm fast sämtliche ...
+ ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihn fast sämtliche ...
+
+ [S. 103]:
+ ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparerie ...
+ ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparserie ...
+
+ [S. 180]:
+ ... deren Namen Schwedenklee nie merken konnte. ...
+ ... deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte. ...
+
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59222 ***
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--- a/59222-8.txt
+++ /dev/null
@@ -1,6690 +0,0 @@
-The Project Gutenberg EBook of Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Schwedenklees Erlebnis
-
-Author: Bernhard Kellermann
-
-Release Date: April 8, 2019 [EBook #59222]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net.
-
-
-
-
-
-
-
-
-
- Schwedenklees Erlebnis
-
-
- von
- Bernhard Kellermann
-
-
- 1923
- S. Fischer / Verlag / Berlin
-
-
- Erste bis zehnte Auflage
- Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
- Copyright 1923 by S. Fischer, Verlag A.-G., Berlin
-
-
-
-
- Schwedenklees Erlebnis
-
-
-
-
- 1
-
-
-Es gibt Menschen, die vom Glück geradezu verfolgt werden. Sie wachsen in
-angenehmen Verhältnissen auf, behütet von Eltern und Verwandten, ihre
-Gesundheit ist vorzüglich, sie sind begabt genug, um ohne besondere
-Anstrengungen und Qualen ihre Erziehung zu beenden. Sie haben gerade
-soviel Leidenschaftlichkeit, als dazu gehört, das Leben zu genießen,
-allen wirklichen Konflikten aber weichen sie instinktiv aus -- oder
-weichen die Konflikte vor ihnen zurück? Was immer sie anpacken, gelingt,
-sie kommen nach Monte Carlo und setzen auf eine ganz unmögliche Nummer,
-schon schiebt ihnen der Croupier zur Verblüffung der ergrauten
-Serienspieler einen Haufen Banknoten zu. Aber sie, diese vom Schicksal
-Verwöhnten, finden das vollkommen in Ordnung, so sehr sind sie an die
-Ovationen des Glücks gewöhnt. Es kann vorkommen, daß solch ein
-Umschmeichelter einmal aufs Trockene gerät, schon wird ihm der Atem
-etwas kurz -- aber da stirbt im rechten Augenblick irgendein Verwandter,
-den man völlig vergessen hatte ...
-
-Wie fangen diese Auserwählten es an, daß das Glück ihnen wie ihr
-Schatten folgt? Tragen sie einen Talisman auf der Brust? Vielleicht die
-Konstellation der Gestirne --?
-
-Wie kommt es, das ist die Antwort, daß ein Vogel als Papagei am
-Amazonenstrom zur Welt kommt, dem Paradies der Vögel, in einer Luft,
-schwirrend von Insekten, warm selbst in den kalten Jahreszeiten -- und
-ein anderer Vogel wird als Sperling in einer Dachrinne Berlins oder
-Londons geboren, wo jeder Tag ein Problem ist und jeder Winter ein Kampf
-auf Leben und Tod?
-
- * * * * *
-
-Zu jener Klasse von Umschmeichelten gehörte ohne Zweifel der Architekt
-Philipp Schwedenklee. Schwedenklee war wohlhabend, ohne gerade ein
-Rothschild zu sein. Er konnte es sich jedenfalls, zum Beispiel, leisten,
-einer jungen Dame ein Paar der elegantesten Lackschuhe zu schenken, nur
-dafür, daß sie einen Abend mit ihm bei einer Flasche Wein verplauderte.
-Er besaß ein schönes Wohnhaus im alten Westen von Berlin, daneben einige
-große Bauplätze am Kurfürstendamm, auf denen seit Jahren Scharen von
-Möbelwagen standen. Diese Bauplätze verzinsten sich mit nur drei
-Prozent, aber ihr Wert hatte sich im Laufe der Jahre verdreißigfacht.
-Daneben besaß er ein Landgut in Mecklenburg -- aber Schwedenklee
-kümmerte sich wenig um seine Reichtümer. Sie schimmerten beruhigend im
-Hintergrund seines Bewußtseins, genug.
-
-Schwedenklee hatte sein Vermögen von seinem Vater geerbt. Der alte
-Schwedenklee hatte schon mit fünfzehn Jahren im Schweiße seines
-Angesichts die Maurerkelle geschwungen, zehn Stunden täglich. Mit
-fünfunddreißig heiratete er eine reiche Gastwirtstochter und wurde
-Bauunternehmer, und im Alter von fünfundvierzig hatte er bereits einen
-ganzen Straßenzug einer Provinzstadt in der Mark aufgebaut. Mit fünfzig
-kam er nach Berlin, und damals erwarb er das schöne Wohnhaus im alten
-Westen, etwas später, spottbillig, die Bauplätze, deren Wert sich
-seitdem verdreißigfacht hatte.
-
-Die Begabung des alten Schwedenklee, aus Mauerflächen, Fenstern und
-Türen ein Haus zusammenzustellen -- so sahen seine Bauten aus --, war
-verfeinert in das Blut des Sohnes übergegangen. Philipp Schwedenklee
-wurde Architekt. Er war über den Durchschnitt begabt, in der Sauberkeit
-und Reinheit seiner Zeichnungen übertraf er alle seine Kameraden. Er
-hatte auch kaum seine Studien beendet, als er sich schon auszeichnete.
-
-Eines Tages nämlich veröffentlichte die kleine Stadt in der Mark, die
-der alte Schwedenklee zum Teil aufgebaut hatte, ein Preisausschreiben:
-Eine alte Apotheke sollte in ein kleines Provinzmuseum umgebaut werden.
-Der alte Schwedenklee machte seinen Sohn auf den Wettbewerb aufmerksam.
-Und siehe da, schon hatte Philipp Schwedenklee -- unter vierzig
-Bewerbern! -- das Preisausschreiben gewonnen. Nun aber zögerte der alte
-Schwedenklee nicht länger. Er übertrug seinem Sohn die Aufgabe, ihm die
-Pläne für eine Villa in Schmargendorf, wo er seine Tage zu beschließen
-gedachte, zu entwerfen. Die Villa war im Rohbau kaum fertig, als ein
-Nachbar, ein Ofenfabrikant, den jungen Schwedenklee ebenfalls mit dem
-Entwurf einer Villa beauftragte. Dann kam ein Gastwirt, bei dem der alte
-Schwedenklee zweimal in der Woche Kegel spielte. Dieser Gastwirt wollte
-sich vergrößern und wünschte die Entwürfe zu einem Tanzlokal, in einem
-ganz besonderen, heiteren Stil, mit chinesischen Anklängen. Philipp
-Schwedenklee aber lehnte diesen Auftrag ohne Umstände ab! Er wollte sich
-nicht verzetteln, denn, bei Gott, er hatte höhere Pläne, als Tanzlokale
-mit chinesischen Anklängen zu entwerfen. Der alte Schwedenklee stimmte
-ihm bei. Philipp reiste zur weiteren Ausbildung nach Italien, und von
-Italien nach Paris. Einige Jahre blieb er im Ausland. Er gab viel Geld
-aus, man hörte wenig von ihm. Einmal wurde erzählt, daß er in Paris wie
-ein wahrer Zigeuner lebe, daß er in sozialistischen, ja sogar
-anarchistischen Kreisen verkehre. Aber das war offenbar eine
-Verleumdung, denn er kehrte aus Paris sehr elegant und als
-ausgezeichneter Billardspieler zurück.
-
-Philipp Schwedenklee nahm sofort fieberhaft den Umbau der
-Parterrewohnung in dem alten Haus im Westen in Angriff. Wände, Türen und
-Fenster riß er heraus, zuletzt stand nichts mehr auf dem alten Fleck.
-Ja, er wollte Berlin, dieser Kapitale des Kitsches, zeigen, was
-Architektur war! Umbau und Einrichtung dauerten über zwei Jahre: nun
-aber war jeder Raum, jedes Möbelstück genau nach seinem Geschmack!
-Führende Zeitschriften veröffentlichten Photographien von Schwedenklees
-Wohnung. Zusammen mit einem befreundeten Architekten baute er dann ein
-Riesenhaus am Kurfürstendamm, ein Palais mit Marmortreppen und
-Marmorsäulen, das großes Aufsehen erregte. Beinahe wäre das Unternehmen
-eine finanzielle Katastrophe geworden, aber nur beinahe! Die
-Kinematographie war eigens zu dem Zwecke erfunden worden, um
-Schwedenklee vor dem Ruin zu bewahren. Sein Palast wurde in ein Kino
-umgebaut und er verdiente Unsummen.
-
-Schwedenklee wurde später in den Zeitungen noch als der Erbauer eines
-Elektrizitätswerkes voller Achtung genannt, er baute eine Reihe von
-Bureauhäusern und Villen. Dann hörte man nichts mehr von ihm. Seine
-Laufbahn als Architekt, die so verheißungsvoll begonnen, schien zu Ende
-zu sein.
-
-Er hatte sich in seine Parterrewohnung zurückgezogen und arbeitete, wie
-verlautete, an einem Werke über Städtebau. Es hieß, daß er Berlin von
-Grund auf umbauen wolle! Dieses ganze Berlin war völlig falsch angelegt!
-Er verschob Straßenzüge, ganze Stadtviertel. Sollte jemals aus Berlin
-etwas werden, so mußte man seinen Schwerpunkt an die Flußläufe verlegen!
-Der Reiz anderer Großstädte -- Paris, London, Neuyork -- bestand darin,
-daß sie von den Flußläufen aus sich entwickelt hatten. Berlin hatte
-unglücklicherweise seinen Aufschwung in einer Zeit genommen, da die
-Frachten der Bahnen kaum höher waren als jene der wenig entwickelten
-Flußschiffahrt. Es hatte sich in die Sandwüste des Westens
-hinausgeschoben und das landschaftlich schönste Gelände untergeordneten
-Vororten überlassen. Nun er, Schwedenklee, würde jedenfalls versuchen zu
-retten, was zu retten war. Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er dem
-Wirrwarr der Berliner Verkehrsverhältnisse. Auch in dieser Hinsicht
-würde er eine Lösung finden.
-
-Jahrelang beschäftigten Schwedenklee diese Probleme. Er tat
-geheimnisvoll -- eines Tages würde er Berlin mit seinem Werke
-überraschen! Zuweilen schlug er sogar einen etwas überheblichen Ton an.
-
-Der alte Schwedenklee jedenfalls erlebte die Veröffentlichung des Werkes
-nicht mehr.
-
-
-
-
- 2
-
-
-Schwedenklee pflegte spät aufzustehen, da er häufig, wie er dem Mädchen
-sagte, bis »zum frühen Morgen« arbeitete. Gegen zehn Uhr, wunderbar
-ausgeschlafen, ausgehöhlt vom Hunger, frühstückte er mit Genuß: Kaffee,
-Weißbrot, Honig, Butter, Schinken, Eier, abwechselnd gekocht und
-gebraten. Nach dem Frühstück zog er sich in die geheiligten Räume,
-Bibliothek und Arbeitszimmer, zurück, wo ihn niemand stören durfte. Hier
-legte er sich noch etwas auf die Ottomane und las ausführlich die
-Zeitungen -- er war sogar auf die Frankfurter Zeitung abonniert, die
-dreimal täglich erscheint. Er arbeitete an seinen Zeichnungen,
-telephonierte, sah nach dem Wetter, schrieb einen Brief -- schon war es
-zwölf Uhr geworden. Schwedenklee ging spazieren, um »das Leben zu
-betrachten«.
-
-Ohne jeden Tadel, fast etwas auffallend elegant gekleidet, das zart
-gepuderte runde Kinn in den Pelzkragen gedrückt, in Schuhen der letzten
-Mode, schwang er sich dahin, mit der Miene eines Menschen, der sich
-seines Wertes wohl bewußt ist. Zuweilen erschien er auch -- ohne jeden
-Anlaß -- im glänzenden Zylinder. Sein rascher, etwas kecker Blick
-streift Mädchen und Frauen, während ein zufriedenes Lächeln seine vollen
-Lippen umspielt. Er beobachtet sich, wie er, etwas voll, durch den
-schwarzen Glanz der Spiegelscheiben schreitet -- sein Pelzkragen, seine
-koketten Schuhe. Voller Genuß zieht er die Luft in die breite Brust.
-Eine anziehende junge Dame geht an ihm vorüber und Schwedenklee folgt
-ihr eine Weile in angemessener Entfernung, voller List, um sich keine
-Blöße zu geben. Einen Augenblick später sieht man ihn in einem
-Antiquitätengeschäft, eine kleine blaue Vase in den Händen.
-
-Um zwei Uhr aß er zu Mittag. Er hatte das Glück gehabt, eine
-ausgezeichnete Köchin zu finden, ein Wunder von einer Kochkünstlerin:
-Augusta, die sein Hauswesen führte. Sie hatte nur den einen Fehler, daß
-sie zuweilen Weinkrämpfe bekam, die Küchendünste und das Stehen vor dem
-Herde hatten ihre Nerven ruiniert. Und er, Schwedenklee, der nichts so
-sehr haßte als Tränen! Aber schließlich ging es immer wieder vorüber.
-Vollkommen war ja nichts auf dieser Welt.
-
-Schwedenklee liebte es, gut zu essen, und er machte gar kein Hehl
-daraus. Er hatte einen ausgezeichneten Appetit und einen noch besseren
-Magen. Sein Magen -- lieber Himmel, was für einen Magen hatte
-Schwedenklee! Diese Veranlagung verdankte er seiner Mutter, Tochter
-eines Provinzwirts. Er konnte essen, so oft und so viel er wollte. Er
-konnte, für gewöhnlich war er mäßig, auch trinken, so viel es sein
-mußte. Wenn andere schon lallten, begann Schwedenklee erst zu tanzen!
-Diese Veranlagung verdankte er dem alten Schwedenklee, der Tag für Tag
-schon von sechs Uhr morgens an mit allen denkbaren Getränken den Kampf
-gegen den Baustaub aufgenommen hatte. Schwedenklee, es muß ausdrücklich
-betont werden, stammte nicht von wohlhabenden Eltern ab, die das
-Wohlleben schon verweichlicht hat, die ihren Kindern mit ihrem Gelde
-degenerierte Organe hinterlassen, o nein, er wuchs mit beiden Füßen
-direkt aus der Scholle. Seine Gesundheit war ausgezeichnet.
-
-Nach Tisch schlief Schwedenklee bis vier Uhr, dann schlürfte er den Tee,
-während er sich über seine Zeichnungen beugte oder die Abendzeitungen
-las. Zuweilen spielte er auch in der Dämmerstunde Geige. In den letzten
-Jahren allerdings seltener. Schwedenklee war ein ganz ausgezeichneter
-Dilettant! Seine Eltern, vernarrt in den Knaben, hatten keine Ausgabe
-für seine Erziehung gescheut. Zwei Jahre lang hatte Schwedenklee jeden
-Mittwoch und Sonnabend mit einigen Musikschülern, die er sehr gut
-bezahlte, Quartett gespielt. Die Musik erschien ihm damals als das
-Herrlichste auf der Welt, herrlicher noch als die Frauen! In dieser Zeit
-hatte er sich sogar mit dem Gedanken beschäftigt, Geiger zu werden. Er
-vernachlässigte seine Projekte vollkommen -- wie nebensächlich
-erschienen sie ihm doch! -- und übte täglich mehrere Stunden. Er
-träumte, ganz im geheimen, davon, wie er im Konzertsaal erscheinen
-würde, umbrandet vom Beifall. Die Damen steigen auf die Stühle und
-schwingen die Taschentücher: Schwedenklee, Schwedenklee! Oft gab er sich
-diesen Ausschweifungen hin.
-
-Indessen, die Quartettabende fielen schließlich ganz aus, die Geige
-ruhte in ihrem Kasten, nur zuweilen -- wie gesagt -- nahm er sie noch
-heraus, nicht ohne Sehnsucht, Inbrunst, Reue ...
-
-Um sieben Uhr ging Schwedenklee wieder etwas an die frische Luft, um
-»das Leben zu betrachten«, um acht Uhr aß er zu Abend, mit Genuß und
-Appetit. Dann wusch er sich, polierte die Nägel und erschien heiter und
-strotzend von guter Laune in seinem Stammcafé in der Potsdamer Straße.
-
-In den früheren Jahren noch hatte er häufig Theater und Konzerte
-besucht, in der letzten Zeit aber verbrachte er die Abende fast
-ausschließlich im Café.
-
-Acht Jahre verkehrte er in diesem Café. Nach drei Jahren gab ihm der
-Oberkellner den Titel »Herr Baurat«. Nach fünf Jahren »Herr Oberbaurat«.
-Jedermann nannte ihn so, die Kellner, die Gäste. Also selbst seinen
-Titel hatte Schwedenklee ohne Mühe erworben! Wie lange Jahre sitzt
-mancher Beamte in einer Behörde, bis er einen solch herrlichen Titel wie
-»Oberbaurat« erhält? Schwedenklee erhielt ihn vom Oberkellner eines
-Cafés in der Potsdamer Straße, und er war genau so gut, als ob ihn ein
-Ministerium verliehen hätte.
-
-Schwedenklee war heute fünfundvierzig Jahre alt. Die Anstrengungen
-seines Berufes hatten ihn fast sämtliche Haare gekostet -- nur im
-Nacken, der sich feist über den weißen Kragen schob, stand noch ein
-dünner fahlblonder Saum. Die Pflege, die er genoß, hatte ihm eine
-gewisse vornehme Wohlbeleibtheit verliehen. Seine Wangen waren rund und
-leuchtend rot wie die eines Prälaten. Das Kinn fett und glänzend. Was er
-tief beklagte, war, daß sich sein Bauch nur noch schlecht in der elegant
-geschnittenen Kleidung verbergen ließ. Mit bekümmerten Blicken
-beobachtete er sich oft im Spiegel.
-
-Übrigens, sonderbar: Schwedenklees Augen -- einst förmliche Lampen --
-schienen von Jahr zu Jahr kleiner zu werden. Wie war es nur möglich?
-Seit einiger Zeit sah er auch schlechter. Er war genötigt, beim Lesen
-eine Hornbrille zu tragen.
-
-
-
-
- 3
-
-
-In den letzten Wochen allerdings war Schwedenklee, der immer Heitere,
-Strahlende, der Sieghafte, vom Glück Umschmeichelte, verändert. Er war
-zerstreut, nachdenklich. Nur noch selten waren seine lauten Lachsalven,
-die jedermann mit fortrissen, zu hören. Sprach man ihn unvermutet an, so
-öffnete er erschrocken und hilflos den Mund, oft gab er überhaupt keine
-Antwort. Allen Stammgästen des Cafés fiel die Veränderung auf.
-
-»Der Herr Oberbaurat scheinen in der letzten Zeit nicht ganz wohl«,
-sagte der von schlaflosen Nächten bleiche Oberkellner, ein alter Wiener.
-Also selbst ihm fiel die Veränderung auf!
-
-»Etwas abgearbeitet.« Schwedenklee runzelte die Stirn.
-
-»Ich habe gelesen, der Herr Oberbaurat haben einen Vortrag im
-Architektenhaus gehalten.«
-
-Schwedenklee seufzte.
-
-»Nichts als Plackereien, die nichts einbringen.«
-
-Ja, so hatte man zu tun. Schwedenklee hatte über »Moderne
-Bahnhofsarchitektur« gesprochen -- ein ganzer Winter Arbeit!
-
-Schwedenklees Stammcafé war scheinbar ein Café wie jedes andere. Ein
-altes Berliner Café mit Gold und Stuck, verräuchert, die Plüschsofas
-zusammengesessen, die Kellner in befleckten Fräcken und ausgetretenen
-Schuhen. Unten saß das gewöhnliche Publikum, Familien, Liebespaare,
-einsame Zeitungsleser. Eine vergoldete Treppe mit Plüschgeländer führte
-zu dem großen Billardsaal empor, wo sechs Billards standen, und erst
-wenn man den Billardsaal durchquert hatte, gelangte man in das
-Allerheiligste: das Spielzimmer! Hier waren von fünf Uhr nachmittags an
-bis zum grauenden Morgen einige Spieltische, umgeben von Kiebitzen, im
-Gange, und hier kannte ein Gast den andern. Ärzte, Rechtsanwälte,
-Kaufleute, ein Bassist von der Oper, ein bekannter Pianist und einige
-junge Herren, die keinen ausgesprochenen Beruf zu haben schienen. Die
-Karten wurden gemischt, die Zigarren qualmten, die Kellner flogen mit
-Kaffeegeschirr und Biergläsern hin und her. Einzelne der Stammgäste
-kamen hierher schon um fünf Uhr und blieben bis drei Uhr nachts. Andere
-kamen nach dem Essen, wie Schwedenklee, nach Schluß der Theater und
-Konzerte kam noch ein Trüppchen Nachzügler. Es wurde in Schichten
-gearbeitet, fieberhaft und ohne jede Pause.
-
-Die Billardbälle knallten nebenan im Saal. Zuweilen verirrte sich sogar
-eine Dame mit ihrem Freund in den Billardsaal und einer der Spieler
-machte es bekannt.
-
-»Haben Sie die hübsche Person im Billardsaal gesehen?«
-
-Der eine oder der andere der Kartenspieler warf einen Blick durch die
-Tür, während die Karten neu gegeben wurden, oder er machte sogar rasch
-einen Gang durch den Saal, wenn es sich lohnte. »Eine verteufelt hübsche
-Person, und Augen hat sie!«
-
-Aber es geschah nur sehr selten, daß eine Dame sich zu den Billards
-hinan verirrte. Sonst gab es im Spielzimmer keinerlei Ereignisse. Das
-Spielzimmer ignorierte Berlin und die große Welt, wie Berlin und die
-große Welt das Spielzimmer ignorierten. Nur flüchtig wurden besondere
-Ereignisse gestreift: ein Krieg irgendwo, ein Sensationsprozeß, ein
-Schneesturm, eine Stockung der elektrischen Bahnen -- blitzschnell
-flogen die Karten über die grünbespannten fleckigen Tische.
-
-Es gab sogar Stammgäste, die noch länger als Schwedenklee im Café
-verkehrten. Ein Rechtsanwalt war zwölf Jahre lang Stammgast, und der
-Bassist kam schon seit fünfzehn Jahren hierher. In den Sommermonaten
-zerflatterten die Gäste auf einige Wochen, aber es blieb doch immer ein
-Spieltisch wenigstens im Gange.
-
-So also sah Schwedenklees Heim aus, wo er seine Abende verbrachte,
-anstatt Museen, Bahnhöfe und Kaufhäuser zu entwerfen, wie er es früher
-plante.
-
-Schwedenklee spielte vorzüglich Karten! Er war als Gegner gefürchtet,
-als Partner gesucht. Er war frisch und gut ausgeruht, natürlich, während
-zum Beispiel die Rechtsanwälte und Ärzte, die schon seit acht Uhr
-morgens in den Gerichtssälen und Kliniken arbeiteten, manchmal vor
-Müdigkeit einschliefen, wenn die Karten gemischt wurden.
-
-Zuweilen war man der Karten überdrüssig. Man machte ein Spiel auf dem
-großen Matchbillard, und der Kellner mußte das sorgfältig
-eingeschlossene Privatqueue Schwedenklees aus dem Schrank holen. Dann
-und wann auch spielte Schwedenklee mit dem Bassisten eine Partie Schach.
-
-Gegen drei Uhr, vier Uhr morgens leerte sich das Spielzimmer, die
-letzten Kiebitze verließen den Kartentisch, und schließlich riefen auch
-die leidenschaftlichsten Spieler, dem Erschöpftsein nahe, nach dem
-Zahlkellner.
-
-Schwedenklee blieb selten länger als bis zwei Uhr. Nur während einer
-ganz kurzen Periode hatte der Spielteufel so heftig von ihm Besitz
-ergriffen, daß er jede Nacht hindurch bis sechs Uhr morgens Bakkarat
-spielte. Doch das war schon einige Jahre her, und nicht er allein war
-schwach geworden, die sämtlichen Spieler hatte plötzlich eine Art
-Besessenheit befallen.
-
-Um zwei ging Schwedenklee nach Hause, um tief und ohne Pause zu
-schlafen, ganz allein in einem großen zweischläfrigen Bett mit einem
-hellgrünen Seidenhimmel.
-
-Schwedenklee war Junggeselle, natürlich. Über Frauen und Ehe hatte er
-seine ganz besonderen Ansichten!
-
-Ein einziges Mal hatte er den Kopf so weit in der Schlinge, daß er das
-Schlimmste befürchtete! Es war die »furchtbarste Zeit seines Lebens«,
-wie er sagte. Er hatte sich mit einer hübschen Base eingelassen, nettes
-Gesichtchen, plapperte erfrischend, und die Sache war gerade deshalb so
-verzweifelt, weil die ganze Verwandtschaft, die er jahrelang völlig
-ignoriert hatte, dabei im Spiele war. Schwedenklee verlor den Appetit
-und verbrachte die Nächte ohne Schlaf. Er entwarf hundert
-Abschiedsbriefe, ohne den Mut zu haben, die Base zu verabschieden. Es
-war ja ganz unmöglich, ein so entzückendes Geschöpf bloßzustellen. Das
-Wunderbare ereignete sich in dieser Periode: Schwedenklee hielt der
-Braut die Treue, so schwer es ihm auch zuweilen wurde! »Eine herrliche
-Sache ist die Treue,« pflegte er in dieser Zeit zu sagen, »aber sie
-kostet Nerven, mein Freund!« Eines Tages aber übersandte das entzückende
-Geschöpf ihm einen Abschiedsbrief! Voller Zerknirschung und Tränen: sie
-hatte sich auf einer Bahnfahrt in einen Offizier verliebt.
-
-Gott sei gelobt! Glück zu, Schwedenklee!
-
-Ja, in der Tat, es war eine furchtbare Zeit!
-
-Schwedenklee schlief prachtvoll unter seinem hellgrünen Seidenhimmel,
-obschon neben ihm noch recht gut Platz gewesen wäre.
-
- * * * * *
-
-Wie gesagt, aber in den letzten Tagen gefiel Schwedenklee den
-Kartenspielern nicht mehr! Wer sollte sich sonst um ihn kümmern, wenn
-nicht sie? Etwa Augusta? Nein, Augusta wich ihm aus, floh ihn direkt,
-wenn sie merkte, daß er in schlechter Laune war, mit Rücksicht auf ihre
-zerstörten Nerven. Augusta hatte nur beobachtet, daß eines Tages ein
-Brief mit einem schwarzen Trauerrand angekommen war, und Schwedenklee
-die Augen rollte. Die Kartenspieler aber, sie kannten ja jeden Zug in
-seinem feisten, leuchtenden Gesicht. Und wenn ein gewiegter Spieler wie
-Schwedenklee ein »angesagtes« Solo verlor, soviele Buben, soviele Asse,
-Könige, Damen, eine Farbe blank -- was sollte man dann sagen? Wie? Ja,
-nun war es offenbar, nicht mehr wegzuleugnen: etwas war bei Schwedenklee
-nicht in Ordnung!
-
-Es entstand eine solch furchtbare Aufregung, daß man eine Runde
-aussetzte und die Kellner aus dem Billardsaal zusammenliefen.
-
-Schwedenklee war sogar erbleicht, als das Solo so katastrophal
-zusammenbrach! In all den Jahren hatte niemand beobachtet, daß
-Schwedenklee erbleichte. Heute aber, in der Tat, war das Blut aus seinen
-roten Wangen gewichen, und seine Nasenspitze war für eine Sekunde
-schneeweiß geworden.
-
-Es nützte Schwedenklee nichts, daß er seine bekannte Lachsalve losließ.
-Die Ärzte, die Notare blickten prüfend und argwöhnisch in sein Gesicht.
-
-Schwedenklee hatte trotz der geheuchelten Heiterkeit immer noch einen
-verwirrten Gesichtsausdruck. Sein Blick war flackernd, nicht unbekümmert
-und etwas keck wie gewöhnlich. Nun errötete er sogar. Er tat, als schäme
-er sich, ein mit solch triumphierendem Lächeln angesagtes Solo verloren
-zu haben.
-
-Die Erregung verflog. Die Kiebitze, die aufgesprungen waren, saßen
-wieder ruhig auf ihren Stühlen, der Wollust hingegeben, die Chancen des
-Spielers besser zu kennen als die einzelnen Spieler, die große
-Überraschung, die jede Sekunde offenbar werden mußte, schon lange vorher
-genießend. Hinter Schwedenklees breitem Rücken verschanzt saßen drei
-Kiebitze dicht nebeneinandergedrängt. Schwedenklees Spiel interessierte
-heute abend am meisten. Er erhielt eine große Karte nach der andern, er
-spielte nunmehr konzentriert, führte jedes Spiel in großem Stil durch
-und gewann. Er wurde rot, sooft er die Karte aufnahm: so wie heute hatte
-ihn das Glück noch nie umschmeichelt. Den Kiebitzen aber fiel es auf,
-daß er gepreßt atmete, sooft er ein großes Spiel gewonnen hatte.
-
-Plötzlich aber -- mitten in der Glücksserie! -- zog er die Uhr und erhob
-sich ohne alle Umstände, zum Erstaunen der Spieler, zur Enttäuschung der
-erregten Kiebitze. Er entschuldigte sich hastig mit dringlichen
-Arbeiten. Sofort sprang ein anderer Spieler, der schon eine Stunde
-lauerte, für ihn ein. Der Pikkolo lief mit seinem Überzieher herbei.
-
-Begleitet von einem der Kiebitze, dem bekannten Nervenarzt Wittmann,
-einer Kapazität, durchschritt Schwedenklee, in Gedanken versunken, das
-Billardzimmer. Und er erbleichte tatsächlich an diesem Abend zum
-zweitenmal! Es war heute wirklich alles wie verhext, es gibt solche
-Tage. Auf dem Mittagsspaziergang hatte er jene ganz in sich
-zusammengekrümmte Bettlerin auf der Potsdamer Brücke getroffen, die wie
-eine Verkünderin von Unheil an jenen Tagen auftauchte, da irgend etwas
-Unangenehmes sich ereignen würde. Nun dieses Gesicht! Es saß gegenüber
-der Tür des Spielzimmers im Billardsaal an einem kleinen
-Marmortischchen. Das Gesicht eines zermürbten, alternden, grauhaarigen
-Künstlers, eines völlig Hoffnungslosen, eines Bittstellers, fahl, mit
-dunkeln, fiebernden Augen, und diese Augen streiften seinen Blick scheu
-und tastend. Vielleicht hatte dieser Hoffnungslose, Hungrige voller Neid
-beobachtet, wie Schwedenklee seinen Kartengewinn in die Tasche steckte?
-Jedenfalls gehörte dieses Antlitz voller Gram und Elend zur Klasse jener
-Gesichter, die Schwedenklee fürchtete, denen er aus dem Wege ging. Sie
-verdarben ihm die gute Laune und riefen in ihm augenblicklich die
-tausend Unannehmlichkeiten wach, große und kleine, die ihm das Leben
-getrübt hatten.
-
-»Sie sind nervös, Schwedenklee«, sagte der berühmte Nervenarzt, die
-Kapazität, mit einem mahnenden Blick hinter dem schiefsitzenden Kneifer.
-»Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun. Die ganzen Tage fiel mir schon
-Ihr Wesen auf. Ich möchte fast vermuten, daß irgend etwas
-Außergewöhnliches -- ich will nicht aufdringlich erscheinen ...«
-
-Schwedenklee schlug den Pelzkragen hoch, um sein Frösteln -- dieser
-Nervenarzt! -- zu verbergen. Dann reckte er sich ein wenig und lachte
-laut heraus, während er stehen blieb. »Was soll ich haben?« rief er
-etwas zu laut. »Bedenken Sie, schon morgens um sieben Uhr kommt ein
-falscher telephonischer Anruf. Ich hatte nachts gearbeitet und nur
-wenige Stunden geschlafen. Dann kommen allein am Vormittag drei
-unangenehme Besuche. Es ist ein Wahnsinn, in dieser Stadt zu leben!«
-
-»Ja, dieses Berlin ist eine Hölle!«
-
-»Eine völlig sinnlose Hölle -- eine Hölle ohne jeden Scharm. Bedenken
-Sie dagegen, zum Beispiel, Paris, eine Hölle mit Reizen ...«
-
-»Mit fürchterlichen Reizen, Schwedenklee! Vielleicht ist Swedenborgs
-Ansicht berechtigt, daß diese Erde überhaupt nichts anderes ist als eine
-Art Fegefeuer, eine Vorhölle ...?«
-
-»Swedenborg?«
-
-»Ja, Swedenborg.«
-
-Schwedenklee gestand nicht ein, daß er diesen Namen heute zum erstenmal
-hörte.
-
-»Oft scheint es mir, als ob diese Großstädte Exponenten der
-Swedenborgschen Hölle seien: riesenhafte Kloaken, in die Tag und Nacht,
-ohne Unterbrechung, der Schmutz rinnt, Bordelle, Mördergruben,
-infernalische Verneinungen des göttlichen Gedankens!«
-
-Der kleine Arzt fröstelte.
-
-»Ja, in der Tat, vielleicht leben wir mitten in der Hölle, ohne es zu
-wissen! Vielleicht sind all unsere Freunde, die jetzt da droben Karten
-spielen, nichts als Teufel, Gespenster, Verdammte, Verfluchte ...«
-Bleich und erschöpft von der Stubenluft blinzelte der berühmte
-Nervenarzt in Schwedenklees rotes Gesicht.
-
-Plötzlich lächelte Schwedenklee und streckte dem Arzt die Hand hin.
-»Hölle hin, Hölle her!« rief er mit einem sieghaften Lächeln. »Das Leben
-ist doch schön! Gute Nacht, Doktor!«
-
-»Trotzdem« -- der Arzt berührte wohlwollend Schwedenklees Ärmel --
-»sollten Sie sich etwas Ruhe gönnen. Gehen Sie doch in Ihre Villa an der
-Ostsee!«
-
-»Jetzt, im April? Sie ahnen nicht, Doktor, wie entsetzlich kalt es da
-oben ist. Übrigens regnet es immer. Nein, danke herzlich!«
-
-Schwedenklee stand und sah dem kleinen, unsicher gehenden Arzt, der
-Kapazität, betroffen nach. Welch eindringliche Ermahnungen! Und
-»Fegefeuer, Gespenster --«?
-
-»Ja,« sagte Schwedenklee, »vielleicht hat er sogar recht! Aber, was für
-eine Welt wäre das -- ein Betrug, nichts sonst! Und doch --?«
-
-In tiefes Nachdenken versunken ging er weiter. Es half nichts, daß er
-die vorübergehenden Frauen musterte, um sich zu zerstreuen. Ein Paar
-herrische, schöne Augen leuchteten aus der feuchten Dunkelheit der Bäume
--- vergebens.
-
-Schwedenklee atmete die laue Luft ein, er blickte in das knospende Geäst
-der hohen Bäume empor, sah die Sterne durch das leichte, schillernde
-Gewölk am Himmel jagen -- aber seine Gedanken wurden düsterer und
-düsterer. Immer schwerer wurde die Last auf seinem Herzen.
-
-Endlich blieb er stehen und holte tief Atem.
-
-»Ja,« sagte er halblaut vor sich hin, »vielleicht sind wir in der Tat
-von Gespenstern umgeben und vielleicht ist es _wahr_, daß die Toten nach
-mir greifen!« Und er nickte ein paarmal schwer mit dem Kopfe.
-
-Wie? Schwedenklee?
-
-Wie ist es möglich, daß gerade er, Schwedenklee, der immer gut Gelaunte,
-Strahlende, der vom Glück Umschmeichelte, von der Melancholie übermannt
-wird?
-
-
-
-
- 4
-
-
-Beruhigend brennt die grüne Schirmlampe auf dem riesigen
-Diplomatenschreibtisch. Besänftigend blicken all die vertrauten Dinge
-des Arbeitszimmers. Dort die Büste der Nubierin. Sie lächelt
-vertraulich, fast etwas verschämt.
-
-Schon scheint das Düstere nicht mehr so drohend.
-
-In weichen gefütterten Hausschuhen gleitet Schwedenklee über den
-Teppich, sein Blick wandert über die Decke. Schwedenklee schüttelt
-abwehrend den Kopf. »Es ist ja alles Unsinn!« sagt er zu sich. »Diese
-pathetische Phrase von den Toten -- und auch das mit dem kalten Hauch!«
-
-In der letzten Zeit war es ihm zuweilen gewesen, als ob ihm ein kalter
-Hauch ins Genick blase.
-
-»Alles Unsinn! Es sind deine Nerven, mein Freund! Wie kann ein Brief,
-ein unsinniger Brief -- ja, wie ist es nur möglich?«
-
-Schwedenklee bleibt stehen und mustert entschlossen den riesigen
-Diplomatenschreibtisch. Plötzlich steuert er mit zwei, drei großen
-Schritten auf den Schreibtisch zu und zieht, etwas asthmatisch atmend,
-die unterste Schublade heraus.
-
-Es ist das beste! Er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen,
-da es sich als unmöglich herausstellte, darüber hinwegzugleiten. Es war
-feige, keine Worte, _nicht nachzuforschen_! Nein, heute hatte es ihm bei
-den Karten keine Ruhe mehr gelassen ...
-
-Diese Schublade stellte er auf einen niedrigen Rauchtisch und
-betrachtete, schon wieder etwas mutlos, den Wust von Karten, Bildern,
-Briefen, Theaterzetteln. Sogar eine graue Seidenschleife befand sich
-darunter.
-
-Schwedenklee warf sich in einen Sessel und streckte die Hand nach einem
-der vergilbten Briefe aus. Aber schon erhob er sich wieder. Er entkorkte
-eine Flasche Bordeaux und zündete sich umständlich -- um Zeit zu
-gewinnen -- eine Zigarre an.
-
-Ja, nun war er bereit!
-
-»Eine von euch weilt also nicht mehr unter den Lebenden!« sagte er laut,
-um sich Mut zu machen, und blies heftig in die Zigarre. Eine leise, aber
-nicht quälende, ja fast angenehme Trauer überkam ihn. Ja, es ist
-sonderbar, er fühlte sich sogar als eine gewissermaßen wichtige
-Persönlichkeit, weil eine jener Frauen, die er geliebt hatte, schon ins
-Reich der Schatten entwichen war.
-
-»Und sie gedachte meiner noch in ihrer letzten Stunde!« Wieder schwebte
-Schwedenklee in den gefütterten Hausschuhen hin und her. Dann aber warf
-er sich in den Sessel und griff entschlossen mitten in die vergilbten
-Briefe hinein.
-
-Dieses graue Seidenband -- o, so deutlich erinnerte er sich -- vor
-Jahren schmückte es Lissis blonden lockeren Haarschopf. Und es fiel ihm
-ein: wie sie einmal unerwartet in sein Zimmer stürmte, es war im Winter,
-Schneegestöber. Ihr Pelz war dick mit Schnee bedeckt -- und so, wie sie
-war, im beschneiten Pelz, schloß er sie in die Arme. Noch heute fühlte
-er die stechende Kälte der einzelnen Schneekristalle ... Und hier ist
-eine Karte von Lissi, aus Oberhof, Lissi im Skikostüm.
-
-Nein, Lissi, die Heitere, war es gewiß nicht! Lissi kann nicht sterben!
-Sie saß jetzt irgendwo in Nizza oder Gardone in der Diele eines Hotels
-und blies lächelnd den Rauch der Zigarette in die Luft.
-
-Schwedenklee zog einen vergilbten Brief aus der Lade und begann ihn mit
-hochgezogenen Brauen zu lesen. Er erinnerte sich an diesen Brief nicht
-mehr! Wie? Er erinnerte sich auch nicht, jemals auf der Rennbahn in
-Karlshorst gewesen zu sein? Der Brief war signiert: M. Z.? Wer war M.
-Z.? Vorwürfe, Beteuerungen, Verdächtigungen, Küsse -- voller Interesse
-las er den Brief vom Anfang bis zum Ende.
-
-Aber wie merkwürdig -- und er erinnerte sich gar nicht mehr!
-
-Schwedenklee schlug die Schenkel behaglich übereinander und machte es
-sich im Sessel bequem: Diese Briefe, diese Erinnerungen waren weder so
-langweilig, noch so erschreckend, noch so unangenehm, wie er es
-befürchtet hatte.
-
-Wo mochte, zum Beispiel, jetzt diese Martha sein, die ihn Sonnabend ein
-Viertel vor acht im Foyer des Lessingtheaters erwartete? Sie hatte wohl
-einen kleinen Beamten geheiratet und schlief jetzt Seite an Seite mit
-ihrem Gatten. Breit und weich waren ihre Hüften, eine schneeweiße, etwas
-volle Büste hatte sie, und plötzlich erinnerte er sich an den Geruch
-ihres Körpers: süße, frischgemolkene Milch. Martha schwärmte fürs
-Theater, wöchentlich zweimal führte er sie aus. Dann soupierten sie
-irgendwo, um bei ihm noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Nie hatte er
-eine bescheidenere, sanftere Frau gekannt.
-
-»So geht das Leben dahin!« sagte Schwedenklee und legte die Karte zur
-Seite.
-
-Wer war Otti? Unmöglich, sich rasch an alles zu erinnern. Sie schrieb
-etwas von Halensee -- ja, o richtig, es war Otti mit der Matrosenbluse!
-Eine zierliche Stenotypistin, mit der er vor Jahren eine kleine Liebelei
-unterhielt. Otti liebte es, in zweitklassigen Lokalen zu tanzen und sich
-den frechen Blicken der Männer preiszugeben, die sie erregten. Sie war
-eitel auf ihre Beine, edle, rassige Beine, glatt und hart wie Elfenbein,
-und diese Beine stellte sie gern zur Schau. Auf Zurufe antwortete sie
-mit seltener Schlagfertigkeit, wobei sie das Stupsnäschen keck in die
-Luft warf. Unaufhörlich wanderten die Blicke ihrer großen blassen Augen,
-unausgesetzt auf der Suche nach neuen Abenteuern, neuen Erregungen.
-Sobald aber er auch nur einen Seitenblick wagte --! Verwirrend süß, die
-Ungerechtigkeit der Frauen!
-
-Ihre Lippen waren breit und weich, dachte Schwedenklee, und sie standen
-immer vor Erregung etwas offen. Ihre Brüste aber waren klein und spitz,
-die Knospen waren deutlich unter der Bluse zu erkennen und gerade darauf
-war Otti stolz.
-
-»Hoffentlich aber haben wir Ottis Abschiedsbrief noch!« Ja, er erinnerte
-sich jetzt plötzlich, daß sie ihm einen solch amüsanten Abschiedsbrief
-geschrieben hatte, seinerzeit, und er suchte ihn hastig in heiterster
-Laune.
-
-Er hatte damals, als er mit dem Kompagnon das Haus am Kurfürstendamm
-baute, das ihn beinahe ruiniert hätte, Otti in sein Bureau genommen. Ein
-unverzeihlicher Fehler! Otti erschien, wann es ihr behagte, saß rauchend
-bald auf diesem, bald auf jenem Zeichentisch, kokettierte mit dem
-Kompagnon, zeigte allen Besuchern ihre schönen Beine -- kurz und gut, er
-mußte, so leid es ihm tat, eines Tages ein offenes Wort mit ihr reden.
-Es gab eine schreckliche Szene, an die er sich jetzt voller Behagen
-erinnerte. Diese kleine Otti bebte vor Wut, und ehe er es sich versah,
-schlug sie ihm mit ihrer kleinen, festen Hand ins Gesicht. Ja,
-tatsächlich! Und dann schrieb sie ihm einen Brief, er entsann sich
-genau, einen äußerst drolligen Brief.
-
-Hier ist er!
-
-Laut auflachend las Schwedenklee diesen Brief.
-
-Ja, sie, Otti, wußte es schon vom ersten Tage an, daß sein Wesen im
-Grunde genommen ordinär war, obgleich er sich immer so aufspiele. Und
-wie geizig er doch sei: welche Vorwürfe -- ein Dutzend Seidenstrümpfe,
-zwei Paar Tanzschuhe, ein Sommerhut -- nein, nicht geizig, einfach
-schmutzig war er! Ja, sie, Otti, würde wohl nicht so verrückt sein und
-ihm die tausend Mark, die er ihr geliehen hatte, zurückzahlen, nein, für
-so wahnsinnig werde er sie gewiß nicht halten. »Was die Ohrfeige
-betrifft,« schloß Otti, »so wird es mir noch in meiner letzten Stunde
-eine Befriedigung sein, daß ich Dich in Dein hochmütiges, aufgeblasenes
-Gesicht geschlagen habe, auf das Du Dir so viel einbildest.«
-
-Noch in ihrer letzten Stunde! Schwedenklee lachte so laut, daß er husten
-mußte und seine rote Zunge herausfuhr. »Auf deine Gesundheit, Otti!«
-
-Schwedenklee hatte nie Mangel an Frauen gelitten. Er war wohl keine
-Schönheit, aber er war auch nicht häßlich, und wenn er lächelte -- seine
-Lippen waren voll und schön geschwungen --, so erhielt sein Gesicht
-sogar einen angenehmen Ausdruck. Er war elegant und er hatte stets Geld.
-Er besaß eine schöne, behagliche Wohnung und er war gesund. In der Tat,
-Schwedenklee konnte den Frauen etwas bieten. Schon als Student hatte er
-vor den Kameraden einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gehabt. Er
-verstand es ja ebenso gut wie sie, schöne Worte zu machen und
-schlagfertig zu antworten, aber es reichte bei ihm noch etwas weiter: zu
-einem kleinen Blumenstrauß, zu einer Einladung in eine Konditorei --
-siehst du!
-
-Schwedenklee wählte für gewöhnlich die Frauen aus der sozialen Schicht,
-die gerade etwas unter der seinen lag. Diese Frauen schienen ihm am
-umgänglichsten. Natürlich gab es auch Ausnahmen, und zuweilen mußte er
-alle seine Energie aufbieten, um sich nicht zu verlieren. Man denke an
-die Base!
-
-Nein, nein, Schwedenklee hatte geschworen, seine Freiheit nie
-aufzugeben! Man konnte als Junggeselle tun und lassen, was man wollte.
-Willst du ein Theater besuchen, so gehst du, ziehst du im letzten
-Augenblick doch das Café vor, nun so wendest du noch im Foyer um. Du
-willst ein paar Tage reisen, gut, du reisest, du wählst Reisetag und Zug
-ganz nach deinem Belieben. Einmal verheiratet, ist es mit aller Freiheit
-vorbei. Jeder deiner Schritte wird beobachtet, wann du dich niederlegst,
-wann du aufstehst, alles. Deine Frau erkrankt, das Kind hustet, schon
-telephonierst du erschrocken nach dem Arzt. Es könnte ein Unglück
-geschehen -- nein, daran wollte er gar nicht denken! Als er die Mutter
-verlor, war er ein leichtsinniger Student, der es nicht allzu schwer
-nahm -- als sein Vater starb, war er schon gereift genug, um sich zu
-beherrschen. Es war sein letzter wirklicher Schmerz. Nein, nein,
-Schwedenklee hatte alles genau durchdacht, es war am besten so, wie es
-war, und damit genug! Er wollte keine Aufregungen, keine Spannungen,
-keine Qualen.
-
-Konnte man -- um nur etwas zu sagen -- als Ehemann mitten in der Nacht
-in einem bequemen Sessel sitzen, bei einer Flasche Wein und einer
-Zigarre, und in alten Liebesbriefen und Erinnerungen wühlen?
-
-Wie? Versuch' es. Und dazu, solange man wollte, es konnte Morgen werden
-...
-
-Da war noch diese und jene Freundin -- diese und andere, in Rom, in
-Paris, in Wien -- alle zogen sie vorüber: jung, heiter, strahlend.
-Tanzfeste, Ausflüge, eine Reise im Schlafwagen, eine Dampferfahrt nach
-Kopenhagen, ein kleiner Abstecher ins Holländische ...
-
-Alle diese Freundinnen gehörten mit wenigen Ausnahmen jener bequemen
-sozialen Schicht an, die um ein Etwas tiefer lag als Schwedenklees
-Gesellschaftsklasse. Es waren Stenotypistinnen, Modistinnen,
-Erzieherinnen, kleine Schauspielerinnen, Tänzerinnen, sogar eine Dame
-vom Varieté war dabei. Sie alle waren gierig nach dem Leben, wollten
-zuweilen in einem eleganten Restaurant dinieren, wie feine Damen,
-wollten zu einem Rennen fahren, im Auto über den Kurfürstendamm rollen,
-wollten eine Oper besuchen, um vor ihren Freundinnen damit prahlen zu
-können. Eine kleine Reise, lieber Himmel, wie wunderbar, ein Paar
-Sommerschuhchen mit Seidenstrümpfen, herrlich! Ein Ausflug aufs Land,
-mein Gott, sie wurden sofort um Jahre jünger, dreizehn, plapperten wie
-Kinder. Sie genossen jede Kleinigkeit, das Nichts selbst, diese guten
-Geschöpfe, schlürften, waren berauscht. Sie schrien vor Erregung, wenn
-das Pferd, auf das sie gesetzt hatten, mit einer vollen Länge in den
-Einlauf einbog, und zerbrachen den Sonnenschirm, wenn es knapp vor dem
-Ziel noch geschlagen wurde.
-
-Es war nicht schwierig, ihre Bekanntschaft zu machen. Schwedenklee war,
-es ist die Wahrheit, in gewissem Sinne schüchtern, und das Herz schlug
-ihm im Halse vor jedem Abenteuer, aber es gelang fast immer. Schwieriger
-war es schon, sie, wie er es nannte, »in der rechten Distanz zu halten«.
-O, oft war es eine Kunst! Sie durften in ihren Gefühlen und Ansprüchen
-niemals eine gewisse Linie überschreiten, die Beziehungen mußten leicht
-und immer unverbindlich bleiben. Und doch lag es im Wesen dieser
-Sehnsüchtigen, diese Linie stündlich, in jeder Minute zu verletzen.
-
-Das schwierigste aber war es, sie zu verabschieden! Ein unerfreuliches
-Kapitel. Wirkliches oder geheucheltes Erkalten der Empfindungen, eine
-vorgebliche Geschäftsreise, etwas Schauspielerei -- und, wenn es sein
-mußte, sogar Härte! Es fiel Schwedenklee nicht leicht, Härte zu zeigen.
-Zorn, Tränen, verzweifelte Briefe, Drohungen. Nein, nicht immer ging es
-so leicht und einfach wie bei Otti, die einfach auf ihn einschlug und
-einen rasenden Brief schrieb.
-
-Schwedenklee saß hingestreckt in dem bequemen Ledersessel, die Beine
-übereinandergeschlagen, die Zigarre im Mund, und sah zur Decke empor.
-Der Wein ging zur Neige, er war in eine warme, heitere Laune geraten.
-Die Stunden flogen. Lächelnd, träumerisch war Schwedenklees Miene.
-
-Gestehen wir es nur, er hatte es verstanden, sein Leben zu genießen!
-Seine Freundinnen waren alle gute, liebe Geschöpfe gewesen, auch Otti
-natürlich, er hatte wenige, fast keine Enttäuschungen mit ihnen erlebt.
-
-Sonderbar, er hatte sie fast alle vergessen! Er erinnerte sich kaum noch
-an ihr Aussehen, die Züge waren in seinem Gedächtnis verblaßt. Welche
-Farbe hatten, zum Beispiel, ihre Augen? Die Farbe der Haare war
-einigermaßen haften geblieben, ähnlich wie die Haare sich in den Gräbern
-am längsten erhalten, wenn alles andere längst vermodert ist. Einzelne
-hatten nicht den geringsten Eindruck hinterlassen, von anderen wußte er
-nur, daß sie groß oder daß sie klein und zierlich waren. Von Otti hatte
-er am klarsten die Matrosenbluse in Erinnerung und, wie gesagt, die
-herrlichen Beine. Von einer Tänzerin wußte er noch, daß sie hohe
-Straßenstiefelchen trug, aus einem Leder wie graue rauhe
-Glacéhandschuhe. Von einer Französin war kaum mehr in seinem Gedächtnis
-verblieben, als daß sie einen Bleistift mit den nackten Zehen hochheben
-konnte.
-
-Für eine gewisse Ellen, eine Schauspielerin, hatte er fortwährend Villen
-und Landhäuser entwerfen müssen, mit einem Schwimmbassin, das in ein
-Palmenhaus eingebaut war. Er erinnerte sich an Ellens zarte
-Fingerspitzen, die leise bebten, wenn sie ihn berührte. Diese Ellen
-errötete leicht und sehr merkwürdig. Ihre Haut war sehr zart, und die
-Röte überflog ganz unvermittelt wie ein Gluthauch ihr Gesicht und
-bedeckte auch Hals und Nacken. Nichts sonst fiel ihm in dieser Sekunde
-von Ellen ein.
-
-Eine andere quälte ihn eifersüchtig, und ihre schwarzen Augen funkelten.
-Die Tänzerin sah er vor sich, wie sie im Varieté auftrat, abwechselnd
-kalkgrün und korallenrot beleuchtet. Ihre Züge waren ihm entfallen, aber
-er erinnerte sich, daß sie beim Souper nach dem Theater immer noch etwas
-Farbe von der Schminke um die Augenlider hatte. Das sah ungeheuer
-interessant aus.
-
-Berta mit dem pechschwarzen, schnurgeraden Scheitel hatte die Unart an
-sich, in den Restaurants unbemerkt kleine Brotkugeln nach den
-Nachbartischen zu werfen. Sie trug eine Narbe von einer
-Blinddarmoperation am Leibe, und diese silbrige Narbe sah er ganz scharf
-vor sich. Die Dame vom Varieté, die er bald verabschiedete, weil sie
-täglich größere Ansprüche stellte, liebte es, eine schwermütige Miene
-anzunehmen, während sie ihn mit ihren glasig-glänzenden braunen
-Tieraugen ansah, um dann seufzend zu lächeln und ihr herrliches Gebiß zu
-zeigen.
-
-Hier, siehst du, Schwedenklee, ist ein kleines, von schwarzen Haaren
-umflattertes Gesichtchen, das große Tränen in den schönen Augen hat. Und
-hier, Schwedenklee, da ist sie, wie hieß sie doch gleich, sie konnte so
-wunderbar lachen! Sie war eine Virtuosin im Lachen, sie steckte die
-Nachbartische an, sie gab Gastspiele im Lachen -- ach Gott, wie hieß sie
-denn? Sie ging von dir zu einem Karikaturenzeichner über, der sie dann
-hundertmal zeichnete, in allen Witzblättern war sie zu sehen. Es wird
-ihr wohl nicht schlecht ergangen sein -- wir wünschen es ihr.
-
-Und da: Hanny im Schlafwagen -- mit der kleinen blauseidenen Nachthaube
-...
-
-Schwedenklee saß und träumte. Er war so tief in Gedanken versunken, daß
-er regungslos zur Decke blickte und in der Tat mehr schlief als wachte.
-Aus seinem vollen, satten Gesicht stieg kerzengerade der Rauch der
-Zigarre.
-
-Die Gesichte glitten ineinander; ein Rücken wie aus frischgefallenem
-Schnee geformt, ein Haarschopf, der im Nacken funkelt, rasche,
-flüchtende nackte Füße, ein Knie, wie aus der Hand Rodins, zitternde
-Hände, die das Haar aufstecken ...
-
-Sonderbar! Schwedenklee sah fast keine seiner Freundinnen wieder, sobald
-er sich von ihnen getrennt hatte. Berlin verschlang sie, die Welt, das
-große Leben verschlang sie, ohne daß sie je wieder auftauchten. Sie
-verwehten wie die Blätter im Walde.
-
-Schwedenklee sitzt inmitten einer Wolke von Träumen, der Zauber
-versunkener Herrlichkeiten hat ihn gebannt. Das Leben! Gab es etwas
-Wunderbareres als dieses verwirrende, unverständliche, dreimal
-verfluchte, dreimal gepriesene Leben? Er lächelt, und sein Lächeln
-verändert sich nicht mehr. Er ist glücklich.
-
-
-
-
- 5
-
-
-»Aber Rosa?«
-
-Plötzlich sprang Schwedenklee auf und ging mit erregten Schritten in den
-gefütterten Hausschuhen hin und her. Es war schon zwei Uhr morgens. Erst
-in diesem Augenblick war ihm wieder eingefallen, aus welchem Anlaß er
-nach den verblaßten Briefen gegriffen hatte.
-
-»Aber Rosa? Wer ist diese Rosa?«
-
-Unter all den Frauen gab es ja keine Rosa weit und breit! Wer war also
-diese Rosa, von der ihm dieser Unbekannte geschrieben hatte?
-
-Geschrieben hatte --? Also hatte Augusta, die sonst wenig scharf
-beobachtete, doch recht, daß ein Brief -- irgendein sonderbarer Brief --
-die Veränderung in Schwedenklees Laune hervorgerufen hatte!
-
-»Wie kommt dieser Unglückselige überhaupt dazu, mir, einem Unbekannten,
-zu schreiben?« fuhr Schwedenklee fast drohend fort.
-
-In großer, ja förmlich unbegreiflicher, krankhafter Erregung eilte
-Schwedenklee im Zimmer auf und ab.
-
-»Wie kommt dieser Unbekannte dazu?«
-
-»Vielleicht aber hat diesen Unglückseligen der Verlust seiner Gattin um
-den Verstand gebracht -- wie?«
-
-»Rosa? Rosa? Aber, zum Satan, es gibt ja keine Rosa!«
-
-»Vielleicht habe ich sie einmal gekannt, möglich -- ganz flüchtig,
-vielleicht gab sie einen falschen Namen an -- alles ist möglich!«
-
-»Möglich, ja, natürlich! Was sollte sie dann aber bewegen, sich nach
-Jahren, in der Stunde ihres Todes, meiner zu erinnern --?«
-
-Ja, unbegreiflich, unverständlich, ganz unerklärlich!
-
-»Oder --?« Schwedenklee blieb mit einem triumphierenden Lächeln stehen.
-
-O ja! Auch das war recht gut denkbar!
-
-Vielleicht war dieser Unglückselige gar kein fassungsloser Ehemann, der
-seine Frau betrauerte? Wie? Vielleicht war er nicht mehr und nicht
-weniger als ein Schwindler, der einen Pumpversuch schlau einleitete? Ein
-Erpresser? Schwedenklee war geneigt, sich wegen seines Scharfsinns
-selbst zu bewundern. »Man braucht nur die Zeitungen zu öffnen, beim
-großen Gott, welche Sorte von Spitzbuben haust in diesem Berlin! Sie
-simulieren epileptische Anfälle in der Untergrundbahn, um die
-mitleidigen Reisenden ungestört ausplündern zu können -- sie verfallen
-auf die unmöglichsten Dinge! Ein Freund übersendet dir ein Billett zur
-Oper, du gehst hin, und unterdessen plündern sie dir die Wohnung aus.«
-
-»Nein, mein Freund, du bist an den Unrechten gekommen. So einfach ist
-die Sache mit mir nicht!« rief Schwedenklee mit überlegenem Lächeln aus.
-Aber schon klang sein Lachen wieder unsicher, schon wurde er wieder
-nachdenklich.
-
-Der _Ton_ dieser Briefe! Denn Schwedenklee hatte ja nicht einen, er
-hatte _eine Reihe_ von Briefen erhalten -- seit Wochen erhielt er
-Briefe! Und diese Briefe waren es ja, die in der letzten Zeit seinen
-Gemütszustand so sehr beeinflußten. Der _Ton_ dieser Briefe war ohne
-Zweifel -- _echt_!
-
-»Prüfen wir, überlegen wir,« rief Schwedenklee eifrig, schon etwas
-berauscht -- »weshalb diese unsinnige Beunruhigung? Wir werden, wenn es
-nicht anders geht, den Unglückseligen selbst aufsuchen. Ja, selbst, das
-wird das allerbeste sein!«
-
-In dieser Minute war Schwedenklee außergewöhnlich mutig und
-entschlossen. Er kam sich in seiner Entschlossenheit fast verwegen vor
--- beinahe wie Don Juan, der mitten in der Nacht im Friedhof das
-Standbild des Comturs zu Tische lädt.
-
-»Gehen wir der Sache auf den Grund!«
-
-Aus einem Winkel der Bibliothek zog er einen Stoß Briefe hervor.
-
-Fast überkam ihn wieder Kleinmut. Wozu schließlich? Was kümmerte ihn das
-Schicksal dieses Unbekannten?
-
-Schwedenklee hatte diese Briefe nie richtig gelesen -- nur durchflogen,
-unwillig, ungehalten -- und doch im Tiefsten, ohne ersichtlichen Grund!
-erschrocken. Drohung des Schicksals ging von diesen Blättern aus und
-dumpfe Traurigkeit. Sie rochen nach welken Kränzen, und diesen Geruch
-hatte er noch deutlich in der Erinnerung von der Beerdigung des alten
-Schwedenklee her. Er haßte diesen Geruch von Moder, er haßte diese
-Kränze in den Blumengeschäften, mit den Aufschriften in bleicher
-Silberschrift auf den schwarzen Seidenbändern. Er schloß sogar die
-Augen, wenn er an einem jener Geschäfte mit den häßlichen plumpen Särgen
-vorbeiging, deren öffentliche Ausstellung die Polizei, die sich sonst in
-alles mischt, verbieten sollte. Diese Särge waren in der Tat solch
-unglaubliche Monstrositäten, daß Schwedenklee sich einmal die Mühe
-genommen hatte, einige Särge zu entwerfen, die nobel und würdig
-aussahen, wie sie eigentlich sein sollten. Er haßte wie gesagt alles,
-was mit dem Tode und den Zeremonien der Bestattung zusammenhing. Vor
-zwei Jahren war einer der Kartenspieler gestorben, der Doktor Helm, ein
-Landgerichtsrat, ein sympathischer Mann -- einige der Spieler waren zur
-Beerdigung gegangen, aber Schwedenklee hatte sich wohl gehütet.
-
-Er liebte es nicht, an den Tod zu denken, nein, ganz im Gegenteil, diese
-Gedanken haßte er! Manchmal erwachte er mitten in der Nacht und mußte
-daran denken, daß auch er einmal sterben mußte! Diese entsetzliche
-Stunde wird kommen, so sicher wie etwas -- er sah sich liegen, er
-röchelte noch, eine Pflegerin stand am Bett mit einer Kompresse. Oh, es
-konnte auch ganz anders sein! Zum Beispiel, ein Autobus konnte ihn auf
-der Potsdamer Straße zermalmen. Diese Gedanken folterten ihn zuweilen
-derart, daß er Licht machen mußte. Und doch, die Menschen lebten dahin,
-lachten, rauchten Zigarren, spielten Billard, tanzten -- unbegreiflich!
-
-Aus all diesen Gründen machte er sich hart und gefühllos gegen das
-Geschick dieses Unglücklichen, den der Schmerz gezwungen hatte, an ihn,
-Schwedenklee, zu schreiben.
-
-»Nun wohl«, sagte Schwedenklee und setzte sich, ergeben in sein
-Schicksal, zurecht. »Dieser hier, ohne Trauerrand, war der erste!«
-
-Schwedenklee holte tief Atem.
-
-»Mein Herr!« Schon diese fahrige Schrift, diese Gespenster von
-Buchstaben! »Ich fühle mich gedrängt, Ihnen mitzuteilen, daß eine Frau,
-die wir beide geliebt haben -- heute abend nach langem Krankenlager zur
-ewigen Ruhe heimgegangen ist. Das edelste Frauenherz hat aufgehört zu
-schlagen. Rosa hielt ein Leben lang die Freundschaft, die sie einst mit
-Ihnen verband, hoch in Ehren. Es wird Ihnen gewiß ein Bedürfnis sein,
-der edlen Verblichenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Beisetzung
-findet am Freitag, den 21., statt ... In tiefstem Schmerz -- Edgar
-Blank, ehemaliger Hofopernsänger.«
-
-Schwedenklee las den Brief mit fast der gleichen Verwunderung,
-Verblüffung, dem gleichen leisen Grauen, wie vor Wochen, da er ihn
-erhalten hatte. In einer Art von leichter Lähmung hielt ihn der Sessel
-fest.
-
-Was sagt man dazu? Er war natürlich nicht zur Beerdigung gegangen, wie
-sollte es ihm in den Sinn kommen -- eine ihm völlig Unbekannte! Als er
-seinen Vater begraben hatte, hatte er sich geschworen, nie mehr einer
-solchen Zeremonie beizuwohnen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
-Unvergeßlich war ihm dieser schreckliche Vormittag. Der alte
-Schwedenklee ließ sich verbrennen. Im Krematorium warteten schon mehrere
-Parteien, und Schwedenklee geriet, noch heute empfand er die
-Peinlichkeit, zuerst in eine falsche Gruppe von Seidenhüten. Alle hatten
-Eile. Dann sank der Sarg in die Versenkung. Der alte Schwedenklee hatte
-noch im Alter den typischen Kopf eines Maurers gehabt, mit etwas zu
-langem Schnurrbart, etwas abstehenden Ohren und verwittertem Gesicht.
-Als der Sarg sank, verwandelte sich, so schien es Schwedenklee, der
-ganze Sarg in den Kopf des Vaters. Schwedenklee jagte voller Schrecken
-nach Hause, und noch heute sah er, wie der langsam sinkende Sarg sich in
-den Kopf des Vaters verwandelte, noch heute hörte er das fürchterliche
-kalte Klirren der sich schließenden Eisenplatten.
-
-Der zweite Brief des Unglücklichen schilderte ausführlich die Beerdigung
-der Unbekannten. »Wir haben heute Rosa zu Grabe getragen. Sie sind nicht
-gekommen! Es hätte die Tote geehrt. Aber vielleicht sind Sie gar nicht
-in Berlin. Vielleicht hat mein erster Brief Sie überhaupt nicht
-erreicht! Wir waren nur zwei im Trauergefolge, von den Trägern
-abgesehen. Ein jämmerliches Trauergefolge -- und doch jubelten Rosa
-früher auf der Bühne Tausende zu -- vergessen und einsam ging sie zur
-Ruhe, und selbst Sie, den sie ihren Freund nannte, sind nicht gekommen
-...«
-
-Diesen Brief hatte Schwedenklee vor Wochen, als er ihn empfing, entsetzt
-zur Seite gelegt, ohne ihn zu Ende zu lesen. Der Briefschreiber verlor
-sich selbstquälerisch in all die traurigen Einzelheiten: der Regen, der
-Schmutz, die Grabsteine, der Trott der Sargträger, das lehmige Grab --.
-
-»-- ich schäme mich nicht, Ihnen zu bekennen, daß mich der Schmerz
-übermannte, als der Sarg hinabglitt. Ich schrie und fiel zu Boden ...«
-
-Schwedenklee war erbleicht und wischte sich die Stirn ab. Er ging auf
-und ab in seinen weichen Schuhen und suchte Beruhigung bei einer neuen
-Zigarre. Man durfte nicht vergessen, daß ein Unglücklicher diesen Brief
-schrieb!
-
-Aber Rosa? Ja, bei Gott, wer sollte --?
-
-Vielleicht war es ein Mißverständnis, eine Verwechselung --? Aber nein,
-nein, in einem der Briefe schrieb der Unglückliche, daß Rosa mit
-Schwedenklee in dem und dem Jahre in Paris zusammengetroffen sei. Er,
-Schwedenklee, habe damals im Hotel Panthéon gewohnt. Alles stimmte.
-
-In einem der zuletzt eingetroffenen Briefe drückte der Unbekannte seine
-Verwunderung darüber aus, daß Schwedenklee sich in Stillschweigen hülle.
-»Ich habe mir in meinem letzten Brief«, schrieb er, »die Freiheit
-genommen, anzudeuten, daß ich glücklich wäre -- so weit ich es in dieser
-Zeit sein kann -- wenn ich Sie aufsuchen dürfte. Ich habe zwei Wochen
-vergebens gewartet. Sie zögern, aus welchem Grund? Ich weiß, daß Sie in
-Berlin sind. Vielleicht erscheine ich aufdringlich. Befürchten Sie
-nichts. Ich befinde mich in tiefer Not, ich bin ein Bettler, aber nichts
-läge mir ferner, als Rosas freundschaftliche Beziehung zu Ihnen zu
-beflecken. Was ich wünsche, ist, einen Menschen zu sprechen, der Rosa
-kannte, den Rosa liebte -- ich wiederhole: liebte!«
-
-Schwedenklee schüttelte den Kopf. Immer wirrer, dunkler schien das
-Labyrinth. Ein Unglücklicher wollte sich in seinem Schmerze an ihm
-aufrichten!
-
-Den Rosa liebte --? War es möglich, daß eine der vielen, die durch sein
-Leben gegangen waren, noch nach zwanzig Jahren seiner gedachte? Daß eine
-der vielen, die er »in der nötigen Distanz hielt«, für ihn eine
-wirkliche Liebe empfunden haben sollte?
-
-»Ich werde ihn besuchen«, beschloß Schwedenklee mit feierlichem Ernst.
-»Morgen -- und wenn es morgen nicht geht, spätestens übermorgen.« Er war
-plötzlich von schwerer Müdigkeit überwältigt worden. Der Wein, die
-Zigarren ...
-
-Fast augenblicklich schlief Schwedenklee hinter den hellgrünen
-Seidenvorhängen ein.
-
-
-
-
- 6
-
-
-Schwedenklee hatte in dieser Nacht verworrene, aber angenehme Träume:
-Fremde, phantastische Landschaften, transparente Wälder, glühende Meere,
-fremde, bezaubernd schöne Städte, unwirklich, wie aus Alabaster
-geschnitten, sonderbare Begegnungen, seltsame Abenteuer, Frauen,
-bekannte und fremde, eigenartig, aber alle in Tun und Gefühl nach ihm,
-Schwedenklee, strebend. Er war umdrängt von Zuneigung, von Bewunderung,
-von Liebe, es war ein großer und einziger Reichtum, man verschwendete
-sich an ihn. Er genoß diese Bevorzugung, sie schien ihm
-selbstverständlich, und gerade der Umstand, daß sie selbstverständlich
-schien, erfüllte seine Seele mit Ruhe und Heiterkeit.
-
-Trotz der angenehmen Träume erwachte Schwedenklee spät am Morgen in
-gereizter Laune und mit schmerzenden Schläfen. Er nahm sein Bad, und von
-der Badewanne aus gab er das dreimalige Klingelzeichen zum Frühstück, so
-scharf und hart, daß Augusta genau wußte, woran sie war. In grau- und
-weißgestreiftem seidenen Pyjama betrat Schwedenklee das Speisezimmer.
-Beschwörend hatte Augusta den Frühstückstisch gedeckt: Lachs und
-Appetitsild, Oliven und gekochte Eier.
-
-Schwedenklee näherte sich dem Tisch mit gerunzelten Brauen. Ein Brief!
-Wieder ein Brief mit den Gespensterbuchstaben! Mit zitternder Hand nahm
-ihn Schwedenklee auf.
-
-»Sie verschmähen es, mir zu antworten. Sie ahnen wohl kaum, daß ich
-Ihnen unter Umständen Mitteilungen machen könnte, die für Sie von
-Wichtigkeit wären. Ich werde mir die Freiheit nehmen, bei Ihnen
-anzurufen, und hoffe, daß Sie einer Begegnung nicht länger ausweichen.«
-
-Schwedenklee war an diesem Morgen schonungsbedürftig. Er hatte in der
-Nacht eine Flasche schweren Bordeaux getrunken -- hingerissen von den
-Erinnerungen, er hatte ein halbes Dutzend Zigarren geraucht. Er war
-übernächtig, abgespannt, und seine Schläfe schmerzten.
-
-Ohne zu denken, ohne die Herrlichkeiten des Frühstückstisches zu
-beachten: Lachs, Appetitsild, Oliven, stürzte er an den Schreibtisch und
-schrieb mit wütender Hand, ihn endlich gefälligst mit diesen sinnlosen
-Zuschriften verschonen zu wollen. »Sie mögen der Ansicht sein, daß Sie
-mir wichtige Mitteilungen zu machen haben, behalten Sie diese
-Mitteilungen für sich, ich lege nicht den geringsten Wert darauf.«
-
-Fort, Rohrpost -- augenblicklich!
-
-Augusta zitterte, sie hatte ihren Gebieter nie mit solch zornrotem
-Gesicht gesehen.
-
-»Das überschreitet doch alle Grenzen!« schrie Schwedenklee wütend.
-
-»Welche unverschämte Zudringlichkeit! Besuchen, habe ich gesagt, ich
-will ihn besuchen? -- Aber ich bin doch kein Narr!«
-
-Nun, nachdem er seinem Herzen Luft gemacht hatte, schmeckten all die
-Leckerbissen des Frühstückstisches plötzlich wunderbar. Der Ärger
-verflog, und Schwedenklee vertiefte sich in die Zeitung.
-
-Sein Unmut verrauchte vollends. Der Ausbruch von Raserei kam ihm nun
-selbst lächerlich vor. Als er das Frühstückszimmer verließ, hatte er
-sich soweit wiedergefunden, daß es ihn befriedigte, den zudringlichen
-Brief noch einmal in die Hand zu nehmen. Offenbar hatte der Unbekannte
-dieses letzte Schreiben in der größten Erregung hingeworfen. Die
-Buchstaben waren kaum zu entziffern. Mit einem verächtlichen Lächeln riß
-Schwedenklee den Brief mitten durch -- die Antwort würde ihre Wirkung
-nicht verfehlen, er hätte schon lange Schluß machen sollen.
-
-Zu seinem Erstaunen entdeckte er aber plötzlich auf der Rückseite des
-Briefbogens eine Nachschrift!
-
-»Ihr mir so unverständliches Verhalten, Ihre unbegreifliche
-Gleichgültigkeit kann ich mir nur so erklären, daß Sie sich offenbar
-nicht mehr entsinnen, wer Rosa ist -- oder leider -- war, dieser Gedanke
-zuckt eben durch mein _krankes_ Gehirn! Rosa, meine geliebte Frau, die
-ich, selbst dem Tode nahe, betrauere, war eine geborene Rosa Ellen
-Fröhlich, ihr Bühnenname lautete Rosa Froh.«
-
- * * * * *
-
-Eine leise Lähmung befiel die Hand, die den Brief hielt. »Ellen
-Fröhlich!« sagte Schwedenklee leise. »Dieses reizende Geschöpf! Sie also
-...«
-
-Ein leises flüchtiges Bedauern, andere Empfindungen der Trauer löste
-diese Mitteilung nicht aus. Diese lebenslustige Frau, für die er Villen
-und das berühmte Schwimmbassin entwerfen mußte! Sie, die so sonderbar
-rasch errötete, die Röte überzog sogar den Nacken -- diese Arme, sie
-schien nicht glücklich geworden zu sein ...
-
-Und er, dieser Törichte, der sein Gehirn selbst ein _krankes_ Gehirn
-nannte, hätte er ihm nicht schon früher sagen können, wer sich hinter
-dieser Frau Rosa Blank versteckte?
-
-Schwedenklee fühlte sich ordentlich erleichtert. Die Ungewißheit, das
-Grübeln wider Willen hatten ihn gemartert. Was hatte er weiter mit der
-ganzen Sache zu schaffen? Er hatte vier Wochen lang, oder vielleicht
-sechs, eine Liebschaft mit dieser Frau gehabt, eine kleine reizende
-Liebelei, vor achtzehn, zwanzig Jahren -- damals in Paris -- das war
-alles.
-
-Er instruierte Augusta, daß heute vormittag ein gewisser Herr Blank
-anrufen werde. Sie möge sagen, er sei auf unbestimmte Zeit verreist.
-
-In bester Laune kleidete er sich an, um auszugehen. Seit langen Tagen
-kam endlich die Sonne wieder durch.
-
-Schwedenklee war gerade mit der Toilette fertig, als das Telephon
-klingelte.
-
-Er öffnete die Türe und hörte Augusta mit weinerlicher Stimme einigemal
-wiederholen, daß der Herr Oberbaurat verreist sei. Offenbar gab sich
-Blank mit dieser Auskunft nicht zufrieden.
-
-Augusta geriet in große Erregung. »Unverschämte Leute gibt es schon!«
-rief sie aus, als sie abgehängt hatte.
-
-»So und damit ist die Sache erledigt«, dachte Schwedenklee und begab
-sich in ausgezeichneter Laune zu seinem Schneider in der
-Charlottenstraße.
-
-Bei diesem Schneider in der Charlottenstraße -- einer großen Firma --
-war eine junge Dame, ein Fräulein Wiedehopf, als Buchhalterin tätig. Die
-dicken, glänzend braunen Flechten turmartig über dem heiteren, offenen
-Gesicht aufgebaut, die Fingernägel glänzend poliert, duftend nach
-Frische, wie aus dem Ei geschält, ohne das kleinste Staubkörnchen -- auf
-diese junge Dame hatte Schwedenklee seit einiger Zeit ein Auge geworfen.
-
-»Ich lebe zu stumpfsinnig«, sagte er zu sich, als er dahinschlenderte.
-»Immer das ewige Kaffeehaus. Dieses Leben bekommt dir nicht,
-Schwedenklee. Wir werden diese kleine Wiedehopf heute abend zu >Figaros
-Hochzeit< einladen.«
-
-Unterwegs löste er Karten zur Oper, und obwohl die Schar der Verkäufer
-und Zuschneider diesen weiblichen Schatz mit eifersüchtigen Blicken
-bewachte, hatte er Fräulein Wiedehopf, ohne daß es irgendwie auffiel,
-beim Hinausgehen zu >Figaros Hochzeit< eingeladen. Man mußte es nur
-verstehen.
-
-
-
-
- 7
-
-
-Eine ganze Woche blieb Schwedenklee dem Kaffeehause fern. Theater,
-Ballhäuser, Bars, sogar in ein Kino führte er die junge Dame mit den
-turmartig aufgebauten Haaren und den glänzenden Fingernägeln.
-
-Diese kleine Wiedehopf war verlobt, nahezu verlobt, der Auserwählte war
-zur Zeit auf Reisen -- wie oft hatte er das schon gehört! Sie spielte
-die Dame, ließ sich verwöhnen, lockte an, wehrte ab -- sie tat, bei
-Gott, wie eine Generalstochter ...
-
-Als Schwedenklee nach so langer Abwesenheit wieder das Kaffeehaus
-aufsuchte, fand er die Spielergesellschaft von einer neuen Spielwut
-besessen wieder. Man hatte die Karten verlassen und war zum Billard
-übergegangen.
-
-Man spielte »vom roten«. Jeder Billardspieler kennt dieses Spiel. Die
-Karambolage wird nur dann gezählt, wenn der rote Ball zuerst getroffen
-wurde. Es spielten drei bis vier der besten Spieler, und auf sie wurde
-gesetzt wie auf Pferde.
-
-Die Ärzte, die Rechtsanwälte, die Kaufleute, Spieler und Kiebitze,
-Kellner saßen und standen in dichten Reihen um das Matchbillard herum,
-in atemloser Spannung jeden Stoß verfolgend.
-
-Schwedenklee wurde freudig begrüßt.
-
-»Wie gut Sie aussehen, Schwedenklee!« rief der Nervenarzt Wittmann. »Sie
-waren also doch verreist!«
-
-»Nein, ich war hier, habe gearbeitet und abends ein bißchen
-Zerstreuung.«
-
-»Sie haben Ihr altes Aussehen wiederbekommen, prächtig!«
-
-»Ah, der Herr Oberbaurat. Nun wird es interessant! Kellner, das Queue
-des Herrn Oberbaurat!«
-
-Sofort stiegen die Einsätze ums Dreifache.
-
-Einige Abende hintereinander spielte Schwedenklee hier vier, fünf
-Stunden »vom roten«. Es wurden hohe Summen umgesetzt. Seine Kopfstöße,
-Rückzieher, Zwei- und Dreibänder riefen lautes Händeklatschen hervor.
-
-Schwedenklee war bei bester Laune. Selbst das graue kreidige Antlitz des
-alternden Künstlers, der nun häufiger ins Café kam, störte ihn in seinem
-jetzigen Gemütszustande nicht mehr. Er genoß den Triumph. Nach dem
-dritten Abend ließ er seinen schwarzseidenen weitärmeligen Billardkittel
-von Augusta ins Kaffeehaus bringen, und nun konnte man fast meinen, es
-mit einem Billardchampion zu tun zu haben. Er mußte seinen Gegnern
-zuerst zwei Points auf zehn vorgeben, sodann drei. Je länger er spielte,
-desto vollendeter wurde sein Spiel.
-
-»Schwedenklee ist in großer Form!« Man tuschelte.
-
-Es war Schwedenklee äußerst angenehm, für einige Abende Zerstreuung
-gefunden zu haben: es war gewiß das beste Mittel, den Hochmut der
-kleinen Wiedehopf zu beugen, wenn er eine Woche lang nichts von sich
-hören ließ. Diese Methode nannte er die Methode des »Aushungerns«, im
-Gegensatz zur Methode der »Belagerung«, die darin besteht,
-ununterbrochen um die geliebte Frau zu werben, so daß sie -- wie
-Schwedenklee sich ausdrückte -- überhaupt »nicht mehr zur Besinnung
-kam«.
-
-In der Tat, die Methode des Aushungerns schien Erfolg zu versprechen.
-Fräulein Wiedehopf wurde mürbe, schrieb ein violettes Kärtchen: Weshalb
-hört man nichts mehr von Ihnen? Sind Sie verstimmt?
-
-O nein, nein, gar nicht verstimmt, gnädiges Fräulein Wiedehopf. Ganz im
-Gegenteil! In vorzüglicher -- ich wiederhole: vorzüglicher Laune.
-
-Zwei Tage beantwortete Schwedenklee das Billett gar nicht. Dann schrieb
-er einige höfliche Zeilen: gesellschaftliche Verpflichtungen -- in
-einigen Tagen aber würde er wieder zur Verfügung sein.
-
-»Sonderbare Wesen sind doch diese Frauen!« dachte Schwedenklee, als er
-nach dem Billardspiel nach Hause ging und den gleißenden Vollmond über
-den Dächern betrachtete. »Zeigt man ihnen seine Verliebtheit, so neigen
-sie augenblicklich dazu, ihre Macht zu mißbrauchen, zeigt man
-Zurückhaltung, so lassen sie sofort wieder alle ihre Künste spielen.
-Merken sie, daß man sich zurückziehen will, so entdecken sie plötzlich
-ihre große Liebe. Ja, wie soll man sich bei ihnen zurechtfinden?«
-
-»Heiratet man sie, so ist man vollkommen verloren! Sieh dich doch um,
-Schwedenklee -- die Ehen all deiner Bekannten und Freunde, mit ganz
-vereinzelten Ausnahmen? Gleichgültigkeit, Untreue, Kampf bis aufs
-Messer, Lüge.
-
-Ja, wie soll man es anstellen? Etwas ist hier sicher nicht in Ordnung,
-das Leben ist zu kompliziert.«
-
-Es war gegen Abend etwas Schnee gefallen -- der Vollmond brachte die
-Kälte mit -- Schwedenklee steckte das rasierte Kinn wohlig in den
-Pelzkragen, während er langsam zwischen den hohen Bäumen am Kanal
-dahinschlenderte. Die Straße war fast menschenleer, nur hinter ihm, in
-einiger Entfernung, kroch eine hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die
-zuweilen scharf hüstelte. Die dünne Schneeschicht war an den Sohlen der
-Passanten haften geblieben, so daß eine Anzahl geisterhafter schwarzer
-Fußspuren kreuz und quer über die Straße lief, aus dem Unbekannten
-kommend, ins Unbekannte verschwindend, verwirrend, wenn man sie lange
-betrachtete.
-
-Plötzlich blies ein kalter Hauch in Schwedenklees Genick, ja, so schien
-es ihm wenigstens. Er blieb erschrocken stehen und fröstelte. Kalte
-Schauer überrieselten seinen Rücken. Weshalb mußte er gerade in diesem
-Augenblick an die tote Ellen Fröhlich denken? Und weshalb hatte die
-Erinnerung an diese Frau den Beigeschmack einer leisen, unerklärlichen
-Scham?
-
-Unergründlich ist das Leben, und auch sein Herz, Schwedenklees Herz, war
-ein unerforschtes Labyrinth. Weshalb? Weil die Fußspuren schwarz kreuz
-und quer liefen? Ja, nur aus diesem Grunde! In Paris fällt selten Schnee
--- aber einmal hatte er Ellen abends nach Hause gebracht, und durch ihre
-verschneite einsame Straße liefen genau dieselben schwarzen verwirrenden
-Fußstapfen. Er sah sie in dieser Sekunde, zierlich, in ihren weiten
-Mantel eingehüllt, klar vor sich, Schneekristalle glitzerten auf ihren
-Haaren, und aus dem dunklen Gesicht glänzten heiter und lebensfreudig
-die Augen. Fast zwanzig Jahre lang hatte diese Erinnerung in seinem
-Kopfe geschlummert.
-
-Fragend, lauschend waren diese Augen gewesen, sie waren bernsteingelb,
-wenn das Licht voll in sie fiel, dunkel, fast schwarz, wenn sie
-beschattet waren -- Schwedenklee gab sich mit einer gewissen Wehmut der
-Erinnerung hin, obgleich ihn dieses unerklärliche Schamgefühl im
-Innersten peinigte. Er hatte sich jedoch nichts vorzuwerfen, o nein, er
-erinnerte sich sogar, daß er ihr später zwei- oder dreimal noch geholfen
-hatte, als sie sich an ihn wandte. Sie war damals Anfängerin und hatte
-noch zu kämpfen.
-
-Plötzlich kroch eisige Kälte an ihm empor. Vielleicht -- wer weiß es --
-schritt ihr Geist in der Tat neben ihm? Schwedenklee war sehr
-abergläubisch.
-
-»Ellen Fröhlich!« sagte er leise zu sich, etwas betreten. »Ich habe
-keine Furcht, an dich zu denken!«
-
-Klar bis in die kleinsten und unscheinbarsten Einzelheiten stand vor ihm
-die erste Begegnung mit Ellen. Er sitzt an einem kleinen Marmortisch auf
-den großen Boulevards, zwei Damen, Mädchen, nehmen neben ihm Platz. Sie
-sprechen deutsch, sie sprechen ungeniert und vergessen ganz oder wissen
-es nicht, daß auf den großen Boulevards in Paris jeder vierte Mensch
-deutsch versteht. Ihre Ungezwungenheit entzückt Schwedenklee: die jungen
-Damen sprechen mit einer gewissen Kühnheit von unschuldigen
-Liebesabenteuern. Eine hat wunderbar warme und weiche Augen, die
-offenbar die Farben wechseln, von hell zu dunkel leuchten. Zuweilen
-streifen diese fragenden Augen, lächelnd, voller Übermut, Schwedenklees
-absichtlich kühl beobachtenden Blicke. Das ist Ellen Fröhlich! Die
-Freundin ist eine Schwedin, eine Bildhauerin.
-
-Die jungen Damen gehen. Sie wandern zu Fuß durch die wimmelnden Straßen
-bis zum Boulevard Raspail. Die Schwedin verabschiedet sich von der
-Freundin, die in ein kleines Hotel verschwindet. Es ist sieben Uhr. Als
-sie um neun Uhr das Hotel wieder verläßt -- wer tritt ihr in den Weg?
-Schwedenklee.
-
-»Ein Landsmann, der das Vergnügen hatte, Ihr Gespräch heute nachmittag
-im Café zu belauschen, bittet tausendmal um Entschuldigung --«
-
-Ihr Blick gesteht, daß sie ihn wiedererkennt. Sie ist verwirrt. Er habe
-also alles gehört? Ja. Sie bricht in Lachen aus.
-
-»Aber,« sagt sie -- »wie kommt es, daß Sie hier sind?«
-
-»Ich wartete auf Sie!«
-
-»Es ist nicht schön von Ihnen, so etwas zu sagen, selbst wenn Sie es
-getan haben sollten. Sie hätten sagen sollen: zufällig!«
-
-»Gut -- also zufällig!«
-
-Schwedenklee war ja nicht zwei Stunden auf und ab gegangen, so war es
-nicht gerade. Gegenüber lag eine kleine Speisewirtschaft, und hier aß er
-zu Abend; dann trank er Kaffee, und gerade als er gezahlt hatte, war sie
-wieder aus dem Hotel getreten.
-
-Jedenfalls aber -- sie verzieh -- sie hatte nichts vor, und er brachte
-sie in ein Tanzlokal, das er als äußerst anständig kannte.
-
-Museen, Ausstellungen, Ausflüge, Tanzlokale -- wie Ellen Fröhlich genoß!
-Sie saugte die Eindrücke in sich, sie staunte, wunderte sich,
-bewunderte. Ellen sprühte auf, berauscht, verwandelt, verhundertfacht.
-
-Und Schwedenklee, obgleich weniger schwärmerisch, lebt und atmet
-leichter und heiterer in ihrer Nähe.
-
-Ja, es war die Jugend, nichts sonst. Die Sonne schien, man fuhr auf dem
-Dach des Omnibusses, unvergleichlich, herrlich, als sei man nie auf dem
-Omnibus im Sonnenschein gefahren.
-
-»Die Jugend, nichts anderes!« dachte Schwedenklee. »Wie herrlich! Ein
-Zauber! Ist die Jugend ein Zauber?«
-
-Ein Ausflug nach St. Cloud. Vorfrühling. Das erste Grün, einige
-versteckte Blümchen, die Knospen glänzen, die schwarzen Baumstämme
-schwitzen Feuchtigkeit. Rasch schnellen die hohen Wasser der Seine
-dahin. Auf dem Dampfer einige Pärchen -- er und Ellen unter ihnen, zu
-den »Pärchen« gehören sie! Ein junger Geck mit einem dünnen
-Spazierstöckchen amüsiert sämtliche Passagiere. Ellen klemmt zu ihrem
-Vergnügen ein Monokel ins Auge, der junge Geck macht ihr den Hof, und
-Ellen mustert ihn durchs Monokel und spielt etwas Theater. Wie sie
-lachten, die »Pärchen«. Ja, worüber lachten sie so furchtbar? Und damals
-gehörten sie zu den »Pärchen« und waren jung wie die anderen.
-
-Der frische Wind hat ihre Gesichter gerötet, die reine Luft hat den
-Glanz in ihren Augen entfacht. Ihre Stimmen sind klar und laut geworden.
-Ellen wirbelt und tanzt. Sie kriecht in die triefenden Büsche und findet
-unter dem faulenden Laub Veilchen und gelbe Sternblumen. Sie steht auf
-einem Stein und spricht voller Inbrunst ein paar wundervolle Verse, die
-er vergessen hat. Sie essen zu Abend in einer kleinen Wirtschaft mit
-fleckigen Tischtüchern und feuchter Tapete. Der Kellner bringt eine
-verstaubte Macon in einem Körbchen.
-
-Sie plaudern. Ellens schöner frischer Mund steht nicht eine Sekunde
-still. Sie lachen den ganzen Abend. Worüber? Wie herrlich war dieser
-Tag, wie lang! War es nicht sonderbar, die Tage der Jugend schienen so
-lang, sie nahmen kein Ende. Was war heute ein Tag? Nichts. Kaum hatte er
-begonnen, war er schon zu Ende.
-
-»Es ist die Jugend, nichts anderes! Es gibt keine andere Erklärung
-dafür«, rief Schwedenklee aus. »Sie verleiht dem Unscheinbarsten einen
-zauberhaften Glanz. Ja, wie lang war dieser Tag doch. Reich an
-Erlebnissen, an guten Einfällen, an schönen Gefühlen. Und Ellen mit dem
-Monokel auf dem Dampfer! Ja, die Jugend! Und das da, was dahinten keift
-und hustet« -- Schwedenklee drehte sich um, empört, daß man ihn in
-seiner Träumerei störte -- »das ist das Alter! Das häßliche Alter!«
-
-Die hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die den ganzen Weg hinter ihm
-herkroch, stand wenige Schritte hinter ihm, mit der Hand an einen Baum
-gestützt, geschüttelt von einem Hustenanfall.
-
-»Das abscheuliche Alter! In zwanzig Jahren wirst du auch so häßlich
-husten, und die Jüngeren, die nicht gestört werden wollen, werden dich
-verfluchen. Oh, wie boshaft und grausam ist dieses Leben eingerichtet!«
-
-Aber Schwedenklee schüttelte die düsteren Gedanken ab. Ellen! Wo waren
-wir doch gleich geblieben?
-
-Ellen klagte über ihr Hotel. Schwedenklee, befreundet mit dem Pförtner,
-Kellner und der Besitzerin seines Hotels, arrangierte alles aufs
-vorzüglichste. Er trat Ellen sein großes bequemes Zimmer ab und bezog
-eine kleine danebenliegende Kammer. Ellen staunte, wie billig ihr
-schönes Zimmer war! Ja, man mußte nur Freunde und Beziehungen haben!
-
-»Wir werden Ihren Einzug feiern, Ellen, und heute abend zu Hause
-speisen. Sie sollen sehen. Lassen Sie mich nur machen.«
-
-Schwedenklee besorgt den ganzen Nachmittag lang alles, was Paris an
-leckeren Dingen zu bieten vermag. Geröstete Hähnchen und Hummer,
-Vorspeisen und Nachtisch, Früchte. Auch Blumen vergißt er nicht.
-
-»Muß man in Abendtoilette kommen?«
-
-»Es wird gebeten, Ellen!«
-
-Von sieben bis acht ist Schwedenklee fieberhaft tätig. Punkt acht Uhr
-klopft Ellen -- herein! Ellen ist im Abendkleid, er im Frack -- und
-schon lachen sie, daß sie kaum die Tür zu schließen vermögen.
-
-Der Hausknecht, der im Kamin nachlegte -- Ellen sollte es recht
-behaglich haben -- wird von der Heiterkeit mit fortgerissen. Der
-Kellner, der den Wein angeschleppt bringt, wird ebenfalls angesteckt,
-und so lachen sie alle -- weshalb? Gott allein weiß es.
-
-Ellen steht und staunt: »Jetzt sehe ich, daß Sie ein Künstler sind,
-Schwedenklee!« ruft sie aus. »Mein Gott, wir sind ja Hunderte von
-Personen!«
-
-»Sie sind in großer Gesellschaft, Ellen!«
-
-Dank Schwedenklees Freundschaft mit dem Pförtner und Hausknecht war es
-ihm möglich gewesen, einige große Spiegel und Leuchter aus anderen
-Zimmern des Hotels auszuleihen für den Abend. Die Kerzen blendeten, und
-infolge der Spiegelung glaubte man in einem langen, sonderbar gebauten
-Saale voller Lichter und Blumen zu sein. Schwedenklee führte seine Dame
-zum Sessel -- und im gleichen Augenblick geleiteten Dutzende von
-befrackten Kavalieren ihre Dame in heller Seide zu Tisch. Er sah Ellen
-gleichzeitig von allen Seiten, und nie kam ihr herrlicher schmaler
-Nacken mit dem braunroten Haarknoten reizvoller zur Geltung ... Ellens
-Augen richteten sich blitzend im Schein der Kerzen auf ihn, und
-augenblicklich funkelten Dutzende von gleichen Augen von allen Seiten
-ihm entgegen.
-
-»Das Diner kann beginnen, Ellen -- aber ich habe vergessen« -- und er
-erhebt sich und küßt Ellen auf den Mund.
-
-»Willkommen!«
-
-Sie errötet. Auch ihr Busen wird behaucht von flüchtigem Rot.
-
-»Das Diner kann beginnen«, wiederholt sie mit einem verwirrten Lächeln,
-mit etwas matter Stimme.
-
- * * * * *
-
-Schwedenklee war bei seinem Hause angelangt. Automatisch stieg er die
-Treppe empor, automatisch schloß er auf.
-
-So tief war er in die Erinnerung dieses Diners versunken, daß die Kerzen
-ihn in der Tat blendeten und Ellens zarter wunderbarer Nacken aus all
-den blitzenden und flammenden Spiegeln ihm entgegenleuchtete.
-
-»Und zu denken, daß ich zwanzig Jahre lang nicht an diesen Abend
-dachte!« sagte er seufzend, als er in das kalte finstere Haus trat, und
-begann zu pfeifen, um seine melancholische Anwandlung zu überwinden.
-
-In diesem Augenblick glaubte er das hastige, ungeduldige Scharren eines
-raschen Schrittes draußen auf der Treppe zu vernehmen. Irgend jemand,
-der die Gelegenheit benutzen wollte, ins Haus zu kommen.
-
-Aber auch das ist nicht völlig sicher. Jedenfalls wußte Schwedenklee nie
-zu erklären, was in dieser Sekunde vorgegangen war. Hatte er diesen
-hastig scharrenden Schritt gehört oder nicht? Es schien ihm später, als
-ob er in der Tat gar nichts gehört habe, aber ein gänzlich
-unverständlicher, ja mysteriöser Zwang ihn veranlaßt habe, das Haustor
-nochmals zu öffnen.
-
-Jedenfalls, Schwedenklee ging, ohne viel zu denken, zur Türe, öffnete
-sie ...
-
-Kaum aber hatte Schwedenklee das Tor geöffnet, da erschrak er so heftig,
-daß er zurückprallte und am ganzen Körper entlang einen Schlag
-verspürte, wie von einem schweren Eisenstab. Später erinnerte er sich
-deutlich, daß sich ihm die Haare im Nacken gesträubt hatten, eine
-Erscheinung, die er bisher nur für eine leere Redensart gehalten hatte.
-
-Dicht vor ihm war ein Gesicht erschienen, eine gespenstische
-Erscheinung, etwas größer als er, die offenbar in diesem Augenblick
-ausholte, um zu pochen. Gerade diese Geste hatte etwas ungeheuer
-Drohendes und Erschreckendes an sich gehabt.
-
-Die Erscheinung prallte ebenfalls erschrocken zurück und tastete sich
-hastig rückwärts die Stufen hinab. Das unter einem weichen, flachen
-Filzhut verborgene Gesicht der Erscheinung glitt durch den Lichtschein
-der Straßenlaterne, und in diesem Augenblick erkannte Schwedenklee das
-Gesicht: es war das bleiche, vergrämte Antlitz jenes alternden,
-verbrauchten Künstlers, das ihm zuweilen unangenehm und störend im
-Billardsaal des Cafés aufgefallen war.
-
-Am Fuße der Treppe blieb die hagere, etwas zusammengekrümmte Gestalt
-stehen und griff hastig nach dem flachen Hut. Es sah aus, als wollte sie
-den Hut im Winde festhalten.
-
-Im Augenblick, da Schwedenklee das Gesicht erkannte, ließ das tödliche
-Erschrecken nach. Er öffnete das Tor völlig und machte einen
-entschlossenen Schritt vorwärts, obgleich der Schrecken noch in all
-seinen Gliedern zitterte.
-
-»Was wünschen Sie?« fragte er, unnötig laut, und seine Stimme bebte noch
-vor Erregung.
-
-Der Hagere wich noch einen kleinen unsicheren Schritt zurück, die Hand
-aufs Herz gepreßt. Es schien Schwedenklee, als ob er heftig zittere.
-Deutlich hörte er seinen hastig keuchenden Atem.
-
-»Was wollen Sie von mir?« wiederholte Schwedenklee, weniger laut, aber
-härter im Ton. Er erkannte die völlige Gefahrlosigkeit der Situation.
-
-Der Hagere nahm den Filzhut ab und verbeugte sich, den Hut gegen die
-Brust pressend. Sein graues wirres Haar bewegte sich im Winde.
-
-»Ich heiße Blank!« stammelte er, ganz Demut. Seine Stimme klang leise,
-kaum vernehmbar, heiser dazu. Aber Schwedenklee verstand den Namen
-augenblicklich!
-
-
-
-
- 8
-
-
-Schwedenklee hatte schon manches erlebt. Nicht ohne weiteres wird man
-fünfundvierzig Jahre alt! Einmal, zum Beispiel, war in einer hellen,
-heißen Sommernacht ein Herr auf ihn zugetreten und hatte in
-liebenswürdigstem Ton gefragt, ob er die Ehre habe, mit Herrn
-Schwedenklee zu sprechen? Schwedenklee aber hatte kaum bejaht, als der
-Liebenswürdige schon den Stock gegen ihn schwang. Es stellte sich
-heraus, daß er der Gatte einer schönen Frau war, mit der Schwedenklee
-zuweilen im Bristol Tee trank. Damals war es zu einer regelrechten
-Schlägerei gekommen, und der Eifersüchtige brachte sogar die Passanten
-gegen ihn auf. Erst als Schwedenklee heilige Eide schwor, daß die
-bewußte Beziehung völlig platonisch sei, war der Rasende ruhiger
-geworden. Die schöne Frau hatte ganz einfach gelogen, um ihren Gatten
-bis aufs Blut zu reizen. Immerhin, Geständnis und Eide in der Bedrängnis
-waren so peinlich, daß Schwedenklee den Auftritt als einen dunkeln
-Schatten in seinen Erinnerungen empfand.
-
-Ja, schon mancherlei hatte er erlebt, Herr Schwedenklee -- nie aber
-hatte er sich in einer Situation befunden, die peinlicher und
-unbehaglicher war.
-
-Die unverständlichen Briefe Blanks schossen ihm wirr durch den Kopf,
-auch sein brutaler Rohrpostbrief, der ihm im Augenblick noch weitaus
-brutaler erschien, auch jene alberne, pathetische Phrase: »Die Toten
-greifen nach dir!«
-
-Und hier unten also, dieser Grauhaarige, der sich demütig verbeugte und
-vor Erregung kaum stammeln konnte, das war also Ellens Gatte -- der ihn
-aus unerklärlichen Gründen zu sprechen wünschte ...
-
-Schwedenklee hatte das Gefühl, langsam in den Boden zu sinken. Es schien
-ihm später, wenn er an diese unbehagliche Szene dachte, als habe er für
-Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Er glaubte sich auch zu
-erinnern, wie seltsame Ahnungen, daß diese Begegnung ungeheure Bedeutung
-für sein Leben gewinnen sollte, ihn erfüllten und erschreckten.
-Jedenfalls empfand er deutlich die Ungewöhnlichkeit dieser nächtlichen
-Begegnung, anders wäre sein Verhalten nicht zu erklären.
-
-Verlegen und unschlüssig starrte Schwedenklee auf die hagere Gestalt,
-die unter ihm stand. Vor kaum fünf Minuten -- sonderbar genug! -- hatte
-er sich der Erinnerung an Ellen hingegeben. Er konnte Blanks Gesicht nur
-sehen, wenn ein schwankender Zweig das Licht des Mondes durchließ.
-Gleich verlegen und hilflos starrten Blanks dunkle Augen aus dem
-bleichen Gesicht zu ihm empor.
-
-Schwedenklees Empfindungen waren Chaos. Er wollte die Türe wütend ins
-Schloß werfen, wollte seiner Empörung, daß Blank es wagte, ihn zu
-verfolgen, unverblümt Ausdruck geben -- aber er tat nichts dergleichen.
-
-Im Gegenteil! »Herr Blank?« sagte er nach einer Weile, mit einer
-unsicheren und unterwürfigen Stimme, deren er sich später schämte, und
-einer verstümmelten Verbeugung.
-
-»Sie haben mir geschrieben, Herr Blank?« fuhr er fort, nur um das
-unerträgliche Schweigen zu unterbrechen.
-
-Blank antwortete mit einer Verbeugung. Er erwiderte nichts.
-
-Ratlos stand Schwedenklee auf der Treppe. Nacht ringsum, kein Mensch auf
-der Straße. Und ohne Unterbrechung fühlte er Blanks Blick auf sich
-gerichtet. Schwedenklee trat wieder etwas mehr in das Haustor zurück.
-
-»Vielleicht erklären Sie mir --«, begann er von neuem.
-
-Endlich bewegte sich Blank.
-
-»Ich handle unter einem geheiligten Willen«, begann er leise, mit
-heiserer Stimme, aber doch verständlich, ja sogar etwas deklamatorisch,
-wie Schauspieler es häufig zu tun pflegen. Schwedenklee sah deutlich,
-daß er hin und her schwankte und nach Atem rang.
-
-»Ich bitte um Verzeihung! Ich persönlich würde es ja nie gewagt haben.«
-
-Die Hand Blanks fuhr in die Rocktasche, er zog einen hellen
-Briefumschlag heraus.
-
-»Hier«, sagte er, sehr leise. »Ich bitte.« Und er streckte Schwedenklee
-mit flatternder Hand den Briefumschlag hin. »Die Tote hat mich
-beauftragt.«
-
-Schon streckte Schwedenklee die Hand aus, aber er zog sie sofort wieder
-erschrocken zurück. Eine tödliche Kälte strömte ihm von diesem
-Briefumschlag entgegen. Und Schwedenklee sammelte sich zu einem letzten
-Widerstand. Jene gewisse Brutalität, die, meist schlummernd, einen Teil
-seines Wesens bildete, erwachte plötzlich und formte seine Gedanken zu
-einer letzten Abwehr.
-
-»Mein Herr! Sie besaßen die Kühnheit, mir eine Anzahl von Briefen zu
-schreiben, obgleich Sie mir völlig unbekannt sind. Sie verfolgen mich
-und sind unverfroren genug, mich vor meinem Hause zu überfallen! Ihre
-Unverschämtheit überschreitet alle Grenzen. Lassen Sie mich gefälligst
-in Ruhe mit Ihrem Brief, lassen Sie mich überhaupt zufrieden. Scheren
-Sie sich zum Teufel!«
-
-Das also war es, was Schwedenklee dieser zitternden, hageren Gestalt,
-die demütig vor ihm stand, entgegenschrie, in äußerster Empörung. Aber
-was geschah? Blank wagte es, die Treppe emporzusteigen -- und
-Schwedenklee selbst war es, der ihm höflich das Tor öffnete -- Blank
-verbeugte sich mit großer Förmlichkeit und trat ein.
-
-Schwedenklee hatte diese Ansprache ja nur in Gedanken gehalten. In
-Wirklichkeit aber hatte er höflich, ergeben in sein Schicksal, wie sein
-wahres Wesen es ihm befahl, Blank gebeten einzutreten.
-
-So geschah es, daß der unheimliche Gast, die »Erscheinung«, wie
-Schwedenklee in seiner ersten Verwirrung gedacht hatte, zur großen
-Verwunderung Schwedenklees sich ins Haus tastete.
-
- * * * * *
-
-»Nun wohl,« dachte Schwedenklee, als er das Licht in der Diele andrehte,
-halb benommen im Kopf, »es muß wohl so sein. Irgend etwas Merkwürdiges,
-Unabwendbares ist hier im Spiel. Im übrigen vergessen wir nicht, daß
-dieser arme Teufel Ellens Gatte ist. Nun, wir werden ja sehen, komme,
-was kommen soll ...«
-
-Ein fadendünner Überzieher mit einem abgeschabten lächerlich schmalen
-Pelzkragen und zu kurzen Ärmeln, ein schmales, fast schönes, wachsfahles
-Gesicht, von hundert kleinen Fältchen zerknittert wie Papier, mit einer
-hohen, mächtigen Stirn, die graue Haarsträhnen umflatterten, mit
-bläulichen Lippen und fiebrisch glänzenden, dunkeln, aber gutartigen, ja
-gütigen Augen -- so sah die Erscheinung aus, als Schwedenklee sie bei
-Licht besah. Ein ins Elend geratener, vergrämter Künstler mit der Miene
-fatalistischer Hoffnungslosigkeit -- sein erster, obwohl flüchtiger und
-unbewußter Eindruck war völlig richtig gewesen. Vielmehr noch: ein
-körperlich und seelisch vollkommen Erschöpfter, der in dem überheizten
-Zimmer von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde, während er mit
-heiserer, bescheidener Stimme Entschuldigungen stammelte.
-
-Schwedenklee betrachtete das Abenteuer schon mit ruhigeren Augen. Die
-Erscheinung hatte gänzlich ihre Unheimlichkeit eingebüßt -- ein Kranker,
-ein Hilfsbedürftiger, das war alles, was von ihr geblieben war. Ja,
-schon empfand Schwedenklee, der brutale Schwedenklee, der Leute, die ihn
-störten, zum Teufel schickte, Mitleid mit seinem Gast.
-
-Wie hatte Blank seinerzeit geschrieben? »Mein _krankes_ Gehirn.«
-Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, war manches nicht mehr ganz in
-Ordnung bei ihm. Er erweckte ohne Zweifel den Eindruck, besonders diese
-_leuchtenden_ gütigen Augen! Wir werden sehen, höflich, freundlich, um
-ihn nicht zu erregen, und dann wird sich ja alles weitere von selbst
-finden.
-
-Schwedenklee setzte also eine alltägliche, freundliche Miene auf, als
-sei überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen.
-
-»Ich bitte doch abzulegen, Herr Blank!« sagte er mit großer
-Liebenswürdigkeit.
-
-Blank schälte sich, verwirrt und zerstreut um sich blickend, aus dem
-fadenscheinigen Überzieher. Sein Anzug war so jämmerlich, daß
-Schwedenklee sich betroffen abwandte.
-
-»Ich werde ihm helfen!« dachte er nun schon. »Ich habe ja genug alte
-Kleider, Herrgott noch einmal!«
-
-»Mein Benehmen --,« stammelte Blank, während er zu einem Sessel
-schwankte, »mein Benehmen muß aufdringlich und unverständlich
-erscheinen. Eine abscheuliche Rolle, die ich nie in meinem Leben spielte
--- die ich verabscheue ...«
-
-»Ich bitte, Herr Blank.«
-
-Blank erhob sich wieder aus dem Sessel und tastete nach Schwedenklees
-Hand. »Jedenfalls Dank, daß Sie mich nicht abweisen, Herr Schwedenklee!«
-sagte er mit einem heißen Blick der dunklen Augen. »Allein das teuerste
-Wesen, das ich besaß, eine Tote, befiehlt und ich gehorche!«
-
-»Eine Zigarre vielleicht?« Wollte er doch aufhören, von Toten zu
-sprechen, dachte Schwedenklee, um Gottes willen!
-
-»Nein, unmöglich -- mein Husten --«
-
-Schwedenklee war bestrebt, die Peinlichkeit der Situation, die noch
-immer, wenn auch gemildert, bestand, durch eine zerstreute
-Geschäftigkeit zu verwischen.
-
-Blank saß im Sessel, die Hände auf die Lehne gelegt, und versuchte, ein
-Zittern, das seinen kranken Körper ohne Aufhören durchlief, zu
-verbergen. Wie sein Gesicht waren auch die Hände von hundert Fältchen
-zerknittert, wie weiches Papier. Sie waren lang, wachsfahl und peinlich
-gepflegt.
-
-»Ich zittere noch immer!« begann Blank, seine Schwäche verspottend.
-»Aber Sie ahnen ja nicht, welche Angst ich hatte, als ich Ihnen folgte«,
-fuhr er flüsternd, bekennend fort. »Kaum, daß mich die Füße trugen.
-Schon gestern, vorgestern folgte ich Ihnen, aber ich wagte es nicht.
-Gestern wollte ich Ihren Namen rufen, aber die Stimme versagte. In der
-letzten Nacht nun mahnte mich ein Gesicht« -- er hielt inne, als erwarte
-er, daß Schwedenklee etwas sagen werde, aber Schwedenklee sagte nichts
---, »ich legte ein Gelübde ab, und so wagte ich es heute, obschon die
-Furcht mich fast tötete. Nie werde ich wissen, woher ich den Mut nahm
---«
-
-»Ich bitte Sie, sich nicht zu erregen, Herr Blank,« entgegnete
-Schwedenklee, »vielleicht würde ein Gläschen Wein Sie beruhigen?« Hastig
-war Schwedenklee bemüht, den Gast von dem unheimlichen Thema abzulenken.
-Ohne jede Frage, eine sehr peinliche Geschichte! Aber es würde
-sich ja wohl nach einiger Zeit Gelegenheit bieten, den Gast
-hinauszukomplimentieren.
-
-Blank errötete flüchtig, als er die zitternde Hand nach dem Glase
-ausstreckte. Sein Handgelenk war von einer erschreckenden Magerkeit, wie
-Schwedenklee es noch nie beobachtet hatte. Langsam und bedächtig
-schlürfte Blank den Wein, der ihn augenblicklich zu erfrischen schien.
-Das Zittern seines Körpers ließ nach, ruhig glitt sein Blick durch
-Schwedenklees Bibliothek.
-
-»Was für ein herrlicher Raum«, sagte er, indem er mehrmals nickte und
-die Lippe hob, als versuche er zu lächeln. »Ich verstehe wohl, daß Sie
-das Unglück meiden.«
-
-Schwedenklee wurde blutrot vor Scham.
-
-»Ich verstehe wohl, daß Sie die Armut meiden.«
-
-»Verzeihen Sie ...«, stammelte Schwedenklee.
-
-»Ich verstehe alles so gut. Ich bin ja selbst nicht anders gewesen --
-früher!«
-
-»Ich bin, wenn ich offen sein darf,« verteidigte sich Schwedenklee,
-etwas stotternd, »aus Ihren Briefen nicht recht klug geworden. Zuerst
-glaubte ich überhaupt an ein Mißverständnis. Ich dachte -- dazu war ich
-sehr überarbeitet in dieser Zeit.«
-
-Blank nickte und hob abwehrend die Hand.
-
-»Meine Briefe waren wohl sehr verwirrt? Heute noch bin ich nicht
-imstande, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich verstehe Sie jetzt,
-heute vollkommen, Herr Schwedenklee! Vielleicht dachten Sie sogar, ein
-Bettler -- oder noch schlimmer: ein Erpresser ...«
-
-»Aber nein!« Schwedenklee lachte verlegen. »Wie können Sie so etwas
-denken. Ich wüßte nicht« -- endlich kam Schwedenklee der rettende
-Einfall --, »ich ahnte ja nicht -- Sie schrieben mir erst ganz zuletzt,
-welche Geborene Ihre Frau Gemahlin war.«
-
-»Ich nahm in meiner Verwirrung, meinem Schmerze an, jeder Mensch müsse
-es wissen! Ich glaubte auch, es schon geschrieben zu haben. Habe ich es
-nicht in der ersten Mitteilung geschrieben?«
-
-»Ich bitte Sie, sich jedenfalls in meine Lage versetzen zu wollen, Herr
-Blank.«
-
-Blank schüttelte den Kopf und hob beide Hände beschwichtigend empor.
-
-»Kein Wort mehr, ich bitte Sie herzlich. Wer hier um Verzeihung zu
-bitten hat, das bin ich und nicht Sie!« sagte er mit einer Verbeugung.
-Zum erstenmal, seit er das Zimmer betreten hatte, blickte er
-Schwedenklee ins Gesicht. »Sie erinnern sich nicht mehr, daß wir uns
-schon einmal trafen?« begann er nach einem langen, wie es Schwedenklee
-schien, forschenden Blick, mit etwas veränderter, leichterer Stimme.
-
-»Wir?« Schwedenklees Blick wurde unsicher. Nun wird sich das Geheimnis
-enthüllen, dachte er voller Spannung und sofort wieder erregt.
-
-»Ja, ich hatte schon einmal die Ehre -- vor vielen Jahren. Vor etwa
-zwanzig Jahren.«
-
-»Zwanzig --?« rief Schwedenklee erschrocken aus, als sei so etwas
-gänzlich unmöglich.
-
-»Ja, vor mehr als zwanzig Jahren.«
-
-»Mehr als zwanzig!«
-
-»Ja, es war in München. Erinnern Sie sich an den Maler Pfitzner?«
-
-»Pfitzner? Aber natürlich. Ein guter alter Freund!«
-
-»Pfitzner hatte damals seinen ersten Porträtauftrag erhalten und gab
-seinen Freunden ein Atelierfest, das drei Tage und drei Nächte dauern
-sollte. Aber schon am ersten Abend gab es Zwistigkeiten. Einer der Gäste
-war auf Pfitzner eifersüchtig geworden, es kam nahezu zu Tätlichkeiten
---«
-
-»Richtig, nun dämmert es in mir! Aber Sie, Herr Blank -- ich muß offen
-gestehen ...«
-
-»Vielleicht entsinnen Sie sich noch, daß einer der Gäste sang?«
-
-»Ein junger Mann, jawohl.«
-
-»Er sang den Prolog von >Bajazzo<.«
-
-»Ja! Deutlich erinnere ich mich. Der Sänger stand dicht in meiner Nähe,
-ich höre heute noch, in diesem Augenblick, seine prächtige, kernige
-Stimme. -- Aber es ist doch wohl nicht möglich, Herr Blank, daß Sie
-...?« rief Schwedenklee mit naivem Erstaunen aus und sprang auf.
-
-Blank nickte. »Doch, ich war dieser Sänger!« sagte er errötend, und die
-Heiserkeit seiner Stimme drückte tiefste Traurigkeit aus.
-
-Sofort sah Schwedenklee ein, daß er eine ganz unbegreifliche
-Taktlosigkeit begangen hatte. »Ist es möglich,« rief er hastig aus, »vor
-zwanzig Jahren, sogar mehr als zwanzig Jahren, sagen Sie? Um Gottes
-willen, wohin sind diese zwanzig Jahre nur gekommen? Ja, wunderbar haben
-Sie damals gesungen -- es ist volle Wahrheit, was ich Ihnen sage, all
-die Jahre habe ich den Klang Ihrer Stimme im Ohr behalten. Merkwürdig,
-und Sie erinnern sich meiner noch? Das finde ich erstaunlich.«
-
-»Ich erinnere mich noch ganz deutlich an Sie. Sie haben sich nicht sehr
-verändert.«
-
-»Nicht sehr?«
-
-»Sie sind etwas voller geworden und etwas breiter. Ich habe Sie auch
-sofort wiedererkannt, als ich Sie vor Wochen auf der Straße sah.«
-
-»Als Sie mich auf der Straße sahen?«
-
-»Ja, vor Ihrem Hause«, gestand Blank errötend.
-
-»Ich erinnerte mich ganz besonders an Sie, weil Sie auf Pfitzners
-Atelierfest eine Theorie vortrugen, die mich lange und oft
-beschäftigte.«
-
-»Ich -- eine Theorie, sagen Sie?«
-
-»Ja, Sie erklärten, es sei an der Zeit, eine über den Staaten stehende
-Republik der freien Geister und Künstler zu gründen.«
-
-»Ich hätte --?« Schwedenklee war äußerst erstaunt.
-
-»Ja, Sie führten diesen Gedanken bis ins einzelne aus und wir hörten
-voller Interesse zu. Sie sprachen sehr ketzerische und revolutionäre
-Gedanken aus, und wir waren um so mehr erstaunt, als Sie ja aus
-Norddeutschland kamen.«
-
-Schwedenklee füllte die Gläser. »Sonderbare Einfälle hat man in der
-Jugend!« rief er lachend aus. »Ja, ganz verrückte Gedanken!«
-
-»Sie gingen bald darauf nach Paris. Als ich Pfitzner wieder eines Tages
-im Atelier besuchte, sagte er mir: Schwedenklee ist nach Paris gegangen,
-um seine überstaatliche Republik der freien Geister und Künstler zu
-gründen.«
-
-Hier lachte Schwedenklee laut und belustigt auf.
-
-»Im nächsten Jahre wurde ich nach Nürnberg engagiert«, fuhr Blank fort,
-und seine Stimme veränderte sich wieder. »Und hier war es, wo ich Rosa
-Fröhlich traf«, schloß er leise.
-
-»Ja, sie ging damals nach Nürnberg, ich entsinne mich«, warf
-Schwedenklee etwas unsicher ein. Er war plötzlich rot geworden.
-
-»Ich kam mit ihr ins Gespräch und sie sagte mir gleich, daß sie aus
-Paris käme. Aus Paris? Haben Sie vielleicht zufällig einen Bekannten von
-mir, einen Architekten Schwedenklee getroffen? -- Nie werde ich Rosas
-verblüfftes, ja entgeistertes Gesicht vergessen ...«
-
-»Ist das Leben nicht sonderbar?«
-
-»Ohne daß Sie es ahnten, haben Sie, Herr Schwedenklee, rasch unsere
-Freundschaft vermittelt.«
-
-»Welch merkwürdige Zufälle es gibt!«
-
-»So also begann es. Mit Ihrem Namen!« sagte Blank leise und nickte vor
-sich hin. »So also begann es!« wiederholte er, die Stimme von Trauer
-überschattet.
-
-Sein Blick verlor sich ins Unbestimmte. Er bewegte die dünnen blutleeren
-Lippen und feuchtete sie mit der Zunge an. Er schien noch um einen Grad
-bleicher geworden zu sein.
-
-Schwedenklee erhob sich und bewegte sich lautlos über die Teppiche.
-Diese ganze Erde sei in der Tat nichts als ein großes Bauerndorf! Und er
-erzählte hastig und mit halblauter Stimme einige ähnliche Erlebnisse,
-die ihm begegnet waren und seine Ansicht bestätigten, daß die Erde
-nichts als ein Bauerndorf sei. Blank antwortete nicht, er schien gar
-nicht zuzuhören.
-
-Mit aller Umständlichkeit machte sich Schwedenklee eine Zigarre zurecht.
-Wieder bewegte er sich lautlos über die Teppiche. »Und was ist
-eigentlich aus Pfitzner geworden?« Er blieb stehen.
-
-Aber Blank hörte ihn gar nicht. Er saß, den verschleierten Blick ins
-Ungewisse verloren. Er hatte vergessen, wo er war, wandelte in einer
-fernen, unbegreiflichen Welt. Ein wundes Lächeln spielte um seine
-Lippen. Die schmalen gepflegten Hände lagen regungslos auf den Lehnen
-des Sessels, sie zitterten nicht mehr, nur sein gebeugter Oberkörper
-schwankte leise hin und her.
-
-Verstohlen blickte Schwedenklee auf die Uhr. Da erwachte Blank aus
-seiner tiefen Versunkenheit. Er atmete tief auf und blickte sich
-verstört um.
-
-»Verzeihung«, sagte er und schüttelte sich, als friere er.
-
-Schwedenklee streckte sich in den Sessel.
-
-»Und nun, Herr Blank,« begann er mit einer Stimme, die seinen Gast
-ermutigen sollte, »Sie hatten mir etwas mitzuteilen?«
-
-Blank erschrak heftig. Die nervöse Hand zuckte, seine dunkeln Augen
-weiteten sich.
-
-»Mitzuteilen --?« stammelte er, anscheinend tief betroffen.
-
-Schwedenklees Miene, der etwas leichtfertige und gutmütige
-Gesichtsausdruck, versuchte ihn zu beruhigen.
-
-»Ja«, sagte Schwedenklee, sich lächelnd vorbeugend. »Sie schrieben mir
-in einem Ihrer Briefe, Sie hätten mir Mitteilungen zu machen, die für
-mich unter Umständen von Interesse sein könnten.«
-
-»Schrieb ich das?« Blank erhob sich erregt, ließ sich aber sofort wieder
-in den Sessel fallen. »Nein, nein, mein Herr,« fuhr er hastig fort,
-zuweilen errötend, »was ich zu tun habe, ist, Sie tausendfältig um
-Entschuldigung zu bitten, das ist alles. Ich befinde mich in einem
-Zustande der Verwirrung, der Verzweiflung -- ja, des, Sie verzeihen, es
-klingt wie Pose, des Irrsinns. Ich muß um Nachsicht bitten. Ich weiß
-nicht mehr, was ich in diesen furchtbaren Wochen sagte oder schrieb.
-Verzeihen Sie mir. Aber, mitzuteilen? Nein, bei Gott, nein! Ich habe
-Ihnen nichts mitzuteilen.« Rote fieberische Flecke erschienen unter den
-Augen des fahlen Gesichts.
-
-Blank war in großer, ganz unbegreiflicher Erregung. Aber allmählich
-beruhigte er sich.
-
-»Was ich Ihnen gerne sagen möchte, wenn Sie noch eine Minute Geduld mit
-mir haben wollen,« fuhr er mit ruhigerer, feierlicher Stimme fort, »ist
-dies --« Er holte tief Atem und senkte den Blick zu Boden. »Meine
-Gattin, deren Verlust mich nahezu um meine Sinne gebracht hat, sagte mir
-wenige Stunden vor dem Tode: Gehe zu Schwedenklee und grüße ihn von mir.
-Sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle.«
-
-»Nicht mehr grolle --?« Schwedenklee horchte auf.
-
-»Ja, so sagte sie. Vielleicht aber habe ich auch die Worte verwirrt.
-Sage ihm, daß ich ihm stets gut war und noch heute gut bin --«
-
-Hier wurde Schwedenklee plötzlich ergriffen.
-
-»Sagte sie das wirklich?« flüsterte er.
-
-»Ja, und sie beauftragte mich, Ihnen dies Bild zu bringen. Es würde Sie
-freuen, dachte sie. Eine Erinnerung aus der Pariser Zeit.« Blank schlug
-sich an die Stirn. »Ja, dieses Bild, das war ja die Ursache meines
-Besuches! Schon habe ich es wieder vergessen, ich sitze hier und
-plaudere --«
-
-Blank erhob sich und tastete nervös die Taschen des Überrocks ab.
-
-»Mein Himmel, ich werde es doch nicht draußen verloren haben!« rief er
-in äußerstem Schrecken. »Nein, hier, gottlob, hier ist es. Das ist ja
-der eigentliche Grund, weshalb ich Sie aufsuchte.«
-
- * * * * *
-
-Eine verblaßte Photographie, in Paris aufgenommen -- seinerzeit. In
-irgendeiner übermütigen Stunde.
-
-Eine zierliche Dame, in einem großen Hut -- das Gesicht kaum
-erkenntlich. Daneben er, Schwedenklee, zwanzig Jahre jünger, mit einem
-flotten kleinen Schnurrbart. Schwedenklee zerbrach sich den Kopf, wo das
-Bild aufgenommen sein konnte. Er erinnerte sich nicht mehr.
-
-Er trat unter die Lampe und nahm eine Lupe vom Schreibtisch.
-
-Nun erkannte er die Züge der jungen Dame wieder, die in all den vielen
-Jahren nur selten, flüchtig und verblaßt in seiner Erinnerung wieder
-auflebten. Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn -- daß diese herrliche
-Jugendzeit vorbei war für immer.
-
-»Ellen Fröhlich!« sagte er vor sich hin.
-
-»Sie hatte zwei Namen«, warf Blank mit verletzter, fremder Stimme ein.
-»Da Sie sie Ellen genannt hatten, wählte ich ihren anderen Namen. Ellen
-für Sie, Rosa für mich!«
-
-Schwedenklee blickte ihn verständnislos an.
-
-
-
-
- 9
-
-
-Als Schwedenklee am nächsten Morgen, etwas müde und abgespannt, in
-seinem breiten Himmelbett erwachte, fiel ihm augenblicklich ein, daß er
-Blank für heute zum Abendessen eingeladen hatte.
-
-Was für ein Dummkopf bin ich doch, dachte er, unzufrieden mit sich
-selbst, immer diese alte Gutmütigkeit. Ich bin wütend über einen
-Menschen und doch kann ich es mir nicht versagen, den Liebenswürdigen zu
-spielen. Aber sofort erinnerte er sich auch, daß es ganz unmöglich war,
-Blank, der Begriffe wie Zeit und Nachtruhe nicht zu kennen schien, auf
-andere Weise zu verabschieden. Er hatte sich auch in der verflossenen
-Nacht hin und her überlegt, wie er Blank seine Hilfe anbieten könnte,
-aber keine Möglichkeit gefunden. Da war ihm der Einfall der Einladung
-gekommen.
-
-Lieber Himmel, dachte er plötzlich erschreckend und setzte sich auf, wie
-mag dieser arme kranke Mensch in der Nacht nach Hause gekommen sein?
-Nach dem Osten. Ob er wohl, wie er ihm riet, eine Droschke genommen
-hatte? Aber vielleicht hatte er gar nicht das Geld dazu? Ich selbst
-hätte ihm eine Droschke holen und den Kutscher bezahlen sollen -- aber
-dieser Einfall kam reichlich spät.
-
-Etwas Gutes hatte die gestrige Begegnung auf jeden Fall. Schwedenklee
-fühlte sich erleichtert! Das »im Hintergrund lauernde Schicksal«, wie er
-sich ausdrückte, hatte sich entschleiert. Obgleich Schwedenklee
-eigentlich nicht an Gott, an ein zweites Leben, an Auferstehung,
-Seelenwanderung und derartige Dinge glaubte, glaubte er doch an
-mystische Einflüsse, an ein Fatum, das unheilvoll in das Leben eines
-Menschen eingreifen konnte. In den zwei letzten Jahren hatte er sich
-unsicher gefühlt. Es war ihm, als wäre er von heimtückischen Gefahren
-umlauert. Einer seiner Bekannten starb plötzlich am Herzschlag, und
-schon dachte er: wer weiß es, ob du morgen erwachen wirst? Zuweilen sah
-er sich alt und krank als Bettler auf der Straße stehen und der Wind
-blies eisig. Oder ein unheilbares Leiden befiel ihn, zum Beispiel Krebs.
-Ganz deutlich spürte er die fortwährende Drohung feindseliger Mächte,
-und nur so -- nicht anders -- läßt es sich erklären, daß die Briefe
-Blanks auf ihn einen solch ungeheuren Eindruck machten. Nun also kam es,
-heimtückisch schlich es näher, um ihn zu umstricken und zu vernichten!
-Deutlich witterte er die Vorboten eines bösen Schicksals, das seine
-Demütigung und Vernichtung beschlossen hatte.
-
-An diesem Morgen atmete er seit vielen Wochen befreit auf, seine
-düsteren Grübeleien erschienen ihm unsinnig und albern. Seine
-Hilfsbereitschaft für Blank entsprang ebenfalls, ohne daß er sich dessen
-bewußt wurde, diesem Gefühl der Erleichterung und einer gewissen
-Dankbarkeit gegen das Schicksal, das sich ihm nicht ungnädig gezeigt
-hatte.
-
-Werde ich ihm denn abgelegte Kleider geben können? dachte er. Vielleicht
-aber wird es ihn verletzen? Also Geld. Aber wieviel und in welcher Form?
-
-Man könnte ihm auch einen Korb mit Früchten und guten Sachen schicken,
-eine Flasche Kognak dazu. Das war ein ausgezeichneter Einfall, und
-Schwedenklee beschloß, noch heute den Korb zurecht machen zu lassen.
-
-Den ganzen Vormittag war Schwedenklee mit dem gestrigen Abenteuer
-beschäftigt. Blank hatte ihm, mit einer gewissen Schwatzhaftigkeit, im
-Laufe der Nacht sein Herz ausgeschüttet, er hatte ihm jede Einzelheit
-seines Lebens erzählt -- und all das nur aus dem Grunde, weil er einige
-Wochen lang eine Liebschaft mit seiner Frau gehabt hatte! Notabene: noch
-bevor sie überhaupt seine Frau war ...
-
-Schwedenklee konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er ging an den
-Schreibtisch und nahm -- seine Hand zitterte etwas -- das verblichene
-Bild aus dem Schubfach.
-
-Bei Tageslicht war das Gesicht unter der Lupe etwas deutlicher zu
-erkennen. Lange, mit einer Art furchtsamer Neugierde, betrachtete er das
-Bild, und sonderbarerweise begann sein Herz stark zu klopfen, als wäre
-es frevelhaft, dieser Toten ins Gesicht zu sehen.
-
-Je länger er das verblaßte Bild betrachtete, desto klarer formte es sich
-in seiner Phantasie, und plötzlich stand es, wie durch ein Wunder,
-lebendig vor ihm.
-
-Ellen hatte Grübchen in den Wangen gehabt, auf der einen Wange war das
-Grübchen um ein geringes tiefer als auf der andern -- das fiel ihm jetzt
-ein, obschon die Grübchen auf dem verblaßten Bild nur dann zu erkennen
-waren, wenn man wußte, daß sie existierten. Er erinnerte sich an ihre
-schönen weißen Zähne, die sich beim Lachen ganz entblößten, als lachten
-sie mit -- und wie scharf waren diese Zähne gewesen! Er erinnerte sich
-an die Glätte ihrer Haut, die er nie wieder gefunden hatte bei einer
-Frau, an die Ebenmäßigkeit ihres zarten Körpers, die weiche Biegsamkeit
-ihrer schlanken Taille. Klar sah er in diesem Augenblick die
-Modellierung ihrer sanften Schultern vor sich.
-
-Zartheit, Behutsamkeit, Stille und unendliche Sanftheit ging von dieser
-Frau aus. Ihr Schritt war still, die Berührung ihrer Hand leise.
-Schmiegte sie sich an ihn, so war es kaum zu fühlen, und doch war die
-Berührung unsagbar innig.
-
-Ja, jetzt in dieser Sekunde fühlte er deutlich ihre zärtliche
-Liebkosung.
-
-Sein Herz wurde schwer und er legte das Bild zurück. »Ein rührendes
-Wesen, in der Tat«, sagte er. »Vorbei -- tot! Ja, das Leben ist eine
-höllische Einrichtung!«
-
-Traurig das Schicksal dieser Frau, die das Leben so heiß geliebt hatte.
-Von Paris war sie in ein Sommerengagement nach Nürnberg gegangen. Daran
-erinnerte er sich noch deutlich. Sie hatten noch einige kurze Briefe
-gewechselt, bis die Korrespondenz plötzlich ohne jeden sichtbaren Grund
-einschlief. In Nürnberg hatte sie Blank kennengelernt, der sie -- wie er
-selbst gesagt hatte -- liebte, bevor er sie sah.
-
-»Ich sah sie noch gar nicht. Die Tür ging auf -- ihre Seele strömte vor
-ihr her. Wer kommt hier? dachte ich. Und ich liebte diese Frau, die im
-Begriffe stand, über die Schwelle zu treten, bevor ich sie überhaupt
-sah. Es ist mir heute noch rätselhaft!«
-
-Blank sollte in Köln gastieren. Sie begleitete ihn. Er sang »um Rosa«.
-Er gefiel, zweijähriger Kontrakt, auch Ellen wurde engagiert. Sie
-heirateten auf Grund dieses Engagements. Drei Jahre hier, zwei Jahre
-dort, in kleineren und größeren Provinzstädten -- ein Nomadendasein,
-fröhlich und heiter ertragen, obwohl voller Sorgen. Plötzlich aber ging
-es in die Höhe: München, Mannheim, endlich Dresden! Blank hatte den
-Gipfel erreicht. Das Dasein der beiden war ohne Sorgen -- einen
-Pelzmantel mit Bärenkragen trug Blank, wie er sagte. Sie reisten im
-Sommer nach der Schweiz, ans Meer.
-
-»Nie gab es wohl zwei glücklichere Menschen als uns beide! Ein Kreis
-prächtiger Freunde, immer Blumen in den Zimmern, und ein Heim, das
-widerhallte von der herrlichsten Musik! Der und der spielte Cello, der
-und der Geige, der und der den Flügel -- erste Künstler, die in der
-ganzen Welt konzertierten. Berühmte Dirigenten aßen bei uns zu Abend.
-Und Rosa im Mittelpunkt, Rosa umschwärmt, bewundert, geliebt ...«
-
-In Dresden aber holte Blank das Geschick ein. Eine Erkältung, wenig
-beachtet. Eine Wucherung an den Stimmbändern. Blanks Laufbahn als Sänger
-war besiegelt. Ellen dagegen spielte noch, sie erhielt ihn Jahre
-hindurch. Kuren, Ärzte. Der Niedergang begann. Schließlich erkrankte
-auch Ellen, die Lunge. Das war das Ende.
-
-Furchtbarer Sturz in das tiefste Elend. Auch Blank wurde brustkrank.
-
-»Wir liefen um die Wette nach dem Tode, Rosa und ich. Sie hat das Ziel
-zuerst erreicht, aber ich bin nicht weit hinter ihr.«
-
-Gestorben an der Schwindsucht, zwei Menschen trugen sie zu Grabe ...
-
-»Arme Ellen!« sagte Schwedenklee und legte das Bild zurück in das
-Schubfach.
-
-Er war in solch melancholische Stimmung geraten, daß er, was selten
-vorkam, schon am Nachmittag das Stammcafé aufsuchte.
-
-Hier saß er an einem kleinen Marmortisch und sah lustlos zu, wie der
-Rechtsanwalt Cohnstamm mit dem Polizeileutnant Hammerstein eine
-Cadrepartie auf dem Matchbillard ausfocht. Er war wortkarg und
-zerstreut, trank ohne Genuß seine Tasse Kaffee. Der Rechtsanwalt erbat
-seinen Rat bei einer schwierigen Stellung. Sprang Schwedenklee auf, wie
-es sonst seine Art war, um sein Licht leuchten zu lassen? Er zuckte
-gleichgültig die Achseln.
-
-»Und zu denken, wie diese Ellen lachen konnte! Wie sie es verstand, auch
-das Nichtigste zu genießen! Und wie drollig sie sein konnte! Immer
-bereit zu einem übermütigen Streich!«
-
-Der Oberkellner näherte sich, zutraulich: Es seien schon große Beträge
-auf Herrn Oberbaurat für heute abend gesetzt.
-
-»Ich werde heute abend nicht spielen«, sagte Schwedenklee, mit Falten in
-der Stirn. »Ich habe Gäste zu Hause.«
-
-Schon um einhalb acht Uhr begab sich Schwedenklee nach Hause. Er freute
-sich auf Blanks Besuch. Ja, er freute sich, ist es zu glauben?
-
-»Und gestern zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ihn loswerden könnte!«
-
- * * * * *
-
-Schwedenklee bekümmerte sich eigentlich nie um die Wirtschaft. Seine
-ganze Tätigkeit bestand darin, jeden Monat das Wirtschaftsbuch
-nachzuprüfen. Er nahm sich natürlich nie die Mühe, das Buch wirklich
-nachzusehen, da aber Augusta den Eindruck gewinnen solle, als ob er
-ganze Nächte hindurch rechne, so ließ er das Buch stets einige Tage
-liegen. Einmal half ihm der Zufall. Er addierte eine Seite, eigentlich
-aus Zerstreutheit, es stimmte nicht.
-
-»Sie haben sich hier zu Ihren Ungunsten getäuscht, Augusta!«
-
-Es war wirklich eine Fügung des Himmels, geschehen vor drei Jahren. Seit
-dieser Zeit öffnete Schwedenklee dieses furchtbare Wirtschaftsbuch
-überhaupt nicht mehr.
-
-Seine Anordnungen pflegte Schwedenklee in lakonischer Kürze zu erteilen,
-häufig schrieb er sie auch auf einen Zettel. Ja, er liebte Scherereien
-nicht, Schwedenklee. Es ging wunderbar.
-
-Auf den heutigen Abend aber hatte er Augusta besonders hingewiesen. Es
-war seine Absicht, Blank mit der größten Sorgfalt zu bewirten. Dieser
-arme Teufel sollte noch einmal eine Freude haben in seinem Leben ...
-
-Das Unglaubliche geschah. Schwedenklee inspizierte das Speisezimmer.
-Augusta hatte sich wirklich Mühe gegeben. Man konnte jedermann
-empfangen, einen Fürsten, wenn es sein mußte.
-
-»Und wie war das eigentlich, auf dem Atelierfest von Ellens Freundin,
-der schwedischen Bildhauerin, wie hieß sie doch -- sagen wir: Fräulein
-Svenska?« fragte sich Schwedenklee, als er, in der Bibliothek auf und ab
-gehend, auf Blank wartete.
-
-Es war da jemand, der die Mundharmonika spielte, und man saß, da nicht
-genug Stühle da waren, auf dem Boden -- nicht wahr? Es war ein
-Kostümfest!
-
-Mein Gott, was konnte man doch damals alles machen. Man drehte den Rock
-um, band sich ein Taschentuch um den Hals: schon war man ein Apache!
-
-Es war eine ungeheure Hitze in dem Atelier, ganz richtig. Man trank
-schwedischen Punsch, und schon nach dem ersten Glas änderte sich der
-Glanz von Ellens Augen.
-
-Ja, jetzt fiel es ihm ein: Sie, Ellen, führte ihn in einen Winkel neben
-eine der mit nassen Tüchern verhängten Tonbüsten und schlang die Arme
-zart und weich um seinen Hals. »Dich werde ich ewig lieben!« flüsterte
-sie.
-
-Da ertönte die Klingel: Blank!
-
-Schwedenklee spürte noch Ellens weiche Arme, ihre Stimme flüsterte dicht
-an seinem Ohr, als Blank eintrat.
-
-Er errötete, als er Blank die Hand reichte.
-
-
-
-
- 10
-
-
-Blank hatte sich in große Gala geworfen. Er trug unter dem fadendünnen
-Überzieher mit dem abgeschabten Pelzkragen einen grauen, dünnen Gehrock,
-einen schlechtgebügelten Kragen, eine alte flotte graue Binde. Die
-Knöpfe der altmodischen Weste waren aus Glas und einer fehlte. Seine
-Hände waren gepflegt, wie gestern, die Manschetten ausgefranst, aber
-peinlich sauber.
-
-»Wie glücklich ich bin!« rief er mit seiner heiseren Stimme etwas
-theatralisch aus und drückte Schwedenklee die beiden Hände, mit einer
-Herzlichkeit, die Schwedenklee in Verlegenheit brachte.
-
-»Ich freue mich, daß Sie heute viel wohler aussehen«, erwiderte
-Schwedenklee, der das Bedürfnis empfand, seinem Gaste seinerseits etwas
-Angenehmes zu sagen. In der Tat, die Leichenblässe, die Blank gestern
-zeigte, schien heute etwas gemildert.
-
-»Wohler?« Blank lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich lag den ganzen
-Tag mit Fieber zu Bett.«
-
-»Und Sie haben nicht einfach angerufen?«
-
-»Dieses bißchen Fieber sollte mich abhalten? Bei meinem
-Gesundheitszustand ist es ja völlig einerlei, ob ich mich schone oder
-nicht. Könnten Sie auch nur ahnen, wie ich mich auf das Zusammensein mit
-Ihnen freute!«
-
-Beim Anblick der gedeckten Tafel blieb Blank vor Erstaunen auf der
-Schwelle stehen.
-
-»Ist es möglich?« rief er aus.
-
-Augusta hatte sogar einen Strauß Maiglöckchen in die Mitte des Tisches
-gestellt. Das helle Speisezimmer war von einem herrlichen Duft erfüllt.
-
-»Ist es möglich? Für mich diese Mühe! Nie werde ich Ihnen das
-vergessen.« Und wieder drückte er Schwedenklees beide Hände, während er
-bemüht war, seine Ergriffenheit zu verbergen. Lebhaft fuhr er fort: »Ich
-weiß ja wohl, daß Sie ein Künstler im Arrangement von Festen sind! Rosa
-erzählte mir, daß Sie ihr einst in Paris -- Himmel, daß ich Sie nicht
-belauschen konnte! -- ein Abendessen gaben, mit Dutzenden von Kerzen,
-deren Glanz sich in geschickt aufgestellten Spiegeln verhundertfachte.
-Vielleicht erinnern Sie sich noch? Ja, Sie erinnern sich -- ich sehe es
---«
-
-»Sonderbar, gerade dieser Tage --«
-
-»Verzeihen Sie mir, ich sehe, daß es Ihnen nicht angenehm ist, an
-vergangene Zeiten erinnert zu werden. Ich muß Sie um Nachsicht bitten,
-wenn ich im Laufe des Abends dann und wann auf das Vergangene
-zurückkomme. Ich fürchte, ich kann nicht anders, denn gerade die Qual,
-die ich bei jeder Erinnerung empfinde, ist mir eine Wollust. Ich darf
-Ihnen wohl sagen, daß Rosa mir alles aus ihrem Leben erzählte, jede
-Einzelheit. Ich bitte auch, obschon es unnötig genug erscheint, erklären
-zu dürfen, daß nicht das geringste Arg gegen Sie in meinem Herzen ist.
-Wie sollte es auch? Einmal war ich ja sehr eifersüchtig auf Sie« --
-Blank lächelte schmerzlich -- »furchtbar eifersüchtig, ich gestehe es
-Ihnen offen. Ich haßte Sie, Sie ahnen nicht, wie ich Sie haßte.« Blank
-errötete und seine dunkeln Augen glühten -- allein bei der Erinnerung an
-diesen Haß.
-
-»Ich begreife nicht, weshalb haßten Sie mich?«
-
-»So wahnsinnig hatte mich die Eifersucht gemacht. Ich hatte natürlich
-nicht den geringsten Grund. Nun, es ist lange her -- zwanzig Jahre.
-Heute empfinde ich für Sie nur Freundschaft und Zuneigung, ohne zu
-erwarten, daß Sie meine Gefühle erwidern. Darf ich dieses Glas auf Ihre
-Gesundheit leeren?«
-
-Mit einem tiefen, wunderbar warmen Blick der dunkeln Augen und einem
-schönen Lächeln des verwüsteten Gesichts hob Blank das Glas ins Licht.
-
-»Wenn jemand hier Ursache hätte, böse zu sein,« fuhr er mit großer
-Lebhaftigkeit, leise lächelnd, fort, »so wären ja wohl Sie es!«
-
-»Ich? Aber, ich bitte --«
-
-»Gewiß, Sie! Denn ich war es ja, der Ihnen diese wundervolle Frau
-entfremdete -- in einer Zeit, da sie noch sehr an Ihnen hing.«
-
-Schwedenklee hob verwundert den Blick vom Teller. »Noch an mir hing?«
-fragte er, errötend und geschmeichelt.
-
-»Ja! Es war nicht so einfach, wie es heute aussieht ...«
-
-»Nicht so einfach?«
-
-»Nein, ganz im Gegenteil -- es war sehr schwer!«
-
-»Reden wir nicht mehr davon«, brummte Schwedenklee.
-
-Nichts mehr von der Peinlichkeit des gestrigen Abends. Man plauderte wie
-alte Bekannte. Blank, dessen krankhafte Erregung gestern Schwedenklee
-folterte, war heute viel ruhiger und beherrschter. Er zeigte sich als
-ein Mann von den besten gesellschaftlichen Formen, wenn er auch seine
-weltmännischen Allüren etwas zu stark betonte. Schwedenklee liebte es
-nicht, bei Tisch viel zu reden, er antwortete nur träge und zerstreut.
-Blank dagegen sprach mit großer Lebhaftigkeit, die Rede, begleitet von
-lebhaften Gesten, schien ihm eine wahre Wohltat zu sein. Seine Wangen
-färbten sich, seine Augen sprühten. Er fühlte sich wohl, er fühlte sich
-fast wie zu Hause, nach dem zweiten Glas nannte er Schwedenklee, der
-zuweilen seine Sicherheit verlor, sogar manchmal »lieber Freund«. Ja,
-dann und wann hatte Schwedenklee den Eindruck, als spielte Blank den
-Überlegenen.
-
-Augusta hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben und ein vorzügliches
-Menü zusammengestellt. Sie servierte aber schmollend. Sobald sie Blank
-erblickt hatte -- sie starrte förmlich auf die ausgefransten Manschetten
--- hatte sie nur verächtliche Bewegungen. Jede Geste von ihr sagte: und
-wegen dieses Bettlers lassen Sie mich den ganzen Tag herumrennen?
-
-»Eine Flasche Selters, Augusta«, sagte Schwedenklee mit einer gewissen
-rügenden Schärfe, und Augusta zog brummend ab.
-
-Trotz des vorzüglichen Menüs und des herrlichen Weins fühlte sich
-Schwedenklee nicht recht behaglich, ja vorübergehend war er sogar den
-Anwandlungen einer schlechten Laune unterworfen. Die Lebhaftigkeit
-Blanks störte ihn. Er hätte Blank gerne -- so albern es ihm selbst
-vorkam -- bescheidener und demütiger gesehen. Nein, von den
-ausgefransten Manschetten wollte er natürlich nicht sprechen, aber daß
-Blank, den er gestern von der Straße aufgelesen hatte, den er aus purer
-Gutmütigkeit zum Essen eingeladen hatte, ihn »lieber Freund« nannte --
-war das ganz in Ordnung? Mit einem gewissen Neid prüfte er zuweilen mit
-verstohlenen Blicken Blanks Erscheinung. Ohne Zweifel mußte er vor
-Jahren von großer, ja seltener Schönheit gewesen sein. Noch jetzt wirkte
-sein großgeformter Musikerkopf imposant. In dem bleichen, zerknitterten
-Gesicht glühte ein Paar wundervoller Augen. Was für Augen habe ich
-dagegen? dachte Schwedenklee. Diese dunkeln Augen schienen das einzig
-Lebendige -- Überlebende -- in dem wachsfahlen Gesicht zu sein. Sie
-waren Feuer, Gedanke, Seele, Jugend, sie waren dreißigjährig, das
-Gesicht fünfzig-, hundertjährig, wenn man will.
-
-So oft Schwedenklee von einer dieser Anwandlungen schlechter Laune
-ergriffen wurde, verbarg er sie hinter ausgesuchtester Höflichkeit:
-»Bitte zuzugreifen -- bitte sich zu bedienen!«
-
-»Ich sehe, ich ermüde Sie mit meinem Redestrom«, rief Blank aus. »Ich
-muß auch in dieser Hinsicht um Ihre Nachsicht bitten. Seit Jahren habe
-ich fast nie mehr mit einem gebildeten Menschen gesprochen. Sie ahnen
-nicht, welcher Genuß für mich Ihre Gesellschaft ist. Bedenken Sie, diese
-Menschen, mit denen ich noch zusammenkomme -- oh, mein Gott, welches
-Niveau! Sie, mein verehrter Freund, der es wagte, einen Bettler ins Haus
-zu laden ...«
-
-»Jeder Mensch kann einmal eine unglückliche Periode --« murmelte
-Schwedenklee.
-
-»Einen Bettler, sage ich, was bin ich sonst? Sie verkehren mit einem vom
-Unglück Gezeichneten auf gleich und gleich -- unterbrechen Sie mich
-nicht -- wer tut das noch? Es ist das _Alleraußergewöhnlichste_ in der
-heutigen Gesellschaft! Sie bewirten einen Mann, der gewissermaßen an
-einem Wendepunkt Ihres Lebens als Ihr Rivale auftrat. Wie gut Rosa Sie
-doch kannte! Sie kennen keine Vorurteile, keine kleinlichen Gefühle.«
-
-»Ich bitte!« stammelte Schwedenklee, aufs tiefste beschämt. Nichts ist
-ja peinlicher, dachte er, als derartige Lobeshymnen anhören zu müssen.
-Mein Himmel, diese liebe Ellen, was für Vorstellungen sie wohl von mir
-gehabt haben mag!
-
- * * * * *
-
-»Dieses Glas dem Gedächtnis Rosas!« sagte Blank feierlich nach dem
-dritten Glase und ließ den Wein im Licht funkeln. Obschon den Tod im
-Antlitz, sah er schön aus in diesem Augenblick. Später, wenn
-Schwedenklee sich an den Abend erinnerte, sah er Blank immer in dieser
-Geste vor sich.
-
-Schwedenklee tat ihm Bescheid.
-
-Aber Blank erhob sich vom Sitze, und so konnte auch Schwedenklee, dem
-jede Exaltiertheit ein Greuel war, nicht sitzenbleiben. Wenn er nur
-diese theatralischen Manieren sein ließe, dachte er, tief unglücklich.
-
-Lange verharrte Blank in Schweigen und Versunkenheit. Aber seine Augen,
-ohne Blick auf einen Stich an der Wand gerichtet, leuchteten verklärt.
-
-Augusta servierte mit verdrossener Miene den Nachtisch.
-
-Plötzlich fühlte Schwedenklee Blanks Auge auf sich gerichtet. Er hob die
-Lider und begegnete einem forschenden, sonderbar und befremdend
-forschenden, grübelnden, bohrenden Blick, dessen Ausdruck sich indessen
-augenblicklich änderte.
-
-»Ich dachte eben --« begann Blank mit sonderbar leiser, heiserer,
-zerstreuter Stimme.
-
-»Sie dachten --?«
-
-»Ja.« Blank sammelte sich. »Ich dachte: wie merkwürdig es ist, daß wir
-beiden hier beisammensitzen.«
-
-»Was ist daran so merkwürdig?« sagte Schwedenklee, schon etwas
-gelangweilt. Was kümmerte ihn schließlich dieser Blank, was kümmerte ihn
-schließlich diese Ellen? Nichts, letzten Endes gar nichts. Er fing an,
-die Einladung zu bereuen.
-
-»Merkwürdig ist natürlich ein falscher und völlig unzulänglicher
-Ausdruck«, fuhr Blank mit leiser Stimme fort. »Dieser Augenblick
-bedeutet mehr! Er ist erhaben, nichts anderes als erhaben! Wir drei --
-geeint -- in diesem Augenblick!«
-
-»Wir drei? Geeint?«
-
-»Ja!« Blanks Augen weiteten sich. »Nur uns beide, Sie und mich, hat
-diese wunderbare Frau in ihrem Leben geliebt. Hier sitzen wir beide nun
--- und sie -- sie ist bei uns! Und sie ist glücklich!«
-
-Es entstand eine Pause.
-
-»Glauben Sie denn an diese Dinge?« fragte Schwedenklee dann betroffen
-und etwas bleich.
-
-»Ob ich daran glaube? Es ist für mich Gewißheit, daß sie in diesem
-Augenblick gegenwärtig ist. Ich empfinde es deutlich. Ein Strom von
-Glück durchrinnt mich. Sie segnet uns aus einer unbegreiflichen,
-vollkommeneren Welt.«
-
-Schwedenklee schüttelte den Kopf.
-
-»Der Gedanke wäre unerträglich, daß Verstorbene uns beobachten.« Er
-erhob sich sogar vor Erregung.
-
-»Weshalb unerträglich?« Blank lächelte voller Nachsicht.
-
-»Ja, unerträglich!« wiederholte Schwedenklee an Stelle einer Antwort und
-sah gereizt aus. Er ist doch wahnsinnig, dachte er, ganz im geheimen.
-
-Blank schwieg und versank in Gedanken. »Sie war ein Genie der Liebe«,
-hub er nach langer Pause, als spräche er für sich, von neuem an.
-»Stellen Sie sich eine Pflanze vor, die täglich neue Blüten treibt,
-immer schönere, immer herrlichere Blüten -- so war sie! Sie konnte
-lieben, wie nie ein Mensch liebte! Die Liebe machte sie genial,
-schöpferisch. Denken Sie, sie wachte eine ganze Nacht, saß aufrecht
-neben mir und sagte am Morgen: ich wollte dich eine ganze Nacht lang
-atmen hören! Denken Sie: Rosa war eine leidenschaftliche Raucherin. Sie
-rauchte zwanzig bis dreißig Zigaretten am Tage. Wenn ich aber verreiste,
-auf ein Gastspiel, und sie konnte nicht mitkommen -- all die zwanzig
-Jahre waren wir zusammengerechnet nicht vier Wochen voneinander
-getrennt! -- so rauchte sie nicht. Das sind natürlich nur geringfügige
-Beispiele, schlecht gewählt dazu. Tausende solcher Züge könnte ich Ihnen
-berichten. Sie war ein unerschöpfliches Wunder. Nein, mein verehrter
-Freund, Sie haben sie nicht gekannt! -- Gottlob, sage ich,« fügte er mit
-einem eigentümlichen, verletzenden Lächeln hinzu, »denn sonst wären Sie
-_seinerzeit nicht eine Stunde länger in Paris geblieben. Nicht eine
-Minute!_« Triumphierend rief Blank dies plötzlich mit seiner heiseren
-Stimme Schwedenklee ins Gesicht.
-
-Schon keimte ein sonderbares Gefühl des Neides in Schwedenklee auf. Und
-Unmut über das Betragen seines Gastes. Man soll mit Leuten vom Theater
-nichts zu tun haben, dachte er. Diese Pathetik, diese Theatralik, die
-Bühne verdirbt den Menschen! Er wurde dunkelrot im Gesicht.
-
-Blank entging diese Veränderung Schwedenklees völlig.
-
-»Rosa erwartete Sie damals!« fuhr er geheimnisvoll und erregt fort. »Ich
-sagte Ihnen ja, in der ersten Minute -- unvergeßlicher Augenblick! --
-fiel Ihr Name. Ihr Name war es ja, der rasch eine Verbindung zwischen
-uns herstellte, erst später begriff ich es. >Schwedenklee,< sagte sie,
->oh, Sie kennen ihn? Er wird wohl in den nächsten Tagen ebenfalls hier
-sein!<«
-
-»Sie glaubte also, daß ich kommen würde?«
-
-»Sie äußerte diesen Gedanken wiederholt. Aber Sie kamen nicht. Vierzehn
-Tage lang wurden Sie erwartet. Dann sprach sie nicht mehr davon. Aber
-ich fühlte deutlich, daß sie litt.«
-
-»Litt?«
-
-»Ja. Ich -- ohne Besinnung vor Eifersucht -- fühlte es allzu deutlich.«
-
-»Ich hatte seinerzeit -- bestimmte Studien hielten mich in Paris fest
---«
-
-Spöttisch war Blanks Blick. »Ich zitterte -- ich spreche offen -- jeden
-Tag, daß Schwedenklee eintreffen könne. Aber Schwedenklee _kam nicht_!«
-
-»Nein!« warf Schwedenklee mit schwankendem Blick ein. »Er kam nicht!«
-
-»Und da fühlte ich -- beruhigt, daß Sie Rosa in Wahrheit nicht liebten.
-Sie waren ja unabhängig, Sie konnten reisen --«
-
-»Ich? Wieso? Woraus schließen Sie, daß ich Rosa oder Ellen nicht
-liebte?« Schwedenklee setzte sich zur Wehr.
-
-»Weil Sie nicht kamen!« triumphierte Blank.
-
-»Das sagt nichts«, knurrte Schwedenklee.
-
-»Doch, es sagt alles!« ereiferte sich Blank, unter dessen Augen rote
-Flecke erschienen, in großer Erregung. »Sie hätten kommen _müssen_!«
-
-»Aber Sie sehen ja, daß ich nicht _kam_!« rief Schwedenklee, ebenfalls
-außerordentlich erregt.
-
-»Ja!« Blank lehnte sich triumphierend zurück. Sein Auge funkelte. »In
-der Tat, Sie kamen nicht! Sie waren leichtsinnig, Sie ahnten gar nicht
-die Bedeutung dieser Tage! Sie ahnten gar nicht, daß es um das Glück
-Ihres Lebens, um Ihr Lebensglück ging --«
-
-»Sie werden mir mehr und mehr unverständlich, Herr Blank«, entgegnete
-Schwedenklee und zog die Brauen hoch.
-
-»Wieso? Aber ich bin ja der einzige, der ermessen kann, was Sie
-weggegeben, was Sie verschwendet, was Sie achtlos fortgeworfen haben.
-Ich! Ich allein! Zwanzig Jahre Glück -- wissen Sie, was das bedeutet?«
-rief Blank triumphierend aus. »Verstehen Sie, was zwanzig Jahre Glück
-bedeutet? Als Rosa starb, küßte ich sie, und ich fühlte, wie sie
-versuchte, mich wiederzuküssen, obschon sie halb bewußtlos war. Ich
-küßte sie, als sie schon erkaltete. Das ist das Glück von zwanzig
-Jahren! Verstehen Sie? Ich küßte sie in den Tod. Und wenn ich sterbe --
-bald! -- so werde ich ihr meine Küsse _entgegensenden_! Das ist das
-Glück von zwanzig Jahren. So steht es also. Sie sind reich -- ich bin
-ein Bettler und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll. Und doch: ich
-würde für nichts mit Ihnen tauschen, für nichts!«
-
-Hier wurde Schwedenklee wirklich böse.
-
-»Schweigen Sie doch endlich!« schrie er, indem er aufsprang, rot vor
-Zorn.
-
-Blank, der sich in der Erregung ebenfalls erhoben hatte, taumelte, wie
-von einem Schlage getroffen, zurück. Er rang nach Atem. Dann streckte er
-Schwedenklee flehend die mageren Hände entgegen, er rang diese Hände,
-daß die Finger knackten.
-
-»Verzeihen Sie mir!« schrie er. »Ich weiß nicht, was ich tue!« Er war
-einer Ohnmacht nahe. »Ein Glas Wasser!« stammelte er, und Schwedenklee
-sah, daß sich ganz plötzlich Blanks von hundert Fältchen zerknitterte
-Stirn mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt hatte.
-
-Mit zitternden Händen griff er nach dem Glas Wasser. Sein Blick war
-scheu, Vergebung heischend. Der Blick eines Menschen, der Jahre hindurch
-sich demütigen mußte -- oh, wie abscheulich!
-
- * * * * *
-
-Ja, grausam und unerbittlich sind die Menschen. Ein Mensch mit 39 Grad
-Fieber kommt zu ihnen -- trotz dem Fieber! Sie sind gerührt. Aber wenn
-der Fiebernde sich nicht wie ein normaler Mensch benimmt, gleich
-verwünschen sie ihn.
-
-Als man bei Kaffee und Likören in der Bibliothek saß, hatte Blank sich
-vollkommen wiedergefunden. Man plauderte über Theater, Oper,
-Bühnenkünstler, Dirigenten, und Blank wußte anregend zu erzählen. Der
-Name Rosa-Ellen fiel nicht mehr.
-
-Schließlich erhob sich Blank und ging an den Flügel.
-
-»Einmal noch wollen wir es versuchen!« sagte er, und seine langen
-blassen Finger glitten scheu und zögernd, als fehle ihm der richtige
-Mut, über die Tasten.
-
-Großer Ernst war über sein weißes Antlitz gebreitet. Er sang. Eine
-italienische Romanze, schwermütig, mit Anläufen der Hoffnung, zuweilen
-geheuchelt heiter. Schwedenklee verstand nicht ganz den Text.
-
-Blanks Stimme klang anfangs heiser und kraftlos, bald aber leuchteten
-einzelne Töne klar und hell auf, und schließlich floß die Stimme groß
-und gleichmäßig dahin. Mit Inbrunst, erschüttert sang Blank, und seine
-Augen füllten sich mit Tränen.
-
-Welch herrliche Stimme er gehabt haben muß, dachte Schwedenklee, der
-sich bedrückt in eine Ecke zurückgezogen hatte.
-
-Da machte ein hartnäckiger Hustenanfall Blanks Gesang ein Ende. Er
-führte das Taschentuch an die Lippen.
-
-Entmutigt und still erhob sich Blank, den Blick zu Boden gerichtet.
-
-Er reichte Schwedenklee die Hand.
-
-»Leben Sie nun wohl, Herr Schwedenklee, und Dank für diesen Abend!«
-sagte er und wandte die glänzenden Augen Schwedenklee zu.
-
- * * * * *
-
-Auch Schwedenklee griff nach dem Hut.
-
-»Ich bitte dringend, sich nicht bemühen zu wollen.«
-
-»Ich habe das Bedürfnis, noch ein paar Schritte zu gehen.«
-
-Schweigend gingen sie die dunkle Straße hinab.
-
-»Wie lau die Luft ist,« sagte Schwedenklee, sich verlegen räuspernd, »es
-wäre Zeit, daß der Frühling endlich käme.«
-
-»Es wäre wirklich Zeit!« antwortete Blank in Gedanken.
-
-Endlich faßte sich Schwedenklee ein Herz. Er begann damit, wie erfreut
-er wäre, ihn, Blank, näher kennengelernt zu haben. Wie gesagt, er hoffe,
-daß sein Gesundheitszustand sich bald bessere. Nun wisse er ja wohl, daß
-es ihm zur Zeit schwierig sei, seinem Körper jene Pflege angedeihen zu
-lassen, wie es geboten sei. -- Kurz und gut, Schwedenklee nahm einen
-Brief aus der Tasche.
-
-Blank hatte argwöhnisch auf Schwedenklees Rede gelauscht und fuhr nun
-entsetzt zurück. »Nie, nie werde ich unser freundschaftliches Verhältnis
-beflecken«, rief er mit großer Geste aus.
-
-»Aber gerade, wenn Sie das Wort Freundschaft gebrauchen --«
-
-»Nie, niemals.«
-
-Schwedenklee hatte wie gewöhnlich in seiner Unbeholfenheit nicht die
-richtige Form gefunden. In der letzten Minute, er wollte den Brief schon
-entmutigt einstecken, fielen ihm die rechten Worte ein. Er sprach davon,
-daß man einem Freunde die Erlaubnis einräumen müsse, in besonderen
-Fällen ein bescheidenes Darlehen --.
-
-Blank schien zu schwanken.
-
-»Wenn ich Ihr großherziges Anerbieten annehme, so geschieht es aus
-Gründen, die ich Ihnen nicht auseinandersetzen kann!« sagte er dann mit
-einem tiefen, langen Blick und nahm den Brief unter Dankesversicherungen
-in Empfang.
-
-»Sobald ich in der Lage sein werde ...«
-
-»Keine, nicht die geringste Eile!«
-
-Es gelang schließlich Schwedenklee sogar, Blank in eine Droschke zu
-stopfen, deren Kutscher er entlohnte.
-
-»Und wenn Sie einmal einen freien Abend haben, Herr Blank?«
-
-»Ich werde Ihre Güte nicht mißbrauchen. Dank und leben Sie wohl -- für
-immer!« rief Blank. Und dann, schon in der Droschke, fügte er noch
-einige Worte hinzu, denen Schwedenklee an diesem Abend keinerlei
-Bedeutung beimaß. Er sagte: »Ich bin glücklich, Sie näher kennengelernt
-zu haben. _Wie wichtig das für mich ist, werden Sie vielleicht einmal
-erfassen._« Aber, wie gesagt, Schwedenklee beachtete diese Worte an
-diesem Abend kaum.
-
-Blanks bleiche Hand winkte aus dem Fenster. Die Droschke rollte davon
-und im Nu war sie unter anderen Gefährten untergetaucht.
-
-»Nun, Gott sei Dank, das wäre überstanden!« sagte Schwedenklee zu sich
-selbst. »Großer Gott, was für Elend gibt es auf dieser Welt.«
-
-Schwedenklee fühlte sich erleichtert und befreit von einem
-Schuldbewußtsein, das ihn quälte, ohne daß er bestimmte Ursachen hätte
-angeben können.
-
-Das Schicksal seiner Mitmenschen, ja sogar seiner Bekannten und Freunde,
-kümmerte Schwedenklee, der immer mit sich selbst beschäftigt war, nicht
-allzusehr. Von Zeit zu Zeit hatte er das Bedürfnis, diese
-Gleichgültigkeit, die er recht wohl als Mangel empfand, durch irgendeine
-gute Handlung zu sühnen. Er schenkte, zum Beispiel, einer armen Frau,
-die fünf Kinder hatte, eine Summe Geldes, einen Posten Wäsche und
-Kleider.
-
-So hatte er Blank heute eine ziemlich große Summe aufgedrängt, um Ruhe
-zu finden vor peinigenden Gedanken, Reflexionen über die heutige
-Gesellschaft, Ungerechtigkeit der sozialen Schichtung und andere
-peinliche Dinge.
-
-Beruhigt ging er zu Bett.
-
-Sein Schlaf indessen war unruhig. Er träumte von Ellen. Sie hatte ihren
-Koffer gepackt, bereit abzureisen. Er brachte sie in einem Wagen zur
-Bahn, aber schon angesichts der glühenden Uhr des Bahnhofs befahl sie
-dem Kutscher zu wenden und zum Hotel zurückzufahren. Später, da stand
-sie schon im Zuge, der Zug fuhr schon an, aber sie sprang im letzten
-Moment -- zum Erstaunen und Schrecken aller Reisenden, die laut
-aufschrien -- aus dem Zuge. Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie sie.
-Da verfiel Schwedenklee -- im Traum -- auf einen infamen Gedanken. Er
-beschwätzte Ellen, daß er mit ihr reisen werde. Sie war überglücklich,
-und sie fuhren zusammen. Bei der ersten Station verließ er heimtückisch
-den Zug. Es war eine Station voller Dunkelheit und Düster, und er sah
-das schöne glückliche Gesicht der Ahnungslosen an sich vorübergleiten.
-
-Hier erwachte Schwedenklee. Er war heiß, unruhig und voller Ängste. Die
-Nacht war finster und lang. Vielleicht, dachte er, wäre ich mit dieser
-Frau glücklich geworden? Vielleicht hat er recht, vielleicht habe ich
-das Glück meines Lebens leichtsinnig fortgeworfen?
-
-Am Morgen erinnerte er sich deutlich an den Traum. Wie sonderbar, dachte
-er, Ellen reiste in der Tat schwer ab. Wir telegraphierten sogar an das
-Theater, jetzt erinnere ich mich. Aber ich wünschte, daß sie reiste,
-denn -- ich hatte ja schon eine Verabredung mit ihrer Freundin, dieser
-rotbäckigen, stupsnäsigen Schwedin -- wie hieß sie? -- Fräulein Svenska.
-Ja, leichtsinnig ist die Jugend.
-
-»Welch ein Schuft bist du doch gewesen, Schwedenklee!« sagte er zu sich.
-»Und diese Frau hat dich vielleicht wirklich geliebt!«
-
-
-
-
- 11
-
-
-Ellen -- Blank -- schon nach kurzer Zeit streifte Schwedenklee das
-immerhin nicht alltägliche Erlebnis nur noch selten in seinen Gedanken.
-Er hatte die Verbindung mit Fräulein Wiedehopf wieder aufgenommen, und
-seine Beziehungen zu der jungen Dame waren rasch vertraut geworden, in
-viel kürzerer Zeit, als er anfänglich beabsichtigt hatte. Er hatte
-Verpflichtungen, war wenig zu Hause, seine Gedanken waren durch die neue
-Freundschaft hinlänglich beschäftigt.
-
-Etwa zwei Wochen nach jenem Abendessen, als er nachmittags gerade das
-Programm zu einem Ausflug entwarf, klopfte Augusta und meldete Blank.
-
-»Herr Blank wartet mit einem Wagen vor der Türe.«
-
-»Wer?«
-
-»Herr Blank. Der Herr von neulich!«
-
-Ungläubig und etwas verwirrt starrte Schwedenklee auf Augusta -- schon
-kam ihm Blank mit ausgestreckten Händen entgegen.
-
-»Ich hatte gelobt, Ihre Liebenswürdigkeit nicht mehr zu mißbrauchen!«
-rief er lebhaft aus. »Sie sehen, ich bin schwach geworden. Wenn Sie mich
-nicht tief unglücklich machen, kränken wollen, müssen Sie mir erlauben,
-Sie zu einer Wagenpartie nach dem Grunewald einzuladen.«
-
-»Ich bin leider gerade sehr beschäftigt, Herr Blank.«
-
-»Nein, nein, verletzen Sie mich nicht, ich bitte Sie! Geben Sie mir
-Gelegenheit, mich für Ihre Einladung zu revanchieren.«
-
-Schwedenklee fand sich noch immer nicht zurecht. Wagen -- Grunewald --
-und wie sah Blank aus? Er war kaum wiederzuerkennen!
-
-Er trug einen noch recht ordentlich aussehenden dunkeln Ulster, einen
-neuen Hut, neue Schuhe -- und seine Blässe war völlig verschwunden. Sein
-Gesicht war leicht und gleichmäßig gerötet, wie das eines gesunden,
-glücklich erregten Menschen. Erst später fand Schwedenklee, daß diese
-Röte von hohem Fieber herrührte.
-
-Blanks Augen strahlten vor Freude, es war Schwedenklee ganz unmöglich,
-ihn zu enttäuschen. Er bat noch um eine Minute Geduld.
-
-»Ich werde dem Kutscher unterdessen Bescheid sagen. Sie essen doch im
-Grunewald mit mir?«
-
-Nun rollten sie dahin.
-
-»Mein Freund!« rief Blank unter lebhaften Gesten aus. »Ich sehe, Sie
-sind außerordentlich erstaunt. Ich bin es ja selbst! Noch immer kann ich
-es nicht fassen. Wissen Sie denn, was geschehen ist? Niedergebrochen,
-erschöpft, in Verzweiflung, habe ich plötzlich neuen Lebensmut bekommen.
-Ahnen Sie, was das bedeutet? Neuen Lebensmut? Ich fange wieder an zu
-hoffen. Vielleicht -- ja wer weiß es, aber ich habe immerhin die
-Hoffnung --, vielleicht hat das Schicksal in einer guten Laune
-beschlossen, mir so etwas wie einen Nachsommer zu schenken! He,
-Kutscher, fahren Sie doch etwas hurtiger, nicht so langsam!«
-
-»Ich freue mich aufrichtig, Sie zuversichtlicher zu sehen!«
-
-»Und das kam so, mein lieber und verehrter Herr Schwedenklee! Hören Sie
-nun. Sie, mein verehrter Freund, Sie sind die Ursache! Ja! Ihr, wie
-sagten Sie in Ihrer großen Güte, Ihr Darlehen -- damit begann es. Mein
-Himmel, was ist seitdem alles geschehen! Ich bin verwirrt, kindisch
-geradezu. Ich hatte den Mut, die Selbstüberwindung, Ihren Brief nicht
-sofort zu öffnen. Bei jeder Laterne kämpfte ich mit mir. Nein, sagte
-ich, du bist kein Bettler! Zu Hause öffnete ich Ihren Brief und --
-glauben Sie mir -- ich war vor Erstaunen minutenlang betäubt. Morgen,
-sagte ich, bringe ich ihm das Geld zurück. Morgen! Aber am Morgen dachte
-ich anders. Plötzlich -- es war wie ein Wunder, stieg wieder, nach
-Monaten, ein Gefühl der Hoffnung in meinem Herzen empor. Ich sagte mir:
-wenn Gott dir einen gütigen Freund in den Weg gesandt hat, weshalb
-willst du diesen Wink des Himmels nicht verstehen? Gut, ich brachte das
-Geld nicht zurück!
-
-Ich handelte! Ich raffte mich auf! Ich löste meine Kleider aus -- hier,
-diese Kleider. Ich ging zu einem Friseur. Ich ging in eine Badeanstalt.
-Ich ging in ein Restaurant und aß. Ich wurde plötzlich ein anderer
-Mensch! Hoffnungen beflügelten mich. Ich ging in die Filmbörse. Waren
-Sie schon in der Filmbörse? Ein Kaffeehaus in der Friedrichstraße?«
-
-Schwedenklee schüttelte den Kopf.
-
-»Gehen Sie nicht hin. Sie werden nie so viel Elend, offenes und
-verborgenes, schlecht verborgenes Elend, auf einer Stelle finden. Ich
-gehe hin -- ich bin gesättigt, anständig gekleidet, ich bestelle Kaffee.
-Glückt es heute nicht, so glückt es morgen. Ich fühle Ihr Kuvert in
-meiner Tasche, ich habe keine Eile, ich fühle mich sicher.
-
-Was denken Sie? Regisseure kommen herein. Sie haben das ja nie
-beobachtet. Man kennt diese Regisseure, die Herren und Damen stürzen
-sich förmlich auf sie --! Aber auf _mir_ ruht sein Blick, der Blick des
-Allmächtigen. Ich tue, als kümmere es mich nicht im geringsten. Er
-geruht an meinen Tisch zu kommen. Er stellt sich vor, denken Sie,
-obschon ihn hier jedermann kennt und er es genau weiß. Was denken Sie,
-was geschieht? Er verpflichtet mich für zwei Filme, zwei -- bei sehr
-gutem Honorar! Zwei Filme!« Blank lachte laut heraus und breitete die
-Arme den Vorübergehenden entgegen.
-
-»Ich hatte früher eine Verachtung für den Film, müssen Sie wissen. Er
-erschien mir wie eine Profanierung der Kunst. Ich war immer Idealist,
-das heißt ein Dummkopf -- werde es bleiben bis an mein Lebensende, kann
-nicht anders. Ich lehnte früher, da ich noch auf hohem Rosse saß, jedes
-Engagement ab. Später aber gab sich es bescheidener und war zufrieden,
-in der Komparserie zu filmen, bis ein Regisseur schrie: Bedauere, Sie
-_verhusten_ mir ja jede Aufnahme. Ja, so sagte er: Sie verhusten ...
-hahaha!«
-
-So laut war Blank, so froh erregt, daß Schwedenklee der Überzeugung war,
-er sei etwas angeheitert.
-
-»Zwei Filme also,« fuhr Blank lebhaft fort, »Sie sehen, das Unfaßbare
-war geschehen. Ein Wunder hat sich ereignet! Das Schicksal hatte mich
-völlig vergessen, plötzlich aber ließ es sein Auge wieder in Gnaden auf
-mir ruhen. Ich filme bereits eine ganze Woche, heute, am ersten freien
-Tag, eilte ich zu Ihnen, um Ihnen die große Neuigkeit zu verkünden. --
-Im ersten Film, der zur Zeit gedreht wird, spiele ich die Rolle eines
-Günstlings der großen Katharina, der an schleichendem Gift, das ihm sein
-Rivale, ein französischer Abbé, eingab, dahinsiecht. >Die Rolle ist
-Ihnen wie auf den Leib geschrieben, Blank<, sagte der Regisseur. Sie
-sehen! Ja, eine herrliche Sache: ich sieche dahin, drei Akte hindurch.
-Meine erlauchte Geliebte läßt mich fallen im Augenblick, da ich den
-Stempel des Todes auf der Stirn trage. Aber ich räche mich ...«
-
-Blank nahm eine Schachtel aus der Tasche und bot Schwedenklee eine
-Zigarette an. »Ich habe nicht vergessen, daß Sie ein leidenschaftlicher
-Raucher sind, hoffentlich schmeckt Ihnen die Marke. He, Kutscher, lieber
-Freund, halten Sie einen Augenblick!« Und Blank bot mit fliegender Hand
-Feuer. »Und nun, lassen Sie das Pferdchen wieder laufen!«
-
-Wohlig stieß Blank die Rauchwolken in die durchsonnte Luft, indem er
-fortfuhr:
-
-»Weitaus amüsanter ist der andere Film, den wir in acht Tagen drehen
-werden. Er wird Sie erheitern, mein verehrter Freund. Ich bin also ein
-heruntergekommener Graf und sitze an der Straße als Bettler! Eine Dame,
-die mich in meinem früheren Leben kannte, eine Tänzerin, reicht mir --
-sie ist eben im Begriff, in ihr Auto einzusteigen -- ein Goldstück. Aber
-siehe da, schon erkennt sie mich. Sie nimmt mich in ihren Wagen. Die
-Menge der Neugierigen, die sich ansammelte, spendet ihrem mitleidigen
-Herzen Beifall. Ich werde gefüttert, gepflegt -- und schon bin ich
-wieder ein Graf, ein hochfeudaler, etwas hinfälliger Greis. Die Tänzerin
-unterbreitet mir einen Ehekontrakt. Sie will meinen Adel heiraten, und
-ich soll nach der Trauung, laut Kontrakt, verschwinden für immer. Aber
-was glauben Sie? Ich tue es nicht, ich bin nun wieder an das gute Leben
-gewöhnt, drohe, verteidige meine Ehre, werfe die Liebhaber die Treppe
-hinunter, sperre meine schöne Gattin in die Bügelkammer. Hahaha! Ist es
-nicht lustig? Ja, auch Sie müssen lachen. Ich sehe sogar, daß Sie
-gespannt sind, wie es endet, aber Sie schämen sich zu fragen. Habe ich
-recht?«
-
-»Ja, Sie haben recht.«
-
-»Nun, so sollen Sie hören. Meine Gemahlin ist schlauer als ich. Sie lädt
-eine Nichte ein, ein süßes Geschöpf -- ich bin töricht genug, mich zu
-verlieben, werde bei einem zärtlichen Tete-a-tete ertappt -- Scheidung!
-Meine Aktien stehen schlecht, ich bin genötigt, mich zu verabschieden,
-stecke die Abfindungssumme ein, und in der Schlußszene sehen Sie mich
-als alten Gecken flanieren. Ich mache Bekanntschaft, Sekt, meine Dame
-stiehlt mir die Abfindungssumme und die Kellner werfen mich auf die
-Straße -- hahaha!«
-
-»Aber Kutscher,« unterbrach Blank plötzlich seinen Redeschwall und
-berührte, erschrocken aufspringend, die Schulter des Kutschers, »ist es
-denn nötig, daß Sie uns mitten in den See hineinfahren?« Augenblicklich
-aber sah Blank seine Täuschung ein. »Verzeihung -- ja, es war eine
-Sinnestäuschung. Ich sehe ja, es ist der Himmel, der sich im Asphalt
-spiegelt, es war nur eine vorübergehende -- wie soll ich sagen --?«
-
-»Ich glaube,« fuhr Blank nach einer Pause mit der gleichen Lebhaftigkeit
-fort, »mein Glück hat mich schwindlig gemacht! Ich fiebere in diesen
-Tagen sehr stark, aber ich fiebere, weil ich wieder hoffe. Ich empfinde
-dieses Fieber geradezu angenehm! Ja, merkwürdig und geheimnisvoll ist
-dieses Leben! Ist es nicht sonderbar, daß schon früher einmal Sie, ja
-gerade Sie, verehrter Freund, Sie und kein anderer es waren, der in
-einem Augenblick der größten Verlegenheit entscheidend in mein Leben
-eingriff? Soll man da nicht an Mysterien, an wunderbare, geheime
-Zusammenhänge glauben?«
-
-Schwedenklee war äußerst erstaunt. »Ich sollte schon früher einmal --?«
-
-»Ja!« Blank rückte vertraulich näher und lachte. »Ja! Ein Geständnis.
-Ich habe Ihnen erzählt, daß ich Rosa in Nürnberg kennenlernte. Mein
-Engagement in dieser Stadt war geradezu kläglich, und ich war ziemlich
-abgerissen. Nun schrieb mir ein Kollege aus Köln, daß dort eine Vakanz
-sei. Köln! Aber wie nach Köln kommen, ohne Geld, in diesem Aufzuge --
-zum Verzweifeln. Ich sprach mit Rosa, und Rosa sagte, ich werde an
-Schwedenklee schreiben.«
-
-»Schrieb sie denn?«
-
-»Ja. Sie flunkerte ein bißchen, daß sie notwendige Garderobe brauche.
-Und Sie sandten postwendend tausend Franken.
-
-Tausend Franken! Reise, Anzug, Hotel, oh, wie wichtig ist das -- Sie
-ahnen es nicht, da Sie das Theater nicht kennen. Alles war plötzlich
-ermöglicht! Übrigens haben wir Ihnen die tausend Franken nach zwei
-Monaten zurückgeschickt«, sagte Blank voller Genugtuung.
-
-»Ja -- was für merkwürdige Zusammenhänge! Und nun wieder! Fühlen Sie,
-wie wunderbar die Luft ist!« schwärmte Blank, während sie in den
-Grunewald hineinrollten. »Und die Sonne wärmt schon ordentlich! Sie
-ahnen nicht, wie glücklich ich bin ...«
-
-Blank lehnte sich behaglich in den Wagen zurück. Er nahm den Hut ab und
-ließ die heiße Stirn im Luftzuge kühlen.
-
-
-
-
- 12
-
-
-Fräulein Nelly Wiedehopf -- die Dame mit den turmartig aufgebauten
-Haaren und den glänzend polierten Fingernägeln -- hatte ihre
-Eigenheiten. Es ging nicht alles so, wie Schwedenklee gedacht hatte.
-Einmal erschien sie höchst erregt -- ihr Polarfuchs war gestohlen worden
-oder sie hatte ihn verloren. Jedenfalls, der Polarfuchs war
-verschwunden. Sie redete tagelang von dem Polarfuchs, war in
-schlechtester Laune, so daß sich Schwedenklee endlich entschloß, ihr
-einen neuen Polarfuchs zu kaufen. Kaum aber hatte er den Pelz gekauft,
-da fand sich der alte Polarfuchs wieder! Und nun ließ sie den alten
-Polarfuchs in einen Muff umarbeiten, mit Seidenfutter und einer
-eleganten Innenausstattung für Spiegel und sonstige Kleinigkeiten --
-vergebens wies Schwedenklee darauf hin, daß der Sommer vor der Türe
-stand.
-
-Kürzlich aber passierte folgende, immerhin etwas peinliche Sache: Nelly
-erschien mit rotgeweinten Augen. Ihre Tante in Lübeck war gestorben. Sie
-brauchte ein Trauerkostüm, Reisegeld und, da die Tante sehr arm war,
-noch einen Zuschuß zu den Beerdigungskosten. »Ich kann die Schwester
-meiner Mutter unmöglich wie eine Armenhäuslerin begraben lassen auf
-städtische Unkosten!« Nelly war völlig aufgelöst. Schwedenklee griff in
-die Brieftasche. Besonders der Zuschuß zu den Beerdigungskosten
-schmerzte ihn. Ging es nicht etwas sehr weit, daß er sogar die
-Bestattungskosten einer Tante tragen sollte, von deren Existenz er erst
-in dem Augenblick etwas erfuhr, da sie starb?
-
-Er empfahl Sparsamkeit, die wahre Trauer zeige sich nicht in
-Äußerlichkeiten. Er, für seine Person, würde zum Beispiel gern mit einer
-einfachen Holzkiste zufrieden sein -- er würde sie einem der
-entsetzlichen Särge sogar vorziehen! Überhaupt mache man zu große
-Scherereien mit Verstorbenen, die ja nur den einen Wunsch hätten, daß
-man sie in Ruhe lasse.
-
-Nelly nannte ihn herzlos. »Natürlich,« rief sie aus, »du hast ein
-herrliches Leben genossen, was kümmert es dich, wenn du in einer
-billigen Kiste begraben wirst? Aber Leute, denen es kümmerlich ging im
-Leben, wollen wenigstens als Tote einigermaßen wohlhabend erscheinen.
-Aber das wirst du nie begreifen.«
-
-Immer wurde Nelly sofort ausfallend!
-
-Um es gleich zu sagen: die ganze Sache mit der verstorbenen Tante war
-eine Lüge. Nelly fuhr nach Lübeck, das ist wahr. Sie erschien nach etwa
-einer Woche wieder, in ihrem schwarzen Trauerkostüm, das die Blässe
-ihres Gesichtes herrlich hervorhob, kokettierte sie nach allen Seiten --
-später aber verplapperte sie sich. Es kam an den Tag, und sie gestand:
-es war ein Einfall von ihr, dem sie nicht widerstehen konnte.
-
-Schwedenklee war verstimmt und zog sich zurück. Das ging denn doch zu
-weit. Und dazu hatte Nelly richtig geweint, aus Schmerz über den Tod
-einer Tante, die gar nicht existierte. Diese Frauen waren wirklich ein
-Rätsel!
-
-»Nein, nein,« sagte Schwedenklee zu sich, »dir kann man ja schon alles
-aufbinden!« Seine Eitelkeit war tief verletzt.
-
-Aber Nelly hatte ihre Vorzüge, ohne Zweifel. So war sie, zum Beispiel,
-sehr leidenschaftlich. Sie zitterte, wenn man sie nur mit den Lippen
-berührte. Aber vielleicht ist auch das nur Komödie? dachte Schwedenklee,
-unsicher geworden. Man weiß wirklich nicht mehr, woran man bei diesen
-Frauen ist!
-
-Sodann war Nelly interessant! Ihr Teint war bleich, und je näher man sie
-betrachtete, desto bleicher erschien ihr Teint. Sie hatte kleine
-rötliche Sommersprossen, die den Teint noch durchsichtiger erscheinen
-ließen. Sie hatte scharfe, helle Vogelaugen, die Brauen wuchsen leicht
-zusammen, und wenn man sie ganz nahe betrachtete, erschien ihr Gesicht
-in der Tat fast gespenstisch.
-
-Nelly verstand es, sich zu kleiden -- mit nichts! Mit nichts täuschte
-sie den Luxus einer reichen Ausländerin vor. Man nahm an, daß
-Schwedenklee Tausende für sie ausgab. Das schmeichelte Schwedenklees
-Eitelkeit immerhin.
-
-Nelly verstand es, sich zu benehmen. Man konnte mit ihr getrost in
-ersten Hotels dinieren -- die Kellner wichen ersterbend zurück. Ein
-Lächeln von ihr entzückte den Direktor, die Herren verdrehten die Hälse.
-(Und doch war sie nur Buchhalterin in einem Herrenschneidergeschäft!)
-Wie sie ihren Fuß setzte -- das allein war ein Roman!
-
-Aber was zuviel ist, ist zuviel. Schwedenklee zog sich zurück. Er
-erkaltete. Aus purer Bosheit reiste er nach Lübeck -- zu Studienzwecken
--- und sandte ihr eine Ansichtskarte.
-
-Als er zurückkehrte, fand er einen kurzen, aber zu seiner größten
-Verwunderung herzlich und warm gehaltenen Brief von Nelly vor. Dazu ein
-Paar antiker goldener Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte.
-
-Schwedenklee war beschämt. Er hatte kaum den Mantel abgeworfen, so
-schrieb er Nelly schon einen langen Brief. »Das mit den Ohrringen würde
-er ihr nie verzeihen!«
-
-Am nächsten Tage schon kam Nelly. Sie stürzte in seine Arme und biß ihn
-so stark in die Wange, daß man tagelang ihre Zähne sah. »Das zur
-Strafe!« sagte sie. Nach Tisch begann sie plötzlich zu singen -- nun,
-kurz und gut, es stellte sich heraus, daß man während seiner Abwesenheit
-ihre Stimme entdeckt hatte! Sie wollte sich ausbilden lassen. Sie war in
-größter freudiger Erregung. In Wirklichkeit, Nelly hatte eine kräftige,
-wenn auch etwas grelle Stimme.
-
-»Du hast jene unerklärliche Nebenschwingung in der Stimme,« sagte
-Schwedenklee sachverständig, »jenes Timbre, das nur große Sängerinnen
-haben, dazu hat deine Stimme Umfang. Du hast auch die bezeichnende,
-etwas belegte Sprechstimme -- weiß Gott, wieso ich deine Stimme nicht
-früher erkannte.«
-
-»Weil du kein wirkliches Interesse für mich hast!«
-
-Schwedenklee tat gekränkt. Die Versöhnung war vollständig. Schon in den
-nächsten Tagen lud Schwedenklee den Bassisten von der Oper -- mit dem er
-zuweilen Schach spielte -- zu sich zum Abendessen. Er sollte sein Urteil
-abgeben.
-
-Wiederum hatte Augusta sich alle Mühe gegeben. Sie liebte Nelly, denn
-Nelly lief immer in die Küche, umarmte Augusta, die von der Hitze des
-Herdes schwitzte, und küßte sie sogar auf die Backe.
-
-Der Bassist aß mit vorzüglichem Appetit und trank ganz allein eine
-Flasche teuren Rheinwein. Dann sang Nelly zu Schwedenklees Begleitung.
-
-»Herrlich, wunderbar!« schrie der Bassist begeistert und klatschte mit
-den fetten Händen. »Die Patti, die Hempel, die Farrar -- in zwei Jahren
-werden Sie in Neuyork singen!«
-
-»Siehst du?« sagte Nelly mit einem triumphierenden Blick.
-
-Man schmiedete Pläne, entwarf Programme, wählte Lehrer, der Bassist bot
-sich für die stimmtechnische Ausbildung an. Und zwar ohne jegliches
-Honorar! Aber Schwedenklee protestierte energisch und erklärte Schwarz
-klipp und klar, daß er ihm Nellys Ausbildung nur dann anvertrauen würde,
-wenn der Sänger sie zu seinen gewohnten Bedingungen als Schülerin
-annehmen würde. In die Ecke gedrängt, willigte Schwarz endlich ein.
-Schwedenklee war in gehobener Laune und holte neuen Wein aus seinem
-Geheimschrank.
-
-Nelly hauchte ihm in einer Sekunde zehn kleine verliebte Küsse auf die
-Glatze. Es blieb alles beim alten. Trotzdem -- die Sache mit der Tante
-konnte Schwedenklee nie ganz vergessen.
-
- * * * * *
-
-Es wurde schon heiß. Die Kartentische leerten sich langsam. Die
-Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute fuhren mit ihren Familien aufs Land. Nur
-in dieser Zeit wurde man plötzlich gewahr, daß fast alle Stammgäste und
-Spieler Familienväter waren. Gewöhnlich hielt man sie für Junggesellen
-ohne jegliche Verpflichtungen.
-
-Schwedenklee reiste mit Nelly auf vier Wochen nach Heringsdorf. Der
-Bassist Schwarz -- der die stimmtechnische Ausbildung übernommen hatte
--- begleitete sie. Schwedenklee hatte ein kleines Gut an der Ostsee, und
-Nelly, der er zuweilen von dem Landgut vorgeschwärmt hatte, wollte
-zuerst dort den Urlaub verbringen. Sie träumte von Hühnern, Schweinen,
-Leiterwagenpartien. Aber Schwedenklee setzte plötzlich die Besitzung
-herab -- das Haus sei feucht! Die Kinder des Pächters hätten
-Diphtheritis! Aus irgendeinem Grunde -- das fühlte Nelly -- wollte er
-sie nicht in »Siebenbirken« haben.
-
-Aber sie tröstete sich schließlich mit Heringsdorf. Sie brachte ein
-halbes Dutzend von Badekostümen mit, die Aufsehen erregten, so kühn
-waren sie. Und woraus waren sie gemacht? Aus _nichts_!
-
-Nelly feierte Triumphe. Nach drei Tagen schon war sie eine der
-bekanntesten Erscheinungen in Heringsdorf. Man beneidete Schwedenklee um
-diese Frau, er fühlte es deutlich. (Und doch war sie nur Buchhalterin in
-einem Herrenschneidergeschäft!)
-
-Die stimmtechnische Ausbildung nahm ziemlich viele Stunden des Tages in
-Anspruch. Es gab sogar kleine Eifersuchtsszenen, obschon es
-Schwedenklees oberstes Prinzip war, nie zu zeigen, daß ihm eine Frau so
-viel wert war, daß er eifersüchtig werden könnte. »Denn dann«, pflegte
-er zu sagen, »bist du verloren, mein Sohn!«
-
-Es war ja selbstverständlich, daß Schwedenklee die Hotelrechnungen des
-Bassisten bezahlte -- sonstige Honorare forderte Schwarz während des
-Badeaufenthalts nicht. Er tat es aus Begeisterung für Nellys Stimme.
-
-Nun, Gott sei Dank, auch diese Wochen gingen vorüber, und nun saß Nelly
-wieder -- duftend, wie aus dem Ei geschält -- in der Herrenschneiderei.
-
-Nellys Unterricht bei Schwarz ging natürlich ohne Unterbrechung weiter
--- in nächster Zeit begann auch der dramatische Unterricht bei einem
-Schauspieler.
-
-Alles hat schließlich seine Grenzen, dachte Schwedenklee, als er die
-letzten Stundengelder bezahlte.
-
-
-
-
- 13
-
-
-Schwedenklee hatte im Laufe des Sommers kaum mehr an Blank gedacht. Bei
-seiner Rückkehr fand er einen Brief vor, voller Dankesbeteuerungen --
-die geliehene Summe lag bei -- bei Heller und Pfennig.
-
-Auch das hatte Schwedenklee vergessen, als der Winter anbrach.
-
-Er dachte gar nicht mehr an Blank. Plötzlich aber erhielt er einen
-Brief: Blank war erkrankt. Sein »Nachsommer« hatte ein rasches Ende
-gefunden. Eine Lungenentzündung hatte seiner Tätigkeit als
-Filmschauspieler ein rasches Ende bereitet. Er war in größter Not, in
-Verzweiflung. Selbstverständlich zögerte Schwedenklee nicht, ihm
-beizuspringen. Er fühlte sich förmlich verpflichtet dazu.
-
-Dann hörte er nichts mehr von Blank.
-
-Nelly deutete an, daß sie ihre Stellung in der Herrenschneiderei
-aufgeben wolle. Aber sie fand bei Schwedenklee nur taube Ohren. Eine
-Frau von ihrer wirtschaftlichen Basis loslösen -- was bedeutete das?
-Nein, dafür war Schwedenklee nicht zu haben, sein Verantwortungsgefühl
-war zu groß.
-
-Also blieb Nelly in ihrer Stellung. Sie schmollte indessen, sie warf
-Schwedenklee vor, daß er »nicht großzügig« sei, ja geradezu geizig, eine
-Krämerseele. »Wenn ich nur einen deiner Bauplätze hätte, die heute
-Millionen wert sind,« sagte sie, »da solltest du sehen, wie ich meine
-Freunde behandeln würde! Da könntest du etwas lernen.«
-
-So sind die Frauen, dachte Schwedenklee, unersättlich!
-
-Er bezahlte die Stunden bei Schwarz, wöchentlich vier, und diese Sänger
-hatten ja unerhörte Honorare! Neuerdings kam dazu der dramatische
-Unterricht, und er hatte herausgefunden, daß Nelly mindestens die Hälfte
-der Stunden zuviel notieren ließ. So viel freie Zeit erlaubte ihr ja
-ihre Stellung in der Schneiderei gar nicht!
-
-Überdies mißfiel ihm das Verhältnis zwischen Schwarz und Nelly. Es
-schien eine etwas sonderbare Vertraulichkeit angenommen zu haben. Er
-hatte einmal einen kleinen, gänzlich unscheinbaren Blick zwischen den
-beiden aufgefangen. Nun, er, Schwedenklee, war kein heuriger Hase, er
-wußte genau, zu genau, was solch ein Blick unter Umständen bedeuten
-konnte! Er behandelte den Sänger um einige Grade kühler.
-
-»Ich habe den Eindruck,« sagte der Bassist mit gekränkter Miene, »daß
-Ihnen meine Honorare zu hoch sind?«
-
-»Ihre Honorare? Aber ich bitte Sie, Verehrtester, ich wünsche doch
-nicht, daß Sie mir besondere Preise machen. Mißverstehen Sie mich nicht
--- die Ausgaben für Nellys Ausbildung im allgemeinen ...«
-
-»Aber ich bitte Sie, Verehrtester -- für solch eine Stimme!«
-
-»Zugegeben! Aber Sie ahnen nicht, welche Beträge ich monatlich zu
-bezahlen habe. Jetzt taucht schon die Frage der Kostüme auf ...«
-
-»Gut.« Der Bassist bearbeitete mit der Kreide kunstgerecht das Leder des
-Billardqueues -- die Unterredung fand im Billardsaal des Cafés statt --
-»Ich werde also künftighin kein Honorar mehr fordern. Ich unterrichte
-aus Interesse für diese ungewöhnliche Begabung.«
-
-Schwedenklee protestierte mit großer Beredsamkeit. Unmöglich konnte er
-diesen Vorschlag annehmen, ganz unmöglich! Er geriet sogar in Erregung.
-Alles blieb beim alten.
-
-Schließlich aber hat alles seine Grenzen, dachte Schwedenklee, während
-er sorgfältig mit der Spitze des kunstvoll aufgestützten Queues nach dem
-Ball zielte.
-
- * * * * *
-
-Der Winter war lau. Nebel, Dunst, Regen. Nur dann und wann lag schwarzer
-Schnee auf den Dächern. Im Februar aber setzte plötzlich eine solch
-grimmige Kälte ein, daß die Dampfheizung nicht mehr genügte.
-Schwedenklee mußte seinen elektrischen Ofen zu Hilfe nehmen, um nicht zu
-frieren. Nichts haßte er mehr als Kälte.
-
-Gerade als Schwedenklee sich nach Tisch etwas niedergelegt hatte, die
-Decke über den Knien, den elektrischen Ofen neben der Ottomane, wurde er
-von Augusta aufgeweckt.
-
-»Eine Krankenschwester wünscht Sie dringend zu sprechen.«
-
-»Eine Krankenschwester?« fragte Schwedenklee ziemlich mürrisch.
-Plötzlich, schnell erwachend, erschrak er. »Mich? Ja, was in aller Welt
---?« Vielleicht Nelly, dachte er. Ah, mit diesen Frauen hat man nie
-Ruhe.
-
-Schon trat die Schwester ein, ohne viele Umstände zu machen. Sie war ein
-großes, ungeschlachtes Mädchen mit weißgelbem Haar.
-
-»Herr Schwedenklee?« Ihre Stimme klang gefühllos und herrisch.
-
-Rügend ruhte Schwedenklees Blick auf ihren unförmigen Gummischuhen, die
-sie mit ins Zimmer brachte und die seinen Teppich beschmutzten.
-
-»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, brummte er, während er die Decke
-völlig von sich warf. »Ich bin nicht ganz wohl, etwas erkältet.«
-
-Die Schwester ignorierte seine Erkältung, seine Verlegenheit, seinen
-deutlichen Unwillen über die Störung.
-
-»Ich komme von Herrn Blank«, sagte sie laut und mit völlig gefühlloser
-Stimme, als bitte ihn Blank zu einer Partie Billard. »Er liegt im
-Sterben.«
-
-»Wie sagen Sie --?« Schwedenklee sprang erschrocken auf. Er erbleichte.
-Sterben, Tod ...
-
-Die Schwester erklärte, daß Blank den dringenden Wunsch habe, ihn zu
-sehen.
-
-»Was will er von mir?« stammelte Schwedenklee.
-
-»Das weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Er hat im Fieber viel
-von Ihnen gesprochen. Ich habe den Eindruck, daß er Ihnen etwas
-Wichtiges mitteilen möchte.«
-
-»Mir? Mitteilen? Etwas Wichtiges?«
-
-»Was weiß ich? Es interessiert mich auch nicht. Sie werden also kommen?«
-
-»Ja, gewiß werde ich kommen.« Schwedenklee hätte gar nicht den Mut
-besessen, dieser energischen Person etwas abzuschlagen.
-
-»Ich schreibe Ihnen hier die Adresse auf. Im Osten. Bei der Frankfurter
-Allee.«
-
-»Sie gehen, Schwester?«
-
-»Ich kann ihn nicht allein lassen.«
-
-Schon war sie fort.
-
-»Eine unangenehm energische Person!« dachte Schwedenklee. »Gott soll
-mich davor behüten, daß ich in meiner Sterbestunde solch ein Wesen, mit
-so großen Füßen, um mich habe!«
-
-»Augusta!«
-
-Schwedenklee war sehr erregt. Einen Augenblick dachte er sogar trotz
-seiner Zusage daran, nicht hinzugehen. Der Gedanke entsetzte ihn
-plötzlich, in ein Sterbezimmer treten zu müssen. Armut dazu, vielleicht
-war es schlecht gelüftet? Aber nein, das war ja Feigheit. Ein
-Sterbender! Lieber Himmel, dieses Leben ist in der Tat eine höllische
-Erfindung. Er starrt zur Türe, wartet auf ihn, den Todesschweiß auf der
-Stirn. Nein, unmöglich! Ein Sterbender ist ein heiliges Wesen -- jeden
-Wunsch muß man ihm erfüllen.
-
-Aber in welchem Anzug geht man zu einem Sterbenden? Schwedenklee kam in
-seiner Aufregung auf den unglücklichen Einfall, einen Zylinder
-aufzusetzen -- um die Feierlichkeit zu betonen.
-
-»Mitzuteilen?« Ja, was in aller Welt mochte er ihm mitzuteilen haben?
-Schwedenklee erinnerte sich plötzlich jenes Briefes, in dem Blank
-seinerzeit schrieb, daß er ihm unter Umständen wichtige Mitteilungen zu
-machen habe.
-
-Und später hatte er widerrufen ...
-
-»Ich werde nie Ruhe vor diesem Menschen haben!«
-
-In großer Erregung eilte Schwedenklee auf die Straße. Die unmögliche
-Adresse hielt er in der Hand. Es war ja ganz undenkbar, hier an der
-Potsdamer Brücke einem Chauffeur _diese_ Adresse zu nennen. Schwedenklee
-ging zu Fuß bis zum Potsdamer Platz, um sich zu sammeln.
-
-Nein, eine unangenehmere Sache konnte man sich beim besten Willen nicht
-ausdenken. Und dazu -- plötzlich blieb Schwedenklee verwirrt stehen --
-dazu sollte Nelly um sechs Uhr zum Tee kommen! Schließlich konnte er ja
-telephonieren ... Und diese eisige Kälte, die sich wie Säure in die Haut
-fraß.
-
-Am Potsdamer Platz hatte Schwedenklee folgende Entschlüsse gefaßt.
-Erstens: ich werde hingehen. Zweitens: ich werde bis zum Alexanderplatz
-mit der Untergrundbahn fahren und dort eine Droschke nehmen -- dort
-fällt es nicht auf -- drittens: ich werde Augusta telephonieren, für den
-Fall, daß ich bis sechs Uhr nicht wieder zurück sein sollte. Viertens
-werde ich jetzt erst einen Kaffee trinken.
-
-Es dämmerte schon, als Schwedenklee in der bezeichneten Straße ankam.
-Das Auto, der Herr im Pelz und Zylinder erregten großes Aufsehen.
-Beklemmend war diese düstere Straße voll schleichender, hüstelnder
-Menschen, die seinen Zylinder und Pelz anstarrten, mit gierigen,
-höhnischen, erstaunten Augen. Frech streiften Schwedenklee die Blicke
-halbwüchsiger Mädchen.
-
-Das bezeichnete Haus strömte Armut und Verzweiflung aus. Es stand und
-schwieg, wie ein düsteres Gesicht mit zusammengebissenen Zähnen.
-
-Schwedenklee betrat es klopfenden Herzens.
-
-Das Stiegenhaus war erfüllt von fernem, wirrem Lärm. Gezänk,
-Kinderweinen, schlagende Türen. Ein saurer, unangenehmer Geruch stieg
-von der schmutzigen Treppe auf -- hier roch es nicht nach Lack und dem
-feinen Parfüm emporschwebender Pelze wie im Westen.
-
-Schwedenklee hatte von solchen Häusern bis jetzt nur _gelesen_. Hier
-wurde gemordet, tagelang lagen Verstorbene in den kalten Wohnungen,
-bevor man sie fand, Hoffnungslose lösten den Gasschlauch --
-
-»Pst -- mein Herr -- wollen Sie zu Fräulein Lisa?« Zischeln unter ihm.
-
-Schwedenklee kletterte rascher die Treppe empor, sein Herz klopfte
-erschrocken.
-
-»Pst -- pst -- mein Herr!«
-
-Achtunggebietend räusperte sich Schwedenklee, von Ekel und Furcht
-ergriffen.
-
-Er floh an den Türen vorüber, hinter denen sich unbegreifliche
-Schicksale verbargen, die zu erfahren ihn nicht gelüstete.
-
-Lärm empfing ihn im nächsten Stockwerk. Die Türe öffnete sich und eine
-korpulente Dame, offenbar in festlicher hochzeitlicher Kleidung, trat
-zigarettenrauchend, anscheinend etwas angeheitert, auf den Flur. Drinnen
-lärmten und schrien ausgelassen die Hochzeitsgäste.
-
-Schwedenklee griff an die Krempe des Zylinders.
-
-»Guten Abend!« sagte die zigarettenrauchende Braut und warf Schwedenklee
-einen langen verführerischen Blick zu. Langsam schloß sie die Türe,
-während sie Schwedenklee, der sich nicht enthalten konnte
-zurückzublicken, mit zusammengekniffenem Auge zulächelte. Der Lärm der
-Hochzeitsgäste klang ferner.
-
-Schärfer stieg wieder der schlechte Geruch aus den feuchten
-ausgetretenen Treppenstufen.
-
-Da hielt Schwedenklee den Schritt an: an einer Türe klebte ein Zettel.
-»Leise klopfen, ein Schwerkranker! Man bittet auf der Treppe nicht zu
-lärmen. Schwester Anna.«
-
-Hier also war es. Schwedenklees Herz stockte. Ein schweres, rätselhaftes
-Schnarchen, ein Sägen wie das Schnarchen eines Riesen ertönte hinter der
-Türe. Augenblicklich -- obschon er nicht weiter darüber nachdachte, was
-das sonderbare Schnarchen zu bedeuten habe -- ergriff Schwedenklee die
-Flucht.
-
-Er stieg bis zur Hochzeitsgesellschaft hinab. Dann wandte er um. »Wie
-feige ich doch bin!« dachte er.
-
-
-
-
- 14
-
-
-Zaghaft pochte Schwedenklee, und sofort, lautlos, öffnete ihm die
-weißblonde, ungeschlachte Pflegerin mit den eckigen Hüften.
-
-»Sie kommen zu spät«, flüsterte sie vorwurfsvoll, mit einem
-mißbilligenden Blick auf Pelz und Zylinder. »Noch vor einer halben
-Stunde hat er nach Ihnen gefragt. Jetzt hat er das Bewußtsein verloren.«
-»Er« nannte sie den Sterbenden, »er« -- nicht mehr wert ist ein Mensch,
-der stirbt.
-
-Der gleiche röchelnde, furchtbare Schnarchton --. Schwester Anna schob
-Schwedenklee resolut durch die Türe.
-
-»Hier, diese Türe!« sagte sie.
-
-In großer Befangenheit trat er ein.
-
-Da sah Schwedenklee, daß dieser röchelnde Schnarchton aus dem weit
-geöffneten Munde eines im Bett halb aufrecht sitzenden leichenfahlen
-Mannes mit großen, gläsernen Augen kam.
-
-Da sah Schwedenklee -- nie wußte er später zu sagen, was er früher
-gesehen hatte, den Sterbenden oder das _Andere_ -- das Wesen, das vor
-dem Bette kniete ...
-
-Das Zimmer war nicht hell. Eine kleine Petroleumlampe ohne Schirm stand
-irgendwo auf dem Tische. Der Sterbende saß in den Kissen eines grau und
-elend aussehenden Bettes. Seine Brust keuchte in kurzen Stößen, sein
-gemarterter Atem stieß Rauchsäulen in die eisige Luft, sein
-eingefallenes Gesicht blendete von Schweiß.
-
-Vor dem Bett aber kniete ein Wesen -- ein Geschöpf, etwas
-Unbegreifliches, Wunderbares, vielleicht nur eine Vision seiner
-aufgeschreckten und verwirrten Sinne? -- ein Mädchen, die Hände betend
-verkrampft, die Augen auf das Antlitz des Sterbenden gerichtet -- ein
-Wesen, verklärt, unfaßbar -- _Ellen Fröhlich_, dieselbe Ellen Fröhlich,
-die er in Paris gekannt hatte -- nur jünger und seltsam verklärt!
-
-Fassungslos stand Schwedenklee und schloß die Augen. Er tastete mit der
-Hand nach der Wand, da er fühlte, wie er schwankte ...
-
- * * * * *
-
-Wie lange dauerte dieses furchtbare Röcheln? Stunden, eine Ewigkeit. Und
-immerfort, unbeweglich kniete dieses verklärte Wesen, die Hände betend
-verkrampft vor dem Bette.
-
-Zuweilen nahm die Schwester ein feuchtes Tuch und wischte die Stirn des
-Sterbenden ab.
-
-Zuweilen hörte man den heiteren, trunkenen Lärm der
-Hochzeitsgesellschaft fern und wirr durch die Decke.
-
-Schwedenklee hatte nie gesehen, wie ein Mensch starb. Der Tod seiner
-Mutter war ihm telegraphisch mitgeteilt worden. Als der alte
-Schwedenklee im Sterben lag, hatte man ihm telegraphiert, und als er
-ankam, war schon alles vorbei.
-
-Schwedenklee stand versteinert, regungslos in der Ecke, das
-unbeschreibliche, unbegreifliche Wesen kniete, die Schwester tauchte
-zuweilen mit ihren feisten Händen das Handtuch in das Waschbecken -- und
-der Sterbende röchelte.
-
- * * * * *
-
-Das Röcheln wurde schwächer, pfeifender, und plötzlich -- nach einer
-unfaßbaren Stille -- schrie eine ganz unbegreiflich entsetzte Stimme,
-die Stimme eines Mädchens, eines Kindes: »Papa! Papa!«
-
-Augenblicklich, ins innerste Herz getroffen durch den Ton des Mädchens
--- der Kinderstimme, diesen Ton der letzten menschlichen Qual --
-augenblicklich wandte Schwedenklee sein Gesicht zur Wand. Nie in seinem
-Leben hat er diesen Schrei vergessen. Er war totenbleich und zitterte an
-allen Gliedern.
-
-
-
-
- 15
-
-
-Die Schwester zog Schwedenklee in einen feuchten, eisigen Vorraum, eine
-Art Küche mit Ausguß, die Fenster waren gefroren.
-
-»Man hat ihm,« sagte sie, »während er schon todkrank lag, die letzten
-Habseligkeiten gepfändet. Noch gestern kam die Hauswirtin und machte
-eine solch fürchterliche Szene, daß es zu Tätlichkeiten zwischen mir und
-ihr kam. Sie holte die Polizei, die Polizei aber hatte doch mehr
-Einsicht, als sie den Kranken sah, und zog ab.«
-
-»Wie schön von Ihnen!« stammelte Schwedenklee ergriffen. Er drückte der
-Schwester bewundernd die Hand »Was für eine prächtige Frau sind Sie
-doch!« Diese ungeschlachte, kalte Person, ja, es gab immer noch
-Menschen! »Ich komme für alles auf, Schwester Anna,« stotterte er
-verlegen. Immer noch zitterte er am ganzen Körper, und seine Zähne
-klapperten. Seine Nerven hatten völlig versagt.
-
-»Wir haben nichts, auch nicht einen Pfennig, nur Schulden.«
-
-»Nun, so nehmen Sie, bitte. Ich gehe. Morgen früh bin ich wieder hier,
-ich habe heute nicht länger Zeit.«
-
-»Einen Augenblick!« sagte Schwester Anna und nahm ein Päckchen Briefe
-von einem verstaubten Brett.
-
-»Das hier ist für Sie, und hier ist ein Brief, den Blank gestern
-schrieb.«
-
-»Danke«, stammelte Schwedenklee und stürzte mit seinem Zylinder die
-Treppe hinab.
-
-Noch heute wußte Schwedenklee nicht zu sagen, wie er wieder in sein
-Stadtviertel zurückgekommen war. Er erwachte aus einer Art von geistiger
-Starre, als der Chauffeur die Türe des Autos öffnete. Zu seinem großen
-Erstaunen stand das Auto vor seinem Stammcafé.
-
-In einem völlig verstörten, entgeisterten Zustand kam Schwedenklee in
-den Billardsaal. Ohne zu denken hatte er offenbar dem Chauffeur das
-Stammcafé genannt.
-
-Niemand sprach ihn an, der Kellner wagte kaum guten Abend zu sagen --
-jeder fühlte, daß mit Schwedenklee etwas Außergewöhnliches geschehen
-war.
-
-»Lieber Freund!« Hinter einer Zeitung verborgen, zitternd an allen
-Gliedern, zuweilen Kaffee schlürfend, um seine Erregung zu verbergen,
-entzifferte Schwedenklee Blanks letzten Brief.
-
-»Lieber Freund! Ich habe große Eile. Schon umhüllen mich die Schleier
-des Todes. Ich verbrenne vor Qual. Der Gedanke an Sie ist mein einziger
-Trost, und ich klammere mich an Sie.
-
-Erbarmen Sie sich meiner Tochter Ellen! Beim Andenken Ihrer Mutter --
-erbarmen Sie sich meines Kindes. Ich übergebe Ellen Ihrem Schutz!«
-
-Schwedenklee zitterte, totenbleich im Gesicht, hinter seiner Zeitung.
-
-Der Bassist Schwarz näherte sich.
-
-»Nelly ist bitterböse auf Sie!« schrie er laut lachend. »Sie hat eine
-Stunde auf Sie gewartet, mein Gott, wie böse sie war!«
-
-Schwedenklee wich dem Blick des Sängers aus.
-
-»Verzeihen Sie«, sagte er leise und stockend, bebend vor verhaltener
-Erregung. »Ich komme soeben vom Sterbebett eines Freundes.«
-
-»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, stammelte Schwarz und begab sich
-rasch zu den Kartentischen.
-
-»Ich übergehe Ellen Ihrem Schutz ...«
-
-Heiß stieg ein heiliges Gelübde aus Schwedenklees Herzen. Plötzlich nahm
-er Pelz und Zylinder, und mit einem verwirrten Lächeln auf dem
-verstörten Gesicht eilte er zum großen Erstaunen der Gäste rasch die
-Treppe hinab.
-
- * * * * *
-
-In den folgenden Tagen sah man Schwedenklee sehr geschäftig: im
-Zylinder, schwarzem Überzieher. Er fuhr im Auto ab, er kehrte im Auto
-zurück. Den ganzen Tag war er unterwegs, er aß in der Stadt. Er sprach
-fast nichts, seine Miene war ernst, feierlich.
-
-Stundenlang ging er, tief in Gedanken versunken, durch die Zimmer seiner
-Wohnung. Endlich war er ins reine gekommen. Er klingelte Augusta.
-
-»Augusta,« sagte er, »wir müssen diese Zimmer umräumen. Sagen Sie dem
-Portier, daß er mir morgen früh helfen soll. Ich --« er verlor unter
-Augustas Blick die Sicherheit -- »wir werden Besuch bekommen. Die
-Tochter meines verstorbenen Freundes wird bei uns wohnen.«
-
-Augusta legte den Kopf auf die Seite, zog den Mund breit und betrachtete
-ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Dann wandte sie sich hastig ab und schlug
-die Türe zu. Das war Augustas Antwort.
-
-»Nun gut,« dachte Schwedenklee, »soll sie gehen, die alberne Gans!«
-
-An einem Nachmittag fuhr ein Auto vor Schwedenklees Haus vor. Zuerst
-stieg Schwedenklee aus, sehr erregt, scheue Blicke um sich werfend, und
-dann eine schmächtige, ganz in Schwarz gekleidete, tief verschleierte
-junge Dame, die eine armselige kleine Handtasche trug und den Blick auf
-den Boden heftete.
-
-Unbeweglich, hilflos stand die junge verschleierte Dame auf der Treppe,
-während Schwedenklee den Chauffeur entlohnte.
-
-»Augusta!« rief Schwedenklee. Aber niemand regte sich, das Haus schien
-verlassen.
-
-Schwedenklee war äußerst verlegen und sehr aufgeregt.
-
-Er hatte zwei kleine Zimmer seiner Wohnung mit antiken Möbeln hübsch und
-anheimelnd eingerichtet, so daß ein junges Mädchen von Geschmack daran
-Gefallen haben mußte. Sogar einen kleinen elektrischen Ofen hatte er
-angeschafft, damit sein Gast nicht frieren solle.
-
-»Ich habe diese kleinen Zimmer für Sie eingerichtet, Ellen«, sagte
-Schwedenklee mit unsicherer Stimme. »Hoffentlich fühlen Sie sich wohl
-hier. Auf jeden Fall, Sie sind hier ganz zu Hause.«
-
-»Danke«, sagte die tief verschleierte junge Dame tonlos, ohne einen
-Blick in die Zimmer zu werfen, die Augen zu Boden gerichtet,
-unbeweglich.
-
-»Jedenfalls vergessen Sie nicht, daß Sie hier ganz zu Hause sind«,
-wiederholte Schwedenklee verwirrt und ging zur Türe. »Sie werden gleich
-Tee bekommen. Ich denke, Sie wollen allein sein, und werde Ihnen Augusta
-schicken.«
-
-Das Mädchen in schwarzer Kleidung wandte sich ihm zu.
-
-»Dank für alles, was Sie für Papa getan haben«, flüsterte sie tonlos,
-ohne den Blick zu heben. Sie zitterte heftig. Und plötzlich fiel sie vor
-Schwedenklee in die Knie. »Dank!«
-
-Schwedenklee hob den schlanken, zarten Körper auf. Er war aufs tiefste
-erschüttert.
-
-»Sie sollen nicht so sprechen. Es ist ja alles selbstverständlich.«
-Rasch verließ er das Zimmer.
-
-»Jetzt ist sie hier! Jetzt ist sie bei mir!« flüsterte Schwedenklee, als
-er die Türe seines Zimmers hinter sich geschlossen hatte, und ein Strom
-von Glückseligkeit durchrann ihn.
-
-
-
-
- 16
-
-
-Immer noch sah er sie vor sich, wie sie, die schlanken Hände verkrampft,
-mit dem Ausdruck letzter Inbrunst, Andacht, Aufgelöstheit vor dem Bette
-kniete, das bleiche, schöne Antlitz verklärt von unbegreiflichem
-Schmerz. Eigentlich, sagte er sich, sah sie aus, als ob sie grenzenlos
-erstaunt wäre, ja, Staunen, Verwunderung -- nein, ich weiß nicht, es ist
-jedenfalls nicht in Worten auszudrücken.
-
-Unauslöschlich hatte sich dieses Bild in sein Gedächtnis eingegraben.
-
-Er liebte es, sich diesem Anblick hinzugeben, obschon ihn die Dampfwolke
-peinigte, die aus dem verzerrten Munde des Sterbenden über die rauhe
-Wolldecke fuhr.
-
-Dann sah er sie, in letzter Schärfe, in ihrer Trauerkleidung vor sich.
-Das schwarze Hütchen, der schwarze Schleier, der ihr Gesicht ganz
-durchsichtig erscheinen ließ -- ihre Lippen, ihr atmender Mund, ihr
-scheues Tierauge, die Grübchen in ihren glatten Wangen -- und wie bei
-ihrer Mutter war das Grübchen auf der rechten Wange etwas tiefer als auf
-der linken. Die schwarze Halskrause, aus der ihr feiner Nacken stieg,
-ganz wie Ellens, der Mutter, Nacken. Und nun war sie hier!
-
-Lieber Himmel, Schwedenklee war ganz verwirrt!
-
-Es war nicht leicht gewesen, Ellen, die der Schmerz fassungslos gemacht
-hatte, in ein Magazin für Trauerkleider zu bringen. Hundertmal
-wiederholte Schwedenklee mit unendlicher Geduld: »Aber Sie können doch
-nicht _so_ Ihren Vater beerdigen, seien Sie doch vernünftig!«
-
-Endlich ließ sie sich bewegen. Aber sie wünschte das Kleid so einfach
-wie nur möglich. Die Verkäuferinnen, gerührt von ihrer Schönheit und
-Hilflosigkeit, bemühten sich um sie. Schließlich stand sie fertig
-angekleidet vor dem Spiegel. Sie blickte hinein und errötete!
-Blitzschnell ergoß sich die Röte, zart, wie ein Hauch, über ihr Gesicht
-und ihren Nacken -- ganz wie bei ihrer Mutter. Sie errötete, weil sie
-sich in der Trauerkleidung gefallen hatte.
-
-»Und nun neue Schuhe, Ellen!«
-
-Sie sah ihn verständnislos an, während sie im Wagen weiterfuhren.
-
-»Aber Sie können doch nicht in diesen abgetretenen Schuhen --?«
-
-»Aber weshalb sorgen Sie sich um mich?« fragte sie unwillig, die kleine
-Stirn zerknittert, und preßte die Hände an die zarten Schläfen.
-
-»Sie vergessen es immer wieder: ich bin ein Freund Ihrer Mutter und
-Ihres Vaters.«
-
-Ellen nickte. »Ich vergaß es, ja!«
-
-»Nun will ich alles tun, wie Sie es wünschen«, sagte sie und schmiegte
-sich an ihn, in kindlicher Aufwallung, obschon sie neunzehn, zwanzig
-Jahre alt sein mußte. »Ich will gehorsam sein.«
-
-Schwedenklee sagte ihr, daß sie sich wegen ihrer Zukunft keine Sorgen zu
-machen brauche.
-
-Sie sah ihn ohne jedes Verständnis an. »Ich mache mir ja keine Sorgen.«
-
-»Ich verstehe wohl. Sie müssen aber doch irgendwo bleiben.«
-
-»Bleiben?« Feindselig blendete ihr Blick.
-
-»Ja, natürlich. Sie müssen essen, trinken, schlafen.«
-
-»Nein, nein« -- unterbrach sie ihn -- »nein, das muß ich nicht!«
-
-»Sie haben mir versprochen, an all diese Dinge für Sie denken zu
-dürfen.«
-
-»Ja!«
-
-Nach einer Pause fühlte er ihren Blick.
-
-»Papa ist sehr arm gewesen, aber er war trotzdem ein großer Künstler!«
-
-»Ein großer Künstler!«
-
-Ellens scheues, verstörtes Tierauge wanderte ruhelos.
-
-Fragmente ihrer kurzen Gespräche fielen Schwedenklee ein, Blicke,
-Bewegungen. Als man den Sarg abholte, kniete Ellen in der Ecke der
-Stube. Bei der Beerdigung war Ellen gefaßt. Sie stand wie versteinert,
-den Blick zu Boden gerichtet. Sie waren nur zu dritt. Ellen, er, die
-weißblonde Schwester, die heftig weinte.
-
-Bei ihrer Mutter waren es nur zwei, dachte Schwedenklee: Blank und
-Ellen. Und er erinnerte sich, daß Blank ihm schrieb, er habe sich auf
-die Erde geworfen ...
-
-Augusta servierte mit feuchten Augen, mit reuevoller Weichheit, das
-Abendessen.
-
-»Sie werden uns also nicht im Stich lassen?« fragte Schwedenklee,
-kauend, ohne vom Teller aufzusehen.
-
-»Sagte ich denn das?« Schon weinte Augusta, diese gute Seele. »Ich habe
-ihr zugeredet, und sie hat eine Tasse Tee getrunken. Nun will ich sehen,
-daß sie noch ein Ei ißt, dieses arme Kind!«
-
-Schwedenklee verbrachte den Abend zu Hause. Die Aufregungen der letzten
-Tage hatten ihn so sehr mitgenommen, daß es ihm unerträglich gewesen
-wäre, Menschen zu sehen. Er genoß jede Minute des Alleinseins. Seit
-vielen Jahren hatte er einen solch zufriedenen, ausgeglichenen Abend
-nicht gehabt. Er strich an seiner Bibliothek entlang. »Ich werde ein
-schönes Buch lesen, ja!« Seit Jahren hatte er nicht mehr die Sammlung
-besessen, sich auf ein umfangreicheres Werk einzulassen.
-
-Er zog eine Reihe von Büchern heraus, ohne sich entschließen zu können.
-Die »erotische Abteilung« betrachtete er mit einem verächtlichen
-Lächeln.
-
-»Augusta?« Schwedenklee erschien in der Küchentür! »Was macht unser
-Gast?«
-
-»Sie hat jetzt den Hut abgenommen. Sie will versuchen zu schlafen, sagte
-sie.«
-
-»Hat sie das Ei gegessen?«
-
-»Sie versprach es zu essen.«
-
-Schwedenklee klopfte an Ellens Türe.
-
-»Ich will Ihnen gute Nacht sagen«, sagte er mit väterlicher Wärme, indem
-er den Kopf ins Zimmer streckte. »Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«
-
-»O nein, danke«, antwortete Ellens kleine Stimme, ganz fern.
-
-Ellen hatte wirklich den Hut abgenommen. Sie stand mitten im Zimmer und
-wandte ihm ihr scheues, helles Auge zu.
-
-»Schlafen Sie wohl. Und wenn Sie Wünsche haben, so klingeln Sie.«
-
-»Ich habe keine Wünsche, danke!«
-
-»Hier ist jener Brief, den Ihr Vater mir hinterließ. Ich lege ihn
-hierher, vielleicht haben Sie jetzt Sammlung genug, ihn zu lesen.«
-
-»Danke!« Regungslos stand Ellen.
-
- * * * * *
-
-Das Leben hat merkwürdige Einfälle, dachte Schwedenklee verwundert und
-triumphierend zugleich. Ist es nicht sonderbar, daß Ellens Tochter, die
-wiedergeborene und verjüngte Ellen, bei mir ist? Wer hätte sich das je
-träumen lassen?
-
-Dank einer Fügung des Schicksals habe ich, ohne mein Zutun, plötzlich
-eine Tochter bekommen -- ein wunderbares Wesen, ein Kleinod dazu -- den
-angebeteten Liebling unglücklicher Eltern ...
-
-Ja, in der Tat, es war das alte Glück Schwedenklees, immer noch folgte
-es ihm wie sein Schatten. Wie man sich erinnern wird, erhielt er den
-Titel eines »Oberbaurats« vom Oberkellner des Cafés, ohne jede
-Anstrengung -- ohne jedes Verdienst hatte ihn das Schicksal plötzlich,
-gänzlich unerwartet, mit einer Tochter beschenkt.
-
-Schwedenklee war ganz erfüllt von seinem Glück. Als Blank, dieser gute,
-arme Blank, dachte er, mir seinerzeit auflauerte, ahnte ich damals
-nicht, daß diese merkwürdige Begegnung eine besondere Bedeutung für mein
-Leben haben wird? Wie? Und Blanks unverständliche Bemerkungen,
-Anspielungen, seine prüfenden Blicke -- ja, nun verstehe ich alles. Sie
-ist in guten Händen bei mir, teuerster Freund -- unwillkürlich hatte er
-Blanks Tonfall nachgeahmt, als er »teuerster Freund« sagte.
-
-Schwedenklee hatte die Briefe, die ihm Schwester Anna als ein
-Vermächtnis Blanks in der eisigen Küche überreichte, schon flüchtig
-durchflogen. Nun aber war er in der ausgeglichenen, ruhigen Verfassung,
-sie genauer zu lesen.
-
-Es waren im ganzen sechs Briefe, kürzere und längere, die er an Ellen
-von Paris aus geschrieben hatte. Er erkannte seine Handschrift wieder --
-seine Handschrift vor zwanzig Jahren --, heute schrieb er etwas
-kräftiger und klarer.
-
-In dem ersten Briefe nach Ellens Abreise schrieb er ihr, daß er in ihr
-Zimmer gezogen sei (im Hotel Panthéon) und daß sie gegenwärtig sei in
-Möbeln und Wänden und tausend kleinen Dingen.
-
-Es lag ja so nahe, dies zu schreiben! Aber, sagte sich Schwedenklee,
-welch bodenlose Verlogenheit! Um 9 Uhr abends reiste Ellen, ich weiß es
-noch genau -- um 10 Uhr speiste ich mit Fräulein Svenska, mit der
-rotbäckigen Schwedin, in diesem Zimmer -- und am nächsten Morgen schrieb
-ich diesen Brief.
-
-Und hier, das war offenbar die Antwort auf einen Brief Ellens, in dem
-sie ihm für ein Darlehen dankte.
-
-»Kein Wort, liebste Freundin,« schrieb er, »ich bin glücklich, Dir
-gefällig sein zu können. Es ist ja so selbstverständlich! Es gibt eine
-Solidarität des Adels, der Reichen, sollte es nicht auch eine
-Solidarität der Künstler und geistig Schaffenden geben?«
-
-Lesen wir dies nochmals, sagte Schwedenklee, habe ich wirklich diese
-Phrasen geschrieben? Ja, er hatte Ellen ganze tausend Franken geschickt
-und auf ihren Dankesbrief mit derartig hochtrabenden Worten geantwortet!
-
-In einem anderen Brief entwickelte er mit großer Beredsamkeit und vieler
-Wärme ein System, wie die Künstler und geistig Schaffenden zu leben
-hätten! Wie Mönche, nicht anders, arm, anspruchslos, materielle Genüsse
-und Güter verachtend, nur ihrer Kunst ergeben, in einer
-kameradschaftlichen Gemeinschaft. Alle, die dem »Orden« angehörten,
-hätten ihre Einnahmen der Gemeinschaft zu überweisen -- um der Welt ein
-Beispiel zu geben, wie die Menschen eigentlich leben sollten. Es sollte
-künftig nicht mehr Maler geben, die Millionen verdienten, während ihre
-Kollegen darbten -- nein, die Millionen der Erfolgreichen sollten in die
-Kasse der Gemeinschaft der Maler fließen. Wie bei den Malern, so bei den
-Musikern, den Schriftstellern --
-
-»Sind das meine Worte, wahrhaftig? Habe ich je solchen Anschauungen
-gehuldigt?«
-
-Schwedenklee war erstaunt, ja förmlich verblüfft, auf diesen ihm
-gänzlich fremden, jungen Schwedenklee zu stoßen.
-
-War dieser Einfall vielleicht schlecht? O nein, nein!
-
-War es nicht im Gegenteil ein herrlicher Gedanke? Und was ist daraus
-geworden?
-
-Nichts, nichts.
-
-Schwedenklee erhob sich, verlegen. Wirklich nichts! Ich habe diese Idee
-ganz einfach -- _vergessen_.
-
-Je länger er in den Briefen las, desto mehr erkannte er, daß der frühere
-Schwedenklee und er eigentlich zwei völlig verschiedene Personen waren.
-Schwedenklee der Jüngere, der leidenschaftlich soziale Probleme
-erörterte, dessen Religion, wie er schrieb, die »Kameradschaft« war --
-und Schwedenklee der Ältere, der sich, Gott weiß es, den Kopf nicht mehr
-mit derartigen Dingen zerbrach. Ja, in der Tat: zwei Welten. Ein
-behaglicher Bourgeois war aus dem jungen Schwedenklee geworden, gestehen
-wir es nur -- ein Bourgeois wie die andern, mit genau den gleichen
-Ansichten wie der Kaufmann Jaffe, der Kinderkleider fabriziert.
-
-O ja, wahr! Wahr!
-
-Ähnliche Anschauungen kehrten in all den Briefen wieder. Tapfer hatte
-sich Schwedenklee der Jüngere den Problemen entgegengeworfen.
-
-»Vorurteilslosigkeit und Mut brauchen wir,« schrieb er, »um dem Leben
-entgegenzugehen, das vor uns liegt ...«
-
-Schwedenklee las und staunte. War er das wirklich? Etwas wie ein leises
-Schamgefühl überkam ihn.
-
-In einem Briefe fand sich diese Stelle: »Ich finde ja an und für sich,
-daß wir schon korrumpiert sind. Wir Künstler müßten gekleidet sein wie
-Monteure und Arbeiter, in Manchesterhosen, wir müßten _betonen_, daß wir
-und die Bourgeoisie verschiedene Welten sind.«
-
-Er? Er, Schwedenklee in Manchesterhosen? Er bekam einen roten Kopf.
-
-Ja, was ist doch aus diesem Schwedenklee geworden? Mit einem verlegenen
-Lächeln erhob sich Schwedenklee. Was ist aus mir geworden? Sein ganzes
-Leben, das Leben der letzten zehn, zwanzig Jahre erschien ihm plötzlich
-unverständlich ...
-
- * * * * *
-
-»Herr Schwedenklee!«
-
-Jemand pochte an der Türe. Es war Augustas Stimme.
-
-Schwedenklee streifte die Uhr mit einem Blick. Es war schon spät in der
-Nacht.
-
-»Was wollen Sie, Augusta?« fragte Schwedenklee, weich und versöhnlich
-gestimmt.
-
-»Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Fräulein.«
-
-»Wie --?«
-
-»Ja, es ist etwas nicht in Ordnung!«
-
-Augenblicklich erschien Schwedenklees fahles Gesicht in der Türe.
-
-»Erst stöhnte sie so eigentümlich und jetzt antwortet sie nicht mehr.«
-
-Tödlich erschrocken eilte Schwedenklee an Ellens Türe und pochte. Erst
-leise, dann ohne jede Rücksicht.
-
-Nichts regte sich, kein Laut. Aber durch das Schlüsselloch schimmerte
-Licht.
-
-Schwedenklees Blicke begegneten dem entsetzten Auge Augustas. Das Haus
-schwankte.
-
-Rasch, ohne zu denken, eilte er durch die Zimmer und klinkte die Tür
-auf, die vom Speisezimmer in Ellens Räume führte. Diese Türe war offen:
-Auf das Sofa gekauert sah er Ellen, in ihren Trauerkleidern, bleich,
-still, die blutleeren Lippen schmerzvoll geöffnet, die Augen
-erschrocken, wie die eines überraschten Tieres, auf ihn gerichtet. Ihre
-kleine Hand hing herab, wie gebrochen ... es tropfte und rieselte --
-
-Sofort übersah Schwedenklee alles.
-
-»Aber mein Kind!« rief er aus und berührte die schmale Schulter. Er war
-selbst totenbleich und zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke
-erkannte er ganz die Größe der Leidenschaft, die ihn für dieses Wesen
-erfaßt hatte.
-
-Mit den gleichen Augen eines überraschten, erschrockenen Tieres blickte
-ihn Ellen an.
-
-»Verzeihen Sie mir«, flüsterte sie, ohne jede Regung.
-
-Mit der Scherbe eines zerschlagenen Glases hatte Ellen sich die Pulsader
-geöffnet.
-
-Um den Teppich nicht zu beflecken, hatte sie eine Blumenvase unter die
-herabhängende Hand gestellt.
-
-Im Hause wohnte ein Arzt. In kaum zehn Minuten war er da. Es bestand
-keine Gefahr für Ellens Leben.
-
-Schwedenklee schloß die ganze Nacht kein Auge. Kreidebleich, zuweilen in
-Ellens Zimmer lauschend, schlich er schwankend in seiner Wohnung hin und
-her. Er zitterte und fror entsetzlich. Laß sie leben, großer Gott im
-Himmel! Ja, in der Tat, Schwedenklee betete.
-
-Und wieder stand er im dunkeln Speisezimmer und lauschte gegen die
-offene Tür. Sie schlief -- ruhig und langsam ging ihr Atem. Der Arzt
-hatte ihr Morphium gegeben. Unbegreiflich schön schien es ihm, hier zu
-stehen, im dunkeln Zimmer, und ihren leisen Atemzügen zu lauschen.
-
-
-
-
- 17
-
-
-Die Türen zu Ellens Zimmer standen immer offen. Am Tage behütete sie
-Augusta und in der Nacht Schwedenklee. Er hatte die Schlösser von Ellens
-Türen abgeschraubt. Jede Nacht wachte er, lesend, rauchend, mit sich
-plaudernd, Gedanken hingegeben, bis er Augusta am Morgen in der Küche
-hörte.
-
-Ellen genas rasch. Eines Tages saß sie in ihrem Bett aufrecht, die
-Wangen gerötet, wie in leichtem Fieber, das brünette lockere Haar, das
-einen Anflug ins Rötliche hatte, lässig um den zart, gleichsam
-zerbrechlich geformten Kopf geschlungen, und _lächelte_. Zum erstenmal
-sah Schwedenklee sie lächeln. Ihr Gesichtsausdruck war verändert. Ihr
-Auge verträumt, voller Glanz und Hoffnung.
-
-»Schrauben Sie die Schlösser wieder an,« sagte sie klar und wach, »ich
-verspreche Ihnen --«
-
-»Kann man Ihnen vertrauen?« fragte er lächelnd.
-
-»Ja!« Sie nickte beschwörend. »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Sie winkte ihn
-heran. »Jetzt erst verstehe ich Papa!« sagte sie, ihn ernst und groß
-anblickend, und berührte seine Hand mit leisen, zarten Fingern. »Er hat
-mir viel von Ihnen erzählt. Ein paarmal sagte er mir: wenn du
-irgendeinen Rat brauchst, man weiß ja nicht, wie es kommen kann -- so
-gehe getrost zu Herrn Schwedenklee. Er ist gütiger als alle Menschen.«
-
-Schwedenklee brachte keine Silbe über die Lippen. Er errötete und schlug
-rasch die Augen nieder.
-
-»Jetzt erst verstehe ich Papa!« wiederholte Ellen nickend und zog sich
-mit leisen Händen an ihn heran. »Wie soll ich Ihnen danken?«
-
-Schwedenklee lachte, um seine Verlegenheit zu verbergen.
-
-»Sie können mir danken, Ellen, indem Sie mir vertrauen. Sprechen Sie mit
-mir, wie mit« -- beinahe hätte er Vater gesagt -- »wie mit einem Bruder.
-Verfügen Sie über mich und versprechen Sie, immer Vertrauen zu mir zu
-haben, was es auch sei.«
-
-»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte Ellen mit einem ernsten, hellen
-Blick. »Ich war so unglücklich!« setzte sie flüsternd hinzu und drückte
-leise, kaum merklich, seine Hand, und er fühlte, daß ihre Finger
-zitterten.
-
-Schwedenklee sagte nichts. Verwirrt und scheu verließ er ihr Zimmer.
-
- * * * * *
-
-Schwedenklee hatte über eine Woche das Haus nicht verlassen. Er sprach
-mit niemanden, er hütete sein Geheimnis! Natürlich war es nicht zu
-umgehen gewesen, daß er Nelly von den Ereignissen der letzten Wochen
-unterrichtete. Er hatte sie gebeten, ihn für einige Zeit zu
-entschuldigen -- bis alles in Ordnung gebracht sei. Telephonisch hatte
-er ihr alle Einzelheiten erzählt -- besonders den Selbstmordversuch
-Ellens hatte er ausführlich und mit allen Einzelheiten berichtet, obwohl
-er sich seiner Schwatzhaftigkeit schämte, noch während er am Telephon
-stand. Aber es war doch notwendig, Nelly zu überzeugen, daß er für
-einige Zeit ans Haus gebunden sei.
-
-Nelly telephonierte täglich. Der Patient sei noch immer nicht recht in
-Ordnung. Er ermahnte sie, ihren Gesangsunterricht nicht zu
-vernachlässigen und den dramatischen Unterricht ja nicht zu
-unterbrechen. Er sei auch damit einverstanden, daß sie als dramatischen
-Lehrer doch Dunker nehme -- ein ziemlich junger, hübscher Schauspieler,
-der wegen seiner Liebesabenteuer berühmt war.
-
-Schwedenklee hatte keine Eile, Nelly zu sehen.
-
-Eines Tages aber trat Nelly ohne jede telephonische Anmeldung bei ihm
-ein.
-
-Sie erschien Schwedenklee fremd, sozusagen unbekannt. Er erblickte sie
-wie aus weiter Ferne -- ihre Züge, ihre interessante Blässe und die
-turmartige Frisur, diese »schweren Flechten«, ließen ihn völlig
-unberührt.
-
-Nelly verstand seinen Blick sofort: diese unverschämte Gleichgültigkeit
-eines erkaltenden Geliebten! Sie war außerordentlich freundlich,
-teilnahmsvoll.
-
-»Es ist merkwürdig,« sagte sie, »du hast mir nie gesagt, daß du so
-intime Freunde hättest. Im Gegenteil, du klagtest ja immer, du habest
-keine Freunde!«
-
-Sie hielt die Teetasse auf den Fingerspitzen, spielte die Dame auf
-Teebesuch.
-
-Schwedenklee behandelte sie mit grausamer Höflichkeit. Er spielte den
-Herrn, der eine Dame auf Teebesuch bewirtet.
-
-»Natürlich habe ich Freunde -- von früher her. Wir alle haben Freunde
-nur von früher her, aus der Jugend. Es ist allerdings wahr, meine
-Freunde haben sich wenig um mich bekümmert, und es ist ebenso wahr, daß
-ich mich wenig um sie bekümmerte.«
-
-Er sprang auf und reichte ihr Feuer für die Zigarette.
-
-Sie dankte. »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir so lebhaft zu Dunker
-geraten hast!«
-
-»Ist er also doch tüchtig?«
-
-»Oh!« Nelly lächelte sonderbar, indem sie die Augen zur Decke hob. »Er
-ist ein wirklich moderner Künstler! Aber er ist keck --!« Schwedenklee
-sagte nichts. »Er ist sehr keck. Er verfolgt mich unaufhörlich mit
-seinen Anträgen.«
-
-»Aber du bist ja kein Kind mehr, Nelly!« Oh, wie gleichgültig klang hier
-Schwedenklees Stimme!
-
-Welch bösen Blick sie ihm gab! Aber sofort lächelte sie wieder
-gleichmütig. »Ich sagte ihm: spielen Sie Theater auf der Bühne!«
-
-»Sehr gut!« lobte Schwedenklee und lachte.
-
-Pause. Nelly forschte in seinem Gesicht.
-
-»Du bist gar nicht eifersüchtig?« Nelly lachte.
-
-»Eifersüchtig? Ich kenne dich ja, Nelly!« sagte Schwedenklee im Tone
-unerschütterlichen Vertrauens.
-
-Nelly kokettierte über die Teetasse.
-
-»Vielleicht kennst du mich doch nicht? Er ist ein netter Junge! Erst
-fünfunddreißig.« Sie lächelte anmutig.
-
-Schwedenklee ignorierte diesen impertinenten Angriff. Dabei war er
-überzeugt, daß Nelly sich gar nichts aus Dunker machte -- es war ihm
-übrigens völlig gleichgültig.
-
-»Er ist nett. Und was das Reizendste an ihm ist, er ist solch ein Kind.
-Er ist -- trotz allem -- ein kleiner Junge!«
-
-»Wirklich?« Schwedenklee lachte anerkennend. »Gerade diese Naivität
-liebe ich bei Männern.«
-
-Hier richtete sich Nelly in ihrem Sessel auf. Sie gab ihrem Kopf einen
-Ruck und schleuderte die Tasse auf den Teppich. Sie stand auf.
-
-»Aber Nelly?« sagte Schwedenklee, scheinbar völlig erstaunt und gut
-gelaunt.
-
-»Was zuviel ist, ist zuviel!« Nellys Brauen flogen in die Höhe.
-
-»Aber ich bitte dich, Nelly!«
-
-»Wenn du mich loshaben willst --«, schrie Nelly mit funkelnden Augen.
-
-»Einen Augenblick ..« Schwedenklee schloß eine Türe.
-
-»Ach so!« sagte Nelly, voller Hohn.
-
-Schwedenklee wurde rot, seine Schläfe zuckte.
-
-»Sie ist ein Mädchen«, sagte er beruhigend, aber seine Stimme zitterte
-etwas, im Gefühl der Befriedigung, ihren impertinenten Angriff von
-vorhin mit gleicher Impertinenz erwidert zu haben. »Sie soll sich
-erholen, und ich möchte jede Aufregung von ihr fernhalten.«
-
-»Oh, welche Rücksichtnahme! Jede Aufregung von ihr fernhalten --!«
-
-»Bitte, Nelly!« sagte Schwedenklee lächelnd, beschwichtigend.
-
-Seine Ruhe und Gleichgültigkeit versetzten sie in Raserei. Ja,
-Schwedenklee war als Gegner nicht zu verachten, wenn es darauf ankam.
-
-»Bitte, Nelly«, äffte sie ihm nach. »Ich möchte jede Aufregung von ihr
-fernhalten. Ja, ja! Halte mich nicht für so töricht ...«
-
-Schwedenklee sandte ihr einen warnenden Blick zu. Er wußte -- und er
-empfand es triumphierend --, daß sie jetzt verspielen würde.
-
-»Du hast dich in ein kleines Mädchen verliebt, das ist alles«, schrie
-Nelly außer sich. »Und alles andere -- das mit dem Freunde, mit der
-Doppelwaise, mit dem Selbstmordversuch, ist einfach eine dumme Komödie!«
-
-Sie ist verloren, dachte Schwedenklee mit Befriedigung -- und schon mit
-einem gewissen Mitleid.
-
-»Nelly!« sagte er beruhigend, beschwörend. »Ich schwöre dir, alles ist
-Wahrheit. Du bist heute sehr erregt --«
-
-Ja, Nelly war verloren. Sie schrie, sie verleumdete, beschimpfte. Sie
-tobte und verließ rasend das Haus.
-
-Schwedenklee tat aufs tiefste gekränkt und machte keinen Versuch, sie
-zurückzurufen.
-
-»Es ist sehr schade«, sagte Schwedenklee, als er allein war und sich mit
-zitternden Fingern eine Zigarette anzündete. »Es ist sehr schade, daß
-man mit Frauen nicht offen sprechen kann. Nun gut, daß es zu Ende ist!
-Fort mit ihr! Fort mit allen -- ich will sie _alle_ nicht mehr sehen --
-Gott sei Dank!«
-
-Schwedenklee horchte an Ellens Türe. Kein Laut. Ellen hatte von der
-ganzen Szene nichts gehört.
-
-Einige Wochen später aber sagte Ellen: »Es war einmal eine Dame bei
-Ihnen. Sie war sehr erregt. Ich möchte nicht irgendwie im Wege sein.«
-
-»Aber Ellen! Wie können Sie so etwas denken. Sie sind zu jung, um das zu
-verstehen!«
-
-
-
-
- 18
-
-
-Schwedenklee hatte sich völlig verändert. In all den Wochen von Ellens
-Genesung hatte er kaum das Haus verlassen. Ins Stammcafé kam er nicht
-mehr. Man wunderte sich. Gerüchte schwirrten. Ein Stammgast berichtete,
-Schwedenklee habe in einer Nacht, da er aus dem Café kam, eine junge
-Dame -- eine Lebensüberdrüssige -- aus dem Kanal gezogen und zu sich ins
-Haus genommen.
-
-Er wies auf eine Notiz hin, die in den Zeitungen erschienen war.
-Architekt S. rettete eine Lebensüberdrüssige, die aus Liebeskummer in
-den Landwehrkanal sprang.
-
-Kurzum, Schwedenklee erschien nicht mehr im Café, und eine Woche später
-war er schon vergessen: ganz als ob er tot wäre.
-
-Schwedenklee holte seine großen Mappen aus der Bibliothek. In der
-Bibliothek befanden sich besondere Schränke, und in diesen Schranken
-standen die Mappen, die er vor Jahren hatte anfertigen lassen. Es waren
-zehn graue Mappen, herrlich gebunden -- manche enthielten gar nichts,
-manche enthielten ein, zwei Skizzen, andere mehrere. Die Mappe
-»Fabriken« war besonders umfangreich, die Mappe »Warenhäuser« ebenso.
-Die dickste Mappe hatte die Aufschrift »Städtebau -- Verkehr«.
-
-Über diese Mappe gebeugt saß Schwedenklee in all den Nächten, da er den
-Schlummer Ellens bewachte.
-
-Vor Jahren hatte er sich, man wird sich erinnern, mit
-verkehrstechnischen Problemen Berlins intensiv beschäftigt. Es waren
-seinerzeit sogar einige Notizen darüber in den Zeitungen erschienen. Es
-gab in Berlin ein halbes Dutzend Bahnhöfe: die Bahnhöfe der Stadtbahn,
-den Lehrter Bahnhof, den Potsdamer, Anhalter, Schlesischen Bahnhof -- es
-war, mit einem Wort, ein völliges Durcheinander.
-
-Schwedenklee aber hatte in der Arbeit vieler Jahre eine Lösung gesucht
-und gefunden: von jedem beliebigen Punkte Berlins aus sollte man bequem
-jede Reiseroute antreten können!
-
-Schwedenklee plante einen Riesenbahnhof, der gegenüber dem
-Reichstagsgebäude, mitten im Tiergarten, gelegen war und, über und unter
-der Erde, im Zusammenhang stand mit sämtlichen bereits vorhandenen
-Bahnhöfen.
-
-Dieses interessante Problem fesselte ihn von neuem. Es schien ihm noch
-schwieriger, noch interessanter geworden zu sein. Ganze Nächte hindurch
-zeichnete er. Er plante die Veröffentlichung einer Broschüre, die
-Berlin, die Behörden verblüffen sollte.
-
-Ellen genas.
-
-Der Arzt sagte: »Sobald die Witterung es erlaubt, heraus aus der Stadt.
-Sie haben doch, höre ich, eine Besitzung auf dem Lande?«
-
-»Ja.«
-
-»Nun gut, dann sobald wie möglich aufs Land.«
-
-Es war noch kalt, noch fiel Schnee, und schon machte Schwedenklee Pläne.
-
-»Augusta,« sagte er, »halten Sie sich bereit. Wir werden bald aufs Land
-gehen. Ich hoffe, Sie haben genügend eingekocht --«
-
-Zu Ellen sagte er: »Liebe Ellen, der Arzt will, daß du aufs Land in
-frische Luft kommst. Wir werden bald reisen. Aber, liebes Kind, wir
-müssen dich etwas ausstaffieren.«
-
-Herrliche und ganz wundervolle Tage für Schwedenklee, da er mit Ellen
-einkaufte!
-
-Wäsche, Kleider, Schuhe. Sie besaß ja _nichts_!
-
-Ellen sträubte sich.
-
-»Aber, erlaube doch,« sagte Schwedenklee, so bestimmt, daß Ellen nicht
-zu widersprechen wagte, »wir leben nun einmal in dieser Welt! Du mußt
-Kleider haben, Mäntel, Hüte, Schuhe ...«
-
-Wochenlang waren sie in den Geschäften unterwegs.
-
-Er stattete sie aus wie eine Braut, als ob sie seine Tochter wäre, die
-er zu verheiraten hätte.
-
-Obschon nur Junggeselle, wußte Schwedenklee ganz genau, was eine junge
-Dame alles brauchte -- von den Taschentüchern angefangen bis zu den
-Unterleibchen und Gürteln, an denen die Strumpfbänder befestigt sind.
-Schwedenklee wußte genau, wie Taschentücher einer Dame gearbeitet sein
-müssen, wie der Besatz eines Hemdes auszusehen hatte.
-
-Es war Schwedenklees höchste Freude, wenn er sah, wie Ellen errötete,
-weil sie sich in einem Kostüm, einem Mantel gefiel. Oder, wenn sie
-erregt wurde beim Befühlen von Linnen und Batist.
-
-Ellen war äußerst bescheiden, sie widerstrebte, aber zuletzt gelang es
-ihm doch stets, sie umzustimmen. Zu Hause beobachtete er beglückt, wie
-sie Hüte und Mäntel vor dem Spiegel aufprobierte und die Erregung ihre
-Wangen färbte.
-
-Es war ihm ein Genuß, mit Ellen auf der Straße zu gehen. Niemand ging
-vorüber, ohne daß sein Blick gefesselt auf ihrem Gesicht geruht hätte.
-Voller Stolz kassierte er all ihre Erfolge ein, die sie nicht einmal
-bemerkte. Sie ging leicht, ihr Schritt war leise, wie der ihrer Mutter,
-nie hatte er einen solch schwebenden Gang, eine solche natürliche Würde
-bei einer Frau beobachtet. Sie ging wie ein Tier, eine Katze vielleicht,
-unbewußt und schön, ihre schmalen Hüften spielten.
-
-In einigen Geschäften gebrauchte man die Redensart: »Das gnädige
-Fräulein, Ihre Tochter --«
-
-Schwedenklee wurde verlegen, zuweilen blutrot -- Ellen lachte wie ein
-Kind. Sie hatte die Gewohnheit, wenn sie schelmisch lachte, die oberen
-Zähne in die Unterlippe zu drücken und etwas mit den Augen zu blinzeln.
-
-Einige Sommerkleider für Ellen ließ Schwedenklee bei einer Schneiderin
-Henrietta anfertigen, die er von Nelly her kannte.
-
-»Ich begreife nun, weshalb Nelly so rasend eifersüchtig ist«, flüsterte
-die Schneiderin eines Tages in unverschämt zutraulichem Tone.
-
-»Ich bitte Sie, die Kleider, so wie sie sind, sofort an mich zu senden
-und Rechnung vorzulegen«, schrieb Schwedenklee am gleichen Tage, empört,
-daß die unverschämte Person Nelly und Ellen in einem Atem zu nennen
-gewagt hatte. Ja, diesem Volke mußte man Manieren beibringen!
-
-
-
-
- 19
-
-
-Endlich waren alle Einkäufe beendet. Koffer wurden gepackt. Der Tag der
-Abreise aufs Land wurde festgesetzt.
-
-Der Zug verließ den Bahnhof.
-
-»Nun gehörst du ganz mir«, dachte Schwedenklee triumphierend, und seine
-Erregung war so groß, daß seine Hände zitterten.
-
-»Was denkst du?« fragte Ellen, verwirrt durch seinen Blick.
-
-»Ich fürchte, Ellen wird sich langweilen«, erwiderte Schwedenklee
-lächelnd, um seine Erregung zu verbergen.
-
-»Ich? Auf dem Lande? Oh, nie!« rief Ellen aus. Dann saß sie still, mit
-großen Augen, die erfüllt waren von Genugtuung, diese grauen Hauswände,
-zwischen denen der Zug sich durchzwang, hinter sich zu lassen.
-
-»Gott sei Dank!« flüsterte sie und atmete auf, als die Stadt zu Ende war
-und die Wiesen kamen.
-
-»Allmächtiger!« dachte Schwedenklee. »Wie wird es sein, wenn ich mit ihr
-allein sein werde?«
-
- * * * * *
-
-Schwedenklees Landgut »Siebenbirken« lag an der Ostsee, ganz in der Nähe
-von Warnemünde. Es lag nicht direkt am Meer, gewährte aber eine
-herrliche Aussicht über die See.
-
-Der Name stammte von Schwedenklee selbst. Früher hatte dieses Bauerngut
-überhaupt keinen Namen gehabt, nur eine Hausnummer. Aber da gerade
-sieben Birken vor dem Hause standen, hatte Schwedenklee den Besitz sehr
-poetisch »Siebenbirken« genannt.
-
-In einer Anwandlung von Weltflucht hatte Schwedenklee vor Jahren
-»Siebenbirken« gekauft. Er wollte allein, zurückgezogen, »wie ein Bauer«
-leben. Damals. Er hatte das Bauernhaus und die Wirtschaftsgebäude
-gelassen, wie sie waren, etwas krumm, plump, mit Stroh gedeckt, und ein
-Haus auf einem Punkte errichtet, der die schönste und vollkommenste
-Aussicht über die See bot. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr um
-»Siebenbirken« gekümmert. Er hatte einige Monate -- damals als er
-weltflüchtig war -- auf dem Landsitz verbracht und den Bau des
-Landhauses geleitet. Als der Bau fertig dastand, war er noch eine Woche
-geblieben. Aber am Ende der Woche hatte ihn das Grauen der Einsamkeit
-erfaßt. Noch in der Nacht hatte er gepackt: es war ja nicht auszuhalten!
-Mit dem Frühzug schon war er nach Berlin gefahren. Nur einige Male war
-er noch auf zwei, drei Tage in all den Jahren nach Siebenbirken
-gekommen, und stets hatte ihn das Gefühl trostloser Langeweile wieder
-vertrieben. Nein, nein, er hatte kein Talent, einsam zu leben!
-Verschiedenen Anwandlungen, das Landgut zu verkaufen, hatte er nur aus
-Trägheit nicht nachgegeben.
-
-»Ahnte ich etwas?« sagte er sich heute, in sein Inneres horchend.
-
-Der Bauer, an den das Gut verpachtet war, holte sie in einem wackligen
-Stuhlwagen ab.
-
-Der Wagen war so klein, daß Augusta mit den Koffern und Kisten auf der
-Station warten mußte.
-
-»Wie wunderbar! Wie herrlich!« rief Ellen mit leuchtenden Augen aus, als
-sie durch die scharfe Märzluft dahinfuhren. In den Wäldern lag noch da
-und dort Schnee.
-
-»Wird es dir hier gefallen?«
-
-Ellen nickte freudig.
-
-Am ersten Tage hätte Schwedenklee nahezu die gute Laune verloren: die
-Mahlzeiten schienen ihm etwas sehr ländlich. Augusta ging mit Tränen in
-den Augen, fiebernd, aufgelöst, in der völlig kahlen Küche hin und her.
-»Es ist ja nichts da, gar nichts da!« sagte sie. Ellen hatte sich eine
-von Augustas Schürzen umgebunden und versuchte durch ihre Munterkeit
-Augustas Verzweiflung zu verscheuchen.
-
-Am nächsten Tage fuhren Augusta und Ellen zur Stadt, um einzukaufen.
-Bepackt mit Töpfen, Schüsseln, Kochlöffeln, Sieben, Porzellan, Gläsern
-kehrte der Wagen zurück. Augusta strahlte.
-
- * * * * *
-
-Auf Siebenbirken lebten der Bauer mit seiner Familie, ferner zwei
-Pferde, drei Kühe, ein Rudel Schweine, etliche dreißig Hühner, einige
-Familien Gänse und Enten. -- Es gab einen Hund, eine Art Schäferhund,
-fahlgelb mit dunkelgrauen Rückenhaaren, mit Namen Strolly. Diesen Hund
-hatte Schwedenklee aufgezogen, zur Zeit, da er baute, und obschon er nur
-zwei-, dreimal auf das Gut zurückgekehrt war, hatte der Hund ihn
-wiedererkannt. Das rührte Schwedenklee. »Strolly«, furchtbar bissig und
-rasend allen Fremden gegenüber, war liebenswürdig, untergeben, sittsam
-und von äußerstem Entgegenkommen gegen Freunde. Schon am ersten Tage war
-er zu Ellen übergegangen, obschon ihn sein Feingefühl hinderte, es allzu
-deutlich zu zeigen. Sooft er Schwedenklee sah, tat er so, als ob er ihm
-die gleiche Anhänglichkeit bewahrt habe. Sobald aber Ellen nur sichtbar
-wurde, zeigte sich offen seine Heuchelei.
-
-Es gab einen schwarzen, dicken Kater, Munki, der es liebte, sich auf den
-Schultern spazierentragen zu lassen, ein menschenliebendes Tier, das
-sich an den Beinen rieb, sobald man sich zeigte. Dick, befriedigt,
-glücklich saß der Kater auf Ellens schmaler Schulter. Am dritten Tage
-schon war auch er zu Ellen übergegangen.
-
-Es gab eine Stute »Lotte«, die -- ein Phänomen -- mit der Zunge eine
-Türklinke hob, sobald sie neben dem Pferdestall Stimmen hörte.
-
-Es gab zwei Hähne, einen dicken alten, mit in hundert Schlachten
-zerzausten Federn, und einen jungen -- schlank, graziös, mit den
-Bewegungen eines Fechters --, die sich wie Teufel bekämpften. Zuweilen
-wurde der jüngere von dem alten bis tief hinein in den Wald gejagt.
-
-Es gab ein kleines Schwein, das zärtlich war wie ein Hund und sich gerne
-den Kopf graulen ließ. Das waren die Besonderheiten von Siebenbirken,
-sonst war es ein Landgut wie jedes andere. Nicht zu vergessen eine Gans,
-die -- ein Einzelgänger, nicht auf dem Hof gebrütet -- von den übrigen
-Gänsen verleugnet und gehaßt wurde und den Menschen wie ein Hund folgte.
-Sonst wie überall: Geschrei, Gegacker, Lärm, Blöken, und die Jauche rann
-aus den Ställen in den großen Misthaufen des Wirtschaftshofes.
-
-Beglückt beobachtete Schwedenklee, daß Ellen auf dem Gute auflebte. Vom
-Morgen bis zum Abend war sie unterwegs in Ställen und Scheunen. Munki,
-der schwarze Kater, saß auf ihrer Schulter, Strolly sprang ihr bis an
-die Ohrläppchen -- und sie zankte den fetten Hahn aus, der sich gegen
-den jungen, den sie »Spanier« nannte, albern und eifersüchtig benahm.
-Die Blässe ihres Gesichtes verlor sich, zartrotes Geäder erschien auf
-den Wangen. Ihre Stimme zwitscherte fröhlich.
-
-Nur dann und wann saß sie in sich versunken abseits, den Blick gequält
-in die Ferne gerichtet. An diesen Tagen sprach sie nur selten, leise,
-die Stirn zerknittert. Ihr Blick war verschleiert von Schwermut, die
-Gedanken ferne.
-
-Ein Zittern durchrieselte sie, wenn man sie berührte. Abends brannten
-dann zwei Kerzen in ihrem Zimmer, und am Morgen erschien sie bleich,
-verstört, mit geröteten Augen. Aber immer seltener wurden diese Anfälle
-schwerer Traurigkeit, die Schwedenklee, besonders anfangs, sehr
-beunruhigten.
-
-Ellen interessierte sich für alles, was in der Wirtschaft vorging. Sie
-war als Stadtkind nur flüchtig mit dem Lande in Berührung gekommen. Was
-für Futter erhielten Hühner und Schweine, weshalb wurde der Acker
-gewalzt, wie kam es, daß der Klee zwei, drei Jahre stand, was war
-eigentlich »Winterroggen«, von dem so viel die Rede war -- über all das
-konnte sie nicht ausführlich genug mit dem Bauer sprechen, und sie
-fragte auch Schwedenklee unausgesetzt, Schwedenklee, der kaum Weizen von
-Roggen zu unterscheiden vermochte.
-
-Als die Pferde zum erstenmal auf die Koppel durften, war es ein
-richtiger Festtag für Ellen. Sie selbst brachte die Pferde in den Stall
-zurück. Sie lernte sogar das Melken der Kühe. Schwedenklee hatte sich
-nie überwinden können, das Euter einer Kuh zwischen die Finger zu
-nehmen.
-
-»Dir gefällt es hier?« Seine größte Sorge war, daß es ihr schließlich
-doch nicht gefallen könnte. Allein, fern von allen Menschen wollte er
-sie haben. Ja, so mußte es sein, grenzenlos war sein Egoismus, das
-Schicksal hatte gesprochen.
-
-»Wir werden also hierbleiben? Du wirst sehen, es ist gar nicht zu
-langweilig. Wenn erst die Badegäste kommen werden.«
-
-Ellen zog die Braue hoch, ihre feine nervöse Braue. »Ich will keine
-Menschen sehen!«
-
-Wie dankbar war Schwedenklee.
-
-»Du willst also vorläufig nicht nach Berlin zurückkehren?«
-
-»Berlin?« Ellen war entsetzt. »Ich will bei Strolly und Munki bleiben!«
-
-Schwedenklees Gesicht wurde dunkel: er war eifersüchtig auf die Tiere
-...
-
-
-
-
- 20
-
-
-Schwedenklee hatte sich von dem Dorftischler einen großen Zeichentisch
-nach eigener Angabe anfertigen lassen. Hingegeben an seine Idee
-zeichnete er: er hatte nun den großen Berliner Zentralbahnhof weiter in
-den Tiergarten hinein verlegt. Er brauchte -- ja, was er brauchte, das
-war vor allem Platz! Monumentalität, Raum, Auffahrts- und
-Abfahrtsalleen! Nicht, daß man nach zehn Jahren sagte: bei aller
-Genialität, Schwedenklee hat es nicht verstanden, zehn, zwanzig, fünfzig
-Jahre in die Zukunft zu blicken. Eine Stadt wie Berlin ging wie eine
-Mine hoch! Also Raum -- immer tiefer hinein in den großen Tiergarten --.
-
-Aber schon nach kurzer Zeit beschäftigte ihn eine neue Idee
-leidenschaftlich.
-
-Das Landhaus war zu klein! Es war nur für ihn, Schwedenklee, berechnet.
-Er hatte es seinerzeit mit Absicht so klein gehalten: anders würden ihn,
-hatte er befürchtet, fortwährend Bekannte überlaufen! Von einem kleinen,
-sehr bescheidenen Gastzimmer abgesehen, das unter dem Dache lag,
-enthielt es nur drei Zimmer. Schwedenklee hatte sich auf einen Raum
-beschränkt, Ellen bewohnte das andere Zimmer, dazwischen lag die
-»Halle«, die als Speiseraum diente. In dem Giebelzimmer hauste Augusta.
-
-Schwedenklee beschloß, das Landhaus in großem Stil auszubauen. In großem
-Stil? Nein, in allergrößtem Stil, mochte es kosten, was es wollte.
-Tagelang tat er geheimnisvoll. Als er mit sich im reinen war, rief er
-Ellen an den Zeichentisch.
-
-Sie kam, den schwarzen Kater auf der Schulter. Strolly sah eifersüchtig
-zum Fenster herein und winselte flehentlich.
-
-Lieber Himmel, was für ein stattliches Gebäude das Landhaus plötzlich
-geworden war! Nach beiden Seiten und nach der Höhe baute Schwedenklee
-aus.
-
-Ellen stimmte allen Plänen zu. So und so -- erklärte Schwedenklee. »Und
-du sollst ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben -- mit einer kleinen
-Loggia.«
-
-»Oh, wie fein!« rief sie aus. »Aber ich brauche alles gar nicht. Ich bin
-so zufrieden mit meinem Zimmer!«
-
-»Und hier, siehst du, werden wir das Badezimmer hinausbauen!«
-
-Schwedenklee schwebte eine Art Glashaus vor: in der Mitte ein versenktes
-Bassin, ringsum eine Art Gewächshaus mit Palmen, Blattpflanzen, Kakteen.
-Schwedenklee sprach mit auffallend unsicherer, stotternder Stimme. Ellen
-war hell begeistert.
-
-Schwedenklee verlor sich in Einzelheiten. Erschrocken und fast mystisch
-erregt erinnerte er sich, daß er die gleichen Pläne, ganz die gleichen,
-mit Ellens Mutter, der unglücklichen Ellen, in vielen Stunden
-durchgesprochen hatte! Sein Atem stockte. Wie viele Jahre ist es her?
-Und nun steht sie hier, ihre Tochter --! Jetzt aber sollten die Pläne
-Wirklichkeit werden!
-
-»Und dann,« sagte er, atemlos vor Erregung -- denn Ellen schmiegte sich,
-zärtlich, mädchenhaft, an seine Schulter -- »weißt du, wenn alles fertig
-ist, was ich dann tun werde?«
-
-Ihr schönes reines Auge blendete. »Nein.«
-
-»Dann werde ich Siebenbirken der kleinen Ellen schenken.«
-
-»Ich will es nicht haben!« rief Ellen aus, und ihr Blick verriet
-Unsicherheit und Argwohn. Sie löste leise die Hände von seiner Schulter
-und lief verlegen lachend davon.
-
-»Meine Freude!« stammelte Schwedenklee und erhob sich schwankend, indem
-er ihr mit den Blicken folgte.
-
-
-
-
- 21
-
-
-Schon in der nächsten Woche kamen die Werkleute, und der Umbau und
-Ausbau des Hauses begann. Es wimmelte auf Siebenbirken plötzlich von
-Handwerkern.
-
-Schwedenklee erhob sich schon am frühen Morgen. Er ging mit dem
-Meterstab hin und her. Er fertigte für Maurer und Zimmerleute und
-Tischler Detailzeichnungen an.
-
-Man muß es zugeben, in den letzten Jahren war Schwedenklee die
-Entschlußkraft einigermaßen abhanden gekommen. Er sollte zum Beispiel
-einen wichtigen Brief schreiben. Er konnte sich nicht dazu aufraffen. Da
-ist dieser Brief, dachte er, es wird höchste Zeit! Aber die Tinte war
-dick geworden. Der Brief unterblieb.
-
-Schwedenklee hatte sich sehr geändert. Er sieht, daß eine Latte an einem
-Zaun lose ist. Sofort holt er Hammer und Nägel und hämmert, daß es
-lustig widerhallt.
-
-Da steht ein alter Fliederbusch, dessen Blätter matt herabhängen.
-Schwedenklee hätte früher nie einen Finger gerührt. Jetzt holte er
-sofort einen Hammer und einen langen Zimmermannsnagel und meißelt Löcher
-in den zementharten Lehm rings um den Stamm.
-
-»Was tust du?« staunt Ellen, hingerissen und voll äußerster
-Verwunderung.
-
-Schon schleppt Schwedenklee Wasser heran und gießt die Löcher voll,
-sorgfältig, geduldig, bis der Zement sich erweicht. Schon am zweiten
-Tage stellen sich die matten Blätter des Fliederbusches steif und prall.
-Und Ellen staunt!
-
-Schwedenklee ließ sich wiegen -- auf derselben Wage, wo die Schweine, in
-einem Holzverschlag, gewogen wurden. Sein Gewicht war außerordentlich
-hoch. Er verschwieg es! Aber man sah ihn nun schon am frühen Morgen mit
-dem Spaten im Garten. Er arbeitete im Schweiße seines Angesichts den
-ganzen Tag über. Nach einer Woche hatte er bereits fünf Pfund verloren.
-
-Nun begann Schwedenklee schwere Steine, Feldsteine, die in Massen an
-einer Hecke angehäuft waren, zu schleppen und zu rollen. Er hatte
-beschlossen, einen Steingarten zu bauen. Der Schweiß rann ihm in Strömen
-von der Stirne.
-
-In dieser Woche nahm er acht Pfund ab. Schon waren ihm die Hosen zu
-weit. Sein Gang war leichter, er lief sogar zuweilen, allerdings nicht
-lange, da ihm der Atem kurz wurde. In seine schlaffen Arme kam wieder
-Kraft.
-
-Zuweilen strichen Radfahrer flink an Siebenbirken vorbei. Mit einem
-merkwürdigen Interesse sah Schwedenklee diesen flinken Radfahrern nach.
-
-»Kannst du radfahren, Ellen?« fragte er eines Tages, voller
-Entschlossenheit.
-
-»Nein!«
-
-»Vielleicht wäre es hübsch, Partien zu machen?«
-
-»Oh!«
-
-Schon fuhr Schwedenklee in die Stadt und brachte zwei funkelnagelneue
-Räder mit.
-
-Ja, bei Gott, vielleicht hatte Schwedenklee sich doch etwas zuviel
-zugemutet! Er fuhr vor etwa zwanzig Jahren Rad und glaubte nicht, daß es
-möglich wäre, diese Kunst zu verlernen? Kaum aber hatte er das Rad
-bestiegen, als er schon auf der anderen Seite in das Gras hinabstürzte.
-Augusta lachte, Ellen lachte, die Handwerker lachten. Wurde Schwedenklee
-böse? O nein, auch Schwedenklee lachte. Kühn fuhr er einige zwanzig
-Meter geradeaus, um bei einem Holzhaufen zu kentern.
-
-Ellen, zierlich, leicht, gewandt, kletterte in das Rad, und Schwedenklee
-führte die Maschine voller Vorsicht. Ellen schrie, lachte -- und wenn
-sie fallen sollte, landete sie an Schwedenklees Schulter.
-
-Schon am vierten Tage nach den ersten Übungen unternahmen sie eine
-kleine Radtour, die so reich an Erlebnissen war, daß sie tagelang
-darüber sprachen.
-
-Schwedenklee wurde in der Tat täglich schlanker. Sein Blick wurde
-offener, freimütiger. Seine dicken roten Prälatenwangen wurden flächig
-und braun, sein Körper straffte sich. Seine Stimme bekam einen
-metallischen Klang.
-
-Schwedenklee trug beim Lesen eine Hornbrille. Einmal trat Ellen ein, die
-ihn nie mit dieser abscheulichen Brille gesehen hatte. Sie lächelte, ja
-sie mußte laut herauslachen.
-
-In Zukunft trug Schwedenklee diese Brille nicht mehr. Die frische Luft,
-die Bewegung stärkten seine Augen in wenigen Wochen so sehr, daß er
-keine Brille mehr brauchte.
-
- * * * * *
-
-Eine ganze Woche regnete es. Schwedenklee zeichnete wieder an seinem
-Zentralbahnhof.
-
-Dann packte er die Geige aus und begann, lustlos anfangs, Instrument und
-Klang entfremdet, ganz leise zu spielen.
-
-Da erschien Ellen plötzlich -- ganz entgeistert! -- in der Türe.
-
-»Du spielst Geige?« rief sie maßlos überrascht aus. Freude stand in
-ihren hellen Augen.
-
-»Du spielst ja sehr gut!« sagte sie, noch mehr überrascht.
-
-Schwedenklee kam in Verlegenheit. Er erinnerte sich an die Zeit -- viele
-Jahre war es her -- da er begeistert mit den Musikstudenten zweimal in
-der Woche musizierte, da er sogar den Ehrgeiz besessen hatte, Geiger zu
-werden -- still!
-
-Es stellte sich heraus, daß auch Ellen Geige spielte. Ihr Vater hatte
-sie unterrichtet.
-
-»So spiele.«
-
-»Nein. Ich werde üben, wenn du nicht zuhörst. Ich habe lange nicht
-gespielt.«
-
-»Weshalb nicht?«
-
-Ellen errötete.
-
-»Papa verkaufte seine Geige.«
-
-»Ja, weshalb denn?«
-
-»Er verkaufte sie, als Mama starb. Wir hatten so große Ausgaben damals.«
-
-Schwedenklee fragte nichts mehr.
-
-»Es ist keine besondere Geige«, sagte er. »Aber wenn du mir eine Freude
-bereiten willst, Ellen, so nimm sie als Geschenk an.«
-
-Alles, alles wollte er ihr schenken, nur um ein freudiges Feuer in ihren
-Augen zu entzünden. Zart und kühl war die Haut ihrer Schultern. Sie war
-nicht schöner als andere Frauen, oh, keineswegs, aber sie war jung und
-unerfahren, das war alles, was sie anderen Frauen voraus hatte. Es war
-die Jugend, nicht mehr, nicht weniger.
-
- * * * * *
-
-Er bemühte sich, Ellens Wünsche und Pläne zu erforschen. Sie war scheu,
-sprach nie von sich und den Dingen, die sie im Innersten beschäftigten.
-Sie errötete, wenn man sie nach ihren Wünschen fragte, und erklärte, sie
-wünsche nichts. Vielleicht aber hatte sie irgendwelche Neigungen, Lust
-zur Musik, zu irgendeinem Berufe? In allen Dingen wollte er ihr wie ein
-Freund zur Seite stehen.
-
-Endlich überwand Ellen ihre Scheu und erschloß sich. Es fand sich, daß
-Ellen längst einen Entschluß gefaßt hatte. Verlegen und errötend
-bekannte sie, daß sie zur Bühne gehen wolle. Mehr als das, es stellte
-sich heraus, daß ihre Ausbildung bei verschiedenen Lehrern bereits so
-weit gefördert war, daß sie schon in diesem Sommer, wäre der Todesfall
-nicht eingetreten, in ihr erstes Engagement in einen kleinen Badeort
-hätte gehen sollen.
-
-Schwedenklee, der fürchtete, daß das Theater sie ihm entfremden könne,
-versuchte sie umzustimmen. Aber Ellen hing voller Leidenschaft an dem
-gewählten Berufe. Sie war fest entschlossen, denselben verführerischen
-und gefährlichen Weg zu gehen wie ihre Eltern.
-
-»Nun gut«, dachte Schwedenklee. »Ich habe gute Beziehungen zu den
-Theatern in Berlin. Sie wird es leichter haben, soll es leichter haben,
-als andere. Freilich: das Theater -- lieber wäre mir ein anderer Beruf
--- lieber wäre mir gar kein Beruf ...«
-
-Ellen hatte einen hellen, ergreifenden Sopran: vielleicht Sängerin?
-
-Nun, sie sollte wählen, sie sollte werden, was sie wollte!
-
-Tagelang stand eine Überraschung in Schwedenklees Augen. Ellens
-Neugierde war aufs höchste gestiegen.
-
-Eines Tages wurde ein kleiner funkelnagelneuer Stutzflügel vor dem Hause
-abgeladen. Es war ein Glück, daß Ellen im Walde war! Als sie zurückkam,
-fand sie den Flügel im Speisezimmer. Ein kleiner Strauß von
-Frühlingsblumen stand darauf, und an der Vase lehnte eine Karte, auf die
-Schwedenklee geschrieben hatte: der kleinen Ellen für ihre neue
-Wohnstube.
-
-Ellen war überglücklich. Sie schlang ihre weichen, nach Gras und Wald
-duftenden Arme um seinen Hals. Die Berührung ihrer Arme war leise und
-doch unsagbar innig.
-
-Am Abend fand das erste Konzert statt. Schwedenklee spielte aus
-bekannten Opern, und er spielte außerordentlich aufgeregt. Er spielte
-Klavier keineswegs so gut wie Geige. Aber er spielte ohne Mühe, las
-gewandt, und zudem konnte er die meisten Opern auswendig. Schon nach
-wenigen Tagen hatte er sich wieder eingespielt, und der kleine Flügel
-sang und donnerte wie ein Provinzorchester, das sich alle Mühe gibt. Nun
-begann er auch einzelne Partien halblaut zu singen.
-
-Ellen war wie verzaubert. Mit glänzenden Augen saß sie da, den Mund
-offen, die Ohren leuchteten purpurrot. Ihre Kindheit erwachte, da sie in
-einer Luft von Musik aufwuchs.
-
-Bald aber -- wie angezogen -- stand sie hinter Schwedenklees Stuhl und
-begleitete ihn mit leiser, erregt bebender Stimme.
-
-Fast jeden Abend wurde musiziert. Draußen die Nacht, der Mond klettert
-in den samtschwarzen Himmel empor, die Bäume brausen.
-
-Mehr und mehr verlor Ellen ihre Scheu, und ihre Stimme strömte klar,
-rührend, voller Leidenschaft. Sie glühte vor Erregung.
-
-»Vielleicht werden wir doch noch eine Sängerin aus dir machen, Ellen?«
-
-»Papa sagte, meine Stimme sei zu klein«, erwiderte Ellen, errötend über
-das Lob.
-
-»Nun, wir werden ja sehen.« Schon war auch Schwedenklee vom Fieber
-ergriffen: oft sah er sie, Ellen, seine Ellen, auf der Bühne stehen,
-umbrandet vom Beifall.
-
-
-
-
- 22
-
-
-Ellen verbarg nicht ihre Dankbarkeit für Schwedenklees Fürsorge und
-Anteilnahme an allem, was sie betraf. Sie hielt diese Fürsorge für
-völlig uneigennützig, der tiefen Freundschaft entspringend, die ihn mit
-ihren Eltern verbunden hatte. Natürlich verriet ihr ihr weiblicher
-Instinkt, daß er sie gern um sich sah. Wirkliches und aufrichtiges
-Vertrauen aber empfand sie erst seit den letzten Wochen, da er sich so
-lebhaft für ihre Pläne interessierte.
-
-Er hatte ihr eine kleine Bibliothek, die sie für ihre Studien brauchte,
-besorgt.
-
-Mit allem Eifer gab sie sich der Arbeit hin. Jeden Morgen verschwand sie
-nach dem Frühstück in den Wald, der an Schwedenklees Acker grenzte. Erst
-gegen Mittag kehrte sie zurück, die Wangen gerötet, Glanz und den
-Widerschein frohen Erlebens in den Augen.
-
-Neugierig schlich ihr Schwedenklee eines Tages nach. Er hätte sie nie
-finden können, wenn nicht der Hund ihr Versteck verraten hätte. Auf
-einer Kuppe des Waldes war eine kleine, von Erlen umgebene Lichtung, so
-dicht abgeschlossen, daß es nahezu unmöglich war, die Lichtung zu
-finden.
-
-Dies war Ellens Versteck. Er beobachtete, wie sie mit dem Buche in der
-Hand auf und ab ging. Sie sprach, deklamierte, ohne daß er die Worte
-verstanden hätte. Sie spielte! Sie kniete flüchtig nieder, hob die Arme,
-sie flüchtete, sie wehrte unsichtbare Feinde ab, erstarrte in Qualen,
-löste sich befreit -- wieder klang ihre Stimme.
-
-»Was mag sie wohl spielen?« dachte Schwedenklee neugierig in seinem
-Versteck. Nie kam sie ihm seltsamer, rührender vor als in diesem Moment.
-
-Offenbar war sie nicht zufrieden. Wieder kniete sie nieder, ihre dünnen,
-zarten Hände flehten, ihre ganze Gestalt, die Arme, die Neigung ihres
-Kopfes. Wieder wich sie zurück -- herrlich und wunderbar erschien sie
-ihm, leidenschaftlich hingegeben ihrem Werke, inmitten der Einsamkeit
-und Heiligkeit des Waldes.
-
-Strolly, der Hund, gewöhnt an ihr wunderliches Gebaren, lag im Grase,
-den Kopf zwischen die Pfoten gesteckt. In der Gabel eines Astes
-entdeckte Schwedenklee den schwarzen Kater.
-
-Bei einer lebhaften Geste schreckte der Hund auf und sprang an ihr
-empor. Sie umarmte ihn, küßte ihn und beide wälzten sie sich im Grase.
-Hell und herzlich klang Ellens Gelächter.
-
-Heute, morgen, übermorgen belauschte sie Schwedenklee klopfenden
-Herzens. Aber der Hund lief hin und her, bellte -- endlich stutzte
-Ellen, unterbrach ihre Deklamation und lauschte. Sie machte Miene, dem
-Hund zu folgen.
-
-Schwedenklee entfloh und belauschte sie fortan nicht mehr.
-
-Trotz dem kameradschaftlichen, harmlosen und nahezu kindlichen Tone, der
-zwischen ihnen herrschte, bewahrte Ellen immer noch eine gewisse Scheu
-und Fremdheit. Zuweilen sprach sie von ihren Hoffnungen in der Zukunft,
-niemals, oder fast niemals rührte sie an die Vergangenheit.
-
-Bis zum Alter von ungefähr fünfzehn Jahren hatte sie wohl ein ziemlich
-sorgloses, ja heiteres Leben geführt. Dann kam die Krankheit der Mutter.
-Ellen, ein Kind noch, führte den Haushalt, die Sorge trat ihr ganz nahe.
-Früh gereift in manchen Dingen, hatte die Schwere dieser Jahre sie in
-ihrer seelischen Entwicklung in anderer Beziehung gehemmt.
-Unentwickelter als Mädchen ihres Alters, die sorglos und heiter
-erblühten, war sie in anderen Dingen.
-
-Oft beobachtete Schwedenklee, wie sie mit den Tieren plauderte. Sie
-sprach mit ihnen wie mit kleinen Geschwistern, so naiv gläubig und
-zärtlich. Die Tiere aber schienen sie völlig zu verstehen.
-
-»Wie rührend sie ist!« dachte Schwedenklee, und ein tiefes Gefühl der
-Dankbarkeit und des Glückes erfüllte ihn.
-
-
-
-
- 23
-
-
-Sterne, das Rauschen der Bäume, der laue Wind haucht, das Gras flüstert
-unter den Büschen, eine Eule schreit schwingend in der Finsternis. Die
-Dunkelheit berauscht, die Seele ist trunken von der Stille.
-
-Unfaßbar war Schwedenklee diese wundervolle, weiche Dunkelheit, die in
-den Städten ausgestorben ist, vertrieben vom elektrisch glühenden
-Kohlenfaden. Jeden Abend überraschte sie ihn aufs neue. Unfaßbar die
-Stille. Unfaßbar die Sterne, die auf ihn herabstürzten, wenn er das Auge
-zum Firmament hob. Matter Glanz lag auf dem Meere, ein feiner roter
-Lichtfunke glitt irgendwo in die Weite.
-
-Wie ein Verzauberter, sich selbst fremd, wanderte Schwedenklee in der
-Dunkelheit hin und her, sobald Ellen sich zurückgezogen hatte. Beglückt
-hörte er zuweilen ihre Stimme in die Stille dringen. Sie sprach mit dem
-Hunde, der in ihrem Zimmer schlief. Ellen schloß die Läden ihres Zimmers
-nicht, wenn sie sich entkleidete. Diese Reinheit rührte ihn, und er
-hütete sich wohl, ihrem Fenster zu nahe zu kommen. Nur aus der Ferne,
-durch die Büsche hindurch, wagte er zuweilen einen kurzen Blick: ihre
-Arme ordneten die Haare, sie schritt im Nachtgewand zur Kerze, spitzte
-den Mund und blies das Licht aus. Ihr schönes mädchenhaftes Profil blieb
-noch lange in der Dunkelheit haften, zuletzt verschwand der kindlich
-gespitzte Mund.
-
-Schwedenklee setzte sich auf die Treppe des Hauses. Hingegeben, voller
-Andacht atmete er Stille und Dunkelheit ein. Zu denken, daß es Menschen
-gab, die in dieser Stunde in rauchigen Kaffeehäusern saßen und
-schmutzige Karten mischten! Zu denken, daß er vor Jahren gerade vor
-dieser Dunkelheit und Stille die Flucht ergriffen hatte! Unvorstellbar
-der Gedanke, daß er einmal wieder in diese Höllenstadt zurückkehren
-würde.
-
-In der Tat, war sein Leben bisher nicht leer, sinnlos? Welche
-Freudlosigkeit, Nüchternheit, Betäubung, Unrast, Lärm, Flucht vor sich
-selbst.
-
-Wunderbare Wendung, die sein Leben genommen hatte! Deutlich erkannte er
-die Hand eines wohlwollenden Schicksals.
-
-Schwedenklee blickte in die Dunkelheit und überließ sich seinen
-Empfindungen. Schon fühlte er die Schwere nicht mehr, schon schien er zu
-schweben, schon schien er zu segeln auf den Fittichen der Nacht.
-
- * * * * *
-
-Mitten in einer lauten Nacht -- die Zweige peitschten gegen das Fenster
-und der Vollmond flog rasend dahin -- erwachte Schwedenklee plötzlich,
-von einem Gedanken gepeinigt. Dieser Gedanke quälte ihn so sehr, daß
-sein Herz schmerzte. Es war ein Gedanke, den er in all den Wochen
-verscheucht hatte, so oft er sich nahte.
-
-Er erhob sich, in Schweiß gebadet, warf den seidenen Schlafrock über und
-ging in dem schattigen, von Lichtschwertern durchzuckten Zimmer hin und
-her, immer hin und her.
-
-»Und wenn sie doch mein Kind wäre?« flüsterte er. Da! Nun war er
-ausgesprochen, der Gedanke!
-
-Schwedenklee taumelte, so stark erschütterte ihn der Gedanke.
-
-Die arme Ellen, sie war damals von Paris nach Nürnberg gefahren und
-hatte dort schon in den ersten Tagen Blank kennengelernt. Blank hatte
-sich sofort in sie verliebt und sie hatten -- nach anfänglichem Zögern
-Ellens -- geheiratet. Anfangs Januar des nächsten Jahres war die kleine
-Ellen geboren worden.
-
-Soweit die Tatsachen -- gänzlich unverfänglich, wie man zugeben wird,
-von dem verhältnismäßig frühen Termin der Geburt des Kindes abgesehen.
-Ja, wann zum Beispiel hatte Ellen Fröhlich Paris verlassen? April, März,
-früher? Ja, mein Gott, _man lebte damals in den Tag hinein_ -- wer
-dachte an solch abenteuerliche Möglichkeiten?
-
-Nein, der Termin der Geburt war ohne Bedeutung. Leidenschaftlich und
-rasch ist die Jugend, hatte er nicht selbst in dieser Hinsicht genug
-Erfahrungen gesammelt?
-
-Aber Schwedenklee erinnerte sich noch heute deutlich an eine Andeutung
-im ersten Brief, den Ellen Fröhlich von Nürnberg aus schrieb, eine
-Andeutung, die ihm sofort die Hitze ins Gesicht getrieben hatte. Er
-hatte diese Andeutung ignoriert, und in den folgenden Briefen war nicht
-mehr die Rede davon gewesen. Später hatte er sich seiner Feigheit
-geschämt, und gerade aus diesem Grunde erwachte ein leichtes, nicht
-abzuschüttelndes Gefühl der Scham in ihm im Augenblick, da die
-Erinnerung an Ellen Fröhlich unerwartet in ihm geweckt wurde. Es war
-natürlich auch möglich, daß er diese Andeutung, jene dunkel klingende
-Bemerkung, völlig mißverstanden hatte?
-
-Und doch, um ehrlich zu sein, augenblicklich hatte er sich an diese
-seltsame Andeutung erinnert, als Blank ihm seinerzeit schrieb:
-vielleicht habe ich Ihnen Mitteilungen zu machen, die Sie interessieren
-könnten!
-
-Es gab aber ein weiteres gewichtiges Argument: Weshalb hatte Blank, der
-ihm alle Einzelheiten seines Lebens anvertraute, _nie mit einer Silbe
-erwähnt, daß er eine Tochter besaß_? Ja, weshalb, bei allen Göttern?
-
-Schwedenklees Herz blieb stehen. Der Schweiß brach erneut aus seiner
-Stirn.
-
-Ja, war es nicht das allersonderbarste, daß Blank nie von seiner Tochter
-sprach? Wie?
-
-War es -- mehr noch! -- nicht auffallend, daß Blank kurz vor seinem Tode
-alle Papiere, die er besaß, vernichtete?
-
-»Es steht fest,« resümierte Schwedenklee, zitternd vor Erregung, »Ellen
-ist deine Tochter! Ich will es dir beweisen!«
-
-Nehmen wir es einmal an: sofort ist Blanks sonderbares Benehmen, sind
-all seine Worte und Anspielungen sonnenklar.
-
-Ellen Fröhlich trug dein Kind unter dem Herzen, als sie von Paris kam.
-Sie machte eine Andeutung, sie war überzeugt, du würdest auf diese
-Anspielung hin sofort zu ihr eilen. Blank berichtete ja, daß sie dich
-bestimmt erwartete. Du ignoriertest die Andeutung, du kamst nicht. Sie
-haßte dich! Ließ sie dir nicht bestellen: Sage ihm, daß ich ihm nicht
-mehr grolle! Grolle? Oh, ja, nun wurde es klar. Blank liebte sie rasend,
-er nahm das Kind als sein Kind entgegen. Das war das Geheimnis ihrer
-Ehe! Aus welchem anderen Grunde solltest du zwanzig Jahre hindurch in
-dieser Ehe diese wichtige Rolle gespielt haben? Weshalb vergaß man dich
-nicht? Nun, sehr einfach, weil man dich nicht vergessen konnte! Das Kind
-...
-
-Als Ellen fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen, war es da angesichts
-der wirtschaftlichen Not nicht naheliegend, daß die beiden im Interesse
-des Kindes beschlossen, das Geheimnis preiszugeben? Blank sollte zu dir
-kommen, dich sprechen, dir das Geheimnis enthüllen. Aber du wolltest ihn
-nicht empfangen -- er war gezwungen, Anspielungen zu machen, die dich
-stutzig machen sollten. Ja, ja -- so ist es und nicht anders!
-
-Er kam zu dir -- aber im Augenblick, da er dich sah, war es ihm gänzlich
-unmöglich, aus rasender Liebe für das Kind, aus rasender Eifersucht, die
-entscheidenden Worte zu sprechen. Aus diesem Grunde sprach er nie von
-seiner Tochter ...
-
-Es ist ja nur selbstverständlich: wäre mit der jungen Ellen nicht ein
-Geheimnis verknüpft, so würde Blank in der ersten Stunde zu allererst
-nur von ihr erzählt haben ...
-
-»Alles, alles erklärt sich!«
-
-Schwedenklee schwankte durch das Zimmer. »Ja,« sagte er zu sich,
-inbrünstig, bis zu Tränen erregt, »ohne jeden Zweifel -- sie ist dein
-Kind! Und morgen werde ich es ihr sagen. Von morgen an werden unsere
-Beziehungen einen anderen Charakter tragen.«
-
-Schon aber blieb Schwedenklee verwirrt stehen. Obwohl es heiß im Zimmer
-war, zitterte er vor Frost. Nein, das, gerade das war ja gänzlich
-unmöglich!
-
-»Oder werde ich es ihr lieber nicht sagen --?« flüsterte er, aufs
-äußerste erregt.
-
-»Oder werde ich es ihr _nie_ sagen?«
-
-»Aber selbst: wenn ich es ihr sagen würde, wie würde ich sie
-_überzeugen_ können?«
-
-»Nie würde ich sie überzeugen können! Sie wird mich für einen Betrüger
-halten. Sie wird mich hassen, weil ich das Andenken ihrer Eltern schmähe
-...«
-
-Schwedenklee trat an das Fenster und blickte lange, ratlos, verquält,
-zum rasend fliehenden hellblinkenden Mond empor. Dann tauchte er wieder
-in das warme Dunkel des Zimmers zurück.
-
-»Es ist ja alles Unsinn!« dachte er und nahm die Wanderung wieder auf.
-»Völliger Unsinn! Sie ist _nicht_ dein Kind!«
-
-»Nein, nun werde ich es dir beweisen! Die Sache ist ja so einfach, wenn
-man sie ruhig betrachtet, und alles andere sind leere Spekulationen.«
-
-Ellen Fröhlich war lange leidend. Sie lebte wie alle schwer Leidenden,
-fast ausschließlich in der Erinnerung. Ihre Erlebnisse, wie die der
-meisten Frauen, einfach, klar und nicht chaotisch, ließen sich leicht
-überblicken, und so konnte sie nicht umhin, an das Erlebnis in Paris zu
-denken. Sie fand das verblaßte Bild. Vielleicht sagte sie zu Blank:
-bring es ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin, grüße ihn von mir. Ich
-grolle ihm nicht mehr -- weil er mich damals so schwer enttäuschte ...
-
-Blank konnte auch recht gut ganz von selbst auf den Gedanken gekommen
-sein! Verlassen, arm, krank, suchte er Anlehnung, Stütze. Nichts wäre
-verständlicher. Der Gedanke an die Zukunft seines Kindes marterte ihn.
-Mit dem Starrsinn eines Verzweifelten klammerte er sich an dich.
-Vielleicht, sicher, hatte ihm auch seine Frau nahegelegt, daß in der
-letzten Not du dich wohl als Freund erweisen würdest.
-
-Ich reagierte nicht auf seine Briefe. Er machte bedeutsam klingende
-Anspielungen, um meine Neugierde zu reizen -- Anspielungen, die er
-augenblicklich widerrief, als er seine Absicht, mich kennenzulernen,
-erreicht hatte.
-
-Während er harmlos zu plaudern versuchte, während er zu lächeln
-versuchte, marterte ihn vielleicht der Gedanke: kann man diesem da --
-wenn es zum Äußersten kommen sollte --, kann man diesem da, diesem
-Schwedenklee, das Kind anvertrauen? Wird er nicht, teilnahmslos und
-gleichgültig, die Bitte eines Unglücklichen verhallen lassen?
-
-Nun schien auch plötzlich die Bemerkung Sinn zu bekommen, die er machte,
-als er nach dem Abendessen in der Droschke fortrollte: einmal werden Sie
-vielleicht begreifen, welche Bedeutung es für mich hat, Sie näher
-kennengelernt zu haben.
-
-Weshalb aber sprach er nicht von Ellen? Aus Scheu, aus Scham -- aus
-letzter Scham ...
-
-»So und nicht anders ist die Sache«, wiederholte Schwedenklee, »und
-alles andere sind nervöse Konstruktionen --«
-
-»Und ein Argument gibt es, wichtiger als alle, unwiderlegbar!«
-
-»Nehmen wir an, Ellen wäre deine Tochter -- hätte der sterbende Blank,
-der ja noch die Kraft hatte, dir zu schreiben, hätte er in dieser
-furchtbaren Stunde nicht die Wahrheit bekannt? Schon um sicher zu sein,
-daß du Ellen gut aufnehmen würdest?«
-
-»Mit dem Tod vor Augen -- nein, nein, ganz unmöglich!«
-
-»Sie ist natürlich nicht deine Tochter!« rief Schwedenklee beglückt aus.
-
-Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Erregung hatte ihn völlig
-erschöpft.
-
-»Wie albern die Menschen doch sind!« dachte er befreit und leicht. »Wie
-albern! Mit welchem Unsinn sie sich die Köpfe angefüllt haben! Es ist ja
-schließlich höchst einerlei, ob sie nun mein Kind ist oder nicht. Das
-wesentliche ist ja doch, daß sie bei mir ist! Sie ist mein, sie wird
-mein sein, sie wird meine Geliebte, meine Frau sein -- ja, selbst wenn
-ich es wüßte, daß sie mein Kind ist! Ich werde glücklich sein. Was
-kümmert mich schließlich alles andere?«
-
-Schon graute der Tag. Abgezehrt, verhärmt sank der Mond, eine blasse,
-zerfressene Scheibe, in den Morgennebel, der aus den Feldern stieg. Ein
-früher Vogel schrie geisterhaft.
-
-Spät am Morgen erwachte Schwedenklee. Als er sich ankleidete und durchs
-Fenster blickte, sah er Ellen hoch oben auf einem Wagen herrlich
-gehobelter Bretter sitzen, der so eben von einem Gespann starker
-Bauernpferde in den Hof gezogen wurde. Es war der Fußboden des Anbaues.
-Sie lachte mit dem Kutscher. Strolly, der Hund, tanzte wie rasend vor
-den Nasen der Pferde. Ellen erblickte ihn am Fenster, und ihr zarter Arm
-winkte, während die Sonne auf ihren Wangen funkelte.
-
-Verflüchtigt waren die Nachtgespenster.
-
-
-
-
- 24
-
-
-Die Saat schoß aus der Erde, über Nacht wuchs das Gras auf der Wiese.
-Die Wälder standen plötzlich in dichtem Grün. In Schwedenklees
-verwahrlostem Garten erblühten plötzlich Scharen von Lilien, Päonien,
-Stauden aller Art, Schlingrosen -- vor Jahren hatte er sie gepflanzt und
-völlig vergessen. Der kleine Obstgarten, Pflaumen und Birnen, war eine
-einzige schneeige Wolke, zwischen Haus und Wald gebettet. Ellen war
-nichts als seliges Staunen.
-
-Heiß und plötzlich setzte der Sommer ein. Reichtum quoll aus der Erde,
-Gräser, Blumen, Unkraut. Schon wogte das junge Getreide, der Klee stand
-einen Schuh hoch. Bis an die Knie standen die Kühe im Gras, die Pferde
-grasten in der grünen Koppel, die Schweine grunzten auf dem schwitzenden
-Misthaufen. Die Hühner gackerten lärmend, und Scharen von Küken
-wimmelten um die Glucken. Der Bauer schnitt die erste Mahd, und der
-Schweiß rann ihm über das braune Gesicht.
-
-Ellen hatte bis jetzt fast immer dunkle Kleider getragen. Sie
-vertauschte sie nun endgültig mit hellen Sommerkleidern. So erschien sie
-plötzlich weltlicher, reizender, strahlender -- Schwedenklees Blicke
-hingen an ihr, wie sie durch den Garten schritt, in den Wald lief, sich
-zu einer Blume bückte, das lockere Haar mit der Hand in den Nacken warf.
-
-Schwedenklee schien größer geworden zu sein, da er sich besser hielt.
-Sein Bauch war fast völlig verschwunden, sein Gesicht, wenn auch noch
-massig und viereckig, war straff und braun, niemand konnte leugnen, daß
-er sich um zehn Jahre verjüngt hatte.
-
-Er war in diesem Frühling und Sommer nicht müßig gewesen. Zusammen mit
-Ellen hatte er einen neuen Obstgarten angelegt, gegen hundert Bäume, er
-hatte eine Bewässerungsanlage von fünfzig Meter Länge gebaut. Er hatte
-Wege ausgehoben, Bauschutt und Sand gefahren und festgestampft. Nun war
-er dabei, eine Laube zu zimmern, die eine herrliche Aussicht bot. Er
-hatte Schwielen an den Händen, ganz wie der Bauer. Am Abend sank er
-todmüde ins Bett, um wie ein Stein zu schlafen.
-
-Sie waren viel auf den Rädern unterwegs. Ein wenig außer Atem folgte
-Schwedenklee Ellen, die wie ein Rennfahrer dahinfuhr. Ellen hatte auch
-kutschieren gelernt, etwas ängstlich noch saß sie, die Peitsche in der
-Hand, in steifer Haltung auf dem Bock, und die Pferde trappelten hurtig
-dahin. Schwedenklee hatte ihr einen kleinen eleganten Wagen gekauft.
-
-Das kameradschaftliche Verhältnis zwischen Ellen und Schwedenklee hatte
-an Herzlichkeit gewonnen. Sie lachten und schwatzten zusammen -- nicht
-wie Erwachsene eigentlich, eher wie Kinder. Sie umarmte ihn, schmiegte
-sich an ihn, er gab ihr einen Gutenachtkuß, wenn sie schlafen ging.
-
-Bald!
-
-Schwedenklee war in großer Erregung. Oft ging er, verwirrt und unruhig,
-mit großen Schritten im Garten hin und her und sprach halblaut mit sich
-selbst.
-
-Bald! Bald! Tausend Kosenamen hatte er für Ellen in Gedanken, zärtliche
-Namen, deren er sich vor Wochen noch geschämt hätte.
-
- * * * * *
-
-Der Sommer stand in voller Glut, die Mückenschwärme tanzten über den
-Wegen, in den Augen glänzte Schweiß. Vom Strande unten stiegen an den
-Abenden häufig bunte Leuchtkugeln in den Nachthimmel empor, der Strand
-wimmelte von Menschen. Die Saison stand auf der Höhe.
-
-Der Anbau war fertig, ein mit Bändern geschmückter Tannenbaum funkelte
-auf dem First.
-
-Schwedenklee hatte den Handwerkern ein Faß Bier gestiftet, am Abend aber
-sollte das Ereignis im Hause gefeiert werden. Schon seit einer Woche war
-das Programm erörtert worden.
-
-»Heute abend um sieben, Ellen, mache dich schön!« sagte Schwedenklee.
-
-Augusta hatte ihr letztes hergegeben. Allerlei Leckerbissen als
-Vorspeise, eine göttliche Suppe mit Leberklößchen, gebratene Hähnchen
-mit dem herrlichsten Salat der Welt. Törtchen von Walderdbeeren, Ellen
-hatte sie gesammelt. Sekt im eisigen Wasser des Brunnens gekühlt. Im
-Speisezimmer brannten zwei Dutzend Kerzen. Zur Feier des Tages durften
-Strolly und Munki bei Tisch gegenwärtig sein. Sie benahmen sich anfangs
-gesittet, aber, ganz wie Kinder bei außerordentlichen Anlässen, wurden
-sie mehr und mehr ausgelassen: zuletzt sprang der Kater, von
-unbezwinglicher Begierde fortgerissen, mitten auf den Tisch und
-versuchte ein Hähnchen zu stehlen.
-
-Ellen war in der herrlichsten Laune. Die Katze kauerte aufgeregt auf
-ihrer Schulter. Der Hund saß, ganz Spannung und Bereitschaft, an ihrer
-Seite -- ihre Augen blendeten vor Freude.
-
-Schwedenklees Fröhlichkeit klang anfangs etwas gezwungen. Ein Schatten
-war über sein Gesicht gebreitet. Gewiß, alles war wunderbar, es war ein
-Abend, auf den er sich seit Wochen freute, ein Abend von ganz besonderer
-Bedeutung, ein Schicksalsabend, und nur um die Feierlichkeit dieser
-Stunde zu betonen, ohne jeden Nebengedanken, hatte er die zwei Dutzend
-Kerzen angezündet. Aber als Ellen eintrat, strahlend, den Widerschein
-der Kerzen in den klaren Augen, mußte er sich plötzlich an das Diner
-erinnern, das er seinerzeit in Paris Ellens Mutter gab, mit den
-Spiegeln, im Hotel Panthéon.
-
-Unvollkommen ist das menschliche Gehirn eingerichtet, dachte er, voller
-Vorwurf gegen den Schöpfer, gänzlich unvollkommen. Die Erfindung eines
-Pedanten. Kaum zündet man ein paar Kerzen an, schon ist man gezwungen,
-an Dinge zu denken, die zwanzig Jahre zurückliegen -- weshalb? Etwas
-steif und melancholisch sah sein Gesicht anfangs aus, etwas
-melancholisch und dunkel klang seine Stimme. Mit einem Faltengekräusel
-in der gebräunten Stirn saß er inmitten der vierundzwanzig Kerzen.
-Vielleicht ist es Vermessenheit? dachte er, und sein Herz wurde
-plötzlich düster. Vielleicht hat ein Mensch wie ich gar nicht mehr das
-Recht, die Hand auszustrecken nach ...! Ellen -- die Liebliche -- sie
-ahnte nichts, wie sollte sie?
-
-In diesem Augenblick aber sprang Munki auf den Tisch und versuchte ein
-geröstetes Hähnchen mit der Kralle zu angeln. Ellen gelang es gerade
-noch in der letzten Sekunde, den Kater abzufangen. Sie warf ihn ein
-paarmal hoch in die Luft, um ihn dann an ihr Herz zu drücken und seinen
-wilden struppigen Kopf mit Küssen zu bedecken. Ihr Lachen klang so
-heiter und glücklich, daß Schwedenklee augenblicklich mit fortgerissen
-wurde. Der Kater hatte den Abend gerettet.
-
-Schwedenklee erhob sich und füllte mit der großen Geste des erfahrenen
-Zechers die Kelche. Fort mit den törichten Gedanken, fort! Gehen wir dem
-Schicksal beherzt entgegen ...
-
-»Auf deine Gesundheit, Ellen!« rief er und ließ das Glas im Lichte der
-Kerzen funkeln.
-
-»Sekt?« sagte Ellen. »Ich habe noch nie Sekt getrunken, es ist das
-erstemal!«
-
-»Versuch' es nur! Es ist noch niemand daran gestorben.«
-
-»Er kitzelt!« rief Ellen und lachte.
-
-In wunderbarer Laune verlief das Diner. Schwedenklee wurde gesprächig.
-Sie tranken auf Ellens Zukunft, ihren Ruhm, sie tranken auf ihre
-Freundschaft und auf die Herrlichkeit dieses Sommers. Der Sekt hatte
-Schwedenklees Gesicht gerötet, seine Augen glänzten, sein Gebiß
-leuchtete jung und stark. Er fühlte sich wieder als derselbe lebensfrohe
-Schwedenklee, der er in Paris war, seinerzeit. Zwanzig Jahre -- was
-sollen sie bedeuten, es ist nur ein albernes Vorurteil ... Nein, damals
-gab es nichts Unmögliches für ihn -- und heute?
-
-Schwedenklee leerte den Kelch und warf ihn lachend gegen die Wand.
-
-Ellen saß mit blendenden Augen, umweht vom Schein der Kerzen. Ihre Haut
-leuchtete wie Blüten. Häufig kühlte sie die heißen Wangen mit den Rücken
-der schmalen Hände. Sie lachte übermütig, und schon nach dem dritten
-Glas lachte sie ausgelassen über die geringste Kleinigkeit. Sie fütterte
-die Tiere mit Leckerbissen, und Strolly, obschon ein großer Hund, durfte
-auf ihrem Schoß sitzen.
-
-»Unser Haus ist also glücklich fertig!« sagte Schwedenklee. »Nun beginnt
-die Einrichtung. Es soll wunderbar werden, warte nur! Ein so behagliches
-Nest wollen wir uns bauen, und hörst du, ein Bett soll Ellen bekommen --
-wie ein Traum!«
-
-»Ja, wie eine Muschel soll es sein und ganz in Spitzen eingehüllt --«
-
-»O, wie fein!« lachte Ellen.
-
-»Und dann werden wir hier in Mecklenburg herumfahren und antike hübsche
-Möbel zusammenkaufen.«
-
-Ausführlich besprachen sie die Einrichtung des Hauses. Schwedenklee
-wurde nicht müde, neue Vorschläge zu machen.
-
-»Und welche Farbe soll dein Schlafzimmer bekommen, Ellen?«
-
-Ellen dachte lange nach. »Rosa!« rief sie. »Weißt du, so ein zartes
-Rosa, wie Korallen.«
-
-»Und dein Wohnzimmer?«
-
-»Himmelblau!«
-
-Schwedenklee lächelte. Ob wohl die Farben zusammenstimmen würden?
-
-»Weshalb sollten sie nicht zusammenstimmen?«
-
-»Gut also -- und dann das Badezimmer. Blattpflanzen, Palmen, Gummibäume,
-Farne, Kakteen -- es wird wie ein Palmenhaus sein, Ellen!«
-
-Wohl eine volle Stunde wurde über das Badezimmer gesprochen, das das
-schönste und originellste in ganz Deutschland werden würde. Dafür sollte
-sein, Schwedenklees Name bürgen!
-
-»Aber Arbeit! Viel Arbeit. Bis alles soweit ist, wird auch schon der
-Herbst da sein, Ellen!«
-
-»Oh, weh!«
-
-»Ja. Und dann werden wir nach Berlin zurückkehren und du wirst deine
-Studien wieder aufnehmen. Ich werde dich zu den ersten Lehrern bringen.
-Viele kenne ich ja persönlich.« Schwedenklee renommierte ein wenig mit
-seinen Bühnenbekanntschaften.
-
-Ellen war hell begeistert. »Wie ich mich auf die Arbeit freue!
-Hoffentlich enttäuscht mein Talent nicht.«
-
-»Weshalb sollte dein Talent enttäuschen? Ich sage dir nur eines« --
-Schwedenklee lächelte vielsagend und zwinkerte ein wenig mit den Augen
--- »du hast mehr Talent, als du je ahnen kannst, ja!«
-
-»Mein Himmel!« Ellen wirft erregt die Hände in die Luft.
-
-»Du wirst also deine Studien aufnehmen. Aber wir werden immerhin noch
-Zeit haben, um im Winter auf vierzehn Tage nach St. Moritz zu fahren.«
-
-»St. Moritz?«
-
-»Ja. Es ist phantastisch im Winter. Es gibt dort Häuser, zehnstöckig --
-wie in Neuyork. Du wirst sehen. Es ist wunderbar. Am Tage Sport, abends
-Tanz.«
-
-»Und dann,« fuhr Schwedenklee fort, »im Frühling fahren wir auf einige
-Wochen nach Florenz. Du sollst Florenz sehen! Ein Schmuckkästchen! Ein
-Museum! Die Straßen allein sind schon ein Museum!«
-
-»Wie herrlich!«
-
-Schwedenklee entwarf Plan um Plan. Schön und berauschend stand die
-Zukunft vor ihm.
-
-Augusta hatte längst abserviert. Die Kerzen erloschen, es brannten nur
-noch drei. Da sah man auch plötzlich den dunkeln Nachthimmel, flimmernd
-von Sternen, in der offenen Türe stehen. Es funkelten die großen
-Sternbilder, deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte.
-Berauschend strich der Atem der Sommernacht ins Zimmer, die Grillen
-feilten. Wolken von Düften hoben sich aus der trächtigen Erde.
-
-Plötzlich knatterte es und am Himmel erschienen farbige Leuchtkugeln und
-Feuerräder. Rote Lohe schlug aus dem Meer empor, und die Sterne wurden
-bleich und unscheinbar.
-
-Nein, Ellen hatte noch nichts von der Welt gesehen, noch gar nichts.
-Aber ihre Augen weiteten sich, heiß vor Begierde, wenn er erzählte.
-Höher noch schwang sich die feine Braue, und die Lippen atmeten erregt.
-
-Er also war ausersehen, er, ihr die Wunder der Erde zu zeigen, ihr
-keusches Staunen, ihre reine Verzücktheit zu genießen! Er! Dank den
-erhabenen Göttern ...
-
-Dann also würde er ihr Paris zeigen: wimmelnde Stadt, immer auf den
-Beinen, ohne Schlaf, bebend von Lärm, widerhallend von Freude,
-schwimmend in Licht.
-
-Und dann also --
-
-Erregt ging Schwedenklee hin und her, von den großen Sternbildern zu
-Ellen mit den glänzenden Augen und heißen Wangen, immer hin und her.
-
-Auch auf einem großen Dampfer war sie ja noch nicht gewesen: surrend und
-tobend Tag und Nacht, das kühle gischtende Meer durchschneidend,
-angefüllt mit Luxus und Behaglichkeit. Meer, Wolken -- unbeschreiblich
-herrlich! Nein, sie hatte ja noch nichts, gar nichts gesehen -- wie
-glücklich er war!
-
-So würden sie also dahinfahren, Tag um Tag. Indien! Japan!
-
-»Japan?« rief Ellen und schlug die kleinen Hände zusammen.
-
-»Ja, Japan. Ich bin ja auch noch nicht dagewesen, aber es soll ein
-einziges Wunder sein. Man fährt in kleinen Wagen dahin, von braunen,
-flinken Burschen gezogen -- die Teehäuser, die Tempel -- und die ganze
-Bevölkerung in Kimonos und auf hohen Stöckelschuhen. Da gibt es einen
-Berg, den man immer auf den Holzschnitten abgebildet sieht -- wie heißt
-er doch? Fujiyama! Diesen Fujiyama wollen wir besteigen!«
-
-Wie Ellen sich freute zu reisen, die Welt zu sehen! Denn sie hatte ja
-bis jetzt nichts gesehen. Sie kannte nur Dresden, Berlin, und einmal war
-sie in Potsdam gewesen.
-
-Man höre! Schwedenklee lachte laut heraus.
-
-Und wieder ging Schwedenklee erregt hin und her, von den großen
-Sternbildern zu Ellen, von Ellen zu den großen Sternbildern. Immer
-größer wurden seine Schritte. Seine Stimme klang plötzlich unsicher.
-
-Sie würden also reisen, und er versprach, ihr die Welt zu zeigen, so
-wahr er hier auf und ab gehe.
-
-»Aber«, begann Schwedenklee tastend, »in welcher Form -- ich meine, in
-welchem gegenseitigen Verhältnis werden wir zusammen reisen?«
-
-Ellen verstand nicht.
-
-»Ich meine, in welcher Eigenschaft wirst du mit mir reisen?«
-Schwedenklee blieb stehen, sein Herz pochte.
-
-»In welcher Eigenschaft?« Ellen saß mit offenen Lippen. Sie konnte gar
-nicht begreifen.
-
-»Ja.« Aus lauter Hilflosigkeit runzelte Schwedenklee die Stirn. »Du
-kannst doch nicht etwa als meine Nichte mit mir reisen, oder als meine
-Sekretärin.«
-
-Ellen lachte laut heraus!
-
-Ihr Lachen ermutigte Schwedenklee wieder. Er verlor etwas seine
-Befangenheit. »Auch als meine Tochter doch wohl nicht?« fragte er.
-
-»Nein!« Ellen schlug sofort die Augen nieder.
-
-Mutig ergriff Schwedenklee ihre beiden Hände. Er bemühte sich, seiner
-Stimme einen heiteren, harmlosen Klang zu geben, als er fortfuhr: »Dann
-bleibt ja nur eines, Ellen --?«
-
-Groß und hell bis in die tiefsten Tiefen waren Ellens Augen auf ihn
-gerichtet. Sie errötete, ein zarter Gluthauch überzog blitzschnell
-Gesicht und Nacken. Ja, nun hatte sie verstanden. Ihre Arme begannen
-leise zu zittern. Sie zog die Hände an sich, schob den Sessel weit
-zurück und stand auf.
-
-»Sprich nicht!« rief sie und hielt sich die Ohren zu, da sie sah, daß
-Schwedenklee Miene machte, weiterzusprechen. Sie schüttelte hastig den
-Kopf, in entzückender Verwirrung. »Nicht heute, nicht jetzt, frage nicht
---« stammelte sie -- »wie sollte ich heute antworten können? Sprich
-nicht -- morgen ...«
-
-»Gut, dann morgen. Ich wollte dich nicht erschrecken, Ellen. Gute
-Nacht.« Er streckte ihr die Hand hin.
-
-Sie nahm seine Hand. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, so sanft, daß
-er sie kaum fühlte, und bot ihm -- zum erstenmal -- die Lippen zum
-Gutenachtkuß. Ihr Mund war heiß und weich.
-
- * * * * *
-
-Fiebernd, mit heißem Kopf, trat Schwedenklee ins Freie.
-
-»Ihr Sterne!« sagte er zu den großen Sternbildern, trunken vom Sekt,
-berauscht von seinem Glück, und blickte lange zum flimmernden Firmament
-empor. »Du grundgütiger Himmel, herrlich und wunderbar ist das Leben!«
-
-Es war ja wohl kein Zweifel, daß sie einwilligen würde. Immer noch
-fühlte er ihren heißen, weichen Mund auf seinen Lippen. So zart, wie ein
-Hauch nur.
-
-»Ja, dies ist die Lösung, und ich werde glücklich sein!«
-
-Mit glühenden Schläfen ging Schwedenklee lautlosen Schrittes durch das
-taunasse Gras. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Kühle hauchte vom
-Walde her. Sternschnuppen schossen über den Himmel.
-
-Schwedenklee träumte, die Augen weit geöffnet. »Und immer wird sie um
-mich sein,« flüsterte er, »am Morgen, am Mittag, in der Nacht. Immer
-werde ich sie sehen, fühlen, sie wird plaudern, und ich werde entzückt
-sein, nur ihre Stimme zu hören.«
-
-»Ich werde mit ihr reisen. Ich habe ja Geld, ich kann alles, alles
-bezahlen! Wenn es sein muß, verkaufe ich die Bauplätze! Die Menschen
-werden auf der Straße, in den Dielen der Hotels die Hälse verdrehen. Und
-meine Bekannten werden sagen: Seht an, Schwedenklee, ja, das ist ein
-Bursche!«
-
-»Schwedenklee, geschworener Gegner der Ehe, wird also plötzlich
-heiraten? Seht an! Nun, laß sie reden. Eine junge Frau, die reizendste
-Frau der Erde werde ich haben -- und glücklich sein -- laß sie reden
---!«
-
-»Vielleicht aber --?«
-
-Schwedenklee ging hastig weiter, über ein gemähtes Kleefeld, im
-silbernen Licht der Sternennacht.
-
-»Vielleicht aber werde ich Kinder haben? Kinder? Ich, der Väter, die
-ihre Sprößlinge spazieren führen, immer ungeheuer komisch fand -- nun
-weshalb nicht? Man wird sie baden, pudern, pflegen -- sie werden
-schreien -- aber was schadet es, laß sie nur schreien. Sie werden süß
-sein. Und Ellen -- dieses süße Wesen, selbst noch ein Kind -- Mutter!«
-
-Schwedenklee blieb erschüttert stehen. Sternschnuppen fegten über ihn
-hin.
-
-»Eins, zwei, drei --« zählte Schwedenklee. »Also drei Kinder! Gut!«
-
-»Sie, die selbst noch so zart ist, ein Kind fast --!«
-
-Ȇberlegen wir: mein bisheriges Leben -- nein, keine Reue, keine
-Vorwürfe -- was geschehen ist, ist geschehen -- aber es wird von nun an
-_Sinn_ in mein Dasein kommen, dieses In-den-Tag-hinein-Leben hat ein
-Ende.«
-
-Ein Verzauberter, ging Schwedenklee über die Felder. Süß stieg der
-Geruch der Erde auf. Nie in seinem Leben hatte er diesen Glanz der
-Gestirne gesehen.
-
-»Und wir werden reisen, und alle werden mich beneiden! Welch ein junges,
-herrliches Wesen er sich erobert hat, werden sie sagen, seht an, dieser
-tolle Knabe! Und sie -- Ellen -- eine schlechte Partie wird sie ja nicht
-machen. Nein, das kann wohl niemand behaupten ...«
-
-»Und wodurch habe gerade ich dieses Glück verdient?« fragte
-Schwedenklee. »Durch nichts, durch nichts ...«
-
-»Durch nichts!« rief er triumphierend und herausfordernd. »So ist das
-Leben!«
-
-
-
-
- 25
-
-
-Schwedenklee schlief in dieser Nacht wunderbar! Er träumte angenehm: er
-packte Koffer, Koffer, streute Trinkgelder um sich, Scharen von Kellnern
-dienerten, Autos rollten, Dampfer tuteten, beglückt fühlte er Ellens
-Gegenwart in jeder Sekunde, ohne daß er sie eigentlich je sah -- sie
-waren unterwegs.
-
-Spät am Morgen erwachte er, dampfend und erfrischt vom Schlaf. Es war
-fast schon neun Uhr. Ellen hatte soeben gefrühstückt und erhob sich vom
-Tisch, als er eintrat.
-
-Sie errötete, rasch und tief -- augenblicklich mußte er wieder an ihre
-heißen, weichen Lippen denken -- flüchtig, mit einer gewissen Hast,
-berührten ihre kühlen Finger seine Hand.
-
-»Was für Langschläfer wir doch sind!« rief sie lachend aus. »Ich habe
-einen richtigen Katzenjammer!« Und sie strich sich mit den Fingerspitzen
-über die Schläfen, so daß die Hände ihr Gesicht verbargen. »Und was für
-törichte Dinge ich wohl geschwatzt haben mag, heute nacht?«
-
-Schon war sie zur Türe hinaus.
-
-Schwedenklee fand ihre mädchenhafte Verwirrung entzückend. Sie schämte
-sich, ohne jeden Grund. Wie herrlich, diese Reinheit!
-
-Nein, er hatte natürlich nicht erwartet, daß sie ihm um den Hals fallen
-würde, keineswegs. Sie war ein junges Mädchen, vor eine bedeutsame Frage
-gestellt, sie mußte Zeit zur Überlegung haben -- er würde weder mahnen
-noch drängen, nicht, daß man einmal sagen könnte, er habe sie
-überrumpelt.
-
-Und doch ...
-
-Nein, nein, Schwedenklee war gewissermaßen dankbar, daß sich die erste
-Begegnung nach seinem Antrag so und nicht anders abgespielt hatte.
-
-Er frühstückte mit gutem Appetit. Aber, während er ein Ei in der Hand
-aufschlug, konnte er doch den Gedanken nicht unterdrücken, daß es
-schließlich nicht nötig war für Ellen, so rasch, so verwirrt und
-verlegen wegzulaufen. Nein, nein, ganz unter uns, er hätte es hübscher
-und richtiger gefunden, wenn sie ihm zum Beispiel beim Frühstück
-Gesellschaft geleistet hätte.
-
-Mit einer kleinen Falte in der Stirn zerlegte er eine Sardine.
-
-Schwedenklee begann den Tag mit einer gewissen Feierlichkeit. Er ging
-bedächtig durch die Ställe, was er selten tat, er sprach lange und fast
-freundschaftlich mit dem Pächter, er stand und blickte über Felder und
-Äcker. Hell glänzte der Tag, eine Lerche schmetterte im Sonnendunst,
-sein Herz wurde heiter und froh.
-
-Trotzdem -- je länger er stand und in den hellen Tag hineinblickte --
-desto leerer und verwirrter wurde es in seinem Herzen. Er fühlte sich
-vereinsamt, verlassen, der Glanz des Tages bedrückte ihn. Obschon er
-sich geschworen hatte, Ellen in ihrem Versteck im Walde nie mehr zu
-belauschen, trieb ihn doch ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu
-sehen, hinein in den Wald. Er pirschte sich vorsichtig durch das
-Erlengebüsch, erschreckend bei jedem Knacken eines Astes. Die Naturbühne
-aber war verlassen. Ellen war nicht da.
-
-Schwedenklee kehrte enttäuscht in den Garten zurück und nahm, um die
-Langeweile zu verscheuchen, die Leere, mit übertriebenem Eifer seine
-Arbeit auf. Der Garten, muß man wissen, stieg von der Eingangspforte zur
-Treppe des Hauses sanft an. Schwedenklee beabsichtigte, diese Steigung
-in zwei Terrassen abzubauen, die, mit Stauden und Sommerblumen
-bepflanzt, dem Vorgarten ein heiteres und repräsentatives Gepräge geben
-sollten. Schon seit Wochen war er mit dieser Terrassierung beschäftigt,
-die Arbeit würde noch Wochen beanspruchen.
-
-Eifrig handhabte er den Spaten. Die Sonne stach scharf ins Genick. Und
-Ellen, wo war sie?
-
- * * * * *
-
-Plötzlich hörte er eine Stimme, eine kernige, helle, etwas
-selbstbewußte, ja arrogante Männerstimme.
-
-»Erlauben Sie mal, hören Sie mal!« rief diese Stimme.
-
-Schwedenklee richtete sich auf. Ein dicker Schweißtropfen lief über
-seine Nase.
-
-An der Gartentüre stand ein junger Mann. So unangenehm ihn der
-selbstbewußte, herrische Ton der Stimme berührt hatte, so sympathisch
-erschien ihm zu seiner Überraschung das Aussehen des jungen Mannes. Er
-war ein hübscher, großer Bursche mit gebräuntem Gesicht und hellen
-blauen Augen, blonden, strähnigen Haaren, die flott zurückgebürstet
-waren. Das Gesicht strahlte Jugend, Gesundheit und Selbstvertrauen. Er
-trug einen lichtgrünen Touristenanzug, graue Wickelgamaschen, gelbe
-Schuhe und einen weichen, breiten Kragen. Keinen Hut. Ein Badegast,
-dachte Schwedenklee. Häufig verirrten sich Badegäste an seine Türe.
-
-»Sind wir hier richtig?« rief die helle, selbstsichere Stimme. »Ist dies
-die Residenz des Herrn Schwedenklee?«
-
-Schwedenklee, etwas verwundert, nickte.
-
-»Nun wohl, Dank den erhabenen Göttern!«
-
-Der junge Mann klinkte die Türe auf und stieg die Stufen empor.
-
-In der Geste des Aufklinkens der Pforte, in der Art des Eintretens
-erkannte Schwedenklees geschultes Auge sofort die Bühne.
-
-Etwas unwillig stach er den Spaten in die Erde und wischte sich den
-Schweiß vom Gesicht.
-
-»Und wo, teurer Freund,« fuhr der Eindringling mit strahlender Miene und
-einer höflichen Verbeugung fort, »wo können wir diesen sagenhaften
-Millionär Schwedenklee finden?«
-
-»Schwedenklee, das bin ich.«
-
-Lachend, mit übertriebenem Erstaunen trat der Gast einen Schritt zurück.
-»Sie? Verzeihen Sie, man sagte mir: ein _älterer Herr_! Es ist mir eine
-Ehre, mich Ihnen zu Füßen zu legen: Richard Pohl -- nicht zu verwechseln
-mit dem berühmten Nord- oder Südpol gleichen Namens -- Mitglied der
-Vereinigten Sommertheater in Hamburg.« Kräftig und zutraulich schüttelte
-er Schwedenklees Hand. »Also Sie sind es, dessen Güte die Himmel rühmen?
-Es ist mir eine hohe Freude!«
-
-»Seit einigen Tagen bin ich hinter Ihnen her«, fuhr Pohl gesprächig und
-lebhaft fort. »Sie sehen eine Art Odysseus vor sich! Ja, in der Tat, es
-ist nicht leicht, Sie zu finden, Ehrwürdiger, und selbst hier im Ort
-hatte ich noch Mühe. Aber nicht Sie suche ich eigentlich, obschon es
-sich der Mühe lohnte, sondern eine Dame: Ellen Blank!«
-
-Aus der weitschweifigen Erzählung erfuhr Schwedenklee, daß Pohl mit der
-Familie Blank schon seit der Dresdener Zeit bekannt war. Er war der Sohn
-eines Musikers der Dresdener Oper, und Blank war sein erster Lehrer
-gewesen. Zufällig hatte er in einer Fachzeitung von Blanks Tod gelesen.
-Er schrieb einen Brief an Ellen nach Berlin, bekam ihn aber als
-unbestellbar zurück, mit einem zweiten Brief erging es ihm ebenso.
-Sobald seine Tätigkeit es ihm erlaubte, fuhr er nach Berlin, um Ellens
-Spur aufzufinden, was ihm erst nach vieler Mühe gelang, nachdem er die
-Hilfe der Polizei in Anspruch genommen hatte. Ja, und nun also war er
-endlich hier, und er strahlte vor Freude und Genugtuung, sein Ziel
-erreicht zu haben.
-
-Schwedenklee hörte ihm mit zerstreuter Miene zu. Ganz offen gestanden,
-zu keiner Zeit hätte ihm der Besuch ungelegener kommen können als gerade
-heute, an einem solch ungeheuer bedeutsamen Tage.
-
-»Welcher Teufel führt ihn gerade heute hierher!« dachte er, während Pohl
-seiner Bewunderung über die herrliche Aussicht beredten Ausdruck
-verlieh. Diese Aussicht riß ihn derart hin, daß er Miene machte zu
-singen. »Gerade heute, da ich auf Ellens Bescheid warte und nicht weiß,
-was ich vor Ungeduld tun soll!« Die überschäumende Fröhlichkeit und
-heitere Natürlichkeit des Sängers -- trotz seiner etwas erkünstelten
-Redeweise -- söhnten ihn indessen rasch wieder aus. »Nun gut, er wird
-über Mittag bleiben, und am Abend sind wir ihn wieder los!«
-
-»Einen kleinen Imbiß werden Sie wohl nicht abschlagen?« Immer wenn
-Schwedenklee in Verlegenheit war, bot er seinen Gästen zu essen oder zu
-trinken an.
-
-Pohl aß mit vorzüglichem Appetit. Er hatte seit Tagen, während seiner
-Irrfahrt, nur sehr wenig zu sich genommen. Mit Genuß schlürfte er eine
-kleine Flasche Bordeaux.
-
-Ellen war noch immer nicht zurückgekehrt.
-
-Pohl wollte sie im Walde suchen, aber Schwedenklee machte ihm klar, daß
-der Wald tief und labyrinthisch sei und Ellen ihre geheimen
-Schleichpfade habe.
-
-»Gut, so werden wir sie rufen!«
-
-Schwedenklee lächelte.
-
-Aber Pohl kümmerte sich nicht darum. Er trat einen Schritt vor, reckte
-sich in die Höhe und legte die Hände an die Wangen. Dann pumpte er die
-breite Brust voller Luft und schrie: »Ellen!« Schwedenklees Ohren
-gellten, der Ruf fuhr hell dahin, das Echo klang aus dem Walde. In der
-Ferne arbeiteten Landleute auf dem Felde, sie alle hoben die Köpfe.
-
-»Sie werden sehen, es wird nicht lange dauern und wir haben sie hier. --
-Ellen!« Noch lauter hallte der Ruf. Die Luft schmetterte, der ganze Wald
-hallte. Laut und hell antwortete das Echo. Die Pferde, die in der Koppel
-grasten, blieben stehen und blickten neugierig herüber.
-
-Das Sonderbare geschah: kurz nach Pohls drittem Rufe erschien etwas
-Gelbes zwischen den Büschen. Es war Strolly, hoch auf den Beinen
-stehend, den Kopf gehoben. Dann teilten sich die Brombeerstauden, und
-Ellen sprang auf den Acker. Ihr weißes Kleid flatterte im Winde.
-
-Pohl rief und schwenkte die Arme. Ellens Haltung war ganz Staunen. Sie
-erkannte ihn nicht. Plötzlich aber stieß Ellen einen hohen Schrei aus
-und winkte und begann zu laufen. Wie der Wind flog der blonde junge
-Bursche ihr entgegen, und während er lief, lachte und rief er.
-
-Schwedenklee kehrte, etwas übelgelaunt, zu seinem Terrassenbau zurück.
-Er wollte bei der Begrüßung nicht stören.
-
- * * * * *
-
-Ellen erschien bei ihm. Sie umschlang ihn freudig mit den Armen. »Ich
-habe Besuch bekommen!« rief sie, glühend vor Erregung. »Richard ist
-gekommen! Ich muß Augusta verständigen. Er hat Zeit bis zum Frühzug.
-Augusta muß ihm ihr Zimmer abtreten. Du bist doch einverstanden, daß er
-bei uns bleibt? Ich kenne Richard schon seit sieben Jahren.«
-
-»Du bist ja die Herrin im Haus!« antwortete Schwedenklee schweißtriefend
-und strich etwas verlegen über ihre heiße Wange.
-
-Ellen stürzte ins Haus.
-
-Das Mittagessen verlief in ausgelassener Stimmung. Ellen konnte kaum
-einen Bissen über die Lippen bringen, so sehr mußte sie über Pohls
-Schnurren und seine drollige Ausdrucksweise lachen. Er hatte eine Anrede
-für Schwedenklee gefunden, die sie begeisterte! Er nannte Schwedenklee,
-etwas keck und zutraulich nach einer so kurzen Bekanntschaft: Don
-Philipp!
-
-»Don Philipp! Wie herrlich der Name zu dir paßt!« lachte sie, indem sie
-sich an ihn schmiegte.
-
-Nach Tisch legte sich Schwedenklee aufs Ohr. Er war noch müde vom
-gestrigen Abend. Nach einstündigem Schlaf erwachte er: in vorzüglicher
-Laune. Er war nunmehr direkt erfreut über Pohls Besuch! Seit vielen
-Wochen war er mit Ellen allein, ihre Gespräche waren etwas monoton
-geworden, viele Gesprächsstoffe nahezu erschöpft. Oft war es etwas sehr
-still auf Siebenbirken, nicht für ihn, o nein, er liebte die Ruhe, aber,
-wie er fand, für Ellen. Der Besuch regte sie an. Es war sehr wohltuend,
-daß ein Hauch der Umwelt in das Leben auf Siebenbirken strich.
-
-»Don Philipp, Edler von Siebenbirken -- Pauken und Tusch!« begrüßte ihn
-Pohl, der mit Ellen in der hellen Sonne auf einem Heuhaufen der gemähten
-Wiese saß. (Schon mußte Ellen wieder laut herauslachen!) »Habt die
-Gnade, das Programm entgegenzunehmen, das wir für Euch, um unsere
-Ergebenheit zu bezeigen, entworfen haben: Zuerst die olympischen Spiele,
-die sofort ihren Anfang nehmen. Sodann Festtafel bei Don Philipp mit
-königlichen Weinen. Hierauf Festvorstellung im Hoftheater Euer
-Durchlaucht: Figaros Hochzeit. Später Divertissements, Empfang, Defilé,
-Cour. Genehm? -- Anfang! Don Philipp befiehlt den Beginn! Pagen heran!
-Zurück der Pöbel!«
-
-»Ich starte,« fügte Pohl rasch hinzu, »nimm die Uhr, Ellen. Los!« Wie
-ein fliehender Hirsch umrundete er die Wiese. Nie in seinem Leben hatte
-Schwedenklee solch einen Läufer gesehen.
-
-»Ellen Blank!« schrie Pohl. Und Ellen lief. Schwedenklee war ergriffen,
-als er sie laufen sah. Sie schleuderte die Knie, daß man ihre Wäsche
-sah. Ihr Haarschopf fiel herunter und sie steckte ihn im Laufen auf.
-Während sie lief, schrie sie aber ununterbrochen vor Vergnügen und
-Erregung.
-
-Nun kam die Reihe an Schwedenklee. Er tat sein Bestes, um sich nicht zu
-blamieren. Blutrot und schwitzend kam er an.
-
-»Don Philipp hat gewonnen!« entschied Pohl. Er behauptete allen Ernstes,
-daß Schwedenklee ihn um zwei Sekunden geschlagen habe, und überreichte
-ihm mit feierlicher Ansprache einen Birkenzweig.
-
-Es ist eine Tatsache, daß Erwachsene viel kindischer sein können -- in
-besonderen, seltenen Stunden -- als Kinder, und es kann als Maßstab
-ihrer Unverdorbenheit und Güte gelten, wenn sie diese Fähigkeit noch
-besitzen.
-
-Jedenfalls, je länger die olympischen Spiele währten, desto
-ausgelassener wurden die drei.
-
-Pohl war unerschöpflich an Erfindungen. Es gab Läufe, Sprünge, Hüpfen
-auf einem Bein. Dann mußte man mit einer Hand an einem Aste hängen.
-Schwedenklee hing, bis er blau im Gesicht wurde. Er schlug alle Rekorde.
-
-Zuletzt kam der Sprung in den Strohhaufen -- vom Dache des Stalles aus,
-drei Meter tief. Pohl sprang im Hechtsprung, als spränge er ins Wasser.
-Ellen sprang mit festgehaltenen Kleidern, schreiend und lachend.
-Schwedenklee riskierte einen Purzelbaum. Kaum aber war er ins Stroh
-versunken, so spürte er, wie die beiden über ihn herfielen und ihn immer
-wieder mit Stroh bedeckten. Völlig außer Atem (und fast etwas böse!)
-wühlte er sich endlich heraus. Er war mit Strohhalmen gespickt und sah
-so komisch aus, daß Ellen laut herauslachen mußte.
-
- * * * * *
-
-Pohl kniete vor ihm. »Don Philipp, nehmet mein Haupt!«
-
-Schwedenklee hatte seine gute Laune schon wiedergefunden.
-
-
-
-
- 26
-
-
-Nach dem Abendessen -- diesmal hatte Ellen die Kerzen angezündet! --
-wurde programmäßig »Figaros Hochzeit« aufgeführt.
-
-Richard sang Figaro -- vollendet, mit einer frischen, kernigen Stimme,
-er agierte, als stände er auf der Bühne. Ellen hatte -- sehr erregt --
-Susanna und Cherubino übernommen. Sie sang schön, rührend, mit leicht
-zitternder Stimme. Was übrigblieb, fiel Schwedenklee zu, der sich recht
-und schlecht aus der Affäre zog.
-
-Es war -- alles in allem -- ein wundervoller Sommertag, ein Tag, der
-kein Ende zu nehmen schien. Die Divertissements fielen aus. Ellen wurde
-ins Bett geschickt, da ihre Augen vor Müdigkeit fieberten.
-
-Die Herren aber saßen noch bei einer Flasche Wein.
-
-»Eine neue Flasche, Don Philipp!«
-
-»Sofort!«
-
-Nach der dritten Flasche bot Pohl Schwedenklee die Brüderschaft an. Sie
-stießen an.
-
-»Selten habe ich einen solch prachtvollen Menschen kennengelernt wie
-dich, Don Philipp!« schrie Pohl, indem er begeistert aufsprang.
-
-Schwedenklee kletterte nun selbst in den Keller, um einen ganz
-besonderen Rheinwein zu holen, einen seltsamen Jahrgang.
-
-»Und nun Schluß mit all den Dummheiten!« rief der Sänger aus. »Ein
-ernstes Wort. Daß du dich des armen Blank erbarmt hast, das soll dir
-ewig unvergessen bleiben! Daß du dich aber wie ein Vater Ellens
-annahmst, das wird dir Gott im Himmel persönlich danken! Dafür laß dich
-umarmen, bester aller Menschen!«
-
-Pohl drückte Schwedenklee an seine Brust und küßte ihn. Beide hatten
-Tränen in den Augen.
-
-Es war das erstemal, daß Schwedenklee von einem Mann geküßt worden war.
-
-
-
-
- 27
-
-
-Am gestrigen Tage hatte sich wahrhaftig keine Gelegenheit geboten, mit
-Ellen über die Dinge zu sprechen, die Schwedenklee so sehr am Herzen
-lagen. Dieser unglaubliche Bursche, der wie ein Meteor vom Himmel
-gefallen war.
-
-Heute -- um die Wahrheit zusagen --, Schwedenklee war mit etwas schwerem
-Kopf aufgestanden, er war müde, verschlafen, apathisch und freute sich
-während des ganzen Tages schon auf die Stunde des Schlafengehens. Welch
-ein Glück, daß dieser Pohl, so amüsant er auch war, am Mittag wieder
-abreiste!
-
-Aber trotz seiner Müdigkeit beobachtete Schwedenklee, oder sollte er
-sich täuschen? -- daß mit Ellen seit gestern eine Veränderung vor sich
-gegangen war. Sie schien merkwürdig erregt, sie lachte ohne jeden Grund,
-zerstreut lief sie hin und her, den ganzen Nachmittag war sie mit ihrer
-Wäsche und Garderobe beschäftigt.
-
-Von der Antwort auf die bewußte wichtige Frage war nicht die Rede!
-Vergebens wartete Schwedenklee auf ein Wort, einen Blick. Sie stammelte
-erregt, wenn sie mit ihm sprach, ihr Blick flackerte, sie errötete,
-schlug die Augen nieder. Es schien ihm sogar, als ob sie ihm auswiche
-...
-
-Am nächsten Tage aber glaubte Schwedenklee zu seinem nicht geringen
-Staunen zu beobachten, daß Ellen ernsthaft damit beschäftigt war,
-einzupacken.
-
-Die Sache war, kurz gesagt, die: der Direktor der Vereinigten
-Sommertheater in Hamburg war Pohls bester Freund. Es bestand, wie Pohl
-versichert hatte, gar kein Zweifel, daß er Ellen engagieren würde. Im
-Sommer sollte sie sich in kleineren Rollen einspielen, um im Herbst mit
-dem Ensemble nach Bremen überzusiedeln. Ein gutes, ein vorzügliches
-Theater! Der Zufall hatte ihr eine herrliche Gelegenheit geboten, eine
-geradezu selten günstige Gelegenheit, ihre Laufbahn zu beginnen. War
-Ellens glückliche Verwirrtheit nicht verständlich?
-
-Natürlich. Oh, Schwedenklee verstand ja wohl manches, er verschloß sich
-keineswegs vernünftigen Gründen, er wußte nur zu gut, daß eine Frau, die
-sich die Bühne in den Kopf gesetzt hatte, durch nichts abzubringen war.
-Aber, hatte sie, Ellen, denn ganz vergessen, daß sie ihm auf eine
-bestimmte Frage eine bestimmte Antwort schuldig war?
-
-Er bemühte sich, die Sache von der scherzhaften Seite zu nehmen. »Du
-hast ja noch Zeit, Ellen, wozu diese Aufregung?«
-
-»Ich muß bereit sein, wenn das Telegramm kommt!« schrie Ellen.
-
-Ja, sie schien es in der Tat ganz vergessen zu haben. Allen Andeutungen,
-die er wagte, wich sie aus. So oft er sie »antwortheischend« ansah --
-oh, sie verstand seinen Blick sehr wohl! --, geriet sie in hilflose
-Verwirrung. Sie lenkte sofort errötend ab, sie sprach von ihren Plänen,
-Erwartungen, und beschwor ihn, nicht nach Hamburg zu kommen, wenn sie
-das erstemal auftrat. Sie würde auf der Bühne kein Wort hervorbringen
-können. Aber er mußte ihr versprechen zu kommen, sobald sie einigermaßen
-eingespielt wäre.
-
-»Aber, ich sehe schon, du wirst nicht kommen, Don Philipp. Du wirst mich
-rasch vergessen!« sagte sie mit hochgezogener Braue.
-
-Also, er würde _sie_ vergessen? Schwedenklee fand vor Erstaunen kein
-Wort der Entgegnung.
-
- * * * * *
-
-So vergingen zwei Tage in Unruhe und Spannung. Dann aber sah Ellen den
-Depeschenboten an der Gartentüre, und sie rannte ihm entgegen.
-
-Strahlend vor Freude schwenkte sie das Telegramm.
-
-Sie umarmte Schwedenklee. »Er hat mich engagiert!« schrie sie in größter
-Erregung. »Der Direktor war verreist, daher die Verspätung!« Rasch löste
-sie sich aus der Umarmung und stürzte zu Augusta und beschwor sie, ihr
-zu helfen, sie wisse weder aus noch ein.
-
-»Mein Gott, Augusta, ob die Wäsche noch trocknen wird?«
-
-Schwedenklee fühlte, daß er erbleichte: er wußte nun, daß sie ihn
-verlassen würde.
-
-War es zu glauben: in diesen wenigen Tagen hatte Ellen alles vergessen,
-das Badezimmer mit den Palmen, Florenz, Paris, Japan -- sie dachte gar
-nicht mehr daran. Sie hatte auch ganz vergessen, daß sie ihm versprochen
-hatte, auf eine gewisse Frage zu antworten ...
-
-Aber nein, nein, sie hatte nicht vergessen. Sie dachte vielleicht jede
-Sekunde daran! Sie stammelte, errötend, verlegen, voller Scham: »Du
-verstehst mich doch? Ich freue mich, tätig zu sein, ich freue mich
-_anzufangen_. Es ist ja so schön bei dir, du weißt es, aber --! Ich muß
-ja zusehen, mir mein Leben selbst zu gestalten. Du verstehst mich doch?«
-
-Schwedenklee verstand alles!
-
-»Ich verstehe sehr wohl!« sagte er, lächelnd, nachsichtig, verzeihend.
-
-Aber diese Nachsicht schien sie zu quälen. »Nein, du verstehst mich
-vielleicht doch nicht?«
-
-»Doch, ich verstehe dich, Ellen.«
-
-Ihr Blick ruhte groß und voller Scheu auf ihm, während ihre Hände seine
-Wangen streichelten. Genau so zart und sanft, mit zitternden Fingern,
-wie die Hände ihrer Mutter -- seinerzeit in Paris ...
-
-
-
-
- 28
-
-
-Schwedenklee sitzt in der Nacht auf der Treppe des Hauses. Das Haus ist
-dunkel, schwarz der Wald, Schwedenklee sitzt in völliger Finsternis.
-Zuweilen schlägt Feuer aus der Treppe des Hauses: das ist Schwedenklees
-Zigarre, die Funken stiebt.
-
-Heute, morgen, übermorgen sitzt Schwedenklee in der Nacht, und nur
-zuweilen fahren wilde Funken aus seiner Zigarre.
-
-Ruhelos rennt der Hund hin und her, die Nase am Boden. Durch den Garten,
-über die Felder, in den Wald, immer die Nase am Boden, alten Spuren
-nach. In der Nacht fällt Regen, und nun ist der Hund plötzlich ruhiger.
-
-Ellen also war ins Engagement abgereist ...
-
-Er hatte nicht mehr erwartet, daß sie ihm auf die gewisse Frage
-antworten würde -- und doch, sie hatte es getan! Auf dem kleinen
-Bahnhof, der wimmelte von lauten Badegästen, hatte sie zart seinen Arm
-berührt und ihn mit einem Blicke angesehen -- ja, was für ein Blick war
-es doch?
-
-Das war ihre Antwort! Schwedenklee atmete tief -- ja! Und er hatte sie
-verstanden. Sie sagte: »Es wäre ja alles so wunderbar gewesen, aber
-siehst du -- es ist nicht so einfach ...«
-
-Nun, er hatte verstanden, vollkommen. O gewiß, es war nicht so einfach
-...
-
-Es ist ja möglich, dachte Schwedenklee, daß ihr, die hilflos und
-vereinsamt im Leben steht, im ersten Augenblick eine Verbindung mit dir
-erwägenswert erschien. Es ist wahrscheinlich, daß sie auf deinen
-Vorschlag eingegangen wäre, da sie einen anderen Ausweg nicht fand! Da
-aber erschien Pohl! Seine Stimme weckte plötzlich die Stimmen ihrer
-Jugend. Und was die Hauptsache ist: er zeigte ihr einen Ausweg, in einem
-Augenblick, da sie ratlos war, keinen Ausweg fand, ja nicht einmal mehr
-an die Möglichkeit eines Ausweges dachte. Daher ihre unverständliche
-Erregung. Blitzschnell folgte sie ihren Instinkten.
-
-»Aber wozu die vielen Worte?« sagte Schwedenklee zu sich. »Es gibt eine
-viel einfachere Erklärung: sie liebte dich nicht! Sie fühlte, daß diese
-Verbindung für sie nie glücklich sein konnte. Ja, die Wahrheit ist
-zuweilen bitter!«
-
-Und dann kam da vielleicht noch etwas hinzu ...
-
-Schwedenklee lächelte.
-
-»Sie versteht es ja heute noch nicht, weshalb sie so begierig war, nach
-Hamburg zu reisen -- die Reine, Wundervolle!« flüsterte er. »Später,
-später! Ich habe vom ersten Augenblick an alles geahnt!«
-
-»Daß ich noch das Wettrennen um die Wiese mitmachte! Und an dem Ast hing
-ich so lange, daß mir heute noch der Arm weh tut!«
-
-Funken fuhren aus Schwedenklees Zigarre.
-
-Jeden Abend saß Schwedenklee in der Dunkelheit auf der Treppe des
-Hauses, und die Funken stoben. Es war Neumond.
-
-Am Tage arbeitete er an seiner Terrasse.
-
-»Diese fünfzig Kubikmeter Erde werden wir schon bewältigen!« sagte er,
-selbstbewußt, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht.
-
-Es darf indessen nicht verschwiegen werden, daß Schwedenklee in diesen
-Tagen sich häufig selbst in den Weinkeller begab.
-
-Es gibt Menschen, die einen Stoß in die Herzgrube ohne besondere
-Erschütterung ertragen, sie sind sehr selten, andere, die lamentieren
-und ein großes Geschrei machen, und wieder andere, die einfach eine
-Flasche aufziehen, sich räuspern und eine Zigarre anzünden ...
-
-Schwedenklee stand in diesen Tagen sehr spät auf und ging erst schlafen,
-wenn der Morgen graute. Augusta betrachtete ihn mit vorwurfsvollen
-Blicken. Er aß ihr zu wenig.
-
-Ja, diese Augusta, sie war keineswegs so albern, wie er glaubte. Sie sah
-in sein eingesunkenes, verstörtes Gesicht und sagte sich: »Diese
-Frauenzimmer, wie sie ihm zusetzen -- es ist schon eine Schande!«
-
-Der Neubau war fertig. Er roch nach Kalk, Gips und Glaserkitt. Auch das
-Badezimmer -- das alle Badezimmer Deutschlands schlagen sollte -- war im
-Rohbau fertig. Die versenkte Wanne war vier Meter lang und zwei Meter
-breit, die Hähne blitzten. Eines Tages mühte sich ein Fuhrwerk, ein
-kleiner Wald auf Rädern, die Straße herauf: die Blattpflanzen kamen. Sie
-hatten ein Vermögen gekostet.
-
-»Stellen Sie sie einfach in den Baderaum!« sagte Schwedenklee. Da
-standen sie, bis sie verkamen.
-
-Weshalb aber, zum Teufel, war es in diesem Neubau so kalt? Strömte der
-Putz diese Kälte aus? Schwedenklee betrat den Neubau nicht mehr.
-
- * * * * *
-
-Zart und fein stieg die Mondsichel aus dem Meer empor.
-
-Schwedenklee saß im Dunkel auf der Treppe des Hauses und rauchte.
-
-Er hatte heute den ersten Brief Ellens erhalten. »Dank, Dank -- du wirst
-mich verstehen -- du bist mir gewiß nicht böse ...«
-
-Ja, gewiß, Schwedenklee gehörte zur Klasse jener Menschen, die alles
-verstehen und daher alles vergeben, denen nichts Menschliches fremd ist
--- gewiß, er verstand alles. Mehr als sie ahnte! Und böse? Nein, böse
-konnte Schwedenklee überhaupt nicht werden.
-
-Und doch, gerade an diesem Abend wurde Schwedenklee von starker Unruhe
-erfaßt. Er ging auf und ab, die Funken sprühten aus seiner Zigarre.
-Schweiß brach aus seiner Stirn.
-
-Seine Augen sanken ein. »_Wenn sie nun aber doch mein Kind wäre?_« sagte
-er voller Gram. »Auch die Krankenschwester, du erinnerst dich, sagte,
-sie glaube, Blank habe dir besondere Mitteilungen zu machen ...«
-
-»Hätte ich Gewißheit -- alles wäre ja anders!«
-
-Verraten wir es: Schwedenklee ging in die Dunkelheit, wo sie am
-schwärzesten war, um hier, ganz im Dunklen, obschon niemand in der Nähe
-war, die Finger in die Augen zu drücken und zu stöhnen.
-
-Ja, Schwedenklee hatte heute einen schlechten Tag. Er strich die ganze
-Nacht in der Finsternis hin und her, fröstelte im Nachtnebel.
-
-»Gerade als ich die Hand nach ihr ausstreckte --!« sagte er, aber er
-sprach nicht weiter.
-
-
-
-
- 29
-
-
-Am nächsten Tage gab Schwedenklee plötzlich seine Arbeit an der Terrasse
-auf. Er stach den Spaten in die Erde, und hier mochte er steckenbleiben,
-bis er verfaulte, wenn ihn der Pächter nicht unter Dach nahm.
-
-Schwedenklee hatte einen neuen resedafarbenen Anzug, den er noch nie
-getragen hatte. Diesen Anzug legte er an. Er rasierte sich sorgfältig
-und begab sich in den Badeort.
-
-Hier saß er auf der Terrasse des Kasinos und betrachtete mit finsterer
-und verächtlicher Miene die promenierenden Badegäste. Was für
-entsetzliche Frauen! Dick, formlos, lächerlich, unverschämt in ihrer
-Einbildung, grotesk in ihrer Eitelkeit, mit falschen Haaren, gemalt, die
-meisten krummbeinig -- ah, Schwedenklee war zur Zeit nicht gut auf die
-Frauen zu sprechen.
-
-Am dritten Tage -- seine Miene war gleich geringschätzig und abweisend
--- hörte er plötzlich eine Frauenstimme: »Ist es möglich, Herr
-Schwedenklee?« Und ein heiteres Lachen.
-
-Zwei flachsblonde Frauen in dünnen Sommerkleidern standen vor ihm,
-Schwestern. Er hatte die eine der Schwestern gekannt, bevor sie
-verheiratet war, die Unverheiratete lernte er heute erst kennen.
-
-Schwedenklee lächelte verlegen und wich etwas auffällig zurück. Zu nahe
-drangen ihm Atem und Parfüm der beiden Damen. Die heitere Stimme klang
-ihm zu laut ins Ohr. Nichts haßte er mehr als die Aufdringlichkeit der
-Frauen, die der Ansicht waren, daß eine vorübergehende Verliebtheit eine
-Freundschaft fürs ganze Leben bedeute.
-
-Knapp und kühl klangen Schwedenklees Antworten. Die Flachsblonden aber
-schienen seine Zurückhaltung gar nicht zu merken und lachten fröhlich
-und laut.
-
-Schwedenklee erhob sich und ging. Ein paar Tage vergrub er sich in
-Siebenbirken. Dann aber erschien er wieder im Badeort, und schon nach
-einigen Tagen ruderte er die beiden Flachsblonden hinaus in die See.
-
-Von nun an begab sich Schwedenklee schon am Morgen in seinem
-resedafarbenen Anzug in den Badeort. Er aß im Kasino und kehrte erst
-spät nach Siebenbirken zurück.
-
-Nach einer Woche reisten die flachsblonden Schwestern nach Berlin
-zurück.
-
-Schwedenklee blieb zu Hause. Er beschäftigte sich wieder mit seinem
-Zentralbahnhof, rauchte, trank, lebte in den Nächten. Kaum hatte er aber
-einen Brief aus Berlin erhalten, der ihn sehr heiter stimmte, so befahl
-er Augusta zu packen.
-
-
-
-
- 30
-
-
-Es regnete leise, als Schwedenklee nach Berlin zurückkehrte. Die Stadt
-dampfte. Seine Wohnung umfing ihn mit Behagen.
-
-»Vielleicht ist es doch das beste so! Wer weiß, wozu es gut war --!«
-sagte er sich, indem er in den weichen Hausschuhen auf und ab ging.
-
-Dann telephonierte er lange in bester Laune.
-
-»Augusta,« sagte er, »morgen abend drei Gedecke, lassen Sie es an nichts
-fehlen!«
-
-Gewiß, Schwedenklee erhielt Briefe von Ellen und schrieb ihr wieder. Die
-erste Firma Berlins mußte auf seine Kosten Ellens Bühnengarderobe
-anfertigen, und Schwedenklee selbst überwachte die Fertigstellung der
-Kostüme.
-
-Schwedenklee wußte sehr wohl, was er versprochen hatte. Eines Tages
-packte er einen Handkoffer und fuhr nach Bremen. Er fand Ellen heiter,
-strahlend, wunderbar erblüht, er beobachtete, befriedigt fast, daß die
-beiden, Pohl und Ellen, einander um vieles nähergekommen und sehr
-glücklich waren.
-
-»Don Philipp, herrlichster aller Menschen!« schrie Pohl begeistert und
-umarmte ihn, als sie im Bremer Ratskeller in später Nacht eine Flasche
-leerten.
-
- * * * * *
-
-_Und wenn sie doch dein Kind wäre?_
-
-Auch diese Frage, die ihn oft in den Nächten gemartert hatte, daß er
-schlaflos auf und ab ging, die sein Herz verbrannte -- auch diese Frage
-verblaßte allmählich in Schwedenklees Herzen -- --
-
-Als der erste Schnee fiel, erschien Schwedenklee eines Abends wieder um
-neun Uhr in seinem alten Stammcafé. Sein Rücken schien etwas gebeugt,
-sein Gesicht hatte die Prälatenröte eingebüßt und schien etwas fahl, die
-dünnen Haare waren grauer -- sonst aber war es ganz der alte
-Schwedenklee. Mit lauter Herzlichkeit wurde er von den Spielern
-empfangen. Nach einer Viertelstunde aber war es, als sei er nicht eine
-Stunde abwesend gewesen. Schon saß er an einem der Pokertische, und drei
-Kiebitze rückten ihre Stühle hinter seinen Sessel.
-
-
- Ende
-
-
-
-
- Werke von Bernhard Kellermann
-
-
- Yester und Li
-
- Roman. 152. Auflage
-
-
- Ingeborg
-
- Roman. 115. Auflage
-
-
- Der Tor
-
- Roman. 50. Auflage
-
-
- Das Meer
-
- Roman. 87. Auflage
-
-
- Der Tunnel
-
- Roman. 227. Auflage
-
-
- Der 9. November
-
- Roman. 51. Auflage
-
-
- Die Heiligen
-
- Novelle
-
- Illustriert von Magnus Zeller
-
- 12. Auflage
-
-
- Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
-
-
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
-Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-
- [S. 17]:
- ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihm fast sämtliche ...
- ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihn fast sämtliche ...
-
- [S. 103]:
- ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparerie ...
- ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparserie ...
-
- [S. 180]:
- ... deren Namen Schwedenklee nie merken konnte. ...
- ... deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte. ...
-
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***
-
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-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
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-OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
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-production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
-electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
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-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
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-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
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-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
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-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state's laws.
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-The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
-mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
-volunteers and employees are scattered throughout numerous
-locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
-Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
-date contact information can be found at the Foundation's web site and
-official page at www.gutenberg.org/contact
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-For additional contact information:
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- Dr. Gregory B. Newby
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- gbnewby@pglaf.org
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-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
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-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
-state visit www.gutenberg.org/donate
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-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
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-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
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-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
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-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
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-Most people start at our Web site which has the main PG search
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-
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Schwedenklees Erlebnis
-
-Author: Bernhard Kellermann
-
-Release Date: April 8, 2019 [EBook #59222]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net.
-
-
-
-
-
-
-</pre>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59222 ***</div>
<div class="frontmatter chapter">
@@ -10651,379 +10617,7 @@ Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***
-
-***** This file should be named 59222-h.htm or 59222-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/5/9/2/2/59222/
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net.
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-including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
-the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
-or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
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-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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