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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-02-08 09:43:22 -0800
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@@ -0,0 +1,7062 @@
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 57850 ***
+
+
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+
+ Die Kette
+ Ein Novellenkreis
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+ Der erste Ring:
+ Erstes Erlebnis
+ Geschichten aus Kinderland
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+ Der Zweite Ring:
+ Amok
+ Novellen einer Leidenschaft
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+
+
+
+
+
+ Amok
+
+
+ Novellen einer Leidenschaft
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+
+ Von
+ Stefan Zweig
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+ Im Insel-Verlag zu Leipzig 1922
+
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+ 1. bis 10. Tausend
+
+
+ Frans Masereel,
+ dem Künstler, dem brüderlichen Freunde
+
+ Salzburg, Frühling 1922
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+
+
+
+ Tu auf dich, Unterwelt der Leidenschaften:
+ Gestalten ihr, geträumt und doch empfunden,
+ Laßt eure Lippen heiß an meinen haften,
+ Trinkt Blut von Blut und Atem mir vom Munde!
+
+ Brecht vor aus euren Zwielichtfinsternissen
+ Und schämt euch nicht der Qual, die euch umschattet!
+ Wer Liebe liebt, will nicht ihr Leiden missen,
+ Was euch verstört, ists, was mich zu euch gattet.
+
+ Nur Leidenschaft, die ihren Abgrund findet,
+ Läßt deine letzte Wesenheit entbrennen,
+ Nur der sich ganz verliert, ist sich gegeben.
+
+ So flamm dich auf! Erst wenn du dich entzündet,
+ Wirst du die Welt in deiner Tiefe kennen:
+ Erst wo Geheimnis wirkt, beginnt das Leben.
+
+
+
+
+ Der Amokläufer
+
+
+Im März des Jahres 1912 ereignete sich im Hafen von Neapel bei dem
+Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den
+die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte
+Berichte brachten. Obzwar Passagier der »Oceania«, war es mir
+ebensowenig wie den andern möglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu
+sein, weil er sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der
+Löschung der Fracht abspielte, wir aber, um dem Lärm zu entgehen, alle
+an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit
+verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, daß manche Vermutungen, die
+ich damals nicht öffentlich äußerte, die wirkliche Aufklärung jener
+erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir
+wohl das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen
+Episode unmittelbar vorausging.
+
+ * * * * *
+
+Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise
+nach Europa auf der »Oceania« bestellen wollte, zuckte der Clerk
+bedauernd die Schultern. Er wisse noch nicht, ob es möglich sei, mir
+eine Kabine zu sichern, das Schiff wäre jetzt knapp vor dem Einbruch der
+Regenzeit immer schon von Australien her ausverkauft, er müsse erst das
+Telegramm von Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte er mir
+erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich
+sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des
+Schiffes. Ich war schon ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht
+lange und ließ mir den Platz zuschreiben.
+
+Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und
+die Kabine schlecht, ein kleiner, gepreßter, rechteckiger Winkel in der
+Nähe der Dampfmaschine, einzig vom trüben Blick der kreisrunden
+Glasscheibe erhellt. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und
+Moder: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator
+entgehen, der wie eine toll gewordene stählerne Fledermaus einem surrend
+über der Stirne kreiste. Von unten her ratterte und stöhnte wie ein
+Kohlenträger, der unablässig dieselbe Treppe hinaufkeucht, die Maschine,
+von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende Hin und Her der Schritte
+vom Promenadendeck. So flüchtete ich, kaum daß ich den Koffer in das
+muffige Grab aus grauen Traversen verstaut hatte, wieder zurück auf
+Deck, und wie Ambra trank ich, aufsteigend aus der Tiefe, den süßlichen
+weichen Wind, der vom Lande her über die Wellen wehte.
+
+Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flatterte und
+flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosität eingesperrter
+Untätigkeit unausgesetzt plaudernd auf und nieder gingen. Das
+zwitschernde Geschäker der Frauen, das rastlos kreisende Wandern auf dem
+Engpaß des Decks, wo vor den Stühlen der Schwarm in schwatzhafter Unruhe
+vorbeiwogte, um sich unablässig zu begegnen, tat mir irgendwie weh. Ich
+hatte eine neue Welt gesehen, rasch ineinanderstürzende Bilder in
+rasender Jagd in mich eingetrunken. Nun wollte ich mirs übersinnen,
+zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte
+gestalten, aber hier auf dem gedrängten Boulevard gab es nicht eine
+Minute Ruhe und Rast. Die Zeilen in einem Buch zerrannen vor den
+flüchtigen Schatten der Vorüberplaudernden. Es war unmöglich, mit sich
+selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.
+
+Drei Tage lang versuchte ichs, sah resigniert auf die Menschen, auf das
+Meer, aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im
+Sonnenuntergang plötzlich mit allen Farben jäh übergossen. Und die
+Menschen, sie kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden.
+Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum Überdruß, das scharfe Lachen der
+Frauen reizte, das polternde Streiten zweier nachbarlicher holländischer
+Offiziere ärgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war
+heiß und dunstig, im Salon produzierten unablässig englische Mädchen ihr
+schlechtes Klavierspiel bei abgehackten Walzern. Schließlich drehte ich
+entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags
+hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um das
+Souper und den Tanzabend zu überschlafen.
+
+Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der
+Kabine. Den Ventilator hatte ich abgestellt, so schwälte die Luft fettig
+und feucht an die Schläfen. Meine Sinne waren irgendwie betäubt: ich
+brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurückzufinden. Mitternacht
+mußte jedenfalls schon vorbei sein, denn ich hörte weder Musik noch den
+rastlosen Schlurf der Schritte: nur die Maschine, das atmende Herz des
+Leviathans, stieß keuchend den knisternden Leib des Schiffes fort ins
+Unsichtbare.
+
+Ich tastete empor auf Deck. Es war leer. Und wie ich den Blick aufhob
+über den dünstenden Turm des Schornsteins und die geisterhaft glänzenden
+Spieren, drang mit einmal magische Helle mir in die Augen. Der Himmel
+strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten,
+aber doch: er strahlte; es war, als verhüllte dort ein samtener Vorhang
+ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen,
+durch die jenes unbeschreiblich Helle vorglänzte. Nie hatte ich den
+Himmel gesehen wie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und
+doch funkelnd, triefend, rauschend, quellend von Licht, das vom Mond
+verhangen niederschwoll und von den Sternen und das irgendwie aus einem
+geheimnisvollen Innen zu brennen schien. Weißer Lack, flimmerten im
+Monde alle Randlinien des Schiffes grell gegen das samtdunkle Meer, die
+Taue, die Rahen, alles Schmale, alle Konturen waren aufgelöst in diesem
+flutenden Glanz: gleichsam im Leeren schienen die Lichter auf den Masten
+und darüber das runde Auge des Ausgucks zu hängen, irdische gelbe Sterne
+zwischen den strahlenden des Himmels.
+
+Gerade aber zu Häupten stand mir das magische Sternbild, das Südkreuz,
+mit flimmernden diamantenen Nägeln ins Unsichtbare gehämmert, schwebend
+scheinbar, indes nur das Schiff Bewegung schuf, das leise bebend sich
+mit atmender Brust nieder und auf, nieder und auf, ein gigantischer
+Schwimmer, durch die dunklen Wogen stieß. Ich stand und sah empor: mir
+war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fällt, nur daß dies Licht
+war, das mir weiß und auch lau die Hände überspülte, die Schultern, das
+Haupt mild umgoß und irgendwie nach innen zu dringen schien, denn alles
+Dumpfe in mir war plötzlich aufgehellt. Ich atmete befreit, rein, und
+jäh beseligt spürte ich auf den Lippen wie ein klares Getränk die Luft,
+die weiche, gegorene, leicht trunken machende Luft, in der Atem von
+Früchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Male, seit ich
+die Planken betreten, überkam mich die heilige Lust des Träumens, und
+jene andere sinnlichere, meinen Körper weibisch hinzugeben an dieses
+Weiche, das mich umdrängte. Ich wollte mich hinlegen, den Blick hinauf
+zu den weißen Hieroglyphen. Aber die Ruhesessel, die Deckchairs waren
+verräumt, nirgends fand sich auf dem leeren Promenadendeck ein Platz zu
+träumerischer Rast.
+
+So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz
+geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu
+dringen schien. Fast tat es schon weh, dies kalkweiße, grell brennende
+Sternenlicht, ich aber hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu
+vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu
+fühlen, sondern nur über mir, an den Dingen gespiegelt, so wie man eine
+Landschaft sieht aus verdunkeltem Zimmer. Endlich kam ich, über Taue
+stolpernd und vorbei an den eisernen Gewinden bis an den Kiel und sah
+hinab, wie der Bug in das Schwarze stieß und geschmolzenes Mondlicht
+schäumend zu beiden Seiten der Schneide aufsprühte. Immer wieder hob,
+immer wieder senkte sich der Pflug in die schwarzflutende Scholle, und
+ich fühlte alle Qual des besiegten Elements, fühlte alle Lust der
+irdischen Kraft in diesem funkelnden Spiel. Und im Schauen verlor ich
+die Zeit. War es eine Stunde, daß ich so stand, oder waren es nur
+Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege des
+Schiffes über die Zeit hinaus. Ich fühlte nur, daß in mich Müdigkeit
+kam, die wie eine Wollust war. Ich wollte schlafen, träumen und doch
+nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg. Unwillkürlich
+ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich
+hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie,
+über mich strömte der silberne Glanz. Unten fühlte ich die Wasser leise
+rauschen, über mir mit unhörbarem Klang den weißen Strom dieser Welt.
+Und allmählich schwoll dies Rauschen mir ins Blut: ich fühlte mich
+selbst nicht mehr, wußte nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des
+Schiffes fernpochendes Herz, ich strömte, verströmte in diesem ruhelosen
+Rauschen der mitternächtigen Welt.
+
+ * * * * *
+
+Ein leises, trockenes Husten hart neben mir ließ mich auffahren. Ich
+schrak aus meiner fast schon trunkenen Träumerei. Meine Augen, geblendet
+vom weißen Geleucht über den bislang geschlossenen Lidern, tasteten auf:
+mir knapp gegenüber im Schatten der Bordwand glänzte etwas wie der
+Reflex einer Brille, und jetzt glühte ein dicker, runder Funke auf, die
+Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, einzig
+niederblickend in die schaumige Bugschneide und empor zum Südkreuz,
+offenbar diesen Nachbarn nicht bemerkt, der regungslos hier die ganze
+Zeit gesessen haben mußte. Unwillkürlich, noch dumpf in den Sinnen,
+sagte ich auf deutsch: »Verzeihung!« »Oh, bitte ...« antwortete die
+Stimme deutsch aus dem Dunkel.
+
+Ich kann nicht sagen, wie seltsam und schaurig das war, dies stumme
+Nebeneinandersitzen im Dunkeln knapp neben einem, den man nicht sah.
+Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als starre dieser Mensch auf mich
+genau wie ich auf ihn starrte: aber so stark war das Licht über uns, das
+weißflimmernd flutende, daß keiner von keinem mehr sehen konnte als den
+Umriß im Schatten. Nur den Atem meinte ich zu hören und das fauchende
+Saugen an der Pfeife.
+
+Das Schweigen war unerträglich. Ich wäre am liebsten weggegangen, aber
+das schien doch zu brüsk, zu plötzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir
+eine Zigarette heraus. Das Zündholz zischte auf, eine Sekunde lang
+zuckte Licht über den engen Raum. Ich sah hinter Brillengläsern ein
+fremdes Gesicht, das ich nie an Bord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei
+keinem Gang, und sei es, daß die plötzliche Flamme den Augen wehtat oder
+war es eine Halluzination: es schien grauenhaft verzerrt, finster und
+koboldhaft. Aber ehe ich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das
+Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien fort, nur den Umriß sah ich
+einer Gestalt, dunkel ins Dunkel gedrückt und manchmal den kreisrunden
+roten Feuerring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und dies Schweigen
+war schwül und drückend wie die tropische Luft.
+
+Endlich ertrug ichs nicht mehr. Ich stand auf und sagte höflich »Gute
+Nacht«.
+
+»Gute Nacht,« antwortete es aus dem Dunkel, eine heisere, harte,
+eingerostete Stimme.
+
+Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takelwerk an den Pfosten
+vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war
+der Nachbar von vordem. Unwillkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht
+ganz nah heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst
+und Bedrücktheit in der Art seines Schrittes.
+
+»Verzeihen Sie,« sagte er dann hastig, »wenn ich eine Bitte an Sie
+richte. Ich ... ich ...« -- er stotterte und konnte nicht gleich
+weitersprechen vor Verlegenheit -- »ich ... ich habe private ... ganz
+private Gründe, mich hier zurückzuziehen ... ein Trauerfall ... ich
+meide die Gesellschaft an Bord ... Ich meine nicht Sie ... nein, nein
+... Ich möchte nur bitten ... Sie würden mich sehr verpflichten, wenn
+Sie zu niemandem an Bord davon sprechen würden, daß Sie mich hier
+gesehen haben ... Es sind ... sozusagen private Gründe, die mich jetzt
+hindern unter die Leute zu gehen ... ja ... nun ... es wäre mir
+peinlich, wenn Sie davon Erwähnung täten, daß jemand hier nachts ... daß
+ich ...« Das Wort blieb ihm wieder stecken. Ich beseitigte rasch seine
+Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte, seinen Wunsch zu erfüllen.
+Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in meine Kabine zurück
+und schlief einen dumpfen, merkwürdig verwühlten und von Bildern
+verwirrten Schlaf.
+
+ * * * * *
+
+Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von der
+seltsamen Begegnung, obzwar die Versuchung keine geringe war. Denn auf
+einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont,
+ein Delphin, der aufspringt, ein neuentdeckter Flirt, ein flüchtiger
+Scherz. Dabei quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen
+Passagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem
+Namen, der ihm zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm
+in Beziehung stehen könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine
+nervöse Ungeduld, und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich
+ihm wieder begegnen würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über
+mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut,
+Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch
+ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens
+entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei
+einer Frau. Der Tag wurde mir lang und zerbröckelte leer zwischen den
+Fingern. Ich legte mich früh ins Bett: ich wußte, ich würde um
+Mitternacht aufwachen, es würde mich erwecken.
+
+Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem
+Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem
+leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch
+schwülere Nacht.
+
+Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffuses Licht über
+das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war
+wie gestern -- in den Tropen sind die Tage, die Nächte zwillingshafter
+als in unseren Sphären -- nur in mir war nicht dies weiche, flutende,
+träumerische Gewiegtsein wie gestern. Irgend etwas zog mich, verwirrte
+mich, und ich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwarzen Gewind am
+Kiel, ob er wieder dort starr sitze, der Geheimnisvolle. Von oben her
+schlug die Schiffsglocke. Dies riß mich fort. Schritt für Schritt,
+widerwillig und doch gezogen, gab ich mir nach. Noch war ich nicht am
+Steven, da zuckte plötzlich dort etwas auf wie ein rotes Auge: die
+Pfeife. Er saß also dort.
+
+Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten
+Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drüben im Dunkel, etwas
+stand auf, tat zwei Schritte, und plötzlich hörte ich knapp vor mir
+seine Stimme, höflich und gedrückt.
+
+»Verzeihen Sie,« sagte er, »Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz,
+und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen.
+Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder.«
+
+Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, daß er nur bleiben solle, ich sei
+bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. »Mich stören Sie nicht,«
+sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, »im Gegenteil, ich bin froh,
+einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort
+gesprochen ... eigentlich seit Jahren nicht ... und da geht es so
+schwer, eben vielleicht weil man schon erstickt daran, alles in sich
+hineinzuwürgen ... Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem
+... diesem Sarg ... ich kann nicht mehr ... und die Menschen ertrage ich
+wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen ... Das kann ich nicht
+ertragen jetzt ... ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir
+die Ohren zu ... freilich, sie wissen ja nicht, daß ... nun sie wissens
+eben nicht, und dann, was geht das die Fremden an ...«
+
+Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und hastig: »Aber ich
+will Sie nicht belästigen ... verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit.«
+
+Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich.
+»Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier ein paar
+stille Worte zu haben ... Nehmen Sie eine Zigarette?«
+
+Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riß sich das Gesicht flackernd vom
+schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter
+der Brille forschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irren Gewalt.
+Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte,
+sprechen mußte. Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu
+helfen.
+
+Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er
+mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der
+Lichtring der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Hand
+bebte. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine
+Stimme leise:
+
+»Sind Sie sehr müde?«
+
+»Nein, durchaus nicht.«
+
+Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. »Ich möchte Sie gerne um etwas
+fragen ... das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich
+weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir
+begegnet, aber ... ich bin ... ich bin in einer furchtbaren psychischen
+Verfassung ... ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem
+sprechen muß ... ich gehe sonst zugrunde ... Sie werden das schon
+verstehen, wenn ich ... ja, wenn ich Ihnen eben erzähle ... Ich weiß,
+daß Sie mir nicht werden helfen können ... aber ich bin irgendwie krank
+von diesem Schweigen ... und ein Kranker ist immer lächerlich für die
+andern ...«
+
+Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir
+nur erzählen ... ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man
+habe doch die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man
+jemanden in einer Bedrängnis sehe, da ergebe sich doch natürlich die
+Pflicht zu helfen ...
+
+»Die Pflicht ... seine Bereitwilligkeit anzubieten ... die Pflicht, den
+Versuch zu machen ... Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die
+Pflicht ... die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.«
+
+Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vor dieser stumpfen,
+verbissenen Art des Wiederholens. War dieser Mensch wahnsinnig? War er
+betrunken?
+
+Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte,
+sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: »Sie werden mich
+vielleicht für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht --
+noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt
+... so merkwürdig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich
+ob man die Pflicht hat ... die Pflicht ...«
+
+Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem
+neuen Ruck.
+
+»Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche
+verhängnisvolle ... ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man
+die Pflicht hat ... nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die
+gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat
+und eine für die Wissenschaft ... Man soll helfen, natürlich, dazu ist
+man doch da ... aber solche Maximen sind immer nur theoretisch ... Wie
+weit soll man denn helfen? ... Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich
+bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, daß Sie mich
+gesehen haben ... gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht ... Ich
+bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere an meinem Schweigen
+... Sie sind bereit, mir zuzuhören ... gut ... Aber das ist ja leicht
+... Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu
+werfen ... da hört sich doch die Gefälligkeit, die Hilfsbereitschaft
+auf. Irgendwo endets doch ... dort, wo man anfängt mit seinem eigenen
+Leben, seiner eigenen Verantwortung ... irgendwo muß es doch enden ...
+irgendwo muß diese Pflicht doch aufhören ... Oder vielleicht soll sie
+gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muß der ein Heiland, ein
+Allerweltshelfer sein, bloß weil er ein Diplom mit lateinischen Worten
+hat, muß der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut
+schütten, wenn irgendeine ... irgendeiner kommt und will, daß er edel
+sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf ... dort, wo
+man nicht mehr kann, gerade dort ...«
+
+Er hielt wieder inne und riß sich auf.
+
+»Verzeihen Sie ... ich rede gleich so erregt ... aber ich bin nicht
+betrunken ... noch nicht betrunken ... auch das kommt jetzt oft bei mir
+vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit ...
+Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre nur fast zwischen Eingeborenen und
+Tieren gelebt ... da verlernt man das ruhige Reden. Wenn man sich dann
+auftut, flutets gleich über ... Aber warten Sie ... ja, ich weiß schon
+... ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man
+die Pflicht habe zu helfen ... so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man
+... Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht
+müde?«
+
+»Nein, durchaus nicht.«
+
+»Ich ... ich danke Ihnen ... Nehmen Sie nicht?«
+
+Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte
+gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben
+sich gestellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte,
+während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augenblick stand
+Schweigen zwischen uns. Da schlug die Glocke: halb eins.
+
+ * * * * *
+
+»Also ... ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt
+in einer ... einer kleineren Stadt ... oder eigentlich am Lande ... ein
+Arzt, der ... ein Arzt, der ...«
+
+Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir.
+
+»So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an,
+sonst verstehen Sie es nicht ... Das, das läßt sich nicht als Exempel,
+als Theorie entwickeln ... ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt
+es keine Scham, kein Verstecken ... vor mir ziehen sich auch die Leute
+nackt aus und zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremente ...
+wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts
+verschweigen ... Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem
+sagenhaften Arzt ... ich ziehe mich nackt aus und sage: ich ... das
+Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem
+verfluchten Land, das einem die Seele ausfrißt und das Mark aus den
+Lenden saugt.«
+
+Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
+
+»Ach, Sie protestieren ... ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien,
+von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer
+Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in
+der Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch
+nicht anders gefühlt, als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben
+Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen
+und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren,
+wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen -- so
+sagt man ja im europäischen Jargon -- ein Missionar der Menschlichkeit,
+der Zivilisation werden. Alle, die kommen, träumen denselben Traum. Aber
+in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das
+Fieber -- man kriegts ja doch, mag man noch so viel Chinin in sich
+fressen -- greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich,
+eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem wahren Wesen
+abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte
+Sumpfstation kommt: auf kurz oder lang hat jeder seinen Knax weg, die
+einen saufen, die andern rauchen Opium, die dritten prügeln und werden
+Bestien -- irgendeinen Schuß Narrheit kriegt jeder ab. Man sehnt sich
+nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen,
+in einem hellen steinernen Zimmer unter weißen Menschen zu sitzen, Jahr
+um Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, wo man Urlaub hätte,
+so ist man schon zu träge, um zu gehen. Man weiß, drüben ist man
+vergessen, fremd, eine Muschel in diesem Meer, auf die jeder tritt. So
+bleibt man und versumpft und verkommt in diesen heißen, nassen Wäldern.
+Es war ein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft
+habe ...
+
+Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in
+Deutschland studiert, war recte Mediziner geworden, ein guter Arzt sogar
+mit einer Anstellung an der Leipziger Klinik; irgendwo in einem
+verschollenen Jahrgang der Medizinischen Blätter haben sie damals viel
+Aufhebens gemacht von einer neuen Injektion, die ich als erster
+praktiziert hatte. Da kam eine Weibergeschichte, eine Person, die ich im
+Krankenhaus kennen lernte: sie hatte ihren Geliebten so toll gemacht,
+daß er sie mit dem Revolver anschoß, und bald war ich ebenso toll wie
+er. Sie hatte eine Art, hochmütig und kalt zu sein, die mich rasend
+machte -- mich hatten immer schon Frauen in der Faust, die herrisch und
+frech waren, aber diese bog mich zusammen, daß mir die Knochen brachen.
+Ich tat, was sie wollte, ich -- nun, warum soll ichs nicht sagen, es
+sind acht Jahre her -- ich tat für sie einen Griff in die Spitalskasse,
+und als die Sache aufflog, war der Teufel los. Ein Onkel deckte noch den
+Abgang, aber mit der Karriere war es vorbei. Damals hörte ich gerade,
+die holländische Regierung werbe Ärzte an für die Kolonien und biete ein
+Handgeld. Nun, ich dachte gleich, es müßte ein sauberes Ding sein, für
+das man Handgeld biete, ich wußte, daß die Grabkreuze auf diesen
+Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen als bei uns, aber wenn man
+jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod springt immer nur auf die
+andern. Nun, ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam,
+verschrieb mich auf zehn Jahre, bekam ein ganz nettes Bündel Banknoten,
+die Hälfte schickte ich nach Hause an den Onkel, die andere Hälfte jagte
+mir eine Person dort im Hafenviertel ab, die alles von mir
+herauskriegte, nur weil sie jener verfluchten Katze so ähnlich war. Ohne
+Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ich dann abgesegelt von Europa und
+war nicht sonderlich traurig, als wir aus dem Hafen steuerten. Und dann
+saß ich so auf Deck wie Sie, wie alle saßen und sah das Südkreuz und die
+Palmen, das Herz ging mir auf -- ah, Wälder, Einsamkeit, Stille, träumte
+ich! Nun -- an Einsamkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich nicht
+nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo es Menschen gibt und Klubs
+und Golf und Bücher und Zeitungen, sondern -- nun der Name tut ja nichts
+zur Sache -- in irgendeine der Distriktstationen, zwei Tagereisen von
+der nächsten Stadt. Ein paar langweilige, verdorrte Beamte, ein paar
+Halfcast, das war meine ganze Gesellschaft, sonst weit und breit nur
+Wald, Plantagen, Dickicht und Sumpf.
+
+Im Anfang wars noch erträglich. Ich trieb allerhand Studien; einmal, als
+der Vizeresident auf der Inspektionsreise mit dem Automobil umgeworfen
+und sich ein Bein zerschmettert hatte, machte ich ohne Gehilfen eine
+Operation, über die viel geredet wurde, ich sammelte Gifte und Waffen
+der Eingeborenen, ich beschäftigte mich mit hundert kleinen Dingen, um
+mich wach zu halten. Aber all dies ging nur, solang die Kraft von Europa
+her in mir noch funktionierte: dann trocknete ich ein. Die paar Europäer
+langweilten mich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte in mich
+hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dann war ich frei mit Pension,
+konnte nach Europa zurückkehren, noch einmal ein Leben anfangen.
+Eigentlich tat ich nichts mehr als warten, stilliegen und warten. Und so
+säße ich heute noch, wenn nicht sie ... wenn das nicht gekommen wäre.«
+
+ * * * * *
+
+Die Stimme im Dunkeln hielt inne. Auch die Pfeife glimmte nicht mehr. So
+still war es, daß ich mit einem Male wieder das Wasser hörte, das sich
+schäumend am Kiel brach, und den fernen, dumpfen Herzstoß der Maschine.
+Ich hätte mir gern eine Zigarette angezündet, aber ich hatte Furcht vor
+dem grellen Aufschlag des Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht.
+Er schwieg und schwieg. Ich wußte nicht, ob er zu Ende sei, ob er
+duselte, ob er schlief, so tot war sein Schweigen.
+
+Da schlug die Schiffsglocke einen geraden, kräftigen Schlag: ein Uhr. Er
+fuhr auf: ich hörte wieder das Glas klingen. Offenbar tastete die Hand
+suchend zum Whisky hinab. Ein Schluck gluckste leise -- dann plötzlich
+begann die Stimme wieder, aber jetzt gleichsam gespannter,
+leidenschaftlicher.
+
+»Ja also ... warten Sie ... ja also, das war so. Ich sitze da droben in
+meinem verfluchten Nest, sitze wie die Spinne im Netz regungslos seit
+Monaten schon. Es war gerade nach der Regenzeit, Wochen und Wochen hatte
+es auf das Dach geplätschert, kein Mensch war gekommen, kein Europäer,
+täglich, täglich hatte ich dagesessen mit meinen gelben Weibern im Haus
+und meinem guten Whisky. Ich war damals gerade ganz »_down_«, ganz
+europakrank: wenn ich irgendeinen Roman las von hellen Straßen und
+weißen Frauen, begannen mir die Finger zu zittern. Ich kann Ihnen den
+Zustand nicht ganz schildern, es ist eine Art Tropenkrankheit, eine
+wütige, fiebrige und doch kraftlose Nostalgie, die einen manchmal packt.
+So saß ich damals, ich glaube über einem Atlas, und träumte mir Reisen
+aus. Da klopft es aufgeregt an die Tür, der Boy steht draußen und eines
+von den Weibern, beide haben die Augen ganz aufgerissen vor Erstaunen.
+Sie machen große Gebärden: eine Dame sei hier, eine Lady, eine weiße
+Frau.
+
+Ich fahre auf. Ich habe keinen Wagen kommen gehört, kein Automobil. Eine
+weiße Frau hier in dieser Wildnis?
+
+Ich will die Treppe hinab, reiße mich aber noch zurück. Ein Blick in den
+Spiegel, hastig richte ich mich ein wenig zurecht. Ich bin nervös,
+unruhig, irgendwie gequält von unangenehmem Vorgefühl, denn ich weiß
+niemanden auf der Welt, der aus Freundschaft zu mir käme. Endlich gehe
+ich hinunter.
+
+Im Vorraum wartet die Dame und kommt mir hastig entgegen. Ein dicker
+Automobilschleier verhüllt ihr Gesicht. Ich will sie begrüßen, aber sie
+fängt mir rasch das Wort ab. »Guten Tag, Doktor,« sagte sie auf englisch
+in einer fließenden (etwas zu leicht fließenden und wie im voraus
+eingelernten) Art. »Verzeihen Sie, daß ich Sie überfalle. Aber wir waren
+gerade in der Station, unser Auto hält drüben« -- warum fährt sie nicht
+bis vors Haus, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf -- »da
+erinnerte ich mich, daß Sie hier wohnen. Ich habe schon so viel von
+Ihnen gehört, Sie haben ja eine wirkliche Zauberei mit dem
+Vizeresidenten gemacht, sein Bein ist wieder tadellos _allright_, er
+spielt Golf wie früher. Ah, ja, alles spricht noch davon drunten bei
+uns, und wir wollten alle unseren brummigen Surgeon und noch die zwei
+andern hergeben, wenn Sie zu uns kämen. Überhaupt, warum sieht man Sie
+nie drunten, Sie leben ja wie ein Joghi ...«
+
+Und so plappert sie weiter, hastig und immer hastiger, ohne mich zu
+Worte kommen zu lassen. Etwas Nervöses und Fahriges ist in diesem
+talkigen Geschwätz, und ich werde selbst unruhig davon. Warum spricht
+sie soviel, frage ich mich innerlich, warum stellt sie sich nicht vor,
+warum nimmt sie den Schleier nicht ab? Hat sie Fieber? Ist sie krank?
+Ist sie toll? Ich werde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeit
+empfinde, so stumm vor ihr zu stehen, übergossen von ihrer prasselnden
+Geschwätzigkeit. Endlich stoppt sie ein wenig, und ich kann sie
+hinaufbitten. Sie macht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben, und geht
+vor mir die Treppe empor.
+
+»Nett haben Sie es hier,« sagt sie, in meinem Zimmer sich umsehend. »Ah,
+die schönen Bücher! die möchte ich alle lesen!« Sie tritt an das Regal
+und mustert die Büchertitel. Zum erstenmal, seit ich ihr
+entgegengetreten, schweigt sie für eine Minute.
+
+»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?« fragte ich.
+
+Sie wendet sich nicht um und sieht nur auf die Büchertitel. »Nein,
+danke, Doktor ... wir müssen gleich wieder weiter ...: ich habe nicht
+viel Zeit ... war ja nur ein kleiner Ausflug ... Ach, da haben Sie auch
+den Flaubert, den liebe ich so sehr ... wundervoll, ganz wundervoll, die
+>_Education sentimentale_< ... ich sehe, Sie lesen auch französisch ...
+Was Sie alles können! ... ja, die Deutschen, die lernen alles auf der
+Schule ... Wirklich großartig, so viel Sprachen zu können! ... Der
+Vizeresident schwört auf Sie, sagt immer, Sie seien der einzige, dem er
+unter das Messer ginge ... unser guter Surgeon drüben taugt gerade zum
+Bridgespiel ... Übrigens wissen Sie -- (sie wendete sich noch immer
+nicht um) heute kams mir selbst in den Sinn, ich sollte Sie einmal
+konsultieren ... und weil wir eben vorüberfuhren, dachte ich ... nun,
+Sie haben jetzt wohl zu tun ... ich komme lieber ein andermal.«
+
+»Deckst du endlich die Karten auf!« dachte ich mir sofort. Aber ich ließ
+nichts merken, sondern versicherte ihr, es würde mir nur eine Ehre sein,
+jetzt und wann immer sie wolle, ihr zu dienen.
+
+»Es ist nichts Ernstes,« sagte sie, sich halb umwendend und gleichzeitig
+in einem Buch blätternd, das sie vom Regal genommen hatte, »nichts
+Ernstes ... Kleinigkeiten ... Weibersachen ... Schwindel, Ohnmachten.
+Heute früh schlug ich, als wir eine Kurve machten, plötzlich hin, _raide
+morte_ ... der Boy mußte mich aufrichten im Auto und Wasser holen ...
+nun, vielleicht ist der Chauffeur zu rasch gefahren ... meinen Sie
+nicht, Doktor?«
+
+»Ich kann das so nicht beurteilen. Haben Sie öfter derlei Ohnmachten?«
+
+»Nein ..., das heißt ja ... in der letzten Zeit ... gerade in der
+allerletzten Zeit ... ja ... solche Ohnmachten und Übelkeiten.«
+
+Sie steht schon wieder vor dem Bücherschrank, tut das Buch hinein, nimmt
+ein anderes heraus und blättert darin. Merkwürdig, warum blättert sie
+immer so ... so nervös, warum schaut sie unter dem Schleier nicht auf?
+Ich sage mit Absicht nichts. Es reizt mich, sie warten zu lassen.
+Endlich fängt sie wieder an in ihrer nonchalanten, plapperigen Art.
+
+»Nicht wahr, Doktor, nichts Bedenkliches das? Keine Tropensache ...
+nichts Gefährliches ...«
+
+»Ich müßte erst sehen, ob Sie Fieber haben. Darf ich um Ihren Puls
+bitten ...«
+
+Ich gehe auf sie zu. Sie weicht leicht zur Seite.
+
+»Nein, nein, ich habe kein Fieber ... gewiß, ganz gewiß nicht ... ich
+habe mich selbst gemessen jeden Tag, seit ... seit diese Ohnmachten
+kamen. Nie Fieber, immer tadellos 36.4 auf den Strich. Auch mein Magen
+ist gesund.«
+
+Ich zögere einen Augenblick. Die ganze Zeit schon prickelt in mir ein
+Argwohn: ich spüre, diese Frau will etwas von mir, man kommt nicht in
+eine Wildnis, um über Flaubert zu sprechen. Eine, zwei Minuten lasse ich
+sie warten. »Verzeihen Sie,« sage ich dann geradewegs, »darf ich einige
+Fragen ganz frei stellen?«
+
+»Gewiß, Doktor! Sie sind doch Arzt,« antwortet sie, aber schon wendet
+sie mir wieder den Rücken und spielt mit den Büchern.
+
+»Haben Sie Kinder gehabt?«
+
+»Ja, einen Sohn.«
+
+»Und haben Sie ... haben Sie vorher ... ich meine damals ... haben Sie
+da ähnliche Zustände gehabt?«
+
+»Ja.«
+
+Ihre Stimme ist jetzt ganz anders. Ganz klar, ganz bestimmt, gar nicht
+mehr plapprig, gar nicht mehr nervös.
+
+»Und wäre es möglich, daß Sie ... verzeihen Sie die Frage ... daß Sie
+jetzt in einem ähnlichen Zustande sind?«
+
+»Ja.«
+
+Wie ein Messer scharf und schneidend läßt sie das Wort fallen. In ihrem
+abgewandten Kopf zuckt nicht eine Linie.
+
+»Vielleicht wäre es da am besten, gnädige Frau, ich nehme eine
+allgemeine Untersuchung vor ... darf ich Sie vielleicht bitten, sich ...
+sich in das andere Zimmer hinüber zu bemühen?«
+
+Da wendet sie sich plötzlich um. Durch den Schleier fühle ich einen
+kalten, entschlossenen Blick mir gerade entgegen.
+
+»Nein ... das ist nicht nötig ... ich habe volle Gewißheit über meinen
+Zustand.««
+
+ * * * * *
+
+Die Stimme zögert einen Augenblick. Wieder blinkert im Dunkel das
+gefüllte Glas.
+
+»Also hören Sie ... aber versuchen Sie zuerst einen Augenblick sich das
+zu überdenken. Da drängt sich zu einem, der in seiner Einsamkeit
+vergeht, eine Frau herein, die erste weiße Frau betritt seit Jahren das
+Zimmer ... und plötzlich spüre ichs, es ist etwas Böses im Zimmer, eine
+Gefahr. Irgendwie überliefs mich: mir graute vor der stählernen
+Entschlossenheit dieses Weibes, die da mit plapprigen Reden
+hereingekommen war und dann mit einemmal ihre Forderung zückt, wie ein
+Messer. Denn was sie von mir wollte, wußte ich ja, wußte ich sofort --
+es war nicht das erstemal, daß Frauen so etwas von mir verlangten, aber
+sie kamen anders, kamen verschämt oder flehend, kamen mit Tränen und
+Beschwörungen. Hier aber war eine ... ja, eine stählerne, eine männliche
+Entschlossenheit ... von der ersten Sekunde spürte ichs, daß diese Frau
+stärker war als ich ... daß sie mich in ihren Willen zwingen konnte, wie
+sie wollte ... Aber ... aber ... es war auch etwas Böses in mir ... der
+Mann, der sich wehrte, irgendeine Erbitterung, denn ... ich sagte es ja
+schon ... von der ersten Sekunde, ja, noch ehe ich sie gesehen, empfand
+ich diese Frau als Feind.
+
+Ich schwieg zunächst. Schwieg hartnäckig und erbittert. Ich spürte, daß
+sie mich unter dem Schleier ansah -- gerade und fordernd ansah, daß sie
+mich zwingen wollte zu sprechen. Aber ich gab nicht so leicht nach. Ich
+begann zu sprechen, aber ... ausweichend ... ja unbewußt ahmte ich ihre
+plapprige, gleichgültige Art nach. Ich tat, als ob ich sie nicht
+verstünde, denn -- ich weiß nicht, ob Sie das nachfühlen können -- ich
+wollte sie zwingen, deutlich zu werden, ich wollte nicht anbieten,
+sondern ... gebeten sein ... gerade von ihr, weil sie so herrisch kam
+... und weil ich wußte, daß ich bei Frauen nichts so unterliege als
+dieser hochmütigen kalten Art.
+
+Ich redete also herum, dies sei ganz unbedenklich, solche Ohnmachten
+gehörten zum regulären Lauf der Dinge, im Gegenteil, sie verbürgten
+beinahe eine gute Entwicklung. Ich zitierte Fälle aus den klinischen
+Zeitungen ... ich sprach, ich sprach, lässig und leicht, immer die
+Angelegenheit ganz wie eine Banalität betrachtend und ... und wartete
+immer, daß sie mich unterbrechen würde. Denn ich wußte, sie würde es
+nicht ertragen.
+
+Da fuhr sie schon scharf dazwischen, mit einer Handbewegung gleichsam
+das ganze beruhigende Gerede wegstreifend.
+
+»Das ist es nicht, Doktor, was mich unsicher macht. Damals, als ich
+meinen Buben bekam, war ich in besserer Verfassung ... aber jetzt bin
+ich nicht mehr allright ... ich habe Herzzustände ...«
+
+»Ach, Herzzustände,« wiederholte ich, scheinbar beunruhigt, »da will ich
+doch gleich nachsehen.« Und ich machte eine Bewegung, als ob ich
+aufstehen und das Hörrohr holen wollte.
+
+Aber schon fuhr sie dazwischen. Die Stimme war jetzt ganz scharf und
+bestimmt -- wie am Kommandoplatz.
+
+»Ich _habe_ Herzzustände, Doktor, und ich muß Sie bitten, zu glauben,
+was ich Ihnen sage. Ich möchte nicht viel Zeit mit Untersuchungen
+verlieren -- Sie könnten mir, meine ich, etwas mehr Vertrauen
+entgegenbringen. Ich wenigstens habe mein Vertrauen zu Ihnen genug
+bezeugt.«
+
+Jetzt war es schon Kampf, offene Herausforderung. Und ich nahm sie an.
+
+»Zum Vertrauen gehört Offenheit, rückhaltlose Offenheit. Reden Sie klar,
+ich bin Arzt. Und vor allem nehmen Sie den Schleier ab, setzen Sie sich
+her, lassen Sie die Bücher und die Umwege. Man kommt nicht zum Arzt im
+Schleier.«
+
+Sie sah mich an, aufrecht und stolz. Einen Augenblick zögerte sie. Dann
+setzte sie sich nieder, zog den Schleier hoch. Ich sah ein Gesicht, ganz
+so wie ich es -- gefürchtet hatte, ein undurchdringliches Gesicht, hart,
+beherrscht, von einer alterslosen Schönheit, ein Gesicht mit grauen
+englischen Augen, in denen alles Ruhe schien und hinter die man doch
+alles Leidenschaftliche träumen konnte. Dieser schmale, verpreßte Mund
+gab kein Geheimnis her, wenn er nicht wollte. Eine Minute lang sahen wir
+einander an -- sie befehlend und fragend zugleich, mit einer so kalten,
+stählernen Grausamkeit, daß ich es nicht ertrug und unwillkürlich zur
+Seite blickte.
+
+Sie klopfte leicht mit dem Knöchel auf den Tisch. Also auch in ihr war
+Nervosität. Dann sagte sie plötzlich rasch:
+
+»Wissen Sie, Doktor, was ich von Ihnen will, oder wissen Sie es nicht?«
+
+»Ich glaube es zu wissen. Aber seien wir lieber ganz deutlich. Sie
+wollen Ihrem Zustand ein Ende bereiten ... Sie wollen, daß ich Sie von
+Ihrer Ohnmacht, Ihren Übelkeiten befreie, indem ich ... indem ich die
+Ursache beseitige. Ist es das?«
+
+»Ja.«
+
+Wie ein Fallbeil zuckte das Wort.
+
+»Wissen Sie auch, daß solche Versuche gefährlich sind ... für beide
+Teile ...?«
+
+»Ja.«
+
+»Daß es gesetzlich mir untersagt ist?«
+
+»Es gibt Möglichkeiten, wo es nicht untersagt, sondern sogar geboten
+ist.«
+
+»Aber diese erfordern eine ärztliche Indikation.«
+
+»So werden Sie diese Indikation finden. Sie sind Arzt.«
+
+Klar, starr, ohne zu zucken, blickten mich ihre Augen dabei an. Es war
+ein Befehl, und ich Schwächling bebte in Bewunderung vor der dämonischen
+Herrischkeit ihres Willens. Aber ich krümmte mich noch, ich wollte nicht
+zeigen, daß ich schon zertreten war. -- »Nur nicht zu rasch! Umstände
+machen! Sie zur Bitte zwingen,« funkelte in mir irgendein Gelüst.
+
+»Das liegt nicht immer im Willen des Arztes. Aber ich bin bereit, mit
+einem Kollegen im Krankenhaus ...«
+
+»Ich will Ihren Kollegen nicht ... ich bin zu Ihnen gekommen.«
+
+»Darf ich fragen, warum gerade zu mir?«
+
+Sie sah mich kalt an.
+
+»Ich habe kein Bedenken, es Ihnen zu sagen. Weil Sie abseits wohnen,
+weil Sie mich nicht kennen -- weil Sie ein guter Arzt sind, und weil Sie
+...« jetzt zögerte sie zum ersten Male -- »wohl nicht mehr lange in
+dieser Gegend bleiben werden, besonders wenn Sie ... wenn Sie eine
+größere Summe nach Hause bringen können.«
+
+Mich überliefs kalt. Diese eherne, diese Merchant-, diese
+Kaufmannsklarheit der Berechnung betäubte mich. Bisher hatte sie ihre
+Lippen noch nicht zur Bitte aufgetan -- aber alles längst auskalkuliert,
+mich erst umlauert und dann aufgespürt. Ich spürte, wie das Dämonische
+ihres Willens in mich eindrang, aber ich wehrte mich mit all meiner
+Erbitterung. Noch einmal zwang ich mich sachlich -- ja fast ironisch zu
+sein.
+
+»Und diese größere Summe würden Sie ... würden Sie mir zur Verfügung
+stellen?«
+
+»Für Ihre Hilfe und sofortige Abreise.«
+
+»Wissen Sie, daß ich dadurch meine Pension verliere?«
+
+»Ich werde sie Ihnen entschädigen.«
+
+»Sie sind sehr deutlich ... Aber ich will noch mehr Deutlichkeit. Welche
+Summe haben Sie als Honorar in Aussicht genommen?«
+
+»Zwölftausend Gulden, zahlbar auf Scheck in Amsterdam.«
+
+Ich ... zitterte ... ich zitterte vor Zorn und ... ja auch vor
+Bewunderung. Alles hatte sie berechnet, die Summe und die Art der
+Zahlung, durch die ich zur Abreise genötigt war, sie hatte mich
+eingeschätzt und gekauft, ohne mich zu kennen, hatte über mich verfügt
+im Vorgefühl ihres Willens. Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht
+geschlagen ... Aber wie ich zitternd aufstand -- auch sie war
+aufgestanden -- und ihr gerade Auge in Auge starrte, da überkam mich
+plötzlich bei dem Blick auf diesen verschlossenen Mund, der nicht
+bitten, auf ihre hochmütige Stirn, die sich nicht beugen wollte ... eine
+... eine Art gewalttätiger Gier. Sie mußte irgend etwas davon fühlen,
+denn sie spannte ihre Augenbrauen hoch, wie wenn man jemand Lästigen
+wegweisen will: der Haß zwischen uns war plötzlich nackt. Ich wußte, sie
+haßte mich, weil sie mich brauchte, und ich haßte sie, weil ... weil sie
+nicht bitten wollte. Diese eine, diese eine Sekunde Schweigen sprachen
+wir zum erstenmal ganz aufrichtig zueinander. Dann biß sich plötzlich
+wie ein Reptil mir ein Gedanke ein, und ich sagte ihr ... ich sagte ihr
+...
+
+Aber warten Sie, so würden Sie es falsch verstehen, was ich tat ... was
+ich sagte ... ich muß Ihnen erst erklären, wie ... wieso dieser
+wahnsinnige Gedanke in mich kam ...«
+
+ * * * * *
+
+Wieder klirrte leise im Dunkel das Glas. Und die Stimme wurde erregter.
+
+»Nicht daß ich mich entschuldigen will, mich rechtfertigen, mich
+reinwaschen ... Aber Sie verstehen es sonst nicht ... Ich weiß nicht, ob
+ich je so etwas wie ein guter Mensch gewesen bin, aber ... ich glaube,
+hilfreich war ich immer ... In dem dreckigen Leben da drüben war das ja
+die einzige Freude, die man hatte, mit der Handvoll Wissenschaft, die
+man sich ins Hirn gepreßt, irgendeinem Stück Leben den Atem erhalten zu
+können ... so eine Art Herrgottsfreude ... Wirklich, es waren meine
+schönsten Augenblicke, wenn so ein gelber Bursch kam, blauweiß vor
+Schrecken, einen Schlangenbiß im hochgeschwollenen Fuß, und schon
+heulte, man solle ihm das Bein nicht abschneiden, und ich kriegte es
+noch fertig, ihn zu retten. Stundenweit bin ich gefahren, wenn irgendein
+Weib im Fieber lag -- auch so wie diese es wollte, habe ich geholfen,
+schon in Europa drüben an der Klinik. Aber da spürte mans wenigstens,
+daß dieser Mensch einen _brauchte_, da wußte mans, daß man jemand vom
+Tode rettete oder vor der Verzweiflung -- und das braucht man eben
+selbst zum Helfen, dies Gefühl, daß der andere einen braucht.
+
+Aber diese Frau -- ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schildern kann -- sie
+regte mich auf, reizte mich von dem Augenblick, da sie scheinbar
+promenierend hereinkam, durch ihren Hochmut zu einem Widerstand, sie
+reizte alles -- wie soll ichs sagen ... sie reizte alles Gedrückte,
+alles Versteckte, alles Böse in mir zur Gegenwehr. Daß sie Lady spielte,
+unnahbar kühl ein Geschäft entrierte, wo es um Tod und Leben ging, das
+machte mich toll ... Und dann ... dann ... schließlich wird man doch
+nicht schwanger vom Golfspielen ... ich wußte ... das heißt, ich mußte
+plötzlich mit einer -- und das war jener Gedanke -- mit einer
+entsetzlichen Deutlichkeit mich daran erinnern, daß diese Kühle, diese
+Hochmütige, diese Kalte, die steil die Augenbrauen über ihre stählernen
+Augen hochzog, als ich sie nur abwehrend ... ja fast wegstoßend
+anblickte, daß die sich zwei oder drei Monate vorher heiß im Bett mit
+einem Mann gewälzt hatte, nackt wie ein Tier und vielleicht stöhnend vor
+Lust, die Körper ineinander verbissen wie zwei Lippen ... Das, das war
+der brennende Gedanke, der mich überfiel, als sie mich so hochmütig, so
+unnahbar kühl, ganz wie ein englischer Offizier anblickte ... und da, da
+spannte sich alles in mir ... ich war besessen von der Idee, sie zu
+erniedrigen ... von dieser Sekunde sah ich durch das Kleid ihren Körper
+nackt ... von dieser Sekunde an lebte ich nur im Gedanken, sie zu
+besitzen, ein Stöhnen aus ihren harten Lippen zu pressen, diese Kalte,
+diese Hochmütige in Wollust zu fühlen so wie jener, jener andere, den
+ich nicht kannte. Das ... das wollte ich Ihnen erklären ... Ich habe
+nie, so verkommen ich war, sonst als Arzt die Situation zu nutzen
+gesucht ... Aber diesmal war es ja nicht Geilheit, nicht Brunst, nichts
+Sexuelles, wahrhaftig nicht ... ich würde es ja eingestehen ... nur die
+Gier, eines Hochmuts Herr zu werden ... Herr als Mann ... Ich sagte es
+Ihnen, glaube ich, schon, daß hochmütige, scheinbar kühle Frauen von je
+über mich Macht hatten ... aber jetzt, jetzt kam noch dies dazu, daß ich
+sieben Jahre hier lebte, ohne eine weiße Frau gehabt zu haben, daß ich
+Widerstand nicht kannte ... Denn diese Mädchen hier, diese zwitschernden
+kleinen zierlichen Tierchen, die zittern ja vor Ehrfurcht, wenn ein
+Weißer, ein »Herr«, sie nimmt ... sie löschen aus in Demut, immer sind
+sie einem offen, immer bereit, mit ihrem leisen, glucksenden Lachen
+einem zu dienen ... aber gerade diese Unterwürfigkeit, dieses Sklavische
+verschweint einem den Genuß ... Verstehen Sie jetzt, verstehen Sie es,
+wie das dann auf mich hinschmetternd wirkte, wenn da plötzlich eine Frau
+kam, voll von Hochmut und Haß, verschlossen bis an die Fingerspitzen,
+zugleich funkelnd von Geheimnis und beladen mit früherer Leidenschaft
+... wenn eine solche Frau in den Käfig eines solchen Mannes, einer so
+vereinsamten, verhungerten, abgesperrten Menschenbestie frech eintritt
+... Das ... das wollte ich nur sagen, damit Sie das andere verstehen ...
+das, was jetzt kam. Also ... voll von irgendeiner bösen Gier, vergiftet
+von dem Gedanken an sie, nackt, sinnlich, hingegeben, ballte ich mich
+gleichsam zusammen und täuschte Gleichgültigkeit vor. Ich sagte kühl:
+»Zwölftausend Gulden? ... Nein, dafür werde ich es nicht tun.«
+
+Sie sah mich an, ein wenig blaß. Sie spürte wohl schon, daß in diesem
+Widerstand nicht Geldgier war. Aber doch sagte sie:
+
+»Was verlangen Sie also?«
+
+Ich ging auf den kühlen Ton nicht mehr ein. »Spielen wir mit offenen
+Karten. Ich bin kein Geschäftsmann ... ich bin nicht der arme Apotheker
+aus Romeo und Julia, der für >_corrupted gold_< sein Gift verkauft ...
+ich bin vielleicht das Gegenteil eines Geschäftsmannes ... auf diesem
+Wege werden Sie Ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.«
+
+»Sie wollen es also nicht tun?«
+
+»Nicht für Geld.«
+
+Es wurde ganz still für eine Sekunde zwischen uns. So still, daß ich sie
+zum erstenmal atmen hörte.
+
+»Was können Sie denn sonst wünschen?«
+
+Jetzt hielt ich mich nicht mehr.
+
+»Ich wünsche zuerst, daß Sie ... daß Sie zu mir nicht wie zu einem
+Krämer reden, sondern wie zu einem Menschen. Daß Sie, wenn Sie Hilfe
+brauchen, nicht ... nicht gleich mit Ihrem schändlichen Geld kommen ...
+sondern bitten ... mich, den Menschen, bitten, Ihnen, dem Menschen, zu
+helfen ... Ich bin nicht nur Arzt, ich habe nicht nur Sprechstunden ...
+ich habe auch andere Stunden ... vielleicht sind Sie in eine solche
+Stunde gekommen ...«
+
+Sie schweigt einen Augenblick. Dann krümmt sich ihr Mund ganz leicht,
+zittert und sagt rasch:
+
+»Also wenn ich Sie bitten würde ... dann würden Sie es tun?«
+
+»Sie wollen schon wieder ein Geschäft machen -- Sie wollen nur bitten,
+wenn ich erst verspreche. Erst müssen Sie mich bitten -- dann werde ich
+Ihnen antworten.«
+
+Sie wirft den Kopf hoch wie ein trotziges Pferd. Zornig sieht sie mich
+an.
+
+»Nein, -- ich werde Sie nicht bitten. Lieber zugrunde gehen!«
+
+Da packt mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn.
+
+»Dann werde ich fordern, wenn Sie nicht bitten wollen. Ich glaube, ich
+muß nicht erst deutlich sein -- Sie wissen, was ich von Ihnen begehre.
+Dann -- dann werde ich Ihnen helfen.«
+
+Einen Augenblick starrte sie mich an. Dann -- o ich kann, ich kann nicht
+sagen, wie entsetzlich das war -- dann spannten sich ihre Züge, und dann
+... dann _lachte_ sie mit einem Male ... lachte sie mir mit einer
+unsagbaren Verächtlichkeit ins Gesicht ... mit einer Verächtlichkeit,
+die mich zerstäubte ... und die mich berauschte zugleich ... Es war wie
+eine Explosion, so plötzlich, so aufspringend, so mächtig losgesprengt
+von einer ungeheuren Kraft dieses Lachen der Verächtlichkeit, daß ich
+... ja daß ich hätte zu Boden sinken können und ihr die Füße küssen.
+Eine Sekunde dauerte es nur ... es war wie ein Blitz, und ich hatte das
+Feuer im ganzen Körper ... da wandte sie sich schon und ging hastig auf
+die Tür zu.
+
+Unwillkürlich wollte ich ihr nach ... mich entschuldigen ... sie
+anflehen ... meine Kraft war ja ganz zerbrochen ... da kehrte sie sich
+noch einmal um und sagte ... nein, sie _befahl_:
+
+»Unterstehen Sie sich nicht mir zu folgen oder nachzuspüren ... Sie
+würden es bereuen.«
+
+Und schon krachte hinter ihr die Türe zu.«
+
+ * * * * *
+
+Wieder ein Zögern. Wieder ein Schweigen ... Wieder nur dies Rauschen,
+als ob das Mondlicht strömte. Und dann endlich wieder die Stimme.
+
+»Die Tür schlug zu ... aber ich stand unbeweglich an der Stelle ... ich
+war gleichsam hypnotisiert von dem Befehl ... ich hörte sie die Treppe
+hinabsteigen, die Haustür zumachen ... ich hörte alles, und mein ganzer
+Wille drängte ihr nach ... sie ... ich weiß nicht was ... sie
+zurückzurufen, oder zu schlagen oder zu erdrosseln ... aber ihr nach ...
+ihr nach ... Und doch konnte ich nicht. Meine Glieder waren gleichsam
+gelähmt wie von einem elektrischen Schlag ... ich war eben getroffen,
+getroffen bis ins Mark hinein von dem herrischen Blitz dieses Blickes
+... Ich weiß, das ist nicht zu erklären, nicht zu erzählen ... es mag
+lächerlich klingen, aber ich stand und stand ... ich brauchte Minuten,
+vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten, ehe ich einen Fuß wegreißen
+konnte von der Erde ...
+
+Aber kaum daß ich einen Fuß gerührt, war ich schon heiß, war ich schon
+rasch ... im Nu eilte ich die Treppe hinab ... Sie konnte ja nur die
+Straße hinabgegangen sein zur Zivilstation ... ich stürze in den
+Schuppen, das Rad zu holen, sehe, daß ich den Schlüssel vergessen habe,
+reiße den Verschlag auf, daß der Bambus splittert und kracht ... und
+schon schwinge ich mich auf das Rad und sause ihr nach ... ich muß sie
+... ich muß sie erreichen, ehe sie zu ihrem Automobil gelangt ... ich
+muß sie sprechen ...
+
+Die Straße staubt an mir vorbei ... jetzt merke ich erst, wie lange ich
+oben starr gestanden haben mußte ... da ... auf der Kurve im Wald knapp
+vor der Station sehe ich sie, wie sie hastig mit steifem geradem Schritt
+hineilt, begleitet von dem Boy ... Aber auch sie muß mich gesehen haben,
+denn sie spricht jetzt mit dem Boy, der zurückbleibt, und geht allein
+weiter ... Was will sie tun? Warum will sie allein sein? ... Will sie
+mit mir sprechen, ohne daß er es hört? ... Blindwütig trete ich in die
+Pedale hinein ... Da springt mir plötzlich quer von der Seite etwas über
+den Weg ... der Boy ... ich kann gerade noch das Rad zur Seite reißen
+und krache hin ...
+
+Ich stehe fluchend auf ... unwillkürlich hebe ich die Faust, um dem
+Tölpel eins hinzuknallen, aber er springt zur Seite ... Ich rüttle mein
+Fahrrad hoch, um wieder aufzusteigen ... Aber da springt der Halunke
+vor, faßt das Rad und sagt in seinem erbärmlichen Englisch: »_You remain
+here._«
+
+Sie haben nicht in den Tropen gelebt ... Sie wissen nicht, was das für
+eine Frechheit ist, wenn ein solcher gelber Halunke einem weißen >Herrn<
+das Rad faßt und ihm, dem >Herrn<, befiehlt, dazubleiben. Statt aller
+Antwort schlage ich ihm die Faust ins Gesicht ... er taumelt, aber er
+hält das Rad fest ... seine Augen, seine engen, feigen Augen sind weit
+aufgerissen in sklavischer Angst ... aber er hält die Stange, hält sie
+teuflisch fest ... »_You remain here_,« stammelt er noch einmal. Zum
+Glück hatte ich keinen Revolver bei mir. Ich hätte ihn sonst
+niedergeknallt. »Weg, Kanaille!« sage ich nur. Er starrt mich geduckt
+an, läßt aber die Stange nicht los. Ich schlage ihm noch einmal auf den
+Schädel, er läßt noch immer nicht. Da faßt mich die Wut ... ich sehe,
+daß sie schon fort, vielleicht schon entkommen ist ... und versetzte ihm
+einen regelrechten Boxerschlag unters Kinn, daß er hinwirbelt. Jetzt
+habe ich wieder mein Rad ... aber wie ich aufspringe, stockt der Lauf
+... bei dem gewaltsamen Zerren hat sich die Speiche verbogen ... Ich
+versuche mit fiebernden Händen sie geradezudrehen ... Es geht nicht ...
+so schmeiße ich das Rad quer auf den Weg neben den Halunken hin, der
+blutend aufsteht und zur Seite weicht ... Und dann -- nein, Sie können
+nicht fühlen, wie lächerlich das dort vor allen Menschen ist, wenn ein
+Europäer ... nun, ich wußte nicht mehr, was ich tat ... ich hatte nur
+den einen Gedanken: ihr nach, sie erreichen ... und so _lief_ ich, lief
+wie ein Rasender die Landstraße entlang vorbei an den Hütten, wo das
+gelbe Gesindel staunend sich vordrängte, einen weißen Mann, den Doktor,
+_laufen_ zu sehen.
+
+Schweißtriefend kam ich in der Station an ... Meine erste Frage: Wo ist
+das Auto? ... Eben weggefahren ... Verwundert sehen mich die Leute an:
+als Rasender muß ich ihnen erscheinen, wie ich da naß und schmierig
+ankam, die Frage voranschreiend, ehe ich noch stand ... Unten an der
+Straße sehe ich weiß den Qualm des Autos wirbeln ... es ist ihr gelungen
+... gelungen wie alles ihrer harten, grausam harten Berechnung gelingen
+muß.
+
+Aber die Flucht hilft ihr nichts ... In den Tropen gibt es kein
+Geheimnis unter den Europäern ... einer kennt den andern, alles wird zum
+Ereignis ... Nicht umsonst ist ihr Chauffeur eine Stunde im Bungalow der
+Regierung gestanden ... in einigen Minuten weiß ich alles ... Weiß, wer
+sie ist ... daß sie unten in -- nun in der Regierungsstadt wohnt, acht
+Eisenbahnstunden von hier ... daß sie -- nun sagen wir, die Frau eines
+Großkaufmannes ist, rasend reich, vornehm, eine Engländerin ... ich
+weiß, daß ihr Mann jetzt fünf Monate in Amerika war und nächster Tage
+eintreffen soll, um sie mit nach Europa zu nehmen ...
+
+Sie aber -- und wie Gift brennt sich mir der Gedanke in die Adern hinein
+-- sie kann höchstens zwei oder drei Monate in andern Umständen sein
+...«
+
+ * * * * *
+
+»Bisher konnte ich Ihnen noch alles begreiflich machen ... vielleicht
+nur deshalb, weil ich bis zu diesem Augenblicke mich noch selbst
+verstand ... mir als Arzt immer die Diagnose meines Zustands selbst
+stellte. Aber von da an begann es wie ein Fieber in mir ... ich verlor
+die Kontrolle über mich ... das heißt, ich wußte genau, wie sinnlos
+alles war, was ich tat; aber ich hatte keine Macht mehr über mich ...
+ich verstand mich selbst nicht mehr ... ich lief nur in der Besessenheit
+meines Ziels vorwärts ... Übrigens warten Sie ... vielleicht kann ich es
+Ihnen doch begreiflich machen ... Wissen Sie, was Amok ist?«
+
+»Amok? ... ich glaube mich zu erinnern ... Eine Art Trunkenheit bei den
+Malaien ...«
+
+»Es ist mehr als Trunkenheit ... es ist Tollheit, eine Art menschlicher
+Hundswut ... ein Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie, der sich mit
+keiner andern alkoholischen Vergiftung vergleichen läßt ... ich habe
+selbst während meines Aufenthaltes einige Fälle studiert -- für andere
+ist man ja immer sehr klug und sehr sachlich -- ohne aber je das
+furchtbare Geheimnis ihres Ursprungs freilegen zu können ... Irgendwie
+hängt es mit dem Klima zusammen, mit dieser schwülen, geballten
+Atmosphäre, die auf die Nerven wie ein Gewitter drückt, bis sie einmal
+losspringen ... Also Amok ... ja, Amok, das ist so: Ein Malaie,
+irgendein ganz einfacher, ganz gutmütiger Mensch, trinkt sein Gebräu in
+sich hinein ... er sitzt da, stumpf, gleichgültig, matt ... so wie ich
+in meinem Zimmer saß ... und plötzlich springt er auf, faßt den Dolch
+und rennt auf die Straße ... rennt geradeaus, immer nur geradeaus ...
+ohne zu wissen wohin ... Was ihm in den Weg tritt, Mensch oder Tier, das
+stößt er nieder mit seinem Kris, und der Blutrausch macht ihn nur noch
+hitziger ... Schaum tritt dem Laufenden vor die Lippen, er heult wie ein
+Rasender ... aber er rennt, rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts,
+sieht nicht nach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei, seinem
+blutigen Kris in dieses entsetzliche Geradeaus ... Die Leute in den
+Dörfern wissen, daß keine Macht einen Amokläufer aufhalten kann ... so
+brüllen sie warnend voraus, wenn er kommt: »Amok! Amok!«, und alles
+flüchtet ... er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohne zu sehen, stößt
+nieder, was ihm begegnet ... bis man ihn totschießt wie einen tollen
+Hund oder er selbst schäumend zusammenbricht ...
+
+Einmal habe ich das gesehen, vom Fenster meines Bungalow aus ... es war
+grauenhaft ... aber nur dadurch, daß ichs gesehen habe, begreife ich
+mich selbst in jenen Tagen ... denn so, genau so, mit diesem furchtbaren
+Blick geradeaus, ohne nach rechts oder links zu sehen, mit dieser
+Besessenheit stürmte ich los ... dieser Frau nach ... Ich weiß nicht
+mehr, wie ich alles tat, in so rasendem Lauf, in so unsinniger
+Geschwindigkeit flog es vorbei ... Zehn Minuten, nein, fünf, nein zwei
+... nachdem ich alles von dieser Frau wußte, ihren Namen, ihr Haus, ihr
+Schicksal, jagte ich schon auf einem rasch geborgten Rad in mein Haus
+zurück, warf einen Anzug in den Koffer, steckte Geld zu mir und fuhr zur
+Station der Eisenbahn mit einem Wagen ... fuhr, ohne mich abzumelden
+beim Distriktsbeamten ... ohne einen Vertreter zu ernennen, ließ das
+Haus offen stehen und liegen wie es war ... Um mich standen Diener, die
+Weiber staunten und fragten, ich antwortete nicht, wandte mich nicht um
+... fuhr zur Eisenbahn und mit dem nächsten Zug hinab in die Stadt ...
+Eine Stunde im ganzen, nachdem diese Frau in mein Zimmer getreten, hatte
+ich meine Existenz hinter mich geworfen und rannte Amok ins Leere hinein
+...
+
+Geradeaus rannte ich, mit dem Kopf gegen die Wand ... um sechs Uhr
+abends war ich angekommen ... um sechs Uhr zehn war ich in ihrem Haus
+und ließ mich melden ... Es war ... Sie werden es verstehen ... das
+Sinnloseste, das Stupideste, was ich tun konnte ... aber der Amokläufer
+rennt ja mit leeren Augen, er sieht nicht, wohin er rennt ... Nach
+einigen Minuten kam der Diener zurück ... höflich und kühl ... die
+gnädige Frau sei nicht wohl und könne nicht empfangen ...
+
+Ich taumelte die Türe hinaus ... Eine Stunde schlich ich noch um das
+Haus herum, besessen von der wahnwitzigen Hoffnung, sie würde vielleicht
+nach mir suchen ... dann nahm ich mir erst ein Zimmer im Strandhotel und
+zwei Flaschen Whisky auf das Zimmer ... die und eine doppelte Dosis
+Veronal halfen mir ... ich schlief endlich ein ... und dieser dumpfe,
+schlammige Schlaf war die einzige Pause in diesem Rennen zwischen Leben
+und Tod.«
+
+ * * * * *
+
+Die Schiffsglocke klang. Zwei harte, volle Schläge, die noch im weichen
+Teich der fast reglosen Luft zitternd weiterschwangen und dann verebbten
+in das leise, unaufhörliche Rauschen, das unter dem Kiele und zwischen
+der leidenschaftlichen Rede beharrlich mitlief. Der Mensch im Dunkeln
+mir gegenüber mußte erschreckt aufgefahren sein, seine Rede stockte.
+Wieder hörte ich die Hand hinab zur Flasche fingern, wieder das leise
+Glucksen. Dann begann er, gleichsam beruhigt, mit einer festeren Stimme.
+
+»Die Stunden von diesem Augenblick an kann ich Ihnen kaum erzählen. Ich
+glaube heute, daß ich damals Fieber hatte, jedenfalls war ich in einer
+Art Überreiztheit, die an Tollheit grenzte -- ein Amokläufer, wie ich
+Ihnen sagte. Aber vergessen Sie nicht, es war Dienstag nachts, als ich
+ankam, Samstag aber sollte -- dies hatte ich inzwischen erfahren -- ihr
+Gatte mit dem P. & O.-Dampfer von Yokohama eintreffen, es blieben also
+nur drei Tage, drei knappe Tage für den Entschluß und für die Hilfe.
+Verstehen Sie das: ich wußte, daß ich ihr sofort helfen mußte, und
+konnte doch kein Wort zu ihr sprechen. Und gerade dieses Bedürfnis, mein
+lächerliches, mein tollwütiges Benehmen zu entschuldigen, das hetzte
+mich weiter. Ich wußte um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ich wußte,
+daß es für sie um Leben und Tod ginge, und hatte doch keine Möglichkeit,
+mich nur mit einem Flüstern, mit einem Zeichen ihr zu nähern, denn
+gerade das Stürmische, das Tölpische meines Nachrennens hatte sie
+erschreckt. Es war ... ja, warten Sie ... es war, wie wenn einer einem
+nachrennt, um ihn zu warnen vor einem Mörder, und der andere hält ihn
+selbst für den Mörder, und so rennt er weiter in sein Verderben ... sie
+sah nur den Amokläufer in mir, der sie verfolgte, um sie zu demütigen,
+aber ich ... das war ja der entsetzliche Widersinn ... ich dachte gar
+nicht mehr an das ... ich war ja schon ganz vernichtet, ich wollte ihr
+nur helfen, ihr nur dienen ... einen Mord hätte ich getan, ein
+Verbrechen, um ihr zu helfen ... Aber sie, sie verstand es nicht. Als
+ich morgens aufwachte und gleich wieder hinlief zu ihrem Haus, stand der
+Boy vor der Tür, derselbe Boy, den ich ins Gesicht geschlagen, und wie
+er mich von ferne sah -- er mußte auf mich gewartet haben --, huschte er
+hinein in die Tür. Vielleicht tat er es nur, um mich im geheimen
+anzumelden ... vielleicht ... ah, diese Ungewißheit, wie peinigt sie
+mich jetzt ... vielleicht war schon alles bereit, mich zu empfangen ...
+aber da, wie ich ihn sah, mich erinnerte an meine Schmach, da war ich es
+wieder, der nicht wagte, noch einmal den Besuch zu wiederholen ... Die
+Knie zitterten mir. Knapp vor der Schwelle drehte ich mich um und ging
+wieder fort ... ging fort, während sie vielleicht in ähnlicher Qual auf
+mich wartete.
+
+Ich wußte jetzt nicht mehr, was tun in der fremden Stadt, die an meinen
+Fersen wie Feuer glühte ... Plötzlich fiel mir etwas ein, schon rief ich
+einen Wagen und fuhr zum Vizeresidenten, zu demselben, dem ich damals in
+meiner Station geholfen, und ließ mich melden ... Irgend etwas muß schon
+in meinem äußern Wesen befremdend gewesen sein, denn er sah mich mit
+einem gleichsam erschreckten Blick an, und seine Höflichkeit hatte etwas
+Beunruhigtes ... vielleicht erkannte er schon den Amokläufer in mir ...
+Ich sagte ihm kurz entschlossen, ich erbäte meine Versetzung in die
+Stadt, ich könne auf meinem Posten nicht mehr länger existieren ... ich
+müsse sofort übersiedeln ... Er sah mich ... ich kann Ihnen nicht sagen,
+wie er mich ansah ... so wie eben ein Arzt einen Kranken ansieht ...
+»Ein Nervenzusammenbruch, lieber Doktor,« sagte er dann, »ich verstehe
+das nur zu gut. Nun, es wird sich schon richten lassen; aber warten Sie
+... sagen wir vier Wochen ... ich muß erst einen Ersatz finden.« »Ich
+kann nicht warten, nicht einen Tag,« antwortete ich. Wieder kam dieser
+merkwürdige Blick. »Es muß gehen, Doktor,« sagte er ernst, »wir dürfen
+die Station nicht ohne Arzt lassen. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich
+noch heute alles einleite.« Ich blieb stehen, mit verbissenen Zähnen:
+zum erstenmal spürte ich deutlich, daß ich ein verkaufter Mensch, ein
+Sklave sei. Schon ballte sich alles zu einem Trotz zusammen, aber er,
+der Geschmeidige, kam mir zuvor: »Sie sind menschenentwöhnt, Doktor, und
+das wird schließlich eine Krankheit. Wir haben uns alle gewundert, daß
+Sie nie herkamen, nie Urlaub nahmen. Sie brauchen mehr Geselligkeit,
+mehr Anregung. Kommen Sie doch wenigstens diesen Abend, wir haben heute
+Empfang bei der Regierung, Sie finden die ganze Kolonie, und manche
+mochten Sie längst kennen lernen, haben oft nach Ihnen gefragt und Sie
+hierhergewünscht.«
+
+Das letzte Wort riß mich auf. Nach mir gefragt? Sollte sie es gewesen
+sein? Ich war plötzlich ein anderer: sofort dankte ich ihm höflichst für
+seine Einladung und sicherte mein Kommen pünktlich zu. Und ich war auch
+pünktlich, viel zu pünktlich. Muß ich Ihnen erst sagen, daß ich, von
+meiner Ungeduld gejagt, der erste in dem großen Saale des
+Regierungsgebäudes war, schweigend umgeben von den gelben Dienern, die
+mit ihren nackten Sohlen wippend hin und her eilten und mich -- wie mir
+in meinem verwirrten Bewußtsein dünkte -- hinterrücks belächelten. Eine
+Viertelstunde war ich der einzige Europäer inmitten all der
+geräuschlosen Vorbereitungen und so allein mit mir, daß ich das Ticken
+der Uhr in meiner Westentasche hörte. Dann kamen endlich ein paar
+Regierungsbeamte mit ihren Familien, schließlich auch der Gouverneur,
+der mich in ein längeres Gespräch zog, in dem ich beflissen und, wie ich
+glaube, geschickt antwortete, bis ... bis ich plötzlich, von einer
+geheimnisvollen Nervosität befallen, alle Geschmeidigkeit verlor und zu
+stammeln begann. Obzwar mit dem Rücken gegen die Saaltür gelehnt, spürte
+ich mit einem Male, daß sie eingetreten, daß sie anwesend sein müßte:
+ich könnte Ihnen nicht sagen, wieso mich diese plötzliche Gewißheit
+verwirrend faßte, aber noch während ich mit dem Gouverneur sprach, den
+Klang seiner Worte im Ohr, spürte ich im Rücken irgendwo ihre Gegenwart.
+Glücklicherweise endete der Gouverneur bald das Gespräch -- ich glaube,
+ich hätte mich sonst plötzlich brüsk umgewandt, so stark war dieses
+geheimnisvolle Ziehen in meinen Nerven, so brennend gereizt meine
+Begier. Und wirklich, kaum daß ich mich umwandte, sah ich sie schon ganz
+genau an jener Stelle, wo sie unbewußt mein Gefühl geahnt. Sie stand in
+einem gelben Ballkleid, das ihre schmalen, reinen Schultern wie mattes
+Elfenbein vorleuchten ließ, plaudernd inmitten einer Gruppe. Sie
+lächelte, aber doch, mir war, als hätte ihr Gesicht einen gespannten
+Zug. Ich trat näher -- sie konnte mich nicht sehen oder wollte mich
+nicht sehen -- und blickte in dieses Lächeln, das gefällig und höflich
+um die schmalen Lippen zitterte. Und dieses Lächeln berauschte mich von
+neuem, weil es ... nun weil ich wußte, daß es Lüge war, Kunst oder
+Technik, Meisterschaft der Verstellung. Mittwoch ist heute, fuhr mir
+durch den Kopf, Samstag kommt das Schiff mit dem Gatten ... wie kann sie
+so lächeln, so ... so sicher, so sorglos lächeln und den Fächer lässig
+in der Hand spielen lassen, statt ihn zu zerkrampfen in Angst? Ich ...
+ich, der Fremde ... ich zitterte seit zwei Tagen vor jener Stunde ...
+ich, der Fremde, lebte ihre Angst, ihr Entsetzen mit allen Exzessen des
+Gefühls mit ... und sie ging auf den Ball und lächelte, lächelte,
+lächelte ...
+
+Rückwärts setzte die Musik ein. Der Tanz begann. Ein älterer Offizier
+hatte sie aufgefordert, sie ließ mit einer Entschuldigung den
+plaudernden Kreis und schritt an seinem Arm gegen den andern Saal zu, an
+mir vorbei. Wie sie mich erblickte, spannte sich plötzlich ihr Gesicht
+gewaltsam zusammen -- aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie mir
+mit einem höflichen Erkennen (ehe ich mich noch zu grüßen oder
+nichtgrüßen entschlossen hatte) wie einem zufälligen Bekannten zu:
+»Guten Abend, Doktor« und war schon vorbei. Niemand hätte ahnen können,
+was in diesem graugrünen Blick verborgen war, und ich, ich selbst wußte
+es nicht. Warum grüßte sie ... warum erkannte sie mich nun mit einmal
+an? ... War das Abwehr, war es Annäherung, war es nur die Verlegenheit
+der Überraschung? Ich kann Ihnen nicht schildern, in welcher Erregtheit
+ich zurückblieb, alles war aufgewühlt, war explosiv in mir
+zusammengepreßt, und wie ich sie so sah, lässig walzend am Arme des
+Offiziers, auf der Stirne den kühlen Glanz der Sorglosigkeit, indes ich
+doch wußte, daß sie ... daß sie so wie ich nur _daran_ ... daran dachte
+... daß wir zwei hier allein ein furchtbares Geheimnis gemeinsam hatten
+... und sie walzte ... in diesen Sekunden wurde meine Angst, meine Gier
+und meine Bewunderung noch mehr Leidenschaft als jemals. Ich weiß nicht,
+ob mich jemand beobachtet hat, aber gewiß verriet ich mich in meinem
+Verhalten noch viel mehr, als sie sich verbarg -- ich konnte eben nicht
+in eine andere Richtung schauen, ich mußte ... ja, ich mußte sie
+ansehen, ich sog, ja ich zerrte von ferne an ihrem verschlossenen
+Gesicht, ob die Maske nicht für eine Sekunde fallen wollte. Und sie
+mußte diesen starren Blick unangenehm empfunden haben. Als sie am Arme
+ihres Tänzers zurückschritt, sah sie mich im Blitzlicht einer Sekunde
+an, scharf befehlend, wie wegweisend: wieder spannte sich jene kleine
+Falte des hochmütigen Zornes, die ich schon von damals kannte, böse über
+ihrer Stirn.
+
+Aber ... aber ... ich sagte es Ihnen ja ... ich lief Amok, ich sah nicht
+nach rechts und nicht nach links. Ich verstand sie sofort -- dieser
+Blick hieß: sei nicht auffällig! bezähme dich! -- ich wußte, daß sie ...
+wie soll ich es sagen? ... daß sie Diskretion des Benehmens hier im
+offenen Saal von mir wollte ... ich verstand, daß, wenn ich jetzt
+heimginge, ich morgen gewiß sein könne, von ihr empfangen zu werden ...
+daß sie es nur jetzt, nur jetzt vermeiden wollte, meiner auffälligen
+Vertraulichkeit ausgesetzt zu sein, daß sie -- und wie sehr mit Recht --
+von meinem Ungeschick eine Szene fürchtete ... Sie sehen ... ich wußte
+alles, ich verstand diesen befehlenden grauen Blick, aber ... aber es
+war zu stark in mir, ich mußte sie sprechen. Und so schwankte ich hin zu
+der Gruppe, in der sie plaudernd stand, schob mich -- obwohl ich nur
+einige der Anwesenden kannte -- ganz an den lockeren Kreis heran nur aus
+Begier, sie sprechen zu hören, und doch immer scheu mich duckend wie ein
+geprügelter Hund vor ihrem Blick, wenn er kalt an mir vorbeistreifte,
+als sei ich eine der Leinenportieren, an der ich lehnte, oder die Luft,
+die sie leicht bewegte. Aber ich stand, durstig nach einem Wort, das sie
+zu mir sprechen sollte, nach einem Zeichen des Einverständnisses, stand
+und stand starren Blickes inmitten des Geplauders wie ein Block.
+Unbedingt mußte es schon auffällig geworden sein, unbedingt, denn keiner
+richtete ein Wort an mich, und sie mußte leiden unter meiner
+lächerlichen Gegenwart.
+
+Wie lange ich so gestanden hätte, ich weiß es nicht ... eine Ewigkeit
+vielleicht ... ich _konnte_ ja nicht fort aus dieser Bezauberung des
+Willens. Gerade die Hartnäckigkeit meiner Wut lähmte mich ... Aber sie
+ertrug es nicht länger ... plötzlich wandte sie sich mit der
+prachtvollen Leichtigkeit ihres Wesens gegen die Herren und sagte: »Ich
+bin ein wenig müde ... ich will heute einmal früher zu Bett gehen ...
+Gute Nacht!« ... und schon streifte sie mit einem gesellschaftlich
+fremden Kopfnicken an mir vorbei ... ich sah noch die hochgezogene Falte
+auf der Stirn und dann nur mehr den Rücken, den weißen, kühlen, nackten
+Rücken. Eine Sekunde lang dauerte es, bevor ich begriff, daß sie
+fortging ... daß ich sie nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen könnte
+diesen Abend, diesen letzten Abend der Rettung ... einen Augenblick lang
+also stand ich noch starr, bis ichs begriff ... dann ... dann ...
+
+Aber warten Sie ... warten Sie ... Sie werden sonst das Sinnlose, das
+Stupide meiner Tat nicht verstehen ... ich muß Ihnen erst den ganzen
+Raum schildern ... Es war der große Saal des Regierungsgebäudes, ganz
+von Lichtern erhellt und fast leer, der ungeheure Saal ... die Paare
+waren zum Tanz gegangen, die Herren zum Spiel ... nur an den Ecken
+plauderten einige Gruppen ... der Saal war also leer, jede Bewegung
+auffällig und im grellen Licht sichtbar ... und diesen großen weiten
+Saal schritt sie langsam und leicht mit ihren hohen Schultern durch, ab
+und zu einen Gruß mit ihrer unbeschreiblichen Haltung erwidernd ... mit
+dieser herrlichen erfrorenen hoheitlichen Ruhe, die mich an ihr so
+entzückte ... Ich ... ich war zurückgeblieben, ich sagte es Ihnen ja,
+ich war gleichsam gelähmt, bevor ich es begriff, daß sie fortging ...
+und da, als ich es begriff, war sie schon am andern Ende des Saales
+knapp vor der Türe ... Da ... oh, ich schäme mich jetzt noch, es zu
+denken ... da packte es mich plötzlich an und ich _lief_, -- hören Sie:
+ich lief ... ich ging nicht, ich _lief_ mit polternden Schuhen, die laut
+widerhallten, quer durch den Saal ihr nach ... Ich hörte meine Schritte,
+ich sah alle Blicke erstaunt auf mich gerichtet ... ich hätte vergehen
+können vor Scham ... noch während ich lief, war mir schon der Wahnsinn
+bewußt ... aber ich konnte ... ich konnte nicht mehr zurück ... Bei der
+Tür holte ich sie ein ... Sie wandte sich um ... ihre Augen stießen wie
+ein grauer Stahl in mich hinein, ihre Nasenflügel zitterten vor Zorn ...
+ich wollte eben zu stammeln anfangen ... da ... da ... _lachte_ sie
+plötzlich hellauf ... ein helles, unbesorgtes, herzliches Lachen, und
+sagte laut ... so laut, daß es alle hören konnten ... »Ach, Doktor,
+jetzt fällt Ihnen erst das Rezept für meinen Buben ein ... ja, die
+Herren der Wissenschaft ...« Ein paar, die in der Nähe standen, lachten
+gutmütig mit ... ich begriff, ich taumelte unter der Meisterschaft, mit
+der sie die Situation gerettet hatte ... griff in die Brieftasche und
+riß ein leeres Blatt vom Block, das sie lässig nahm, ehe sie ... noch
+einmal mit einem kalten, dankenden Lächeln ... ging ... Mir war leicht
+in der ersten Sekunde ... ich sah, daß mein Irrsinn durch ihre
+Meisterschaft gutgemacht, die Situation gewonnen ... aber ich wußte auch
+sofort, daß alles für mich verloren sei, daß diese Frau mich um meiner
+hitzigen Narrheit haßte ... haßte mehr als den Tod ... daß ich nun
+hundertmal und hundertmal vor ihre Tür kommen könnte und sie mich
+wegweisen würde wie einen Hund.
+
+Ich taumelte durch den Saal ... ich merkte, daß die Leute auf mich
+blickten ... ich muß irgendwie sonderbar ausgesehen haben ... Ich ging
+zum Büfett, trank zwei, drei, vier Gläser Kognak hintereinander ... das
+rettete mich vor dem Umsinken ... meine Nerven konnten schon nicht mehr,
+sie waren wie durchgerissen ... Dann schlich ich bei einer Nebentür
+hinaus, heimlich wie ein Verbrecher ... Um kein Fürstentum der Welt
+hätte ich jenen Saal nochmals durchschreiten können, wo ihr Lachen noch
+gell an allen Wänden klebte ... ich ging ... genau weiß ichs nicht mehr
+zu sagen, wohin ich ging ... in ein paar Kneipen und soff mich an ...
+soff mich an wie einer, der sich alles Wache wegsaufen will ... aber ...
+es ward mir nicht dumpf in den Sinnen ... das Lachen stak in mir,
+schrill und böse ... das Lachen, dieses verfluchte Lachen konnte ich
+nicht betäuben ... Ich irrte dann noch am Hafen herum ... meinen
+Revolver hatte ich zu Hause gelassen, sonst hätte ich mich erschossen.
+Ich dachte an nichts anderes, und mit diesem Gedanken ging ich auch heim
+... nur mit diesem Gedanken an das Schubfach links im Kasten, wo mein
+Revolver lag ... nur mit diesem einen Gedanken.
+
+Daß ich mich dann nicht erschoß ... ich schwöre Ihnen, das war nicht
+Feigheit ... es wäre für mich eine Erlösung gewesen, den schon
+gespannten kalten Hahn abzudrücken ... aber wie soll ich es Ihnen
+erklären ... ich fühlte noch eine Pflicht in mir ... ja, jene Pflicht zu
+helfen, jene verfluchte Pflicht ... mich machte der Gedanke wahnsinnig,
+daß sie mich noch brauchen könnte, daß sie mich brauchte ... es war ja
+schon Donnerstag morgens, als ich heimkam, und Samstag ... ich sagte es
+Ihnen ja ... Samstag kam das Schiff, und daß _diese_ Frau, diese
+hochmütige, stolze Frau die Schande vor ihrem Gatten, vor der Welt nicht
+überleben würde, das wußte ich ... Ah, wie mich solche Gedanken
+gemartert haben an die sinnlos vertane kostbare Zeit, an meine
+irrwitzige Übereilung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte ...
+stundenlang, ja stundenlang, ich schwöre es Ihnen, bin ich im Zimmer
+niedergegangen, auf und ab, und habe mir das Hirn zermartert, wie ich
+mich ihr nähern, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfen könnte ...
+denn daß sie mich nicht mehr vorlassen würde in ihrem Haus, das war mir
+gewiß ... ich hatte das Lachen noch in allen Nerven und das Zucken des
+Zornes um ihre Nasenflügel ... stundenlang, wirklich stundenlang bin ich
+so die drei Meter des schmalen Zimmers auf und ab gerannt ... es war
+schon Tag, es war schon Vormittag ...
+
+Und plötzlich schmiß es mich hin zu dem Tisch ... ich riß ein Bündel
+Briefblätter heraus und begann ihr zu schreiben ... alles zu schreiben
+... einen hündisch winselnden Brief, in dem ich sie um Vergebung bat, in
+dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbrecher nannte ... in dem ich
+sie beschwor, sich mir anzuvertrauen ... Ich schwor in der nächsten
+Stunde zu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie, wenn sie wollte:
+aus der Welt ... nur verzeihen sollte sie mir und mir vertrauen, sich
+helfen lassen in der letzten, der allerletzten Stunde ... Zwanzig Seiten
+fieberte ich so hinunter ... es muß ein toller, ein unbeschreiblicher
+Brief wie aus einem Delirium gewesen sein, denn als ich aufstand vom
+Tisch, war ich in Schweiß gebadet ... das Zimmer schwankte, ich mußte
+ein Glas Wasser trinken ... Dann erst versuchte ich den Brief noch
+einmal zu überlesen, aber mir graute nach den ersten Worten ... zitternd
+faltete ich ihn zusammen, faßte schon ein Kuvert ... Da plötzlich fuhrs
+mich durch. Mit einem Male wußte ich das wahre, das entscheidende Wort.
+Und ich riß noch einmal die Feder zwischen die Finger und schrieb auf
+das letzte Blatt: »Ich warte hier im Strandhotel auf ein Wort der
+Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keine Antwort habe, erschieße ich
+mich.«
+
+Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy und hieß ihn das Schreiben
+sofort überbringen. Endlich war alles gesagt -- alles!«
+
+ * * * * *
+
+Etwas klirrte und kollerte neben uns. Mit einer heftigen Bewegung hatte
+er die Whiskyflasche umgestoßen: ich hörte, wie seine Hand ihr suchend
+am Boden nachtastete und sie dann mit einem plötzlichen Schwung faßte:
+in weitem Bogen warf er die geleerte Flasche über Bord. Einige Minuten
+schwieg die Stimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregter und
+hastiger als zuvor.
+
+»Ich bin kein gläubiger Christ mehr ... für mich gibt es keinen Himmel
+und keine Hölle ... und wenn es eine gibt, so fürchte ich sie nicht,
+denn sie kann nicht ärger sein als jene Stunden, die ich von vormittag
+bis abends erlebte ... Denken Sie sich ein kleines Zimmer, heiß in der
+Sonne, immer glühender im Mittagsbrand ... ein kleines Zimmer, nur Tisch
+und Stuhl und Bett ... Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhr und
+einen Revolver und vor dem Tisch einen Menschen ... einen Menschen, der
+nichts tut als immer auf diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr
+starren ... einen Menschen, der nicht ißt und nicht trinkt und nicht
+raucht und sich nicht regt ... der immer nur ... hören Sie: immer nur,
+drei Stunden lang ... auf den weißen Kreis des Zifferblattes starrt und
+auf den kleinen Zeiger, der tickend den Kreis umläuft ... So ... so ...
+habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet, gewartet, gewartet ... aber
+gewartet wie ... wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch,
+mit dieser rasenden, geradlinigen Beharrlichkeit.
+
+Nun ... ich werde Ihnen diese Stunden nicht schildern ... das läßt sich
+nicht schildern ... ich verstehe ja selbst nicht mehr, wie man das
+erleben kann ohne ... ohne wahnsinnig zu werden ... Also ... um drei Uhr
+zweiundzwanzig Minuten ... ich weiß es genau, ich starrte ja auf die Uhr
+... klopft es plötzlich an die Tür ... Ich springe auf ... springe, wie
+ein Tiger auf seine Beute springt, mit einem Ruck durch das ganze Zimmer
+zur Tür, reiße sie auf ... ein ängstlicher kleiner Chinesenjunge steht
+draußen, einen zusammengefalteten Zettel in der Hand, und während ich
+gierig darnach greife, huscht er schon weg und ist verschwunden.
+
+Ich reiße den Zettel auf, will ihn lesen ... und kann ihn nicht lesen
+... Mir schwankt es rot vor den Augen ... denken Sie die Qual, ich habe
+endlich, habe endlich das Wort von ihr ... und nun zittert und tanzt es
+mir vor den Pupillen ... Ich tauche den Kopf ins Wasser ... nun wirds
+mir klarer ... Nochmals nehme ich den Zettel und lese:
+
+»Zu spät! Aber warten Sie zu Hause. Vielleicht rufe ich Sie noch.«
+
+Keine Unterschrift auf dem zerknüllten Papier, das von irgendeinem alten
+Prospekt abgefetzt war ... hastige, verworrene Bleistiftzüge einer sonst
+sicheren Schrift ... ich weiß nicht, warum mich das Blatt so
+erschütterte ... Irgend etwas von Grauen, von Geheimnis haftete ihm an,
+es war wie auf einer Flucht geschrieben, stehend an einer Fensternische
+oder in einem fahrenden Wagen ... Etwas Unbeschreibliches von Angst, von
+Hast, von Entsetzen schlug kalt von diesem heimlichen Zettel mir in die
+Seele ... und doch ... und doch, ich war glücklich: sie hatte mir
+geschrieben, ich mußte noch nicht sterben, ich durfte ihr helfen ...
+vielleicht ... ich durfte ... oh, ich verlor mich ganz in den
+wahnwitzigsten Konjekturen und Hoffnungen ... Hundertemal, tausendemal
+habe ich den kleinen Zettel gelesen, ihn geküßt ... ihn durchforscht
+nach irgendeinem vergessenen, übersehenen Wort ... immer tiefer, immer
+verworrener wurde meine Träumerei, ein phantastischer Zustand von Schlaf
+mit offenen Augen ... eine Art Lähmung, irgend etwas ganz Dumpfes und
+doch Bewegtes zwischen Schlaf und Wachsein, das vielleicht
+Viertelstunden dauerte, vielleicht Stunden ...
+
+Plötzlich schreckte ich auf ... Hatte es nicht geklopft? ... Ich hielt
+den Atem an ... eine Minute, zwei Minuten reglose Stille ... Und dann
+wieder ganz leise, so wie eine Maus knabbert, ein leises aber heftiges
+Pochen ... Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riß die Tür auf --
+draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe, dem ich den Mund damals mit
+der Faust zerschlagen ... sein braunes Gesicht war aschfahl, sein
+verwirrter Blick sagte Unglück ... Sofort spürte ich Grauen ... »Was ...
+was ist geschehen?« konnte ich noch stammeln. »_Come quickly_«, sagte er
+... sonst nichts ... sofort raste ich die Treppe herunter, er mir nach
+... Ein Sado, so ein kleiner Wagen, stand bereit, wir stiegen ein ...
+»Was ist geschehen?« fragte ich ihn ... Er sah mich zitternd an und
+schwieg mit verbissenen Lippen ... Ich fragte nochmals -- er schwieg und
+schwieg ... Ich hätte ihm am liebsten wieder ins Gesicht geschlagen mit
+der Faust, aber ... gerade seine hündische Treue zu ihr rührte mich ...
+so fragte ich nicht mehr ... Das Wägelchen trabte so hastig durch das
+Gewirr, daß die Menschen fluchend auseinanderstoben, lief aus dem
+Europäerviertel am Strand in die niedere Stadt und weiter, weiter ins
+schreiende Gewirr der Chinesenstadt ... Endlich kamen wir in eine enge
+Gasse, ganz abseits lag sie ... vor einem niedern Hause hielt er an ...
+Es war schmutzig und wie in sich zusammengekrochen, vorne ein kleiner
+Laden mit einem Talglicht ... irgendeine dieser Buden, in die sich die
+Opiumhäuser oder Bordelle verstecken, ein Diebsnest oder ein
+Hehlerkeller ... Hastig klopfte der Boy an ... Hinter dem Türspalt
+zischelte eine Stimme, fragte und fragte ... Ich konnte es nicht mehr
+ertragen, sprang vom Sitz, stieß die angelehnte Tür auf ... ein altes
+chinesisches Weib flüchtete mit einem kleinen Schrei zurück ... hinter
+mir kam der Boy, führte mich durch den Gang ... klinkte eine andere Tür
+auf ... eine andere Türe in einen dunklen Raum, der übel roch von
+Branntwein und gestocktem Blut ... Irgend etwas stöhnte darin ... ich
+tappte hin ...«
+
+ * * * * *
+
+Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach, war mehr ein
+Schluchzen als ein Sprechen.
+
+»Ich ... ich tappte hin ... und dort ... dort lag auf einer schmutzigen
+Matte ... verkrümmt vor Schmerz ... ein stöhnendes Stück Mensch ... dort
+lag sie ...
+
+Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel ... Meine Augen waren noch
+nicht gewöhnt ... so tastete ich nur hin ... ihre Hand ... heiß ...
+brennend heiß ... Fieber, hohes Fieber ... und ich schauerte ... ich
+wußte sofort alles ... sie war hierher geflüchtet vor mir ... hatte sich
+verstümmeln lassen von irgendeiner schmutzigen Chinesin, nur weil sie
+hier mehr Schweigsamkeit erhoffte ... hatte sich morden lassen von
+irgendeiner teuflischen Hexe, lieber als mir zu vertrauen ... nur weil
+ich Wahnsinniger ... weil ich ihren Stolz nicht geschont, ihr nicht
+gleich geholfen hatte ... weil sie den Tod weniger fürchtete als mich
+...
+
+Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte
+mit zitternden Händen eine rußende Petroleumlampe ... ich mußte mich
+halten, um der gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen ... sie
+stellten die Lampe auf den Tisch ... der Lichtschein fiel gelb und hell
+über den gemarterten Leib ... Und plötzlich ... plötzlich war alles weg
+von mir, alle Dumpfheit, aller Zorn, all diese unreine Jauche von
+aufgehäufter Leidenschaft ... ich war nur mehr Arzt, helfender,
+spürender, wissender Mensch ... ich hatte mich vergessen ... ich kämpfte
+mit wachen, klaren Sinnen gegen das Entsetzliche ... Ich fühlte den
+nackten Leib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur mehr als ... wie
+soll ich es sagen ... als Materie, als Organismus ... ich spürte nicht
+mehr sie, sondern nur das Leben, das sich gegen den Tod wehrte, den
+Menschen, der sich krümmte in mörderischer Qual ... Ihr Blut, ihr
+heißes, heiliges Blut überströmte meine Hände, aber ich spürte es nicht
+in Lust und nicht in Grauen ... ich war nur Arzt ... ich sah nur das
+Leiden ... und sah ...
+
+Und sah sofort, daß alles verloren war, wenn nicht ein Wunder geschehe
+... sie war verletzt und halb verblutet unter der verbrecherisch
+ungeschickten Hand ... und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in
+dieser stinkenden Höhle, nicht einmal reines Wasser ... alles, was ich
+anrührte, starrte von Schmutz ...
+
+»Wir müssen sofort ins Spital,« sagte ich. Aber kaum daß ichs gesagt,
+bäumte sich krampfig der gemarterte Leib auf. »Nein ... nein ... lieber
+sterben ... niemand es erfahren ... niemand es erfahren ... nach Hause
+... nach Hause ...«
+
+Ich verstand ... nur mehr um das Geheimnis, um ihre Ehre rang sie ...
+nicht um ihr Leben ... Und -- ich gehorchte ... Der Boy brachte eine
+Sänfte ... wir betteten sie hinein ... und so ... wie eine Leiche schon,
+matt und fiebernd ... trugen wir sie durch die Nacht ... nach Hause ...
+die fragende, erschreckte Dienerschaft abwehrend ... wie Diebe trugen
+wir sie hinein in ihr Zimmer und sperrten die Türen ... Und dann ...
+dann begann der Kampf, der lange Kampf gegen den Tod ...«
+
+ * * * * *
+
+Plötzlich krampfte sich eine Hand in meinen Arm, daß ich fast aufschrie
+vor Schreck und Schmerz. Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einemmal
+fratzenhaft nah, ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten in
+plötzlichem Ausbruch, sah die Augengläser im fahlen Reflex des
+Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugen glimmen. Und jetzt sprach er
+nicht mehr -- er schrie, geschüttelt von einem heulenden Zorn:
+
+»Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hier lässig auf einem
+Deckstuhl sitzen, ein Spazierenfahrer durch die Welt, wissen Sie, wie
+das ist, wenn ein Mensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabeigewesen,
+haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aufkrümmt, die blauen Nägel ins
+Leere krallen, wie die Kehle röchelt, jedes Glied sich wehrt, jeder
+Finger sich stemmt gegen das Entsetzliche, und wie das Auge aufspringt
+in einem Grauen, für das es keine Worte gibt? Haben Sie das schon einmal
+erlebt, Sie Müßiggänger, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen reden
+als von einer Pflicht? Ich habe es oft gesehen als Arzt, habe es gesehen
+als ... als klinischen Fall, als Tatsache ... habe es sozusagen studiert
+-- aber _erlebt_ habe ichs nur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich
+nur damals in jener Nacht ... in jener entsetzlichen Nacht, wo ich saß
+und mir das Hirn zerpreßte, um etwas zu wissen, etwas zu finden, zu
+erfinden gegen das Blut, das rann und rann und rann, gegen das Fieber,
+das sie vor meinen Augen verbrannte ... gegen den Tod, der immer näher
+kam und den ich nicht wegdrängen konnte vom Bett. Verstehen Sie, was das
+heißt, Arzt zu sein, alles wissen gegen alle Krankheiten -- die Pflicht
+haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen -- und doch ohnmächtig bei
+einer Sterbenden zu sitzen, wissend und doch ohne Macht ... nur dies
+eine, dies Entsetzliche wissend, daß man nicht helfen kann, ob man sich
+auch jede Ader in seinem Körper aufreißen möchte ... einen geliebten
+Körper zu sehen, wie er elend verblutet, gemartert von Schmerzen, einen
+Puls zu fühlen, der fliegt und zugleich verlischt ... der einem
+wegfließt unter den Fingern ... Arzt zu sein und nichts zu wissen,
+nichts, nichts, nichts ... nur dazusitzen und irgendein Gebet stammeln
+wie ein Hutzelweib in der Kirche, und dann wieder die Fäuste ballen
+gegen einen erbärmlichen Gott, von dem man weiß, daß es ihn nicht gibt
+... Verstehen Sie das? Verstehen Sie das? ... Ich ... ich verstehe nur
+eines nicht, wie ... wie man es macht, daß man nicht mitstirbt in
+solchen Sekunden ... daß man dann noch am nächsten Morgen von einem
+Schlaf aufsteht und sich die Zähne putzt und eine Kravatte umbindet ...
+daß man noch leben kann, wenn man das miterlebte, was ich fühlte, wie
+dieser Atem, dieser erste Mensch, um den ich rang und kämpfte, den ich
+halten wollte mit allen Kräften meiner Seele ... wie der wegglitt unter
+mir ... irgendwohin, immer rascher wegglitt, Minute um Minute und ich
+nichts wußte in meinem fiebernden Gehirn, um diesen, diesen einen
+Menschen festzuhalten ...
+
+Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdoppeln, dazu noch dies ...
+Während ich an ihrem Bett saß -- ich hatte ihr Morphium eingegeben, um
+die Schmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen Wangen, heiß
+und fahl -- ja ... während ich so saß, spürte ich vom Rücken her immer
+zwei Augen auf mich gerichtet mit einem fürchterlichen Ausdruck der
+Spannung ... Der Boy saß dort auf den Boden gekauert und murmelte leise
+irgendwelche Gebete ... Wenn mein Blick den seinen traf, so ... nein,
+ich kann es nicht schildern ... so kam etwas so Flehendes, so ... so
+Dankbares in seinen hündischen Blick, und gleichzeitig hob er die Hände
+zu mir, als wollte er mich beschwören, sie zu retten ... verstehen Sie:
+zu mir, zu mir hob er die Hände wie zu einem Gott ... zu mir ... dem
+ohnmächtigen Schwächling, der wußte, daß alles verloren ... daß ich hier
+so unnötig sei wie eine Ameise, die am Boden raschelt ... Ah, dieser
+Blick, wie er mich quälte, diese fanatische, diese tierische Hoffnung
+auf meine Kunst ... ich hätte ihn anschreien können und mit dem Fuß
+treten, so weh tat er mir ... und doch, ich spürte, wie wir beide
+zusammenhingen durch unsere Liebe zu ihr ... durch das Geheimnis ... Ein
+lauerndes Tier, ein dumpfes Knäuel saß er zusammengeballt knapp hinter
+mir ... kaum daß ich etwas verlangte, sprang er auf mit seinen nackten
+lautlosen Sohlen und reichte es zitternd ... erwartungsvoll her, als sei
+das die Hilfe ... die Rettung ... Ich weiß, er hätte sich die Adern
+aufgeschnitten, um ihr zu helfen ... so war diese Frau, solche Macht
+hatte sie über Menschen ... und ich ... ich hatte nicht Macht, ein
+Quentchen Blut zu retten ... O diese Nacht, diese entsetzliche Nacht,
+diese unendliche Nacht zwischen Leben und Tod!
+
+Gegen Morgen ward sie noch einmal wach ... sie schlug die Augen auf ...
+jetzt waren sie nicht mehr hochmütig und kalt ... ein Fieber glitzerte
+feucht darin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten ... Dann
+sah sie mich an: sie schien nachzudenken, sich erinnern zu wollen an
+mein Gesicht ... und plötzlich ... ich sah es ... erinnerte sie sich ...
+denn irgendein Schreck, eine Abwehr ... etwas ... etwas Feindliches,
+Entsetztes spannte ihr Gesicht ... sie arbeitete mit den Armen, als
+wollte sie flüchten ... weg, weg, weg von mir ... ich sah, sie dachte an
+_das_ ... an die Stunde von damals ... Aber dann kam ein Besinnen ...
+sie sah mich ruhiger an, atmete schwer ... ich fühlte, sie wollte
+sprechen, etwas sagen ... Wieder begannen die Hände sich zu spannen ...
+sie wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach ... Ich beruhigte sie,
+beugte mich nieder ... da sah sie mich an mit einem langen, gequälten
+Blick ... ihre Lippen regten sich leise ... es war nur ein letzter
+erlöschender Laut, wie sie sagte ...
+
+»Wird es niemand erfahren? ... Niemand?«
+
+»Niemand,« sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, »ich verspreche es
+Ihnen.«
+
+Aber ihr Auge war noch unruhig ... Mit fiebriger Lippe ganz undeutlich
+arbeitete sie's heraus.
+
+»Schwören Sie mir ... niemand erfahren ... schwören.«
+
+Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an ... mit einem ... einem
+unbeschreiblichen Blick ... weich war er, warm, dankbar ... ja,
+wirklich, wirklich dankbar ... Sie wollte noch etwas sprechen, aber es
+ward ihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit
+geschlossenen Augen. Dann begann das Entsetzliche ... das Entsetzliche
+... eine ganze schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu
+Ende ...«
+
+ * * * * *
+
+Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die
+Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge -- drei Uhr.
+Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle
+zitterte schon unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie
+eine Brise her. Eine halbe, eine Stunde mehr, und dann war es Tag, war
+dies Grauen ausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt
+deutlicher, da die Schatten nicht mehr so dicht und schwarz in unsern
+Winkel fielen -- er hatte die Kappe abgenommen, und unter dem blanken
+Schädel schien sein verquältes Gesicht noch schreckhafter. Aber schon
+wandten sich die glitzernden Brillengläser wieder mir zu, er straffte
+sich zusammen, und seine Stimme hatte einen höhnischen, scharfen Ton.
+
+»Mit ihr wars nun zu Ende -- aber nicht mit mir. Ich war allein mit der
+Leiche -- aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die
+kein Geheimnis duldete, und ich ... ich hatte das Geheimnis zu hüten ...
+Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der
+besten Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends
+zuvor auf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem
+Bett ... ein fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen
+... niemand im Haus hat gesehen, wann und woher er kam ... man hat sie
+nachts auf einer Sänfte hereingetragen und dann die Türen geschlossen
+... und morgens ist sie tot ... dann erst hat man die Diener gerufen,
+und plötzlich gellt das Haus von Geschrei ... im Nu wissen es die
+Nachbarn, die ganze Stadt ... und nur einer ist da, der das alles
+erklären soll ... ich, der fremde Mensch, der Arzt aus einer entlegenen
+Station ... Eine erfreuliche Situation, nicht wahr? ...
+
+Ich wußte, was mir bevorstand. Glücklicherweise war der Boy bei mir, der
+brave Bursche, der mir jeden Wink von den Augen las -- auch dieses gelbe
+dumpfe Tier verstand, daß hier noch ein Kampf ausgetragen werden müsse.
+Ich hatte ihm nur gesagt: »Die Frau will, daß niemand erfährt, was
+geschehen ist.« Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und
+doch entschlossenen Blick: »_Yes, Sir_,« mehr sagte er nicht. Aber er
+wusch die Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung -- und
+gerade seine Entschlossenheit gab mir die meine wieder.
+
+Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusammengeballte
+Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren
+hat, dann kämpft man um das Letzte wie ein Verzweifelter -- und das
+Letzte war ihr Vermächtnis, das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die
+Leute, erzählte ihnen allen die gleiche erdichtete Geschichte, wie der
+Boy, den sie um den Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf.
+Aber während ich scheinbar ruhig redete, wartete ... wartete ich immer
+auf das Entscheidende ... auf den Totenbeschauer, der erst kommen mußte,
+ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr
+... Es war, vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte
+...
+
+Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte
+ihn rufen lassen -- er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig
+mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich
+gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits
+erfahren hatte. Bei seinem ersten Blick spürte ichs schon: er war mir
+Feind. Aber gerade das straffte meine Kraft.
+
+Im Vorzimmer fragte er schon: »Wann ist Frau ... -- er nannte ihren
+Namen -- gestorben?«
+
+»Um sechs Uhr morgens.«
+
+»Wann sandte sie zu Ihnen?«
+
+»Um elf Uhr abends.«
+
+»Wußten Sie, daß ich ihr Arzt war?«
+
+»Ja, aber es tat Eile not ... und dann ... die Verstorbene hatte
+ausdrücklich mich verlangt. Sie hatte verboten, einen andern Arzt rufen
+zu lassen.«
+
+Er starrte mich an: in seinem bleichen, etwas verfetteten Gesicht flog
+eine Röte hoch, ich spürte, daß er erbittert war. Aber gerade das
+brauchte ich -- alle meine Energien drängten sich zu rascher
+Entscheidung, denn ich spürte, lange hielten es meine Nerven nicht mehr
+aus. Er wollte etwas Feindliches erwidern, dann sagte er lässig: »Wenn
+Sie schon meinen, mich entbehren zu können, so ist es doch meine
+amtliche Pflicht, den Tod zu konstatieren und ... wie er eingetreten
+ist.«
+
+Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Dann trat ich zurück,
+schloß die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch. Überrascht zog er
+die Augenbrauen hoch:
+
+»Was bedeutet das?«
+
+Ich stellte mich ruhig ihm gegenüber:
+
+»Es handelt sich hier nicht darum, die Todesursache festzustellen,
+sondern -- eine andere zu finden. Diese Frau hat mich gerufen, um sie
+nach ... nach den Folgen eines verunglückten Eingriffes zu behandeln ...
+ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihr versprochen, ihre
+Ehre zu retten, und das werde ich tun. Und ich bitte Sie darum, mir zu
+helfen!«
+
+Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstaunen. »Sie wollen doch
+nicht etwa sagen,« stammelte er dann, »daß ich, der Amtsarzt, hier ein
+Verbrechen decken soll?«
+
+»Ja, das will ich, das muß ich wollen.«
+
+»Für Ihr Verbrechen soll ich ...«
+
+»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich diese Frau nicht berührt habe, sonst ...
+sonst stünde ich nicht vor Ihnen, sonst hätte ich längst mit mir Schluß
+gemacht. Sie hat ihr Vergehen -- wenn Sie es so nennen wollen -- gebüßt,
+die Welt braucht davon nichts zu wissen. Und ich werde es nicht dulden,
+daß die Ehre dieser Frau jetzt noch unnötig beschmutzt wird.«
+
+Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehr auf. »Sie werden nicht
+dulden ... so ... nun, Sie sind ja mein Vorgesetzter ... oder glauben es
+wenigstens schon zu sein ... Versuchen Sie nur, mir zu befehlen ... ich
+habe mirs gleich gedacht, da ist Schmutziges im Spiel, wenn man Sie aus
+Ihrem Winkel herruft ... eine saubere Praxis, die Sie da anfangen, ein
+sauberes Probestück ... Aber jetzt werde _ich_ untersuchen, _ich_, und
+Sie können sich darauf verlassen, daß ein Protokoll, unter dem mein Name
+steht, richtig sein wird. Ich werde keine Lüge unterschreiben.«
+
+Ich war ganz ruhig.
+
+»Ja -- das müssen Sie diesmal doch. Denn früher werden Sie das Zimmer
+nicht verlassen.«
+
+Ich griff dabei in die Tasche -- meinen Revolver hatte ich nicht bei
+mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und sah
+ihn an.
+
+»Hören Sie, ich werde Ihnen etwas sagen ... damit es nicht zum Äußersten
+kommt. Mir liegt an meinem Leben nichts ... nichts an dem eines andern
+-- ich bin nun schon einmal soweit ... mir liegt einzig daran, mein
+Versprechen einzulösen, daß die Art dieses Todes geheim bleibt ... Hören
+Sie: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß, wenn Sie das Zertifikat
+unterfertigen, diese Frau sei an ... nun an einer Zufälligkeit
+gestorben, daß ich dann noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien
+verlasse ... daß ich, wenn Sie es verlangen, meinen Revolver nehme und
+mich niederschieße, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sicher sein
+kann, daß niemand ... Sie verstehen: _niemand_ -- mehr nachforschen
+kann. Das wird Ihnen wohl genügen -- das _muß_ Ihnen genügen.«
+
+Es muß etwas Drohendes, etwas Gefährliches in meiner Stimme gewesen
+sein, denn wie ich unwillkürlich nähertrat, wich er zurück mit jenem
+aufgerissenen Entsetzen, wie ... wie eben Menschen vor dem Amokläufer
+flüchten, wenn er rasend hinrennt mit geschwungenem Kris ... Und mit
+einemmal war er anders ... irgendwie geduckt und gelähmt ... seine harte
+Haltung brach ein. Er murmelte mit einem letzten ganz weichen
+Widerstand: »Es wäre das erstemal in meinem Leben, daß ich ein falsches
+Zertifikat unterzeichnete ... immerhin, es wird sich schon eine Form
+finden lassen ... man weiß ja auch, was vorkommt ... Aber ich durfte
+doch nicht so ohne weiteres ...«
+
+»Gewiß durften Sie nicht,« half ich ihm, um ihn zu bestärken -- (>Nur
+rasch! nur rasch!< tickte es mir in den Schläfen) -- »aber jetzt, da Sie
+wissen, daß Sie nur einen Lebenden kränken und einer Toten ein
+Entsetzliches täten, werden Sie doch gewiß nicht zögern.«
+
+Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Minuten war das Attest
+fertig (das dann auch in der Zeitung veröffentlicht wurde und glaubhaft
+eine Herzlähmung schilderte). Dann stand er auf, sah mich an:
+
+»Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?«
+
+»Mein Ehrenwort.«
+
+Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng, wollte sachlich
+erscheinen. »Ich besorge sofort einen Sarg,« sagte er, um seine
+Verlegenheit zu decken. Aber was war das in mir, das mich so ... so
+furchtbar ... so gequält machte -- plötzlich streckte er mir die Hand
+hin und schüttelte sie mit einer aufspringenden Herzlichkeit.
+»Überstehen Sie's gut,« sagte er -- ich wußte nicht, was er meinte. War
+ich krank? War ich ... wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tür, schloß
+auf -- aber das war meine letzte Kraft, die hinter ihm die Tür schloß.
+Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und
+kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen ... so ... so wie
+der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten
+Nerven.«
+
+ * * * * *
+
+Wieder hielt er inne. Irgendwie fröstelte michs: war das erster Schauer
+des Morgenwinds, der jetzt leise sausend über das Schiff lief? Aber das
+gequälte Gesicht -- nun schon halb erhellt vom Widerschein der Frühe --
+spannte sich wieder zusammen:
+
+»Wie lang ich so auf der Matte gelegen hatte, weiß ich nicht. Da rührte
+michs an. Ich fuhr auf. Es war der Boy, der zaghaft mit seiner devoten
+Geste vor mir stand und mir unruhig in den Blick sah.
+
+»Es will jemand herein ... will sie sehen ...«
+
+»Niemand darf herein.«
+
+»Ja ... aber ...«
+
+Seine Augen waren erschreckt. Er wollte etwas sagen und wagte es doch
+nicht. Das treue Tier litt irgendwie eine Qual.
+
+»Wer ist es?«
+
+Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einem Schlag. Und dann sagte
+er -- er nannte keinen Namen ... woher ist in solch einem niedern Wesen
+mit einmal so viel Wissen, wie kommt es, daß in manchen Sekunden ein
+unbeschreibliches Zartgefühl derlei ganz dumpfe Menschen beseelt? ...
+dann sagte er ... ganz, ganz ängstlich ... »_Er_ ist es.«
+
+Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier, ganz Ungeduld
+nach diesem Unbekannten. Denn sehen Sie, wie sonderbar ... inmitten all
+dieser Qual, in diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hast hatte
+ich ganz an >ihn< vergessen ... vergessen, daß da noch ein Mann im
+Spiele war ... der Mann, den diese Frau geliebt, dem sie
+leidenschaftlich das gegeben, was sie mir verweigert ... Vor zwölf, vor
+vierundzwanzig Stunden hätte ich diesen Mann noch gehaßt, ihn noch
+zerfleischen können ... Jetzt ... ich kann, ich kann Ihnen nicht
+schildern, wie es mich jagte, ihn zu sehen ... ihn ... zu lieben, weil
+sie ihn geliebt.
+
+Mit einem Ruck war ich bei der Tür. Ein junger, ganz junger blonder
+Offizier stand dort, sehr linkisch, sehr schmal, sehr blaß. Wie ein Kind
+sah er aus, so ... so rührend jung ... und unsäglich erschütterte michs
+gleich, wie er sich mühte, Mann zu sein, Haltung zu zeigen ... seine
+Erregung zu verbergen ... Ich sah sofort, daß seine Hände zitterten, als
+er zur Mütze fuhr ... Am liebsten hätte ich ihn umarmt ... weil er ganz
+so war, wie ich mirs wünschte, daß der Mann sein sollte, der diese Frau
+besessen ... kein Verführer, kein Hochmütiger ... nein, ein halbes Kind,
+ein reines, zärtliches Wesen, dem sie sich geschenkt.
+
+Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gieriger Blick, mein
+leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine
+Schnurrbärtchen über der Lippe zuckte verräterisch ... dieser junge
+Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, um nicht herauszuschluchzen.
+
+»Verzeihen Sie,« sagte er dann endlich, »ich hätte gerne Frau ... gerne
+noch ... gesehen.«
+
+Unbewußt, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm, dem Fremden, meinen Arm
+um die Schulter, führte ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich
+erstaunt an mit einem unendlich warmen und dankbaren Blick ... irgendein
+Verstehen unserer Gemeinschaft war schon in dieser Sekunde zwischen uns
+beiden ... Wir gingen zu der Toten ... Sie lag da, weiß, in den weißen
+Linnen -- ich spürte, daß meine Nähe ihn noch bedrückte ... so trat ich
+zurück, um ihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit ...
+mit so zuckenden, ziehenden Schritten ... an seinen Schultern sah ichs,
+wie es in ihm wühlte und riß ... er ging so wie ... wie einer, der gegen
+einen ungeheuren Sturm geht ... Und plötzlich brach er vor dem Bett in
+die Knie ... genau so, wie ich hingebrochen war.
+
+Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und führte ihn zu einem Sessel. Er
+schämte sich nicht mehr, sondern schluchzte seine Qual heraus. Ich
+vermochte nichts zu sagen -- nur mit der Hand strich ich ihm unbewußt
+über sein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach meiner Hand ...
+ganz lind und doch ängstlich ... und mit einemmal fühlte ich seinen
+Blick an mir hängen ...
+
+»Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor,« stammelte er, »hat sie selbst Hand
+an sich gelegt?«
+
+»Nein,« sagte ich.
+
+»Und ist ... ich meine ... ist irgend ... irgend jemand schuld an ihrem
+Tode?«
+
+»Nein,« sagte ich wieder, obwohl mirs aufquoll in der Kehle, ihm
+entgegenzuschreien: »Ich! Ich! Ich! ... Und du! ... Wir beide! Und ihr
+Trotz, ihr unseliger Trotz!« Aber ich hielt mich zurück. Ich wiederholte
+noch einmal: »Nein ... niemand hat schuld daran ... es war ein
+Verhängnis!«
+
+»Ich kann es nicht glauben,« stöhnte er, »ich kann es nicht glauben. Sie
+war noch vorgestern auf dem Balle, sie lächelte, sie winkte mir zu. Wie
+ist das möglich, wie konnte das geschehen?«
+
+Ich erzählte eine lange Lüge. Auch ihm verriet ich ihr Geheimnis nicht.
+Wie zwei Brüder sprachen wir zusammen alle diese Tage, gleichsam
+überstrahlt von dem Gefühl, das uns verband ... und das wir einander
+nicht anvertrauten, aber wir spürten einer vom andern, daß unser ganzes
+Leben an dieser Frau hing ... Manchmal drängte sichs mir würgend an die
+Lippen, aber dann biß ich die Zähne zusammen -- nie hat er erfahren, daß
+sie ein Kind von ihm trug ... daß ich das Kind, sein Kind, hätte töten
+sollen, und daß sie es mit sich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch
+sprachen wir nur von ihr in diesen Tagen, während derer ich mich bei ihm
+verbarg ... denn -- das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen -- man
+suchte nach mir ... Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon
+geschlossen war ... er wollte den Befund nicht glauben ... die Leute
+munkelten allerlei ... und er suchte mich ... Aber ich konnte es nicht
+ertragen, ihn zu sehen, ihn, von dem ich wußte, daß sie unter ihm
+gelitten ... ich verbarg mich ... vier Tage ging ich nicht aus dem
+Hause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung ... ihr Geliebter hatte
+mir unter einem falschen Namen einen Schiffsplatz genommen, damit ich
+flüchten könne, ... wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck
+geschlichen, daß niemand mich erkennt ... Alles habe ich zurückgelassen,
+was ich besitze ... mein Haus mit der ganzen Arbeit dieser sieben Jahre,
+mein Hab und Gut, alles steht offen für jeden, der es haben will ... und
+die Herren von der Regierung haben mich wohl schon gestrichen, weil ich
+ohne Urlaub meinen Posten verließ ... Aber ich konnte nicht leben mehr
+in diesem Haus, in dieser Stadt ... in dieser Welt, wo alles mich an sie
+erinnert ... wie ein Dieb bin ich geflohen in der Nacht ... nur ihr zu
+entrinnen ... nur zu vergessen ...
+
+Aber ... wie ich an Bord kam ... nachts ... mitternachts ... mein Freund
+war mit mir ... da ... da ... zogen sie gerade am Kran etwas herauf ...
+rechteckig, schwarz ... ihren Sarg ... hören Sie: ihren Sarg ... sie hat
+mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte ... und ich mußte
+dabeistehen, mich fremd stellen, denn er, ihr Mann, war mit ... er
+begleitet ihn nach England ... vielleicht will er dort eine Autopsie
+machen lassen ... er hat sie an sich gerissen ... jetzt gehört sie
+wieder ihm ... nicht uns mehr, uns ... uns beiden ... Aber ich bin noch
+da ... ich gehe mit bis zur letzten Stunde ... er wird, er darf es nie
+erfahren ... ich werde ihr Geheimnis zu verteidigen wissen gegen jeden
+Versuch ... gegen diesen Schurken, vor dem sie in den Tod gegangen ist
+... Nichts, nichts wird er erfahren ... ihr Geheimnis gehört mir, nur
+mir allein ...
+
+Verstehen Sie jetzt ... verstehen Sie jetzt ... warum ich die Menschen
+nicht sehen kann ... ihr Gelächter nicht hören ... wenn sie flirten und
+sich paaren ... denn da drunten ... drunten im Lagerraum zwischen
+Teeballen und Paranüssen steht der Sarg verstaut ... Ich kann nicht hin,
+der Raum ist versperrt ... aber ich weiß es mit allen meinen Sinnen,
+weiß es in jeder Sekunde ... auch wenn sie hier Walzer spielen und Tango
+... es ist ja dumm, das Meer da schwemmt über Millionen Tote, auf jedem
+Fußbreit Erde, den man tritt, fault eine Leiche ... aber doch, ich kann
+es nicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, wenn sie Maskenbälle
+geben und so geil lachen ... diese Tote, ich spüre sie, und ich weiß,
+was sie von mir will ... ich weiß es, ich habe noch eine Pflicht ... ich
+bin noch nicht zu Ende ... noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet ... sie
+gibt mich noch nicht frei ...«
+
+ * * * * *
+
+Vom Mittelschiff kamen schlurfende Schritte, klatschende Laute: Matrosen
+begannen das Deck zu scheuern. Er fuhr auf wie ertappt: sein zerspanntes
+Gesicht bekam einen ängstlichen Zug. Er stand auf und murmelte: »Ich
+gehe schon ... ich gehe schon.«
+
+Es war eine Qual, ihn anzuschauen: seinen verwüsteten Blick, die
+gedunsenen Augen, rot von Trinken oder Tränen. Er wich meiner
+Anteilnahme aus: ich spürte aus seinem geduckten Wesen Scham, unendliche
+Scham, sich verraten zu haben an mich, an diese Nacht. Unwillkürlich
+sagte ich:
+
+»Darf ich vielleicht nachmittags zu Ihnen in die Kabine kommen ...«
+
+Er sah mich an -- ein höhnischer, harter, zynischer Zug zerrte an seinen
+Lippen, etwas Böses stieß und verkrümmte jedes Wort.
+
+»Aha ... Ihre famose Pflicht, zu helfen ... aha ... Mit der Maxime haben
+Sie mich ja glücklich zum Schwatzen gebracht. Aber nein, mein Herr, ich
+danke. Glauben Sie ja nicht, daß mir jetzt leichter sei, seit ich mir
+die Eingeweide vor Ihnen aufgerissen habe bis zum Kot in meinen Därmen.
+Mein verpfuschtes Leben kann mir keiner mehr zusammenflicken ... ich
+habe eben umsonst der verehrlichen holländischen Regierung gedient ...
+die Pension ist futsch, ich komme als armer Hund nach Europa zurück ...
+ein Hund, der hinter einem Sarg herwinselt ... man läuft nicht lange
+ungestraft Amok, am Ende schlägts einen doch nieder, und ich hoffe, ich
+bin bald am Ende ... Nein, danke, mein Herr, für Ihren gütigen Besuch
+... ich habe schon in der Kabine meine Gefährten ... ein paar gute alte
+Flaschen Whisky, die trösten mich manchmal, und dann meinen Freund von
+damals, an den ich mich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinen
+braven Browning ... der hilft schließlich besser als alles Geschwätz ...
+Bitte, bemühen Sie sich nicht ... das einzige Menschenrecht, das einem
+bleibt, ist doch: zu krepieren wie man will ... und dabei ungeschoren zu
+bleiben von fremder Hilfe.«
+
+Er sah mich noch einmal höhnisch ... ja herausfordernd an, aber ich
+spürte: es war nur Scham, grenzenlose Scham. Dann duckte er die
+Schultern, wandte sich um, ohne zu grüßen, und ging merkwürdig schief
+und schlurfend über das schon helle Verdeck den Kabinen zu. Ich habe ihn
+nicht mehr gesehen. Vergebens suchte ich ihn nachts und die nächste
+Nacht an der gewohnten Stelle. Er blieb verschwunden, und ich hätte an
+einen Traum geglaubt oder an eine phantastische Erscheinung, wäre mir
+nicht inzwischen unter den Passagieren ein anderer aufgefallen mit einem
+Trauerflor um den Arm, ein holländischer Großkaufmann, der, wie man mir
+bestätigte, eben seine Frau an einer Tropenkrankheit verloren hatte. Ich
+sah ihn ernst und gequält abseits von den andern auf und ab gehen, und
+der Gedanke, daß ich um seine geheimste Sorge wußte, gab mir eine
+geheimnisvolle Scheu: ich bog immer zur Seite, wenn er vorüberkam, um
+nicht mit einem Blick zu verraten, daß ich mehr von seinem Schicksal
+wußte als er selbst.
+
+ * * * * *
+
+Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merkwürdige Unfall, dessen
+Deutung ich in der Erzählung des Fremden zu finden glaube. Die meisten
+Passagiere waren abends von Bord gegangen, ich selbst in die Oper und
+dann noch in eines der hellen Cafés an der Via Roma. Als wir mit einem
+Ruderboot zu dem Dampfer zurückkehrten, fiel mir schon auf, daß einige
+Boote mit Fackeln und Azetylenlampen das Schiff suchend umkreisten, und
+oben am dunklen Bord war ein geheimnisvolles Gehen und Kommen von
+Karabinieris und Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen, was geschehen
+sei. Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, daß Auftrag zum
+Schweigen gegeben sei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wieder
+friedfertig und ohne Spur eines Zwischenfalles nach Genua weiterfuhr,
+war nichts an Bord zu erfahren. Erst in den italienischen Zeitungen las
+ich dann, romantisch ausgeschmückt, von jenem angeblichen Unfall im
+Hafen von Neapel. In jener Nacht sollte, so schrieben sie, in unbelebter
+Stunde, um die Passagiere nicht durch den Anblick zu beunruhigen, der
+Sarg einer vornehmen Dame aus den holländischen Kolonien von Bord des
+Schiffes auf ein Boot gebracht werden, und man ließ ihn eben in
+Gegenwart des Gatten die Strickleiter herab, als irgend etwas Schweres
+vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern und dem
+Gatten, die ihn gemeinsam niederhißten, mit sich in die Tiefe riß. Eine
+Zeitung behauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich die Treppe
+hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eine andere beschönigte, die
+Leiter sei von selbst unter dem übergroßen Gewicht gerissen: jedenfalls
+schien die Schiffahrtsgesellschaft alles getan zu haben, um den genauen
+Sachverhalt zu verschleiern. Man rettete nicht ohne Mühe die Träger und
+den Gatten der Verstorbenen mit Booten aus dem Wasser, der Bleisarg aber
+ging sofort in die Tiefe und konnte nicht mehr geborgen werden. Daß
+gleichzeitig in einer andern Notiz kurz erwähnt wurde, es sei die Leiche
+eines etwa vierzigjährigen Mannes im Hafen angeschwemmt worden, schien
+für die Öffentlichkeit in keinem Zusammenhang mit dem romantisch
+reportierten Unfall zu stehen; mir aber war, kaum daß ich die flüchtige
+Zeile gelesen, als starre plötzlich hinter dem papierenen Blatt das
+mondweiße Antlitz mit den glitzernden Brillengläsern mir noch einmal
+gespenstisch entgegen.
+
+
+
+
+ Die Frau und die Landschaft
+
+
+Es war in jenem heißen Sommer, der durch Regennot und Dürre
+verhängnisvolle Mißernte im ganzen Lande verschuldete und noch für lange
+Jahre im Andenken der Bevölkerung gefürchtet blieb. Schon in den Monaten
+Juni und Juli waren nur vereinzelte flüchtige Schauer über die
+dürstenden Felder hingestreift, aber seit der Kalender zum August
+übergeschlagen, fiel überhaupt kein Tropfen mehr, und selbst hier oben,
+in dem Hochtale Tirols, wo ich, wie viele andere, Kühlung zu finden
+gewähnt hatte, glühte die Luft safranfarben von Feuer und Staub.
+Frühmorgens schon starrte die Sonne gelb und stumpf wie das Auge eines
+Fiebernden vom leeren Himmel auf die erloschene Landschaft, und mit den
+steigenden Stunden quoll dann mählich ein weißlicher drückender Dampf
+aus dem messingenen Kessel des Mittags und überschwülte das Tal.
+Irgendwo freilich in der Ferne hoben sich die Dolomiten mächtig auf, und
+Schnee glänzte von ihnen, rein und klar, aber nur das Auge fühlte
+erinnernd diesen Schimmer der Kühle, und es tat weh, sie schmachtend
+anzusehen und an den Wind zu denken, der sie vielleicht zur gleichen
+Stunde rauschend umflog, indes hier im Talkessel eine gierige Wärme
+nachts und tags sich zudrängte und mit tausend Lippen einem die Feuchte
+entsog. Allmählich erstarb in dieser sinkenden Welt welkender Pflanzen,
+hinschmachtenden Laubes und versiegender Bäche auch innen alle lebendige
+Bewegung, müßig und träge wurden die Stunden. Ich, wie die andern,
+verbrachte diese endlosen Tage fast nur mehr im Zimmer, halb entkleidet,
+bei verdunkelten Fenstern, in einem willenlosen Warten auf Veränderung,
+auf Kühlung, in einem stumpfen, machtlosen Träumen von Regen und
+Gewitter. Und bald wurde auch dieser Wunsch welk, ein Brüten, dumpf und
+willenlos wie das der lechzenden Gräser und der schwüle Traum des
+reglosen, dunstumwölkten Waldes.
+
+Aber es wurde nur noch heißer von Tag zu Tag, und der Regen wollte noch
+immer nicht kommen. Von früh bis abends brannte die Sonne nieder, und
+ihr gelber, quälender Blick bekam allmählich etwas von der stumpfen
+Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen. Es war, als ob das ganze Leben
+aufhören wollte, alles stand stille, die Tiere lärmten nicht mehr, von
+weißen Feldern kam keine andere Stimme als der leise singende Ton der
+schwingenden Hitze, das surrende Brodeln der siedenden Welt. Ich hatte
+hinausgehen wollen in den Wald, wo Schatten blau zwischen den Bäumen
+zitterten, um dort zu liegen, um nur diesem gelben, beharrlichen Blick
+der Sonne zu entgehen; aber auch diese wenigen Schritte schon wurden mir
+zu viel. So blieb ich sitzen auf einem Rohrsessel vor dem Eingang des
+Hotels, eine Stunde oder zwei, eingepreßt in den schmalen Schatten, den
+der schirmende Dachrand in den Kies zog. Einmal rückte ich weiter, als
+das dünne Viereck Schatten sich verkürzte und die Sonne schon heran an
+meine Hände kroch, dann blieb ich wieder hingelehnt, stumpf brütend ins
+stumpfe Licht, ohne Gefühl von Zeit, ohne Wunsch, ohne Willen. Die Zeit
+war zerschmolzen in dieser furchtbaren Schwüle, die Stunden zerkocht,
+zergangen in heißer, sinnloser Träumerei. Ich fühlte nichts als den
+brennenden Andrang der Luft außen an meinen Poren und innen den hastigen
+Hammerschlag des fiebrig pochenden Blutes.
+
+Da auf einmal war mir, als ob durch die Natur ein Atem ginge, leise,
+ganz leise, als ob ein heißer, sehnsüchtiger Seufzer sich aufhübe von
+irgendwo. Ich raffte mich empor. War das nicht Wind? Ich hatte schon
+vergessen, wie das war, zu lange hatten die verdorrenden Lungen dies
+Kühle nicht getrunken, und noch fühlte ich ihn nicht bis an mich
+heranziehen, eingepreßt in meinen Winkel Dachschatten; aber die Bäume
+dort drüben am Hang mußten eine fremde Gegenwart geahnt haben, denn mit
+einem Male begannen sie ganz leise zu schwanken, als neigten sie sich
+flüsternd einander zu. Die Schatten zwischen ihnen wurden unruhig. Wie
+ein Lebendiges und Erregtes huschten sie hin und her, und plötzlich hob
+es sich auf, irgendwo fern, ein tiefer, schwingender Ton. Wirklich: Wind
+kam über die Welt, ein Flüstern, ein Wehen und Weben, ein tiefes,
+orgelndes Brausen und jetzt ein stärkerer, mächtiger Stoß. Wie von einer
+jähen Angst getrieben, liefen plötzlich qualmige Wolken von Staub über
+die Straße, alle in gleicher Richtung, die Vögel, die irgendwo im Dunkel
+gelagert hatten, zischten auf einmal schwarz durch die Luft, die Pferde
+schnupperten sich den Schaum von den Nüstern, und fern im Tale blökte
+das Vieh. Irgend etwas Gewaltiges war aufgewacht und mußte nahe sein,
+die Erde wußte es schon, der Wald und die Tiere, und auch über den
+Himmel schob sich jetzt ein leichter Flor von Grau.
+
+Ich zitterte vor Erregung. Mein Blut war von den feinen Stacheln der
+Hitze aufgereizt, meine Nerven knisterten und spannten sich, nie hatte
+ich so wie jetzt die Wollust des Windes geahnt, die selige Lust des
+Gewitters. Und es kam, es zog heran, es schwoll und kündete sich.
+Langsam schob der Wind weiche Knäuel von Wolken herüber, es keuchte und
+schnaubte hinter den Bergen, als rollte jemand eine ungeheure Last.
+Manchmal hielten diese schnaubenden, keuchenden Stöße wie ermüdet wieder
+inne. Dann zitterten sich die Tannen langsam still, als ob sie horchen
+wollten, und mein Herz zitterte mit. Wo überall ich hinblickte, war die
+gleiche Erwartung wie in mir, die Erde hatte ihre Sprünge gedehnt: wie
+kleine, durstige Mäuler waren sie aufgerissen, und so fühlte ich es auch
+am eigenen Leibe, daß Pore an Pore sich auftat und spannte, Kühle zu
+suchen und die kalte, schauernde Lust des Regens. Unwillkürlich
+krampften sich meine Finger, als könnten sie die Wolken fassen und sie
+rascher herreißen in die schmachtende Welt.
+
+Aber schon kamen sie, von unsichtbarer Hand geschoben, träge
+herangedunkelt, runde, wulstige Säcke, und man sah: sie waren schwer und
+schwarz von Regen, denn sie polterten murrend wie feste, wuchtige Dinge,
+wenn sie aneinander stießen, und manchmal fuhr ein leiser Blitz über
+ihre schwarze Fläche wie ein knisterndes Streichholz. Blau flammten sie
+dann auf und gefährlich, und immer dichter drängte es sich heran, immer
+schwärzer wurden sie an ihrer eigenen Fülle. Wie der eiserne Vorhang
+eines Theaters senkte sich allmählich bleierner Himmel nieder und
+nieder. Jetzt war schon der ganze Raum schwarz überspannt,
+zusammengepreßt die warme, verhaltene Luft, und nun setzte noch ein
+letztes Innehalten der Erwartung ein, stumm und grauenhaft. Erwürgt war
+alles von dem schwarzen Gewicht, das sich über die Tiefe senkte, die
+Vögel zirpten nicht mehr, atemlos standen die Bäume, und selbst die
+kleinen Gräser wagten nicht mehr zu zittern; ein metallener Sarg,
+umschloß der Himmel die heiße Welt, in der alles erstarrt war vor
+Erwartung nach dem ersten Blitz. Atemlos stand ich da, die Hände
+ineinandergeklammt, und spannte mich zusammen in einer wundervollen
+süßen Angst, die mich reglos machte. Ich hörte hinter mir die Menschen
+herumeilen, aus dem Walde kamen sie, aus der Tür des Hotels, von allen
+Seiten flüchteten sie, die Dienstmädchen ließen die Rolläden herunter
+und schlossen krachend die Fenster. Alles war plötzlich tätig und
+aufgeregt, rührte sich, bereitete sich, drängte sich. Nur ich stand
+reglos, fiebernd, stumm, denn in mir war alles zusammengepreßt zu dem
+Schrei, den ich schon in der Kehle fühlte, den Schrei der Lust bei dem
+ersten Blitz.
+
+Da hörte ich auf einmal knapp hinter mir einen Seufzer, stark
+aufbrechend aus gequälter Brust und noch mit ihm flehentlich
+verschmolzen das sehnsüchtige Wort: »Wenn es doch nur schon regnen
+wollte!« So wild, so elementar war diese Stimme, war dieser Stoß aus
+einem bedrückten Gefühl, als hätte es die dürstende Erde selbst gesagt
+mit ihren aufgesprungenen Lippen, die gequälte, erdrosselte Landschaft
+unter dem Bleidruck des Himmels. Ich wendete mich um. Hinter mir stand
+ein Mädchen, das offenbar die Worte gesagt, denn ihre Lippen, die
+blassen und fein geschwungenen, waren noch im Lechzen aufgetan, und ihr
+Arm, der sich an der Tür hielt, zitterte leise. Nicht zu mir hatte sie
+gesprochen und zu niemandem. Wie über einen Abgrund bog sie sich in die
+Landschaft hinein, und ihr Blick starrte spiegellos hinaus in das
+Dunkel, das über den Tannen hing. Er war schwarz und leer, dieser Blick,
+starr als eine grundlose Tiefe gegen den tiefen Himmel gewandt. Nur nach
+oben griff seine Gier, griff tief in die geballten Wolken, in das
+überhängende Gewitter, und an mich rührte er nicht. So konnte ich
+ungestört die Fremde betrachten und sah, wie ihre Brust sich hob, wie
+etwas würgend nach oben schütterte, wie jetzt um die Kehle, die
+zartknochig aus dem offenen Kleide sich löste, ein Zittern ging, bis
+endlich auch die Lippen bebten, dürstend sich auftaten und wieder
+sagten: »Wenn es doch nur schon regnen wollte.« Und wieder war es mir
+Seufzer der ganzen verschwülten Welt. Etwas Nachtwandlerisches und
+Traumhaftes war in ihrer statuenhaften Gestalt, in ihrem gelösten Blick.
+Und wie sie so dastand, weiß in ihrem lichten Kleide gegen den
+bleifarbnen Himmel, schien sie mir der Durst, die Erwartung der ganzen
+schmachtenden Natur.
+
+Etwas zischte leise neben mir ins Gras. Etwas pickte hart auf dem
+Gesims. Etwas knirschte leise im heißen Kies. Überall war plötzlich
+dieser leise surrende Ton. Und plötzlich begriff ichs, fühlte ichs, daß
+dies Tropfen waren, die schwer niederfielen, die ersten verdampfenden
+Tropfen, die seligen Boten des großen, rauschenden, kühlenden Regens.
+Oh, es begann! Es hatte begonnen. Eine Vergessenheit, eine selige
+Trunkenheit kam über mich. Ich war wach wie nie. Ich sprang vor und fing
+einen Tropfen in der Hand. Schwer und kalt klatschte er mir an die
+Finger. Ich riß die Mütze ab, stärker die nasse Lust auf Haar und Stirn
+zu fühlen, ich zitterte schon vor Ungeduld, mich ganz umrauschen zu
+lassen vom Regen, ihn an mir zu fühlen, an der warmen knisternden Haut,
+in den offenen Poren, bis tief hinein in das aufgeregte Blut. Noch waren
+sie spärlich, die platschenden Tropfen, aber ich fühlte ihre sinkende
+Fülle schon voraus, ich hörte sie schon strömen und rauschen, die
+aufgetanen Schleusen, ich spürte schon das selige Niederbrechen des
+Himmels über dem Walde, über das Schwüle der verbrennenden Welt.
+
+Aber seltsam: die Tropfen fielen nicht schneller. Man konnte sie zählen.
+Einer, einer, einer, einer, fielen sie nieder, es knisterte, es zischte,
+es sauste leise rechts und links, aber es wollte nicht zusammenklingen
+zur großen rauschenden Musik des Regens. Zaghaft tropfte es herab, und
+statt schneller zu werden, ward der Takt langsam und immer langsamer und
+stand dann plötzlich still. Es war, wie wenn das Ticken eines
+Minutenzeigers in einer Uhr plötzlich aufhört und die Zeit erstarrt.
+Mein Herz, das schon glühte vor Ungeduld, wurde plötzlich kalt. Ich
+wartete, wartete, aber es geschah nichts. Der Himmel blickte schwarz und
+starr nieder mit umdüsterter Stirn, totenstill blieb es minutenlang,
+dann aber schien es, als ob ein leises, höhnisches Leuchten über sein
+Antlitz ginge. Von Westen her hellte sich die Höhe auf, die Wand der
+Wolken löste sich mählich, leise polternd rollten sie weiter. Seichter
+und seichter ward ihre schwarze Unergründlichkeit, und in ohnmächtiger,
+unbefriedigter Enttäuschung lag unter dem erglänzenden Horizont die
+lauschende Landschaft. Wie von Wut lief noch ein leises, letztes Zittern
+durch die Bäume, sie beugten und krümmten sich, dann aber fielen die
+Laubhände, die schon gierig aufgereckt waren, schlaff zurück, wie tot.
+Immer durchsichtiger ward der Wolkenflor, eine böse, gefährliche Helle
+stand über der wehrlosen Welt. Es war nichts geschehen. Das Gewitter
+hatte sich verzogen.
+
+Ich zitterte am ganzen Körper. Wut war es, was ich fühlte, eine sinnlose
+Empörung der Ohnmacht, der Enttäuschung, des Verrats. Ich hätte schreien
+können oder rasen, eine Lust kam mich an, etwas zu zerschlagen, eine
+Lust am Bösen und Gefährlichen, ein sinnloses Bedürfnis nach Rache. Ich
+fühlte in mir die Qual der ganzen verratenen Natur, das Lechzen der
+kleinen Gräser war in mir, die Hitze der Straßen, der Qualm des Waldes,
+die spitze Glut des Kalksteines, der Durst der ganzen betrogenen Welt.
+Meine Nerven brannten wie Drähte: ich fühlte sie zucken von elektrischer
+Spannung weithinaus in die geladene Luft, wie viele feine Flammen
+glühten sie mir unter der gespannten Haut. Alles tat mir weh, alle
+Geräusche hatten Spitzen, alles war wie umzüngelt von kleinen Flammen,
+und der Blick, was immer er faßte, verbrannte sich. Das tiefste Wesen in
+mir war aufgereizt, ich spürte, wie viele Sinne, die sonst stumm und tot
+im dumpfen Hirne schliefen, sich auftaten wie viele kleine Nüstern, und
+mit jeder spürte ich Glut. Ich wußte nicht mehr, was davon meine
+Erregung war, und was die der Welt; die dünne Membran des Fühlens
+zwischen ihr und mir war zerrissen, alles einzig erregte Gemeinschaft
+der Enttäuschung, und wie ich fiebernd hinabstarrte in das Tal, das sich
+allmählich mit Lichtern füllte, spürte ich, daß jedes einzelne kleine
+Licht in mich hineinflimmerte, jeder Stern brannte bis in mein Blut. Es
+war die gleiche maßlose, fiebernde Erregung außen und innen, und in
+einer schmerzhaften Magie empfand ich alles, was um mich schwoll,
+gleichsam in mich gepreßt und dort wachsend und glühend. Mir war, als
+brenne der geheimnisvolle, lebendige Kern, der in alle Vielfalt einzeln
+eingetan ist, aus meinem innersten Wesen, alles spürte ich, in magischer
+Wachheit der Sinne den Zorn jedes einzelnen Blattes, den stumpfen Blick
+des Hundes, der mit gesenktem Schweife jetzt um die Türen schlich, alles
+fühlte ich, und alles, was ich spürte, tat mir weh. Fast körperlich
+begann dieser Brand in mir zu werden, und als ich jetzt mit den Fingern
+nach dem Holz der Tür griff, knisterte es leise unter ihnen wie Zunder,
+brenzlig und trocken.
+
+Der Gong lärmte zur Abendmahlzeit. Tief in mich schlug der kupferne
+Klang hinein, schmerzhaft auch er. Ich wendete mich um. Wo waren die
+Menschen hin, die früher hier in Angst und Erregung vorbeigeeilt? Wo war
+sie, die hier gestanden als lechzende Welt und der ich ganz vergessen in
+den wirren Minuten der Enttäuschung? Alles war verschwunden. Ich stand
+allein in der schweigenden Natur. Noch einmal umgriff ich Höhe und Ferne
+mit dem Blick. Der Himmel war jetzt ganz leer, aber nicht rein. Über den
+Sternen lag ein Schleier, ein grünlich gespannter, und aus dem
+aufsteigenden Mond glitzerte der böse Glanz eines Katzenauges. Fahl war
+alles da oben, höhnisch und gefährlich, tief drunten aber unter dieser
+unsicheren Sphäre dämmerte dunkel die Nacht, phosphoreszierend wie ein
+tropisches Meer und mit dem gequälten wollüstigen Atem einer
+enttäuschten Frau. Oben stand noch hell und höhnisch eine letzte Helle,
+unten müde und lastend eine schwüle Dunkelheit, feindlich war eines dem
+andern, unheimlich stummer Kampf zwischen Himmel und Erde. Ich atmete
+tief und trank nur Erregung. Ich griff ins Gras. Es war trocken wie Holz
+und knisterte blau in meinen Fingern.
+
+Wieder rief der Gong. Widerlich war mir der tote Klang. Ich hatte keinen
+Hunger, kein Verlangen nach Menschen, aber diese einsame Schwüle hier
+draußen war zu fürchterlich. Der ganze schwere Himmel lastete stumm auf
+meiner Brust, und ich fühlte, ich könnte seinen bleiernen Druck nicht
+länger mehr tragen. Ich ging hinein in den Speisesaal. Die Leute saßen
+schon an ihren kleinen Tischen. Sie sprachen leise, aber doch, mir war
+es zu laut. Denn mir ward alles zur Qual, was an meine aufgereizten
+Nerven rührte: das leise Lispeln der Lippen, das Klirren der Bestecke,
+das Rasseln der Teller, jede einzelne Geste, jeder Atem, jeder Blick.
+Alles zuckte in mich hinein und tat mir weh. Ich mußte mich bemeistern,
+um nicht etwas Sinnloses zu tun, denn ich fühlte es an meinem Pulse:
+alle meine Sinne hatten Fieber. Jeden einzelnen dieser Menschen mußte
+ich ansehen, und gegen jeden fühlte ich Haß, als ich sie so friedlich
+dasitzen sah, gefräßig und gemächlich, indessen ich glühte. Irgendein
+Neid überkam mich, daß sie so satt und sicher in sich ruhten, anteillos
+an der Qual einer Welt, fühllos für die stille Raserei, die in der Brust
+der verdurstenden Erde sich regte. Alle griff ich an mit dem Blick, ob
+nicht einer wäre, der sie mitfühlte, aber alle schienen stumpf und
+unbesorgt. Nur Ruhende und Atmende, Gemächliche waren hier, Wache,
+Fühllose, Gesunde, und ich der einzige Kranke, der Einzige im Fieber der
+Welt. Der Kellner brachte mir das Essen. Ich versuchte einen Bissen,
+vermochte aber nicht, ihn hinabzuwürgen. Alles widerstrebte mir, was
+Berührung war. Zu voll war ich von der Schwüle, dem Dunst, dem Brodem
+der leidenden, kranken, zerquälten Natur.
+
+Neben mir rückte ein Sessel. Ich fuhr auf. Jeder Laut streifte jetzt an
+mich wie heißes Eisen. Ich sah hin. Fremde Menschen saßen dort, neue
+Nachbarn, die ich noch nicht kannte. Ein älterer Herr und seine Frau,
+bürgerliche ruhige Leute mit runden gelassenen Augen und kauenden
+Wangen. Aber ihnen gegenüber, halb mit dem Rücken zu mir, ein junges
+Mädchen, ihre Tochter offenbar. Nur den Nacken sah ich, weiß und schmal
+und darüber wie einen Stahlhelm schwarz und fast blau das volle Haar.
+Sie saß reglos da, und an ihrer Starre erkannte ich sie als dieselbe,
+die früher auf der Terrasse lechzend und aufgetan vor dem Regen
+gestanden wie eine weiße, durstende Blume. Ihre kleinen, kränklich
+schmalen Finger spielten unruhig mit dem Besteck, aber doch, ohne daß es
+klirrte; und diese Stille um sie tat mir wohl. Auch sie rührte keinen
+Bissen an, nur einmal griff ihre Hand hastig und gierig nach dem Glas.
+Oh, sie fühlt es auch, das Fieber der Welt, spürte ich beglückt an
+diesem durstigen Griff, und eine freundliche Teilnahme legte meinen
+Blick weich auf ihren Nacken. Einen Menschen, einen einzigen empfand ich
+jetzt, der nicht ganz abgeschieden war von der Natur, der auch mitglühte
+im Brande einer Welt, und ich wollte, daß sie wisse von unserer
+Bruderschaft. Ich hätte ihr zuschreien mögen: »Fühle mich doch! Fühle
+mich doch! Auch ich bin wach wie du, auch ich leide! Fühle mich! Fühle
+mich!« Mit der glühenden Magnetik des Wunsches umfing ich sie. Ich
+starrte in ihren Rücken, umschmeichelte von ferne ihr Haar, bohrte mich
+ein mit dem Blick, ich rief sie mit den Lippen, ich preßte sie an, ich
+starrte und starrte, warf mein ganzes Fieber aus, damit sie es
+schwesterlich fühle. Aber sie wendete sich nicht um. Starr blieb sie,
+eine Statue, sitzen, kühl und fremd. Niemand half mir. Auch sie fühlte
+mich nicht. Auch in ihr war nicht die Welt. Ich brannte allein.
+
+Oh, diese Schwüle außen und innen, ich konnte sie nicht mehr ertragen.
+Der Dunst der warmen Speisen, fett und süßlich, quälte mich, jedes
+Geräusch bohrte sich den Nerven ein. Ich spürte mein Blut wallen und
+wußte mich einer purpurnen Ohnmacht nahe. Alles lechzte in mir nach
+Kühle und Ferne, und dieses Nahsein, das dumpfe, der Menschen erdrückte
+mich. Neben mir war ein Fenster. Ich stieß es auf, weit auf. Und
+wunderbar: dort war es ganz geheimnisvoll wieder, dieses unruhige
+Flackern in meinem Blute, nur aufgelöst in das Unbegrenzte eines
+nächtigen Himmels. Weißgelb flimmerte oben der Mond wie ein entzündetes
+Auge in einem roten Ring von Dunst, und über die Felder schlich
+geisterhaft ein blasser Brodem hin. Fieberhaft zirpten die Grillen; mit
+metallenen Saiten, die schrillten und gellten, schien die Luft
+durchspannt. Dazwischen quäkte manchmal leise und sinnlos ein Unkenruf,
+Hunde schlugen an, heulend und laut; irgendwo in der Ferne brüllten die
+Tiere, und ich entsann mich, daß das Fieber in solchen Nächten den Kühen
+die Milch vergifte. Krank war die Natur, auch dort diese stille Raserei
+der Erbitterung, und ich starrte aus dem Fenster wie in einen Spiegel
+des Gefühls. Mein ganzes Sein bog sich hinaus, meine Schwüle und die der
+Landschaft flossen ineinander in eine stumme, feuchte Umarmung.
+
+Wieder rückten neben mir die Sessel, und wieder schrak ich zusammen. Das
+Diner war zu Ende, die Leute standen lärmend auf: auch meine Nachbarn
+erhoben sich und gingen an mir vorbei. Der Vater zuerst, gemächlich und
+satt, mit freundlichem, lächelndem Blick, dann die Mutter und zuletzt
+die Tochter. Jetzt erst sah ich ihr Gesicht. Es war gelblich bleich, von
+derselben matten, kranken Farbe wie draußen der Mond, die Lippen waren
+noch immer, wie früher, halb geöffnet. Sie ging lautlos und doch nicht
+leicht. Irgend etwas Schlaffes und Mattes war an ihr, das mich seltsam
+gemahnte an das eigene Gefühl. Ich spürte sie näher kommen und war
+gereizt. Etwas in mir wünschte eine Vertraulichkeit mit ihr, sie möchte
+mich anstreifen mit ihrem weißen Kleide, oder daß ich den Duft ihres
+Haares spüren könnte im Vorübergehen. In diesem Augenblick sah sie mich
+an. Starr und schwarz stieß ihr Blick in mich hinein und blieb in mir
+festgehakt, tief und saugend, daß ich nur ihn spürte, ihr helles Gesicht
+darüber entschwand und ich einzig dieses düsternde Dunkel vor mir
+fühlte, in das ich stürzte wie in einen Abgrund. Sie machte noch einen
+Schritt vor, aber der Blick ließ mich nicht los, blieb in mich gebohrt
+wie eine schwarze Lanze, und ich spürte sein Eindringen tiefer und
+tiefer. Nun rührte seine Spitze bis an mein Herz, und es stand still.
+Ein, zwei Augenblicke hielt sie so den Blick an und ich den Atem,
+Sekunden, während derer ich mich machtlos weggerissen fühlte von dem
+schwarzen Magneten dieser Pupille. Dann war sie an mir vorbei. Und
+sofort fühlte ich mein Blut vorstürzen wie aus einer Wunde und erregt
+durch den ganzen Körper gehen.
+
+Was -- was war das? Wie aus einem Tode wachte ich auf. War das mein
+Fieber, das mich so wirr machte, daß ich im flüchtigen Blick einer
+Vorübergehenden gleich ganz mich verlor? Aber mir war gewesen, als hätte
+ich in diesem Anschauen die gleiche stille Raserei gespürt, die
+schmachtende, sinnlose, verdurstende Gier, die sich mir jetzt in allem
+auftat, im Blick des roten Mondes, in den lechzenden Lippen der Erde, in
+der schreienden Qual der Tiere, dieselbe, die in mir funkelte und bebte.
+Oh, wie wirr alles durcheinander ging in dieser phantastischen schwülen
+Nacht, wie alles zergangen war in dies eine Gefühl von Erwartung und
+Ungeduld! War es mein Wahnsinn, war es der der Welt? Ich war erregt und
+wollte Antwort wissen, und so ging ich ihr nach in die Halle. Sie hatte
+sich dort niedergesetzt neben ihre Eltern und lehnte still in einem
+Fauteuil. Unsichtbar war der gefährliche Blick unter den verhangenen
+Lidern. Sie las ein Buch, aber ich glaubte ihr nicht, daß sie lese. Ich
+war gewiß, daß, wenn sie fühlte wie ich, wenn sie litt mit der sinnlosen
+Qual der verschwülten Welt, daß sie nicht rasten könnte im stillen
+Betrachten, daß dies ein Verstecken war, ein Verbergen vor fremder
+Neugier. Ich setzte mich gegenüber und starrte sie an, ich wartete
+fiebernd auf den Blick, der mich bezaubert hatte, ob er nicht
+wiederkommen wolle und mir sein Geheimnis lösen. Aber sie rührte sich
+nicht. Die Hand schlug gleichgültig Blatt um Blatt im Buche, der Blick
+blieb verhangen. Und ich wartete gegenüber, wartete heißer und heißer,
+irgendeine rätselhafte Macht des Willens spannte sich, muskelhaft stark,
+ganz körperlich, diese Verstellung zu zerbrechen. Zwischen all den
+Menschen, die dort gemächlich sprachen, rauchten und Karten spielten,
+hub nun ein stummes Ringen an. Ich spürte, daß sie sich weigerte, daß
+sie es sich versagte, aufzuschauen, aber je mehr sie widerstrebte, desto
+stärker wollte es mein Trotz, und ich war stark, denn in mir war die
+Erwartung der ganzen lechzenden Erde und die dürstende Glut der
+enttäuschten Welt. Und so wie an meine Poren noch immer die feuchte
+Schwüle der Nacht, so drängte sich mein Wille gegen den ihren, und ich
+wußte, sie müßte mir nun bald einen Blick hergeben, sie müßte es.
+Rückwärts im Saale begann jemand Klavier zu spielen. Die Töne perlten
+leise herüber, auf und ab in flüchtigen Skalen, drüben lachte jetzt eine
+Gesellschaft lärmend über irgendeinen albernen Scherz, ich hörte alles,
+fühlte alles, was geschah, ohne aber für eine Minute nachzulassen. Ich
+zählte jetzt laut vor mich hin die Sekunden, während ich an ihren Lidern
+zog und sog, während ich von ferne durch die Hypnose des Willens ihren
+störrisch niedergebeugten Kopf aufheben wollte. Minute auf Minute rollte
+vorüber -- immer perlten die Töne von drüben dazwischen -- und schon
+spürte ich, daß meine Kraft nachließ -- da plötzlich hob sie mit einem
+Ruck sich auf und sah mich an, gerade hin auf mich. Wieder war es der
+gleiche Blick, der nicht endete, ein schwarzes, furchtbares, saugendes
+Nichts, ein Durst, der mich einsog, ohne Widerstand. Ich starrte in
+diese Pupillen hinein wie in die schwarze Höhlung eines photographischen
+Apparates und spürte, daß er zuerst mein Gesicht nach innen zog in das
+fremde Blut hinein und ich wegstürzte von mir; der Boden schwand unter
+meinen Füßen, und ich empfand die ganze Süße des schwindelnden Sturzes.
+Hoch oben über mir hörte ich noch die klingenden Skalen auf und nieder
+rollen, aber schon wußte ich nicht mehr, wo mir dies geschah. Mein Blut
+war weggeströmt, mein Atem stockte. Schon spürte ich, wie es mich
+würgte, diese Minute oder Stunde oder Ewigkeit -- da schlugen ihre Lider
+wieder zu. Ich tauchte auf wie ein Ertrinkender aus dem Wasser,
+frierend, geschüttelt von Fieber und Gefahr.
+
+Ich sah um mich. Mir gegenüber saß unter den Menschen, still über ein
+Buch gebeugt, bloß mehr ein schlankes junges Mädchen, regungslos,
+bildhaft, nur leise unter dem dünnen Gewand wippte das Knie. Auch meine
+Hände zitterten. Ich wußte, daß jetzt dieses wollüstige Spiel von
+Erwartung und Widerstand wieder beginnen sollte, daß ich Minuten
+angespannt fordern mußte, um dann plötzlich wieder so in schwarze
+Flammen getaucht zu werden von einem Blick. Meine Schläfen waren feucht,
+in mir siedete das Blut. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich stand
+auf, ohne mich umzuwenden, und ging hinaus.
+
+Weit war die Nacht vor dem glänzenden Haus. Das Tal schien versunken,
+und der Himmel glänzte feucht und schwarz wie nasses Moos. Auch hier war
+keine Kühlung, noch immer nicht, überall auch hier das gleiche,
+gefährliche Sichgatten von Dürsten und Trunkenheit, das ich im Blute
+spürte. Etwas Ungesundes, Feuchtes, wie die Ausdünstung eines
+Fiebernden, lag über den Feldern, die milchweißen Dunst brauten, ferne
+Feuer zuckten und geisterten durch die schwere Luft, und um den Mond lag
+ein gelber Ring und machte seinen Blick bös. Ich fühlte mich müde wie
+nie. Ein geflochtener Stuhl, noch vom Tag her vergessen, stand da: ich
+warf mich hinein. Die Glieder fielen von mir ab, regungslos streckte ich
+mich hin. Und da, nur nachgebend angeschmiegt an das weiche Rohr,
+empfand ich mit einemmal die Schwüle als wunderbar. Sie quälte nicht
+mehr, sie drängte sich nur an, zärtlich und wollüstig, und ich wehrte
+ihr nicht. Nur die Augen hielt ich geschlossen, um nichts zu sehen, um
+stärker die Natur zu fühlen, das Lebendige, das mich umfing. Wie ein
+Polyp, ein weiches, glattes, saugendes Wesen umdrängte mich jetzt,
+berührte mich mit tausend Lippen die Nacht. Ich lag und fühlte mich
+nachgeben, hingeben an irgend etwas, das mich umfaßte, umschmiegte,
+umringte, das mein Blut trank, und zum erstenmal empfand ich in dieser
+schwülen Umfassung sinnlich wie eine Frau, die sich auflöst in der
+sanften Ekstase der Hingebung. Ein süßes Grauen wars mir, mit einem Male
+widerstandslos zu sein und ganz meinen Leib nur der Welt hinzugeben,
+wunderbar war es, wie dies Unsichtbare meine Haut zärtlich anrührte und
+allmählich unter sie drang, mir die Gelenke lockerer löste, und ich
+wehrte mich nicht gegen dieses Laßwerden der Sinne. Ich ließ mich
+hingleiten in das neue Gefühl, und dunkel, traumhaft empfand ich nur,
+daß dies: die Nacht und jener Blick von früher, die Frau und die
+Landschaft, daß dies eins war, in dem es süß war, verloren zu sein.
+Manchmal war mir, als wäre diese Dunkelheit nur sie, und jene Wärme, die
+meine Glieder rührte, ihr eigener Leib, gelöst in Nacht wie der meine,
+und noch im Traume sie empfindend, schwand ich hin in dieser schwarzen,
+warmen Welle von wollüstiger Verlorenheit.
+
+Irgend etwas schreckte mich auf. Mit allen Sinnen griff ich um mich,
+ohne mich zu finden. Und dann sah ichs, erkannte ichs, daß ich da
+gelehnt hatte mit geschlossenen Augen und in Schlaf gesunken war. Ich
+mußte geschlummert haben, eine Stunde oder Stunden vielleicht, denn das
+Licht in der Halle des Hotels war schon erloschen und alles längst zur
+Ruhe gegangen. Das Haar klebte mir feucht an den Schläfen, wie ein
+heißer Tau schien dieser traumhaft traumlose Schlummer über mich
+gesunken zu sein. Ganz wirr stand ich auf, mich ins Haus zurückzufinden.
+Dumpf war mir zumute, aber diese Wirrnis war auch um mich. Etwas grölte
+in der Ferne, und manchmal funkelte ein Wetterleuchten gefährlich über
+den Himmel hin. Die Luft schmeckte nach Feuer und Funken, es glänzten
+verräterische Blitze hinter den Bergen, und in mir phosphoreszierte
+Erinnerung und Vorgefühl. Ich wäre gern geblieben, mich zu besinnen, den
+geheimnisvollen Zustand genießend aufzulösen: aber die Stunde war spät,
+und ich ging hinein.
+
+Die Halle war schon leer, die Sessel standen noch zufällig durcheinander
+gerückt im fahlen Schein eines einzelnen Lichtes. Gespenstisch war ihre
+unbelebte Leere, und unwillkürlich formte ich in den einen die zarte
+Gestalt des sonderbaren Wesens hinein, das mich mit seinen Blicken so
+verwirrt gemacht. Ihr Blick in der Tiefe meines Wesens war noch
+lebendig. Er rührte sich, und ich spürte, wie er mich aus dem Dunkel
+anglänzte, eine geheimnisvolle Ahnung witterte ihn noch irgendwo wach in
+diesen Wänden, und seine Verheißung irrlichterte mir im Blut. Und so
+schwül war es noch immer! Kaum daß ich die Augen schloß, fühlte ich
+purpurne Funken hinter den Lidern. Noch glänzte in mir der weiße,
+glühende Tag, noch fieberte in mir diese flirrende, feuchte, funkelnde,
+phantastische Nacht!
+
+Aber ich konnte hier im Flur nicht bleiben, es war alles dunkel und
+verlassen. So ging ich die Treppe hinauf und wollte doch nicht.
+Irgendein Widerstand war in mir, den ich nicht zu zähmen wußte. Ich war
+müde, und doch fühlte ich mich zu früh für den Schlaf. Irgendeine
+geheimnisvolle, hellsichtige Witterung verhieß mir noch Abenteuerliches,
+und meine Sinne streckten sich vor, Lebendiges, Warmes zu erspähen. Wie
+mit feinen, gelenkigen Fühlern drang es aus mir in den Treppengang,
+rührte an alle Gemächer, und wie früher hinaus in die Natur, so warf ich
+jetzt mein ganzes Fühlen in das Haus, und ich spürte den Schlaf, das
+gemächliche Atemgehen vieler Menschen darin, das schwere, traumlose
+Wogen ihres dicken schwarzen Blutes, ihre einfältige Ruhe und Stille,
+aber doch auch das magnetische Ziehen irgendeiner Kraft. Ich ahnte
+irgend etwas, das wach war wie ich. War es jener Blick, war es die
+Landschaft, die diesen feinen purpurnen Wahnsinn in mich getan? Ich
+glaubte irgend etwas Weiches durch Wall und Wand zu spüren, eine kleine
+Flamme von Unruhe in mir zitterte und lockte im Blut und brannte nicht
+aus. Widerwillig ging ich die Treppe hinauf und blieb doch immer stehen
+auf jeder Stufe und horchte aus mir heraus; nicht mit dem Ohr nur,
+sondern mit allen Sinnen. Nichts wäre mir wunderlich gewesen, alles in
+mir lauerte noch auf ein Unerhörtes, Seltsames, denn ich wußte, die
+Nacht konnte nicht enden ohne ein Wunderbares, diese Schwüle nicht enden
+ohne den Blitz. Noch einmal war ich, wie ich da horchend auf dem
+Treppengeländer stand, die ganze Welt draußen, die sich reckte in ihrer
+Ohnmacht und nach dem Gewitter schrie. Aber nichts rührte sich. Nur
+leiser Atem zog durch das windstille Haus. Müde und enttäuscht ging ich
+die letzten Stufen hinauf, und mir graute vor meinem einsamen Zimmer wie
+vor einem Sarg.
+
+Die Klinke schimmerte unsicher aus dem Dunkel, feucht und warm zu
+fassen. Ich öffnete die Tür. Rückwärts stand das Fenster offen und tat
+ein schwarzes Viereck von Nacht auf, gedrängte Tannenwipfel drüben vom
+Wald und dazwischen ein Stück des verwölkten Himmels. Dunkel war alles
+außen und innen, die Welt und das Zimmer, nur -- seltsam und
+unerklärlich -- am Fensterrahmen glänzte etwas Schmales, Aufrechtes wie
+ein verlorener Streifen Mondschein. Ich trat verwundert näher, zu sehen,
+was da so hell schimmerte in mondverhangener Nacht. Ich trat näher, und
+da regte sichs. Ich erstaunte: aber doch, ich erschrak nicht, denn etwas
+war in dieser Nacht in mir wunderlich dem Phantastischesten bereit,
+alles schon vorher gedacht und traumbewußt. Keine Begegnung wäre mir
+sonderbar gewesen und diese am wenigsten, denn wirklich: sie war es, die
+dort stand, sie, an die ich unbewußt gedacht, bei jeder Stufe, bei jedem
+Schritt in dem schlafenden Haus, und deren Wachheit meine aufgefunkelten
+Sinne durch Diele und Tür gespürt. Nur als einen Schimmer sah ich ihr
+Gesicht, und wie ein Dunst lag um sie das weiße Nachtgewand. Sie lehnte
+am Fenster, und wie sie dastand, ihr Wesen hinausgewandt in die
+Landschaft, von dem schimmernden Spiegel der Tiefe geheimnisvoll
+angezogen in ihr Schicksal, schien sie märchenhaft, Ophelia über dem
+Teiche.
+
+Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie
+erreicht haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich
+wußte nicht, ob sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn
+nichts Jähes war in ihrer Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand.
+Alles war ganz still um uns. An der Wand tickte eine kleine Uhr. Ganz
+still blieb es, und dann sagte sie plötzlich leise und unvermutet: »Ich
+fürchte mich so.«
+
+Zu wem sprach sie? Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie
+aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton,
+der heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich
+ihr Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich
+nicht verwundert, nicht verwirrt. Ich trat auf sie zu, sie zu beruhigen
+und faßte ihre Hand. Wie Zunder fühlte sie sich an, heiß und trocken,
+und der Griff der Finger zerbröckelte weich in meiner Umfassung. Lautlos
+ließ sie mir die Hand. Alles an ihr war schlaff, wehrlos, abgestorben.
+Und nur von den Lippen flüsterte es nochmals wie aus einer Ferne: »Ich
+fürchte mich so! Ich fürchte mich so.« Und dann in einem Seufzer
+hinsterbend wie aus einem Ersticken: »Ach, wie schwül es ist!« Das klang
+von ferne und war doch leise geflüstert wie ein Geheimnis zwischen uns
+beiden. Aber ich fühlte dennoch: sie sprach nicht zu mir.
+
+Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags
+vor dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie
+gab nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen
+ihre Schultern gegen mich. Nun hatte ich sie ganz nahe an mir, daß ich
+die Schwüle ihrer Haut atmen konnte und den feuchten Duft ihres Haares.
+Ich bewegte mich nicht, und sie blieb stumm. Seltsam war all dies, und
+meine Neugier begann zu funkeln. Allmählich wuchs meine Ungeduld. Ich
+rührte mit meinen Lippen an ihr Haar -- sie wehrte ihnen nicht. Dann
+nahm ich ihre Lippen. Sie waren trocken und heiß, und als ich sie küßte,
+taten sie sich plötzlich auf, um von den meinen zu trinken, aber nicht
+dürstend und leidenschaftlich, sondern mit dem stillen, schlaffen,
+begehrlichen Saugen eines Kindes. Eine Verschmachtende, so fühlte ich
+sie, und so wie ihre Lippen sog sich ihr schlanker, durch das dünne
+Gewand warm wogender Körper mir ganz so an, wie früher draußen die
+Nacht, ohne Kraft, aber voll einer stillen, trunkenen Gier. Und da, wie
+ich sie hielt -- meine Sinne funkelten noch grell durcheinander --
+spürte ich die warme feuchte Erde an mir, wie sie heute dalag, dürstend
+nach dem Schauer der Entspannung, die heiße, machtlose, glühende
+Landschaft. Ich küßte und küßte sie und empfand, als genieße ich die
+große, schwüle, harrende Welt in ihr, als wäre diese Wärme, die von
+ihren Wangen glühte, der Brodem der Felder, als atmete von ihren
+weichen, warmen Brüsten das schauernde Land.
+
+Doch da, wie meine wandernden Lippen zu ihren Lidern emporwollten, zu
+den Augen, deren schwarze Flammen ich so schauernd gefühlt, da ich mich
+hob, ihr Gesicht zu schauen und im Anschauen stärker zu genießen, sah
+ich überrascht, daß ihre Lider fest geschlossen waren. Eine griechische
+Maske aus Stein, augenlos, ohnmächtig, lag sie da, Ophelia nun, die
+tote, auf den Wassern treibend, bleich das fühllose Antlitz gehoben aus
+der dunklen Flut. Ich erschrak. Zum erstenmal fühlte ich Wirklichkeit in
+dem phantastischen Begeben. Schaudernd überfiel mich die Erkenntnis, daß
+ich da eine Unbewußte nahm, eine Trunkene, eine Kranke, eine
+Schlafwandlerin ihrer Sinne in den Armen hielt, die mir nur die Schwüle
+der Nacht hergetrieben wie ein roter, gefährlicher Mond, ein Wesen, das
+nicht wußte, was es tat, das mich vielleicht nicht wollte. Ich erschrak,
+und sie ward mir im Arme schwer. Leise wollte ich die Willenlose
+hingleiten lassen auf den Sessel, auf das Bett, um nicht aus einem
+Taumel Lust zu stehlen, nicht etwas zu nehmen, was sie vielleicht selbst
+nicht wollte, sondern nur jener Dämon in ihr, der Herr ihres Blutes war.
+Aber kaum fühlte sie, daß ich nachließ, begann sie leise zu stöhnen:
+»Laß mich nicht! Laß mich nicht!« flehte sie, und heißer sogen ihre
+Lippen, drängte ihr Körper sich an. Schmerzhaft war ihr Gesicht mit den
+verschlossenen Augen gespannt, und schauernd spürte ich, daß sie wach
+werden wollte und nicht konnte, daß ihre trunkenen Sinne aus dem
+Gefängnis dieser Umnachtung schrieen und wissend werden wollten. Aber
+gerade dies, daß unter dieser bleiernen Maske von Schlaf etwas rang, das
+aus seiner Bezauberung wollte, war gefährliche Lockung für mich, sie zu
+erwecken. Meine Nerven brannten vor Ungeduld, sie wach, sie sprechend,
+sie als wirkliches Wesen zu sehen, nicht bloß als Traumwandlerin, und um
+jeden Preis wollte ich aus ihrem dumpf genießenden Körper diese Wachheit
+zwingen. Ich riß sie an mich, ich schüttelte sie, ich klemmte die Zähne
+in ihre Lippen und meine Finger in ihre Arme, damit sie endlich die
+Augen aufschlüge und nun besonnen täte, was hier nur dumpf ein Trieb in
+ihr genoß. Aber sie bog sich nur und stöhnte unter der schmerzhaften
+Umklammerung. »Mehr! Mehr!« stammelte sie mit einer Inbrunst, mit einer
+sinnlosen Inbrunst, die mich erregte und selbst sinnlos machte. Ich
+spürte, daß das Wache bereits nahe in ihr war, daß es aufbrechen wollte
+unter den geschlossenen Lidern, denn sie zuckten schon unruhig. Näher
+faßte ich sie, tiefer grub ich mich in sie ein, und plötzlich fühlte
+ich, wie eine Träne die Wange hinabrollte, die ich salzig trank.
+Furchtbar wogte es, je mehr ich sie preßte, in ihrer Brust, sie stöhnte,
+ihre Glieder krampften sich, als wollten sie etwas Ungeheures sprengen,
+einen Reif, der sie mit Schlaf umschloß, und plötzlich -- wie ein Blitz
+war es durch die gewitternde Welt -- brach es in ihr entzwei. Mit
+einemmal ward sie wieder schweres, lastendes Gewicht in meinen Armen,
+ihre Lippen ließen mich, die Hände sanken, und wie ich sie zurücklehnte
+auf das Bett, blieb sie liegen gleich einer Toten. Ich erschrak.
+Unwillkürlich fühlte ich sie an und tastete ihre Arme und ihre Wangen.
+Sie waren ganz kalt, erfroren, steinern. Nur an den Schläfen oben tickte
+leise in zitternden Schlägen das Blut. Marmor, eine Statue, lag sie da,
+feucht die Wangen von Tränen, den Atem leise spielend um die gespannten
+Nüstern. Manchmal überrann sie noch leise ein Zucken, eine verebbende
+Welle des erregten Blutes, doch die Brust wogte immer leiser und leiser.
+Immer mehr schien sie Bild zu werden. Immer menschlicher und kindlicher,
+immer heller, entspannter wurden ihre Züge. Der Krampf war entflogen.
+Sie schlummerte. Sie schlief.
+
+Ich blieb sitzen am Bettrand, zitternd über sie gebeugt. Ein friedliches
+Kind lag sie da, die Augen geschlossen und den Mund leise lächelnd,
+belebt von innerem Traum. Ganz nahe beugte ich mich herab, daß ich jede
+Linie ihres Antlitzes einzeln sah und den Hauch ihres Atems an der Wange
+fühlte, und von je näher ich auf sie blickte, desto ferner ward sie mir
+und geheimnisvoller. Denn wo war sie jetzt mit ihren Sinnen, die da
+steinern lag, hergetrieben von der heißen Strömung einer schwülen Nacht,
+zu mir, dem Fremden, und nun wie tot gespült an den Strand? Wer war es,
+die hier an meinen Händen lag, wo kam sie her, wem gehörte sie zu? Ich
+wußte nichts von ihr und fühlte nur immer, daß nichts mich ihr verband.
+Ich blickte sie an, einsame Minuten, während nur die Uhr eilfertig von
+oben tickte, und suchte in ihrem sprachlosen Antlitz zu lesen, und doch
+ward nichts von ihr vertraut. Ich hatte Lust, sie aufzuwecken aus diesem
+fremden Schlaf hier in meiner Nähe, in meinem Zimmer, hart an meinem
+Leben, und hatte doch gleichzeitig Furcht vor dem Erwachen, vor dem
+ersten Blick ihrer wachen Sinne. So saß ich da, stumm, eine Stunde
+vielleicht oder zwei über den Schlaf dieses fremden Wesens gebeugt, und
+allmählich ward mirs, als sei es keine Frau mehr, kein Mensch, der hier
+abenteuerlich sich mir genaht, sondern die Nacht selbst, das Geheimnis
+der lechzenden, gequälten Natur, das sich mir aufgetan. Mir war, als
+läge hier unter meinen Händen die ganze heiße Welt mit ihren
+entschwülten Sinnen, als hätte sich die Erde aufgebäumt in ihrer Qual
+und sie als Boten gesandt aus dieser seltsamen, phantastischen Nacht.
+
+Etwas klirrte hinter mir. Ich fuhr auf wie ein Verbrecher. Nochmals
+klirrte das Fenster, als rüttelte eine riesige Faust daran. Ich sprang
+auf. Vor dem Fenster stand ein Fremdes: eine verwandelte Nacht, neu und
+gefährlich, schwarzfunkelnd und voll wilder Regsamkeit. Ein Sausen war
+dort, ein furchtbares Rauschen, und schon baute sichs auf zum schwarzen
+Turm des Himmels, schon warf sichs mir entgegen aus der Nacht, kalt,
+feucht und mit wildem Stoß: der Wind. Aus dem Dunkel sprang er, gewaltig
+und stark, seine Fäuste rissen an den Fenstern, hämmerten gegen das
+Haus. Wie ein furchtbarer Schlund war das Finstere aufgetan, Wolken
+fuhren heran und bauten schwarze Wände in rasender Eile empor, und etwas
+sauste gewalttätig zwischen Himmel und Welt. Weggerissen war die
+beharrliche Schwüle von dieser wilden Strömung, alles flutete, dehnte,
+regte sich, eine rasende Flucht war von einem Ende zum andern des
+Himmels, und die Bäume, die festgewurzelten in der Erde, stöhnten unter
+der unsichtbaren, sausenden, pfeifenden Peitsche des Sturmes. Und
+plötzlich riß dies weiß entzwei: ein Blitz, den Himmel spaltend bis zur
+Erde hinab. Und hinter ihm knatterte der Donner, als krachte das ganze
+Gewölk in die Tiefe. Hinter mir rührte sichs. Sie war aufgefahren. Der
+Blitz hatte den Schlaf von ihren Augen gerissen. Verwirrt starrte sie um
+sich. »Was ists,« sagte sie, »wo bin ich?« Und ganz anders war die
+Stimme als vordem. Angst bebte noch darin, aber der Ton klang jetzt
+klar, war scharf und rein wie die neugegorene Luft. Wieder riß ein Blitz
+den Rahmen der Landschaft auf: im Flug sah ich den erhellten Umriß der
+Tannen, geschüttelt vom Sturm, die Wolken, die wie rasende Tiere über
+den Himmel liefen, das Zimmer kalkweiß erhellt und weißer als alles ihr
+blasses Gesicht. Sie sprang empor. Ihre Bewegungen waren mit einemmal
+frei, wie ich sie nie an ihr gesehen. Sie starrte mich an in der
+Dunkelheit. Ich spürte ihren Blick schwärzer als die Nacht. »Wer sind
+Sie ... Wo bin ich?« stammelte sie und raffte erschreckt das
+aufgesprengte Gewand über der Brust zusammen. Ich trat näher, sie zu
+beruhigen, aber sie wich aus. »Was wollen Sie von mir?« schrie sie mit
+voller Kraft, da ich ihr nahe kam. Ich wollte ein Wort suchen, um sie zu
+beruhigen, sie anzusprechen, aber da merkte ich erst, daß ich ihren
+Namen nicht kannte. Wieder warf ein Blitz Licht über das Zimmer. Wie mit
+Phosphor bestrichen, blendeten kalkweiß die Wände, weiß stand sie vor
+mir, die Arme im Schrecken gegen mich gestemmt, und in ihrem nun wachen
+Blick war grenzenloser Haß. Vergebens wollte ich im Dunkel, das mit dem
+Donner auf uns niederfiel, sie fassen, beruhigen, ihr etwas erklären,
+aber sie riß sich los, stieß die Türe auf, die ein neuer Blitz ihr wies,
+und stürzte hinaus. Und mit der Tür, die zufiel, krachte der Donner
+nieder, als seien alle Himmel auf die Erde gefallen.
+
+Und dann rauschte es, Bäche stürzten von unendlicher Höhe wie
+Wasserfälle, und der Sturm schwenkte sie als nasse Taue prasselnd hin
+und her. Manchmal schnellte er Büschel eiskalten Wassers und süßer,
+gewürzter Luft zum Fensterrahmen herein, wo ich schauend stand, bis das
+Haar mir naß war und ich troff von den kalten Schauern. Aber ich war
+selig, das reine Element zu fühlen, mir war, als löste nun auch meine
+Schwüle sich in den Blitzen los, und ich hätte schreien mögen vor Lust.
+Alles vergaß ich in dem ekstatischen Gefühl, wieder atmen zu können und
+frisch zu sein, und ich sog diese Kühle in mich wie die Erde, wie das
+Land: ich fühlte den seligen Schauer des Durchrütteltseins wie die
+Bäume, die sich zischend schwangen unter der nassen Rute des Regens.
+Dämonisch schön war der wollüstige Kampf des Himmels mit der Erde, eine
+gigantische Brautnacht, deren Lust ich mitfühlend genoß. Mit Blitzen
+griff der Himmel herab, mit Donner stürzte er auf die Erbebende nieder,
+und es war in diesem stöhnenden Dunkel ein rasendes Ineinandersinken von
+Höhe und Tiefe, wie von Geschlecht zu Geschlecht. Die Bäume stöhnten vor
+Wollust, und mit immer glühenderen Blitzen flocht sich die Ferne
+zusammen, man sah die heißen Adern des Himmels offen stehen, sie
+sprühten sich aus und mengten sich mit den nassen Rinnsalen der Wege.
+Alles brach auseinander und stürzte zusammen, Nacht und Welt -- ein
+wunderbarer neuer Atem, in den sich der Duft der Felder vermengte mit
+dem feurigen Odem des Himmels, drang kühl in mich ein. Drei Wochen
+zurückgehaltener Glut rasten sich in diesem Kampf aus, und auch in mir
+fühlte ich die Entspannung. Es war mir, als rauschte der Regen in meine
+Poren hinein, als durchsause reinigend der Wind meine Brust, und ich
+fühlte mich und mein Erleben nicht mehr einzeln und beseelt, ich war nur
+Welt, Orkan, Schauer, Wesen und Nacht im Überschwang der Natur. Und
+dann, als alles mählich stiller war, die Blitze bloß blau und
+ungefährlich den Horizont umschweiften, der Donner nur mehr väterlich
+mahnend grollte und das Rauschen des Regens rhythmisch ward im
+ermattenden Wind, da kam auch mich ein Leiserwerden und Müdigkeit an.
+Wie Musik fühlte ich meine schwingenden Nerven erklingen, und sanfte
+Gelöstheit sank in meine Glieder. Oh, schlafen jetzt mit der Natur und
+dann aufwachen mit ihr! Ich warf die Kleider ab und mich ins Bett. Noch
+waren weiche, fremde Formen darin. Ich spürte sie dumpf, das seltsame
+Abenteuer wollte sich noch einmal besinnen, aber ich verstand es nicht
+mehr. Der Regen draußen rauschte und rauschte und wusch mir meine
+Gedanken weg. Ich fühlte alles nur mehr als Traum. Immer wollte ich noch
+etwas zurückdenken von dem, was mir geschehen war, aber der Regen
+rauschte und rauschte, eine wunderbare Wiege war die sanfte, klingende
+Nacht, und ich sank in sie hinein, einschlummernd in ihrem Schlummer.
+
+Am nächsten Morgen, als ich ans Fenster trat, sah ich eine verwandelte
+Welt. Klar, mit festen Umrissen, heiter lag das Land in sicherem,
+sonnigem Glanz, und hoch über ihm, ein leuchtender Spiegel dieser
+Stille, wölbte der Horizont sich blau und fern. Klar waren die Grenzen
+gezogen, unendlich fern stand der Himmel, der gestern sich tief hinab in
+die Felder gewühlt und sie fruchtbar gemacht. Jetzt aber war er fern,
+weltenweit und ohne Zusammenhang, nirgends rührte er sie mehr an, die
+duftende, atmende, gestillte Erde, sein Weib. Ein blauer Abgrund
+schimmerte kühl zwischen ihm und der Tiefe, wunschlos blickten sie
+einander an und fremd, der Himmel und die Landschaft.
+
+Ich ging hinab in den Saal. Die Menschen waren schon beisammen. Anders
+war auch ihr Wesen als in diesen entsetzlichen Wochen der Schwüle. Alles
+regte und bewegte sich. Ihr Lachen klang hell, ihre Stimmen melodisch,
+metallen, die Dumpfheit war entflogen, die sie behinderte, das schwüle
+Band gesunken, das sie umflocht. Ich setzte mich zwischen sie, ganz ohne
+Feindlichkeit, und irgendeine Neugier suchte nun auch die Andere, deren
+Bild mir der Schlaf fast entwunden. Und wirklich, zwischen Vater und
+Mutter am Nebentisch saß sie dort, die ich suchte. Sie war heiter, ihre
+Schultern leicht, und ich hörte sie lachen, klingend und unbesorgt.
+Neugierig umfaßte ich sie mit dem Blick. Sie bemerkte mich nicht. Sie
+erzählte irgend etwas, das sie froh machte, und zwischen die Worte
+perlte ein kindliches Lachen hinein. Endlich sah sie gelegentlich auch
+zu mir hinüber, und bei dem flüchtigen Anstreifen stockte unwillkürlich
+ihr Lachen. Sie sah mich schärfer an. Etwas schien sie zu befremden, die
+Brauen schoben sich hoch, streng und gespannt umfragte mich ihr Auge,
+und allmählich bekam ihr Gesicht einen angestrengten, gequälten Zug, als
+ob sie sich durchaus auf etwas besinnen wollte und es nicht vermöchte.
+Ich blieb erwartungsvoll mit ihr Blick in Blick, ob nicht ein Zeichen
+der Erregung oder der Beschämung mich grüßen würde, aber schon sah sie
+wieder weg. Nach einer Minute kam ihr Blick noch einmal, um sich zu
+vergewissern, zurück. Noch einmal prüfte er mein Gesicht. Eine Sekunde
+nur, eine lange gespannte Sekunde, fühlte ich seine harte, stechende,
+metallene Sonde tief in mich dringen, doch dann ließ ihr Auge mich
+beruhigt los, und an der unbefangenen Helle ihres Blickes, der leichten,
+fast frohen Wendung ihres Kopfes spürte ich, daß sie wach nichts mehr
+von mir wußte, daß unsere Gemeinschaft versunken war mit der magischen
+Dunkelheit. Fremd und weit waren wir wieder einander wie Himmel und
+Erde. Sie sprach zu ihren Eltern, wiegte unbesorgt die schlanken,
+jungfräulichen Schultern, und heiter glänzten im Lächeln die Zähne unter
+den schmalen Lippen, von denen ich doch noch vor Stunden den Durst und
+die Schwüle einer ganzen Welt getrunken.
+
+
+
+
+ Phantastische Nacht
+
+
+Die nachfolgenden Aufzeichnungen fanden sich als versiegeltes Paket im
+Schreibtisch des Barons Friedrich Michael von R..., nachdem er im Herbst
+1914 als österreichischer Reserveoberleutnant bei einem Dragonerregiment
+in der Schlacht bei Rawaruska gefallen war. Da die Familie nach der
+Titelüberschrift und bloß flüchtigem Einblick in diesen Blättern nur
+eine literarische Arbeit ihres Verwandten vermutete, übergaben sie mir
+die Aufzeichnungen zur Prüfung und stellten mir ihre Veröffentlichung
+anheim. Ich persönlich halte diese Blätter nun durchaus nicht für eine
+erfundene Erzählung, sondern für ein wirkliches, in allen Einzelheiten
+tatsächliches Erlebnis des Gefallenen und veröffentliche unter
+Unterdrückung des Namens seine seelische Selbstenthüllung ohne jede
+Änderung und Beifügung.
+
+ * * * * *
+
+Heute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte das
+Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, um die
+ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal geordnet zu
+überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich einen
+unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer
+darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbarkeit
+der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte
+künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen
+Dingen, und abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im
+Theresianum habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich weiß
+zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare Technik gibt,
+um die Aufeinanderfolge von äußern Dingen und ihre gleichzeitige innere
+Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob ich es vermag, dem Sinn immer
+das rechte Wort, dem Wort den rechten Sinn zu geben und so jene Balance
+zu gewinnen, die ich von je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt
+spürte. Aber ich schreibe diese Zeilen ja nur für mich, und sie sind
+keineswegs bestimmt, etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag,
+andern verständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgendeinem
+Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerzhaft
+quellender Gärung bewegt, in einem gewissen Sinne endlich einmal fertig
+zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und von allen Seiten zu
+umfassen.
+
+Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, eben aus
+jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht verständlich
+machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von einer so zufälligen
+Angelegenheit dermaßen erschüttert und umgewühlt worden zu sein. Denn
+das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Erlebnis. Aber wie ich dies
+Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für
+einen Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht
+zu wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit
+sich an das einfachste Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein
+»kleines« nenne, so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinn, im
+Gegensatz zu den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze
+Völker und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im
+zeitlichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum umspannt
+als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies -- im allgemeinen Sinn
+also kleine, unbedeutsame und unwichtige -- Erlebnis so ungeheuer viel,
+daß ich heute -- vier Monate nach jener phantastischen Nacht -- noch
+davon glühe und alle meine geistigen Kräfte anspannen muß, um es in
+meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich wiederhole ich mir alle
+seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen der Drehpunkt meiner
+ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue und rede, ist unbewußt von
+ihm bestimmt, meine Gedanken beschäftigen sich einzig damit, sein
+plötzliches Geschehen immer und immer wieder zu wiederholen und durch
+dieses Wiederholen mir als Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch
+mit einemmal, was ich vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte,
+bewußt noch nicht ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt
+hinschreibe, um es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu
+haben, es noch einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig
+zu erfassen. Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich
+wollte damit fertig werden, indem ich es niederschreibe, im Gegenteil,
+ich will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich
+warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu können. Oh,
+ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes schwülen Nachmittags,
+jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich brauche kein Merkzeichen,
+keine Meilensteine, um in der Erinnerung den Weg jener Stunden Schritt
+für Schritt zurückzugehen: wie ein Traumwandler finde ich jederzeit
+mitten im Tage, mitten in der Nacht in seine Sphäre zurück, und jede
+Einzelheit sehe ich darin mit jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz
+kennt und nicht das weiche Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das
+Papier die Umrisse jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft
+ergrünten Landschaft hinzeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz
+lind das weiche staubige Qualmen der Kastanienblüten; wenn ich also noch
+einmal diese Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie
+zu verlieren, sondern aus Freude, sie wiederzufinden. Und wenn ich jetzt
+in der genauen Aufeinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht
+darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen,
+denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine
+Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich, und ich
+muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein farbiger
+Rausch, ineinanderstürzen. Noch immer erlebe ich mit leidenschaftlicher
+Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, da ich mir
+mittags einen Fiaker nahm ...
+
+Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder werde
+ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines einzelnen
+Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhange etwas
+erzählen soll, merke ich erst, wie schwer es ist, jenes Gleitende, das
+doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zu fassen. Eben
+habe ich »ich« hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 1913 mir
+mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon eine
+Undeutlichkeit, denn jenes »Ich« von damals, von jenem 7. Juni, bin ich
+längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem vergangen sind,
+obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen »Ich« wohne und an seinem
+Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand schreibe. Von
+diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch jenes Erlebnis ganz
+abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd und kühl, und kann
+ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen Kameraden, einen Freund,
+von dem ich vieles und Wesentliches weiß, der ich aber doch selbst
+durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über ihn sprechen, ihn tadeln oder
+verurteilen, ohne überhaupt zu empfinden, daß er mir einst zugehört hat.
+
+Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in Wenigem äußerlich
+und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die man
+besonders bei uns in Wien die »gute Gesellschaft« ohne besonderen Stolz,
+sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. Ich ging in
+das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh gestorben und
+hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen hinterlassen, das
+sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den Gedanken an Erwerb
+und Karriere gänzlich mir zu erübrigen. So wurde mir unvermutet eine
+Entscheidung abgenommen, die mich damals sehr beunruhigte. Ich hatte
+nämlich gerade meine Universitätsstudien vollendet und stand vor der
+Wahl meines zukünftigen Berufes, der wahrscheinlich dank unserer
+Familienbeziehungen und meiner schon früh vortretenden Neigung zu einer
+ruhig ansteigenden und kontemplativen Existenz auf den Staatsdienst
+gefallen wäre, als dies elterliche Vermögen an mich als einzigen Erben
+fiel und mir eine plötzliche arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte,
+selbst im Rahmen weitgespannter und sogar luxuriöser Wünsche. Ehrgeiz
+hatte mich nie bedrängt, so beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar
+Jahre zuzusehen und zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde,
+mir selbst einen Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem
+Zuschauen und Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte,
+erreichte ich alles im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und
+wollüstige Stadt Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das
+nichtstuerische Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu
+künstlerischen Vollendung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich
+die Absicht einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle
+Befriedigung eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu
+noch ehrgeizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des
+Spiels, der Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und
+Ausflüge, und bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit
+wissender Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte
+seltene Gläser, weniger aus einer inneren Leidenschaft als aus der
+Freude, innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und
+Kenntnis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besonderen
+Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildern in der Art des
+Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen zu
+erstehen voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen Spannung
+war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit Geschmack, fehlte
+selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer Maler. Bei Frauen
+mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte ich mit dem geheimen
+sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere Unbeschäftigtkeit deutet,
+mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare Stunden des Erlebens
+aufgehäuft, und hier allmählich vom bloßen Genießer mich zum wissenden
+Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel erlebt, was mir angenehm den
+Tag füllte und meine Existenz mich als eine reiche empfinden ließ, und
+immer mehr begann ich diese laue, wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig
+belebten und doch nie erschütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue
+Wünsche schon, denn ganz geringe Dinge vermochten sich schon in der
+windstillen Luft meiner Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine
+gutgewählte Krawatte konnte mich fast schon froh machen, ein schönes
+Buch, ein Automobilausflug oder eine Stunde mit einer Frau mich restlos
+beglücken. Ganz besonders wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß
+sie in keiner Weise, ganz wie ein tadellos korrekter englischer Anzug,
+in keiner Weise der Gesellschaft auffiel. Ich glaube, man empfand mich
+als eine angenehme Erscheinung, ich war beliebt und gerne gesehen, und
+die meisten, die mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen.
+
+Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals, den ich
+mir zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie jene anderen als
+einen Glücklichen empfand; denn nun, wo ich aus jenem Erlebnis für jedes
+Gefühl einen viel volleren und erfüllteren Sinn fordere, scheint mir
+jede rückerinnernde Wertung fast unmöglich. Doch vermag ich mit
+Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener Zeit keineswegs als
+unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine Wünsche unerfüllt und
+meine Anforderungen an das Leben unerwidert. Aber gerade dies, daß ich
+mich daran gewöhnt hatte, alles Geforderte vom Schicksal zu empfangen
+und darüber hinaus nichts mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte
+allmählich einen gewissen Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im
+Leben selbst. Was sich damals unbewußt in manchen Augenblicken der
+Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich
+Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker,
+unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und
+vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine
+allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem
+Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß ich
+immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in mein
+Gefühl gekommen war, daß ich -- vielleicht ist es am besten so
+ausgedrückt -- an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur
+leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen
+erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater
+und in der Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen
+öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden
+waren und sie dann unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch
+liegen ließ, daß ich zwar mechanisch weiter meine Liebhabereien
+sammelte, Gläser und Antiken kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen und
+mich eines seltenen und langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb
+sonderlich zu freuen.
+
+Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise
+Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten
+Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer --
+auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem
+sich lebhaft angelockt fühlte -- in Wien geblieben, als ich plötzlich
+aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei
+Jahren eine intime Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig
+meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten
+Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen Mann kennengelernt, der ihr
+viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn im Herbst heiraten, und
+zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende sein. Sie denke ohne Reue, ja
+mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte Zeit zurück, der Gedanke an
+mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste ihres vergangenen
+Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen Entschluß
+verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte
+Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht
+zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle
+keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit
+gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch
+bei einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn
+sie sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als
+Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts
+Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!« Ich las diesen Brief,
+zuerst überrascht von der Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert,
+noch ein zweites Mal und nun mit einer gewissen Beschämung, die sich
+bewußt werdend rasch zu einem inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts
+von allen den starken und doch natürlichen Empfindungen, die meine
+Geliebte als selbstverständlich voraussetzte, hatte sich auch nur
+andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer
+Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an
+eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte
+des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht
+selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines
+Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen
+aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und
+nichts rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie
+zurückzuerobern, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem,
+was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem
+wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir
+zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir
+fortgeschritten war -- ich glitt eben durch wie auf fließendem,
+spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu sein, und ich
+wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichenhaftes war, noch
+nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Verwesung, aber doch schon
+rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit, die Minute also, die
+dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch äußerlich sichtbaren
+Verfall vorangeht. Seit jener Episode begann ich mich und diese
+merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu beobachten wie ein
+Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf ein Freund von mir starb und
+ich hinter seinem Sarge ging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht
+eine Trauer in mir rühre, irgendein Gefühl sich in dem Bewußtsein
+spanne, dieser mir seit Kindheitstagen nahe Mensch sei nun für immer
+verloren. Aber es regte sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas
+Gläsernes vor, durch das die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen
+zu sein, und so sehr ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen
+auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu
+Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre
+zurück. Menschen verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es
+kaum anders wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben,
+zwischen mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich
+mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte.
+
+Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf mir diese Erkenntnis doch
+keine rechte Beunruhigung, denn ich sagte es ja schon, daß ich auch
+Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum
+Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, daß dieser
+seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, wie etwa die
+körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in der intimen
+Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft durch eine
+künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch spontane
+Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation daran, zu
+verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteilslos und abgestorben wußte.
+Äußerlich lebte ich mein altes behagliches, hemmungsloses Leben weiter,
+ohne seine Richtung zu ändern; Wochen, Monate glitten leicht vorüber und
+füllten sich langsam dunkel zu Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel
+einen grauen Streif an meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend
+langsam hinüber wollte in eine andere Welt. Aber was andere Jugend
+nannten, war in mir längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht
+sonderlich weh, denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug.
+Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.
+
+Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr
+gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und
+Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen
+und gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. Und ganz gewöhnlich, ohne
+jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen, begann auch jener
+einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich war damals am
+7. Juni 1913 später aufgestanden, aus dem noch von der Kindheit, von den
+Schuljahren her unbewußt nachklingenden Sonntagsgefühl, hatte mein Bad
+genommen, die Zeitung gelesen und in Büchern geblättert, war dann,
+verlockt von dem warmen sommerlichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer
+drang, spazierengegangen, hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso
+überquert, zwischen Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen
+mit irgendeinem von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei
+Freunden zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder
+Vereinbarung ausgewichen, denn ich liebte es insbesondere, am Sonntag
+ein paar unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall
+meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgendeiner spontanen
+Entschließung gehörten. Als ich dann, von meinen Freunden kommend, die
+Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der besonnten
+Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmücktheit. Die
+Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in die
+Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf und vor
+allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume mitten aus dem
+Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast täglich hier vorüberging,
+wurde ich dieses sonntäglichen Menschengewühls plötzlich wie eines
+Wunders gewahr, und unwillkürlich bekam ich Sehnsucht nach viel Grün,
+nach Helligkeit und Buntheit. Ich erinnerte mich mit ein wenig Neugier
+des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die schweren
+Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen
+durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten
+eleganten Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. Gewohnt, auch dem
+flüchtigsten meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten
+Fiaker an, der mir in den Weg kam, und bedeutete ihm auf seine Frage den
+Prater als Ziel. »Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?« antwortete er mit
+devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, daß heute
+ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, wo die ganze gute
+Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam, dachte ich mir,
+während ich in den Wagen stieg, wie wäre es noch vor ein paar Jahren
+möglich gewesen, daß ich einen solchen Tag versäumt oder vergessen
+hätte! Wieder spürte ich, so wie ein Kranker bei einer Bewegung seine
+Wunde, an dieser Vergeßlichkeit die ganze Starre der Gleichgültigkeit,
+der ich verfallen war.
+
+Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das Rennen
+mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle Auffahrt der
+Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten mit knatternden
+Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis her. Der Kutscher wandte
+sich am Bock und fragte, ob er scharf traben solle; aber ich hieß ihn,
+die Pferde ruhig gehen zu lassen, denn mir lag nichts an einem
+Zuspätkommen. Ich hatte zu viel Rennen gesehen und zu oft die Menschen
+bei ihnen, als daß mir ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, und
+es entsprach besser meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des
+Wagens die blaue Luft wie Meer vom Bord eines Schiffes lindrauschend zu
+fühlen und ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume
+anzusehen, die manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar
+Blütenflocken zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und
+wirbelte, ehe er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig,
+sich so wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen,
+ohne jede Anstrengung beschwingt und fortgetragen sich zu empfinden:
+eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der
+Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter wiegen
+zu lassen von dem weichen, frühsommerlichen Tag. Aber es war schon zu
+spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. Ein dumpfes Brausen schlug mir
+entgegen. Wie ein Meer scholl es dumpf und hohl hinter den aufgestuften
+Tribünen, ohne daß ich die bewegte Menge sah, von der dieses geballte
+Geräusch ausging, und unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn
+man von der niederen Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade
+emporsteigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und
+ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift über die weite
+grauschäumige Fläche mit ihren donnernden Wellen. Ein Rennen mußte
+gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem Rasen, auf dem jetzt wohl
+die Pferde hinflitzten, stand ein farbiger dröhnender, wie von einem
+inneren Sturm hin und her geschüttelter Qualm, die Menge der Zuschauer
+und Spieler. Ich konnte die Bahn nicht sehen, spürte aber im Reflex der
+gesteigerten Erregung jede sportliche Phase. Die Reiter mußten längst
+gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die
+Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die
+geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten,
+Schreie los und aufgeregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte
+ich die Biegung, an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen
+Rasenoval angelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer
+zusammengefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das
+ganze Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus
+diesem einen ausgespannten Hals grölte und gurgelte mit tausenden
+zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und diese
+Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum bis zum
+gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie
+waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und
+funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern
+pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese
+unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir stand auf einem Sessel
+ein Mann, elegant gekleidet, mit einem sonst wohl guten Gesicht, jetzt
+aber tobte er, von einem unsichtbaren Dämon beteufelt, er fuchtelte mit
+dem Stock in die leere Luft hinein, als peitschte er etwas vorwärts,
+sein ganzer Körper machte -- unsagbar lächerlich für einen Zuschauer --
+die Bewegung des Raschreitens leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln
+wippte er mit den Fersen unablässig auf und nieder über dem Sessel, die
+rechte Hand jagte den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die linke
+knüllte krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen
+Zettel flatterten herum, wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser
+graudurchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve
+ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einem Male ballte
+sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die immer wieder
+einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und diese Schreie
+schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit.
+
+Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen im
+donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich in jener
+Minute empfand.
+
+Das Lächerliche vorerst all dieser fratzenhaften Gebärden, eine
+ironische Verachtung für das Pöbelhafte des Ausbruches, aber doch noch
+etwas anderes, das ich mir ungern eingestand -- irgendeinen leisen Neid
+nach solcher Erregung, solcher Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben,
+das in diesem Fanatismus war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich
+dermaßen zu erregen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein
+Körper so brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen
+würde? Keine Summe konnte ich mir denken, deren Besitz mich so anfeuern
+könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts gab es, was
+aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurigkeit entfachen
+könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde mein Herz, eine
+Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern, wie das in den
+tausend, zehntausend Menschen rings um mich für eine Handvoll Geld. Aber
+jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu einem einzigen,
+immer schriller werdenden Schrei von tausenden Stimmen gellte jetzt wie
+eine hochgespannte Saite ein bestimmter Name empor aus dem Tumult, um
+dann schrill mit einem Male zu zerreißen. Die Musik begann zu spielen,
+plötzlich zerbrach die Menge. Eine Runde war zu Ende, ein Kampf
+entschieden, die Spannung löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff
+nachschwingende Bewegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel
+Leidenschaft, fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende,
+sprechende Menschen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der
+mänadischen Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für
+Sekunden diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen
+hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die
+zusammentraten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich
+grüßten, fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und
+betrachteten. Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen
+Toiletten, die Männer warfen begehrliche Blicke, jene mondäne Neugier,
+die der Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu
+entfalten, man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und
+Eleganz. Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen
+nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst
+der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war.
+
+Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete wohlig
+-- war es doch die Atmosphäre meiner Existenz -- den Duft von Parfüm und
+Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander umschwebte, und noch
+freudiger die leise Brise, die von drüben aus den Praterauen, aus dem
+sommerlich durchwärmten Walde manchmal ihre Welle zwischen die Menschen
+warf und den weißen Musselin der Frauen wie wollüstig-spielend
+betastete. Ein paar Bekannte wollten mich ansprechen, Diane, die schöne
+Schauspielerin, nickte einladend aus einer Loge herüber, aber ich ging
+keinem zu. Es interessierte mich nicht, mit einem dieser mondänen
+Menschen heute zu sprechen, es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich
+selbst zu sehen, nur das Schauspiel wollte ich umfassen, die
+knisternd-sinnliche Erregung, die durch die aufgesteigerte Stunde ging
+(denn der anderen Erregtheit ist gerade dem Teilnahmslosen das
+angenehmste Schauspiel). Ein paar schöne Frauen gingen vorbei, ich sah
+ihnen frech, aber ohne innerliches Begehren auf die Brüste, die unter
+der dünnen Gaze bei jedem Schritt bebten und lächelte innerlich über
+ihre halb peinliche, halb wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so
+sinnlich abgeschätzt und frech entkleidet fühlten. In Wirklichkeit
+reizte mich keine, es machte mir nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen
+so zu tun, das Spiel mit dem Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir
+Freude, die Lust, sie körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im
+Auge zu fühlen; denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein
+eigentlichster erotischer Genuß, in anderen Wärme und Unruhe zu erregen,
+statt mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die
+Gegenwart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen,
+nicht eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So
+ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie leicht
+wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen ohne zu
+fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des Spiels.
+
+Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen kamen
+vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre Gesten. Ein
+Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Ringsum begann in den
+Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger schüttelten und stießen
+sich die Vorübergehenden durcheinander; offenbar sollte ein neues Rennen
+wieder anheben. Ich kümmerte mich nicht darum, saß weich und irgendwie
+versunken unter dem Kringel meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt
+gegen den Himmel hob, wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im
+Frühlingsblau verging. In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes
+einzige Erlebnis, das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz
+genau den Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die
+Uhr gesehen: die Zeiger kreuzten sich, und ich sah ihnen mit jener
+unbeschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten.
+Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni 1913.
+Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße Zifferblatt,
+ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen Betrachtung, als
+ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut lachen hörte, mit jenem
+scharfen, erregten Lachen, wie ich es bei Frauen liebe, jenem Lachen,
+das ganz warm und aufgeschreckt aus dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit
+vorspringt. Unwillkürlich bog es mir den Kopf zurück, schon wollte ich
+die Frau anschauen, deren laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose
+Träumerei schlug wie ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen,
+schlammigen Teich -- da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am
+geistigen Spiel, am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment,
+wie sie mich oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende
+noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust, meine
+Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein
+Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze
+lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen.
+
+Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war wieder
+Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit leichtem
+ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale breit
+ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser Rede nun die
+Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst üppig
+auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen breiten,
+sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen, eine ganz
+schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zitternden Nüstern.
+Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheitspflästerchen, in die
+Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie sich beim Lachen leicht an
+den Schenkel schlug. Sie sprach weiter und weiter. Und jedes ihrer Worte
+fügte meiner blitzschnell gebildeten Phantasievorstellung ein neues
+Detail hinzu: eine schmale mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid
+mit einer schief gesteckten Brillantspange, einen hellen Hut mit einem
+weißen Reiher. Immer deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich
+diese fremde Frau, die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf
+einer belichteten Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht
+umwenden, dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein
+leises Rieseln von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich
+schloß beide Augen, gewiß, daß, wenn ich die Lider auftäte und mich ihr
+zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußeren sich decken würde.
+
+In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die Augen auf
+-- und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben geraten, alles war
+anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu meinem Phantasiebild.
+Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid, war nicht schlank,
+sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der vollen Wange tupfte
+sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die Haare leuchteten
+rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen Hut. Keines meiner
+Merkmale stimmte zu ihrem Bilde; aber diese Frau war schön,
+herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekränkt im törichten Ehrgeiz
+meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit anzuerkennen wehrte.
+Fast feindlich sah ich zu ihr empor; aber auch der Widerstand in mir
+spürte den starken sinnlichen Reiz, der von dieser Frau ausging, das
+Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen und gleichzeitig weichen
+Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder laut, ihre festen weißen
+Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir sagen, daß dieses heiße
+sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres Wesens wohl im Einklang stand;
+alles an ihr war so vehement und herausfordernd, der gewölbte Busen, das
+im Lachen vorgestoßene Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase,
+die Hand, die den Schirm fest gegen den Boden stemmt. Hier war das
+weibliche Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein
+fleischgewordenes Wollustfanal. Neben ihr stand ein eleganter, etwas
+fanierter Offizier und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm
+zu, lächelte, lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn
+gleichzeitig glitt ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin,
+gleichsam allen zu: sie sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem,
+der vorüberging und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen
+ringsum ein. Ihr Blick war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die
+Tribünen entlang, um dann plötzlich, freudigen Erkennens, einen Gruß zu
+erwidern, bald streifte er -- während sie dem Offizier immer lächelnd
+und eitel zuhörte -- nach rechts, bald nach links. Nur mich, der ich,
+von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er noch
+nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf -- sie sah mich nicht.
+Ich drängte mich näher -- nun blickte sie wieder zu den Tribünen hinauf.
+Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete den Hut gegen ihren
+Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie blickte mir erstaunt
+entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre Augen, schmeichlerisch bog
+sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber dann dankte sie nur kurz und nahm
+den Sessel, ohne sich zu setzen. Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen
+entblößten Arm stützte sie weich an die Lehne und nützte die leichte
+Biegung ihres Körpers, um seine Formen sichtbarer zu zeigen.
+
+Der Ärger über meine falsche Psychologie war längst vergessen, mich
+reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an die Wand
+der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren konnte,
+stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen die ihren. Sie
+merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungsplatze zu, aber doch
+so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige schien, wehrte mir nicht,
+antwortete mir gelegentlich und doch unverpflichtend. Unablässig gingen
+ihre Augen im Kreise, alles rührten sie an, nichts hielten sie fest --
+war ich es allein, dem sie begegnend ein schwarzes Lächeln zustrahlten
+oder gab sie es an jeden? Das war nicht zu unterscheiden, und eben diese
+Ungewißheit irritierte mich. In den Intervallen, wo wie ein Blinkfeuer
+ihr Blick mich anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der
+gleichen stahlglänzenden Pupille parierte sie auch ohne jede Wahl jeden
+anderen Blick, der ihr zuflog, ganz nur aus koketter Freude am Spiel,
+vor allem aber, ohne dabei für eine Sekunde scheinbar interessiert das
+Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war in
+diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie oder
+ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich trat ich
+einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich übergegangen. Ich
+sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie fachmännisch von oben
+bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die Kleider auf und spürte sie
+nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne irgendwie beleidigt zu sein,
+lächelte mit den Mundwinkeln zu dem plaudernden Offizier, aber ich
+merkte, daß dies wissende Lächeln meine Absicht quittierte. Und wie ich
+jetzt auf ihren Fuß sah, der klein und zart unter dem weißen Kleide
+vorlugte, streifte sie mit dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab.
+Dann, im nächsten Augenblick hob sie wie zufällig den Fuß und stellte
+ihn auf die erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das
+durchbrochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig
+schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder
+maliziös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos wie
+ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegenheit
+haßvoll bewundern; denn während sie mir mit falscher Heimlichkeit das
+Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in das
+Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in einem
+und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich haßte
+gerade an anderen diese Art kalter und boshaft berechnender
+Sinnlichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so
+blutschänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt,
+vielleicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und
+griff sie brutal an mit den Blicken. »Ich will dich, du schönes Tier,«
+sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine
+Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte mit leiser Verächtlichkeit,
+den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den entblößten
+Fuß. Aber im nächsten Augenblick wanderte die schwarze Pupille wieder
+funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich, daß sie ebenso
+kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir beide kühl mit einer
+fremden Hitze spielten, die selber wieder nur gemaltes Feuer war, aber
+doch schön anzusehen und heiter zu spielen inmitten eines dumpfen Tags.
+
+Plötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde Glanz
+glomm aus, eine kleine ärgerliche Falte krümmte sich um den eben noch
+lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner,
+dicker Herr, den die Kleider faltig umplusterten, steuerte eilig auf sie
+zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschentuch
+abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief auf den
+Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze sehen
+(unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut abnehme, dicke
+Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir widerlich). In der
+beringten Hand hielt er ein ganzes Bündel Ticketts. Er prustete förmlich
+vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau zu beachten, in lautem
+Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte sofort einen Fanatiker des
+Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler besserer Kategorie, für den das
+Spiel die einzige Ekstase war, das erlauchte Surrogat des Sublimen.
+Seine Frau mußte ihm offenbar jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sie
+war sichtlich geniert von seiner Gegenwart und gestört in ihrer
+elementaren Sicherheit), denn er richtete sich, anscheinend auf ihr
+Geheiß, den Hut zurecht, lachte sie dann jovial an und klopfte ihr mit
+gutmütiger Zärtlichkeit auf die Schulter. Wütend zog sie die Brauen
+hoch, abgestoßen von der ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart
+des Offiziers und vielleicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er
+schien sich zu entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte
+zu dem Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm
+aber dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß
+sie sich seiner Intimität vor uns schämte und genoß ihre Erniedrigung
+mit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie
+sich wieder gefaßt, und während sie sich weich an seinen Arm drückte,
+glitt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er: »Siehst du, der
+hat mich, und nicht du.« Ich war wütend und degoutiert zugleich.
+Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um ihr zu
+zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich nicht mehr
+interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb.
+
+Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einemmal
+war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt, floß
+wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vorn zur Barriere.
+Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit nötig, nicht mitgerissen zu werden,
+denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe bleiben, vielleicht bot
+sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden Blick, einem Griff,
+irgendeiner spontanen Frechheit, die ich jetzt noch nicht wußte, und so
+stieß ich mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In
+diesem Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um
+einen guten Platz an der Tribüne zu ergattern, und so stießen wir beide,
+jeder von einem andern Ungestüm geschleudert, mit so viel Heftigkeit
+gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die Ticketts, die
+daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten und wie rote,
+blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden staubten. Einen
+Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich mich entschuldigen,
+aber irgendein böser Wille verschloß mir die Lippen, im Gegenteil: ich
+sah ihn kühl mit einer leisen, frechen und beleidigenden Provokation an.
+Sein Blick flackerte eine Sekunde lang unsicher auf von rot
+aufsteigender, aber ängstlich sich drückender Wut hochgeschnellt, brach
+aber feige zusammen vor dem meinen. Mit einer unvergeßlichen, fast
+rührenden Ängstlichkeit sah er mir eine Sekunde in die Augen, dann bog
+er sich weg, schien sich plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und
+bückte sich, um sie und den Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem
+Zorn, rot im Gesicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm
+gelassen hatte, mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am
+liebsten geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant
+stehen, sah lächelnd ohne zu helfen zu, wie der überdicke Gemahl sich
+keuchend bückte und vor meinen Füßen herumkroch, um seine Ticketts
+aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie die Federn
+einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob sich den roten
+Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder Beugung. Unwillkürlich
+kam mir, wie ich ihn so keuchen sah, ein unanständiger und
+unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in ehelichem Alleinsein mit
+seiner Gattin vor, und übermütig geworden an dieser Vorstellung,
+lächelte ich geradeaus in ihrem kaum mehr beherrschten Zorn. Sie stand
+da, jetzt wieder blaß und ungeduldig und kaum mehr sich beherrschen
+könnend, -- endlich hatte ich doch ein wahres, ein wirkliches Gefühl ihr
+entrissen: Haß, unbändigen Zorn! Ich hätte mir diese boshafte Szene am
+liebsten ins Unendliche verlängert; mit kalter Wollust sah ich zu, wie
+er sich quälte, um Stück für Stück seiner Ticketts zusammenzuklauben.
+Mir saß irgendein schnurriger Teufel in der Kehle, der immer kicherte
+und ein Lachen herauskollern wollte -- am liebsten hätte ich ihn
+herausgelacht oder diese weiche krabbelnde Fleischmasse ein wenig mit
+dem Stock gekitzelt: ich konnte mich eigentlich nicht erinnern, jemals
+so von Bosheit besessen gewesen zu sein, wie in diesem funkelnden
+Triumph der Erniedrigung über diese frechspielende Frau.
+
+Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts
+zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fortgeflogen
+und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich keuchend herum,
+suchte mit seinen kurzsichtigen Augen -- der Zwicker saß ihm ganz vorne
+auf der schweißbenetzten Nase --, und diese Sekunde benützte meine
+spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Verlängerung seiner lächerlichen
+Anstrengung: ich schob, einem schuljungenhaften Übermut willenlos
+gehorchend, den Fuß rasch vor und setzte die Sohle auf das Tickett, so
+daß er es bei bester Bemühung nicht finden konnte, so lange mirs
+beliebte, ihn suchen zu lassen. Und er suchte und suchte unentwegt,
+überzählte dazwischen verschnaufend immer wieder die farbigen
+Pappendeckelzettel: es war sichtlich, daß einer -- meiner! -- ihm noch
+fehlte, und schon wollte er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder
+mit der Suche anheben, als seine Frau, die mit einem verbissenen
+Ausdruck meinen höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige
+Ungeduld nicht mehr zügeln konnte. »Lajos!« rief sie ihm plötzlich
+herrisch zu, und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört,
+blickte noch einmal suchend auf die Erde -- mir war es, als kitzelte
+mich das verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen
+Lachreiz kaum verbergen -- dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu,
+die ihn mit einer gewissen ostentativen Eile von mir weg in das immer
+stärker aufschäumende Getümmel zog.
+
+Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den beiden zu folgen. Die
+Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen Spannung hatte
+sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war von mir geglitten
+und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit der plötzlich
+vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbstzufriedenheit
+über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die Menschen dicht
+zusammen, schon begann Erregung zu wogen und, eine einzige, schmutzige,
+schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, aber ich sah gar nicht
+hin, es langweilte mich schon. Und ich dachte daran, hinüber in die
+Kriau zu gehen oder heimzufahren. Aber kaum daß ich jetzt unwillkürlich
+den Fuß zum Schritt vorwärts tat, bemerkte ich das blaue Tickett, das
+vergessen am Boden lag. Ich nahm es auf und hielt es spielend zwischen
+den Fingern, ungewiß, was ich damit anfangen sollte. Vage kam mir der
+Gedanke, es »Lajos« zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen
+könnte, mit seiner Frau bekannt zu werden; aber ich merkte, daß sie mich
+gar nicht mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von
+diesem Abenteuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit
+ausgekühlt war. Mehr als dies kämpfende, verlangende Hin und Her der
+Blicke verlangte ich von Lajos Gattin nicht -- der Dickling war mir doch
+zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen -- den Frisson der
+Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neugier,
+wohlige Entspannung.
+
+Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemächlich
+nieder, zündete mir eine Zigarette an. Vor mir brandete die Leidenschaft
+wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen reizten mich
+nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an die Meraner
+Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und in den sprühenden
+Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies wie hier: auch dort ein
+mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht wärmte und nicht kühlte,
+auch dort ein sinnloses Tönen in eine schweigend-blaue Landschaft
+hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft des Spiels beim Crescendo
+angelangt, wieder flog der Schaum von Schirmen, Hüten, Schreien,
+Taschentüchern über die schwarze Brandung der Menschen hin, wieder
+quirlten die Stimmen zusammen, wieder zuckte ein Schrei -- nun aber
+andersfarbig -- aus dem Riesenmaul der Menge. Ich hörte einen Namen,
+tausendfach, zehntausendfach, jauchzend, gell, ekstatisch, verzweifelt
+geschrien: »Cressy! Cressy! Cressy!« Und wieder brach er, eine gespannte
+Saite, plötzlich ab (wie doch Wiederholung selbst die Leidenschaft
+eintönig macht!). Die Musik begann zu spielen, die Menge löste sich.
+Tafeln wurden emporgezogen mit den Nummern der Sieger. Unbewußt blickte
+ich hin. An erster Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch sah ich auf
+das blaue Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch
+hier die Sieben.
+
+Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, der gute
+Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den dicken Gatten
+sogar noch um Geld gebracht: mit einem Male war meine übermütige Laune
+wieder da, nun interessierte es mich zu wissen, um wieviel ihn meine
+eifersüchtige Intervention geprellt. Ich sah mir den blauen Pappendeckel
+zum erstenmal genauer an: es war ein Zwanzigkronen-Tickett, und Lajos
+hatte auf »Sieg« gesetzt. Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag
+sein. Ohne weiter nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend,
+ließ ich mich von der eilenden Menge in die Richtung zu den Kassen
+hindrängen. Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das
+Tickett vor, und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu
+denen ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun
+Zwanzigkronenscheine auf die Marmorplatte.
+
+In dieser Sekunde, wo mir das Geld, wirkliches Geld, blaue Scheine
+hingelegt wurden, stockte mir das Lachen in der Kehle. Ich hatte sofort
+ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich die Hände zurück, um das
+fremde Geld nicht zu berühren. Am liebsten hätte ich die blauen Scheine
+auf der Platte liegen lassen; aber hinter mir drängten schon die Leute,
+ungeduldig, ihren Gewinn ausbezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts
+übrig, als, peinlich berührt, mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine
+zu nehmen: wie blaue Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich
+unbewußt von mir wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie
+genommen, nicht zu mir selbst. Sofort übersah ich das Fatale der
+Situation. Wider meinen Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was
+einem anständigen Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht
+hätte unterlaufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren
+Namen dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern
+listig weggelocktes, war gestohlenes Geld.
+
+Um mich surrten und schwirrten die Stimmen, Leute drängten und stießen
+von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit der
+weggespreizten Hand. Was sollte ich tun? An das Natürlichste dachte ich
+zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich entschuldigen und ihm
+das Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht an, und am wenigsten vor
+den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch Reserveleutnant, und ein
+solches Eingeständnis hätte mich sofort meine Charge gekostet; denn
+selbst wenn ich das Tickett gefunden hätte, war schon das Einkassieren
+des Geldes eine unfaire Handlungsweise. Ich dachte auch daran, meinem in
+den Fingern zuckenden Instinkt nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und
+fortzuwerfen, aber auch dies war inmitten des Menschengewühls zu leicht
+kontrollierbar und dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur
+einen Augenblick das fremde Geld bei mir behalten oder gar in die
+Brieftasche stecken, um es später irgend jemandem zu schenken: das mir
+seit Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte
+sich vor jeder auch nur flüchtigen Berührung mit diesen Zetteln. Weg,
+nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg, nur
+irgendwohin, weg! Unwillkürlich sah ich mich um, und wie ich ratlos im
+Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte
+Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen zu
+drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in den Händen. Und der
+Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den boshaften Zufall,
+der es mir gegeben, wiederum hinein in den gefräßigen Schlund, der jetzt
+die neuen Einsätze, Silber und Scheine, gleich gierig hinunterschluckte
+-- ja, das war das Richtige, die wahre Befreiung.
+
+Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die
+Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon stand der
+erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein Pferd zu
+nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich in das Reden
+rings um mich. »Setzen Sie Ravachol?« fragte einer. »Natürlich
+Ravachol,« antwortete ihm sein Begleiter. »Glauben Sie, daß Teddy nicht
+auch Chancen hat?« »Teddy? keine Spur. Er hat im Maidenrennen total
+versagt. Er war ein Bluff.«
+
+Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy war
+schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß ich, ihn
+zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst gehörten Namen
+Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts zurück. Mit einem Male
+hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckelstücke zwischen den Fingern
+statt des einen. Es war noch immer ein peinliches Gefühl; aber immerhin,
+es brannte nicht mehr so aufreizend, so erniedrigend wie das knitterige
+bare Geld.
+
+Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das Geld
+weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die Angelegenheit
+wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich setzte mich lässig
+in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch
+gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich nicht lange, ich stand auf,
+ging herum, setzte mich wieder hin. Merkwürdig: es war vorbei mit der
+wohligen Träumerei. Irgendeine Nervosität stak mir knisternd in den
+Gliedern. Zuerst meinte ich, es sei das Unbehagen, unter den vielen
+vorbeistreifenden Leuten Lajos und seiner Frau begegnen zu können; aber
+wie konnten sie ahnen, daß jene neuen Ticketts die ihren waren? Auch die
+Unruhe der Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie
+genau, ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drängen begannen, ja ich
+ertappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu blicken,
+die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es --
+Ungeduld, ein springendes, inneres Fieber der Erwartung, der Start möge
+schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein.
+
+Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an, kaufte
+mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in einem fremden
+Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen, bis ich endlich
+Teddy herausfand, den Namen seines Jockeis, den Besitzer des Stalles und
+die Farben rotweiß. Aber warum interessierte mich das so? Ärgerlich
+zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, stand auf, setzte mich wieder
+hin. Mir war ganz plötzlich heiß geworden, ich mußte mir mit dem
+Taschentuch über die feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich.
+Noch immer wollte der Start nicht beginnen.
+
+Endlich klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in dieser
+Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln gleich einem
+Wecker erschreckt von irgendeinem Schlaf aufriß. Ich sprang vom Sessel
+so heftig weg, daß er umfiel, und eilte -- nein, ich lief -- gierig nach
+vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger gepreßt, mitten in die
+Menge hinein und wie von einer rasenden Angst verzehrt, zu spät zu
+kommen, irgend etwas ganz Wichtiges zu versäumen. Ich erreichte noch,
+indem ich Leute brutal beiseite stieß, die vordere Barriere, riß
+rücksichtslos einen Sessel, den eben eine Dame nehmen wollte, an mich.
+Meine ganze Taktlosigkeit und Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem
+erstaunten Blick -- es war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren
+hochgezogen zornigen Brauen ich begegnete --, aber aus Scham und Trotz
+sah ich an ihr kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen.
+
+Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt ein kleines
+Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten von den kleinen
+Jockeis, die wie bunte Polichinelle aussahen. Sofort suchte ich den
+meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war ungeübt, und mir
+flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Blick, daß ich unter den
+Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden vermochte. In diesem
+Augenblick klang die Glocke zum zweiten Male, und wie sieben bunte
+Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde in den grünen Gang hinein. Es
+mußte wunderbar sein, dies ruhig und nur ästhetisch zu betrachten, wie
+die schmalen Tiere galoppierend ausholten und, kaum den Boden
+anstreifend, über den Rasen hinfederten; aber ich spürte von all dem
+nichts, ich machte nur verzweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei
+zu erkennen, und fluchte mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu
+haben. So sehr ich mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf
+bunte Insekten, in einen fliegenden Knäuel verwischt; nur die Form sah
+ich allmählich jetzt sich verändern, wie das leichte Rudel sich jetzt an
+der Biegung keilförmig verlängerte, eine Spitze vortrieb, indes
+rückwärts einige des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen
+wurde scharf: drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten
+Pferde klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob
+sich das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich
+streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese
+nachahmende, federnde, leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre
+Geschwindigkeit steigern und mitreißen.
+
+Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten schon an der
+Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren jetzt wie grelle
+Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand einer, die Hände
+frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf vordrängte, schrie er
+fußstampfend mit einer widerlich gellen und triumphierenden Stimme:
+»Ravachol! Ravachol!« Ich sah, daß wirklich der Jockei dieses Pferdes
+blau schimmerte, und eine Wut überfiel mich, daß es nicht mein Pferd
+war, das siegte. Immer unerträglicher wurde mir das gelle Gebrüll
+»Ravachol! Ravachol!« von dem Widerling neben mir; ich tobte vor kalter
+Wut, am liebsten hätte ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze
+Loch seines schreienden Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich
+fieberte, jeden Augenblick, fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses
+begehen. Aber da hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten.
+Vielleicht war das Teddy, vielleicht, vielleicht -- und diese Hoffnung
+befeuerte mich von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der
+sich jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die
+Kruppe des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er
+mußte, er mußte! Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch
+einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe!
+Jetzt, nur eine Spanne noch. Warum Ravachol? Ravachol? Nein, nicht
+Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy! Teddy!
+
+Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was -- was war das? Wer schrie
+da so? Wer tobte da »Teddy! Teddy!«? Ich selbst schrie ja das. Und
+mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich wollte mich halten,
+mich beherrschen, inmitten meines Fiebers quälte mich eine plötzliche
+Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht wegreißen, denn dort klebten die
+beiden Pferde knapp aneinander, und es mußte wirklich Teddy sein, der an
+Ravachol, dem verfluchten, aus brennender Inbrunst von mir gehaßten
+Ravachol hing, denn rings um mich gellten jetzt andere lauter und
+vielstimmiger in grellem Diskant: »Teddy! Teddy!«, und der Schrei riß
+mich, den für eine wache Sekunde Aufgetauchten, wieder in die
+Leidenschaft. Er sollte, er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt
+schob sich hinter dem fliegenden Pferde des andern ein Kopf vor, eine
+Spanne nur, und jetzt schon zwei, jetzt, jetzt sah man schon den Hals --
+in diesem Augenblick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei
+des Jubels, der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Für eine Sekunde
+füllte der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann
+stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik.
+
+Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. Ich
+mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich vor
+begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt,
+durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch
+meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir
+vorzutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd
+jetzt gewonnen habe, und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu
+sehen. Aber ich glaubte es mir selbst nicht, und schon spürte ich ein
+grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch irgendwohin,
+und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den Sieg sehen, ihn
+spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde Scheine in den
+Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf. Eine ganz fremde böse
+Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine Scham wehrte mehr, ihr
+nachzugeben. Und kaum daß ich mich erhob, so eilte, so lief ich schon
+bis hin zur Kasse, ganz brüsk, mit gespreizten Ellenbogen stieß ich mich
+zwischen die Wartenden am Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur
+um das Geld, das Geld leibhaftig zu sehn. »Flegel!« murrte hinter mir
+einer der Weggedrängten; ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn
+zu fordern, ich bebte ja vor unbegreiflicher, krankhafter Ungeduld.
+Endlich war die Reihe an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues
+Bündel Banknoten. Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren
+sechshundertundvierzig Kronen.
+
+Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt weiter
+spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine Rennzeitung?
+Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, eine neue zu
+erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Erschrecken, wie
+plötzlich alles rings auseinanderflutete, dem Ausgang zu, daß die Kassen
+sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das Spiel war zu Ende. Es war
+das letzte Rennen gewesen. Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann
+sprang ein Zorn in mir auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich
+konnte mich nicht damit abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich
+spannten und bebten, das Blut so heiß wie seit Jahren nicht mehr in mir
+rollte, alles zu Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem
+Wunsch die Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum
+gewesen, denn immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte
+grün der zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen.
+Allmählich empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so
+nahm ich den Hut -- den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der
+Erregung stehengelassen -- und ging dem Ausgang zu. Ein Diener mit
+servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die Nummer
+meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den Platz, und
+schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete dem Kutscher,
+langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade jetzt, wo die Erregung
+wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine lüsterne Neigung, mir noch
+einmal die ganze Szene in Gedanken zu erneuern.
+
+In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor; unwillkürlich blickte
+ich hin, um sofort wieder ganz bewußt wegzusehen. Es war die Frau mit
+ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht bemerkt. Aber sofort
+überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, als sei ich ertappt. Und am
+liebsten hätte ich dem Kutscher zugerufen, auf die Pferde einzuschlagen,
+nur um rasch aus ihrer Nähe zu kommen.
+
+Weich glitt auf den Gummirädern der Fiaker dahin zwischen den vielen
+andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von Frauen an den
+grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. Die Luft war weich
+und süß, schon wehte von erster Abendkühle manchmal ein leiser Duft
+durch den Staub herüber. Aber das frühere wohlig-träumerische Gefühl kam
+nicht wieder: die Begegnung mit dem Geprellten hatte mich peinlich
+aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal
+in meine überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern
+die ganze Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein
+Gentleman, ein Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier,
+hochgeachtet, hatte ohne Not gefundenes Geld an mich genommen, in die
+Brieftasche gesteckt, ja dies sogar mit einer gierigen Freude, einer
+Lust getan, die jede Entschuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor
+einer Stunde noch ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte
+gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu
+erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen
+leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: »Dieb!
+Dieb! Dieb! Dieb!« Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt
+geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß
+ich, daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines
+Gefühls, jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir
+ja mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein
+Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese
+absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines Empfindens
+bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein
+Psychologe das logisch zu schildern vermöchte. Ich kann nur die
+Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten Aufleuchten
+nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«. Dann kam ein ganz
+merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein Augenblick, wo nichts
+geschah, wo ich nur -- ach, wie schwer ist es, dies auszudrücken -- wo
+ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich angerufen, hatte
+mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte antworten. Ich
+horchte also, und es geschah -- nichts. Der Peitschenschlag dieses
+Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken
+und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham,
+weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich
+dann gewissermaßen noch näher über mich selbst -- denn ich spürte zu
+wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte -- und
+horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf
+den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser
+Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum nichts. Nichts
+antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon
+ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen
+aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich -- in einem grellen
+Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz
+angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre -- erkannte ich,
+daß ich mich nur schämen _wollte_, aber nicht schämte, ja, daß ich in
+jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser
+törichten Tat.
+
+Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst
+erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu
+ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht
+Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte -- das war
+Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen
+spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten
+zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl
+nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter
+der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene
+heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der
+Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht
+waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls,
+glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen,
+der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich
+lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine
+Tür war aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan
+in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies
+Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und
+langsam -- während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die
+bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte -- stieg ich, Stufe um
+Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in
+diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen
+Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um
+mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen
+Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des
+Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den
+verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte
+mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser
+gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu
+haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich
+verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen
+Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten
+gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal
+der Gentlemen -- daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in
+verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie
+in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu
+leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen vor mir selbst: nun aber
+war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das reiche, das
+unsäglich gewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich
+ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum
+erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche
+-- wie soll ich es anders nennen -- das Wahre, das Unverstellte des
+Lebens in mir keimen, ich fühlte -- fast schäme ich mich, solch ein Wort
+hinzuschreiben -- wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder
+_blühte_, wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich
+im Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von
+Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im
+klaren Licht eines Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden
+müßiger Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und
+trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.
+
+Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief -- offenbar
+hatte ich seinen ersten Gruß übersehen -- meinen Namen. Unwirsch fuhr
+ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des
+sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals
+erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es
+war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt.
+Mit einemmal durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich
+grüßt, hat jetzt zum erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen,
+sobald er dein Vergehen kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte
+dich aus diesem Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen
+Existenz, und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt
+hinter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern
+Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen
+getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst am
+Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt sie den
+Herzschlag an -- dann verwandelte auch dieser Gedanke sich wieder in
+heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt
+selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte.
+Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem
+ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr
+mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit
+verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch
+schon ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus
+eurer kalten knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos
+funktionierendes, in der großen Maschine, die kalt in ihren Kolben
+abrollt und eitel um sich selber kreist -- ich bin in eine Tiefe
+gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin lebendiger gewesen in dieser
+einen Stunde als in den gläsernen Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch
+gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer
+Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures
+bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den
+Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr
+wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem
+Geheimnis!
+
+Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes
+ich, ein elegant angezogener Gentleman, mit kühlem Gesicht grüßend und
+dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! Denn während meine Larve,
+der äußere, der frühere Mensch, noch Gesichter fühlte und erkannte,
+rauschte innen in mir eine so taumelnde Musik, daß ich mich
+niederdrücken mußte, um nicht etwas herauszuschreien von diesem tosenden
+Tumult. Ich war so voll von Gefühl, daß mich dieser innere Schwall
+physisch quälte, daß ich wie ein Erstickender die Hand gewaltsam an die
+Brust pressen mußte, unter der das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz,
+Lust, Erschrecken, Entsetzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln
+und abgerissen, alles schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte,
+daß ich atmete und fühlte. Und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl,
+das ich seit Jahren nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich
+mich selbst auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so
+ekstatisch als lebendig empfunden als in der Schwebe dieser Stunde.
+
+Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die
+Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause
+fahren solle. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über die Allee
+hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, wie weit die
+Trunkenheit über die Stunden sich ausgegossen hatte. Es war dunkel
+geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der Bäume, die Kastanien
+begannen ihren abendlichen Duft durch die Kühle zu atmen. Und hinter den
+Wipfeln silberte schon ein verschleierter Blick von Mond. Es war genug,
+es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach Hause, nur nicht in meine
+gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher. Als ich die Brieftasche zog
+und die Banknoten zählend zwischen die Finger nahm, liefs wie ein leiser
+elektrischer Schlag mir vom Gelenk in die Fingerspitzen: irgend etwas in
+mir mußte noch wach sein also vom alten Menschen, der sich schämte. Noch
+zuckte das absterbende Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte
+schon wieder meine Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus
+meiner Freude. Der Kutscher bedankte sich so überschwenglich, daß ich
+lächeln mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr
+fort. Ich sah ihm nach, wie man vom Schiff noch einmal auf einen Strand
+zurückblickt, an dem man glücklich gewesen.
+
+Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in der
+murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa sieben Uhr
+sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten, wo ich sonst
+immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen pflegte und in
+dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt hatte. Aber kaum daß
+ich die Gitterklinke des vornehmen Gartenrestaurantes berührte, überfiel
+mich eine Hemmung: nein, ich wollte noch nicht in meine Welt zurück,
+nicht mir in lässigem Gespräch diese wunderbare Gärung, die mich
+geheimnisvoll erfüllte, wegschwemmen lassen, nicht mich loslösen von der
+funkelnden Magie des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet
+fühlte.
+
+Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik, und unwillkürlich ging
+ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand es als Wollust,
+dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hingetriebensein inmitten
+einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen phantastischen Reiz. Mein
+Blut gärte auf in diesem dicken quirlenden Brei heißer menschlicher
+Masse: aufgespannt war ich mit einemmal, angereizt und gesteigert wach
+in allen Sinnen von diesem beizend qualmigen Duft von Menschenatem,
+Staub, Schweiß und Tabak. Denn all dies, was mich vordem, ja selbst
+gestern noch, als ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen, was der
+soignierte Gentleman in mir ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das
+zog meinen neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im
+Animalischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir
+selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen,
+Strolchen, fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz
+unverständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein,
+das Schieben und Pressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm, und
+mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde mich
+Willenlosen schwemmte. Immer näher gellten und schmetterten vom
+Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik, in einer
+fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte Polkas und
+rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge aus den Buden,
+zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt sah ich schon mit
+irrsinnigen Lichtern die Karusselle meiner Kindheit zwischen den Bäumen
+kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen und ließ den ganzen
+Tumult in mich einbranden, mir Augen und Ohren vollschwemmen: diese
+Kaskaden von Lärm, das Infernalische dieses Durcheinander tat mir wohl,
+denn in diesem Wirbel war etwas, das mir den innern Schwall betäubte.
+Ich sah zu, wie mit geblähten Kleidern die Dienstmädchen sich auf den
+Hutschen mit kollernden Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht
+gellten, in den Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend
+schwere Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern
+Stimmen und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions
+schreiend hinwegruderten, und wie alles dies sich quirlend mengte mit
+dem tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die
+trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und von der
+eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber wach geworden
+war, spürte ich auf einmal das Leben der andern, ich spürte die Brunst
+der Millionenstadt, wie sie sich heiß und aufgestaut in die paar Stunden
+des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte an der eigenen Fülle zu einem
+dumpfen, tierischen, aber irgendwie gesunden und triebhaften Genuß. Und
+allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausgesetzten
+Berührung mit ihren heißen leidenschaftlich drängenden Körpern ihre
+warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften sich,
+aufgebeizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne spielten
+taumelig mit dem Getöse und empfanden jene verwirrte Betäubung, die mit
+jeder starken Wollust unweigerlich gemengt ist. Zum erstenmal seit
+Jahren, vielleicht überhaupt in meinem Leben, spürte ich die Masse,
+spürte ich Menschen als eine Macht, von der Lust in mein eigenes,
+abgeschiedenes Wesen überging: irgendein Damm war zerrissen, und von
+meinen Adern gings hinüber in diese Welt, strömte es rhythmisch zurück,
+und eine ganz neue Gier überkam mich, noch jene letzte Kruste zwischen
+mir und ihnen abzuschmelzen, ein leidenschaftliches Verlangen nach
+Paarung mit dieser heißen, fremden, drängenden Menschheit. Mit der Lust
+des Mannes sehnte ich mich in den quellenden Schoß dieses heißen
+Riesenkörpers hinein, mit der Lust des Weibes war ich aufgetan jeder
+Berührung, jedem Ruf, jeder Lockung, jeder Umfassung -- und nun wußte
+ichs, Liebe war in mir und Bedürfnis nach Liebe wie nur in den
+zwielichthaften Knabentagen. Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige,
+irgendwie verbunden sein mit dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden
+Leidenschaft der andern, nur einströmen, sich ergießen in ihren
+Adergang; ganz klein, ganz namenlos werden im Getümmel, eine Infusorie
+bloß sein im Schmutz der Welt, ein lustzitterndes, funkelndes Wesen im
+Tümpel mit den Myriaden -- aber nur hinein in die Fülle, hinab in den
+Kreisel, mich abschießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit
+ins Unbekannte, in irgendeinen Himmel der Gemeinsamkeit.
+
+Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste alles
+zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussells, das feine
+Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer aufsprühte, die
+chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder einzelne Laut
+in mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen
+vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen
+Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles
+gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. Ich kann meinen
+komplizierten Zustand unmöglich mit Worten ausdrücken, am ehesten
+gelingt es noch vielleicht mit einem Vergleiche: wenn ich sage, ich war
+überfüllt mit Geräusch, Lärm, Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die
+mit allen Rädern rasend rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der
+ihr im nächsten Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. In den
+Fingerspitzen zuckte, in den Schläfen pochte, in der Kehle preßte, an
+den Schläfen würgte das angehitzte Blut -- von einer jahrelangen Lauheit
+des Gefühls war ich mit einemmal in ein Fieber gestürzt, das mich
+verbrannte. Ich fühlte, daß ich mich jetzt auftun müßte, aus mir heraus
+mit einem Wort, mit einem Blick, mich mitteilen, mich ausströmen, mich
+weggeben, mich hingeben, mich gemein machen, mich lösen, -- irgendwie
+retten aus dieser harten Kruste von Schweigen, die mich absonderte von
+dem warmen, flutenden, lebendigen Element. Seit Stunden hatte ich nicht
+gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick fragend und
+teilnehmend gegen den meinen gespürt, und nun staute, unter dem Sturz
+der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das Schweigen. Niemals,
+niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, nach einem
+Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten von Tausenden und
+Zehntausenden wogte, rings angespült war von Wärme und Worten, und doch
+abgeschnürt von dem kreisenden Adergang dieser Fülle. Ich war wie einer,
+der auf dem Meere verdurstet. Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem
+Blick mehrend, wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich
+anstreifend band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend
+zusammenliefen. Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen
+im Vorübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten Wort
+schon unterfaßten, wie alles sich fand und zusammentat: ein Gruß beim
+Karussell, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes schmolz in
+ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach ein paar Minuten,
+aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, war das, wonach alle
+meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, gewandt im gesellschaftlichen
+Gespräch, beliebter Causeur und sicher in den Formen, ich verging vor
+Angst, ich schämte mich, irgendeines dieser breithüftigen Dienstmädchen
+anzureden, aus Furcht, sie möchte mich verlachen, ja ich schlug die
+Augen nieder, wenn jemand mich zufällig anschaute, und verging doch
+innen vor Begierde nach dem Wort. Was ich wollte von den Menschen, war
+mir ja selbst nicht klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein
+und an meinem Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder
+Blick strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein
+Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick
+war grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er
+auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie
+lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufahren, und sog nur
+Lust aus dem Schreien und Lachen der andern. Ich stieß mich gewaltsam
+heran an ihn und fragte -- aber warum zitterte meine Stimme so dabei und
+war ganz grell überschlagen? --: »Möchten Sie nicht auch einmal
+mitfahren?« Er starrte auf, erschrak -- warum? warum? -- wurde blutrot
+und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. Nicht einmal ein barfüßiges Kind
+wollte eine Freude von mir: es mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar
+Fremdes an mir sein, daß ich nirgends mich einmengen konnte, sondern
+abgelöst in der dicken Masse schwamm wie ein Tropfen Öl auf dem bewegten
+Wasser.
+
+Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. Die
+Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle war verrostet
+vom aufgewühlten Qualm. Ich sah mich um: rechts und links zwischen den
+strömenden Menschengassen standen kleine Inseln von Grün,
+Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten Holzbänken, auf
+denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier und der sonntäglichen
+Virginia. Der Anblick lockte mich: hier saßen Fremde beisammen,
+verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig Ruhe im wüsten Fieber.
+Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine
+Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau,
+zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe
+im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen
+Blicke taten mir wohl. Ich grüßte höflich, rührte an einen Sessel und
+fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. Sofort stockte ihr Lachen, einen
+Augenblick schwiegen sie (als wartete jeder, daß der andere seine
+Zustimmung gebe), dann sagte die Frau, gleichsam betroffen: »Bitte!
+Bitte!« Ich setzte mich hin und hatte gleich das Gefühl, daß ich mit
+meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune zerdrückte, denn sofort lag um
+den Tisch herum ein ungemütliches Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die
+Augen von dem rotkarierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig
+verstreut zu sehen war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle
+befremdet beobachteten, und sofort fiel mir -- zu spät! -- ein, daß ich
+zu elegant war für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, dem
+Pariser Zylinder und der Perle in meiner taubengrauen Krawatte, daß
+meine Eleganz, das Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht
+von Feindlichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der
+fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote
+Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte,
+festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch
+wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es war eine Erlösung,
+als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich
+hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu
+über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne
+Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den
+Eindringling in ihre dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt
+ihrer Klasse, daß ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu
+meiner Welt gehörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die
+einfältige Freude am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagsitzen mich
+hertrieb, sondern irgendein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie
+mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk mißtraut
+hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewühl meiner Eleganz,
+meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit ausbogen. Und doch
+fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, einfaches, herzliches, ein
+wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu ihnen, so würde der Vater oder
+die Mutter mir antworten, die Töchter geschmeichelt zulächeln, ich
+könnte mit dem Jungen hinüber in eine Bude schießen gehen und kindlichen
+Spaß mit ihm treiben. In fünf, in zehn Minuten würde ich erlöst sein von
+mir, eingehüllt in die arglose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern
+gewährter und sogar geschmeichelter Vertraulichkeit -- aber dies
+einfache Wort, diesen ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht,
+eine falsche, törichte, aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle,
+und ich saß mit gesenktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser
+einfachen Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen
+Gegenwart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und in
+diesem hingebohrten Hinsitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen
+Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen und
+Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war, einzig
+beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der Eleganz; und
+ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene Sprache zu ihnen,
+jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines Ausgestoßenseins bedurfte, von
+innen vermauert war.
+
+So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt, immer
+wieder die roten Karrees am Tischtuch abzählend, bis endlich der Kellner
+vorbeikam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum angetrunkenen
+Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freundlich und erstaunt:
+ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum daß ich ihnen den
+Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder überkommen, der warme
+Kreis des Gesprächs sich schließen würde, sobald ich, der Fremdkörper,
+ausgestoßen war.
+
+Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und verzweifelter,
+in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war inzwischen lockerer
+geworden unter den Bäumen, die schwarz in den Himmel überfluteten, es
+drängte und quirlte nicht mehr so dicht und strömend in den Lichtkreis
+der Karussells, sondern schwirrte nur schattenhaft mehr am äußersten
+Rand des Platzes. Auch der brausende, tiefe, gleichsam lustatmende Ton
+der Menge zerstückte sich in viele kleine Geräusche, die immer gleich
+hingeschmettert wurden, wenn jetzt die Musik irgendwo gewaltig und
+rabiat einsetzte, als wollte sie die Fliehenden noch einmal heranreißen.
+Eine andere Art Gesichter tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren
+Ballons und Papierkoriandolis waren schon nach Hause gegangen, auch die
+breithinrollenden sonntäglichen Familien hatten sich verzogen. Nun sah
+man schon Betrunkene johlen, verlotterte Burschen mit lungerndem und
+doch suchendem Gang sich aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der
+einen Stunde, in der ich festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen,
+diese seltsame Welt mehr ins Gemeine hinabgeglitten. Aber gerade jene
+phosphoreszierende Atmosphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel
+mir irgendwie besser als die bürgerlich-sonntägliche von vordem. Der in
+mir aufgereizte Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier;
+in dem vortreibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser
+Ausgestoßenen der Gesellschaft, empfand ich mich irgendwie gespiegelt:
+auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach einem
+flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie, diese
+zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene, freie Art ihres
+Streifens; denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend gepreßt,
+ungeduldig, den Druck des Schweigens, die Qual meiner Einsamkeit aus mir
+zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines Anrufs, eines Worts.
+Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom Reflex der
+kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von meiner
+Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen
+anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich
+herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir ab. Niemand wollte mich,
+niemand erlöste mich.
+
+Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären zu
+wollen, daß ich, ein kultivierter eleganter Mann der Gesellschaft,
+reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, eine
+ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden,
+rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig, vierzig,
+hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer mit
+denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an mir
+vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen
+Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von der
+Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde, aber
+in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls, eine so
+stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst vielleicht
+nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod; mein ganzes, leer
+vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und staute sich bis
+hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von meinem sinnlosen Wahn,
+zu bleiben, zu verharren, bis irgendein Wort, ein Blick eines Menschen
+mich erlöse, so sehr genoß ich diese Qual. Ich büßte etwas in diesem
+Stehen an dem Pfahl, nicht jenen Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das
+Laue, das Leere meines früheren Lebens: und ich hatte mir geschworen,
+nicht früher zu gehen, bis mir ein Zeichen gegeben war, das Schicksal
+mich freigegeben.
+
+Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht sich
+heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht und immer
+stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor, schluckte den
+lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war die helle Insel, auf
+der ich stand, und schon sah ich zitternd auf die Uhr. Eine
+Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holzpferde stillestehn,
+die roten und grünen Glühlampen auf ihren einfältigen Stirnen abknipsen,
+das geblähte Orchestrion aufhören zu stampfen. Dann würde ich ganz im
+Dunkel sein, ganz allein hier in der leise rauschenden Nacht, ganz
+ausgestoßen, ganz verlassen. Immer unruhiger blickte ich über den
+dämmernden Platz, über den nur ganz selten mehr ein heimkehrendes
+Pärchen eilig strich oder ein paar Burschen betrunken hintaumelten: quer
+drüben aber in den Schatten zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und
+aufreizend. Manchmal pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer
+vorüberkamen. Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel,
+so zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der Wind
+abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich schob sichs
+um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den Lichtkegel des
+erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze zurückzutauchen,
+sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutzmannes im Reflex der
+Laterne schimmerte. Aber kaum daß er weiterging auf seiner Runde, waren
+die gespenstigen Schatten wieder da, und jetzt konnte ich sie schon
+deutlich im Umriß sehen, so nahe wagten sie sich ans Licht, der letzte
+Abhub jener nächtigen Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich
+der flüssige Menschenstrom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und
+ausgestoßensten, die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer
+Matratze schlafen und nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten,
+geschändeten, magern Körper jedem für ein kleines Silberstück hier
+irgendwo im Dunkel auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von
+Hunger oder irgendeinem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und
+gejagt zugleich. Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu
+dem erhellten Platz nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen
+Nachzügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder
+zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee und den
+trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohnehin bald
+auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis. Der Abhub war dies, die
+letzte Jauche von der hochgequollenen Sinnlichkeit der sonntäglichen
+Masse -- mit einem grenzenlosen Grauen sah ich nun aus dem Dunkel diese
+hungrigen Gestalten geistern. Aber auch in diesem Grauen war noch eine
+magische Lust, denn selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich
+Vergessenes und dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe, sumpfige
+Welt, die ich vor Jahren längst durchschritten und die nun
+phosphoreszierend mir wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese
+phantastische Nacht mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich
+Verschlossenen plötzlich auffaltete, daß das Dunkelste meiner
+Vergangenheit, das Geheimste meines Triebes in mir nun offen lag!
+Dumpfes Gefühl stieg auf verschütteter Knabenjahre, wo scheuer Blick
+neugierig angezogen und doch feig verstört an solchen Gestalten
+gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo man zum erstenmal auf knarrender,
+feuchter Treppe einer hinaufgefolgt war in ihr Bett -- und plötzlich,
+als ob Blitz einen Nachthimmel zerteilt hätte, sah ich scharf jede
+Einzelheit jener vergessenen Stunde, den flachen Öldruck über dem Bett,
+das Amulett, das sie auf dem Halse trug, ich spürte jede Fiber von
+damals, die ungewisse Schwüle, den Ekel und den ersten Knabenstolz. All
+das wogte mir mit einem Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne
+Maß strömte plötzlich in mich ein, und -- wie soll ich das sagen können,
+dies Unendliche! -- ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so
+brennendem Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum
+des Lebens waren, und mein von dem Verbrechen einmal angereizter
+Instinkt spürte von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen
+in dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische
+Offenstehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust.
+Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen Geld
+brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich Wesen,
+Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von andern Wesen,
+vielleicht auch von mir, etwas wollte, von mir, der nur wartete, sich
+wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden Willigkeit nach Menschen.
+Und mit einmal verstand ich, was Männer zu solchen Wesen treibt,
+verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes ist, ein schwellender
+Kitzel ist, sondern meist bloß die Angst vor der Einsamkeit, vor der
+entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt und die
+mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich erinnerte mich,
+wann ich zum letztenmal dies dumpf empfunden: in England war es gewesen,
+in Manchester, einer jener stählernen Städte, die in einem lichtlosen
+Himmel von Lärm brausen wie eine Untergrundbahn und die doch
+gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit haben, der durch die Poren bis
+ins Blut dringt. Drei Wochen hatte ich dort bei Verwandten gelebt,
+abends immer allein irrend durch Bars und Klubs und immer wieder in die
+glitzernde Musikhall, nur um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da
+eines Abends hatte ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich
+kaum verstand, aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von
+einem fremden Mund, ein warmer Körper war da, irdisch nahe und weich.
+Plötzlich schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere
+lärmende Raum von Einsamkeit, irgendein Wesen, das man nicht kannte, das
+nur dastand und wartete auf jeden, der kam, löste einen auf, ließ allen
+Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter
+Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das für
+die Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu
+ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich
+festzuklammern an ihn, mag er auch überschmutzt sein von vielen Griffen,
+starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, gerade dies
+hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsamkeit, aus der ich
+taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an einer letzten Ecke
+immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in sich aufzufangen, jede
+Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, jede Hitze zu kühlen für
+ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das
+sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer
+menschlichen Gegenwart.
+
+Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es
+war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das
+Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand
+kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon
+scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des
+Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach
+dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen.
+Nur ich, ich allein, stand noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und
+sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden
+Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den
+undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte
+eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz
+nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes,
+rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten
+Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das
+Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft
+und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem
+schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben
+mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein
+einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem
+stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich
+nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um
+mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese
+gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort,
+einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu
+rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art
+wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer -- während die Melodie des
+Karussells schon müde wegtaumelte -- die nahe Gegenwart, diesen Willen,
+der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz
+dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel
+der Welt mich überfluten zu fühlen.
+
+Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem
+letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch,
+wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu
+langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich
+erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen
+lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir
+entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter,
+prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende.
+
+Und plötzlich -- ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh
+aufspringenden Gischt schildern? -- plötzlich -- es kam so jäh, so heiß,
+so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre -- plötzlich
+brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler,
+gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet,
+wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure
+Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch
+einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr
+nachzugehen war ich nicht zu stolz -- mein Stolz war zerstampft,
+zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen --, aber zu schwach, zu
+ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem
+Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit
+meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster
+gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und
+immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung -- ich
+stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten
+Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub
+Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick
+rückwenden zu mir.
+
+Und -- sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück.
+Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten
+Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie
+wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte
+und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite
+des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in
+mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.
+
+Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den
+dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme.
+Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte
+wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht
+bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen,
+hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie
+den Schritt. Nun stand ich neben ihr.
+
+Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte
+sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der
+Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte
+sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse
+deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht war: »Gehn wir dort
+hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.«
+
+Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung
+betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit
+einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille hatte
+keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, wenn man an
+einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit einen steilen
+Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst sich irgendwie
+wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt und man, statt zu
+bremsen, sich mit einer taumelnden und doch bewußten Schwäche willenlos
+an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht mehr zurück und wollte vielleicht
+gar nicht mehr, und jetzt, wie sie vertraulich sich an mich drückte,
+faßte ich unwillkürlich ihren Arm. Es war ein ganz magerer Arm, nicht
+der Arm einer Frau, sondern wie der eines zurückgebliebenen skrofulösen
+Kindes, und kaum daß ich ihn durch das dünne Mäntelchen fühlte, überkam
+mich mitten in dem gespannten Empfinden ein ganz weiches, flutendes
+Mitleid mit diesem erbärmlichen, zertretenen Stück Leben, das diese
+Nacht gegen mich gespült. Und unwillkürlich liebkosten meine Finger
+diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich
+noch nie eine Frau berührt.
+
+Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines
+Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest
+zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, obwohl man kaum mehr
+einen Umriß bemerken konnte, daß sie ganz vorsichtig an meinem Arm sich
+umwandte und einige Schritte später noch ein zweitesmal. Und seltsam:
+während ich gleichsam in einer Betäubung in das schmutzige Abenteuer
+hinabglitt, waren doch meine Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit
+einer Hellsichtigkeit, der nichts entging, die jede Regung wissend bis
+in sich hineinriß, merkte ich, daß rückwärts am Saum des überquerten
+Pfades schattenhaft uns etwas nachglitt, und mir war es, als hörte ich
+einen schleichenden Schritt. Und plötzlich -- wie ein Blitz eine
+Landschaft prasselnd weiß überspringt -- ahnte, wußte ich alles: daß ich
+hier in eine Falle gelockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure
+hinter uns lauerten und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle
+zog, wo ich ihre Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit,
+wie sie nur die zusammengepreßten Sekunden zwischen Tod und Leben haben,
+sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit zu
+entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die
+elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein Pfiff
+konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle
+Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.
+
+Aber seltsam -- diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht, sondern
+hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augenblick, im klaren
+Licht eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz
+erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich
+unnötig in eine Gefahr ging, aber wie ein feiner Wahnsinn rieselte mir
+das Vorgefühl durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht
+Tödliches voraus, ich zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein
+Verbrechen, in ein gemeines, schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber
+gerade für die nie gekannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich
+betäubend überströmte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier.
+Etwas -- war es Scham, die Furcht zu zeigen, oder eine Schwäche? --
+stieß mich vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens
+hinabzusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu
+verspielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte
+sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen meinen
+Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem Verstand
+klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das Gehölz am
+Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich mehr abstieß als
+lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur für ihre Spießgesellen
+herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die Schwerkraft des
+Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer auf dem Rennplatze
+an mich gehangen, riß mich weiter und weiter hinab. Und ich spürte nur
+mehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes in neue Tiefen
+hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod.
+
+Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick unsicher
+herum. Dann sah sie mich wartend an: »Na -- und was schenkst du mir?«
+
+Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich nicht.
+Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich verschwenden zu
+dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete alles Silber und ein
+paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane Hand. Und nun geschah
+etwas so Wunderbares, daß mir heute noch das Blut warm wird, wenn ich
+daran denke: entweder war diese arme Person überrascht von der Höhe der
+Summe -- sie war sonst nur kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen
+Dienst --, oder in der Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast
+beglückten Gebens mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn
+sie trat zurück, und durch das dicke, übelriechende Dunkel spürte ich,
+wie ihr Blick mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand
+endlich das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand
+suchte mich, zum erstenmal _lebte_ ich für irgend jemanden dieser Welt.
+Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen
+verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und die,
+ohne den Käufer auch nur anzusehen, sich an mich gedrängt, nun die Augen
+aufschlug zu den meinen, daß sie nach dem Menschen in mir fragte, das
+steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die hellsichtig war und
+taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und
+schon drängte dieses fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in
+geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend
+etwas unbewußt Dankbares, einen weibhaften Willen zur Annäherung darin
+zu spüren. Ich faßte leise ihren Arm an, den magern rachitischen
+Kinderarm, empfand ihren kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich
+über all das hinaus ihr ganzes Leben: die geliehene schmierige
+Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens bis mittags schlief
+zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie
+würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die
+gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal,
+wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen
+Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer
+Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie
+verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen
+überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine
+Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm.
+Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte.
+
+In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich
+sprang zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da
+haben mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.«
+
+Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte
+ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich
+umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet.
+Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine
+zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das
+ordinäre Lachen. »So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben.
+Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich
+stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich empfand keine
+Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in
+der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der
+Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend
+entgegengetrieben.
+
+Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber.
+Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete
+Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren
+ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar
+erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst.
+»Aha, er sagt nix,« rief schließlich drohend der eine. Und der andere
+trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie müssen mit aufs
+Kommissariat.«
+
+Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die
+Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts,« sagte er.
+
+Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren wollte: das
+Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation betäubte mich.
+Mein Gehirn blieb ganz wach; ich wußte, daß die Burschen die Polizei
+mehr fürchten mußten als ich, daß ich mich loskaufen konnte mit ein paar
+Kronen, -- aber ich wollte ganz die Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich
+genoß die grausige Erniedrigung der Situation in einer Art wissender
+Ohnmacht. Ohne Hast, ganz mechanisch ging ich in die Richtung, in die
+sie mich gestoßen hatten.
+
+Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zuging,
+schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann fingen sie
+wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. »Laß ihn laufen,«
+sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl); aber der andere
+erwiderte, scheinbar streng: »Nein, das geht nicht. Wenn das ein armer
+Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird er eingelocht.
+Aber so ein feiner Herr -- da muß a Straf sein.« Und ich hörte jedes
+Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte, ich möchte beginnen, mit
+ihnen zu verhandeln; der Verbrecher in mir verstand den Verbrecher in
+ihnen, verstand, daß sie mich quälen wollten mit Angst und ich sie
+quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es war ein stummer Kampf zwischen uns
+beiden, und -- o wie reich war diese Nacht! -- ich fühlte inmitten
+tödlicher Gefahr, hier mitten im stinkenden Dickicht der Praterwiese,
+zwischen Strolchen und einer Dirne, zum zweitenmal seit zwölf Stunden
+den rasenden Zauber des Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um
+meine ganze bürgerliche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich
+diesem ungeheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen
+gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden Nerven
+hin.
+
+»Aha, dort ist schon der Wachmann,« sagte hinter mir die eine Stimme,
+»da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr, eine Wochen wird
+er schon sitzen.« Es sollte böse klingen und drohend, aber ich hörte die
+stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich dem Lichtschein zu, wo
+tatsächlich die Pickelhaube eines Schutzmannes glänzte. Zwanzig Schritte
+noch, dann mußte ich vor ihm stehen. Hinter mir hatten die Burschen
+aufgehört zu reden; ich merkte, wie sie langsamer gingen; im nächsten
+Augenblick mußten sie, ich wußte es, feig zurücktauchen in das Dunkel,
+in ihre Welt, erbittert über den mißlungenen Streich, und ihren Zorn
+vielleicht an der Armseligen auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum,
+zum zweitenmal, hatte ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden,
+unbekannten Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von
+drüben der bleiche Kreis der Laternen, und als ich mich jetzt umwandte,
+sah ich zum erstenmal in die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung
+war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie blieben
+stehen in einer gedrückten, enttäuschten Art, bereit, ins Dunkel
+zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war _ich_ es, den sie
+fürchteten.
+
+In diesem Augenblick überkam mich plötzlich -- und es war, als ob die
+innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte und heiß
+das Gefühl in mein Blut überliefe -- ein so unendliches, ein
+_brüderliches_ Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten sie denn
+begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten Burschen, von
+mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen, ein paar elende
+Kronen. Sie hätten mich würgen können dort im Dunkel, mich berauben,
+mich töten, und hatten es nicht getan, hatten nur in einer ungeübten,
+ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken um dieser kleinen
+Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche lagen. Wie konnte ich es
+da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der Verbrecher aus
+Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in mein
+unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst,
+mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte
+mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das
+Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen
+sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.
+
+Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen
+Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen
+gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht
+werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch
+keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«
+
+Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen
+Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich
+weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der
+eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend:
+»Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht.«
+
+Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie
+falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich
+wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich
+ihnen Geld bieten würde.
+
+Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in
+mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß,
+was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch
+länger quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang
+mich rasch, ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser
+beiden endlich erlösen mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu
+spielen, bat sie um Mitleid, sie möchten schweigen, mich nicht
+unglücklich machen. Ich merkte, wie sie verlegen wurden, diese armen
+Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher
+zwischen uns stand.
+
+Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nachdem sie so lange
+lechzten. »Ich ... ich gebe Ihnen ... hundert Kronen.«
+
+Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie nicht mehr
+erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. Endlich faßte sich
+der eine, der Pockennarbige mit dem unruhigen Blick. Zweimal setzte er
+an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. Dann sagte er -- und ich spürte,
+wie er sich schämte dabei: »Zweihundert Kronen.«
+
+»Aber hörts auf,« mengte sich jetzt plötzlich das Mädchen ein. »Ihr
+könnts froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja gar nix
+getan, kaum daß er mich angerührt hat. Das ist wirklich zu stark.«
+
+Wirklich erbittert schrie sie's ihnen entgegen. Und mir klang das Herz.
+Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus dem Gemeinen
+stieg Güte, irgendein dunkles Begehren nach Gerechtigkeit aus einer
+Erpressung. Wie das wohl tat, wie das Antwort gab auf den Aufschwall in
+mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen mit den Menschen, nicht sie
+quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: genug! genug!
+
+»Gut, also zweihundert Kronen.«
+
+Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz langsam,
+ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff hätten sie mir
+sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen
+scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes
+Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des
+Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. Ich blätterte die
+beiden Noten aus dem gestohlenen Pack und reichte sie dem einen hin.
+
+»Danke schön,« sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg.
+Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes
+Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham -- oh, alles fühlte ich ja
+in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! -- bedrückte mich. Ich
+wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der ich
+seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie er.
+Seine Demütigung quälte mich, und ich wollte sie ihm wegnehmen. So
+wehrte ich seinem Dank.
+
+»Ich habe Ihnen zu danken,« sagte ich und wunderte mich selbst, wieviel
+wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. »Wenn Sie mich
+angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich erschießen
+müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser so. Ich gehe
+jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die andere Seite.
+Gute Nacht.«
+
+Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine »Gute Nacht,«
+dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel geblieben. Ganz
+warm klang es, ganz herzlich wie ein wirklicher Wunsch. An ihren Stimmen
+fühlte ich, sie hatten mich irgendwo tief im Dunkel ihres Wesens lieb,
+sie würden diese sonderbare Sekunde nie vergessen. Im Zuchthaus oder im
+Spital würde sie ihnen vielleicht wieder einmal einfallen: etwas von mir
+lebte fort in ihnen, ich hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens
+Lust erfüllte mich wie noch nie ein Gefühl.
+
+Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles
+Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie
+gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt
+hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich
+wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die Bäume,
+sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von oben
+nieder, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend von
+irgendwoher, und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte mir mit
+einem Male, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen, und Freude des
+Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. O wie leicht ist
+es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh zu werden aus der
+Freude: man braucht sich nur aufzutun, und schon fließt von Mensch zu
+Menschen der lebendige Strom, stürzt vom Hohen zum Niedern, schäumt von
+der Tiefe wieder ins Unendliche empor.
+
+Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich eine Hökerin,
+müde, gebückt über ihren kleinen Kram. Bäckereien hatte sie,
+überschimmelt von Staub, und ein paar Früchte, seit Morgen saß sie wohl
+so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdigkeit knickte sie ein.
+Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte ich, wenn ich mich freue?
+Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot und legte ihr einen Schein hin.
+Sie wollte eilfertig wechseln, aber schon ging ich weiter und sah nur,
+wie sie erschrak vor Glück, wie die zerknitterte Gestalt sich plötzlich
+straffte und nur der im Staunen erstarrte Mund mir tausend Wünsche
+nachsprudelte. Das Brot zwischen den Fingern trat ich zu dem Pferde, das
+müde an der Deichsel hing, aber nun wandte es sich her und schnaubte mir
+freundlich zu. Auch in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa
+Nüster streichelte und ihm das Brot hinreichte. Und kaum daß ichs getan,
+begehrte ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren,
+wie man mit ein paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst
+auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren keine
+Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben wollten, die
+dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken Bündeln an vielen
+Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das schlechte Geschäft des
+langen heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. »Geben Sie mir die Ballons.«
+»Zehn Heller das Stück,« sagte er mißtrauisch, denn was wollte dieser
+elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen Ballons? »Geben
+Sie mir alle,« sagte ich und gab ihm einen Zehnkronenschein. Er torkelte
+auf, sah mich wie geblendet an, dann gab er mir zitternd die Schnur, die
+das ganze Bündel hielt. Straff fühlte ich es an dem Finger ziehn: sie
+wollten weg, wollten frei sein, wollten hinauf in den Himmel hinein. So
+geht, fliegt, wohin ihr begehrt, seid frei! Ich ließ die Schnüre los,
+und wie viele bunte Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten
+liefen die Leute her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten,
+die Kutscher knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig
+rufend mit den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Bäume hin
+zu den Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte
+seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.
+
+Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut,
+Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der
+Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre
+der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein.
+Und ich nahm sie, die gestohlenen des Lajos und die eigenen -- denn
+nichts empfand ich mehr davon als Unterschied oder Schuld -- zwischen
+die Finger, bereit, sie jedem hinzustreuen, der eine wollte. Ich ging
+hinüber zu einem Straßenkehrer, der verdrossen die verlassene
+Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach irgendeiner Gasse
+fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm einen
+Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er ihn
+endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm
+nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür,« und ging weiter. Immer sah
+ich nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da
+niemand kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich
+einen Schein, zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene
+Luke einer Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von
+Staunen, Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf
+ich sie einzeln und zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen
+einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei
+der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer
+Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf
+ihrem Weg entdecken würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in
+dieser Nacht mich selber entdeckt.
+
+Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die
+Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgendein Taumel
+in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter
+weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen
+können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die
+Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des
+Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden
+meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge
+wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr
+Leben und das meine ganz das gleiche waren, eben das große, das
+gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte Leben, das nur die Liebe
+begreift, nur der Hingegebene umfaßt.
+
+Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich,
+selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu
+meinen Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über
+mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die
+Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in
+sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm,
+was diese Nacht so schön gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch
+werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, fühllose, weltabgelöste
+Gentleman von gestern und einst, lieber hinabstürzen in alle Tiefen des
+Verbrechens und des Grauens, aber doch in die Wirklichkeit des Lebens!
+Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete ich mich, der Schlaf
+möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße, das Glühende, das
+Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit
+seinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und
+unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.
+
+Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und
+nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun
+vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt,
+ich blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit
+von damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen
+verlor, ins Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen
+Abgrund den Taumel der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des
+ganzen Lebens berauscht gemengt empfand, -- diese fliegende Hitze, sie
+freilich ist dahin, aber ich spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes
+Blut mit jedem Atemzuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des
+Lebens. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen
+Sinnen, anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich
+wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich
+weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für
+mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein
+Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seitdem verbiete ich mir
+nichts mehr, weil ich die Normen und Formen meiner Gesellschaft als
+wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor andern noch vor mir selbst.
+Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben plötzlich einen kalten,
+blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne Grauen gar nicht
+auszusprechen. Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der Macht, die
+ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt,
+frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein,
+was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es
+nicht und will es nicht wissen. _Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft
+lebt, der sein Schicksal als ein Geheimnis lebt._
+
+Nie aber habe ich -- dessen bin ich gewiß -- das Leben inbrünstiger
+geliebt, und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige,
+das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgendeine seiner Formen und
+Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe ich
+unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen vor einer
+Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes mich
+begeistern. Ich achte mit einemmal auf alles, nichts ist mir
+gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf
+Vergnügungen und Auktionen durchblätterte) täglich hundert Dinge, die
+mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich auf.
+Und das merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen auch
+außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein Diener, den
+ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft
+mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen
+Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens
+erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares.
+Und diese Verwandlung scheint -- obzwar ich, um mich nicht zu verraten,
+mein Leben innerhalb der Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze
+-- allmählich transparent zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal
+herzlich mit mir, zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde
+auf der Straße zu. Und Freunde sagen mir wie zu einem, der eine
+Krankheit überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fänden
+mich verjüngt.
+
+Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben
+beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint,
+alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich
+verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme
+lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich
+hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn -- er ist
+der erste, der mich beglückt, der erste, der mir das Blut gewärmt und
+mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner Erweckung
+hier aufzeichne, so tue ich es doch nur für mich allein, der all dies
+tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen vermögen. Gesprochen
+habe ich zu keinem Freunde davon; sie ahnten nie, wie abgestorben ich
+schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie blühend ich nun bin. Und sollte
+mitten in dies mein lebendiges Leben der Tod fahren und diese Zeilen je
+in eines andern Hände fallen, so schreckt und quält mich diese
+Möglichkeit durchaus nicht. Denn wem die Magie einer solchen Stunde nie
+bewußt geworden, wird ebensowenig verstehen, als ich es selbst vor einem
+halben Jahre hätte verstehen können, daß ein paar dermaßen flüchtige und
+scheinbar kaum verbundene Episoden eines einzigen Abends ein schon
+verloschenes Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich
+mich nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene
+weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich
+nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann
+nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in
+sich begriffen, der begreift alle Menschen.
+
+
+
+
+ Brief einer Unbekannten
+
+
+Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem
+erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am
+Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog,
+erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste,
+besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und
+nicht weh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seiten der Zeitung
+und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung. Der Diener meldete
+aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telephonanrufe
+und überbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lässig sah er
+den Einlauf an, riß ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender
+interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzüge trug und zu
+umfangreich schien, schob er zunächst beiseite. Inzwischen war der Tee
+aufgetragen worden, bequem lehnte er sich in den Fauteuil,
+durchblätterte noch einmal die Zeitung und einige Drucksachen; dann
+zündete er sich eine Zigarre an und griff nun nach dem zurückgelegten
+Briefe.
+
+Es waren etwa zwei Dutzend hastig beschriebene Seiten in fremder,
+unruhiger Frauenschrift, ein Manuskript eher als ein Brief.
+Unwillkürlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein
+Begleitschreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Umschlag war leer
+und trug so wenig wie die Blätter selbst eine Absenderadresse oder eine
+Unterschrift. Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur
+Hand. »_Dir, der Du mich nie gekannt_«, stand oben als Anruf, als
+Überschrift. Verwundert hielt er inne: galt das ihm, galt das einem
+erträumten Menschen? Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zu
+lesen:
+
+ * * * * *
+
+»Mein Kind ist gestern gestorben -- drei Tage und drei Nächte habe ich
+mit dem Tode um dies kleine, zarte Leben gerungen, vierzig Stunden bin
+ich, während die Grippe seinen armen, heißen Leib im Fieber schüttelte,
+an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seine glühende Stirn getan,
+ich habe seine unruhigen, kleinen Hände gehalten Tag und Nacht. Am
+dritten Abend bin ich zusammengebrochen. Meine Augen konnten nicht mehr,
+sie fielen zu, ohne daß ich es wußte. Drei Stunden oder vier war ich auf
+dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun
+liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz
+so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen,
+dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und
+vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht
+hinzusehen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die
+Kerzen, huschen Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund,
+und es ist dann so, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen,
+er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme
+etwas Kindlich-Zärtliches zu mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot,
+ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nicht noch
+einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist
+gestern gestorben -- jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur
+Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder
+mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und
+den ich immer geliebt.
+
+Ich habe die fünfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf
+dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem
+toten Kinde, ohne mir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ich
+sprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir
+alles warst und alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu
+Dir sprechen, vielleicht verstehst Du mich nicht -- mein Kopf ist ja
+ganz dumpf, es zuckt und hämmert mir an den Schläfen, meine Glieder tun
+so weh. Ich glaube, ich habe Fieber, vielleicht auch schon die Grippe,
+die jetzt von Tür zu Tür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge
+ich mit meinem Kinde und müßte nichts tun wider mich. Manchmal wirds mir
+ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal
+zu Ende schreiben -- aber ich will alle Kraft zusammentun, um einmal,
+nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Du mein Geliebter, der Du mich
+nie erkannt.
+
+Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmal alles sagen; mein
+ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du
+nie gewußt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin,
+wenn Du mir nicht mehr Antwort geben mußt, wenn das, was mir die Glieder
+jetzt so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ich
+weiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen,
+wie ich immer schwieg. Hältst Du ihn aber in Händen, so weißt Du, daß
+hier eine Tote Dir ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine war von
+ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde. Fürchte Dich nicht vor
+meinen Worten; eine Tote will nichts mehr, sie will nicht Liebe und
+nicht Mitleid und nicht Tröstung. Nur dies eine will ich von Dir, daß Du
+mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflüchtender Schmerz Dir verrät.
+Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich Dich: man lügt nicht in der
+Sterbestunde eines einzigen Kindes.
+
+Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben, das wahrhaft erst
+begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war bloß etwas Trübes
+und Verworrenes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte, irgendein
+Keller von verstaubten, spinnverwebten, dumpfen Dingen und Menschen, von
+denen mein Herz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre
+und wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst, in demselben Hause, wo
+Du diesen Brief, meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ich
+wohnte auf demselben Gange, gerade der Tür Deiner Wohnung gegenüber. Du
+erinnerst Dich gewiß nicht mehr an uns, an die ärmliche
+Rechnungsratswitwe (sie ging immer in Trauer) und das halbwüchsige,
+magere Kind -- wir waren ja ganz still, gleichsam hinabgetaucht in
+unsere kleinbürgerliche Dürftigkeit -- Du hast vielleicht nie unseren
+Namen gehört, denn wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, und
+niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch schon so lange her,
+fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weißt es gewiß nicht mehr, mein
+Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich leidenschaftlich an jede
+Einzelheit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich
+zum erstenmal von Dir hörte, Dich zum erstenmal sah, und wie sollte ichs
+auch nicht, denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde, Geliebter,
+daß ich Dir alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die
+eine Viertelstunde von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang
+Dich zu lieben nicht müde geworden bin.
+
+Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tür häßliche, böse,
+streitsüchtige Leute. Arm wie sie waren, haßten sie am meisten die
+nachbarliche Armut, die unsere, weil sie nichts gemein haben wollte mit
+ihrer herabgekommenen, proletarischen Roheit. Der Mann war ein
+Trunkenbold und schlug seine Frau; oft wachten wir auf in der Nacht vom
+Getöse fallender Stühle und zerklirrter Teller, einmal lief sie, blutig
+geschlagen, mit zerfetzten Haaren auf die Treppe, und hinter ihr grölte
+der Betrunkene, bis die Leute aus den Türen kamen und ihn mit der
+Polizei bedrohten. Meine Mutter hatte von Anfang an jeden Verkehr mit
+ihnen vermieden und verbot mir, zu den Kindern zu sprechen, die sich
+dafür bei jeder Gelegenheit an mir rächten. Wenn sie mich auf der Straße
+trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mir her und schlugen mich
+einmal so mit harten Schneeballen, daß mir das Blut von der Stirne lief.
+Das ganze Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt diese Menschen, und
+als plötzlich einmal etwas geschehen war -- ich glaube, der Mann wurde
+wegen eines Diebstahls eingesperrt -- und sie mit ihrem Kram ausziehen
+mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der Vermietungszettel
+am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch den Hausmeister
+verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner, ruhiger
+Herr, habe die Wohnung genommen. Damals hörte ich zum erstenmal Deinen
+Namen.
+
+Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher, Zimmerputzer,
+Tapezierer, die Wohnung nach ihren schmierigen Vorbesitzern reinzufegen,
+es wurde gehämmert, geklopft, geputzt und gekratzt, aber die Mutter war
+nur zufrieden damit, sie sagte, jetzt werde endlich die unsaubere
+Wirtschaft drüben ein Ende haben. Dich selbst bekam ich, auch während
+der Übersiedlung, noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeiten überwachte
+Dein Diener, dieser kleine, ernste, grauhaarige Herrschaftsdiener, der
+alles mit einer leisen, sachlichen Art von oben herab dirigierte. Er
+imponierte uns allen sehr, erstens weil in unserem Vorstadthaus ein
+Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen
+so ungemein höflich war, ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine
+Stufe zu stellen und in kameradschaftliche Gespräche einzulassen. Meine
+Mutter grüßte er vom ersten Tage an respektvoll als eine Dame, sogar zu
+mir Fratzen war er immer zutraulich und ernst. Wenn er Deinen Namen
+nannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehrfurcht, mit einem
+besonderen Respekt -- man sah gleich, daß er Dir weit über das Maß des
+gewohnten Dienens anhing. Und wie habe ich ihn dafür geliebt, den guten
+alten Johann, obwohl ich ihn beneidete, daß er immer um Dich sein durfte
+und Dir dienen.
+
+Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen, fast
+lächerlichen Dinge, damit Du verstehst, wie Du von Anfang an schon eine
+solche Macht gewinnen konntest über das scheue, verschüchterte Kind, das
+ich war. Noch ehe Du selbst in mein Leben getreten, war schon ein Nimbus
+um Dich, eine Sphäre von Reichtum, Sonderbarkeit und Geheimnis -- wir
+alle in dem kleinen Vorstadthaus (Menschen, die ein enges Leben haben,
+sind ja immer neugierig auf alles Neue vor ihren Türen) warteten schon
+ungeduldig auf Deinen Einzug. Und diese Neugier nach Dir, wie steigerte
+sie sich erst bei mir, als ich eines Nachmittags von der Schule nach
+Hause kam und der Möbelwagen vor dem Hause stand. Das meiste, die
+schweren Stücke, hatten die Träger schon hinaufbefördert, nun trug man
+einzeln kleinere Sachen hinauf; ich blieb an der Tür stehen, um alles
+bestaunen zu können, denn alle Deine Dinge waren so seltsam anders, wie
+ich sie nie gesehen; es gab da indische Götzen, italienische Skulpturen,
+ganz grelle, große Bilder, und dann zum Schluß kamen Bücher, so viele
+und so schöne, wie ich es nie für möglich gehalten. An der Tür wurden
+sie alle aufgeschichtet, dort übernahm sie der Diener und schlug mit
+Stock und Wedel sorgfältig den Staub aus jedem einzelnen. Ich schlich
+neugierig um den immer wachsenden Stoß herum, der Diener wies mich nicht
+weg, aber er ermutigte mich auch nicht; so wagte ich keines anzurühren,
+obwohl ich das weiche Leder von manchen gern befühlt hätte. Nur die
+Titel sah ich scheu von der Seite an: es waren französische, englische
+darunter und manche in Sprachen, die ich nicht verstand. Ich glaube, ich
+hätte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein.
+
+Den ganzen Abend dann mußte ich an Dich denken; noch ehe ich Dich
+kannte. Ich besaß selbst nur ein Dutzend billige, in zerschlissene Pappe
+gebundene Bücher, die ich über alles liebte und immer wieder las. Und
+nun bedrängte mich dies, wie der Mensch sein müßte, der all diese vielen
+herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen
+wußte, der so reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überirdischer
+Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieser vielen Bücher. Ich suchte
+Dich mir im Bilde vorzustellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille
+und einem weißen langen Barte, ähnlich wie unser Geographieprofessor,
+nur viel gütiger, schöner und milder -- ich weiß nicht, warum ich damals
+schon gewiß war, Du müßtest schön sein, wo ich noch an Dich wie einen
+alten Mann dachte. Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen,
+habe ich das erstemal von Dir geträumt.
+
+Am nächsten Tage zogst Du ein, aber trotz allen Spähens konnte ich Dich
+nicht zu Gesicht bekommen -- das steigerte nur meine Neugier. Endlich,
+am dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschütternd war die Überraschung
+für mich, daß Du so anders warst, so ganz ohne Beziehung zu dem
+kindlichen Gottvaterbilde. Einen bebrillten gütigen Greis hatte ich mir
+geträumt, und da kamst Du -- Du, ganz so, wie Du noch heute bist, Du
+Unwandelbarer, an dem die Jahre lässig abgleiten! Du trugst eine
+hellbraune, entzückende Sportdreß und liefst in Deiner unvergleichlich
+leichten knabenhaften Art die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf
+einmal nehmend. Den Hut trugst Du in der Hand, so sah ich mit einem gar
+nicht zu schildernden Erstaunen Dein helles, lebendiges Gesicht mit dem
+jungen Haar: wirklich, ich erschrak vor Erstaunen, wie jung, wie hübsch,
+wie federnd-schlank und elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: in
+dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich das, was ich und alle
+anderen an Dir als so einzig mit einer Art Überraschung immer wieder
+empfinden: daß Du irgendein zwiefacher Mensch bist, ein heißer,
+leichtlebiger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebener Junge, und
+gleichzeitig in Deiner Kunst ein unerbittlich ernster, pflichtbewußter,
+unendlich belesener und gebildeter Mann. Unbewußt empfand ich, was dann
+jeder bei Dir spürte, daß Du ein Doppelleben führst, ein Leben mit einer
+hellen, der Welt offen zugekehrten Fläche, und einer ganz dunkeln, die
+Du nur allein kennst -- diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner
+Existenz, sie fühlte ich, die Dreizehnjährige, magisch angezogen, mit
+meinem ersten Blick.
+
+Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wunder, was für eine
+verlockende Rätselhaftigkeit Du für mich, das Kind, sein mußtest! Einen
+Menschen, vor dem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb, weil er
+berühmt war in jener anderen großen Welt, plötzlich als einen jungen,
+eleganten, knabenhaft heiteren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu
+entdecken! Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an in unserem
+Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als
+Du, daß ich mit dem ganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden
+Beharrlichkeit einer Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben, um Deine
+Existenz herumging. Ich beobachtete Dich, ich beobachtete Deine
+Gewohnheiten, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das
+vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn
+die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens drückte sich in der
+Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge Menschen, Kameraden
+von Dir, mit denen Du lachtest und übermütig warst, abgerissene
+Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren, einmal der
+Direktor der Oper, der große Dirigent, den ich ehrfürchtig nur am Pulte
+von fern gesehen, dann wieder kleine Mädel, die noch in die
+Handelsschule gingen und verlegen in die Tür hineinhuschten, überhaupt
+viel, sehr viel Frauen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch
+nicht, als ich eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame ganz
+verschleiert von Dir weggehen sah -- ich war ja erst dreizehn Jahre alt,
+und die leidenschaftliche Neugier, mit der ich Dich umspähte und
+belauerte, wußte im Kinde noch nicht, daß sie schon Liebe war.
+
+Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann
+ich ganz und für immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer
+Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem
+Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit
+Deiner ungeduldigen, elastischen Art, die mich noch heute an Dir immer
+hinreißt, vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlich zwang es
+mich, Dir die Tür aufzumachen, und so trat ich Dir in den Weg, daß wir
+fast zusammengerieten. Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen,
+einhüllenden Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächeltest mir -- ja,
+ich kann es nicht anders sagen, als: zärtlich zu und sagtest mit einer
+ganz leisen und fast vertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Fräulein.«
+
+Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen
+weichen, zärtlichen Blick gespürt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja
+später, habe es bald erfahren, daß Du diesen umfangenden, an Dich
+ziehenden, diesen umhüllenden und doch zugleich entkleidenden Blick,
+diesen Blick des gebornen Verführers, jeder Frau hingibst, die an Dich
+streift, jedem Ladenmädchen, das Dir verkauft, jedem Stubenmädchen, das
+Dir die Tür öffnet, daß dieser Blick bei Dir gar nicht bewußt ist als
+Wille und Neigung, sondern daß Deine Zärtlichkeit zu Frauen ganz
+unbewußt Deinen Blick weich und warm werden läßt, wenn er sich ihnen
+zuwendet. Aber ich, das dreizehnjährige Kind, ahnte das nicht: ich war
+wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur
+mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir, der
+Halbwüchsigen, erwacht und war diese Frau Dir für immer verfallen.
+
+»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich
+antworten. Es war mir unmöglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser
+einen, dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein Geheimnis
+geworden. »Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt,« stammelte ich
+dann ungeschickt heraus. »Aber warum bist Du denn so rot geworden, wie
+er Dich angeschaut hat,« spottete die Freundin mit der ganzen Bosheit
+eines neugierigen Kindes. Und eben weil ich fühlte, daß sie an mein
+Geheimnis spottend rühre, fuhr mir das Blut noch heißer in die Wangen.
+Ich wurde grob aus Verlegenheit. »Blöde Gans,« sagte ich wild: am
+liebsten hätte ich sie erdrosselt. Aber sie lachte nur noch lauter und
+höhnischer, bis ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augen schossen vor
+ohnmächtigem Zorn. Ich ließ sie stehen und lief hinauf.
+
+Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ich weiß, Frauen haben Dir,
+dem Verwöhnten, oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat
+Dich so sklavisch, so hündisch, so hingebungsvoll geliebt als dieses
+Wesen, das ich war und das ich für Dich immer geblieben bin, denn nichts
+auf Erden gleicht der unbemerkten Liebe eines Kindes aus dem Dunkel,
+weil sie so hoffnungslos, so dienend, so unterwürfig, so lauernd und
+leidenschaftlich ist, wie niemals die begehrende und unbewußt doch
+fordernde Liebe einer erwachsenen Frau. Nur einsame Kinder können ganz
+ihre Leidenschaft zusammenhalten: die anderen zerschwätzen ihr Gefühl in
+Geselligkeit, schleifen es ab in Vertraulichkeiten, sie haben von Liebe
+viel gehört und gelesen und wissen, daß sie ein gemeinsames Schicksal
+ist. Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen damit, wie
+Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um
+mich anzuvertrauen, war von keinem belehrt und gewarnt, war unerfahren
+und ahnungslos: ich stürzte hinein in mein Schicksal wie in einen
+Abgrund. Alles, was in mir wuchs und aufbrach, wußte nur Dich, den Traum
+von Dir, als Vertrauten: mein Vater war längst gestorben, die
+Mutter mir fremd in ihrer ewig unheiteren Bedrücktheit und
+Pensionistenängstlichkeit, die halbverdorbenen Schulmädchen stießen mich
+ab, weil sie so leichtfertig mit dem spielten, was mir letzte
+Leidenschaft war -- so warf ich alles, was sich sonst zersplittert und
+verteilt, warf ich mein ganzes zusammengepreßtes und immer wieder
+ungeduldig aufquellendes Wesen Dir entgegen. Du warst mir -- wie soll
+ich es Dir sagen? jeder einzelne Vergleich ist zu gering, -- Du warst
+eben alles, mein ganzes Leben. Alles existierte nur insofern, als es
+Bezug hatte auf Dich, alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es
+mit Dir verbunden war. Du verwandeltest mein ganzes Leben. Bisher
+gleichgültig und mittelmäßig in der Schule, wurde ich plötzlich die
+Erste, ich las tausend Bücher bis tief in die Nacht, weil ich wußte, daß
+Du die Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter,
+plötzlich mit fast störrischer Beharrlichkeit Klavier zu üben, weil ich
+glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern, nur
+um gefällig und proper vor Dir auszusehen, und daß ich an meiner alten
+Schulschürze (sie war ein zugeschnittenes Hauskleid meiner Mutter) links
+einen eingesetzten viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich. Ich
+fürchtete, Du könntest ihn bemerken und mich verachten; darum drückte
+ich immer die Schultasche darauf, wenn ich die Treppen hinauflief,
+zitternd vor Angst, Du würdest ihn sehen. Aber wie töricht war das: Du
+hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.
+
+Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten
+und Dich belauern. An unserer Tür war ein kleines messingenes Guckloch,
+durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen
+konnte. Dieses Guckloch -- nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute,
+noch heute schäme ich mich jener Stunden nicht! -- war mein Auge in die
+Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor dem Argwohn der
+Mutter, saß ich in jenen Monaten und Jahren, ein Buch in der Hand, ganze
+Nachmittage auf der Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend, wenn
+Deine Gegenwart sie berührte. Ich war immer um Dich, immer in Spannung
+und Bewegung; aber Du konntest es so wenig fühlen wie die Spannung der
+Uhrfeder, die Du in der Tasche trägst und die geduldig im Dunkel Deine
+Stunden zählt und mißt, Deine Wege mit unhörbarem Herzpochen begleitet
+und auf die nur einmal in Millionen tickender Sekunden Dein hastiger
+Blick fällt. Ich wußte alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten,
+jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzüge, ich kannte und unterschied
+bald Deine einzelnen Bekannten und teilte sie in solche, die mir lieb
+und solche, die mir widrig waren: von meinem dreizehnten bis zu meinem
+sechzehnten Jahre habe ich jede Stunde in Dir gelebt. Ach, was für
+Torheiten habe ich begangen! Ich küßte die Türklinke, die Deine Hand
+berührt hatte, ich stahl einen Zigarrenstummel, den Du vor dem Eintreten
+weggeworfen hattest, und er war mir heilig, weil Deine Lippen daran
+gerührt. Hundertmal lief ich abends unter irgendeinem Vorwand hinab auf
+die Gasse, um zu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht brenne und so
+Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissender zu fühlen. Und in den
+Wochen, wo Du verreist warst -- mir stockte immer das Herz vor Angst,
+wenn ich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinabtragen sah --, in
+diesen Wochen war mein Leben tot und ohne Sinn. Mürrisch, gelangweilt,
+böse ging ich herum und mußte nur immer achtgeben, daß die Mutter an
+meinen verweinten Augen nicht meine Verzweiflung merke.
+
+Ich weiß, das sind alles groteske Überschwänge, kindische Torheiten, die
+ich Dir da erzähle. Ich sollte mich ihrer schämen, aber ich schäme mich
+nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als
+in diesen kindlichen Exzessen. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir
+erzählen, wie ich damals mit Dir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht
+kanntest, denn begegnete ich Dir auf der Treppe und gab es kein
+Ausweichen, so lief ich, aus Furcht vor Deinem brennenden Blick, mit
+gesenktem Kopf an Dir vorbei wie einer, der ins Wasser stürzt, nur daß
+mich das Feuer nicht versenge. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir von
+jenen Dir längst entschwundenen Jahren erzählen, den ganzen Kalender
+Deines Lebens aufrollen; aber ich will Dich nicht langweilen, will Dich
+nicht quälen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir
+noch anvertrauen, und ich bitte Dich, nicht zu spotten, weil es ein so
+Geringes ist, denn mir, dem Kinde, war es eine Unendlichkeit. An einem
+Sonntag muß es gewesen sein, Du warst verreist, und Dein Diener
+schleppte die schweren Teppiche, die er geklopft hatte, durch die offene
+Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von
+Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte.
+Er war erstaunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich -- vermöchte
+ich Dirs doch nur zu sagen, mit welcher ehrfürchtigen, ja frommen
+Verehrung! -- Deine Wohnung von innen, Deine Welt, den Schreibtisch, an
+dem Du zu sitzen pflegtest und auf dem in einer blauen Kristallvase ein
+paar Blumen standen, Deine Schränke, Deine Bilder, Deine Bücher. Nur ein
+flüchtiger, diebischer Blick war es in Dein Leben, denn Johann, der
+Getreue, hätte mir gewiß genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit
+diesem einen Blick die ganze Atmosphäre ein und hatte Nahrung für meine
+unendlichen Träume von Dir im Wachen und Schlaf.
+
+Dies, diese rasche Minute, sie war die glücklichste meiner Kindheit. Sie
+wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu
+ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Sie wollte ich
+Dir erzählen und jene andere noch, die fürchterlichste Stunde, die jener
+leider so nachbarlich war. Ich hatte -- ich sagte es Dir ja schon -- um
+Deinetwillen an alles vergessen, ich hatte auf meine Mutter nicht acht
+und kümmerte mich um niemanden. Ich merkte nicht, daß ein älterer Herr,
+ein Kaufmann aus Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt verschwägert
+war, öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er
+führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an
+Dich denken, auf Dich lauern, was ja meine höchste, meine einzige
+Seligkeit war. Eines Tages nun rief mich die Mutter mit einer gewissen
+Umständlichkeit in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich
+wurde blaß und hörte mein Herz plötzlich hämmern: sollte sie etwas
+geahnt, etwas erraten haben? Mein erster Gedanke warst Du, das
+Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst
+verlegen, sie küßte mich (was sie sonst nie tat) zärtlich ein- und
+zweimal, zog mich auf das Sofa zu sich und begann dann zögernd und
+verschämt zu erzählen, ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen
+Heiratsantrag gemacht, und sie sei, hauptsächlich um meinetwillen,
+entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur
+ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aber wir bleiben
+doch hier?« konnte ich gerade noch stammeln. »Nein, wir ziehen nach
+Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.« Mehr hörte ich nicht.
+Mir ward schwarz vor den Augen. Später wußte ich, daß ich in Ohnmacht
+gefallen war; ich sei, hörte ich die Mutter dem Stiefvater leise
+erzählen, der hinter der Tür gewartet hatte, plötzlich mit
+aufgespreizten Händen zurückgefahren und dann hingestürzt wie ein
+Klumpen Blei. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich, ein
+machtloses Kind, wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich
+Dir nicht schildern: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die
+Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten,
+so schien meine Gegenwehr bloß Starrsinn, Bosheit und Trotz. Niemand
+sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden,
+da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann
+nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder
+verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und
+einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und
+hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten
+Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch
+eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.
+
+An diesem letzten Tage fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, daß
+ich nicht leben konnte ohne Deine Nähe. Ich wußte keine andere Rettung
+als Dich. Wie ich mirs dachte und ob ich überhaupt klar in diesen
+Stunden der Verzweiflung zu denken vermochte, das werde ich nie sagen
+können, aber plötzlich -- die Mutter war fort -- stand ich auf im
+Schulkleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ich ging nicht:
+es stieß mich mit steifen Beinen, mit zitternden Gelenken magnetisch
+fort zu Deiner Tür. Ich sagte Dir schon, ich wußte nicht deutlich, was
+ich wollte: Dir zu Füßen fallen und Dich bitten, mich zu behalten als
+Magd, als Sklavin, und ich fürchte, Du wirst lächeln über diesen
+unschuldigen Fanatismus einer Fünfzehnjährigen, aber, -- Geliebter, Du
+würdest nicht mehr lächeln, wüßtest Du, wie ich damals draußen im
+eiskalten Gange stand, starr vor Angst und doch vorwärts gestoßen von
+einer unfaßbaren Macht, und wie ich den Arm, den zitternden, mir
+gewissermaßen vom Leib losriß, daß er sich hob und -- es war ein Kampf
+durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden -- den Finger auf den Knopf
+der Türklinke drückte. Noch heute gellts mir im Ohr, dies schrille
+Klingelzeichen, und dann die Stille danach, wo mir das Herz stillstand,
+wo mein ganzes Blut anhielt und nur lauschte, ob Du kämest.
+
+Aber Du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem
+Nachmittage und Johann auf Besorgung; so tappte ich, den toten Ton der
+Klingel im dröhnenden Ohr, in unsere zerstörte, ausgeräumte Wohnung
+zurück und warf mich erschöpft auf einen Plaid, müde von den vier
+Schritten, als ob ich stundenlang durch tiefen Schnee gegangen sei. Aber
+unter dieser Erschöpfung glühte noch unverlöscht die Entschlossenheit,
+Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Es war, ich
+schwöre es Dir, kein sinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend,
+eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehen wollte ich Dich,
+einmal noch sehen, mich anklammern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze
+lange, entsetzliche Nacht, habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet.
+Kaum daß die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war,
+schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause
+kämest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige
+Januarnacht. Ich war müde, meine Glieder schmerzten mich, und es war
+kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den
+kalten Boden, über den der Zug von der Tür hinstrich. Nur in meinem
+dünnen Kleide lag ich auf dem schmerzenden kalten Boden, denn ich nahm
+keine Decke; ich wollte es nicht warm haben, aus Furcht, einzuschlafen
+und Deinen Schritt zu überhören. Es tat weh, meine Füße preßte ich im
+Krampfe zusammen, meine Arme zitterten: ich mußte immer wieder
+aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete,
+wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal.
+
+Endlich -- es muß schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein -- hörte
+ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf.
+Wie abgesprungen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leise
+machte ich die Tür auf, um Dir entgegenzustürzen, Dir zu Füßen zu fallen
+... Ach, ich weiß ja nicht, was ich törichtes Kind damals getan hätte.
+Die Schritte kamen näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitternd hielt ich
+die Klinke. Warst Du es, der da kam?
+
+Ja, Du warst es, Geliebter -- aber Du warst nicht allein. Ich hörte ein
+leises, kitzliches Lachen, irgendein streifendes seidenes Kleid und
+leise Deine Stimme -- Du kamst mit einer Frau nach Hause ...
+
+Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht. Am nächsten
+Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck; ich hatte keine
+Kraft mehr, mich zu wehren.
+
+ * * * * *
+
+Mein Kind ist gestern nacht gestorben -- nun werde ich wieder allein
+sein, wenn ich wirklich weiterleben muß. Morgen werden sie kommen,
+fremde, schwarze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden
+es hineinlegen, mein armes, mein einziges Kind. Vielleicht kommen auch
+Freunde und bringen Kränze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Sie
+werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen, Worte, Worte; aber
+was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muß dann doch wieder allein
+sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den
+Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen unendlichen zwei
+Jahren in Innsbruck, jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem
+achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßene zwischen meiner
+Familie lebte. Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war
+gut zu mir, meine Mutter schien, wie um ein unbewußtes Unrecht zu
+sühnen, allen meinen Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um
+mich, aber ich stieß sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz zurück.
+Ich wollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir, ich
+grub mich selbst in eine finstere Welt von Selbstqual und Einsamkeit.
+Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an, ich
+weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen oder Ausflüge in
+heiterer Gesellschaft mitzumachen. Kaum daß ich je die Gasse betrat:
+würdest Du es glauben, Geliebter, daß ich von dieser kleinen Stadt, in
+der ich zwei Jahre gelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und
+ich wollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbehrung, die ich mir
+zu der Deines Anblicks noch auferlegte. Und dann: ich wollte mich nicht
+ablenken lassen von meiner Leidenschaft, nur in Dir zu leben. Ich saß
+allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu
+denken, immer wieder, immer wieder die hundert kleinen Erinnerungen an
+Dich, jede Begegnung, jedes Warten, mir zu erneuern, mir diese kleinen
+Episoden vorzuspielen wie im Theater. Und darum, weil ich jede der
+Sekunden von einst mir unzähligemale wiederholte, ist auch meine ganze
+Kindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben, daß ich jede Minute
+jener vergangenen Jahre so heiß und springend fühle, als wäre sie
+gestern durch mein Blut gefahren.
+
+Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaufte mir alle Deine Bücher;
+wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst
+Du es glauben, daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so
+oft habe ich sie gelesen? Würde mich einer nachts aus dem Schlaf
+aufwecken und eine losgerissene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich
+könnte sie heute noch, heute noch nach dreizehn Jahren, weitersprechen
+wie im Traum: so war jedes Wort von Dir mir Evangelium und Gebet. Die
+ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich: ich las in den
+Wiener Zeitungen die Konzerte, die Premieren nach nur mit dem Gedanken,
+welche Dich davon interessieren möchte, und wenn es Abend wurde,
+begleitete ich Dich von ferne: jetzt tritt er in den Saal, jetzt setzt
+er sich nieder. Tausendmal träumte ich das, weil ich Dich ein einziges
+Mal in einem Konzert gesehen.
+
+Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegen sich selbst
+wütenden, diesen so tragischen hoffnungslosen Fanatismus eines
+verlassenen Kindes, wozu es einem erzählen, der es nie geahnt, der es
+nie gewußt? Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde
+siebzehn, wurde achtzehn Jahre -- die jungen Leute begannen sich auf der
+Straße nach mir umzublicken, doch sie erbitterten mich nur. Denn Liebe
+oder auch nur ein Spiel mit Liebe im Gedanken an jemanden andern als an
+Dich, das war mir so unerfindlich, so unausdenklich fremd, ja die
+Versuchung schon wäre mir als ein Verbrechen erschienen. Meine
+Leidenschaft zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie anders ward mit meinem
+Körper, mit meinen wacheren Sinnen, glühender, körperlicher,
+frauenhafter. Und was das Kind in seinem dumpfen unbelehrten Willen, das
+Kind, das damals die Klingel Deiner Türe zog, nicht ahnen konnte, das
+war jetzt mein einziger Gedanke: mich Dir zu schenken, mich Dir
+hinzugeben.
+
+Die Menschen um mich vermeinten mich scheu, nannten mich schüchtern (ich
+hatte mein Geheimnis verbissen hinter den Zähnen). Aber in mir wuchs ein
+eiserner Wille. Mein ganzes Denken und Trachten war in eine Richtung
+gespannt: zurück nach Wien, zurück zu Dir. Und ich erzwang meinen
+Willen, so unsinnig, so unbegreiflich er den andern scheinen mochte.
+Mein Stiefvater war vermögend, er betrachtete mich als sein eigenes
+Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein
+Geld selbst verdienen und erreichte es endlich, daß ich in Wien zu einem
+Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam.
+
+Muß ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen
+Herbstabend -- endlich! endlich! -- in Wien ankam? Ich ließ die Koffer
+an der Bahn, stürzte mich in eine Straßenbahn -- wie langsam schien sie
+mir zu fahren, jede Haltestelle erbitterte mich -- und lief vor das
+Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Nun erst
+lebte die Stadt, die mich so fremd, so sinnlos umbraust hatte, nun erst
+lebte ich wieder, da ich Dich nahe ahnte, Dich, meinen ewigen Traum. Ich
+ahnte ja nicht, daß ich in Wirklichkeit Deinem Bewußtsein ebenso ferne
+war hinter Tälern, Bergen und Flüssen als nun, da nur die dünne
+leuchtende Glasscheibe Deines Fensters zwischen Dir war und meinem
+aufstrahlenden Blick. Ich sah nur empor und empor: da war Licht, da war
+das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von
+dieser Stunde geträumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen,
+weichen, verhangenen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
+Dann suchte ich erst mein Heim.
+
+Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich
+Dienst im Geschäft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb,
+denn diese Unruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhaft fühlen. Und
+geradeswegs, sobald die eisernen Rollbalken hinter mir niederdröhnten,
+lief ich zu dem geliebten Ziel. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir
+begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick
+Dein Gesicht umfassen dürfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschahs
+dann endlich, daß ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem
+Augenblick, wo ichs nicht vermutete: während ich eben hinauf zu Deinen
+Fenstern spähte, kamst Du quer über die Straße. Und plötzlich war ich
+wieder das Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blut mir in
+die Wangen schoß; unwillkürlich, wider meinen innersten Drang, der sich
+sehnte, Deine Augen zu fühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell
+wie gehetzt an Dir vorbei. Nachher schämte ich mich dieser
+schulmädelhaften scheuen Flucht, denn jetzt war mein Wille mir doch
+klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir
+erkannt sein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren, wollte von
+Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein.
+
+Aber Du bemerktest mich lange nicht, obzwar ich jeden Abend, auch bei
+Schneegestöber und in dem scharfen, schneidenden Wiener Wind in Deiner
+Gasse stand. Oft wartete ich stundenlang vergebens, oft gingst Du dann
+endlich vom Hause in Begleitung von Bekannten fort, zweimal sah ich Dich
+auch mit Frauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein, empfand das
+Neue, Andere meines Gefühls zu Dir an dem plötzlichen Herzzucken, das
+mir quer die Seele zerriß, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Arm
+mit Dir hingehen sah. Ich war nicht überrascht, ich kannte ja diese
+Deine ewigen Besucherinnen aus meinen Kindertagen schon, aber jetzt tat
+es mit einmal irgendwie körperlich weh, etwas spannte sich in mir,
+gleichzeitig feindlich und mitverlangend gegen diese offensichtliche,
+diese fleischliche Vertrautheit mit einer anderen. Einen Tag blieb ich,
+kindlich stolz wie ich war und vielleicht jetzt noch geblieben bin, von
+Deinem Hause weg: aber wie entsetzlich war dieser leere Abend des
+Trotzes und der Auflehnung. Am nächsten Abend stand ich schon wieder
+demütig vor Deinem Hause wartend, wartend, wie ich mein ganzes Schicksal
+lang vor Deinem verschlossenen Leben gestanden bin.
+
+Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich. Ich hatte Dich schon von
+ferne kommen sehen und straffte meinen Willen zusammen, Dir nicht
+auszuweichen. Der Zufall wollte, daß durch einen abzuladenden Wagen die
+Straße verengert war und Du ganz an mir vorbei mußtest. Unwillkürlich
+streifte mich Dein zerstreuter Blick, um sofort, kaum daß er der
+Aufmerksamkeit des meinen begegnete -- wie erschrak die Erinnerung in
+mir! -- jener Dein Frauenblick, jener zärtliche, hüllende und
+gleichzeitig enthüllende, jener umfangende und schon fassende Blick zu
+werden, der mich, das Kind, zum erstenmal zur Frau, zur Liebenden
+erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hielt dieser Blick so den meinen, der
+sich nicht wegreißen konnte und wollte, -- dann warst Du an mir vorbei.
+Mir schlug das Herz: unwillkürlich mußte ich meinen Schritt
+verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zu bezwingenden Neugier mich
+umwandte, sah ich, daß Du stehengeblieben warst und mir nachsahst. Und
+an der Art, wie Du neugierig interessiert mich beobachtetest, wußte ich
+sofort: Du erkanntest mich nicht.
+
+Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hast Du mich erkannt.
+Wie soll ich Dir, Geliebter, die Enttäuschung jener Sekunde schildern --
+damals war es ja das erstemal, daß ichs erlitt, dies Schicksal, von Dir
+nicht erkannt zu sein, das ich ein Leben durchlebt habe, und mit dem ich
+sterbe; unerkannt, immer noch unerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir
+schildern, diese Enttäuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in
+Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir
+unsere erste Wiederbegegnung in Wien auszudenken, da hatte ich die
+wildesten Möglichkeiten neben den seligsten, je nach dem Zustand meiner
+Laune, ausgeträumt. Alles war, wenn ich so sagen darf, durchgeträumt;
+ich hatte mir in finstern Momenten vorgestellt, Du würdest mich
+zurückstoßen, würdest mich verachten, weil ich zu gering, zu häßlich, zu
+aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Mißgunst, Deiner Kälte,
+Deiner Gleichgültigkeit, sie alle hatte ich durchgewandelt in
+leidenschaftlichen Visionen -- aber dies, dies eine hatte ich in keiner
+finstern Regung des Gemüts, nicht im äußersten Bewußtsein meiner
+Minderwertigkeit in Betracht zu ziehen gewagt, dies Entsetzlichste: daß
+Du überhaupt von meiner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute verstehe
+ich es ja -- ach, Du hast michs verstehen gelehrt! -- daß das Gesicht
+eines Mädchens, einer Frau etwas ungemein Wandelhaftes sein muß für
+einen Mann, weil es meist nur Spiegel ist, bald einer Leidenschaft, bald
+einer Kindlichkeit, bald eines Müdeseins, und so leicht verfließt wie
+ein Bildnis im Spiegel, daß also ein Mann leichter das Antlitz einer
+Frau verlieren kann, weil das Alter darin durchwandelt mit Schatten und
+Licht, weil die Kleidung es von einemmal zum andern anders rahmt. Die
+Resignierten, sie sind ja erst die wahren Wissenden. Aber ich, das
+Mädchen von damals, ich konnte Deine Vergeßlichkeit noch nicht fassen,
+denn irgendwie war aus meiner maßlosen, unaufhörlichen Beschäftigung mit
+Dir der Wahn in mich gefahren, auch Du müßtest meiner oft gedenken und
+auf mich warten; wie hätte ich auch nur atmen können mit der Gewißheit,
+ich sei Dir nichts, nie rühre ein Erinnern an mich Dich leise an! Und
+dies Erwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daß nichts in Dir mich
+mehr kannte, kein Spinnfaden Erinnerung von Deinem Leben hinreiche zu
+meinem, das war ein erster Sturz hinab in die Wirklichkeit, eine erste
+Ahnung meines Schicksals.
+
+Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage später Dein Blick mit
+einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da
+erkanntest Du mich wiederum nicht als die, die Dich geliebt und die Du
+erweckt, sondern bloß als das hübsche achtzehnjährige Mädchen, das Dir
+vor zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich
+freundlich überrascht an, ein leichtes Lächeln umspielte Deinen Mund.
+Wieder gingst Du an mir vorbei und wieder den Schritt sofort
+verlangsamend: ich zitterte, ich jauchzte, ich betete, Du würdest mich
+ansprechen. Ich fühlte, daß ich zum erstenmal für Dich lebendig war:
+auch ich verlangsamte den Schritt, ich wich Dir nicht aus. Und plötzlich
+spürte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wußte, nun würde
+ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet hören. Wie
+eine Lähmung war die Erwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleiben
+zu müssen, so hämmerte mir das Herz -- da tratest Du an meine Seite. Du
+sprachst mich an mit Deiner leichten heitern Art, als wären wir lange
+befreundet -- ach, Du ahntest mich ja nicht, nie hast Du etwas von
+meinem Leben geahnt! -- so zauberhaft unbefangen sprachst Du mich an,
+daß ich Dir sogar zu antworten vermochte. Wir gingen zusammen die ganze
+Gasse entlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsam speisen wollten.
+Ich sagte ja. Was hätte ich Dir gewagt zu verneinen?
+
+Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant -- weißt Du noch, wo
+es war? Ach nein, Du unterscheidest es gewiß nicht mehr von andern
+solchen Abenden, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten, ein
+Abenteuer in einer ewig fortgeknüpften Kette. Was sollte Dich auch an
+mich erinnern: ich sprach ja wenig, weil es mir so unendlich beglückend
+war, Dich nahe zu haben, Dich zu mir sprechen zu hören. Keinen
+Augenblick davon wollte ich durch eine Frage, durch ein törichtes Wort
+vergeuden. Nie werde ich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen, wie
+voll Du meine leidenschaftliche Ehrfurcht erfülltest, wie zart, wie
+leicht, wie taktvoll Du warst, ganz ohne Zudringlichkeit, ganz ohne jene
+eiligen karessanten Zärtlichkeiten, und vom ersten Augenblick von einer
+so sicheren freundschaftlichen Vertrautheit, daß Du mich auch gewonnen
+hättest, wäre ich nicht schon längst mit meinem ganzen Willen und Wesen
+Dein gewesen. Ach, Du weißt ja nicht, ein wie Ungeheures Du erfülltest,
+indem Du mir fünf Jahre kindischer Erwartung nicht enttäuschtest!
+
+Es wurde spät, wir brachen auf. An der Tür des Restaurants fragtest Du
+mich, ob ich eilig wäre oder noch Zeit hätte. Wie hätte ichs
+verschweigen können, daß ich Dir bereit sei! Ich sagte, ich hätte noch
+Zeit. Dann fragtest Du, ein leises Zögern rasch überspringend, ob ich
+nicht noch ein wenig zu Dir kommen wollte, um zu plaudern. »Gerne,«
+sagte ich ganz aus der Selbstverständlichkeit meines Fühlens heraus und
+merkte sofort, daß Du von der Raschheit meiner Zusage irgendwie peinlich
+oder freudig berührt warst, jedenfalls aber sichtlich überrascht. Heute
+verstehe ich ja dies Dein Erstaunen; ich weiß, es ist bei Frauen üblich,
+auch wenn das Verlangen nach Hingabe in einer brennend ist, diese
+Bereitschaft zu verleugnen, ein Erschrecken vorzutäuschen oder eine
+Entrüstung, die durch eindringliche Bitte, durch Lügen, Schwüre und
+Versprechen erst beschwichtigt sein will. Ich weiß, daß vielleicht nur
+die Professionellen der Liebe, die Dirnen, eine solche Einladung mit
+einer so vollen freudigen Zustimmung beantworten, oder ganz naive, ganz
+halbwüchsige Kinder. In mir aber war es -- und wie konntest Du das ahnen
+-- nur der wortgewordene Wille, die geballt vorbrechende Sehnsucht von
+tausend einzelnen Tagen. Jedenfalls aber: Du warst frappiert, ich begann
+Dich zu interessieren. Ich spürte, daß Du, während wir gingen, von der
+Seite her während des Gespräches mich irgendwie erstaunt mustertest.
+Dein Gefühl, Dein in allem Menschlichen so magisch sicheres Gefühl
+witterte hier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis in diesem
+hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugierige in Dir war wach, und ich
+merkte aus der umkreisenden, spürenden Art der Fragen, wie Du nach dem
+Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ich wollte lieber
+töricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten.
+
+Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, daß Du
+es nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe für mich waren,
+welcher Taumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quälendes, fast
+tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaum ohne Tränen daran denken, und
+ich habe keine mehr. Aber fühl es nur aus, daß jeder Gegenstand dort
+gleichsam durchdrungen war von meiner Leidenschaft, jeder ein Symbol
+meiner Kindheit, meiner Sehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male
+auf Dich gewartet, die Treppe, von der ich immer Deinen Schritt erhorcht
+und wo ich Dich zum erstenmal gesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die
+Seele gespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem ich einmal
+gekniet, das Knacken des Schlüssels, bei dem ich immer aufgesprungen von
+meiner Lauer. Die ganze Kindheit, meine ganze Leidenschaft, da nistete
+sie ja in diesen paar Metern Raum, hier war mein ganzes Leben, und jetzt
+fiel es nieder auf mich wie ein Sturm, da alles, alles sich erfüllte und
+ich mit Dir ging, ich mit Dir, in Deinem, in unserem Hause. Bedenke --
+es klingt ja banal, aber ich weiß es nicht anders zu sagen --, daß bis
+zu Deiner Tür alles Wirklichkeit, dumpfe tägliche Welt ein Leben lang
+gewesen war, und dort das Zauberreich des Kindes begann, Aladins Reich,
+bedenke, daß ich tausendmal mit brennenden Augen auf diese Tür gestarrt,
+die ich jetzt taumelnd durchschritt, und Du wirst ahnen -- aber nur
+ahnen, niemals ganz wissen, mein Geliebter! -- was diese stürzende
+Minute von meinem Leben wegtrug.
+
+Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast es nicht geahnt, daß
+vordem noch nie ein Mann mich berührt, noch keiner meinen Körper gefühlt
+oder gesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Geliebter, denn ich
+bot Dir ja keinen Widerstand, ich unterdrückte jedes Zögern der Scham,
+nur damit Du nicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erraten könntest,
+das Dich gewiß erschreckt hätte --, denn Du liebst ja nur das Leichte,
+das Spielende, das Gewichtlose, Du hast Angst, in ein Schicksal
+einzugreifen. Verschwenden willst Du Dich, Du, an alle, an die Welt, und
+willst kein Opfer. Wenn ich Dir jetzt sage, Geliebter, daß ich mich
+jungfräulich Dir gab, so flehe ich Dich an: mißversteh mich nicht! Ich
+klage Dich ja nicht an, Du hast mich nicht gelockt, nicht belogen, nicht
+verführt -- ich, ich selbst drängte zu Dir, warf mich an Deine Brust,
+warf mich in mein Schicksal. Nie, nie werde ich Dich anklagen, nein, nur
+immer Dir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust, wie schwebend
+von Seligkeit war für mich diese Nacht. Wenn ich die Augen auftat im
+Dunkeln und Dich fühlte an meiner Seite, wunderte ich mich, daß nicht
+die Sterne über mir waren, so sehr fühlte ich Himmel -- nein, ich habe
+niemals bereut, mein Geliebter, niemals um dieser Stunde willen. Ich
+weiß noch: als Du schliefst, als ich Deinen Atem hörte, Deinen Körper
+fühlte und mich selbst Dir so nah, da habe ich im Dunkeln geweint vor
+Glück.
+
+Am Morgen drängte ich frühzeitig schon fort. Ich mußte in das Geschäft
+und wollte auch gehen, ehe der Diener käme: er sollte mich nicht sehen.
+Als ich angezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in den Arm, sahst mich
+lange an; war es ein Erinnern, dunkel und fern, das in Dir wogte, oder
+schien ich Dir nur schön, beglückt, wie ich war? Dann küßtest Du mich
+auf den Mund. Ich machte mich leise los und wollte gehen. Da fragtest
+Du: »Willst Du nicht ein paar Blumen mitnehmen?« Ich sagte ja. Du nahmst
+vier weiße Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreibtisch (ach, ich
+kannte sie von jenem einzigen diebischen Kindheitsblick) und gabst sie
+mir. Tagelang habe ich sie noch geküßt.
+
+Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ich kam, und wieder war
+es wunderbar. Noch eine dritte Nacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest
+Du, Du müßtest verreisen, -- oh, wie haßte ich diese Reisen von meiner
+Kindheit her! -- und versprachst mir, mich sofort nach Deiner Rückkehr
+zu verständigen. Ich gab Dir eine _Poste restante_-Adresse -- meinen
+Namen wollte ich Dir nicht sagen. Ich hütete mein Geheimnis. Wieder
+gabst Du mir ein paar Rosen zum Abschied -- zum Abschied.
+
+Jeden Tag während zweier Monate fragte ich ... aber nein, wozu diese
+Höllenqual der Erwartung, der Verzweiflung Dir schildern. Ich klage Dich
+nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist, heiß und vergeßlich,
+hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wie Du immer gewesen
+und wie Du jetzt noch bist. Du warst längst zurück, ich sah es an Deinen
+erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Keine Zeile habe
+ich von Dir in meinen letzten Stunden, keine Zeile von Dir, dem ich mein
+Leben gegeben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine
+Verzweifelte. Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir
+geschrieben ... keine Zeile ...
+
+ * * * * *
+
+Mein Kind ist gestern gestorben -- es war auch Dein Kind. Es war auch
+Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei Nächte, ich schwöre es
+Dir, und man lügt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich
+schwöre es Dir, denn kein Mann hat mich berührt von jenen Stunden, da
+ich mich Dir hingegeben, bis zu jenen andern, da es aus meinem Leib
+gerungen wurde. Ich war mir heilig durch Deine Berührung: wie hätte ich
+es vermocht, mich zu teilen an Dich, der mir alles gewesen, und an
+andere, die an meinem Leben nur leise anstreiften? Es war unser Kind,
+Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen,
+verschwenderischen, fast unbewußten Zärtlichkeit, unser Kind, unser
+Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun -- vielleicht erschreckt,
+vielleicht bloß erstaunt --, Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich
+dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von
+ihm spreche, da es hier im Dunkel schlafend, für immer schlafend, liegt,
+schon bereit fortzugehen und nie mehr wiederzukehren, nie mehr! Doch wie
+hätte ich es Dir sagen können? Nie hättest Du mir, der Fremden, der
+allzu Bereitwilligen dreier Nächte, die sich ohne Widerstand, ja
+begehrend, Dir aufgetan, nie hättest Du ihr, der Namenlosen einer
+flüchtigen Begegnung, geglaubt, daß sie Dir die Treue hielt, Dir, dem
+Untreuen, -- nie ohne Mißtrauen dies Kind als das Deine erkannt! Nie
+hättest Du, selbst wenn mein Wort Dir Wahrscheinlichkeit geboten, den
+heimlichen Verdacht abtun können, ich versuchte, Dir, dem Begüterten,
+das Kind fremder Stunde unterzuschieben. Du hättest mich beargwohnt, ein
+Schatten wäre geblieben, ein fliegender, scheuer Schatten von Mißtrauen
+zwischen Dir und mir. Das wollte ich nicht. Und dann, ich kenne Dich;
+ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst, ich weiß, es wäre
+Dir, der Du das Sorglose, das Leichte, das Spielende liebst in der
+Liebe, peinlich gewesen, plötzlich Vater, plötzlich verantwortlich zu
+sein für ein Schicksal. Du hättest Dich, Du, der Du nur in Freiheit
+atmen kannst, Dich irgendwie verbunden gefühlt mit mir. Du hättest mich
+-- ja, ich weiß es, daß Du es getan hättest, wider Deinen eigenen wachen
+Willen --, Du hättest mich gehaßt für dieses Verbundensein. Vielleicht
+nur stundenlang, vielleicht nur flüchtige Minuten lang wäre ich Dir
+lästig gewesen, wäre ich Dir verhaßt worden -- ich aber wollte in meinem
+Stolze, Du solltest an mich ein Leben lang ohne Sorge denken. Lieber
+wollte ich alles auf mich nehmen, als Dir eine Last werden, und einzig
+die sein unter allen Deinen Frauen, an die Du immer mit Liebe, mit
+Dankbarkeit denkst. Aber freilich, Du hast nie an mich gedacht, Du hast
+mich vergessen.
+
+Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an.
+Verzeih mirs, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder
+fließt, verzeih mirs -- mein Kind, unser Kind liegt ja da tot unter den
+flackernden Kerzen; ich habe zu Gott die Fäuste geballt und ihn Mörder
+genannt, meine Sinne sind trüb und verwirrt. Verzeih mir die Klage,
+verzeihe sie mir! Ich weiß ja, daß Du gut bist und hilfreich im tiefsten
+Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet.
+Aber Deine Güte ist so sonderbar, sie ist eine, die offen liegt für
+jeden, daß er nehmen kann soviel seine Hände fassen, sie ist groß,
+unendlich groß Deine Güte, aber sie ist -- verzeih mir -- sie ist träge.
+Sie will gemahnt, will genommen sein. Du hilfst, wenn man Dich ruft,
+Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schwäche und nicht aus Freudigkeit.
+Du hast -- laß es Dir offen sagen -- den Menschen in Notdurft und Qual
+nicht lieber, als den Bruder im Glück. Und Menschen, die so sind wie Du,
+selbst die Gütigsten unter ihnen, sie bittet man schwer. Einmal, ich war
+noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der Tür, wie Du einem
+Bettler, der bei Dir geklingelt hatte, etwas gabst. Du gabst ihm rasch
+und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer
+gewissen Angst und Hast hin, er möchte nur bald wieder fortgehen, es
+war, als hättest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige,
+scheue, vor der Dankbarkeit flüchtende Art des Helfens habe ich nie
+vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Gewiß, ich
+weiß, Du hättest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewißheit,
+es sei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geld gegeben, reichlich
+Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir
+wegzuschieben; ja, ich glaube, Du hättest mich sogar beredet, das Kind
+vorzeitig abzutun. Und dies fürchtete ich vor allem -- denn was hätte
+ich nicht getan, so Du es begehrtest, wie hätte ich Dir etwas zu
+verweigern vermocht! Aber dieses Kind war alles für mich, war es doch
+von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Glückliche, der
+Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du für immer -- so
+meinte ich -- mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe, verbunden in
+meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich,
+Dein Leben wachsen spüren in meinen Adern, Dich nähren, Dich tränken,
+Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst
+Du, Geliebter, darum war ich so selig, als ich wußte, daß ich ein Kind
+von Dir hatte, darum verschwieg ich Dirs: denn nun konntest Du mir nicht
+mehr entfliehen.
+
+Freilich, Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie
+voraus fühlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll von Grauen
+und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit der Menschen. Ich hatte es nicht
+leicht. In das Geschäft konnte ich während der letzten Monate nicht mehr
+gehen, damit es den Verwandten nicht auffällig werde und sie nicht nach
+Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten -- so
+fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchen Schmuck, den ich hatte,
+die Zeit bis zur Niederkunft. Eine Woche vorher wurden mir aus einem
+Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so mußte
+ich in die Gebärklinik. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen
+und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub
+des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Es war zum
+Sterben dort: fremd, fremd, fremd war alles, fremd wir einander, die wir
+da lagen, einsam und voll Haß eine auf die andere, nur vom Elend, von
+der gleichen Qual in diesen dumpfen, von Chloroform und Blut, von Schrei
+und Stöhnen vollgepreßten Saal gestoßen. Was die Armut an Erniedrigung,
+an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort
+gelitten an dem Beisammensein mit Dirnen und mit Kranken, die aus der
+Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der
+jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen das Bettuch
+aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an
+der Habsucht der Wärterinnen -- oh, dort wird die Scham eines Menschen
+gekreuzigt mit Blicken und gegeißelt mit Worten. Die Tafel mit Deinem
+Namen, das allein bist dort noch Du, denn was im Bette liegt, ist bloß
+ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der
+Schau und des Studierens -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die
+ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was
+es heißt, allein, wehrlos, gleichsam am Versuchstisch, ein Kind zu
+gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke
+ich plötzlich wider meinen bewußten Willen an jenen vollgepfropften,
+dünstenden, von Seufzer, Gelächter und blutigem Schrei erfüllten Saal,
+in dem ich gelitten habe, an dieses Schlachthaus der Scham.
+
+Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal
+rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich
+geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal
+mußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuer ich es erkaufte,
+dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich
+hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln,
+in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot
+ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich mußte sie mir von der Seele
+schreien, dieses eine, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an,
+nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual. Nicht Dich klage
+ich an, ich schwöre es Dir, und nie habe ich mich im Zorn erhoben gegen
+Dich. Selbst in der Stunde, da mein Leib sich krümmte in den Wehen, da
+mein Körper vor Scham brannte unter den tastenden Blicken der Studenten,
+selbst in der Sekunde, da der Schmerz mir die Seele zerriß, habe ich
+Dich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jene Nächte bereut, nie
+meine Liebe zu Dir gescholten, immer habe ich Dich geliebt, immer die
+Stunde gesegnet, da Du mir begegnet bist. Und müßte ich noch einmal
+durch die Hölle jener Stunden und wüßte vordem, was mich erwartet, ich
+täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!
+
+ * * * * *
+
+Unser Kind ist gestern gestorben -- Du hast es nie gekannt. Niemals,
+auch in der flüchtigen Begegnung des Zufalles hat dies blühende, kleine
+Wesen, Dein Wesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestreift. Ich hielt
+mich lange verborgen vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine
+Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich
+liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an
+meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen
+zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen,
+der an mir vorbeilebte, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich
+nähren mußte, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet
+vor meiner Unruhe nach Dir, meinem Verhängnis, gerettet durch dies Dein
+anderes Du, das aber wahrhaft mein war -- selten nur mehr, ganz selten
+drängte mein Gefühl sich demütig heran an Dein Haus. Nur eines tat ich:
+zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genau
+dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten
+Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich
+gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du
+einst solche Rosen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Antwort
+nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre
+die Erinnerung aufblühen zu lassen an jene Stunde -- das war mir genug.
+
+Du hast es nie gekannt, unser armes Kind -- heute klage ich mich an, daß
+ich es Dir verbarg, denn Du hättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt,
+den armen Knaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise die Lider
+aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen -- Deinen Augen! -- ein
+helles, frohes Licht warf über mich, über die ganze Welt. Ach, er war so
+heiter, so lieb: die ganze Leichtigkeit Deines Wesens war in ihm
+kindlich wiederholt, Deine rasche, bewegte Phantasie in ihm erneuert:
+stundenlang konnte er verliebt mit Dingen spielen, so wie Du mit dem
+Leben spielst, und dann wieder ernst mit hochgezogenen Brauen vor seinen
+Büchern sitzen. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm
+jene Zwiefältigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu
+entfalten, und je ähnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er
+hat gut gelernt, er plauderte Französisch wie eine kleine Elster, seine
+Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie hübsch war er dabei, wie
+elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem weißen Matrosenjäckchen.
+Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am
+Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und
+streichelten sein langes blondes Haar, auf dem Semmering, wenn er im
+Schlitten fuhr, wandten sich bewundernd die Leute nach ihm um. Er war so
+hübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des
+Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein
+Page aus dem achtzehnten Jahrhundert -- nun hat er nichts als sein
+Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und
+eingefalteten Händen.
+
+Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen
+konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle, dies heitere Leben der
+oberen Welt zu vergönnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir;
+ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht,
+Geliebter -- ich habe mich verkauft. Ich wurde nicht gerade das, was man
+ein Mädchen von der Straße nennt, eine Dirne, aber ich habe mich
+verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich
+sie, dann suchten sie mich, denn ich war -- hast Du es je bemerkt? --
+sehr schön. Jeder, dem ich mich gab, gewann mich lieb, alle haben mir
+gedankt, alle an mir gehangen, alle mich geliebt -- nur Du nicht, nur Du
+nicht, mein Geliebter!
+
+Verachtest Du mich nun, weil ich Dir es verriet, daß ich mich verkauft
+habe? Nein, ich weiß, Du verachtest mich nicht, ich weiß, Du verstehst
+alles und wirst auch verstehen, daß ich es nur für Dich getan, für Dein
+anderes Ich, für Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der
+Gebärklinik an das Entsetzliche der Armut gerührt, ich wußte, daß in
+dieser Welt der Arme immer der Getretene, der Erniedrigte, das Opfer
+ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, daß Dein Kind, Dein helles,
+schönes Kind da tief unten aufwachsen sollte im Abhub, im Dumpfen, im
+Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein
+zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins kennen, sein weißer
+Leib nicht die dumpfige, verkrümmte Wäsche der Armut -- Dein Kind sollte
+alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte
+wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sphäre des Lebens.
+
+Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein
+Opfer für mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war
+mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib
+gehörte, so fühlte ich es als gleichgültig, was sonst mit meinem Körper
+geschah. Die Liebkosungen der Männer, selbst ihre innerste Leidenschaft,
+sie rührten mich im Tiefsten nicht an, obzwar ich manche von ihnen sehr
+achten mußte und mein Mitleid mit ihrer unerwiderten Liebe in Erinnerung
+eigenen Schicksals mich oft erschütterte. Alle waren sie gut zu mir, die
+ich kannte, alle haben sie mich verwöhnt, alle achteten sie mich. Da war
+vor allem einer, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich
+die Füße wundstand an den Türen, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes,
+Deines Kindes, im Theresianum durchzudrücken -- der liebte mich wie eine
+Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten --
+ich könnte heute Gräfin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloß in
+Tirol, könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtlichen Vater
+gehabt, der es vergötterte, und ich einen stillen, vornehmen, gütigen
+Mann an meiner Seite -- ich habe es nicht getan, so sehr, sooft er auch
+drängte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung. Vielleicht war
+es eine Torheit, denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen,
+und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber -- warum soll ich Dir es
+nicht gestehen -- ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein
+in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewußten meines Wesens lebte
+noch immer der alte Kindertraum, Du würdest vielleicht noch einmal mich
+zu Dir rufen, sei es nur für eine Stunde lang. Und für diese eine
+mögliche Stunde habe ich alles weggestoßen, nur um Dir frei zu sein für
+Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der
+Kindheit denn anders, als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!
+
+Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. Aber Du weißt sie nicht, Du
+ahnst sie nicht, mein Geliebter! Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt
+-- nie, nie, nie hast Du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher oft
+begegnet, in den Theatern, in den Konzerten, im Prater, auf der Straße
+-- jedesmal zuckte mir das Herz, aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja
+äußerlich eine ganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Frau
+geworden, schön wie sie sagten, in kostbare Kleider gehüllt, umringt von
+Verehrern: wie konntest Du in mir jenes schüchterne Mädchen im
+dämmerigen Licht Deines Schlafraumes vermuten! Manchmal grüßte Dich
+einer der Herren, mit denen ich ging, Du danktest und sahst auf zu mir:
+aber Dein Blick war höfliche Fremdheit, anerkennend, aber nie erkennend,
+fremd, entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch, ward mir
+dieses Nichterkennen, an das ich fast schon gewohnt war, zu brennender
+Qual: ich saß in einer Loge der Oper mit einem Freunde und Du in der
+Nachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouvertüre, ich konnte Dein
+Antlitz nicht mehr sehen, nur Deinen Atem fühlte ich so nah neben mir,
+wie damals in jener Nacht, und auf der samtenen Brüstung der Abteilung
+unserer Logen lag Deine Hand aufgestützt, Deine feine, zarte Hand. Und
+unendlich überkam mich das Verlangen, mich niederzubeugen und diese
+fremde, diese so geliebte Hand demütig zu küssen, deren zärtliche
+Umfassung ich einst gefühlt. Um mich wogte aufwühlend die Musik, immer
+leidenschaftlicher wurde das Verlangen, ich mußte mich ankrampfen, mich
+gewaltsam aufreißen, so gewaltsam zog es meine Lippen hin zu Deiner
+geliebten Hand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund, mit mir
+fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dich so fremd und so nah neben
+mir zu haben im Dunkel.
+
+Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztes Mal in mein
+verschüttetes Leben. Fast genau vor einem Jahr ist es gewesen, am Tage
+nach Deinem Geburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich
+gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest.
+Ganz frühmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die weißen Rosen
+gekauft, die ich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung an eine
+Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittags fuhr ich mit dem Buben
+aus, führte ihn zu Demel in die Konditorei und abends ins Theater, ich
+wollte, auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zu wissen,
+irgendwie als einen mystischen Feiertag von Jugend her empfinden. Am
+nächsten Tage war ich dann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen,
+reichen Brünner Fabrikanten, mit dem ich schon seit zwei Jahren
+zusammenlebte, der mich vergötterte, verwöhnte und mich ebenso heiraten
+wollte wie die andern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlos
+verweigerte wie den andern, obwohl er mich und das Kind mit Geschenken
+überschüttete und selbst liebenswert war in seiner ein wenig dumpfen,
+knechtischen Güte. Wir gingen zusammen in ein Konzert, trafen dort
+heitere Gesellschaft, soupierten in einem Ringstraßenrestaurant, und
+dort, mitten im Lachen und Schwätzen, machte ich den Vorschlag, noch in
+ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir waren diese Art Lokale mit
+ihrer systematischen und alkoholischen Heiterkeit wie jede »Drahrerei«
+sonst immer widerlich, und ich wehrte mich sonst immer gegen derlei
+Vorschläge, diesmal aber -- es war wie eine unergründliche magische
+Macht in mir, die mich plötzlich unbewußt den Vorschlag mitten in die
+freudig zustimmende Erregung der andern werfen ließ -- hatte ich
+plötzlich ein unerklärliches Verlangen, als ob dort irgend etwas
+Besonderes mich erwarte. Gewohnt, mir gefällig zu sein, standen alle
+rasch auf, wir gingen hinüber, tranken Champagner, und in mich kam mit
+einemmal eine ganz rasende, ja fast schmerzhafte Lustigkeit, wie ich sie
+nie gekannt. Ich trank und trank, sang die kitschigen Lieder mit und
+hatte fast den Zwang, zu tanzen oder zu jubeln. Aber plötzlich -- mir
+war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glühendheißes sich mir jäh aufs
+Herz gelegt -- riß es mich auf: am Nachbartisch saßest Du mit einigen
+Freunden und sahst mich an mit einem bewundernden und begehrenden Blick,
+mit jenem Blicke, der mir immer den ganzen Leib von innen aufwühlte. Zum
+erstenmal seit zehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzen
+unbewußt-leidenschaftlichen Macht Deines Wesens. Ich zitterte. Fast wäre
+mir das erhobene Glas aus den Händen gefallen. Glücklicherweise merkten
+die Tischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlor sich in dem Dröhnen
+von Gelächter und Musik.
+
+Immer brennender wurde Dein Blick und tauchte mich ganz in Feuer. Ich
+wußte nicht: hattest Du mich endlich, endlich erkannt, oder begehrtest
+Du mich neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flog mir in die
+Wangen, zerstreut antwortete ich den Tischgenossen: Du mußtest es
+merken, wie verwirrt ich war von Deinem Blick. Unmerklich für die
+übrigen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes ein Zeichen, ich
+möchte für einen Augenblick hinauskommen in den Vorraum. Dann zahltest
+Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus,
+nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, daß Du draußen auf
+mich warten würdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich
+konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut
+beherrschen. Zufälligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein
+Negerpaar mit knatternden Absätzen und schrillen Schreien einen
+absonderlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde
+nützte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, daß ich gleich
+zurückkäme, und ging Dir nach.
+
+Draußen im Vorraum vor der Garderobe standest Du, mich erwartend: Dein
+Blick ward hell, als ich kam. Lächelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah
+sofort, Du erkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind von einst
+und nicht das Mädchen, noch einmal griffest Du nach mir als einem Neuen,
+einem Unbekannten. »Haben Sie auch für mich einmal eine Stunde,«
+fragtest Du vertraulich -- ich fühlte an der Sicherheit Deiner Art, Du
+nahmst mich für eine dieser Frauen, für die Käufliche eines Abends.
+»Ja,« sagte ich, dasselbe zitternde und doch selbstverständliche
+einwilligende Ja, das Dir das Mädchen vor mehr als einem Jahrzehnt auf
+der dämmernden Straße gesagt. »Und wann könnten wir uns sehen?« fragtest
+Du. »Wann immer Sie wollen,« antwortete ich -- vor Dir hatte ich keine
+Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mit derselben
+mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich gleichfalls
+die Raschheit meines Einverständnisses erstaunt hatte. »Könnten Sie
+jetzt?« fragtest Du, ein wenig zögernd. »Ja,« sagte ich, »gehen wir.«
+
+Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.
+
+Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere
+gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne
+umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde mit
+Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe
+ich keine Sekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über das Abendkleid
+und ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den Mantel zu
+kümmern, ohne mich um den guten, zärtlichen Menschen zu kümmern, von dem
+ich seit Jahren lebte und den ich vor seinen Freunden zum lächerlichsten
+Narren erniedrigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegläuft
+auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh, ich war mir ganz der
+Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Schändlichkeit, die ich gegen einen
+ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daß ich
+lächerlich handelte und mit meinem Wahn einen gütigen Menschen für immer
+tödlich kränkte, fühlte, daß ich mein Leben mitten entzweiriß -- aber
+was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder
+einmal Deine Lippen zu fühlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu
+hören. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles
+vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem
+Sterbebette, so käme mir plötzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu
+gehen.
+
+Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich hörte wieder
+Deine Stimme, ich fühlte Deine zärtliche Nähe und war genau so betäubt,
+so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn
+Jahren, zum erstenmal wieder die Treppe empor -- nein, nein, ich kann
+Dirs nicht schildern, wie ich alles immer doppelt fühlte in jenen
+Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer
+nur Dich. In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und
+mehr Bücher, da und dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte mich
+vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin -- mit
+meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als
+Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch
+nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und
+Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, daß Du die Blumen hegtest:
+so war doch ein Hauch meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.
+
+Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze
+herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht.
+Selig erlitt ich Deine wissenden Zärtlichkeiten und sah, daß Deine
+Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer
+Käuflichen, daß Du Dich ganz gibst an Dein Begehren mit der unbedachten
+verschwenderischen Fülle Deines Wesens. Du warst so zärtlich und lind zu
+mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich --
+achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Genießen der
+Frau; wieder fühlte ich, taumelig vom alten Glück, diese einzige
+Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der
+sinnlichen, die schon das Kind Dir hörig gemacht. Nie habe ich bei einem
+Manne in der Zärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt, ein
+solches Ausbrechen und Entgegenleuchten des tiefsten Wesens -- freilich
+um dann hinzulöschen in eine unendliche, fast unmenschliche
+Vergeßlichkeit. Aber auch ich vergaß mich selbst: wer war ich nun im
+Dunkel neben Dir? War ichs, das brennende Kind von einst, war ichs, die
+Mutter Deines Kindes, war ichs, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so
+erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser
+leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie möchte kein Ende nehmen.
+
+Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Du ludest mich ein, noch mit
+Dir zu frühstücken. Wir tranken zusammen den Tee, den eine unsichtbar
+dienende Hand diskret in dem Speisezimmer bereitgestellt hatte, und
+plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen
+Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten
+Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht
+nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur
+das Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die im Rauch des
+Vergessens spurlos sich löst. Du erzähltest, daß Du jetzt weit weg
+reisen wolltest, nach Nordafrika für zwei oder drei Monate; ich zitterte
+mitten in meinem Glück, denn schon hämmerte es mir in den Ohren: vorbei,
+vorbei und vergessen! Am liebsten wäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt
+und hätte geschrien: »Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst,
+endlich, endlich nach so vielen Jahren!« Aber ich war ja so scheu, so
+feige, so sklavisch, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: »Wie
+schade.« Du sahst mich lächelnd an: »Ist es Dir wirklich leid?«
+
+Da faßte es mich wie eine plötzliche Wildheit. Ich stand auf, sah Dich
+an, lange und fest. Dann sagte ich: »Der Mann, den ich liebte, ist auch
+immer weggereist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges.
+»Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!« zitterte, drängte alles in mir.
+Aber Du lächeltest mir entgegen und sagtest tröstend: »Man kommt ja
+wieder zurück.« »Ja,« antwortete ich, »man kommt zurück, aber dann hat
+man vergessen.«
+
+Es muß etwas Absonderliches, etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen
+sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du standest auf und sahst mich
+an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern:
+»Was gut ist, vergißt sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen,«
+sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als
+wollte er dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich
+eindringen fühlte, suchend, spürend, mein ganzes Wesen an sich saugend,
+da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er
+wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in
+dem Gedanken.
+
+Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war
+ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst -- sonst
+hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tatest. Du
+hattest mich geküßt, noch einmal leidenschaftlich geküßt. Ich mußte mein
+Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich
+vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel -- und ich glaubte
+hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen -- da sah ich, wie Du in
+diskreter Art ein paar größere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie
+habe ichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu
+schlagen in dieser Sekunde -- mich, die ich Dich liebte von Kindheit an,
+die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne
+aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr -- bezahlt, bezahlt hattest Du
+mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen, ich mußte noch erniedrigt
+sein.
+
+Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es
+tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch,
+neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es mich
+mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu
+erinnern. »Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?«
+»Gern,« sagtest Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir vielleicht
+von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?« sagte ich.
+»Vielleicht,« sagtest Du, »ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben und
+ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.« Ich sah Dich an.
+»Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!«
+
+Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkenne mich, erkenne mich
+endlich!« schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und
+unwissend. Du küßtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
+
+Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, daß mir Tränen in die Augen
+schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer -- so hastig war
+ich hinausgeeilt -- stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen.
+Scheu und eilfertig sprang er zur Seite, riß die Haustür auf, um mich
+hinauszulassen, und da -- in dieser einen, hörst Du? in dieser einen
+Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten
+Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick. In dieser einen
+Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich
+erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien
+können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riß ich
+nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und
+steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf -- in dieser
+Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen
+Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig
+-- nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie
+erkannt!
+
+ * * * * *
+
+Mein Kind ist gestorben, unser Kind -- jetzt habe ich niemanden mehr in
+der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich
+niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser,
+der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht
+und mich läßt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten,
+Dich, den Flüchtigen, in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht
+ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich
+vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als
+jemals, nichts habe ich, nichts von Dir -- kein Kind mehr, kein Wort,
+keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde
+vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne
+sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir
+gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir
+nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, daß
+ich Dich weiter bedränge -- verzeih mir, ich mußte mir einmal die Seele
+ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt.
+Nur dies eine Mal mußte ich sprechen zu Dir -- dann gehe ich wieder
+stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber
+Du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe -- nur wenn ich tot
+bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr
+geliebt als alle, und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich
+gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich
+dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum erstenmal, ich werde
+Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein
+Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen,
+niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod.
+Ich will Dich nicht rufen in meine letzte Stunde, ich gehe fort, ohne
+daß Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du
+fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, daß ich sterbe, so könnte
+ich nicht sterben.
+
+Ich kann nicht mehr weiter schreiben ... mir ist so dumpf im Kopfe ...
+die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber ... ich glaube, ich werde mich
+gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist
+mir einmal das Schicksal gütig, und ich muß es nicht mehr sehen, wie sie
+das Kind wegtragen ... Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl,
+Geliebter, leb wohl, ich danke Dir ... Es war gut, wie es war, trotz
+alledem ... ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl:
+ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr
+ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last. Ich werde
+Dir nicht fehlen -- das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem
+schönen, hellen Leben ... ich tue Dir nichts mit meinem Tod ... das
+tröstet mich, Du Geliebter.
+
+Aber wer ... wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem
+Geburtstag? Ach, die Vase wird leer sein, der kleine Atem, der kleine
+Hauch von meinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte, auch er wird
+verwehen! Geliebter, höre, ich bitte Dich ... es ist meine erste und
+letzte Bitte an Dich ... tu mirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag -- es
+ist ja ein Tag, wo man an sich denkt -- nimm da Rosen und tu sie in die
+Vase. Tu's, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe
+lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott
+mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich
+und will nur in Dir noch weiterleben ... ach, nur einen Tag im Jahr,
+ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt ... Ich bitte Dich, tu
+es, Geliebter ... es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte ...
+ich danke Dir ... ich liebe Dich, ich liebe Dich ... lebe wohl ...
+
+ * * * * *
+
+Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach.
+Verworren tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an
+ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich
+und verworren, so wie ein Stein flimmert und formlos zittert am Grunde
+fließenden Wassers. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein
+Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht.
+Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief
+geträumt, aber doch nur geträumt.
+
+Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie
+war leer, zum erstenmal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak
+zusammen: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen,
+und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er
+spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in
+seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und
+leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.
+
+
+
+
+ Die Mondscheingasse
+
+
+Das Schiff hatte, durch Sturm verzögert, erst spät abends in der kleinen
+französischen Hafenstadt landen können, der Nachtzug nach Deutschland
+war versäumt. So blieb ein unerwarteter Tag an fremdem Ort, ein Abend
+ohne andere Lockung als die einer melancholischen Damenmusik in einem
+vorstädtischen Vergnügungslokal oder eines eintönigen Gespräches mit den
+ganz zufälligen Reisegenossen. Unerträglich schien mir die Luft in dem
+kleinen Speiseraum des Hotels, fettig von Öl, dumpf von Rauch, und ich
+fühlte doppelt ihre trübe Unreinlichkeit, weil noch der reine Atem des
+Meeres mir salzig-kühl auf den Lippen lag. So ging ich hinaus, aufs
+Geratewohl die helle breite Straße entlang zu einem Platz, wo eine
+Bürgergardenkapelle spielte, und wieder weiter inmitten der lässig
+fortflutenden Woge der Spaziergänger. Anfangs tat es mir gut, dieses
+willenlose Geschaukeltsein in der Strömung gleichgültiger und
+provinziell geputzter Menschen, aber bald ertrug ich es doch nicht mehr,
+dieses Anwogen von fremden Leuten und ihr abgerissenes Gelächter, diese
+Augen, die mich angriffen, erstaunt, fremd oder grinsend, diese
+Berührungen, die mich unmerklich weiterschoben, dies aus tausend kleinen
+Quellen brechende Licht und unaufhörliche Scharren von Schritten. Die
+Seefahrt war bewegt gewesen, und noch gärte in meinem Blut ein taumliges
+und sanfttrunkenes Gefühl: noch immer spürte ich Gleiten und Wiegen
+unter meinen Füßen, die Erde schien wie atmend sich zu bewegen und die
+Straße bis auf in den Himmel zu schwingen. Schwindlig ward mir mit einem
+Male von diesem lauten Gewirr, und um mich zu retten, bog ich, ohne nach
+ihrem Namen zu blicken, in eine Seitenstraße ein und von da wieder in
+eine kleinere, in der dies sinnlose Lärmen allmählich verebbte, und ging
+nun ziellos weiter ins Gewirr dieser wie Adern sich verästelnden Gassen,
+die immer dunkler wurden, je mehr ich mich vom Hauptplatz entfernte. Die
+großen elektrischen Bogenlampen, diese Monde der breiten Boulevards,
+flammten hier nicht mehr, und über die spärliche Beleuchtung hin begann
+man endlich wieder die Sterne zu sehen und einen schwarzen verhängten
+Himmel.
+
+Ich mußte nahe dem Hafen sein, im Matrosenviertel, das fühlte ich an dem
+faulen Fischgeruch, an diesem süßlichen Duft von Tang und Fäulnis, wie
+ihn auch die von der Brandung ans Land gerissenen Algen haben, an diesem
+eigentümlichen Dunst verdorbener Gerüche und ungelüfteter Stuben, der
+sich dumpfig in diese Winkel legt, bis einmal der große Sturm kommt und
+ihnen Atem bringt. Das ungewisse Dunkel tat mir wohl und diese
+unerwartete Einsamkeit, ich verlangsamte meinen Schritt, betrachtete nun
+Gasse um Gasse, eine immer anders wie ihre Nachbarin, hier eine
+friedfertige, dort eine buhlerische, alle aber dunkel und mit einem
+gedämpften Geräusch von Musik und Stimmen, das aus dem Unsichtbaren, aus
+der Brust ihrer Gewölbe so geheimnisvoll aufquoll, daß kaum die
+unterirdische Quelle zu erraten war. Denn alle waren sie verschlossen
+und blinzelten nur mit einem roten oder gelben Licht.
+
+Ich liebe diese Gassen in fremden Städten, diesen schmutzigen Markt
+aller Leidenschaften, diese heimliche Anhäufung aller Verführungen für
+die Matrosen, die von einsamen Nächten auf fremden und gefährlichen
+Meeren hier für eine Nacht einkehren, ihre vielen und sinnlichen Träume
+in einer Stunde zu erfüllen. Sie müssen sich verstecken irgendwo in
+einer Niederung der großen Stadt, diese kleinen Seitengassen, weil sie
+so frech und aufdringlich sagen, was die hellen Häuser mit blanken
+Scheiben und vornehmen Menschen in hundert Masken verbergen. Musik
+klingt und lockt hier aus kleinen Stuben, Kinematographen verheißen mit
+grellen Plakaten ungeahnte Prächte, kleine viereckige Lichter ducken
+sich unter die Tore und zwinkern mit vertraulichem Gruß eine sehr
+deutliche Einladung zu, zwischen dem aufgetanen Spalt einer Tür
+schimmert nacktes Fleisch unter vergoldetem Flitter. Aus den Cafés
+grölen die Stimmen der Berauschten und poltert der Zank der Spieler. Die
+Matrosen grinsen, wenn sie hier einander begegnen, ihre stumpfen Blicke
+werden grell von vieler Verheißung, denn hier ist alles, Weiber und
+Spiel, Trunk und Schau, das Abenteuer, das schmutzige und das große. All
+dies aber ist scheu und doch verräterisch gedämpft hinter den
+heuchlerisch gesenkten Fensterläden, alles nur innen, und diese
+scheinbare Verschlossenheit reizt durch die doppelte Verführung von
+Verborgenheit und Zugänglichkeit. Diese Straßen sind gleich in Hamburg
+und Colombo und Havanna, gleich da und dort wie auch die großen Avenuen
+des Luxus, denn das Oben und Unten des Lebens hat die gleiche Form.
+Letzte phantastische Reste einer sinnlich ungeregelten Welt, wo die
+Triebe noch brutal und ungezügelt sich entladen, ein finsterer Wald von
+Leidenschaften und Dickicht und voll triebhaften Getiers sind diese
+unbürgerlichen Straßen, erregend durch das, was sie verraten, und
+verlockend durch das, was sie verbergen. Man kann von ihnen träumen.
+
+Und so war auch diese, in der ich mich mit einem Male gefangen fühlte.
+Aufs Geratewohl war ich ein paar Kürassieren nachgegangen, die mit ihrem
+nachschleifenden Säbel über das holprige Pflaster klirrten. Aus einer
+Bar riefen Weiber sie an, sie lachten und schrien ihnen grobe Scherze
+zu, einer klopfte an das Fenster, dann fluchte eine Stimme irgendwo, sie
+gingen weiter, das Gelächter wurde ferner, und bald hörte ich sie nicht
+mehr. Stumm war wieder die Gasse, ein paar Fenster blinkten unklar in
+einem Nebelglanz von mattem Mond. Ich stand und sog atmend diese Stille
+ein, die mir seltsam schien, weil hinter ihr etwas surrte von Geheimnis,
+Wollust und Gefahr. Deutlich spürte ich, daß dieses Schweigen eine Lüge
+war und unter dem trüben Dunst dieser Gasse etwas glimmerte von der
+Fäulnis der Welt. Aber ich stand, blieb und lauschte ins Leere. Ich
+fühlte die Stadt nicht mehr und die Gasse, nicht ihren Namen und nicht
+den meinen, empfand nur, daß ich hier fremd war, wunderbar losgelöst in
+einem Unbekannten stand, daß keine Absicht in mir war, keine Botschaft
+und keine Beziehung und ich doch all dies dunkle Leben um mich so voll
+fühlte wie das Blut unter der eigenen Haut. Dies Gefühl nur empfand ich,
+daß nichts für mich geschah und doch alles mir zugehörte, dieses
+seligste Gefühl des durch Anteilslosigkeit tiefsten und wahrsten
+Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens gehört und
+mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. Da plötzlich,
+horchend wie ich in der einsamen Gasse stand, gleichsam erwartungsvoll
+auf irgend etwas, das geschehen müßte, etwas, das mich fortschöbe aus
+diesem mondsüchtigen Gefühl des Lauschens ins Leere, hörte ich gedämpft
+durch Ferne oder eine Wand, sehr trübe von irgendwo ein deutsches Lied
+singen, jenen ganz einfältigen Reigen aus dem »Freischütz«: »Schöner,
+grüner Jungfernkranz«. Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber
+doch eine deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem
+fremden Winkel der Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne.
+Es war von irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs,
+seit Wochen das erste heimatliche Wort. Wer, fragte ich mich, spricht
+hier meine Sprache, wen treibt eine Erinnerung von innen, in
+verwinkelt-verwilderter Gasse dies arme Lied sich wieder aus dem Herzen
+zu heben? Ich tastete der Stimme nach, ein Haus nach dem andern von all
+denen, die halbschlafend hier standen, mit geschlossenen Fensterläden,
+hinter denen es aber verräterisch blinzelte von Licht und manchmal von
+einer winkenden Hand. Außen klebten grelle Überschriften, schreiende
+Plakate, und Ale, Whisky, Bier verhieß hier eine versteckte Bar, aber
+alles war verschlossen, abweisend und doch wieder einladend. Und
+dazwischen -- ein paar Schritte tönten von fern -- immer wieder die
+Stimme, die jetzt den Refrain heller trillerte und immer näher war:
+schon erkannte ich das Haus. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich
+gegen die innere Tür, die mit weißen Gardinen dicht verhangen war. Da
+aber, als ich mich entschlossen hinbeugte, ward etwas im Schatten des
+Flurs jäh lebendig, eine Gestalt, die offenbar eng an die Scheibe
+gepreßt dort gelauert hatte, zuckte erschrocken auf, ein Gesicht,
+begossen vom Rot der überhängenden Laterne und doch blaß im Entsetzen,
+ein Mann starrte mich mit aufgerissenen Augen an, murmelte etwas wie
+eine Entschuldigung und verschwand im Zwielicht der Gasse. Seltsam war
+dieser Gruß. Ich sah ihm nach. Etwas schien sich noch im entschwindenden
+Schatten der Gasse von ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die
+Stimme noch immer, heller sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich
+klinkte auf und trat rasch ein.
+
+Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges
+herab. Und erschrocken spürte ich eine Leere vor mir, eine Feindlichkeit
+des Schweigens, gleichsam als ob ich was zertrümmert hätte. Mählich erst
+fand mein Blick sich in der Stube zurecht, die fast leer war, ein Schank
+und ein Tisch, das ganze offenbar nur Vorgemach zu andern Zimmern
+rückwärts, die mit halbaufgelehnten Türen, gedämpftem Lampenschein und
+bereiten Betten ihre eigentliche Bestimmung rasch verrieten. Vorn am
+Tisch lehnte auf den Ellbogen gestützt ein Mädchen, geschminkt und müd,
+rückwärts am Schank die Wirtin, beleibt und schmutziggrau mit einem
+andern nicht unhübschen Mädel. Mein Gruß fiel hart in den Raum, ganz
+spät kam ein gelangweiltes Echo zurück. Mir wars unbehaglich, so ins
+Leere getreten zu sein; in ein so gespanntes ödes Schweigen, und gern
+wäre ich sofort wieder gegangen, doch fand meine Verlegenheit keinen
+Vorwand, und so setzte ich mich resigniert an den vorderen Tisch. Das
+Mädel, jetzt sich seiner Pflicht besinnend, fragte mich, was ich zu
+trinken wünschte, und an ihrem harten Französisch erkannte ich sofort
+die Deutsche. Ich bestellte ein Bier, sie ging und kam wieder mit jenem
+schlaffen Gang, der noch mehr Gleichgültigkeit verriet als das Seichte
+ihrer Augen, die schlaff unter den Lidern glommen wie verlöschende
+Lichter. Ganz mechanisch stellte sie nach dem Brauch jener Stuben neben
+das meine ein zweites Glas für sich. Ihr Blick ging, wie sie mir
+zutrank, leer an mir vorbei: so konnte ich sie betrachten. Ihr Gesicht
+war eigentlich noch schön und ebenmäßig in den Zügen, aber wie durch
+eine innere Ermattung maskenhaft und gemein geworden, alles fiel schlaff
+nieder, die Lider waren schwer, locker das Haar; die Wangen, fleckig von
+schlechter Schminke und verschwemmt, begannen schon nachzugeben und
+warfen sich mit breiter Falte bis an den Mund. Auch das Kleid war ganz
+lässig umgehängt, ausgebrannt die Stimme, rauh von Rauch und Bier. In
+allem spürte ich einen Menschen, der müde ist und nur aus Gewohnheit,
+gleichsam fühllos weiterlebt. Mit Befangenheit und Grauen warf ich eine
+Frage hin. Sie antwortete, ohne mich anzusehen, gleichgültig und stumpf
+mit kaum bewegten Lippen. Unwillkommen spürte ich mich. Rückwärts gähnte
+die Wirtin, das andere Mädel saß in einer Ecke und sah her, gleichsam
+wartend, bis ich sie riefe. Gern wäre ich gegangen, aber alles an mir
+war schwer, ich saß in dieser satten, schwelenden Luft, dumpf torkelnd
+wie die Matrosen, gefesselt von Neugier und Grauen; denn diese
+Gleichgültigkeit war irgendwie aufreizend.
+
+Da plötzlich fuhr ich auf, erschreckt von einem grellen Gelächter neben
+mir. Und gleichzeitig schwankte die Flamme: am Luftzug spürte ich, daß
+jemand die Tür hinter meinem Rücken geöffnet haben mußte. »Kommst du
+schon wieder?« höhnte grell und auf deutsch die Stimme neben mir.
+»Kriechst du schon wieder ums Haus, du Knauser du? Na, komm nur herein,
+ich tu dir nichts.«
+
+Ich fuhr herum, zuerst ihr zu, die so grell diesen Gruß schrie, als
+bräche ihr Feuer aus dem Leib, und dann zur Tür. Und noch ehe sie ganz
+aufgetan war, erkannte ich die schlotternde Gestalt, erkannte den
+demütigen Blick dieses Menschen, der vorhin an der Tür gleichsam geklebt
+hatte. Er hielt den Hut verschüchtert in der Hand wie ein Bettler und
+zitterte unter dem grellen Gruß, unter dem Lachen, das wie ein Krampf
+ihre schwere Gestalt mit einem Male zu schüttern schien und von
+rückwärts, vom Schanktisch, mit raschem Geflüster der Wirtin begleitet
+wurde.
+
+»Dort setz dich hin, zur Françoise,« herrschte sie den Armen an, als er
+jetzt mit einem feigen, schlurfenden Schritt näher trat. »Du siehst, ich
+habe einen Herrn.«
+
+Deutsch schrie sie ihm das zu. Die Wirtin und das Mädel lachten laut,
+obwohl sie nichts verstehen konnten, aber sie schienen den Gast schon zu
+kennen.
+
+»Gib ihm Champagner, Françoise, den teuern, eine Flasche,« schrie sie
+lachend hinüber, und wieder höhnisch zu ihm: »Ists dir zu teuer, so
+bleib draußen, du elender Knicker. Möchtest mich wohl umsonst anstarren,
+ich weiß, du möchtest alles umsonst.«
+
+Die lange Gestalt schmolz gleichsam zusammen unter diesem bösen Lachen,
+der Buckel schob sich schief empor, es war, als wollte das Gesicht sich
+hündisch verkriechen, und seine Hand zitterte, als er nach der Flasche
+griff, und verschüttete den Wein im Eingießen. Sein Blick, der immer
+aufwollte zu ihrem Gesicht, konnte nicht weg vom Boden und tastete dort
+im Kreise den Kacheln nach. Und jetzt sah ich erst deutlich unter der
+Lampe dies ausgemergelte Gesicht, zermürbt und fahl, die Haare feucht
+und dünn auf beinernem Schädel, die Gelenke lose und wie zerbrochen,
+eine Jämmerlichkeit ohne Kraft und doch nicht ohne Bösartigkeit. Schief,
+verschoben war alles in ihm und geduckt, und der Blick, den er jetzt
+einmal hob und gleich wieder erschreckt zurückwarf, gekreuzt von einem
+bösen Licht.
+
+»Kümmern Sie sich nicht um ihn,« herrschte mich das Mädel auf
+französisch an und faßte derb meinen Arm, als wollte sie mich
+herumreißen. »Das ist eine alte Sache zwischen mir und ihm, ist nicht
+von heute.« Und wieder mit blanken Zähnen, wie zum Bisse bereit, laut zu
+ihm hinüber: »Horch nur her, du alter Luchs. Möchtest hören, was ich
+rede. Daß ich eher ins Meer gehe als mit dir, habe ich gesagt.«
+
+Wieder lachten die Wirtin und das andere Mädel, breit und blöde. Es
+schien ein gewohnter Spaß für sie, ein alltäglicher Scherz. Aber mir
+wars unheimlich, jetzt zu sehen, wie sich dies andere Mädel plötzlich in
+falscher Zärtlichkeit an ihn drängte und ihn mit Schmeicheleien abgriff,
+vor denen er erschauerte ohne den Mut, sie abzuwehren, und ich erschrak,
+wenn sein Blick im Auftaumeln mich traf, ängstlich verlegen und
+kriecherisch. Und mir graute vor dem Weib neben mir, das plötzlich aus
+ihrer Schlaffheit aufgewacht war und so voll Bosheit funkelte, daß ihre
+Hände zitterten. Ich warf Geld auf den Tisch und wollte fort, aber sie
+nahm es nicht.
+
+»Geniert er dich, dann werfe ich ihn hinaus, den Hund. Der muß parieren.
+Nimm noch ein Glas mit mir. Komm!«
+
+Sie drängte sich heran mit einer jähen, fanatischen Art von
+Zärtlichkeit, von der ich sofort wußte, daß sie nur gespielt war, um
+jenen anderen zu quälen. Bei jeder dieser Bewegungen sah sie rasch
+schief hinüber, und es war mir widerwärtig zu sehen, wie bei jeder ihrer
+Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte er Brandstahl an
+seinen Gliedern. Ohne auf sie zu achten, starrte ich einzig ihn an und
+schauerte, wie etwas jetzt in ihm wuchs von Wut, Zorn, Neid und Gier,
+und sich doch gleich niederduckte, wandte sie nur den Kopf. Ganz nahe
+drängte sie sich nun zu mir, ich spürte ihren Körper, der zitterte von
+der bösen Lust dieses Spiels, und mir graute vor ihrem grellen Gesicht,
+das nach schlechtem Puder roch, vor dem Dunst ihres mürben Fleisches.
+Sie von meinem Gesicht abzuwehren, griff ich nach einer Zigarre, und
+während mein Blick noch den Tisch nach einem Streichholz absuchte,
+herrschte sie ihn schon an: »Bring Feuer her!«
+
+Ich erschrak mehr noch als er vor dieser gemeinen Zumutung, mich zu
+bedienen, und mühte mich rasch, mir selbst eines zu finden. Aber schon
+von ihrem Worte wie mit einer Peitsche aufgeknallt, kam er mit seinen
+schiefen Schritten torkelnd herüber und legte rasch, als könnte er sich
+mit einer Berührung des Tisches verbrennen, sein Feuerzeug auf den
+Tisch. Eine Sekunde kreuzte ich seinen Blick: unendliche Scham lag darin
+und eine knirschende Erbitterung. Und dieser geknechtete Blick traf den
+Mann, den Bruder, in mir. Ich fühlte die Erniedrigung durch das Weib und
+schämte mich mit ihm.
+
+»Ich danke Ihnen sehr,« sagte ich auf deutsch -- sie zuckte auf -- »Sie
+hätten sich nicht bemühen müssen.« Dann bot ich ihm die Hand. Ein
+Zögern, ein langes, dann spürte ich feuchte, knochige Finger und
+plötzlich krampfartig einen jähen Druck des Dankes. Eine Sekunde
+leuchteten seine Augen in die meinen, dann duckten sie sich wieder unter
+die schlaffen Lider. Aus Trotz wollte ich ihn bitten, bei uns Platz zu
+nehmen, und die einladende Geste mußte wohl schon in meine Hand
+geglitten sein, denn sie herrschte ihn eilig an: »Setz dich wieder hin
+und störe hier nicht.«
+
+Da packte mich plötzlich der Ekel vor ihrer ätzenden Stimme und vor
+dieser Quälerei. Was sollte mir diese verräucherte Spelunke, diese
+widrige Dirne, dieser Schwachsinnige, dieser Qualm von Bier und Rauch
+und schlechtem Parfüm? Mich dürstete nach Luft. Ich schob ihr das Geld
+hin, stand auf und rückte energisch ab, als sie mir schmeichelnd näher
+kam. Es ekelte mich, mitzuspielen bei dieser Erniedrigung eines
+Menschen, und deutlich ließ ich durch die Entschlossenheit meiner Abwehr
+spüren, wie wenig sie mich sinnlich verlocken konnte. Jetzt zuckte ihr
+Blut bös, eine Falte kroch ihr gemein um den Mund, aber sie hütete sich
+doch, das Wort auszusprechen, und wandte sich mit einem Ruck
+unverstellten Hasses gegen ihn, der aber, des Ärgsten gewärtig, eilig
+und wie gejagt von ihrer Drohung in die Tasche griff und mit zitternden
+Fingern eine Geldbörse herauszog. Er hatte Angst, jetzt allein mit ihr
+zu bleiben, das war sichtlich, und in der Hast konnte er die Knoten der
+Börse nicht gut lösen -- eine Börse war es, gestrickt und mit Glasperlen
+besetzt, wie die Bauern sie tragen und die kleinen Leute. Mühelos war es
+zu merken, daß er ungewohnt war, Geld rasch auszugeben, sehr im
+Gegensatz zu den Matrosen, die es mit einem Handschwung aus den
+klimpernden Taschen hervorholen und auf den Tisch werfen; er mußte
+offenbar gewohnt sein, sorglich zu zählen und die Münzen zwischen den
+Fingern zu wägen. »Wie er zittert um seine lieben süßen Pfennige! Gehts
+zu langsam? Wart!« höhnte sie und trat einen Schritt näher. Er schrak
+zurück, und sie, als sie sein Erschrecken sah, sagte, die Schultern
+hochziehend und mit einem unbeschreiblichen Ekel im Blick: »Ich nehm dir
+nichts, ich spei auf dein Geld. Weiß ja, sie sind gezählt, deine guten
+Pfennigchen, darf keines zuviel in die Welt. Aber erst« -- und sie
+tippte ihm plötzlich gegen die Brust -- »die Papierchen, die du da
+eingenäht hast, daß sie dir keiner stiehlt!«
+
+Und wirklich, wie ein Herzkranker im Krampf sich plötzlich an die Brust
+greift, so faßte fahl und zitternd seine Hand an eine bestimmte Stelle
+des Rockes, unwillkürlich tasteten seine Finger dort an das heimliche
+Nest und fielen dann beruhigt zurück. »Geizhals!« spie sie aus. Aber da
+flog plötzlich eine Glut in das Gesicht des Gemarterten, er warf die
+Geldbörse mit einem Ruck dem andern Mädel zu, die erst aufschrie im
+Schreck, dann hell lachte, und stürmte vorbei an ihr, zur Tür hinaus wie
+aus einem Brand.
+
+Einen Augenblick stand sie noch aufgerichtet, hell funkelnd in ihrer
+bösen Wut. Dann fielen die Lider wieder schlaff herab, Mattigkeit bog
+den Körper aus der Spannung. Alt und müde schien sie in einer Minute zu
+werden. Etwas Unsicheres und Verlorenes dämpfte den Blick, der mich
+jetzt traf. Wie eine Trunkene, die aufwacht, dumpf mit dem Gefühl einer
+Schande stand sie da. »Draußen wird er jammern um sein Geld, vielleicht
+zur Polizei laufen, wir hätten ihn bestohlen. Und morgen ist er wieder
+da. Aber mich soll er doch nicht haben. Alle, nur gerade er nicht!«
+
+Sie trat zum Schank, warf Geldstücke hin und stürzte mit einem Schwung
+ein Glas Branntwein hinunter. Das böse Licht glimmerte wieder in ihren
+Augen, aber trüb wie unter Tränen von Wut und Scham. Ekel faßte mich vor
+ihr und zerriß mein Mitleid: »Guten Abend,« sagte ich und ging. »_Bon
+soir_,« antwortete die Wirtin. Sie sah sich nicht um und lachte bloß,
+grell und höhnisch.
+
+Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine
+einzige schwüle Dunkelheit mit verwölktem, unendlich fernem Glanz von
+Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das Gefühl des
+Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der Mannigfaltigkeit der
+Geschicke, und ich spürte wieder -- ein Gefühl, das mich selig machen
+kann bis zu Tränen --, daß immer hinter jeder Fensterscheibe Schicksal
+wartet, jede Tür sich in Erlebnis auftut, allgegenwärtig das
+Mannigfaltige dieser Welt ist und selbst der schmutzigste Winkel noch so
+wimmelnd von schon gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen
+Glanz der Käfer. Fern war das Widerliche der Begegnung und das gespannte
+Gefühl wohltuend gelöst in eine süße Müdigkeit, die sich sehnte, all
+dies Gelebte in schöneren Traum zu verwandeln. Unwillkürlich blickte ich
+suchend um mich, den Weg nach Hause durch diese Wirrnis verwinkelter
+Gäßchen zu finden. Da schob sich -- unhörbar mußte er nahegetreten sein
+-- ein Schatten an mich heran.
+
+»Verzeihen Sie,« -- ich erkannte sogleich die demütige Stimme -- »aber
+ich glaube, Sie finden sich hier nicht zurecht. Darf ich ... darf ich
+Ihnen den Weg weisen? Der Herr wohnt ...?«
+
+Ich nannte mein Hotel.
+
+»Ich begleite Sie ... Wenn Sie erlauben,« fügte er sogleich demütig
+hinzu.
+
+Das Grauen faßte mich wieder. Dieser schleichende, gespenstische Schritt
+an meiner Seite, unhörbar fast und doch hart an mir, das Dunkel der
+Matrosengasse und die Erinnerung des Erlebten wich allmählich einem
+traumhaft wirren Gefühl ohne Wertung und Widerstand. Ich spürte die
+Demut seiner Augen, ohne sie zu sehen, und merkte das Zucken seiner
+Lippen, ich wußte, daß er mit mir reden wollte, tat aber nichts dafür
+und nichts dagegen aus der Taumligkeit meines Empfindens, in dem die
+Neugier des Herzens mit einer körperlichen Benommenheit sich wogend
+mengte. Er räusperte sich mehrmals, ich merkte den erstickten Ansatz zum
+Wort, aber irgendeine Grausamkeit, die von diesem Weib geheimnisvoll auf
+mich übergegangen war, freute sich dieses Ringens der Scham und
+seelischen Not: ich half ihm nicht, sondern ließ dieses Schweigen
+schwarz und schwer zwischen uns. Und unsere Schritte klangen, der seine
+leise schlurfend und alt, der meine mit Absicht stark und rauh, dieser
+schmutzigen Welt zu entrinnen, wirr zusammen. Immer stärker spürte ich
+die Spannung zwischen uns: schrill, voll inneren Schreis war dieses
+Schweigen und schon wie eine übermäßig gespannte Saite, bis er es
+endlich -- und wie entsetzlich zagend zuerst -- durchriß mit einem Wort.
+
+»Sie haben ... Sie haben ... mein Herr ... da drinnen eine merkwürdige
+Szene gesehen ... verzeihen Sie ... verzeihen Sie, wenn ich noch einmal
+davon rede ... aber sie mußte Ihnen merkwürdig sein ... und ich sehr
+lächerlich ... diese Frau ... es ist nämlich ...«
+
+Er stockte wieder. Etwas würgte ihm dick die Kehle. Dann wurde seine
+Stimme ganz klein, und er flüsterte hastig: »Diese Frau ... es ist
+nämlich meine Frau.« Ich mußte aufgefahren sein im Erstaunen, denn er
+sprach hastig weiter, als wollte er sich entschuldigen: »Das heißt ...
+es war meine Frau ... vor fünf, vor vier Jahren ... in Geratzheim drüben
+in Hessen, wo ich zu Hause bin ... Ich will nicht, Herr, daß Sie
+schlecht von ihr denken ... es ist vielleicht meine Schuld, daß sie so
+ist. Sie war nicht immer so ... Ich ... ich habe sie gequält ... Ich
+habe sie genommen, obwohl sie sehr arm war, nicht einmal die Leinwand
+hatte sie, nichts, gar nichts ... und ich bin reich ... das heißt,
+vermögend ... nicht reich ... oder ich war es wenigstens damals ... und,
+wissen Sie, mein Herr ... ich war vielleicht -- sie hat recht -- sparsam
+... aber früher war ich es, mein Herr, vor dem Unglück, und ich
+verfluche es ... aber mein Vater war so und die Mutter, alle waren so
+... und ich habe hart gearbeitet um jeden Pfennig ... und sie war
+leicht, sie hatte gern schöne Sachen ... und war doch arm, und ich habe
+es ihr immer wieder vorgehalten ... Ich hätte es nicht tun sollen, ich
+weiß es jetzt, mein Herr, denn sie ist stolz, sehr stolz ... Sie dürfen
+nicht glauben, daß sie so ist, wie sie sich gibt ... das ist Lüge, und
+sie tut sich selber weh ... nur ... nur um mir wehe zu tun, um mich zu
+quälen ... und ... weil ... weil sie sich schämt ... Vielleicht ist sie
+auch schlecht geworden, aber ich ... ich glaube es nicht ... denn, mein
+Herr, sie war sehr gut, sehr gut ...«
+
+Er wischte sich die Augen und blieb stehen in seiner übermächtigen
+Erregung. Unwillkürlich blickte ich ihn an, und er schien mir mit einem
+Male nicht mehr lächerlich, und selbst diese merkwürdige servile Anrede,
+»mein Herr«, die in Deutschland nur niedern Ständen zu eigen ist, spürte
+ich nicht mehr. Sein Antlitz war ganz von der inneren Bemühung zum Wort
+durchbildet, und der Blick starrte, wie er schwer jetzt wieder vorwärts
+taumelte, starr auf das Pflaster, als läse er dort im schwankenden
+Lichte mühsam ab, was sich dem Krampf seiner Kehle so quälend entriß.
+
+»Ja, mein Herr,« stieß er jetzt tiefatmend heraus, und mit einer ganz
+andern, dunklen Stimme, die irgendwie aus einer weicheren Welt seines
+Innern kam: »Sie war sehr gut ... auch zu mir, sie war sehr dankbar, daß
+ich sie aus ihrem Elend erlöst hatte ... und ich wußte es auch, daß sie
+dankbar war ... aber ... ich ... wollte es hören ... immer wieder ...
+immer wieder ... es tat mir gut, diesen Dank zu hören ... mein Herr, es
+war so, so unendlich gut, zu spüren, zu spüren, daß man besser ist ...
+wenn ... wenn man doch weiß, daß man der Schlechtere ist ... ich hätte
+all mein Geld dafür gegeben, es immer wieder zu hören ... und sie war
+sehr stolz und wollte es immer weniger, als sie merkte, daß ich ihn
+forderte, diesen Dank ... Darum ... nur darum, mein Herr, ließ ich sie
+immer bitten ... nie gab ich freiwillig ... es tat mir wohl, daß sie um
+jedes Kleid, um jedes Band kommen mußte und betteln ... drei Jahre habe
+ich sie so gequält, immer mehr ... aber, mein Herr, es war nur, weil ich
+sie liebte ... Ich hatte ihren Stolz gern, und doch wollte ich ihn immer
+knechten, ich Wahnsinniger, und wenn sie etwas begehrte, so war ich böse
+... aber, mein Herr, ich war es gar nicht ... ich war selig jeder
+Gelegenheit, sie demütigen zu können, denn ... denn ich wußte gar nicht,
+wie ich sie liebte ...«
+
+Wieder stockte er. Ganz torkelnd ging er. Offenbar hatte er mich
+vergessen. Mechanisch sprach er, wie aus dem Schlaf, mit immer lauterer
+Stimme.
+
+»Das ... das habe ich erst gewußt, wie ich damals ... an jenem
+verfluchten Tag ... ich hatte ihr Geld verweigert für ihre Mutter, ganz,
+ganz wenig ... das heißt, ich hatte es schon bereitgelegt, aber ich
+wollte, daß sie noch einmal käme ... noch einmal mich bitten ... ja, was
+sagte ich? ... ja, damals habe ich es gewußt, als ich abends nach Hause
+kam und sie fort war und nur ein Zettel auf dem Tisch ... >Behalte dein
+verfluchtes Geld, ich will nichts mehr von dir< ... das stand darauf,
+sonst nichts ... Herr, ich bin drei Tage, drei Nächte gewesen wie ein
+Rasender. Den Fluß habe ich absuchen lassen und den Wald, Hunderte habe
+ich der Polizei gegeben ... zu allen Nachbarn bin ich gelaufen, aber sie
+haben nur gelacht und gehöhnt ... Nichts, nichts war zu finden ...
+Endlich hat mir einer Nachricht gesagt vom andern Dorf ... er habe sie
+gesehen ... in der Bahn mit einem Soldaten ... sie sei nach Berlin
+gefahren ... am selben Tage bin ich ihr nachgereist ... ich habe meinen
+Verdienst gelassen ... Tausende habe ich verloren ... man hat mich
+bestohlen, meine Knechte, mein Verwalter, alle, alle ... aber, ich
+schwöre es Ihnen, mein Herr, es war mir gleichgültig ... Ich bin in
+Berlin geblieben, eine Woche hat es gedauert, bis ich sie auffand in
+diesem Wirbel von Menschen ... und bin zu ihr gegangen ...« Er atmete
+schwer.
+
+»Mein Herr, ich schwöre es Ihnen ... kein hartes Wort habe ich ihr
+gesagt ... ich habe geweint ... auf den Knien bin ich gelegen ... ich
+habe ihr Geld geboten ... mein ganzes Vermögen, sie sollte es verwalten,
+denn damals wußte ich es schon ... ich kann nicht leben ohne sie. Ich
+liebe jedes Haar an ihr ... ihren Mund ... ihren Leib, alles, alles ...
+und ich bin es ja, ich, der sie hinabgestoßen hat, ich allein ... Sie
+war blaß wie der Tod, als ich hereinkam, plötzlich ... ich hatte ihre
+Wirtin bestochen, eine Kupplerin, ein schlechtes, gemeines Weib ... wie
+der Kalk war sie an der Wand ... Sie hörte mich an. Herr, ich glaube,
+sie war ... ja, sie war beinahe froh, mich zu sehen ... aber als ich vom
+Gelde sprach ... und ich habe es doch nur getan, ich schwöre es Ihnen,
+um ihr zu zeigen, daß ich nicht mehr daran denke ... da hat sie
+ausgespien ... und dann ... weil ich noch immer nicht gehen wollte ...
+da hat sie ihren Liebhaber gerufen, und sie haben mich verlacht ...
+Aber, mein Herr, ich bin immer wiedergekommen, Tag für Tag. Die
+Hausleute haben mir alles erzählt, ich wußte, daß der Lump sie verlassen
+hatte und sie in Not war, und da ging ich noch einmal hin ... noch
+einmal, Herr, aber sie fuhr mich an und zerriß einen Schein, den ich
+heimlich auf den Tisch gelegt hatte, und als ich doch wiederkam, war sie
+fort ... Was habe ich nicht getan, mein Herr, sie wieder auszuforschen!
+Ein Jahr, ich schwöre es Ihnen, habe ich nicht gelebt, nur immer
+gespürt, habe Agenturen besoldet, bis ichs endlich erfuhr, daß sie
+drüben sei in Argentinien ... in ... in einem schlechten Hause ...« Er
+zögerte einen Augenblick. Wie ein Röcheln war das letzte Wort. Und
+dunkler wurde seine Stimme.
+
+»Ich erschrak sehr ... zuerst ... aber dann besann ich mich, daß ich,
+nur ich es sei, der sie da hinabgestoßen hatte ... und ich dachte, wie
+sehr sie leiden müsse, die Arme ... denn stolz ist sie vor allem ... Ich
+ging zu meinem Anwalt, der schrieb an den Konsul und sandte Geld ...
+ohne daß sie erfuhr, wer es gab ... nur daß sie zurückkäme. Man
+telegraphierte mir, daß alles gelungen sei ... ich wußte das Schiff ...
+und in Amsterdam wartete ich ... drei Tage zu früh war ich gekommen, so
+brannte ich vor Ungeduld ... Endlich kam es, ich war selig, wie nur der
+Rauch vom Dampfer am Horizont war, und ich glaubte es nicht erwarten zu
+können, bis er heranfuhr und anlegte, so langsam, langsam, und dann die
+Passagiere über den Steg kamen und endlich, endlich sie ... Ich erkannte
+sie nicht gleich ... sie war anders ... geschminkt ... und schon so ...
+so, wie Sie es gesehen haben ... und wie sie mich warten sah ... wurde
+sie fahl ... Zwei Matrosen mußten sie halten, sonst wäre sie vom Steg
+gefallen ... Sobald sie am Land war, trat ich an ihre Seite ... ich
+sagte nichts ... meine Kehle war zu ... Auch sie sprach nichts ... und
+sah mich nicht an ... Der Träger trug das Gepäck voran, wir gingen und
+gingen ... Da plötzlich blieb sie stehen und sagte ... Herr, wie sie es
+sagte ... so schmerzend weh tat es mir, so traurig klang es ... >Willst
+du mich noch immer zu deiner Frau, jetzt auch noch?< ... Ich faßte sie
+bei der Hand ... Sie zitterte, aber sie sagte nichts. Doch ich fühlte,
+daß nun alles wieder gut war ... Herr, wie selig ich war! Ich tanzte wie
+ein Kind um sie, als ich sie im Zimmer hatte, ich fiel ihr zu Füßen ...
+törichte Dinge muß ich gesagt haben ... denn sie lächelte unter Tränen
+und liebkoste mich ... ganz zaghaft natürlich nur ... aber Herr ... wie
+es mir wohltat ... mein Herz zerfloß. Ich lief treppauf, treppab,
+bestellte ein Diner im Hotel ... unser Vermählungsmahl ... ich half ihr,
+sich anzuziehen ... und wir gingen hinab, wir aßen und tranken und waren
+fröhlich ... Oh, so heiter war sie, ein Kind, so warm und gut, und sie
+sprach von Hause ... und wie wir alles nun wieder besorgen wollten ...
+Da ...« Seine Stimme wurde plötzlich rauh, und er machte mit der Hand
+eine Geste, als ob er jemanden zerbrechen wollte. »Da ... da war ein
+Kellner ... ein schlechter, gemeiner Mensch ... der glaubte, ich sei
+trunken, weil ich toll war und tanzte und mich überkollerte beim Lachen
+... während ich doch nur so glücklich war ... oh, so glücklich, und da
+... als ich bezahlte, gab er mir zwanzig Francs zu wenig zurück ... Ich
+fuhr ihn an und verlangte den Rest ... er war verlegen und legte das
+Goldstück hin ... Da ... da begann sie auf einmal grell zu lachen ...
+Ich starrte sie an, aber es war ein anderes Gesicht ... höhnisch, hart
+und böse mit einem Male ... >Wie genau du noch immer bist ... selbst an
+unserem Vermählungstag!< sagte sie ganz kalt, so scharf, so ...
+mitleidig. Ich erschrak und verfluchte meine Peinlichkeit ... ich gab
+mir Mühe, wieder zu lachen ... aber ihre Heiterkeit war fort ... war tot
+... Sie verlangte ein eigenes Zimmer ... was hätte ich ihr nicht gewährt
+... und ich lag allein die Nacht und sann nur nach, was ihr kaufen am
+nächsten Morgen ... sie beschenken ... ihr zeigen, daß ich nicht geizig
+sei ... nie mehr gegen sie. Und am Morgen ging ich aus, ein Armband
+kaufte ich, ganz früh, und wie ich in ihr Zimmer trat ... da war ... da
+war es leer ... ganz wie damals. Und ich wußte, auf dem Tisch würde ein
+Zettel liegen ... ich lief fort und betete zu Gott, es möge nicht wahr
+sein ... aber ... aber ... er lag doch dort ... Und darauf stand ...«
+
+Er zögerte. Unwillkürlich war ich stehen geblieben und sah ihn an. Er
+duckte den Kopf. Dann flüsterte er heiser:
+
+»Es stand darauf ... >Laß mich in Frieden. Du bist mir widerlich --<«
+
+Wir waren beim Hafen angelangt, und plötzlich rauschte in das Schweigen
+der grollende Atem der nahen Brandung. Mit blinkenden Augen, wie große
+schwarze Tiere lagen die Schiffe da, nah und ferne, und von irgendwo kam
+Gesang. Nichts war deutlich und doch vieles zu fühlen, ein ungeheurer
+Schlaf und der schwere Traum einer starken Stadt. Neben mir spürte ich
+den Schatten dieses Menschen, er zuckte gespenstisch vor meinen Füßen,
+floß bald auseinander, bald kroch er zusammen im wandelnden Licht der
+trüben Laternen. Ich vermochte nichts zu sagen, nicht Trost und hatte
+keine Frage, spürte aber sein Schweigen an mir kleben, lastend und
+dumpf. Da faßte er mich plötzlich zitternd am Arm.
+
+»Aber ich gehe nicht fort von hier ohne sie ... Nach Monaten habe ich
+sie wiedergefunden ... Sie martert mich, aber ich will nicht müde werden
+... Ich beschwöre Sie, mein Herr, reden Sie mit ihr ... Ich muß sie
+haben, sagen Sie es ihr ... mich hört sie nicht ... Ich kann nicht mehr
+so leben ... Ich kann es nicht mehr sehen, wie Männer zu ihr gehen ...
+und draußen warten vor dem Haus, bis sie wieder herunterkommen ...
+lachend und trunken ... Die ganze Gasse kennt mich schon ... sie lachen,
+wenn sie mich warten sehen ... wahnsinnig werde ich davon ... und doch
+jeden Abend stehe ich wieder dort ... Mein Herr, ich beschwöre Sie ...
+sprechen Sie mit ihr ... ich kenne Sie ja nicht, aber tun Sie es um
+Gottes Barmherzigkeit ... sprechen Sie mit ihr ...«
+
+Unwillkürlich wollte ich meinen Arm befreien. Mir graute. Aber er, wie
+ers spürte, daß ich mich gegen sein Unglück wehrte, fiel plötzlich
+mitten auf der Straße in die Knie und faßte meine Füße.
+
+»Ich beschwöre Sie, mein Herr ... Sie müssen mit ihr sprechen ... Sie
+müssen ... sonst ... sonst geschieht etwas Furchtbares ... Ich habe mein
+ganzes Geld verbraucht, sie zu suchen, und ich lasse sie nicht hier ...
+nicht lebendig ... Ich habe mir ein Messer gekauft ... Ich habe ein
+Messer, mein Herr ... Ich lasse sie hier nicht mehr ... nicht lebendig
+... ich ertrage es nicht ... Sprechen Sie mit ihr, mein Herr ...«
+
+Er wälzte sich wie rasend vor mir. In diesem Augenblick kamen zwei
+Polizisten die Straße her. Ich riß ihn mit Gewalt auf. Einen Augenblick
+starrte er mich entgeistert an. Dann sagte er mit ganz fremder,
+trockener Stimme:
+
+»Die Gasse dort biegen Sie ein. Dann sind Sie bei Ihrem Hotel.« Einmal
+noch starrte er mich an mit Augen, in denen die Pupillen zerschmolzen
+schienen in ein grauenhaft Weißes und Leeres. Dann verschwand er.
+
+Ich wickelte mich in meinen Mantel. Mich fröstelte. Nur Müdigkeit spürte
+ich, eine wirre Trunkenheit, gefühllos und schwarz, einen wandelnden,
+purpurnen Schlaf. Ich wollte etwas denken und all das besinnen, aber
+immer hob sich diese schwarze Welle von Müdigkeit aus mir und riß mich
+mit. Ich tastete ins Hotel, fiel hin ins Bett und schlief dumpf wie ein
+Tier.
+
+Am nächsten Morgen wußte ich nicht mehr, was davon Traum oder Erlebnis
+war, und irgend etwas in mir wehrte sich dagegen, es zu wissen. Spät war
+ich erwacht, fremd in fremder Stadt, und ging eine Kirche zu besehen, in
+der antike Mosaiken von großem Ruhme sein sollten. Aber meine Augen
+starrten sie leer an, immer deutlicher stieg die Begegnung der
+vergangenen Nacht auf, und ohne Widerstand triebs mich weg, ich suchte
+die Gasse und das Haus. Aber diese seltsamen Gassen leben nur des
+Nachts, am Tage tragen sie graue, kalte Masken, unter denen nur der
+Vertraute sie erkennt. Ich fand sie nicht, so sehr ich suchte. Müde und
+enttäuscht kam ich heim, verfolgt von den Bildern des Wahns oder der
+Erinnerung.
+
+Um neun Uhr abends ging mein Zug. Mit Bedauern ließ ich die Stadt. Ein
+Träger hob mein Gepäck und trug es vor mir her dem Bahnhof zu. Da
+plötzlich, an einer Kreuzung, riß michs herum: ich erkannte die
+Quergasse, die zu jenem Hause führte, hieß den Träger warten und ging --
+während er zuerst erstaunt und dann frechvertraulich lachte -- noch
+einen Blick zu tun in diese Gasse des Abenteuers.
+
+Dunkel lag sie da, dunkel wie damals, und im matten Mond sah ich die
+Türscheibe jenes Hauses glänzen. Noch einmal wollte ich näher treten, da
+raschelte eine Gestalt aus dem Dunkel. Schauernd erkannte ich ihn, der
+dort auf der Schwelle hockte und mir winkte, ich möge näher kommen. Doch
+ein Grauen faßte mich, ich flüchtete rasch fort, aus der feigen Angst,
+hier verstrickt zu werden und meinen Zug zu versäumen.
+
+Aber dann, an der Ecke, ehe ich mich wandte, sah ich noch einmal zurück.
+Als mein Blick ihn traf, gab er sich einen Ruck, raffte sich auf und
+sprang gegen die Tür. Metall blitzte in seiner Hand, da er sie jetzt
+eilig aufriß: ich konnte aus der Ferne nicht unterscheiden, ob es Geld
+war oder das Messer, das im Mondlicht zwischen seinen Fingern
+verräterisch glitzerte ...
+
+
+
+
+ Inhalt
+
+
+ Der Amokläufer 9
+ Die Frau und die Landschaft 87
+ Phantastische Nacht 121
+ Brief einer Unbekannten 209
+ Die Mondscheingasse 269
+
+
+
+
+
+
+ INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG
+
+ --------
+
+ Dichtungen von Stefan Zweig
+
+ Die frühen Kränze. Gedichte. Dritte Auflage.
+
+ Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland. 12. bis
+ 15. Tausend.
+
+ Brennendes Geheimnis. Novelle. (Insel-Bücherei Nr. 122.)
+ 36. bis 45. Tausend.
+
+ Das Haus am Meer. Schauspiel in zwei Teilen.
+
+ Tersites. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen. Zweite Auflage.
+
+ Der verwandelte Komödiant. Ein Spiel aus dem deutschen
+ Rokoko. Zweite Auflage.
+
+ Jeremias. Eine dramatische Dichtung in neun Bildern. 19.
+ bis 23. Tausend.
+
+ Legende eines Lebens. Ein Kammerspiel in drei Aufzügen.
+
+ Der Zwang. Novelle (in 470 Ex. mit Holzschnitten von Frans
+ Masereel).
+
+ Die Augen des ewigen Bruders. Novelle. (Insel-Bücherei Nr.
+ 349.) 10. Tausend.
+
+ Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski. 9. bis 12. Tausend.
+
+ Die gesammelten Gedichte (in Vorbereitung).
+
+ --------
+
+ Von Stefan Zweig wurden übertragen:
+
+ Emile Verhaeren: Rubens. Mit 95 Vollbildern. 26. bis 30.
+ Tausend.
+
+ Emile Verhaeren: Rembrandt. Mit 80 Vollbildern. 36. bis 40.
+ Tausend.
+
+ Emile Verhaeren: Hymnen an das Leben. (Insel-Bücherei Nr.
+ 5.) 41. bis 50. Tausend.
+
+ --------
+
+ Von Stefan Zweig wurden eingeleitet:
+
+ Charles Dickens: Ausgewählte Romane. -- Dostojewski: Sämtliche
+ Romane und Novellen. -- Arthur Rimbaud: Leben und Dichtung.
+ -- Alexandre Mercereau: Worte vor dem Leben. -- Marceline
+ Desbordes-Valmore: Das Lebensbild einer Dichterin. -- Paul
+ Verlaine: Gesammelte Werke.
+
+
+ Druck vom Bibliographischen
+ Institut in Leipzig
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Korrekturen, zum Teil unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben
+(vorher/nachher):
+
+ [S. 86]:
+ ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit dem Träger ...
+ ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern ...
+
+ [S. 160]:
+ ... von mir gehaßtem Ravachol hing, denn rings um mich ...
+ ... von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings um mich ...
+
+ [S. 165]:
+ ... ein Mensch mit bösem und warmen Gelüst. Eine Tür ...
+ ... ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Tür ...
+
+ [S. 171]:
+ ... inmitten einer weichwogenden Menschenmenge hatte einen ...
+ ... inmitten einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen ...
+
+ [S. 177]:
+ ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meiner Derbydreß, ...
+ ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, ...
+
+ [S. 249]:
+ ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihren ...
+ ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem ...
+
+ [S. 280]:
+ ... Gesten mir zu es in ihm zu zucken begann, als spürte ...
+ ... Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte ...
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 57850 ***
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-The Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Amok
- Novellen einer Leidenschaft
-
-Author: Stefan Zweig
-
-Release Date: September 5, 2018 [EBook #57850]
-
-Language: German
-
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This
-transcription was produced from images generously made
-available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State
-Library.
-
-
-
-
-
-
-
- Die Kette
- Ein Novellenkreis
-
-
- Der erste Ring:
- Erstes Erlebnis
- Geschichten aus Kinderland
-
-
- Der Zweite Ring:
- Amok
- Novellen einer Leidenschaft
-
-
-
-
-
-
- Amok
-
-
- Novellen einer Leidenschaft
-
-
- Von
- Stefan Zweig
-
-
- Im Insel-Verlag zu Leipzig 1922
-
-
- 1. bis 10. Tausend
-
-
- Frans Masereel,
- dem Künstler, dem brüderlichen Freunde
-
- Salzburg, Frühling 1922
-
-
-
-
-
-
- Tu auf dich, Unterwelt der Leidenschaften:
- Gestalten ihr, geträumt und doch empfunden,
- Laßt eure Lippen heiß an meinen haften,
- Trinkt Blut von Blut und Atem mir vom Munde!
-
- Brecht vor aus euren Zwielichtfinsternissen
- Und schämt euch nicht der Qual, die euch umschattet!
- Wer Liebe liebt, will nicht ihr Leiden missen,
- Was euch verstört, ists, was mich zu euch gattet.
-
- Nur Leidenschaft, die ihren Abgrund findet,
- Läßt deine letzte Wesenheit entbrennen,
- Nur der sich ganz verliert, ist sich gegeben.
-
- So flamm dich auf! Erst wenn du dich entzündet,
- Wirst du die Welt in deiner Tiefe kennen:
- Erst wo Geheimnis wirkt, beginnt das Leben.
-
-
-
-
- Der Amokläufer
-
-
-Im März des Jahres 1912 ereignete sich im Hafen von Neapel bei dem
-Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den
-die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte
-Berichte brachten. Obzwar Passagier der »Oceania«, war es mir
-ebensowenig wie den andern möglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu
-sein, weil er sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der
-Löschung der Fracht abspielte, wir aber, um dem Lärm zu entgehen, alle
-an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit
-verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, daß manche Vermutungen, die
-ich damals nicht öffentlich äußerte, die wirkliche Aufklärung jener
-erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir
-wohl das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen
-Episode unmittelbar vorausging.
-
- * * * * *
-
-Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise
-nach Europa auf der »Oceania« bestellen wollte, zuckte der Clerk
-bedauernd die Schultern. Er wisse noch nicht, ob es möglich sei, mir
-eine Kabine zu sichern, das Schiff wäre jetzt knapp vor dem Einbruch der
-Regenzeit immer schon von Australien her ausverkauft, er müsse erst das
-Telegramm von Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte er mir
-erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich
-sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des
-Schiffes. Ich war schon ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht
-lange und ließ mir den Platz zuschreiben.
-
-Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und
-die Kabine schlecht, ein kleiner, gepreßter, rechteckiger Winkel in der
-Nähe der Dampfmaschine, einzig vom trüben Blick der kreisrunden
-Glasscheibe erhellt. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und
-Moder: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator
-entgehen, der wie eine toll gewordene stählerne Fledermaus einem surrend
-über der Stirne kreiste. Von unten her ratterte und stöhnte wie ein
-Kohlenträger, der unablässig dieselbe Treppe hinaufkeucht, die Maschine,
-von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende Hin und Her der Schritte
-vom Promenadendeck. So flüchtete ich, kaum daß ich den Koffer in das
-muffige Grab aus grauen Traversen verstaut hatte, wieder zurück auf
-Deck, und wie Ambra trank ich, aufsteigend aus der Tiefe, den süßlichen
-weichen Wind, der vom Lande her über die Wellen wehte.
-
-Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flatterte und
-flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosität eingesperrter
-Untätigkeit unausgesetzt plaudernd auf und nieder gingen. Das
-zwitschernde Geschäker der Frauen, das rastlos kreisende Wandern auf dem
-Engpaß des Decks, wo vor den Stühlen der Schwarm in schwatzhafter Unruhe
-vorbeiwogte, um sich unablässig zu begegnen, tat mir irgendwie weh. Ich
-hatte eine neue Welt gesehen, rasch ineinanderstürzende Bilder in
-rasender Jagd in mich eingetrunken. Nun wollte ich mirs übersinnen,
-zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte
-gestalten, aber hier auf dem gedrängten Boulevard gab es nicht eine
-Minute Ruhe und Rast. Die Zeilen in einem Buch zerrannen vor den
-flüchtigen Schatten der Vorüberplaudernden. Es war unmöglich, mit sich
-selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.
-
-Drei Tage lang versuchte ichs, sah resigniert auf die Menschen, auf das
-Meer, aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im
-Sonnenuntergang plötzlich mit allen Farben jäh übergossen. Und die
-Menschen, sie kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden.
-Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum Überdruß, das scharfe Lachen der
-Frauen reizte, das polternde Streiten zweier nachbarlicher holländischer
-Offiziere ärgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war
-heiß und dunstig, im Salon produzierten unablässig englische Mädchen ihr
-schlechtes Klavierspiel bei abgehackten Walzern. Schließlich drehte ich
-entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags
-hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um das
-Souper und den Tanzabend zu überschlafen.
-
-Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der
-Kabine. Den Ventilator hatte ich abgestellt, so schwälte die Luft fettig
-und feucht an die Schläfen. Meine Sinne waren irgendwie betäubt: ich
-brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurückzufinden. Mitternacht
-mußte jedenfalls schon vorbei sein, denn ich hörte weder Musik noch den
-rastlosen Schlurf der Schritte: nur die Maschine, das atmende Herz des
-Leviathans, stieß keuchend den knisternden Leib des Schiffes fort ins
-Unsichtbare.
-
-Ich tastete empor auf Deck. Es war leer. Und wie ich den Blick aufhob
-über den dünstenden Turm des Schornsteins und die geisterhaft glänzenden
-Spieren, drang mit einmal magische Helle mir in die Augen. Der Himmel
-strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten,
-aber doch: er strahlte; es war, als verhüllte dort ein samtener Vorhang
-ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen,
-durch die jenes unbeschreiblich Helle vorglänzte. Nie hatte ich den
-Himmel gesehen wie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und
-doch funkelnd, triefend, rauschend, quellend von Licht, das vom Mond
-verhangen niederschwoll und von den Sternen und das irgendwie aus einem
-geheimnisvollen Innen zu brennen schien. Weißer Lack, flimmerten im
-Monde alle Randlinien des Schiffes grell gegen das samtdunkle Meer, die
-Taue, die Rahen, alles Schmale, alle Konturen waren aufgelöst in diesem
-flutenden Glanz: gleichsam im Leeren schienen die Lichter auf den Masten
-und darüber das runde Auge des Ausgucks zu hängen, irdische gelbe Sterne
-zwischen den strahlenden des Himmels.
-
-Gerade aber zu Häupten stand mir das magische Sternbild, das Südkreuz,
-mit flimmernden diamantenen Nägeln ins Unsichtbare gehämmert, schwebend
-scheinbar, indes nur das Schiff Bewegung schuf, das leise bebend sich
-mit atmender Brust nieder und auf, nieder und auf, ein gigantischer
-Schwimmer, durch die dunklen Wogen stieß. Ich stand und sah empor: mir
-war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fällt, nur daß dies Licht
-war, das mir weiß und auch lau die Hände überspülte, die Schultern, das
-Haupt mild umgoß und irgendwie nach innen zu dringen schien, denn alles
-Dumpfe in mir war plötzlich aufgehellt. Ich atmete befreit, rein, und
-jäh beseligt spürte ich auf den Lippen wie ein klares Getränk die Luft,
-die weiche, gegorene, leicht trunken machende Luft, in der Atem von
-Früchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Male, seit ich
-die Planken betreten, überkam mich die heilige Lust des Träumens, und
-jene andere sinnlichere, meinen Körper weibisch hinzugeben an dieses
-Weiche, das mich umdrängte. Ich wollte mich hinlegen, den Blick hinauf
-zu den weißen Hieroglyphen. Aber die Ruhesessel, die Deckchairs waren
-verräumt, nirgends fand sich auf dem leeren Promenadendeck ein Platz zu
-träumerischer Rast.
-
-So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz
-geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu
-dringen schien. Fast tat es schon weh, dies kalkweiße, grell brennende
-Sternenlicht, ich aber hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu
-vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu
-fühlen, sondern nur über mir, an den Dingen gespiegelt, so wie man eine
-Landschaft sieht aus verdunkeltem Zimmer. Endlich kam ich, über Taue
-stolpernd und vorbei an den eisernen Gewinden bis an den Kiel und sah
-hinab, wie der Bug in das Schwarze stieß und geschmolzenes Mondlicht
-schäumend zu beiden Seiten der Schneide aufsprühte. Immer wieder hob,
-immer wieder senkte sich der Pflug in die schwarzflutende Scholle, und
-ich fühlte alle Qual des besiegten Elements, fühlte alle Lust der
-irdischen Kraft in diesem funkelnden Spiel. Und im Schauen verlor ich
-die Zeit. War es eine Stunde, daß ich so stand, oder waren es nur
-Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege des
-Schiffes über die Zeit hinaus. Ich fühlte nur, daß in mich Müdigkeit
-kam, die wie eine Wollust war. Ich wollte schlafen, träumen und doch
-nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg. Unwillkürlich
-ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich
-hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie,
-über mich strömte der silberne Glanz. Unten fühlte ich die Wasser leise
-rauschen, über mir mit unhörbarem Klang den weißen Strom dieser Welt.
-Und allmählich schwoll dies Rauschen mir ins Blut: ich fühlte mich
-selbst nicht mehr, wußte nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des
-Schiffes fernpochendes Herz, ich strömte, verströmte in diesem ruhelosen
-Rauschen der mitternächtigen Welt.
-
- * * * * *
-
-Ein leises, trockenes Husten hart neben mir ließ mich auffahren. Ich
-schrak aus meiner fast schon trunkenen Träumerei. Meine Augen, geblendet
-vom weißen Geleucht über den bislang geschlossenen Lidern, tasteten auf:
-mir knapp gegenüber im Schatten der Bordwand glänzte etwas wie der
-Reflex einer Brille, und jetzt glühte ein dicker, runder Funke auf, die
-Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, einzig
-niederblickend in die schaumige Bugschneide und empor zum Südkreuz,
-offenbar diesen Nachbarn nicht bemerkt, der regungslos hier die ganze
-Zeit gesessen haben mußte. Unwillkürlich, noch dumpf in den Sinnen,
-sagte ich auf deutsch: »Verzeihung!« »Oh, bitte ...« antwortete die
-Stimme deutsch aus dem Dunkel.
-
-Ich kann nicht sagen, wie seltsam und schaurig das war, dies stumme
-Nebeneinandersitzen im Dunkeln knapp neben einem, den man nicht sah.
-Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als starre dieser Mensch auf mich
-genau wie ich auf ihn starrte: aber so stark war das Licht über uns, das
-weißflimmernd flutende, daß keiner von keinem mehr sehen konnte als den
-Umriß im Schatten. Nur den Atem meinte ich zu hören und das fauchende
-Saugen an der Pfeife.
-
-Das Schweigen war unerträglich. Ich wäre am liebsten weggegangen, aber
-das schien doch zu brüsk, zu plötzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir
-eine Zigarette heraus. Das Zündholz zischte auf, eine Sekunde lang
-zuckte Licht über den engen Raum. Ich sah hinter Brillengläsern ein
-fremdes Gesicht, das ich nie an Bord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei
-keinem Gang, und sei es, daß die plötzliche Flamme den Augen wehtat oder
-war es eine Halluzination: es schien grauenhaft verzerrt, finster und
-koboldhaft. Aber ehe ich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das
-Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien fort, nur den Umriß sah ich
-einer Gestalt, dunkel ins Dunkel gedrückt und manchmal den kreisrunden
-roten Feuerring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und dies Schweigen
-war schwül und drückend wie die tropische Luft.
-
-Endlich ertrug ichs nicht mehr. Ich stand auf und sagte höflich »Gute
-Nacht«.
-
-»Gute Nacht,« antwortete es aus dem Dunkel, eine heisere, harte,
-eingerostete Stimme.
-
-Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takelwerk an den Pfosten
-vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war
-der Nachbar von vordem. Unwillkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht
-ganz nah heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst
-und Bedrücktheit in der Art seines Schrittes.
-
-»Verzeihen Sie,« sagte er dann hastig, »wenn ich eine Bitte an Sie
-richte. Ich ... ich ...« -- er stotterte und konnte nicht gleich
-weitersprechen vor Verlegenheit -- »ich ... ich habe private ... ganz
-private Gründe, mich hier zurückzuziehen ... ein Trauerfall ... ich
-meide die Gesellschaft an Bord ... Ich meine nicht Sie ... nein, nein
-... Ich möchte nur bitten ... Sie würden mich sehr verpflichten, wenn
-Sie zu niemandem an Bord davon sprechen würden, daß Sie mich hier
-gesehen haben ... Es sind ... sozusagen private Gründe, die mich jetzt
-hindern unter die Leute zu gehen ... ja ... nun ... es wäre mir
-peinlich, wenn Sie davon Erwähnung täten, daß jemand hier nachts ... daß
-ich ...« Das Wort blieb ihm wieder stecken. Ich beseitigte rasch seine
-Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte, seinen Wunsch zu erfüllen.
-Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in meine Kabine zurück
-und schlief einen dumpfen, merkwürdig verwühlten und von Bildern
-verwirrten Schlaf.
-
- * * * * *
-
-Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von der
-seltsamen Begegnung, obzwar die Versuchung keine geringe war. Denn auf
-einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont,
-ein Delphin, der aufspringt, ein neuentdeckter Flirt, ein flüchtiger
-Scherz. Dabei quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen
-Passagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem
-Namen, der ihm zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm
-in Beziehung stehen könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine
-nervöse Ungeduld, und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich
-ihm wieder begegnen würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über
-mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut,
-Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch
-ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens
-entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei
-einer Frau. Der Tag wurde mir lang und zerbröckelte leer zwischen den
-Fingern. Ich legte mich früh ins Bett: ich wußte, ich würde um
-Mitternacht aufwachen, es würde mich erwecken.
-
-Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem
-Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem
-leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch
-schwülere Nacht.
-
-Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffuses Licht über
-das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war
-wie gestern -- in den Tropen sind die Tage, die Nächte zwillingshafter
-als in unseren Sphären -- nur in mir war nicht dies weiche, flutende,
-träumerische Gewiegtsein wie gestern. Irgend etwas zog mich, verwirrte
-mich, und ich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwarzen Gewind am
-Kiel, ob er wieder dort starr sitze, der Geheimnisvolle. Von oben her
-schlug die Schiffsglocke. Dies riß mich fort. Schritt für Schritt,
-widerwillig und doch gezogen, gab ich mir nach. Noch war ich nicht am
-Steven, da zuckte plötzlich dort etwas auf wie ein rotes Auge: die
-Pfeife. Er saß also dort.
-
-Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten
-Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drüben im Dunkel, etwas
-stand auf, tat zwei Schritte, und plötzlich hörte ich knapp vor mir
-seine Stimme, höflich und gedrückt.
-
-»Verzeihen Sie,« sagte er, »Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz,
-und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen.
-Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder.«
-
-Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, daß er nur bleiben solle, ich sei
-bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. »Mich stören Sie nicht,«
-sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, »im Gegenteil, ich bin froh,
-einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort
-gesprochen ... eigentlich seit Jahren nicht ... und da geht es so
-schwer, eben vielleicht weil man schon erstickt daran, alles in sich
-hineinzuwürgen ... Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem
-... diesem Sarg ... ich kann nicht mehr ... und die Menschen ertrage ich
-wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen ... Das kann ich nicht
-ertragen jetzt ... ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir
-die Ohren zu ... freilich, sie wissen ja nicht, daß ... nun sie wissens
-eben nicht, und dann, was geht das die Fremden an ...«
-
-Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und hastig: »Aber ich
-will Sie nicht belästigen ... verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit.«
-
-Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich.
-»Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier ein paar
-stille Worte zu haben ... Nehmen Sie eine Zigarette?«
-
-Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riß sich das Gesicht flackernd vom
-schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter
-der Brille forschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irren Gewalt.
-Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte,
-sprechen mußte. Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu
-helfen.
-
-Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er
-mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der
-Lichtring der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Hand
-bebte. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine
-Stimme leise:
-
-»Sind Sie sehr müde?«
-
-»Nein, durchaus nicht.«
-
-Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. »Ich möchte Sie gerne um etwas
-fragen ... das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich
-weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir
-begegnet, aber ... ich bin ... ich bin in einer furchtbaren psychischen
-Verfassung ... ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem
-sprechen muß ... ich gehe sonst zugrunde ... Sie werden das schon
-verstehen, wenn ich ... ja, wenn ich Ihnen eben erzähle ... Ich weiß,
-daß Sie mir nicht werden helfen können ... aber ich bin irgendwie krank
-von diesem Schweigen ... und ein Kranker ist immer lächerlich für die
-andern ...«
-
-Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir
-nur erzählen ... ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man
-habe doch die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man
-jemanden in einer Bedrängnis sehe, da ergebe sich doch natürlich die
-Pflicht zu helfen ...
-
-»Die Pflicht ... seine Bereitwilligkeit anzubieten ... die Pflicht, den
-Versuch zu machen ... Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die
-Pflicht ... die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.«
-
-Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vor dieser stumpfen,
-verbissenen Art des Wiederholens. War dieser Mensch wahnsinnig? War er
-betrunken?
-
-Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte,
-sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: »Sie werden mich
-vielleicht für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht --
-noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt
-... so merkwürdig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich
-ob man die Pflicht hat ... die Pflicht ...«
-
-Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem
-neuen Ruck.
-
-»Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche
-verhängnisvolle ... ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man
-die Pflicht hat ... nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die
-gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat
-und eine für die Wissenschaft ... Man soll helfen, natürlich, dazu ist
-man doch da ... aber solche Maximen sind immer nur theoretisch ... Wie
-weit soll man denn helfen? ... Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich
-bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, daß Sie mich
-gesehen haben ... gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht ... Ich
-bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere an meinem Schweigen
-... Sie sind bereit, mir zuzuhören ... gut ... Aber das ist ja leicht
-... Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu
-werfen ... da hört sich doch die Gefälligkeit, die Hilfsbereitschaft
-auf. Irgendwo endets doch ... dort, wo man anfängt mit seinem eigenen
-Leben, seiner eigenen Verantwortung ... irgendwo muß es doch enden ...
-irgendwo muß diese Pflicht doch aufhören ... Oder vielleicht soll sie
-gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muß der ein Heiland, ein
-Allerweltshelfer sein, bloß weil er ein Diplom mit lateinischen Worten
-hat, muß der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut
-schütten, wenn irgendeine ... irgendeiner kommt und will, daß er edel
-sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf ... dort, wo
-man nicht mehr kann, gerade dort ...«
-
-Er hielt wieder inne und riß sich auf.
-
-»Verzeihen Sie ... ich rede gleich so erregt ... aber ich bin nicht
-betrunken ... noch nicht betrunken ... auch das kommt jetzt oft bei mir
-vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit ...
-Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre nur fast zwischen Eingeborenen und
-Tieren gelebt ... da verlernt man das ruhige Reden. Wenn man sich dann
-auftut, flutets gleich über ... Aber warten Sie ... ja, ich weiß schon
-... ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man
-die Pflicht habe zu helfen ... so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man
-... Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht
-müde?«
-
-»Nein, durchaus nicht.«
-
-»Ich ... ich danke Ihnen ... Nehmen Sie nicht?«
-
-Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte
-gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben
-sich gestellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte,
-während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augenblick stand
-Schweigen zwischen uns. Da schlug die Glocke: halb eins.
-
- * * * * *
-
-»Also ... ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt
-in einer ... einer kleineren Stadt ... oder eigentlich am Lande ... ein
-Arzt, der ... ein Arzt, der ...«
-
-Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir.
-
-»So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an,
-sonst verstehen Sie es nicht ... Das, das läßt sich nicht als Exempel,
-als Theorie entwickeln ... ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt
-es keine Scham, kein Verstecken ... vor mir ziehen sich auch die Leute
-nackt aus und zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremente ...
-wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts
-verschweigen ... Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem
-sagenhaften Arzt ... ich ziehe mich nackt aus und sage: ich ... das
-Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem
-verfluchten Land, das einem die Seele ausfrißt und das Mark aus den
-Lenden saugt.«
-
-Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
-
-»Ach, Sie protestieren ... ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien,
-von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer
-Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in
-der Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch
-nicht anders gefühlt, als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben
-Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen
-und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren,
-wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen -- so
-sagt man ja im europäischen Jargon -- ein Missionar der Menschlichkeit,
-der Zivilisation werden. Alle, die kommen, träumen denselben Traum. Aber
-in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das
-Fieber -- man kriegts ja doch, mag man noch so viel Chinin in sich
-fressen -- greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich,
-eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem wahren Wesen
-abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte
-Sumpfstation kommt: auf kurz oder lang hat jeder seinen Knax weg, die
-einen saufen, die andern rauchen Opium, die dritten prügeln und werden
-Bestien -- irgendeinen Schuß Narrheit kriegt jeder ab. Man sehnt sich
-nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen,
-in einem hellen steinernen Zimmer unter weißen Menschen zu sitzen, Jahr
-um Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, wo man Urlaub hätte,
-so ist man schon zu träge, um zu gehen. Man weiß, drüben ist man
-vergessen, fremd, eine Muschel in diesem Meer, auf die jeder tritt. So
-bleibt man und versumpft und verkommt in diesen heißen, nassen Wäldern.
-Es war ein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft
-habe ...
-
-Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in
-Deutschland studiert, war recte Mediziner geworden, ein guter Arzt sogar
-mit einer Anstellung an der Leipziger Klinik; irgendwo in einem
-verschollenen Jahrgang der Medizinischen Blätter haben sie damals viel
-Aufhebens gemacht von einer neuen Injektion, die ich als erster
-praktiziert hatte. Da kam eine Weibergeschichte, eine Person, die ich im
-Krankenhaus kennen lernte: sie hatte ihren Geliebten so toll gemacht,
-daß er sie mit dem Revolver anschoß, und bald war ich ebenso toll wie
-er. Sie hatte eine Art, hochmütig und kalt zu sein, die mich rasend
-machte -- mich hatten immer schon Frauen in der Faust, die herrisch und
-frech waren, aber diese bog mich zusammen, daß mir die Knochen brachen.
-Ich tat, was sie wollte, ich -- nun, warum soll ichs nicht sagen, es
-sind acht Jahre her -- ich tat für sie einen Griff in die Spitalskasse,
-und als die Sache aufflog, war der Teufel los. Ein Onkel deckte noch den
-Abgang, aber mit der Karriere war es vorbei. Damals hörte ich gerade,
-die holländische Regierung werbe Ärzte an für die Kolonien und biete ein
-Handgeld. Nun, ich dachte gleich, es müßte ein sauberes Ding sein, für
-das man Handgeld biete, ich wußte, daß die Grabkreuze auf diesen
-Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen als bei uns, aber wenn man
-jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod springt immer nur auf die
-andern. Nun, ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam,
-verschrieb mich auf zehn Jahre, bekam ein ganz nettes Bündel Banknoten,
-die Hälfte schickte ich nach Hause an den Onkel, die andere Hälfte jagte
-mir eine Person dort im Hafenviertel ab, die alles von mir
-herauskriegte, nur weil sie jener verfluchten Katze so ähnlich war. Ohne
-Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ich dann abgesegelt von Europa und
-war nicht sonderlich traurig, als wir aus dem Hafen steuerten. Und dann
-saß ich so auf Deck wie Sie, wie alle saßen und sah das Südkreuz und die
-Palmen, das Herz ging mir auf -- ah, Wälder, Einsamkeit, Stille, träumte
-ich! Nun -- an Einsamkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich nicht
-nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo es Menschen gibt und Klubs
-und Golf und Bücher und Zeitungen, sondern -- nun der Name tut ja nichts
-zur Sache -- in irgendeine der Distriktstationen, zwei Tagereisen von
-der nächsten Stadt. Ein paar langweilige, verdorrte Beamte, ein paar
-Halfcast, das war meine ganze Gesellschaft, sonst weit und breit nur
-Wald, Plantagen, Dickicht und Sumpf.
-
-Im Anfang wars noch erträglich. Ich trieb allerhand Studien; einmal, als
-der Vizeresident auf der Inspektionsreise mit dem Automobil umgeworfen
-und sich ein Bein zerschmettert hatte, machte ich ohne Gehilfen eine
-Operation, über die viel geredet wurde, ich sammelte Gifte und Waffen
-der Eingeborenen, ich beschäftigte mich mit hundert kleinen Dingen, um
-mich wach zu halten. Aber all dies ging nur, solang die Kraft von Europa
-her in mir noch funktionierte: dann trocknete ich ein. Die paar Europäer
-langweilten mich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte in mich
-hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dann war ich frei mit Pension,
-konnte nach Europa zurückkehren, noch einmal ein Leben anfangen.
-Eigentlich tat ich nichts mehr als warten, stilliegen und warten. Und so
-säße ich heute noch, wenn nicht sie ... wenn das nicht gekommen wäre.«
-
- * * * * *
-
-Die Stimme im Dunkeln hielt inne. Auch die Pfeife glimmte nicht mehr. So
-still war es, daß ich mit einem Male wieder das Wasser hörte, das sich
-schäumend am Kiel brach, und den fernen, dumpfen Herzstoß der Maschine.
-Ich hätte mir gern eine Zigarette angezündet, aber ich hatte Furcht vor
-dem grellen Aufschlag des Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht.
-Er schwieg und schwieg. Ich wußte nicht, ob er zu Ende sei, ob er
-duselte, ob er schlief, so tot war sein Schweigen.
-
-Da schlug die Schiffsglocke einen geraden, kräftigen Schlag: ein Uhr. Er
-fuhr auf: ich hörte wieder das Glas klingen. Offenbar tastete die Hand
-suchend zum Whisky hinab. Ein Schluck gluckste leise -- dann plötzlich
-begann die Stimme wieder, aber jetzt gleichsam gespannter,
-leidenschaftlicher.
-
-»Ja also ... warten Sie ... ja also, das war so. Ich sitze da droben in
-meinem verfluchten Nest, sitze wie die Spinne im Netz regungslos seit
-Monaten schon. Es war gerade nach der Regenzeit, Wochen und Wochen hatte
-es auf das Dach geplätschert, kein Mensch war gekommen, kein Europäer,
-täglich, täglich hatte ich dagesessen mit meinen gelben Weibern im Haus
-und meinem guten Whisky. Ich war damals gerade ganz »_down_«, ganz
-europakrank: wenn ich irgendeinen Roman las von hellen Straßen und
-weißen Frauen, begannen mir die Finger zu zittern. Ich kann Ihnen den
-Zustand nicht ganz schildern, es ist eine Art Tropenkrankheit, eine
-wütige, fiebrige und doch kraftlose Nostalgie, die einen manchmal packt.
-So saß ich damals, ich glaube über einem Atlas, und träumte mir Reisen
-aus. Da klopft es aufgeregt an die Tür, der Boy steht draußen und eines
-von den Weibern, beide haben die Augen ganz aufgerissen vor Erstaunen.
-Sie machen große Gebärden: eine Dame sei hier, eine Lady, eine weiße
-Frau.
-
-Ich fahre auf. Ich habe keinen Wagen kommen gehört, kein Automobil. Eine
-weiße Frau hier in dieser Wildnis?
-
-Ich will die Treppe hinab, reiße mich aber noch zurück. Ein Blick in den
-Spiegel, hastig richte ich mich ein wenig zurecht. Ich bin nervös,
-unruhig, irgendwie gequält von unangenehmem Vorgefühl, denn ich weiß
-niemanden auf der Welt, der aus Freundschaft zu mir käme. Endlich gehe
-ich hinunter.
-
-Im Vorraum wartet die Dame und kommt mir hastig entgegen. Ein dicker
-Automobilschleier verhüllt ihr Gesicht. Ich will sie begrüßen, aber sie
-fängt mir rasch das Wort ab. »Guten Tag, Doktor,« sagte sie auf englisch
-in einer fließenden (etwas zu leicht fließenden und wie im voraus
-eingelernten) Art. »Verzeihen Sie, daß ich Sie überfalle. Aber wir waren
-gerade in der Station, unser Auto hält drüben« -- warum fährt sie nicht
-bis vors Haus, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf -- »da
-erinnerte ich mich, daß Sie hier wohnen. Ich habe schon so viel von
-Ihnen gehört, Sie haben ja eine wirkliche Zauberei mit dem
-Vizeresidenten gemacht, sein Bein ist wieder tadellos _allright_, er
-spielt Golf wie früher. Ah, ja, alles spricht noch davon drunten bei
-uns, und wir wollten alle unseren brummigen Surgeon und noch die zwei
-andern hergeben, wenn Sie zu uns kämen. Überhaupt, warum sieht man Sie
-nie drunten, Sie leben ja wie ein Joghi ...«
-
-Und so plappert sie weiter, hastig und immer hastiger, ohne mich zu
-Worte kommen zu lassen. Etwas Nervöses und Fahriges ist in diesem
-talkigen Geschwätz, und ich werde selbst unruhig davon. Warum spricht
-sie soviel, frage ich mich innerlich, warum stellt sie sich nicht vor,
-warum nimmt sie den Schleier nicht ab? Hat sie Fieber? Ist sie krank?
-Ist sie toll? Ich werde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeit
-empfinde, so stumm vor ihr zu stehen, übergossen von ihrer prasselnden
-Geschwätzigkeit. Endlich stoppt sie ein wenig, und ich kann sie
-hinaufbitten. Sie macht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben, und geht
-vor mir die Treppe empor.
-
-»Nett haben Sie es hier,« sagt sie, in meinem Zimmer sich umsehend. »Ah,
-die schönen Bücher! die möchte ich alle lesen!« Sie tritt an das Regal
-und mustert die Büchertitel. Zum erstenmal, seit ich ihr
-entgegengetreten, schweigt sie für eine Minute.
-
-»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?« fragte ich.
-
-Sie wendet sich nicht um und sieht nur auf die Büchertitel. »Nein,
-danke, Doktor ... wir müssen gleich wieder weiter ...: ich habe nicht
-viel Zeit ... war ja nur ein kleiner Ausflug ... Ach, da haben Sie auch
-den Flaubert, den liebe ich so sehr ... wundervoll, ganz wundervoll, die
->_Education sentimentale_< ... ich sehe, Sie lesen auch französisch ...
-Was Sie alles können! ... ja, die Deutschen, die lernen alles auf der
-Schule ... Wirklich großartig, so viel Sprachen zu können! ... Der
-Vizeresident schwört auf Sie, sagt immer, Sie seien der einzige, dem er
-unter das Messer ginge ... unser guter Surgeon drüben taugt gerade zum
-Bridgespiel ... Übrigens wissen Sie -- (sie wendete sich noch immer
-nicht um) heute kams mir selbst in den Sinn, ich sollte Sie einmal
-konsultieren ... und weil wir eben vorüberfuhren, dachte ich ... nun,
-Sie haben jetzt wohl zu tun ... ich komme lieber ein andermal.«
-
-»Deckst du endlich die Karten auf!« dachte ich mir sofort. Aber ich ließ
-nichts merken, sondern versicherte ihr, es würde mir nur eine Ehre sein,
-jetzt und wann immer sie wolle, ihr zu dienen.
-
-»Es ist nichts Ernstes,« sagte sie, sich halb umwendend und gleichzeitig
-in einem Buch blätternd, das sie vom Regal genommen hatte, »nichts
-Ernstes ... Kleinigkeiten ... Weibersachen ... Schwindel, Ohnmachten.
-Heute früh schlug ich, als wir eine Kurve machten, plötzlich hin, _raide
-morte_ ... der Boy mußte mich aufrichten im Auto und Wasser holen ...
-nun, vielleicht ist der Chauffeur zu rasch gefahren ... meinen Sie
-nicht, Doktor?«
-
-»Ich kann das so nicht beurteilen. Haben Sie öfter derlei Ohnmachten?«
-
-»Nein ..., das heißt ja ... in der letzten Zeit ... gerade in der
-allerletzten Zeit ... ja ... solche Ohnmachten und Übelkeiten.«
-
-Sie steht schon wieder vor dem Bücherschrank, tut das Buch hinein, nimmt
-ein anderes heraus und blättert darin. Merkwürdig, warum blättert sie
-immer so ... so nervös, warum schaut sie unter dem Schleier nicht auf?
-Ich sage mit Absicht nichts. Es reizt mich, sie warten zu lassen.
-Endlich fängt sie wieder an in ihrer nonchalanten, plapperigen Art.
-
-»Nicht wahr, Doktor, nichts Bedenkliches das? Keine Tropensache ...
-nichts Gefährliches ...«
-
-»Ich müßte erst sehen, ob Sie Fieber haben. Darf ich um Ihren Puls
-bitten ...«
-
-Ich gehe auf sie zu. Sie weicht leicht zur Seite.
-
-»Nein, nein, ich habe kein Fieber ... gewiß, ganz gewiß nicht ... ich
-habe mich selbst gemessen jeden Tag, seit ... seit diese Ohnmachten
-kamen. Nie Fieber, immer tadellos 36.4 auf den Strich. Auch mein Magen
-ist gesund.«
-
-Ich zögere einen Augenblick. Die ganze Zeit schon prickelt in mir ein
-Argwohn: ich spüre, diese Frau will etwas von mir, man kommt nicht in
-eine Wildnis, um über Flaubert zu sprechen. Eine, zwei Minuten lasse ich
-sie warten. »Verzeihen Sie,« sage ich dann geradewegs, »darf ich einige
-Fragen ganz frei stellen?«
-
-»Gewiß, Doktor! Sie sind doch Arzt,« antwortet sie, aber schon wendet
-sie mir wieder den Rücken und spielt mit den Büchern.
-
-»Haben Sie Kinder gehabt?«
-
-»Ja, einen Sohn.«
-
-»Und haben Sie ... haben Sie vorher ... ich meine damals ... haben Sie
-da ähnliche Zustände gehabt?«
-
-»Ja.«
-
-Ihre Stimme ist jetzt ganz anders. Ganz klar, ganz bestimmt, gar nicht
-mehr plapprig, gar nicht mehr nervös.
-
-»Und wäre es möglich, daß Sie ... verzeihen Sie die Frage ... daß Sie
-jetzt in einem ähnlichen Zustande sind?«
-
-»Ja.«
-
-Wie ein Messer scharf und schneidend läßt sie das Wort fallen. In ihrem
-abgewandten Kopf zuckt nicht eine Linie.
-
-»Vielleicht wäre es da am besten, gnädige Frau, ich nehme eine
-allgemeine Untersuchung vor ... darf ich Sie vielleicht bitten, sich ...
-sich in das andere Zimmer hinüber zu bemühen?«
-
-Da wendet sie sich plötzlich um. Durch den Schleier fühle ich einen
-kalten, entschlossenen Blick mir gerade entgegen.
-
-»Nein ... das ist nicht nötig ... ich habe volle Gewißheit über meinen
-Zustand.««
-
- * * * * *
-
-Die Stimme zögert einen Augenblick. Wieder blinkert im Dunkel das
-gefüllte Glas.
-
-»Also hören Sie ... aber versuchen Sie zuerst einen Augenblick sich das
-zu überdenken. Da drängt sich zu einem, der in seiner Einsamkeit
-vergeht, eine Frau herein, die erste weiße Frau betritt seit Jahren das
-Zimmer ... und plötzlich spüre ichs, es ist etwas Böses im Zimmer, eine
-Gefahr. Irgendwie überliefs mich: mir graute vor der stählernen
-Entschlossenheit dieses Weibes, die da mit plapprigen Reden
-hereingekommen war und dann mit einemmal ihre Forderung zückt, wie ein
-Messer. Denn was sie von mir wollte, wußte ich ja, wußte ich sofort --
-es war nicht das erstemal, daß Frauen so etwas von mir verlangten, aber
-sie kamen anders, kamen verschämt oder flehend, kamen mit Tränen und
-Beschwörungen. Hier aber war eine ... ja, eine stählerne, eine männliche
-Entschlossenheit ... von der ersten Sekunde spürte ichs, daß diese Frau
-stärker war als ich ... daß sie mich in ihren Willen zwingen konnte, wie
-sie wollte ... Aber ... aber ... es war auch etwas Böses in mir ... der
-Mann, der sich wehrte, irgendeine Erbitterung, denn ... ich sagte es ja
-schon ... von der ersten Sekunde, ja, noch ehe ich sie gesehen, empfand
-ich diese Frau als Feind.
-
-Ich schwieg zunächst. Schwieg hartnäckig und erbittert. Ich spürte, daß
-sie mich unter dem Schleier ansah -- gerade und fordernd ansah, daß sie
-mich zwingen wollte zu sprechen. Aber ich gab nicht so leicht nach. Ich
-begann zu sprechen, aber ... ausweichend ... ja unbewußt ahmte ich ihre
-plapprige, gleichgültige Art nach. Ich tat, als ob ich sie nicht
-verstünde, denn -- ich weiß nicht, ob Sie das nachfühlen können -- ich
-wollte sie zwingen, deutlich zu werden, ich wollte nicht anbieten,
-sondern ... gebeten sein ... gerade von ihr, weil sie so herrisch kam
-... und weil ich wußte, daß ich bei Frauen nichts so unterliege als
-dieser hochmütigen kalten Art.
-
-Ich redete also herum, dies sei ganz unbedenklich, solche Ohnmachten
-gehörten zum regulären Lauf der Dinge, im Gegenteil, sie verbürgten
-beinahe eine gute Entwicklung. Ich zitierte Fälle aus den klinischen
-Zeitungen ... ich sprach, ich sprach, lässig und leicht, immer die
-Angelegenheit ganz wie eine Banalität betrachtend und ... und wartete
-immer, daß sie mich unterbrechen würde. Denn ich wußte, sie würde es
-nicht ertragen.
-
-Da fuhr sie schon scharf dazwischen, mit einer Handbewegung gleichsam
-das ganze beruhigende Gerede wegstreifend.
-
-»Das ist es nicht, Doktor, was mich unsicher macht. Damals, als ich
-meinen Buben bekam, war ich in besserer Verfassung ... aber jetzt bin
-ich nicht mehr allright ... ich habe Herzzustände ...«
-
-»Ach, Herzzustände,« wiederholte ich, scheinbar beunruhigt, »da will ich
-doch gleich nachsehen.« Und ich machte eine Bewegung, als ob ich
-aufstehen und das Hörrohr holen wollte.
-
-Aber schon fuhr sie dazwischen. Die Stimme war jetzt ganz scharf und
-bestimmt -- wie am Kommandoplatz.
-
-»Ich _habe_ Herzzustände, Doktor, und ich muß Sie bitten, zu glauben,
-was ich Ihnen sage. Ich möchte nicht viel Zeit mit Untersuchungen
-verlieren -- Sie könnten mir, meine ich, etwas mehr Vertrauen
-entgegenbringen. Ich wenigstens habe mein Vertrauen zu Ihnen genug
-bezeugt.«
-
-Jetzt war es schon Kampf, offene Herausforderung. Und ich nahm sie an.
-
-»Zum Vertrauen gehört Offenheit, rückhaltlose Offenheit. Reden Sie klar,
-ich bin Arzt. Und vor allem nehmen Sie den Schleier ab, setzen Sie sich
-her, lassen Sie die Bücher und die Umwege. Man kommt nicht zum Arzt im
-Schleier.«
-
-Sie sah mich an, aufrecht und stolz. Einen Augenblick zögerte sie. Dann
-setzte sie sich nieder, zog den Schleier hoch. Ich sah ein Gesicht, ganz
-so wie ich es -- gefürchtet hatte, ein undurchdringliches Gesicht, hart,
-beherrscht, von einer alterslosen Schönheit, ein Gesicht mit grauen
-englischen Augen, in denen alles Ruhe schien und hinter die man doch
-alles Leidenschaftliche träumen konnte. Dieser schmale, verpreßte Mund
-gab kein Geheimnis her, wenn er nicht wollte. Eine Minute lang sahen wir
-einander an -- sie befehlend und fragend zugleich, mit einer so kalten,
-stählernen Grausamkeit, daß ich es nicht ertrug und unwillkürlich zur
-Seite blickte.
-
-Sie klopfte leicht mit dem Knöchel auf den Tisch. Also auch in ihr war
-Nervosität. Dann sagte sie plötzlich rasch:
-
-»Wissen Sie, Doktor, was ich von Ihnen will, oder wissen Sie es nicht?«
-
-»Ich glaube es zu wissen. Aber seien wir lieber ganz deutlich. Sie
-wollen Ihrem Zustand ein Ende bereiten ... Sie wollen, daß ich Sie von
-Ihrer Ohnmacht, Ihren Übelkeiten befreie, indem ich ... indem ich die
-Ursache beseitige. Ist es das?«
-
-»Ja.«
-
-Wie ein Fallbeil zuckte das Wort.
-
-»Wissen Sie auch, daß solche Versuche gefährlich sind ... für beide
-Teile ...?«
-
-»Ja.«
-
-»Daß es gesetzlich mir untersagt ist?«
-
-»Es gibt Möglichkeiten, wo es nicht untersagt, sondern sogar geboten
-ist.«
-
-»Aber diese erfordern eine ärztliche Indikation.«
-
-»So werden Sie diese Indikation finden. Sie sind Arzt.«
-
-Klar, starr, ohne zu zucken, blickten mich ihre Augen dabei an. Es war
-ein Befehl, und ich Schwächling bebte in Bewunderung vor der dämonischen
-Herrischkeit ihres Willens. Aber ich krümmte mich noch, ich wollte nicht
-zeigen, daß ich schon zertreten war. -- »Nur nicht zu rasch! Umstände
-machen! Sie zur Bitte zwingen,« funkelte in mir irgendein Gelüst.
-
-»Das liegt nicht immer im Willen des Arztes. Aber ich bin bereit, mit
-einem Kollegen im Krankenhaus ...«
-
-»Ich will Ihren Kollegen nicht ... ich bin zu Ihnen gekommen.«
-
-»Darf ich fragen, warum gerade zu mir?«
-
-Sie sah mich kalt an.
-
-»Ich habe kein Bedenken, es Ihnen zu sagen. Weil Sie abseits wohnen,
-weil Sie mich nicht kennen -- weil Sie ein guter Arzt sind, und weil Sie
-...« jetzt zögerte sie zum ersten Male -- »wohl nicht mehr lange in
-dieser Gegend bleiben werden, besonders wenn Sie ... wenn Sie eine
-größere Summe nach Hause bringen können.«
-
-Mich überliefs kalt. Diese eherne, diese Merchant-, diese
-Kaufmannsklarheit der Berechnung betäubte mich. Bisher hatte sie ihre
-Lippen noch nicht zur Bitte aufgetan -- aber alles längst auskalkuliert,
-mich erst umlauert und dann aufgespürt. Ich spürte, wie das Dämonische
-ihres Willens in mich eindrang, aber ich wehrte mich mit all meiner
-Erbitterung. Noch einmal zwang ich mich sachlich -- ja fast ironisch zu
-sein.
-
-»Und diese größere Summe würden Sie ... würden Sie mir zur Verfügung
-stellen?«
-
-»Für Ihre Hilfe und sofortige Abreise.«
-
-»Wissen Sie, daß ich dadurch meine Pension verliere?«
-
-»Ich werde sie Ihnen entschädigen.«
-
-»Sie sind sehr deutlich ... Aber ich will noch mehr Deutlichkeit. Welche
-Summe haben Sie als Honorar in Aussicht genommen?«
-
-»Zwölftausend Gulden, zahlbar auf Scheck in Amsterdam.«
-
-Ich ... zitterte ... ich zitterte vor Zorn und ... ja auch vor
-Bewunderung. Alles hatte sie berechnet, die Summe und die Art der
-Zahlung, durch die ich zur Abreise genötigt war, sie hatte mich
-eingeschätzt und gekauft, ohne mich zu kennen, hatte über mich verfügt
-im Vorgefühl ihres Willens. Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht
-geschlagen ... Aber wie ich zitternd aufstand -- auch sie war
-aufgestanden -- und ihr gerade Auge in Auge starrte, da überkam mich
-plötzlich bei dem Blick auf diesen verschlossenen Mund, der nicht
-bitten, auf ihre hochmütige Stirn, die sich nicht beugen wollte ... eine
-... eine Art gewalttätiger Gier. Sie mußte irgend etwas davon fühlen,
-denn sie spannte ihre Augenbrauen hoch, wie wenn man jemand Lästigen
-wegweisen will: der Haß zwischen uns war plötzlich nackt. Ich wußte, sie
-haßte mich, weil sie mich brauchte, und ich haßte sie, weil ... weil sie
-nicht bitten wollte. Diese eine, diese eine Sekunde Schweigen sprachen
-wir zum erstenmal ganz aufrichtig zueinander. Dann biß sich plötzlich
-wie ein Reptil mir ein Gedanke ein, und ich sagte ihr ... ich sagte ihr
-...
-
-Aber warten Sie, so würden Sie es falsch verstehen, was ich tat ... was
-ich sagte ... ich muß Ihnen erst erklären, wie ... wieso dieser
-wahnsinnige Gedanke in mich kam ...«
-
- * * * * *
-
-Wieder klirrte leise im Dunkel das Glas. Und die Stimme wurde erregter.
-
-»Nicht daß ich mich entschuldigen will, mich rechtfertigen, mich
-reinwaschen ... Aber Sie verstehen es sonst nicht ... Ich weiß nicht, ob
-ich je so etwas wie ein guter Mensch gewesen bin, aber ... ich glaube,
-hilfreich war ich immer ... In dem dreckigen Leben da drüben war das ja
-die einzige Freude, die man hatte, mit der Handvoll Wissenschaft, die
-man sich ins Hirn gepreßt, irgendeinem Stück Leben den Atem erhalten zu
-können ... so eine Art Herrgottsfreude ... Wirklich, es waren meine
-schönsten Augenblicke, wenn so ein gelber Bursch kam, blauweiß vor
-Schrecken, einen Schlangenbiß im hochgeschwollenen Fuß, und schon
-heulte, man solle ihm das Bein nicht abschneiden, und ich kriegte es
-noch fertig, ihn zu retten. Stundenweit bin ich gefahren, wenn irgendein
-Weib im Fieber lag -- auch so wie diese es wollte, habe ich geholfen,
-schon in Europa drüben an der Klinik. Aber da spürte mans wenigstens,
-daß dieser Mensch einen _brauchte_, da wußte mans, daß man jemand vom
-Tode rettete oder vor der Verzweiflung -- und das braucht man eben
-selbst zum Helfen, dies Gefühl, daß der andere einen braucht.
-
-Aber diese Frau -- ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schildern kann -- sie
-regte mich auf, reizte mich von dem Augenblick, da sie scheinbar
-promenierend hereinkam, durch ihren Hochmut zu einem Widerstand, sie
-reizte alles -- wie soll ichs sagen ... sie reizte alles Gedrückte,
-alles Versteckte, alles Böse in mir zur Gegenwehr. Daß sie Lady spielte,
-unnahbar kühl ein Geschäft entrierte, wo es um Tod und Leben ging, das
-machte mich toll ... Und dann ... dann ... schließlich wird man doch
-nicht schwanger vom Golfspielen ... ich wußte ... das heißt, ich mußte
-plötzlich mit einer -- und das war jener Gedanke -- mit einer
-entsetzlichen Deutlichkeit mich daran erinnern, daß diese Kühle, diese
-Hochmütige, diese Kalte, die steil die Augenbrauen über ihre stählernen
-Augen hochzog, als ich sie nur abwehrend ... ja fast wegstoßend
-anblickte, daß die sich zwei oder drei Monate vorher heiß im Bett mit
-einem Mann gewälzt hatte, nackt wie ein Tier und vielleicht stöhnend vor
-Lust, die Körper ineinander verbissen wie zwei Lippen ... Das, das war
-der brennende Gedanke, der mich überfiel, als sie mich so hochmütig, so
-unnahbar kühl, ganz wie ein englischer Offizier anblickte ... und da, da
-spannte sich alles in mir ... ich war besessen von der Idee, sie zu
-erniedrigen ... von dieser Sekunde sah ich durch das Kleid ihren Körper
-nackt ... von dieser Sekunde an lebte ich nur im Gedanken, sie zu
-besitzen, ein Stöhnen aus ihren harten Lippen zu pressen, diese Kalte,
-diese Hochmütige in Wollust zu fühlen so wie jener, jener andere, den
-ich nicht kannte. Das ... das wollte ich Ihnen erklären ... Ich habe
-nie, so verkommen ich war, sonst als Arzt die Situation zu nutzen
-gesucht ... Aber diesmal war es ja nicht Geilheit, nicht Brunst, nichts
-Sexuelles, wahrhaftig nicht ... ich würde es ja eingestehen ... nur die
-Gier, eines Hochmuts Herr zu werden ... Herr als Mann ... Ich sagte es
-Ihnen, glaube ich, schon, daß hochmütige, scheinbar kühle Frauen von je
-über mich Macht hatten ... aber jetzt, jetzt kam noch dies dazu, daß ich
-sieben Jahre hier lebte, ohne eine weiße Frau gehabt zu haben, daß ich
-Widerstand nicht kannte ... Denn diese Mädchen hier, diese zwitschernden
-kleinen zierlichen Tierchen, die zittern ja vor Ehrfurcht, wenn ein
-Weißer, ein »Herr«, sie nimmt ... sie löschen aus in Demut, immer sind
-sie einem offen, immer bereit, mit ihrem leisen, glucksenden Lachen
-einem zu dienen ... aber gerade diese Unterwürfigkeit, dieses Sklavische
-verschweint einem den Genuß ... Verstehen Sie jetzt, verstehen Sie es,
-wie das dann auf mich hinschmetternd wirkte, wenn da plötzlich eine Frau
-kam, voll von Hochmut und Haß, verschlossen bis an die Fingerspitzen,
-zugleich funkelnd von Geheimnis und beladen mit früherer Leidenschaft
-... wenn eine solche Frau in den Käfig eines solchen Mannes, einer so
-vereinsamten, verhungerten, abgesperrten Menschenbestie frech eintritt
-... Das ... das wollte ich nur sagen, damit Sie das andere verstehen ...
-das, was jetzt kam. Also ... voll von irgendeiner bösen Gier, vergiftet
-von dem Gedanken an sie, nackt, sinnlich, hingegeben, ballte ich mich
-gleichsam zusammen und täuschte Gleichgültigkeit vor. Ich sagte kühl:
-»Zwölftausend Gulden? ... Nein, dafür werde ich es nicht tun.«
-
-Sie sah mich an, ein wenig blaß. Sie spürte wohl schon, daß in diesem
-Widerstand nicht Geldgier war. Aber doch sagte sie:
-
-»Was verlangen Sie also?«
-
-Ich ging auf den kühlen Ton nicht mehr ein. »Spielen wir mit offenen
-Karten. Ich bin kein Geschäftsmann ... ich bin nicht der arme Apotheker
-aus Romeo und Julia, der für >_corrupted gold_< sein Gift verkauft ...
-ich bin vielleicht das Gegenteil eines Geschäftsmannes ... auf diesem
-Wege werden Sie Ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.«
-
-»Sie wollen es also nicht tun?«
-
-»Nicht für Geld.«
-
-Es wurde ganz still für eine Sekunde zwischen uns. So still, daß ich sie
-zum erstenmal atmen hörte.
-
-»Was können Sie denn sonst wünschen?«
-
-Jetzt hielt ich mich nicht mehr.
-
-»Ich wünsche zuerst, daß Sie ... daß Sie zu mir nicht wie zu einem
-Krämer reden, sondern wie zu einem Menschen. Daß Sie, wenn Sie Hilfe
-brauchen, nicht ... nicht gleich mit Ihrem schändlichen Geld kommen ...
-sondern bitten ... mich, den Menschen, bitten, Ihnen, dem Menschen, zu
-helfen ... Ich bin nicht nur Arzt, ich habe nicht nur Sprechstunden ...
-ich habe auch andere Stunden ... vielleicht sind Sie in eine solche
-Stunde gekommen ...«
-
-Sie schweigt einen Augenblick. Dann krümmt sich ihr Mund ganz leicht,
-zittert und sagt rasch:
-
-»Also wenn ich Sie bitten würde ... dann würden Sie es tun?«
-
-»Sie wollen schon wieder ein Geschäft machen -- Sie wollen nur bitten,
-wenn ich erst verspreche. Erst müssen Sie mich bitten -- dann werde ich
-Ihnen antworten.«
-
-Sie wirft den Kopf hoch wie ein trotziges Pferd. Zornig sieht sie mich
-an.
-
-»Nein, -- ich werde Sie nicht bitten. Lieber zugrunde gehen!«
-
-Da packt mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn.
-
-»Dann werde ich fordern, wenn Sie nicht bitten wollen. Ich glaube, ich
-muß nicht erst deutlich sein -- Sie wissen, was ich von Ihnen begehre.
-Dann -- dann werde ich Ihnen helfen.«
-
-Einen Augenblick starrte sie mich an. Dann -- o ich kann, ich kann nicht
-sagen, wie entsetzlich das war -- dann spannten sich ihre Züge, und dann
-... dann _lachte_ sie mit einem Male ... lachte sie mir mit einer
-unsagbaren Verächtlichkeit ins Gesicht ... mit einer Verächtlichkeit,
-die mich zerstäubte ... und die mich berauschte zugleich ... Es war wie
-eine Explosion, so plötzlich, so aufspringend, so mächtig losgesprengt
-von einer ungeheuren Kraft dieses Lachen der Verächtlichkeit, daß ich
-... ja daß ich hätte zu Boden sinken können und ihr die Füße küssen.
-Eine Sekunde dauerte es nur ... es war wie ein Blitz, und ich hatte das
-Feuer im ganzen Körper ... da wandte sie sich schon und ging hastig auf
-die Tür zu.
-
-Unwillkürlich wollte ich ihr nach ... mich entschuldigen ... sie
-anflehen ... meine Kraft war ja ganz zerbrochen ... da kehrte sie sich
-noch einmal um und sagte ... nein, sie _befahl_:
-
-»Unterstehen Sie sich nicht mir zu folgen oder nachzuspüren ... Sie
-würden es bereuen.«
-
-Und schon krachte hinter ihr die Türe zu.«
-
- * * * * *
-
-Wieder ein Zögern. Wieder ein Schweigen ... Wieder nur dies Rauschen,
-als ob das Mondlicht strömte. Und dann endlich wieder die Stimme.
-
-»Die Tür schlug zu ... aber ich stand unbeweglich an der Stelle ... ich
-war gleichsam hypnotisiert von dem Befehl ... ich hörte sie die Treppe
-hinabsteigen, die Haustür zumachen ... ich hörte alles, und mein ganzer
-Wille drängte ihr nach ... sie ... ich weiß nicht was ... sie
-zurückzurufen, oder zu schlagen oder zu erdrosseln ... aber ihr nach ...
-ihr nach ... Und doch konnte ich nicht. Meine Glieder waren gleichsam
-gelähmt wie von einem elektrischen Schlag ... ich war eben getroffen,
-getroffen bis ins Mark hinein von dem herrischen Blitz dieses Blickes
-... Ich weiß, das ist nicht zu erklären, nicht zu erzählen ... es mag
-lächerlich klingen, aber ich stand und stand ... ich brauchte Minuten,
-vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten, ehe ich einen Fuß wegreißen
-konnte von der Erde ...
-
-Aber kaum daß ich einen Fuß gerührt, war ich schon heiß, war ich schon
-rasch ... im Nu eilte ich die Treppe hinab ... Sie konnte ja nur die
-Straße hinabgegangen sein zur Zivilstation ... ich stürze in den
-Schuppen, das Rad zu holen, sehe, daß ich den Schlüssel vergessen habe,
-reiße den Verschlag auf, daß der Bambus splittert und kracht ... und
-schon schwinge ich mich auf das Rad und sause ihr nach ... ich muß sie
-... ich muß sie erreichen, ehe sie zu ihrem Automobil gelangt ... ich
-muß sie sprechen ...
-
-Die Straße staubt an mir vorbei ... jetzt merke ich erst, wie lange ich
-oben starr gestanden haben mußte ... da ... auf der Kurve im Wald knapp
-vor der Station sehe ich sie, wie sie hastig mit steifem geradem Schritt
-hineilt, begleitet von dem Boy ... Aber auch sie muß mich gesehen haben,
-denn sie spricht jetzt mit dem Boy, der zurückbleibt, und geht allein
-weiter ... Was will sie tun? Warum will sie allein sein? ... Will sie
-mit mir sprechen, ohne daß er es hört? ... Blindwütig trete ich in die
-Pedale hinein ... Da springt mir plötzlich quer von der Seite etwas über
-den Weg ... der Boy ... ich kann gerade noch das Rad zur Seite reißen
-und krache hin ...
-
-Ich stehe fluchend auf ... unwillkürlich hebe ich die Faust, um dem
-Tölpel eins hinzuknallen, aber er springt zur Seite ... Ich rüttle mein
-Fahrrad hoch, um wieder aufzusteigen ... Aber da springt der Halunke
-vor, faßt das Rad und sagt in seinem erbärmlichen Englisch: »_You remain
-here._«
-
-Sie haben nicht in den Tropen gelebt ... Sie wissen nicht, was das für
-eine Frechheit ist, wenn ein solcher gelber Halunke einem weißen >Herrn<
-das Rad faßt und ihm, dem >Herrn<, befiehlt, dazubleiben. Statt aller
-Antwort schlage ich ihm die Faust ins Gesicht ... er taumelt, aber er
-hält das Rad fest ... seine Augen, seine engen, feigen Augen sind weit
-aufgerissen in sklavischer Angst ... aber er hält die Stange, hält sie
-teuflisch fest ... »_You remain here_,« stammelt er noch einmal. Zum
-Glück hatte ich keinen Revolver bei mir. Ich hätte ihn sonst
-niedergeknallt. »Weg, Kanaille!« sage ich nur. Er starrt mich geduckt
-an, läßt aber die Stange nicht los. Ich schlage ihm noch einmal auf den
-Schädel, er läßt noch immer nicht. Da faßt mich die Wut ... ich sehe,
-daß sie schon fort, vielleicht schon entkommen ist ... und versetzte ihm
-einen regelrechten Boxerschlag unters Kinn, daß er hinwirbelt. Jetzt
-habe ich wieder mein Rad ... aber wie ich aufspringe, stockt der Lauf
-... bei dem gewaltsamen Zerren hat sich die Speiche verbogen ... Ich
-versuche mit fiebernden Händen sie geradezudrehen ... Es geht nicht ...
-so schmeiße ich das Rad quer auf den Weg neben den Halunken hin, der
-blutend aufsteht und zur Seite weicht ... Und dann -- nein, Sie können
-nicht fühlen, wie lächerlich das dort vor allen Menschen ist, wenn ein
-Europäer ... nun, ich wußte nicht mehr, was ich tat ... ich hatte nur
-den einen Gedanken: ihr nach, sie erreichen ... und so _lief_ ich, lief
-wie ein Rasender die Landstraße entlang vorbei an den Hütten, wo das
-gelbe Gesindel staunend sich vordrängte, einen weißen Mann, den Doktor,
-_laufen_ zu sehen.
-
-Schweißtriefend kam ich in der Station an ... Meine erste Frage: Wo ist
-das Auto? ... Eben weggefahren ... Verwundert sehen mich die Leute an:
-als Rasender muß ich ihnen erscheinen, wie ich da naß und schmierig
-ankam, die Frage voranschreiend, ehe ich noch stand ... Unten an der
-Straße sehe ich weiß den Qualm des Autos wirbeln ... es ist ihr gelungen
-... gelungen wie alles ihrer harten, grausam harten Berechnung gelingen
-muß.
-
-Aber die Flucht hilft ihr nichts ... In den Tropen gibt es kein
-Geheimnis unter den Europäern ... einer kennt den andern, alles wird zum
-Ereignis ... Nicht umsonst ist ihr Chauffeur eine Stunde im Bungalow der
-Regierung gestanden ... in einigen Minuten weiß ich alles ... Weiß, wer
-sie ist ... daß sie unten in -- nun in der Regierungsstadt wohnt, acht
-Eisenbahnstunden von hier ... daß sie -- nun sagen wir, die Frau eines
-Großkaufmannes ist, rasend reich, vornehm, eine Engländerin ... ich
-weiß, daß ihr Mann jetzt fünf Monate in Amerika war und nächster Tage
-eintreffen soll, um sie mit nach Europa zu nehmen ...
-
-Sie aber -- und wie Gift brennt sich mir der Gedanke in die Adern hinein
--- sie kann höchstens zwei oder drei Monate in andern Umständen sein
-...«
-
- * * * * *
-
-»Bisher konnte ich Ihnen noch alles begreiflich machen ... vielleicht
-nur deshalb, weil ich bis zu diesem Augenblicke mich noch selbst
-verstand ... mir als Arzt immer die Diagnose meines Zustands selbst
-stellte. Aber von da an begann es wie ein Fieber in mir ... ich verlor
-die Kontrolle über mich ... das heißt, ich wußte genau, wie sinnlos
-alles war, was ich tat; aber ich hatte keine Macht mehr über mich ...
-ich verstand mich selbst nicht mehr ... ich lief nur in der Besessenheit
-meines Ziels vorwärts ... Übrigens warten Sie ... vielleicht kann ich es
-Ihnen doch begreiflich machen ... Wissen Sie, was Amok ist?«
-
-»Amok? ... ich glaube mich zu erinnern ... Eine Art Trunkenheit bei den
-Malaien ...«
-
-»Es ist mehr als Trunkenheit ... es ist Tollheit, eine Art menschlicher
-Hundswut ... ein Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie, der sich mit
-keiner andern alkoholischen Vergiftung vergleichen läßt ... ich habe
-selbst während meines Aufenthaltes einige Fälle studiert -- für andere
-ist man ja immer sehr klug und sehr sachlich -- ohne aber je das
-furchtbare Geheimnis ihres Ursprungs freilegen zu können ... Irgendwie
-hängt es mit dem Klima zusammen, mit dieser schwülen, geballten
-Atmosphäre, die auf die Nerven wie ein Gewitter drückt, bis sie einmal
-losspringen ... Also Amok ... ja, Amok, das ist so: Ein Malaie,
-irgendein ganz einfacher, ganz gutmütiger Mensch, trinkt sein Gebräu in
-sich hinein ... er sitzt da, stumpf, gleichgültig, matt ... so wie ich
-in meinem Zimmer saß ... und plötzlich springt er auf, faßt den Dolch
-und rennt auf die Straße ... rennt geradeaus, immer nur geradeaus ...
-ohne zu wissen wohin ... Was ihm in den Weg tritt, Mensch oder Tier, das
-stößt er nieder mit seinem Kris, und der Blutrausch macht ihn nur noch
-hitziger ... Schaum tritt dem Laufenden vor die Lippen, er heult wie ein
-Rasender ... aber er rennt, rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts,
-sieht nicht nach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei, seinem
-blutigen Kris in dieses entsetzliche Geradeaus ... Die Leute in den
-Dörfern wissen, daß keine Macht einen Amokläufer aufhalten kann ... so
-brüllen sie warnend voraus, wenn er kommt: »Amok! Amok!«, und alles
-flüchtet ... er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohne zu sehen, stößt
-nieder, was ihm begegnet ... bis man ihn totschießt wie einen tollen
-Hund oder er selbst schäumend zusammenbricht ...
-
-Einmal habe ich das gesehen, vom Fenster meines Bungalow aus ... es war
-grauenhaft ... aber nur dadurch, daß ichs gesehen habe, begreife ich
-mich selbst in jenen Tagen ... denn so, genau so, mit diesem furchtbaren
-Blick geradeaus, ohne nach rechts oder links zu sehen, mit dieser
-Besessenheit stürmte ich los ... dieser Frau nach ... Ich weiß nicht
-mehr, wie ich alles tat, in so rasendem Lauf, in so unsinniger
-Geschwindigkeit flog es vorbei ... Zehn Minuten, nein, fünf, nein zwei
-... nachdem ich alles von dieser Frau wußte, ihren Namen, ihr Haus, ihr
-Schicksal, jagte ich schon auf einem rasch geborgten Rad in mein Haus
-zurück, warf einen Anzug in den Koffer, steckte Geld zu mir und fuhr zur
-Station der Eisenbahn mit einem Wagen ... fuhr, ohne mich abzumelden
-beim Distriktsbeamten ... ohne einen Vertreter zu ernennen, ließ das
-Haus offen stehen und liegen wie es war ... Um mich standen Diener, die
-Weiber staunten und fragten, ich antwortete nicht, wandte mich nicht um
-... fuhr zur Eisenbahn und mit dem nächsten Zug hinab in die Stadt ...
-Eine Stunde im ganzen, nachdem diese Frau in mein Zimmer getreten, hatte
-ich meine Existenz hinter mich geworfen und rannte Amok ins Leere hinein
-...
-
-Geradeaus rannte ich, mit dem Kopf gegen die Wand ... um sechs Uhr
-abends war ich angekommen ... um sechs Uhr zehn war ich in ihrem Haus
-und ließ mich melden ... Es war ... Sie werden es verstehen ... das
-Sinnloseste, das Stupideste, was ich tun konnte ... aber der Amokläufer
-rennt ja mit leeren Augen, er sieht nicht, wohin er rennt ... Nach
-einigen Minuten kam der Diener zurück ... höflich und kühl ... die
-gnädige Frau sei nicht wohl und könne nicht empfangen ...
-
-Ich taumelte die Türe hinaus ... Eine Stunde schlich ich noch um das
-Haus herum, besessen von der wahnwitzigen Hoffnung, sie würde vielleicht
-nach mir suchen ... dann nahm ich mir erst ein Zimmer im Strandhotel und
-zwei Flaschen Whisky auf das Zimmer ... die und eine doppelte Dosis
-Veronal halfen mir ... ich schlief endlich ein ... und dieser dumpfe,
-schlammige Schlaf war die einzige Pause in diesem Rennen zwischen Leben
-und Tod.«
-
- * * * * *
-
-Die Schiffsglocke klang. Zwei harte, volle Schläge, die noch im weichen
-Teich der fast reglosen Luft zitternd weiterschwangen und dann verebbten
-in das leise, unaufhörliche Rauschen, das unter dem Kiele und zwischen
-der leidenschaftlichen Rede beharrlich mitlief. Der Mensch im Dunkeln
-mir gegenüber mußte erschreckt aufgefahren sein, seine Rede stockte.
-Wieder hörte ich die Hand hinab zur Flasche fingern, wieder das leise
-Glucksen. Dann begann er, gleichsam beruhigt, mit einer festeren Stimme.
-
-»Die Stunden von diesem Augenblick an kann ich Ihnen kaum erzählen. Ich
-glaube heute, daß ich damals Fieber hatte, jedenfalls war ich in einer
-Art Überreiztheit, die an Tollheit grenzte -- ein Amokläufer, wie ich
-Ihnen sagte. Aber vergessen Sie nicht, es war Dienstag nachts, als ich
-ankam, Samstag aber sollte -- dies hatte ich inzwischen erfahren -- ihr
-Gatte mit dem P. & O.-Dampfer von Yokohama eintreffen, es blieben also
-nur drei Tage, drei knappe Tage für den Entschluß und für die Hilfe.
-Verstehen Sie das: ich wußte, daß ich ihr sofort helfen mußte, und
-konnte doch kein Wort zu ihr sprechen. Und gerade dieses Bedürfnis, mein
-lächerliches, mein tollwütiges Benehmen zu entschuldigen, das hetzte
-mich weiter. Ich wußte um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ich wußte,
-daß es für sie um Leben und Tod ginge, und hatte doch keine Möglichkeit,
-mich nur mit einem Flüstern, mit einem Zeichen ihr zu nähern, denn
-gerade das Stürmische, das Tölpische meines Nachrennens hatte sie
-erschreckt. Es war ... ja, warten Sie ... es war, wie wenn einer einem
-nachrennt, um ihn zu warnen vor einem Mörder, und der andere hält ihn
-selbst für den Mörder, und so rennt er weiter in sein Verderben ... sie
-sah nur den Amokläufer in mir, der sie verfolgte, um sie zu demütigen,
-aber ich ... das war ja der entsetzliche Widersinn ... ich dachte gar
-nicht mehr an das ... ich war ja schon ganz vernichtet, ich wollte ihr
-nur helfen, ihr nur dienen ... einen Mord hätte ich getan, ein
-Verbrechen, um ihr zu helfen ... Aber sie, sie verstand es nicht. Als
-ich morgens aufwachte und gleich wieder hinlief zu ihrem Haus, stand der
-Boy vor der Tür, derselbe Boy, den ich ins Gesicht geschlagen, und wie
-er mich von ferne sah -- er mußte auf mich gewartet haben --, huschte er
-hinein in die Tür. Vielleicht tat er es nur, um mich im geheimen
-anzumelden ... vielleicht ... ah, diese Ungewißheit, wie peinigt sie
-mich jetzt ... vielleicht war schon alles bereit, mich zu empfangen ...
-aber da, wie ich ihn sah, mich erinnerte an meine Schmach, da war ich es
-wieder, der nicht wagte, noch einmal den Besuch zu wiederholen ... Die
-Knie zitterten mir. Knapp vor der Schwelle drehte ich mich um und ging
-wieder fort ... ging fort, während sie vielleicht in ähnlicher Qual auf
-mich wartete.
-
-Ich wußte jetzt nicht mehr, was tun in der fremden Stadt, die an meinen
-Fersen wie Feuer glühte ... Plötzlich fiel mir etwas ein, schon rief ich
-einen Wagen und fuhr zum Vizeresidenten, zu demselben, dem ich damals in
-meiner Station geholfen, und ließ mich melden ... Irgend etwas muß schon
-in meinem äußern Wesen befremdend gewesen sein, denn er sah mich mit
-einem gleichsam erschreckten Blick an, und seine Höflichkeit hatte etwas
-Beunruhigtes ... vielleicht erkannte er schon den Amokläufer in mir ...
-Ich sagte ihm kurz entschlossen, ich erbäte meine Versetzung in die
-Stadt, ich könne auf meinem Posten nicht mehr länger existieren ... ich
-müsse sofort übersiedeln ... Er sah mich ... ich kann Ihnen nicht sagen,
-wie er mich ansah ... so wie eben ein Arzt einen Kranken ansieht ...
-»Ein Nervenzusammenbruch, lieber Doktor,« sagte er dann, »ich verstehe
-das nur zu gut. Nun, es wird sich schon richten lassen; aber warten Sie
-... sagen wir vier Wochen ... ich muß erst einen Ersatz finden.« »Ich
-kann nicht warten, nicht einen Tag,« antwortete ich. Wieder kam dieser
-merkwürdige Blick. »Es muß gehen, Doktor,« sagte er ernst, »wir dürfen
-die Station nicht ohne Arzt lassen. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich
-noch heute alles einleite.« Ich blieb stehen, mit verbissenen Zähnen:
-zum erstenmal spürte ich deutlich, daß ich ein verkaufter Mensch, ein
-Sklave sei. Schon ballte sich alles zu einem Trotz zusammen, aber er,
-der Geschmeidige, kam mir zuvor: »Sie sind menschenentwöhnt, Doktor, und
-das wird schließlich eine Krankheit. Wir haben uns alle gewundert, daß
-Sie nie herkamen, nie Urlaub nahmen. Sie brauchen mehr Geselligkeit,
-mehr Anregung. Kommen Sie doch wenigstens diesen Abend, wir haben heute
-Empfang bei der Regierung, Sie finden die ganze Kolonie, und manche
-mochten Sie längst kennen lernen, haben oft nach Ihnen gefragt und Sie
-hierhergewünscht.«
-
-Das letzte Wort riß mich auf. Nach mir gefragt? Sollte sie es gewesen
-sein? Ich war plötzlich ein anderer: sofort dankte ich ihm höflichst für
-seine Einladung und sicherte mein Kommen pünktlich zu. Und ich war auch
-pünktlich, viel zu pünktlich. Muß ich Ihnen erst sagen, daß ich, von
-meiner Ungeduld gejagt, der erste in dem großen Saale des
-Regierungsgebäudes war, schweigend umgeben von den gelben Dienern, die
-mit ihren nackten Sohlen wippend hin und her eilten und mich -- wie mir
-in meinem verwirrten Bewußtsein dünkte -- hinterrücks belächelten. Eine
-Viertelstunde war ich der einzige Europäer inmitten all der
-geräuschlosen Vorbereitungen und so allein mit mir, daß ich das Ticken
-der Uhr in meiner Westentasche hörte. Dann kamen endlich ein paar
-Regierungsbeamte mit ihren Familien, schließlich auch der Gouverneur,
-der mich in ein längeres Gespräch zog, in dem ich beflissen und, wie ich
-glaube, geschickt antwortete, bis ... bis ich plötzlich, von einer
-geheimnisvollen Nervosität befallen, alle Geschmeidigkeit verlor und zu
-stammeln begann. Obzwar mit dem Rücken gegen die Saaltür gelehnt, spürte
-ich mit einem Male, daß sie eingetreten, daß sie anwesend sein müßte:
-ich könnte Ihnen nicht sagen, wieso mich diese plötzliche Gewißheit
-verwirrend faßte, aber noch während ich mit dem Gouverneur sprach, den
-Klang seiner Worte im Ohr, spürte ich im Rücken irgendwo ihre Gegenwart.
-Glücklicherweise endete der Gouverneur bald das Gespräch -- ich glaube,
-ich hätte mich sonst plötzlich brüsk umgewandt, so stark war dieses
-geheimnisvolle Ziehen in meinen Nerven, so brennend gereizt meine
-Begier. Und wirklich, kaum daß ich mich umwandte, sah ich sie schon ganz
-genau an jener Stelle, wo sie unbewußt mein Gefühl geahnt. Sie stand in
-einem gelben Ballkleid, das ihre schmalen, reinen Schultern wie mattes
-Elfenbein vorleuchten ließ, plaudernd inmitten einer Gruppe. Sie
-lächelte, aber doch, mir war, als hätte ihr Gesicht einen gespannten
-Zug. Ich trat näher -- sie konnte mich nicht sehen oder wollte mich
-nicht sehen -- und blickte in dieses Lächeln, das gefällig und höflich
-um die schmalen Lippen zitterte. Und dieses Lächeln berauschte mich von
-neuem, weil es ... nun weil ich wußte, daß es Lüge war, Kunst oder
-Technik, Meisterschaft der Verstellung. Mittwoch ist heute, fuhr mir
-durch den Kopf, Samstag kommt das Schiff mit dem Gatten ... wie kann sie
-so lächeln, so ... so sicher, so sorglos lächeln und den Fächer lässig
-in der Hand spielen lassen, statt ihn zu zerkrampfen in Angst? Ich ...
-ich, der Fremde ... ich zitterte seit zwei Tagen vor jener Stunde ...
-ich, der Fremde, lebte ihre Angst, ihr Entsetzen mit allen Exzessen des
-Gefühls mit ... und sie ging auf den Ball und lächelte, lächelte,
-lächelte ...
-
-Rückwärts setzte die Musik ein. Der Tanz begann. Ein älterer Offizier
-hatte sie aufgefordert, sie ließ mit einer Entschuldigung den
-plaudernden Kreis und schritt an seinem Arm gegen den andern Saal zu, an
-mir vorbei. Wie sie mich erblickte, spannte sich plötzlich ihr Gesicht
-gewaltsam zusammen -- aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie mir
-mit einem höflichen Erkennen (ehe ich mich noch zu grüßen oder
-nichtgrüßen entschlossen hatte) wie einem zufälligen Bekannten zu:
-»Guten Abend, Doktor« und war schon vorbei. Niemand hätte ahnen können,
-was in diesem graugrünen Blick verborgen war, und ich, ich selbst wußte
-es nicht. Warum grüßte sie ... warum erkannte sie mich nun mit einmal
-an? ... War das Abwehr, war es Annäherung, war es nur die Verlegenheit
-der Überraschung? Ich kann Ihnen nicht schildern, in welcher Erregtheit
-ich zurückblieb, alles war aufgewühlt, war explosiv in mir
-zusammengepreßt, und wie ich sie so sah, lässig walzend am Arme des
-Offiziers, auf der Stirne den kühlen Glanz der Sorglosigkeit, indes ich
-doch wußte, daß sie ... daß sie so wie ich nur _daran_ ... daran dachte
-... daß wir zwei hier allein ein furchtbares Geheimnis gemeinsam hatten
-... und sie walzte ... in diesen Sekunden wurde meine Angst, meine Gier
-und meine Bewunderung noch mehr Leidenschaft als jemals. Ich weiß nicht,
-ob mich jemand beobachtet hat, aber gewiß verriet ich mich in meinem
-Verhalten noch viel mehr, als sie sich verbarg -- ich konnte eben nicht
-in eine andere Richtung schauen, ich mußte ... ja, ich mußte sie
-ansehen, ich sog, ja ich zerrte von ferne an ihrem verschlossenen
-Gesicht, ob die Maske nicht für eine Sekunde fallen wollte. Und sie
-mußte diesen starren Blick unangenehm empfunden haben. Als sie am Arme
-ihres Tänzers zurückschritt, sah sie mich im Blitzlicht einer Sekunde
-an, scharf befehlend, wie wegweisend: wieder spannte sich jene kleine
-Falte des hochmütigen Zornes, die ich schon von damals kannte, böse über
-ihrer Stirn.
-
-Aber ... aber ... ich sagte es Ihnen ja ... ich lief Amok, ich sah nicht
-nach rechts und nicht nach links. Ich verstand sie sofort -- dieser
-Blick hieß: sei nicht auffällig! bezähme dich! -- ich wußte, daß sie ...
-wie soll ich es sagen? ... daß sie Diskretion des Benehmens hier im
-offenen Saal von mir wollte ... ich verstand, daß, wenn ich jetzt
-heimginge, ich morgen gewiß sein könne, von ihr empfangen zu werden ...
-daß sie es nur jetzt, nur jetzt vermeiden wollte, meiner auffälligen
-Vertraulichkeit ausgesetzt zu sein, daß sie -- und wie sehr mit Recht --
-von meinem Ungeschick eine Szene fürchtete ... Sie sehen ... ich wußte
-alles, ich verstand diesen befehlenden grauen Blick, aber ... aber es
-war zu stark in mir, ich mußte sie sprechen. Und so schwankte ich hin zu
-der Gruppe, in der sie plaudernd stand, schob mich -- obwohl ich nur
-einige der Anwesenden kannte -- ganz an den lockeren Kreis heran nur aus
-Begier, sie sprechen zu hören, und doch immer scheu mich duckend wie ein
-geprügelter Hund vor ihrem Blick, wenn er kalt an mir vorbeistreifte,
-als sei ich eine der Leinenportieren, an der ich lehnte, oder die Luft,
-die sie leicht bewegte. Aber ich stand, durstig nach einem Wort, das sie
-zu mir sprechen sollte, nach einem Zeichen des Einverständnisses, stand
-und stand starren Blickes inmitten des Geplauders wie ein Block.
-Unbedingt mußte es schon auffällig geworden sein, unbedingt, denn keiner
-richtete ein Wort an mich, und sie mußte leiden unter meiner
-lächerlichen Gegenwart.
-
-Wie lange ich so gestanden hätte, ich weiß es nicht ... eine Ewigkeit
-vielleicht ... ich _konnte_ ja nicht fort aus dieser Bezauberung des
-Willens. Gerade die Hartnäckigkeit meiner Wut lähmte mich ... Aber sie
-ertrug es nicht länger ... plötzlich wandte sie sich mit der
-prachtvollen Leichtigkeit ihres Wesens gegen die Herren und sagte: »Ich
-bin ein wenig müde ... ich will heute einmal früher zu Bett gehen ...
-Gute Nacht!« ... und schon streifte sie mit einem gesellschaftlich
-fremden Kopfnicken an mir vorbei ... ich sah noch die hochgezogene Falte
-auf der Stirn und dann nur mehr den Rücken, den weißen, kühlen, nackten
-Rücken. Eine Sekunde lang dauerte es, bevor ich begriff, daß sie
-fortging ... daß ich sie nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen könnte
-diesen Abend, diesen letzten Abend der Rettung ... einen Augenblick lang
-also stand ich noch starr, bis ichs begriff ... dann ... dann ...
-
-Aber warten Sie ... warten Sie ... Sie werden sonst das Sinnlose, das
-Stupide meiner Tat nicht verstehen ... ich muß Ihnen erst den ganzen
-Raum schildern ... Es war der große Saal des Regierungsgebäudes, ganz
-von Lichtern erhellt und fast leer, der ungeheure Saal ... die Paare
-waren zum Tanz gegangen, die Herren zum Spiel ... nur an den Ecken
-plauderten einige Gruppen ... der Saal war also leer, jede Bewegung
-auffällig und im grellen Licht sichtbar ... und diesen großen weiten
-Saal schritt sie langsam und leicht mit ihren hohen Schultern durch, ab
-und zu einen Gruß mit ihrer unbeschreiblichen Haltung erwidernd ... mit
-dieser herrlichen erfrorenen hoheitlichen Ruhe, die mich an ihr so
-entzückte ... Ich ... ich war zurückgeblieben, ich sagte es Ihnen ja,
-ich war gleichsam gelähmt, bevor ich es begriff, daß sie fortging ...
-und da, als ich es begriff, war sie schon am andern Ende des Saales
-knapp vor der Türe ... Da ... oh, ich schäme mich jetzt noch, es zu
-denken ... da packte es mich plötzlich an und ich _lief_, -- hören Sie:
-ich lief ... ich ging nicht, ich _lief_ mit polternden Schuhen, die laut
-widerhallten, quer durch den Saal ihr nach ... Ich hörte meine Schritte,
-ich sah alle Blicke erstaunt auf mich gerichtet ... ich hätte vergehen
-können vor Scham ... noch während ich lief, war mir schon der Wahnsinn
-bewußt ... aber ich konnte ... ich konnte nicht mehr zurück ... Bei der
-Tür holte ich sie ein ... Sie wandte sich um ... ihre Augen stießen wie
-ein grauer Stahl in mich hinein, ihre Nasenflügel zitterten vor Zorn ...
-ich wollte eben zu stammeln anfangen ... da ... da ... _lachte_ sie
-plötzlich hellauf ... ein helles, unbesorgtes, herzliches Lachen, und
-sagte laut ... so laut, daß es alle hören konnten ... »Ach, Doktor,
-jetzt fällt Ihnen erst das Rezept für meinen Buben ein ... ja, die
-Herren der Wissenschaft ...« Ein paar, die in der Nähe standen, lachten
-gutmütig mit ... ich begriff, ich taumelte unter der Meisterschaft, mit
-der sie die Situation gerettet hatte ... griff in die Brieftasche und
-riß ein leeres Blatt vom Block, das sie lässig nahm, ehe sie ... noch
-einmal mit einem kalten, dankenden Lächeln ... ging ... Mir war leicht
-in der ersten Sekunde ... ich sah, daß mein Irrsinn durch ihre
-Meisterschaft gutgemacht, die Situation gewonnen ... aber ich wußte auch
-sofort, daß alles für mich verloren sei, daß diese Frau mich um meiner
-hitzigen Narrheit haßte ... haßte mehr als den Tod ... daß ich nun
-hundertmal und hundertmal vor ihre Tür kommen könnte und sie mich
-wegweisen würde wie einen Hund.
-
-Ich taumelte durch den Saal ... ich merkte, daß die Leute auf mich
-blickten ... ich muß irgendwie sonderbar ausgesehen haben ... Ich ging
-zum Büfett, trank zwei, drei, vier Gläser Kognak hintereinander ... das
-rettete mich vor dem Umsinken ... meine Nerven konnten schon nicht mehr,
-sie waren wie durchgerissen ... Dann schlich ich bei einer Nebentür
-hinaus, heimlich wie ein Verbrecher ... Um kein Fürstentum der Welt
-hätte ich jenen Saal nochmals durchschreiten können, wo ihr Lachen noch
-gell an allen Wänden klebte ... ich ging ... genau weiß ichs nicht mehr
-zu sagen, wohin ich ging ... in ein paar Kneipen und soff mich an ...
-soff mich an wie einer, der sich alles Wache wegsaufen will ... aber ...
-es ward mir nicht dumpf in den Sinnen ... das Lachen stak in mir,
-schrill und böse ... das Lachen, dieses verfluchte Lachen konnte ich
-nicht betäuben ... Ich irrte dann noch am Hafen herum ... meinen
-Revolver hatte ich zu Hause gelassen, sonst hätte ich mich erschossen.
-Ich dachte an nichts anderes, und mit diesem Gedanken ging ich auch heim
-... nur mit diesem Gedanken an das Schubfach links im Kasten, wo mein
-Revolver lag ... nur mit diesem einen Gedanken.
-
-Daß ich mich dann nicht erschoß ... ich schwöre Ihnen, das war nicht
-Feigheit ... es wäre für mich eine Erlösung gewesen, den schon
-gespannten kalten Hahn abzudrücken ... aber wie soll ich es Ihnen
-erklären ... ich fühlte noch eine Pflicht in mir ... ja, jene Pflicht zu
-helfen, jene verfluchte Pflicht ... mich machte der Gedanke wahnsinnig,
-daß sie mich noch brauchen könnte, daß sie mich brauchte ... es war ja
-schon Donnerstag morgens, als ich heimkam, und Samstag ... ich sagte es
-Ihnen ja ... Samstag kam das Schiff, und daß _diese_ Frau, diese
-hochmütige, stolze Frau die Schande vor ihrem Gatten, vor der Welt nicht
-überleben würde, das wußte ich ... Ah, wie mich solche Gedanken
-gemartert haben an die sinnlos vertane kostbare Zeit, an meine
-irrwitzige Übereilung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte ...
-stundenlang, ja stundenlang, ich schwöre es Ihnen, bin ich im Zimmer
-niedergegangen, auf und ab, und habe mir das Hirn zermartert, wie ich
-mich ihr nähern, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfen könnte ...
-denn daß sie mich nicht mehr vorlassen würde in ihrem Haus, das war mir
-gewiß ... ich hatte das Lachen noch in allen Nerven und das Zucken des
-Zornes um ihre Nasenflügel ... stundenlang, wirklich stundenlang bin ich
-so die drei Meter des schmalen Zimmers auf und ab gerannt ... es war
-schon Tag, es war schon Vormittag ...
-
-Und plötzlich schmiß es mich hin zu dem Tisch ... ich riß ein Bündel
-Briefblätter heraus und begann ihr zu schreiben ... alles zu schreiben
-... einen hündisch winselnden Brief, in dem ich sie um Vergebung bat, in
-dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbrecher nannte ... in dem ich
-sie beschwor, sich mir anzuvertrauen ... Ich schwor in der nächsten
-Stunde zu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie, wenn sie wollte:
-aus der Welt ... nur verzeihen sollte sie mir und mir vertrauen, sich
-helfen lassen in der letzten, der allerletzten Stunde ... Zwanzig Seiten
-fieberte ich so hinunter ... es muß ein toller, ein unbeschreiblicher
-Brief wie aus einem Delirium gewesen sein, denn als ich aufstand vom
-Tisch, war ich in Schweiß gebadet ... das Zimmer schwankte, ich mußte
-ein Glas Wasser trinken ... Dann erst versuchte ich den Brief noch
-einmal zu überlesen, aber mir graute nach den ersten Worten ... zitternd
-faltete ich ihn zusammen, faßte schon ein Kuvert ... Da plötzlich fuhrs
-mich durch. Mit einem Male wußte ich das wahre, das entscheidende Wort.
-Und ich riß noch einmal die Feder zwischen die Finger und schrieb auf
-das letzte Blatt: »Ich warte hier im Strandhotel auf ein Wort der
-Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keine Antwort habe, erschieße ich
-mich.«
-
-Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy und hieß ihn das Schreiben
-sofort überbringen. Endlich war alles gesagt -- alles!«
-
- * * * * *
-
-Etwas klirrte und kollerte neben uns. Mit einer heftigen Bewegung hatte
-er die Whiskyflasche umgestoßen: ich hörte, wie seine Hand ihr suchend
-am Boden nachtastete und sie dann mit einem plötzlichen Schwung faßte:
-in weitem Bogen warf er die geleerte Flasche über Bord. Einige Minuten
-schwieg die Stimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregter und
-hastiger als zuvor.
-
-»Ich bin kein gläubiger Christ mehr ... für mich gibt es keinen Himmel
-und keine Hölle ... und wenn es eine gibt, so fürchte ich sie nicht,
-denn sie kann nicht ärger sein als jene Stunden, die ich von vormittag
-bis abends erlebte ... Denken Sie sich ein kleines Zimmer, heiß in der
-Sonne, immer glühender im Mittagsbrand ... ein kleines Zimmer, nur Tisch
-und Stuhl und Bett ... Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhr und
-einen Revolver und vor dem Tisch einen Menschen ... einen Menschen, der
-nichts tut als immer auf diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr
-starren ... einen Menschen, der nicht ißt und nicht trinkt und nicht
-raucht und sich nicht regt ... der immer nur ... hören Sie: immer nur,
-drei Stunden lang ... auf den weißen Kreis des Zifferblattes starrt und
-auf den kleinen Zeiger, der tickend den Kreis umläuft ... So ... so ...
-habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet, gewartet, gewartet ... aber
-gewartet wie ... wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch,
-mit dieser rasenden, geradlinigen Beharrlichkeit.
-
-Nun ... ich werde Ihnen diese Stunden nicht schildern ... das läßt sich
-nicht schildern ... ich verstehe ja selbst nicht mehr, wie man das
-erleben kann ohne ... ohne wahnsinnig zu werden ... Also ... um drei Uhr
-zweiundzwanzig Minuten ... ich weiß es genau, ich starrte ja auf die Uhr
-... klopft es plötzlich an die Tür ... Ich springe auf ... springe, wie
-ein Tiger auf seine Beute springt, mit einem Ruck durch das ganze Zimmer
-zur Tür, reiße sie auf ... ein ängstlicher kleiner Chinesenjunge steht
-draußen, einen zusammengefalteten Zettel in der Hand, und während ich
-gierig darnach greife, huscht er schon weg und ist verschwunden.
-
-Ich reiße den Zettel auf, will ihn lesen ... und kann ihn nicht lesen
-... Mir schwankt es rot vor den Augen ... denken Sie die Qual, ich habe
-endlich, habe endlich das Wort von ihr ... und nun zittert und tanzt es
-mir vor den Pupillen ... Ich tauche den Kopf ins Wasser ... nun wirds
-mir klarer ... Nochmals nehme ich den Zettel und lese:
-
-»Zu spät! Aber warten Sie zu Hause. Vielleicht rufe ich Sie noch.«
-
-Keine Unterschrift auf dem zerknüllten Papier, das von irgendeinem alten
-Prospekt abgefetzt war ... hastige, verworrene Bleistiftzüge einer sonst
-sicheren Schrift ... ich weiß nicht, warum mich das Blatt so
-erschütterte ... Irgend etwas von Grauen, von Geheimnis haftete ihm an,
-es war wie auf einer Flucht geschrieben, stehend an einer Fensternische
-oder in einem fahrenden Wagen ... Etwas Unbeschreibliches von Angst, von
-Hast, von Entsetzen schlug kalt von diesem heimlichen Zettel mir in die
-Seele ... und doch ... und doch, ich war glücklich: sie hatte mir
-geschrieben, ich mußte noch nicht sterben, ich durfte ihr helfen ...
-vielleicht ... ich durfte ... oh, ich verlor mich ganz in den
-wahnwitzigsten Konjekturen und Hoffnungen ... Hundertemal, tausendemal
-habe ich den kleinen Zettel gelesen, ihn geküßt ... ihn durchforscht
-nach irgendeinem vergessenen, übersehenen Wort ... immer tiefer, immer
-verworrener wurde meine Träumerei, ein phantastischer Zustand von Schlaf
-mit offenen Augen ... eine Art Lähmung, irgend etwas ganz Dumpfes und
-doch Bewegtes zwischen Schlaf und Wachsein, das vielleicht
-Viertelstunden dauerte, vielleicht Stunden ...
-
-Plötzlich schreckte ich auf ... Hatte es nicht geklopft? ... Ich hielt
-den Atem an ... eine Minute, zwei Minuten reglose Stille ... Und dann
-wieder ganz leise, so wie eine Maus knabbert, ein leises aber heftiges
-Pochen ... Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riß die Tür auf --
-draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe, dem ich den Mund damals mit
-der Faust zerschlagen ... sein braunes Gesicht war aschfahl, sein
-verwirrter Blick sagte Unglück ... Sofort spürte ich Grauen ... »Was ...
-was ist geschehen?« konnte ich noch stammeln. »_Come quickly_«, sagte er
-... sonst nichts ... sofort raste ich die Treppe herunter, er mir nach
-... Ein Sado, so ein kleiner Wagen, stand bereit, wir stiegen ein ...
-»Was ist geschehen?« fragte ich ihn ... Er sah mich zitternd an und
-schwieg mit verbissenen Lippen ... Ich fragte nochmals -- er schwieg und
-schwieg ... Ich hätte ihm am liebsten wieder ins Gesicht geschlagen mit
-der Faust, aber ... gerade seine hündische Treue zu ihr rührte mich ...
-so fragte ich nicht mehr ... Das Wägelchen trabte so hastig durch das
-Gewirr, daß die Menschen fluchend auseinanderstoben, lief aus dem
-Europäerviertel am Strand in die niedere Stadt und weiter, weiter ins
-schreiende Gewirr der Chinesenstadt ... Endlich kamen wir in eine enge
-Gasse, ganz abseits lag sie ... vor einem niedern Hause hielt er an ...
-Es war schmutzig und wie in sich zusammengekrochen, vorne ein kleiner
-Laden mit einem Talglicht ... irgendeine dieser Buden, in die sich die
-Opiumhäuser oder Bordelle verstecken, ein Diebsnest oder ein
-Hehlerkeller ... Hastig klopfte der Boy an ... Hinter dem Türspalt
-zischelte eine Stimme, fragte und fragte ... Ich konnte es nicht mehr
-ertragen, sprang vom Sitz, stieß die angelehnte Tür auf ... ein altes
-chinesisches Weib flüchtete mit einem kleinen Schrei zurück ... hinter
-mir kam der Boy, führte mich durch den Gang ... klinkte eine andere Tür
-auf ... eine andere Türe in einen dunklen Raum, der übel roch von
-Branntwein und gestocktem Blut ... Irgend etwas stöhnte darin ... ich
-tappte hin ...«
-
- * * * * *
-
-Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach, war mehr ein
-Schluchzen als ein Sprechen.
-
-»Ich ... ich tappte hin ... und dort ... dort lag auf einer schmutzigen
-Matte ... verkrümmt vor Schmerz ... ein stöhnendes Stück Mensch ... dort
-lag sie ...
-
-Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel ... Meine Augen waren noch
-nicht gewöhnt ... so tastete ich nur hin ... ihre Hand ... heiß ...
-brennend heiß ... Fieber, hohes Fieber ... und ich schauerte ... ich
-wußte sofort alles ... sie war hierher geflüchtet vor mir ... hatte sich
-verstümmeln lassen von irgendeiner schmutzigen Chinesin, nur weil sie
-hier mehr Schweigsamkeit erhoffte ... hatte sich morden lassen von
-irgendeiner teuflischen Hexe, lieber als mir zu vertrauen ... nur weil
-ich Wahnsinniger ... weil ich ihren Stolz nicht geschont, ihr nicht
-gleich geholfen hatte ... weil sie den Tod weniger fürchtete als mich
-...
-
-Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte
-mit zitternden Händen eine rußende Petroleumlampe ... ich mußte mich
-halten, um der gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen ... sie
-stellten die Lampe auf den Tisch ... der Lichtschein fiel gelb und hell
-über den gemarterten Leib ... Und plötzlich ... plötzlich war alles weg
-von mir, alle Dumpfheit, aller Zorn, all diese unreine Jauche von
-aufgehäufter Leidenschaft ... ich war nur mehr Arzt, helfender,
-spürender, wissender Mensch ... ich hatte mich vergessen ... ich kämpfte
-mit wachen, klaren Sinnen gegen das Entsetzliche ... Ich fühlte den
-nackten Leib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur mehr als ... wie
-soll ich es sagen ... als Materie, als Organismus ... ich spürte nicht
-mehr sie, sondern nur das Leben, das sich gegen den Tod wehrte, den
-Menschen, der sich krümmte in mörderischer Qual ... Ihr Blut, ihr
-heißes, heiliges Blut überströmte meine Hände, aber ich spürte es nicht
-in Lust und nicht in Grauen ... ich war nur Arzt ... ich sah nur das
-Leiden ... und sah ...
-
-Und sah sofort, daß alles verloren war, wenn nicht ein Wunder geschehe
-... sie war verletzt und halb verblutet unter der verbrecherisch
-ungeschickten Hand ... und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in
-dieser stinkenden Höhle, nicht einmal reines Wasser ... alles, was ich
-anrührte, starrte von Schmutz ...
-
-»Wir müssen sofort ins Spital,« sagte ich. Aber kaum daß ichs gesagt,
-bäumte sich krampfig der gemarterte Leib auf. »Nein ... nein ... lieber
-sterben ... niemand es erfahren ... niemand es erfahren ... nach Hause
-... nach Hause ...«
-
-Ich verstand ... nur mehr um das Geheimnis, um ihre Ehre rang sie ...
-nicht um ihr Leben ... Und -- ich gehorchte ... Der Boy brachte eine
-Sänfte ... wir betteten sie hinein ... und so ... wie eine Leiche schon,
-matt und fiebernd ... trugen wir sie durch die Nacht ... nach Hause ...
-die fragende, erschreckte Dienerschaft abwehrend ... wie Diebe trugen
-wir sie hinein in ihr Zimmer und sperrten die Türen ... Und dann ...
-dann begann der Kampf, der lange Kampf gegen den Tod ...«
-
- * * * * *
-
-Plötzlich krampfte sich eine Hand in meinen Arm, daß ich fast aufschrie
-vor Schreck und Schmerz. Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einemmal
-fratzenhaft nah, ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten in
-plötzlichem Ausbruch, sah die Augengläser im fahlen Reflex des
-Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugen glimmen. Und jetzt sprach er
-nicht mehr -- er schrie, geschüttelt von einem heulenden Zorn:
-
-»Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hier lässig auf einem
-Deckstuhl sitzen, ein Spazierenfahrer durch die Welt, wissen Sie, wie
-das ist, wenn ein Mensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabeigewesen,
-haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aufkrümmt, die blauen Nägel ins
-Leere krallen, wie die Kehle röchelt, jedes Glied sich wehrt, jeder
-Finger sich stemmt gegen das Entsetzliche, und wie das Auge aufspringt
-in einem Grauen, für das es keine Worte gibt? Haben Sie das schon einmal
-erlebt, Sie Müßiggänger, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen reden
-als von einer Pflicht? Ich habe es oft gesehen als Arzt, habe es gesehen
-als ... als klinischen Fall, als Tatsache ... habe es sozusagen studiert
--- aber _erlebt_ habe ichs nur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich
-nur damals in jener Nacht ... in jener entsetzlichen Nacht, wo ich saß
-und mir das Hirn zerpreßte, um etwas zu wissen, etwas zu finden, zu
-erfinden gegen das Blut, das rann und rann und rann, gegen das Fieber,
-das sie vor meinen Augen verbrannte ... gegen den Tod, der immer näher
-kam und den ich nicht wegdrängen konnte vom Bett. Verstehen Sie, was das
-heißt, Arzt zu sein, alles wissen gegen alle Krankheiten -- die Pflicht
-haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen -- und doch ohnmächtig bei
-einer Sterbenden zu sitzen, wissend und doch ohne Macht ... nur dies
-eine, dies Entsetzliche wissend, daß man nicht helfen kann, ob man sich
-auch jede Ader in seinem Körper aufreißen möchte ... einen geliebten
-Körper zu sehen, wie er elend verblutet, gemartert von Schmerzen, einen
-Puls zu fühlen, der fliegt und zugleich verlischt ... der einem
-wegfließt unter den Fingern ... Arzt zu sein und nichts zu wissen,
-nichts, nichts, nichts ... nur dazusitzen und irgendein Gebet stammeln
-wie ein Hutzelweib in der Kirche, und dann wieder die Fäuste ballen
-gegen einen erbärmlichen Gott, von dem man weiß, daß es ihn nicht gibt
-... Verstehen Sie das? Verstehen Sie das? ... Ich ... ich verstehe nur
-eines nicht, wie ... wie man es macht, daß man nicht mitstirbt in
-solchen Sekunden ... daß man dann noch am nächsten Morgen von einem
-Schlaf aufsteht und sich die Zähne putzt und eine Kravatte umbindet ...
-daß man noch leben kann, wenn man das miterlebte, was ich fühlte, wie
-dieser Atem, dieser erste Mensch, um den ich rang und kämpfte, den ich
-halten wollte mit allen Kräften meiner Seele ... wie der wegglitt unter
-mir ... irgendwohin, immer rascher wegglitt, Minute um Minute und ich
-nichts wußte in meinem fiebernden Gehirn, um diesen, diesen einen
-Menschen festzuhalten ...
-
-Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdoppeln, dazu noch dies ...
-Während ich an ihrem Bett saß -- ich hatte ihr Morphium eingegeben, um
-die Schmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen Wangen, heiß
-und fahl -- ja ... während ich so saß, spürte ich vom Rücken her immer
-zwei Augen auf mich gerichtet mit einem fürchterlichen Ausdruck der
-Spannung ... Der Boy saß dort auf den Boden gekauert und murmelte leise
-irgendwelche Gebete ... Wenn mein Blick den seinen traf, so ... nein,
-ich kann es nicht schildern ... so kam etwas so Flehendes, so ... so
-Dankbares in seinen hündischen Blick, und gleichzeitig hob er die Hände
-zu mir, als wollte er mich beschwören, sie zu retten ... verstehen Sie:
-zu mir, zu mir hob er die Hände wie zu einem Gott ... zu mir ... dem
-ohnmächtigen Schwächling, der wußte, daß alles verloren ... daß ich hier
-so unnötig sei wie eine Ameise, die am Boden raschelt ... Ah, dieser
-Blick, wie er mich quälte, diese fanatische, diese tierische Hoffnung
-auf meine Kunst ... ich hätte ihn anschreien können und mit dem Fuß
-treten, so weh tat er mir ... und doch, ich spürte, wie wir beide
-zusammenhingen durch unsere Liebe zu ihr ... durch das Geheimnis ... Ein
-lauerndes Tier, ein dumpfes Knäuel saß er zusammengeballt knapp hinter
-mir ... kaum daß ich etwas verlangte, sprang er auf mit seinen nackten
-lautlosen Sohlen und reichte es zitternd ... erwartungsvoll her, als sei
-das die Hilfe ... die Rettung ... Ich weiß, er hätte sich die Adern
-aufgeschnitten, um ihr zu helfen ... so war diese Frau, solche Macht
-hatte sie über Menschen ... und ich ... ich hatte nicht Macht, ein
-Quentchen Blut zu retten ... O diese Nacht, diese entsetzliche Nacht,
-diese unendliche Nacht zwischen Leben und Tod!
-
-Gegen Morgen ward sie noch einmal wach ... sie schlug die Augen auf ...
-jetzt waren sie nicht mehr hochmütig und kalt ... ein Fieber glitzerte
-feucht darin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten ... Dann
-sah sie mich an: sie schien nachzudenken, sich erinnern zu wollen an
-mein Gesicht ... und plötzlich ... ich sah es ... erinnerte sie sich ...
-denn irgendein Schreck, eine Abwehr ... etwas ... etwas Feindliches,
-Entsetztes spannte ihr Gesicht ... sie arbeitete mit den Armen, als
-wollte sie flüchten ... weg, weg, weg von mir ... ich sah, sie dachte an
-_das_ ... an die Stunde von damals ... Aber dann kam ein Besinnen ...
-sie sah mich ruhiger an, atmete schwer ... ich fühlte, sie wollte
-sprechen, etwas sagen ... Wieder begannen die Hände sich zu spannen ...
-sie wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach ... Ich beruhigte sie,
-beugte mich nieder ... da sah sie mich an mit einem langen, gequälten
-Blick ... ihre Lippen regten sich leise ... es war nur ein letzter
-erlöschender Laut, wie sie sagte ...
-
-»Wird es niemand erfahren? ... Niemand?«
-
-»Niemand,« sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, »ich verspreche es
-Ihnen.«
-
-Aber ihr Auge war noch unruhig ... Mit fiebriger Lippe ganz undeutlich
-arbeitete sie's heraus.
-
-»Schwören Sie mir ... niemand erfahren ... schwören.«
-
-Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an ... mit einem ... einem
-unbeschreiblichen Blick ... weich war er, warm, dankbar ... ja,
-wirklich, wirklich dankbar ... Sie wollte noch etwas sprechen, aber es
-ward ihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit
-geschlossenen Augen. Dann begann das Entsetzliche ... das Entsetzliche
-... eine ganze schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu
-Ende ...«
-
- * * * * *
-
-Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die
-Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge -- drei Uhr.
-Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle
-zitterte schon unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie
-eine Brise her. Eine halbe, eine Stunde mehr, und dann war es Tag, war
-dies Grauen ausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt
-deutlicher, da die Schatten nicht mehr so dicht und schwarz in unsern
-Winkel fielen -- er hatte die Kappe abgenommen, und unter dem blanken
-Schädel schien sein verquältes Gesicht noch schreckhafter. Aber schon
-wandten sich die glitzernden Brillengläser wieder mir zu, er straffte
-sich zusammen, und seine Stimme hatte einen höhnischen, scharfen Ton.
-
-»Mit ihr wars nun zu Ende -- aber nicht mit mir. Ich war allein mit der
-Leiche -- aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die
-kein Geheimnis duldete, und ich ... ich hatte das Geheimnis zu hüten ...
-Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der
-besten Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends
-zuvor auf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem
-Bett ... ein fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen
-... niemand im Haus hat gesehen, wann und woher er kam ... man hat sie
-nachts auf einer Sänfte hereingetragen und dann die Türen geschlossen
-... und morgens ist sie tot ... dann erst hat man die Diener gerufen,
-und plötzlich gellt das Haus von Geschrei ... im Nu wissen es die
-Nachbarn, die ganze Stadt ... und nur einer ist da, der das alles
-erklären soll ... ich, der fremde Mensch, der Arzt aus einer entlegenen
-Station ... Eine erfreuliche Situation, nicht wahr? ...
-
-Ich wußte, was mir bevorstand. Glücklicherweise war der Boy bei mir, der
-brave Bursche, der mir jeden Wink von den Augen las -- auch dieses gelbe
-dumpfe Tier verstand, daß hier noch ein Kampf ausgetragen werden müsse.
-Ich hatte ihm nur gesagt: »Die Frau will, daß niemand erfährt, was
-geschehen ist.« Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und
-doch entschlossenen Blick: »_Yes, Sir_,« mehr sagte er nicht. Aber er
-wusch die Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung -- und
-gerade seine Entschlossenheit gab mir die meine wieder.
-
-Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusammengeballte
-Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren
-hat, dann kämpft man um das Letzte wie ein Verzweifelter -- und das
-Letzte war ihr Vermächtnis, das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die
-Leute, erzählte ihnen allen die gleiche erdichtete Geschichte, wie der
-Boy, den sie um den Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf.
-Aber während ich scheinbar ruhig redete, wartete ... wartete ich immer
-auf das Entscheidende ... auf den Totenbeschauer, der erst kommen mußte,
-ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr
-... Es war, vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte
-...
-
-Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte
-ihn rufen lassen -- er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig
-mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich
-gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits
-erfahren hatte. Bei seinem ersten Blick spürte ichs schon: er war mir
-Feind. Aber gerade das straffte meine Kraft.
-
-Im Vorzimmer fragte er schon: »Wann ist Frau ... -- er nannte ihren
-Namen -- gestorben?«
-
-»Um sechs Uhr morgens.«
-
-»Wann sandte sie zu Ihnen?«
-
-»Um elf Uhr abends.«
-
-»Wußten Sie, daß ich ihr Arzt war?«
-
-»Ja, aber es tat Eile not ... und dann ... die Verstorbene hatte
-ausdrücklich mich verlangt. Sie hatte verboten, einen andern Arzt rufen
-zu lassen.«
-
-Er starrte mich an: in seinem bleichen, etwas verfetteten Gesicht flog
-eine Röte hoch, ich spürte, daß er erbittert war. Aber gerade das
-brauchte ich -- alle meine Energien drängten sich zu rascher
-Entscheidung, denn ich spürte, lange hielten es meine Nerven nicht mehr
-aus. Er wollte etwas Feindliches erwidern, dann sagte er lässig: »Wenn
-Sie schon meinen, mich entbehren zu können, so ist es doch meine
-amtliche Pflicht, den Tod zu konstatieren und ... wie er eingetreten
-ist.«
-
-Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Dann trat ich zurück,
-schloß die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch. Überrascht zog er
-die Augenbrauen hoch:
-
-»Was bedeutet das?«
-
-Ich stellte mich ruhig ihm gegenüber:
-
-»Es handelt sich hier nicht darum, die Todesursache festzustellen,
-sondern -- eine andere zu finden. Diese Frau hat mich gerufen, um sie
-nach ... nach den Folgen eines verunglückten Eingriffes zu behandeln ...
-ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihr versprochen, ihre
-Ehre zu retten, und das werde ich tun. Und ich bitte Sie darum, mir zu
-helfen!«
-
-Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstaunen. »Sie wollen doch
-nicht etwa sagen,« stammelte er dann, »daß ich, der Amtsarzt, hier ein
-Verbrechen decken soll?«
-
-»Ja, das will ich, das muß ich wollen.«
-
-»Für Ihr Verbrechen soll ich ...«
-
-»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich diese Frau nicht berührt habe, sonst ...
-sonst stünde ich nicht vor Ihnen, sonst hätte ich längst mit mir Schluß
-gemacht. Sie hat ihr Vergehen -- wenn Sie es so nennen wollen -- gebüßt,
-die Welt braucht davon nichts zu wissen. Und ich werde es nicht dulden,
-daß die Ehre dieser Frau jetzt noch unnötig beschmutzt wird.«
-
-Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehr auf. »Sie werden nicht
-dulden ... so ... nun, Sie sind ja mein Vorgesetzter ... oder glauben es
-wenigstens schon zu sein ... Versuchen Sie nur, mir zu befehlen ... ich
-habe mirs gleich gedacht, da ist Schmutziges im Spiel, wenn man Sie aus
-Ihrem Winkel herruft ... eine saubere Praxis, die Sie da anfangen, ein
-sauberes Probestück ... Aber jetzt werde _ich_ untersuchen, _ich_, und
-Sie können sich darauf verlassen, daß ein Protokoll, unter dem mein Name
-steht, richtig sein wird. Ich werde keine Lüge unterschreiben.«
-
-Ich war ganz ruhig.
-
-»Ja -- das müssen Sie diesmal doch. Denn früher werden Sie das Zimmer
-nicht verlassen.«
-
-Ich griff dabei in die Tasche -- meinen Revolver hatte ich nicht bei
-mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und sah
-ihn an.
-
-»Hören Sie, ich werde Ihnen etwas sagen ... damit es nicht zum Äußersten
-kommt. Mir liegt an meinem Leben nichts ... nichts an dem eines andern
--- ich bin nun schon einmal soweit ... mir liegt einzig daran, mein
-Versprechen einzulösen, daß die Art dieses Todes geheim bleibt ... Hören
-Sie: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß, wenn Sie das Zertifikat
-unterfertigen, diese Frau sei an ... nun an einer Zufälligkeit
-gestorben, daß ich dann noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien
-verlasse ... daß ich, wenn Sie es verlangen, meinen Revolver nehme und
-mich niederschieße, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sicher sein
-kann, daß niemand ... Sie verstehen: _niemand_ -- mehr nachforschen
-kann. Das wird Ihnen wohl genügen -- das _muß_ Ihnen genügen.«
-
-Es muß etwas Drohendes, etwas Gefährliches in meiner Stimme gewesen
-sein, denn wie ich unwillkürlich nähertrat, wich er zurück mit jenem
-aufgerissenen Entsetzen, wie ... wie eben Menschen vor dem Amokläufer
-flüchten, wenn er rasend hinrennt mit geschwungenem Kris ... Und mit
-einemmal war er anders ... irgendwie geduckt und gelähmt ... seine harte
-Haltung brach ein. Er murmelte mit einem letzten ganz weichen
-Widerstand: »Es wäre das erstemal in meinem Leben, daß ich ein falsches
-Zertifikat unterzeichnete ... immerhin, es wird sich schon eine Form
-finden lassen ... man weiß ja auch, was vorkommt ... Aber ich durfte
-doch nicht so ohne weiteres ...«
-
-»Gewiß durften Sie nicht,« half ich ihm, um ihn zu bestärken -- (>Nur
-rasch! nur rasch!< tickte es mir in den Schläfen) -- »aber jetzt, da Sie
-wissen, daß Sie nur einen Lebenden kränken und einer Toten ein
-Entsetzliches täten, werden Sie doch gewiß nicht zögern.«
-
-Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Minuten war das Attest
-fertig (das dann auch in der Zeitung veröffentlicht wurde und glaubhaft
-eine Herzlähmung schilderte). Dann stand er auf, sah mich an:
-
-»Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?«
-
-»Mein Ehrenwort.«
-
-Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng, wollte sachlich
-erscheinen. »Ich besorge sofort einen Sarg,« sagte er, um seine
-Verlegenheit zu decken. Aber was war das in mir, das mich so ... so
-furchtbar ... so gequält machte -- plötzlich streckte er mir die Hand
-hin und schüttelte sie mit einer aufspringenden Herzlichkeit.
-»Überstehen Sie's gut,« sagte er -- ich wußte nicht, was er meinte. War
-ich krank? War ich ... wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tür, schloß
-auf -- aber das war meine letzte Kraft, die hinter ihm die Tür schloß.
-Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und
-kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen ... so ... so wie
-der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten
-Nerven.«
-
- * * * * *
-
-Wieder hielt er inne. Irgendwie fröstelte michs: war das erster Schauer
-des Morgenwinds, der jetzt leise sausend über das Schiff lief? Aber das
-gequälte Gesicht -- nun schon halb erhellt vom Widerschein der Frühe --
-spannte sich wieder zusammen:
-
-»Wie lang ich so auf der Matte gelegen hatte, weiß ich nicht. Da rührte
-michs an. Ich fuhr auf. Es war der Boy, der zaghaft mit seiner devoten
-Geste vor mir stand und mir unruhig in den Blick sah.
-
-»Es will jemand herein ... will sie sehen ...«
-
-»Niemand darf herein.«
-
-»Ja ... aber ...«
-
-Seine Augen waren erschreckt. Er wollte etwas sagen und wagte es doch
-nicht. Das treue Tier litt irgendwie eine Qual.
-
-»Wer ist es?«
-
-Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einem Schlag. Und dann sagte
-er -- er nannte keinen Namen ... woher ist in solch einem niedern Wesen
-mit einmal so viel Wissen, wie kommt es, daß in manchen Sekunden ein
-unbeschreibliches Zartgefühl derlei ganz dumpfe Menschen beseelt? ...
-dann sagte er ... ganz, ganz ängstlich ... »_Er_ ist es.«
-
-Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier, ganz Ungeduld
-nach diesem Unbekannten. Denn sehen Sie, wie sonderbar ... inmitten all
-dieser Qual, in diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hast hatte
-ich ganz an >ihn< vergessen ... vergessen, daß da noch ein Mann im
-Spiele war ... der Mann, den diese Frau geliebt, dem sie
-leidenschaftlich das gegeben, was sie mir verweigert ... Vor zwölf, vor
-vierundzwanzig Stunden hätte ich diesen Mann noch gehaßt, ihn noch
-zerfleischen können ... Jetzt ... ich kann, ich kann Ihnen nicht
-schildern, wie es mich jagte, ihn zu sehen ... ihn ... zu lieben, weil
-sie ihn geliebt.
-
-Mit einem Ruck war ich bei der Tür. Ein junger, ganz junger blonder
-Offizier stand dort, sehr linkisch, sehr schmal, sehr blaß. Wie ein Kind
-sah er aus, so ... so rührend jung ... und unsäglich erschütterte michs
-gleich, wie er sich mühte, Mann zu sein, Haltung zu zeigen ... seine
-Erregung zu verbergen ... Ich sah sofort, daß seine Hände zitterten, als
-er zur Mütze fuhr ... Am liebsten hätte ich ihn umarmt ... weil er ganz
-so war, wie ich mirs wünschte, daß der Mann sein sollte, der diese Frau
-besessen ... kein Verführer, kein Hochmütiger ... nein, ein halbes Kind,
-ein reines, zärtliches Wesen, dem sie sich geschenkt.
-
-Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gieriger Blick, mein
-leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine
-Schnurrbärtchen über der Lippe zuckte verräterisch ... dieser junge
-Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, um nicht herauszuschluchzen.
-
-»Verzeihen Sie,« sagte er dann endlich, »ich hätte gerne Frau ... gerne
-noch ... gesehen.«
-
-Unbewußt, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm, dem Fremden, meinen Arm
-um die Schulter, führte ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich
-erstaunt an mit einem unendlich warmen und dankbaren Blick ... irgendein
-Verstehen unserer Gemeinschaft war schon in dieser Sekunde zwischen uns
-beiden ... Wir gingen zu der Toten ... Sie lag da, weiß, in den weißen
-Linnen -- ich spürte, daß meine Nähe ihn noch bedrückte ... so trat ich
-zurück, um ihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit ...
-mit so zuckenden, ziehenden Schritten ... an seinen Schultern sah ichs,
-wie es in ihm wühlte und riß ... er ging so wie ... wie einer, der gegen
-einen ungeheuren Sturm geht ... Und plötzlich brach er vor dem Bett in
-die Knie ... genau so, wie ich hingebrochen war.
-
-Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und führte ihn zu einem Sessel. Er
-schämte sich nicht mehr, sondern schluchzte seine Qual heraus. Ich
-vermochte nichts zu sagen -- nur mit der Hand strich ich ihm unbewußt
-über sein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach meiner Hand ...
-ganz lind und doch ängstlich ... und mit einemmal fühlte ich seinen
-Blick an mir hängen ...
-
-»Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor,« stammelte er, »hat sie selbst Hand
-an sich gelegt?«
-
-»Nein,« sagte ich.
-
-»Und ist ... ich meine ... ist irgend ... irgend jemand schuld an ihrem
-Tode?«
-
-»Nein,« sagte ich wieder, obwohl mirs aufquoll in der Kehle, ihm
-entgegenzuschreien: »Ich! Ich! Ich! ... Und du! ... Wir beide! Und ihr
-Trotz, ihr unseliger Trotz!« Aber ich hielt mich zurück. Ich wiederholte
-noch einmal: »Nein ... niemand hat schuld daran ... es war ein
-Verhängnis!«
-
-»Ich kann es nicht glauben,« stöhnte er, »ich kann es nicht glauben. Sie
-war noch vorgestern auf dem Balle, sie lächelte, sie winkte mir zu. Wie
-ist das möglich, wie konnte das geschehen?«
-
-Ich erzählte eine lange Lüge. Auch ihm verriet ich ihr Geheimnis nicht.
-Wie zwei Brüder sprachen wir zusammen alle diese Tage, gleichsam
-überstrahlt von dem Gefühl, das uns verband ... und das wir einander
-nicht anvertrauten, aber wir spürten einer vom andern, daß unser ganzes
-Leben an dieser Frau hing ... Manchmal drängte sichs mir würgend an die
-Lippen, aber dann biß ich die Zähne zusammen -- nie hat er erfahren, daß
-sie ein Kind von ihm trug ... daß ich das Kind, sein Kind, hätte töten
-sollen, und daß sie es mit sich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch
-sprachen wir nur von ihr in diesen Tagen, während derer ich mich bei ihm
-verbarg ... denn -- das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen -- man
-suchte nach mir ... Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon
-geschlossen war ... er wollte den Befund nicht glauben ... die Leute
-munkelten allerlei ... und er suchte mich ... Aber ich konnte es nicht
-ertragen, ihn zu sehen, ihn, von dem ich wußte, daß sie unter ihm
-gelitten ... ich verbarg mich ... vier Tage ging ich nicht aus dem
-Hause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung ... ihr Geliebter hatte
-mir unter einem falschen Namen einen Schiffsplatz genommen, damit ich
-flüchten könne, ... wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck
-geschlichen, daß niemand mich erkennt ... Alles habe ich zurückgelassen,
-was ich besitze ... mein Haus mit der ganzen Arbeit dieser sieben Jahre,
-mein Hab und Gut, alles steht offen für jeden, der es haben will ... und
-die Herren von der Regierung haben mich wohl schon gestrichen, weil ich
-ohne Urlaub meinen Posten verließ ... Aber ich konnte nicht leben mehr
-in diesem Haus, in dieser Stadt ... in dieser Welt, wo alles mich an sie
-erinnert ... wie ein Dieb bin ich geflohen in der Nacht ... nur ihr zu
-entrinnen ... nur zu vergessen ...
-
-Aber ... wie ich an Bord kam ... nachts ... mitternachts ... mein Freund
-war mit mir ... da ... da ... zogen sie gerade am Kran etwas herauf ...
-rechteckig, schwarz ... ihren Sarg ... hören Sie: ihren Sarg ... sie hat
-mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte ... und ich mußte
-dabeistehen, mich fremd stellen, denn er, ihr Mann, war mit ... er
-begleitet ihn nach England ... vielleicht will er dort eine Autopsie
-machen lassen ... er hat sie an sich gerissen ... jetzt gehört sie
-wieder ihm ... nicht uns mehr, uns ... uns beiden ... Aber ich bin noch
-da ... ich gehe mit bis zur letzten Stunde ... er wird, er darf es nie
-erfahren ... ich werde ihr Geheimnis zu verteidigen wissen gegen jeden
-Versuch ... gegen diesen Schurken, vor dem sie in den Tod gegangen ist
-... Nichts, nichts wird er erfahren ... ihr Geheimnis gehört mir, nur
-mir allein ...
-
-Verstehen Sie jetzt ... verstehen Sie jetzt ... warum ich die Menschen
-nicht sehen kann ... ihr Gelächter nicht hören ... wenn sie flirten und
-sich paaren ... denn da drunten ... drunten im Lagerraum zwischen
-Teeballen und Paranüssen steht der Sarg verstaut ... Ich kann nicht hin,
-der Raum ist versperrt ... aber ich weiß es mit allen meinen Sinnen,
-weiß es in jeder Sekunde ... auch wenn sie hier Walzer spielen und Tango
-... es ist ja dumm, das Meer da schwemmt über Millionen Tote, auf jedem
-Fußbreit Erde, den man tritt, fault eine Leiche ... aber doch, ich kann
-es nicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, wenn sie Maskenbälle
-geben und so geil lachen ... diese Tote, ich spüre sie, und ich weiß,
-was sie von mir will ... ich weiß es, ich habe noch eine Pflicht ... ich
-bin noch nicht zu Ende ... noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet ... sie
-gibt mich noch nicht frei ...«
-
- * * * * *
-
-Vom Mittelschiff kamen schlurfende Schritte, klatschende Laute: Matrosen
-begannen das Deck zu scheuern. Er fuhr auf wie ertappt: sein zerspanntes
-Gesicht bekam einen ängstlichen Zug. Er stand auf und murmelte: »Ich
-gehe schon ... ich gehe schon.«
-
-Es war eine Qual, ihn anzuschauen: seinen verwüsteten Blick, die
-gedunsenen Augen, rot von Trinken oder Tränen. Er wich meiner
-Anteilnahme aus: ich spürte aus seinem geduckten Wesen Scham, unendliche
-Scham, sich verraten zu haben an mich, an diese Nacht. Unwillkürlich
-sagte ich:
-
-»Darf ich vielleicht nachmittags zu Ihnen in die Kabine kommen ...«
-
-Er sah mich an -- ein höhnischer, harter, zynischer Zug zerrte an seinen
-Lippen, etwas Böses stieß und verkrümmte jedes Wort.
-
-»Aha ... Ihre famose Pflicht, zu helfen ... aha ... Mit der Maxime haben
-Sie mich ja glücklich zum Schwatzen gebracht. Aber nein, mein Herr, ich
-danke. Glauben Sie ja nicht, daß mir jetzt leichter sei, seit ich mir
-die Eingeweide vor Ihnen aufgerissen habe bis zum Kot in meinen Därmen.
-Mein verpfuschtes Leben kann mir keiner mehr zusammenflicken ... ich
-habe eben umsonst der verehrlichen holländischen Regierung gedient ...
-die Pension ist futsch, ich komme als armer Hund nach Europa zurück ...
-ein Hund, der hinter einem Sarg herwinselt ... man läuft nicht lange
-ungestraft Amok, am Ende schlägts einen doch nieder, und ich hoffe, ich
-bin bald am Ende ... Nein, danke, mein Herr, für Ihren gütigen Besuch
-... ich habe schon in der Kabine meine Gefährten ... ein paar gute alte
-Flaschen Whisky, die trösten mich manchmal, und dann meinen Freund von
-damals, an den ich mich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinen
-braven Browning ... der hilft schließlich besser als alles Geschwätz ...
-Bitte, bemühen Sie sich nicht ... das einzige Menschenrecht, das einem
-bleibt, ist doch: zu krepieren wie man will ... und dabei ungeschoren zu
-bleiben von fremder Hilfe.«
-
-Er sah mich noch einmal höhnisch ... ja herausfordernd an, aber ich
-spürte: es war nur Scham, grenzenlose Scham. Dann duckte er die
-Schultern, wandte sich um, ohne zu grüßen, und ging merkwürdig schief
-und schlurfend über das schon helle Verdeck den Kabinen zu. Ich habe ihn
-nicht mehr gesehen. Vergebens suchte ich ihn nachts und die nächste
-Nacht an der gewohnten Stelle. Er blieb verschwunden, und ich hätte an
-einen Traum geglaubt oder an eine phantastische Erscheinung, wäre mir
-nicht inzwischen unter den Passagieren ein anderer aufgefallen mit einem
-Trauerflor um den Arm, ein holländischer Großkaufmann, der, wie man mir
-bestätigte, eben seine Frau an einer Tropenkrankheit verloren hatte. Ich
-sah ihn ernst und gequält abseits von den andern auf und ab gehen, und
-der Gedanke, daß ich um seine geheimste Sorge wußte, gab mir eine
-geheimnisvolle Scheu: ich bog immer zur Seite, wenn er vorüberkam, um
-nicht mit einem Blick zu verraten, daß ich mehr von seinem Schicksal
-wußte als er selbst.
-
- * * * * *
-
-Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merkwürdige Unfall, dessen
-Deutung ich in der Erzählung des Fremden zu finden glaube. Die meisten
-Passagiere waren abends von Bord gegangen, ich selbst in die Oper und
-dann noch in eines der hellen Cafés an der Via Roma. Als wir mit einem
-Ruderboot zu dem Dampfer zurückkehrten, fiel mir schon auf, daß einige
-Boote mit Fackeln und Azetylenlampen das Schiff suchend umkreisten, und
-oben am dunklen Bord war ein geheimnisvolles Gehen und Kommen von
-Karabinieris und Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen, was geschehen
-sei. Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, daß Auftrag zum
-Schweigen gegeben sei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wieder
-friedfertig und ohne Spur eines Zwischenfalles nach Genua weiterfuhr,
-war nichts an Bord zu erfahren. Erst in den italienischen Zeitungen las
-ich dann, romantisch ausgeschmückt, von jenem angeblichen Unfall im
-Hafen von Neapel. In jener Nacht sollte, so schrieben sie, in unbelebter
-Stunde, um die Passagiere nicht durch den Anblick zu beunruhigen, der
-Sarg einer vornehmen Dame aus den holländischen Kolonien von Bord des
-Schiffes auf ein Boot gebracht werden, und man ließ ihn eben in
-Gegenwart des Gatten die Strickleiter herab, als irgend etwas Schweres
-vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern und dem
-Gatten, die ihn gemeinsam niederhißten, mit sich in die Tiefe riß. Eine
-Zeitung behauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich die Treppe
-hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eine andere beschönigte, die
-Leiter sei von selbst unter dem übergroßen Gewicht gerissen: jedenfalls
-schien die Schiffahrtsgesellschaft alles getan zu haben, um den genauen
-Sachverhalt zu verschleiern. Man rettete nicht ohne Mühe die Träger und
-den Gatten der Verstorbenen mit Booten aus dem Wasser, der Bleisarg aber
-ging sofort in die Tiefe und konnte nicht mehr geborgen werden. Daß
-gleichzeitig in einer andern Notiz kurz erwähnt wurde, es sei die Leiche
-eines etwa vierzigjährigen Mannes im Hafen angeschwemmt worden, schien
-für die Öffentlichkeit in keinem Zusammenhang mit dem romantisch
-reportierten Unfall zu stehen; mir aber war, kaum daß ich die flüchtige
-Zeile gelesen, als starre plötzlich hinter dem papierenen Blatt das
-mondweiße Antlitz mit den glitzernden Brillengläsern mir noch einmal
-gespenstisch entgegen.
-
-
-
-
- Die Frau und die Landschaft
-
-
-Es war in jenem heißen Sommer, der durch Regennot und Dürre
-verhängnisvolle Mißernte im ganzen Lande verschuldete und noch für lange
-Jahre im Andenken der Bevölkerung gefürchtet blieb. Schon in den Monaten
-Juni und Juli waren nur vereinzelte flüchtige Schauer über die
-dürstenden Felder hingestreift, aber seit der Kalender zum August
-übergeschlagen, fiel überhaupt kein Tropfen mehr, und selbst hier oben,
-in dem Hochtale Tirols, wo ich, wie viele andere, Kühlung zu finden
-gewähnt hatte, glühte die Luft safranfarben von Feuer und Staub.
-Frühmorgens schon starrte die Sonne gelb und stumpf wie das Auge eines
-Fiebernden vom leeren Himmel auf die erloschene Landschaft, und mit den
-steigenden Stunden quoll dann mählich ein weißlicher drückender Dampf
-aus dem messingenen Kessel des Mittags und überschwülte das Tal.
-Irgendwo freilich in der Ferne hoben sich die Dolomiten mächtig auf, und
-Schnee glänzte von ihnen, rein und klar, aber nur das Auge fühlte
-erinnernd diesen Schimmer der Kühle, und es tat weh, sie schmachtend
-anzusehen und an den Wind zu denken, der sie vielleicht zur gleichen
-Stunde rauschend umflog, indes hier im Talkessel eine gierige Wärme
-nachts und tags sich zudrängte und mit tausend Lippen einem die Feuchte
-entsog. Allmählich erstarb in dieser sinkenden Welt welkender Pflanzen,
-hinschmachtenden Laubes und versiegender Bäche auch innen alle lebendige
-Bewegung, müßig und träge wurden die Stunden. Ich, wie die andern,
-verbrachte diese endlosen Tage fast nur mehr im Zimmer, halb entkleidet,
-bei verdunkelten Fenstern, in einem willenlosen Warten auf Veränderung,
-auf Kühlung, in einem stumpfen, machtlosen Träumen von Regen und
-Gewitter. Und bald wurde auch dieser Wunsch welk, ein Brüten, dumpf und
-willenlos wie das der lechzenden Gräser und der schwüle Traum des
-reglosen, dunstumwölkten Waldes.
-
-Aber es wurde nur noch heißer von Tag zu Tag, und der Regen wollte noch
-immer nicht kommen. Von früh bis abends brannte die Sonne nieder, und
-ihr gelber, quälender Blick bekam allmählich etwas von der stumpfen
-Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen. Es war, als ob das ganze Leben
-aufhören wollte, alles stand stille, die Tiere lärmten nicht mehr, von
-weißen Feldern kam keine andere Stimme als der leise singende Ton der
-schwingenden Hitze, das surrende Brodeln der siedenden Welt. Ich hatte
-hinausgehen wollen in den Wald, wo Schatten blau zwischen den Bäumen
-zitterten, um dort zu liegen, um nur diesem gelben, beharrlichen Blick
-der Sonne zu entgehen; aber auch diese wenigen Schritte schon wurden mir
-zu viel. So blieb ich sitzen auf einem Rohrsessel vor dem Eingang des
-Hotels, eine Stunde oder zwei, eingepreßt in den schmalen Schatten, den
-der schirmende Dachrand in den Kies zog. Einmal rückte ich weiter, als
-das dünne Viereck Schatten sich verkürzte und die Sonne schon heran an
-meine Hände kroch, dann blieb ich wieder hingelehnt, stumpf brütend ins
-stumpfe Licht, ohne Gefühl von Zeit, ohne Wunsch, ohne Willen. Die Zeit
-war zerschmolzen in dieser furchtbaren Schwüle, die Stunden zerkocht,
-zergangen in heißer, sinnloser Träumerei. Ich fühlte nichts als den
-brennenden Andrang der Luft außen an meinen Poren und innen den hastigen
-Hammerschlag des fiebrig pochenden Blutes.
-
-Da auf einmal war mir, als ob durch die Natur ein Atem ginge, leise,
-ganz leise, als ob ein heißer, sehnsüchtiger Seufzer sich aufhübe von
-irgendwo. Ich raffte mich empor. War das nicht Wind? Ich hatte schon
-vergessen, wie das war, zu lange hatten die verdorrenden Lungen dies
-Kühle nicht getrunken, und noch fühlte ich ihn nicht bis an mich
-heranziehen, eingepreßt in meinen Winkel Dachschatten; aber die Bäume
-dort drüben am Hang mußten eine fremde Gegenwart geahnt haben, denn mit
-einem Male begannen sie ganz leise zu schwanken, als neigten sie sich
-flüsternd einander zu. Die Schatten zwischen ihnen wurden unruhig. Wie
-ein Lebendiges und Erregtes huschten sie hin und her, und plötzlich hob
-es sich auf, irgendwo fern, ein tiefer, schwingender Ton. Wirklich: Wind
-kam über die Welt, ein Flüstern, ein Wehen und Weben, ein tiefes,
-orgelndes Brausen und jetzt ein stärkerer, mächtiger Stoß. Wie von einer
-jähen Angst getrieben, liefen plötzlich qualmige Wolken von Staub über
-die Straße, alle in gleicher Richtung, die Vögel, die irgendwo im Dunkel
-gelagert hatten, zischten auf einmal schwarz durch die Luft, die Pferde
-schnupperten sich den Schaum von den Nüstern, und fern im Tale blökte
-das Vieh. Irgend etwas Gewaltiges war aufgewacht und mußte nahe sein,
-die Erde wußte es schon, der Wald und die Tiere, und auch über den
-Himmel schob sich jetzt ein leichter Flor von Grau.
-
-Ich zitterte vor Erregung. Mein Blut war von den feinen Stacheln der
-Hitze aufgereizt, meine Nerven knisterten und spannten sich, nie hatte
-ich so wie jetzt die Wollust des Windes geahnt, die selige Lust des
-Gewitters. Und es kam, es zog heran, es schwoll und kündete sich.
-Langsam schob der Wind weiche Knäuel von Wolken herüber, es keuchte und
-schnaubte hinter den Bergen, als rollte jemand eine ungeheure Last.
-Manchmal hielten diese schnaubenden, keuchenden Stöße wie ermüdet wieder
-inne. Dann zitterten sich die Tannen langsam still, als ob sie horchen
-wollten, und mein Herz zitterte mit. Wo überall ich hinblickte, war die
-gleiche Erwartung wie in mir, die Erde hatte ihre Sprünge gedehnt: wie
-kleine, durstige Mäuler waren sie aufgerissen, und so fühlte ich es auch
-am eigenen Leibe, daß Pore an Pore sich auftat und spannte, Kühle zu
-suchen und die kalte, schauernde Lust des Regens. Unwillkürlich
-krampften sich meine Finger, als könnten sie die Wolken fassen und sie
-rascher herreißen in die schmachtende Welt.
-
-Aber schon kamen sie, von unsichtbarer Hand geschoben, träge
-herangedunkelt, runde, wulstige Säcke, und man sah: sie waren schwer und
-schwarz von Regen, denn sie polterten murrend wie feste, wuchtige Dinge,
-wenn sie aneinander stießen, und manchmal fuhr ein leiser Blitz über
-ihre schwarze Fläche wie ein knisterndes Streichholz. Blau flammten sie
-dann auf und gefährlich, und immer dichter drängte es sich heran, immer
-schwärzer wurden sie an ihrer eigenen Fülle. Wie der eiserne Vorhang
-eines Theaters senkte sich allmählich bleierner Himmel nieder und
-nieder. Jetzt war schon der ganze Raum schwarz überspannt,
-zusammengepreßt die warme, verhaltene Luft, und nun setzte noch ein
-letztes Innehalten der Erwartung ein, stumm und grauenhaft. Erwürgt war
-alles von dem schwarzen Gewicht, das sich über die Tiefe senkte, die
-Vögel zirpten nicht mehr, atemlos standen die Bäume, und selbst die
-kleinen Gräser wagten nicht mehr zu zittern; ein metallener Sarg,
-umschloß der Himmel die heiße Welt, in der alles erstarrt war vor
-Erwartung nach dem ersten Blitz. Atemlos stand ich da, die Hände
-ineinandergeklammt, und spannte mich zusammen in einer wundervollen
-süßen Angst, die mich reglos machte. Ich hörte hinter mir die Menschen
-herumeilen, aus dem Walde kamen sie, aus der Tür des Hotels, von allen
-Seiten flüchteten sie, die Dienstmädchen ließen die Rolläden herunter
-und schlossen krachend die Fenster. Alles war plötzlich tätig und
-aufgeregt, rührte sich, bereitete sich, drängte sich. Nur ich stand
-reglos, fiebernd, stumm, denn in mir war alles zusammengepreßt zu dem
-Schrei, den ich schon in der Kehle fühlte, den Schrei der Lust bei dem
-ersten Blitz.
-
-Da hörte ich auf einmal knapp hinter mir einen Seufzer, stark
-aufbrechend aus gequälter Brust und noch mit ihm flehentlich
-verschmolzen das sehnsüchtige Wort: »Wenn es doch nur schon regnen
-wollte!« So wild, so elementar war diese Stimme, war dieser Stoß aus
-einem bedrückten Gefühl, als hätte es die dürstende Erde selbst gesagt
-mit ihren aufgesprungenen Lippen, die gequälte, erdrosselte Landschaft
-unter dem Bleidruck des Himmels. Ich wendete mich um. Hinter mir stand
-ein Mädchen, das offenbar die Worte gesagt, denn ihre Lippen, die
-blassen und fein geschwungenen, waren noch im Lechzen aufgetan, und ihr
-Arm, der sich an der Tür hielt, zitterte leise. Nicht zu mir hatte sie
-gesprochen und zu niemandem. Wie über einen Abgrund bog sie sich in die
-Landschaft hinein, und ihr Blick starrte spiegellos hinaus in das
-Dunkel, das über den Tannen hing. Er war schwarz und leer, dieser Blick,
-starr als eine grundlose Tiefe gegen den tiefen Himmel gewandt. Nur nach
-oben griff seine Gier, griff tief in die geballten Wolken, in das
-überhängende Gewitter, und an mich rührte er nicht. So konnte ich
-ungestört die Fremde betrachten und sah, wie ihre Brust sich hob, wie
-etwas würgend nach oben schütterte, wie jetzt um die Kehle, die
-zartknochig aus dem offenen Kleide sich löste, ein Zittern ging, bis
-endlich auch die Lippen bebten, dürstend sich auftaten und wieder
-sagten: »Wenn es doch nur schon regnen wollte.« Und wieder war es mir
-Seufzer der ganzen verschwülten Welt. Etwas Nachtwandlerisches und
-Traumhaftes war in ihrer statuenhaften Gestalt, in ihrem gelösten Blick.
-Und wie sie so dastand, weiß in ihrem lichten Kleide gegen den
-bleifarbnen Himmel, schien sie mir der Durst, die Erwartung der ganzen
-schmachtenden Natur.
-
-Etwas zischte leise neben mir ins Gras. Etwas pickte hart auf dem
-Gesims. Etwas knirschte leise im heißen Kies. Überall war plötzlich
-dieser leise surrende Ton. Und plötzlich begriff ichs, fühlte ichs, daß
-dies Tropfen waren, die schwer niederfielen, die ersten verdampfenden
-Tropfen, die seligen Boten des großen, rauschenden, kühlenden Regens.
-Oh, es begann! Es hatte begonnen. Eine Vergessenheit, eine selige
-Trunkenheit kam über mich. Ich war wach wie nie. Ich sprang vor und fing
-einen Tropfen in der Hand. Schwer und kalt klatschte er mir an die
-Finger. Ich riß die Mütze ab, stärker die nasse Lust auf Haar und Stirn
-zu fühlen, ich zitterte schon vor Ungeduld, mich ganz umrauschen zu
-lassen vom Regen, ihn an mir zu fühlen, an der warmen knisternden Haut,
-in den offenen Poren, bis tief hinein in das aufgeregte Blut. Noch waren
-sie spärlich, die platschenden Tropfen, aber ich fühlte ihre sinkende
-Fülle schon voraus, ich hörte sie schon strömen und rauschen, die
-aufgetanen Schleusen, ich spürte schon das selige Niederbrechen des
-Himmels über dem Walde, über das Schwüle der verbrennenden Welt.
-
-Aber seltsam: die Tropfen fielen nicht schneller. Man konnte sie zählen.
-Einer, einer, einer, einer, fielen sie nieder, es knisterte, es zischte,
-es sauste leise rechts und links, aber es wollte nicht zusammenklingen
-zur großen rauschenden Musik des Regens. Zaghaft tropfte es herab, und
-statt schneller zu werden, ward der Takt langsam und immer langsamer und
-stand dann plötzlich still. Es war, wie wenn das Ticken eines
-Minutenzeigers in einer Uhr plötzlich aufhört und die Zeit erstarrt.
-Mein Herz, das schon glühte vor Ungeduld, wurde plötzlich kalt. Ich
-wartete, wartete, aber es geschah nichts. Der Himmel blickte schwarz und
-starr nieder mit umdüsterter Stirn, totenstill blieb es minutenlang,
-dann aber schien es, als ob ein leises, höhnisches Leuchten über sein
-Antlitz ginge. Von Westen her hellte sich die Höhe auf, die Wand der
-Wolken löste sich mählich, leise polternd rollten sie weiter. Seichter
-und seichter ward ihre schwarze Unergründlichkeit, und in ohnmächtiger,
-unbefriedigter Enttäuschung lag unter dem erglänzenden Horizont die
-lauschende Landschaft. Wie von Wut lief noch ein leises, letztes Zittern
-durch die Bäume, sie beugten und krümmten sich, dann aber fielen die
-Laubhände, die schon gierig aufgereckt waren, schlaff zurück, wie tot.
-Immer durchsichtiger ward der Wolkenflor, eine böse, gefährliche Helle
-stand über der wehrlosen Welt. Es war nichts geschehen. Das Gewitter
-hatte sich verzogen.
-
-Ich zitterte am ganzen Körper. Wut war es, was ich fühlte, eine sinnlose
-Empörung der Ohnmacht, der Enttäuschung, des Verrats. Ich hätte schreien
-können oder rasen, eine Lust kam mich an, etwas zu zerschlagen, eine
-Lust am Bösen und Gefährlichen, ein sinnloses Bedürfnis nach Rache. Ich
-fühlte in mir die Qual der ganzen verratenen Natur, das Lechzen der
-kleinen Gräser war in mir, die Hitze der Straßen, der Qualm des Waldes,
-die spitze Glut des Kalksteines, der Durst der ganzen betrogenen Welt.
-Meine Nerven brannten wie Drähte: ich fühlte sie zucken von elektrischer
-Spannung weithinaus in die geladene Luft, wie viele feine Flammen
-glühten sie mir unter der gespannten Haut. Alles tat mir weh, alle
-Geräusche hatten Spitzen, alles war wie umzüngelt von kleinen Flammen,
-und der Blick, was immer er faßte, verbrannte sich. Das tiefste Wesen in
-mir war aufgereizt, ich spürte, wie viele Sinne, die sonst stumm und tot
-im dumpfen Hirne schliefen, sich auftaten wie viele kleine Nüstern, und
-mit jeder spürte ich Glut. Ich wußte nicht mehr, was davon meine
-Erregung war, und was die der Welt; die dünne Membran des Fühlens
-zwischen ihr und mir war zerrissen, alles einzig erregte Gemeinschaft
-der Enttäuschung, und wie ich fiebernd hinabstarrte in das Tal, das sich
-allmählich mit Lichtern füllte, spürte ich, daß jedes einzelne kleine
-Licht in mich hineinflimmerte, jeder Stern brannte bis in mein Blut. Es
-war die gleiche maßlose, fiebernde Erregung außen und innen, und in
-einer schmerzhaften Magie empfand ich alles, was um mich schwoll,
-gleichsam in mich gepreßt und dort wachsend und glühend. Mir war, als
-brenne der geheimnisvolle, lebendige Kern, der in alle Vielfalt einzeln
-eingetan ist, aus meinem innersten Wesen, alles spürte ich, in magischer
-Wachheit der Sinne den Zorn jedes einzelnen Blattes, den stumpfen Blick
-des Hundes, der mit gesenktem Schweife jetzt um die Türen schlich, alles
-fühlte ich, und alles, was ich spürte, tat mir weh. Fast körperlich
-begann dieser Brand in mir zu werden, und als ich jetzt mit den Fingern
-nach dem Holz der Tür griff, knisterte es leise unter ihnen wie Zunder,
-brenzlig und trocken.
-
-Der Gong lärmte zur Abendmahlzeit. Tief in mich schlug der kupferne
-Klang hinein, schmerzhaft auch er. Ich wendete mich um. Wo waren die
-Menschen hin, die früher hier in Angst und Erregung vorbeigeeilt? Wo war
-sie, die hier gestanden als lechzende Welt und der ich ganz vergessen in
-den wirren Minuten der Enttäuschung? Alles war verschwunden. Ich stand
-allein in der schweigenden Natur. Noch einmal umgriff ich Höhe und Ferne
-mit dem Blick. Der Himmel war jetzt ganz leer, aber nicht rein. Über den
-Sternen lag ein Schleier, ein grünlich gespannter, und aus dem
-aufsteigenden Mond glitzerte der böse Glanz eines Katzenauges. Fahl war
-alles da oben, höhnisch und gefährlich, tief drunten aber unter dieser
-unsicheren Sphäre dämmerte dunkel die Nacht, phosphoreszierend wie ein
-tropisches Meer und mit dem gequälten wollüstigen Atem einer
-enttäuschten Frau. Oben stand noch hell und höhnisch eine letzte Helle,
-unten müde und lastend eine schwüle Dunkelheit, feindlich war eines dem
-andern, unheimlich stummer Kampf zwischen Himmel und Erde. Ich atmete
-tief und trank nur Erregung. Ich griff ins Gras. Es war trocken wie Holz
-und knisterte blau in meinen Fingern.
-
-Wieder rief der Gong. Widerlich war mir der tote Klang. Ich hatte keinen
-Hunger, kein Verlangen nach Menschen, aber diese einsame Schwüle hier
-draußen war zu fürchterlich. Der ganze schwere Himmel lastete stumm auf
-meiner Brust, und ich fühlte, ich könnte seinen bleiernen Druck nicht
-länger mehr tragen. Ich ging hinein in den Speisesaal. Die Leute saßen
-schon an ihren kleinen Tischen. Sie sprachen leise, aber doch, mir war
-es zu laut. Denn mir ward alles zur Qual, was an meine aufgereizten
-Nerven rührte: das leise Lispeln der Lippen, das Klirren der Bestecke,
-das Rasseln der Teller, jede einzelne Geste, jeder Atem, jeder Blick.
-Alles zuckte in mich hinein und tat mir weh. Ich mußte mich bemeistern,
-um nicht etwas Sinnloses zu tun, denn ich fühlte es an meinem Pulse:
-alle meine Sinne hatten Fieber. Jeden einzelnen dieser Menschen mußte
-ich ansehen, und gegen jeden fühlte ich Haß, als ich sie so friedlich
-dasitzen sah, gefräßig und gemächlich, indessen ich glühte. Irgendein
-Neid überkam mich, daß sie so satt und sicher in sich ruhten, anteillos
-an der Qual einer Welt, fühllos für die stille Raserei, die in der Brust
-der verdurstenden Erde sich regte. Alle griff ich an mit dem Blick, ob
-nicht einer wäre, der sie mitfühlte, aber alle schienen stumpf und
-unbesorgt. Nur Ruhende und Atmende, Gemächliche waren hier, Wache,
-Fühllose, Gesunde, und ich der einzige Kranke, der Einzige im Fieber der
-Welt. Der Kellner brachte mir das Essen. Ich versuchte einen Bissen,
-vermochte aber nicht, ihn hinabzuwürgen. Alles widerstrebte mir, was
-Berührung war. Zu voll war ich von der Schwüle, dem Dunst, dem Brodem
-der leidenden, kranken, zerquälten Natur.
-
-Neben mir rückte ein Sessel. Ich fuhr auf. Jeder Laut streifte jetzt an
-mich wie heißes Eisen. Ich sah hin. Fremde Menschen saßen dort, neue
-Nachbarn, die ich noch nicht kannte. Ein älterer Herr und seine Frau,
-bürgerliche ruhige Leute mit runden gelassenen Augen und kauenden
-Wangen. Aber ihnen gegenüber, halb mit dem Rücken zu mir, ein junges
-Mädchen, ihre Tochter offenbar. Nur den Nacken sah ich, weiß und schmal
-und darüber wie einen Stahlhelm schwarz und fast blau das volle Haar.
-Sie saß reglos da, und an ihrer Starre erkannte ich sie als dieselbe,
-die früher auf der Terrasse lechzend und aufgetan vor dem Regen
-gestanden wie eine weiße, durstende Blume. Ihre kleinen, kränklich
-schmalen Finger spielten unruhig mit dem Besteck, aber doch, ohne daß es
-klirrte; und diese Stille um sie tat mir wohl. Auch sie rührte keinen
-Bissen an, nur einmal griff ihre Hand hastig und gierig nach dem Glas.
-Oh, sie fühlt es auch, das Fieber der Welt, spürte ich beglückt an
-diesem durstigen Griff, und eine freundliche Teilnahme legte meinen
-Blick weich auf ihren Nacken. Einen Menschen, einen einzigen empfand ich
-jetzt, der nicht ganz abgeschieden war von der Natur, der auch mitglühte
-im Brande einer Welt, und ich wollte, daß sie wisse von unserer
-Bruderschaft. Ich hätte ihr zuschreien mögen: »Fühle mich doch! Fühle
-mich doch! Auch ich bin wach wie du, auch ich leide! Fühle mich! Fühle
-mich!« Mit der glühenden Magnetik des Wunsches umfing ich sie. Ich
-starrte in ihren Rücken, umschmeichelte von ferne ihr Haar, bohrte mich
-ein mit dem Blick, ich rief sie mit den Lippen, ich preßte sie an, ich
-starrte und starrte, warf mein ganzes Fieber aus, damit sie es
-schwesterlich fühle. Aber sie wendete sich nicht um. Starr blieb sie,
-eine Statue, sitzen, kühl und fremd. Niemand half mir. Auch sie fühlte
-mich nicht. Auch in ihr war nicht die Welt. Ich brannte allein.
-
-Oh, diese Schwüle außen und innen, ich konnte sie nicht mehr ertragen.
-Der Dunst der warmen Speisen, fett und süßlich, quälte mich, jedes
-Geräusch bohrte sich den Nerven ein. Ich spürte mein Blut wallen und
-wußte mich einer purpurnen Ohnmacht nahe. Alles lechzte in mir nach
-Kühle und Ferne, und dieses Nahsein, das dumpfe, der Menschen erdrückte
-mich. Neben mir war ein Fenster. Ich stieß es auf, weit auf. Und
-wunderbar: dort war es ganz geheimnisvoll wieder, dieses unruhige
-Flackern in meinem Blute, nur aufgelöst in das Unbegrenzte eines
-nächtigen Himmels. Weißgelb flimmerte oben der Mond wie ein entzündetes
-Auge in einem roten Ring von Dunst, und über die Felder schlich
-geisterhaft ein blasser Brodem hin. Fieberhaft zirpten die Grillen; mit
-metallenen Saiten, die schrillten und gellten, schien die Luft
-durchspannt. Dazwischen quäkte manchmal leise und sinnlos ein Unkenruf,
-Hunde schlugen an, heulend und laut; irgendwo in der Ferne brüllten die
-Tiere, und ich entsann mich, daß das Fieber in solchen Nächten den Kühen
-die Milch vergifte. Krank war die Natur, auch dort diese stille Raserei
-der Erbitterung, und ich starrte aus dem Fenster wie in einen Spiegel
-des Gefühls. Mein ganzes Sein bog sich hinaus, meine Schwüle und die der
-Landschaft flossen ineinander in eine stumme, feuchte Umarmung.
-
-Wieder rückten neben mir die Sessel, und wieder schrak ich zusammen. Das
-Diner war zu Ende, die Leute standen lärmend auf: auch meine Nachbarn
-erhoben sich und gingen an mir vorbei. Der Vater zuerst, gemächlich und
-satt, mit freundlichem, lächelndem Blick, dann die Mutter und zuletzt
-die Tochter. Jetzt erst sah ich ihr Gesicht. Es war gelblich bleich, von
-derselben matten, kranken Farbe wie draußen der Mond, die Lippen waren
-noch immer, wie früher, halb geöffnet. Sie ging lautlos und doch nicht
-leicht. Irgend etwas Schlaffes und Mattes war an ihr, das mich seltsam
-gemahnte an das eigene Gefühl. Ich spürte sie näher kommen und war
-gereizt. Etwas in mir wünschte eine Vertraulichkeit mit ihr, sie möchte
-mich anstreifen mit ihrem weißen Kleide, oder daß ich den Duft ihres
-Haares spüren könnte im Vorübergehen. In diesem Augenblick sah sie mich
-an. Starr und schwarz stieß ihr Blick in mich hinein und blieb in mir
-festgehakt, tief und saugend, daß ich nur ihn spürte, ihr helles Gesicht
-darüber entschwand und ich einzig dieses düsternde Dunkel vor mir
-fühlte, in das ich stürzte wie in einen Abgrund. Sie machte noch einen
-Schritt vor, aber der Blick ließ mich nicht los, blieb in mich gebohrt
-wie eine schwarze Lanze, und ich spürte sein Eindringen tiefer und
-tiefer. Nun rührte seine Spitze bis an mein Herz, und es stand still.
-Ein, zwei Augenblicke hielt sie so den Blick an und ich den Atem,
-Sekunden, während derer ich mich machtlos weggerissen fühlte von dem
-schwarzen Magneten dieser Pupille. Dann war sie an mir vorbei. Und
-sofort fühlte ich mein Blut vorstürzen wie aus einer Wunde und erregt
-durch den ganzen Körper gehen.
-
-Was -- was war das? Wie aus einem Tode wachte ich auf. War das mein
-Fieber, das mich so wirr machte, daß ich im flüchtigen Blick einer
-Vorübergehenden gleich ganz mich verlor? Aber mir war gewesen, als hätte
-ich in diesem Anschauen die gleiche stille Raserei gespürt, die
-schmachtende, sinnlose, verdurstende Gier, die sich mir jetzt in allem
-auftat, im Blick des roten Mondes, in den lechzenden Lippen der Erde, in
-der schreienden Qual der Tiere, dieselbe, die in mir funkelte und bebte.
-Oh, wie wirr alles durcheinander ging in dieser phantastischen schwülen
-Nacht, wie alles zergangen war in dies eine Gefühl von Erwartung und
-Ungeduld! War es mein Wahnsinn, war es der der Welt? Ich war erregt und
-wollte Antwort wissen, und so ging ich ihr nach in die Halle. Sie hatte
-sich dort niedergesetzt neben ihre Eltern und lehnte still in einem
-Fauteuil. Unsichtbar war der gefährliche Blick unter den verhangenen
-Lidern. Sie las ein Buch, aber ich glaubte ihr nicht, daß sie lese. Ich
-war gewiß, daß, wenn sie fühlte wie ich, wenn sie litt mit der sinnlosen
-Qual der verschwülten Welt, daß sie nicht rasten könnte im stillen
-Betrachten, daß dies ein Verstecken war, ein Verbergen vor fremder
-Neugier. Ich setzte mich gegenüber und starrte sie an, ich wartete
-fiebernd auf den Blick, der mich bezaubert hatte, ob er nicht
-wiederkommen wolle und mir sein Geheimnis lösen. Aber sie rührte sich
-nicht. Die Hand schlug gleichgültig Blatt um Blatt im Buche, der Blick
-blieb verhangen. Und ich wartete gegenüber, wartete heißer und heißer,
-irgendeine rätselhafte Macht des Willens spannte sich, muskelhaft stark,
-ganz körperlich, diese Verstellung zu zerbrechen. Zwischen all den
-Menschen, die dort gemächlich sprachen, rauchten und Karten spielten,
-hub nun ein stummes Ringen an. Ich spürte, daß sie sich weigerte, daß
-sie es sich versagte, aufzuschauen, aber je mehr sie widerstrebte, desto
-stärker wollte es mein Trotz, und ich war stark, denn in mir war die
-Erwartung der ganzen lechzenden Erde und die dürstende Glut der
-enttäuschten Welt. Und so wie an meine Poren noch immer die feuchte
-Schwüle der Nacht, so drängte sich mein Wille gegen den ihren, und ich
-wußte, sie müßte mir nun bald einen Blick hergeben, sie müßte es.
-Rückwärts im Saale begann jemand Klavier zu spielen. Die Töne perlten
-leise herüber, auf und ab in flüchtigen Skalen, drüben lachte jetzt eine
-Gesellschaft lärmend über irgendeinen albernen Scherz, ich hörte alles,
-fühlte alles, was geschah, ohne aber für eine Minute nachzulassen. Ich
-zählte jetzt laut vor mich hin die Sekunden, während ich an ihren Lidern
-zog und sog, während ich von ferne durch die Hypnose des Willens ihren
-störrisch niedergebeugten Kopf aufheben wollte. Minute auf Minute rollte
-vorüber -- immer perlten die Töne von drüben dazwischen -- und schon
-spürte ich, daß meine Kraft nachließ -- da plötzlich hob sie mit einem
-Ruck sich auf und sah mich an, gerade hin auf mich. Wieder war es der
-gleiche Blick, der nicht endete, ein schwarzes, furchtbares, saugendes
-Nichts, ein Durst, der mich einsog, ohne Widerstand. Ich starrte in
-diese Pupillen hinein wie in die schwarze Höhlung eines photographischen
-Apparates und spürte, daß er zuerst mein Gesicht nach innen zog in das
-fremde Blut hinein und ich wegstürzte von mir; der Boden schwand unter
-meinen Füßen, und ich empfand die ganze Süße des schwindelnden Sturzes.
-Hoch oben über mir hörte ich noch die klingenden Skalen auf und nieder
-rollen, aber schon wußte ich nicht mehr, wo mir dies geschah. Mein Blut
-war weggeströmt, mein Atem stockte. Schon spürte ich, wie es mich
-würgte, diese Minute oder Stunde oder Ewigkeit -- da schlugen ihre Lider
-wieder zu. Ich tauchte auf wie ein Ertrinkender aus dem Wasser,
-frierend, geschüttelt von Fieber und Gefahr.
-
-Ich sah um mich. Mir gegenüber saß unter den Menschen, still über ein
-Buch gebeugt, bloß mehr ein schlankes junges Mädchen, regungslos,
-bildhaft, nur leise unter dem dünnen Gewand wippte das Knie. Auch meine
-Hände zitterten. Ich wußte, daß jetzt dieses wollüstige Spiel von
-Erwartung und Widerstand wieder beginnen sollte, daß ich Minuten
-angespannt fordern mußte, um dann plötzlich wieder so in schwarze
-Flammen getaucht zu werden von einem Blick. Meine Schläfen waren feucht,
-in mir siedete das Blut. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich stand
-auf, ohne mich umzuwenden, und ging hinaus.
-
-Weit war die Nacht vor dem glänzenden Haus. Das Tal schien versunken,
-und der Himmel glänzte feucht und schwarz wie nasses Moos. Auch hier war
-keine Kühlung, noch immer nicht, überall auch hier das gleiche,
-gefährliche Sichgatten von Dürsten und Trunkenheit, das ich im Blute
-spürte. Etwas Ungesundes, Feuchtes, wie die Ausdünstung eines
-Fiebernden, lag über den Feldern, die milchweißen Dunst brauten, ferne
-Feuer zuckten und geisterten durch die schwere Luft, und um den Mond lag
-ein gelber Ring und machte seinen Blick bös. Ich fühlte mich müde wie
-nie. Ein geflochtener Stuhl, noch vom Tag her vergessen, stand da: ich
-warf mich hinein. Die Glieder fielen von mir ab, regungslos streckte ich
-mich hin. Und da, nur nachgebend angeschmiegt an das weiche Rohr,
-empfand ich mit einemmal die Schwüle als wunderbar. Sie quälte nicht
-mehr, sie drängte sich nur an, zärtlich und wollüstig, und ich wehrte
-ihr nicht. Nur die Augen hielt ich geschlossen, um nichts zu sehen, um
-stärker die Natur zu fühlen, das Lebendige, das mich umfing. Wie ein
-Polyp, ein weiches, glattes, saugendes Wesen umdrängte mich jetzt,
-berührte mich mit tausend Lippen die Nacht. Ich lag und fühlte mich
-nachgeben, hingeben an irgend etwas, das mich umfaßte, umschmiegte,
-umringte, das mein Blut trank, und zum erstenmal empfand ich in dieser
-schwülen Umfassung sinnlich wie eine Frau, die sich auflöst in der
-sanften Ekstase der Hingebung. Ein süßes Grauen wars mir, mit einem Male
-widerstandslos zu sein und ganz meinen Leib nur der Welt hinzugeben,
-wunderbar war es, wie dies Unsichtbare meine Haut zärtlich anrührte und
-allmählich unter sie drang, mir die Gelenke lockerer löste, und ich
-wehrte mich nicht gegen dieses Laßwerden der Sinne. Ich ließ mich
-hingleiten in das neue Gefühl, und dunkel, traumhaft empfand ich nur,
-daß dies: die Nacht und jener Blick von früher, die Frau und die
-Landschaft, daß dies eins war, in dem es süß war, verloren zu sein.
-Manchmal war mir, als wäre diese Dunkelheit nur sie, und jene Wärme, die
-meine Glieder rührte, ihr eigener Leib, gelöst in Nacht wie der meine,
-und noch im Traume sie empfindend, schwand ich hin in dieser schwarzen,
-warmen Welle von wollüstiger Verlorenheit.
-
-Irgend etwas schreckte mich auf. Mit allen Sinnen griff ich um mich,
-ohne mich zu finden. Und dann sah ichs, erkannte ichs, daß ich da
-gelehnt hatte mit geschlossenen Augen und in Schlaf gesunken war. Ich
-mußte geschlummert haben, eine Stunde oder Stunden vielleicht, denn das
-Licht in der Halle des Hotels war schon erloschen und alles längst zur
-Ruhe gegangen. Das Haar klebte mir feucht an den Schläfen, wie ein
-heißer Tau schien dieser traumhaft traumlose Schlummer über mich
-gesunken zu sein. Ganz wirr stand ich auf, mich ins Haus zurückzufinden.
-Dumpf war mir zumute, aber diese Wirrnis war auch um mich. Etwas grölte
-in der Ferne, und manchmal funkelte ein Wetterleuchten gefährlich über
-den Himmel hin. Die Luft schmeckte nach Feuer und Funken, es glänzten
-verräterische Blitze hinter den Bergen, und in mir phosphoreszierte
-Erinnerung und Vorgefühl. Ich wäre gern geblieben, mich zu besinnen, den
-geheimnisvollen Zustand genießend aufzulösen: aber die Stunde war spät,
-und ich ging hinein.
-
-Die Halle war schon leer, die Sessel standen noch zufällig durcheinander
-gerückt im fahlen Schein eines einzelnen Lichtes. Gespenstisch war ihre
-unbelebte Leere, und unwillkürlich formte ich in den einen die zarte
-Gestalt des sonderbaren Wesens hinein, das mich mit seinen Blicken so
-verwirrt gemacht. Ihr Blick in der Tiefe meines Wesens war noch
-lebendig. Er rührte sich, und ich spürte, wie er mich aus dem Dunkel
-anglänzte, eine geheimnisvolle Ahnung witterte ihn noch irgendwo wach in
-diesen Wänden, und seine Verheißung irrlichterte mir im Blut. Und so
-schwül war es noch immer! Kaum daß ich die Augen schloß, fühlte ich
-purpurne Funken hinter den Lidern. Noch glänzte in mir der weiße,
-glühende Tag, noch fieberte in mir diese flirrende, feuchte, funkelnde,
-phantastische Nacht!
-
-Aber ich konnte hier im Flur nicht bleiben, es war alles dunkel und
-verlassen. So ging ich die Treppe hinauf und wollte doch nicht.
-Irgendein Widerstand war in mir, den ich nicht zu zähmen wußte. Ich war
-müde, und doch fühlte ich mich zu früh für den Schlaf. Irgendeine
-geheimnisvolle, hellsichtige Witterung verhieß mir noch Abenteuerliches,
-und meine Sinne streckten sich vor, Lebendiges, Warmes zu erspähen. Wie
-mit feinen, gelenkigen Fühlern drang es aus mir in den Treppengang,
-rührte an alle Gemächer, und wie früher hinaus in die Natur, so warf ich
-jetzt mein ganzes Fühlen in das Haus, und ich spürte den Schlaf, das
-gemächliche Atemgehen vieler Menschen darin, das schwere, traumlose
-Wogen ihres dicken schwarzen Blutes, ihre einfältige Ruhe und Stille,
-aber doch auch das magnetische Ziehen irgendeiner Kraft. Ich ahnte
-irgend etwas, das wach war wie ich. War es jener Blick, war es die
-Landschaft, die diesen feinen purpurnen Wahnsinn in mich getan? Ich
-glaubte irgend etwas Weiches durch Wall und Wand zu spüren, eine kleine
-Flamme von Unruhe in mir zitterte und lockte im Blut und brannte nicht
-aus. Widerwillig ging ich die Treppe hinauf und blieb doch immer stehen
-auf jeder Stufe und horchte aus mir heraus; nicht mit dem Ohr nur,
-sondern mit allen Sinnen. Nichts wäre mir wunderlich gewesen, alles in
-mir lauerte noch auf ein Unerhörtes, Seltsames, denn ich wußte, die
-Nacht konnte nicht enden ohne ein Wunderbares, diese Schwüle nicht enden
-ohne den Blitz. Noch einmal war ich, wie ich da horchend auf dem
-Treppengeländer stand, die ganze Welt draußen, die sich reckte in ihrer
-Ohnmacht und nach dem Gewitter schrie. Aber nichts rührte sich. Nur
-leiser Atem zog durch das windstille Haus. Müde und enttäuscht ging ich
-die letzten Stufen hinauf, und mir graute vor meinem einsamen Zimmer wie
-vor einem Sarg.
-
-Die Klinke schimmerte unsicher aus dem Dunkel, feucht und warm zu
-fassen. Ich öffnete die Tür. Rückwärts stand das Fenster offen und tat
-ein schwarzes Viereck von Nacht auf, gedrängte Tannenwipfel drüben vom
-Wald und dazwischen ein Stück des verwölkten Himmels. Dunkel war alles
-außen und innen, die Welt und das Zimmer, nur -- seltsam und
-unerklärlich -- am Fensterrahmen glänzte etwas Schmales, Aufrechtes wie
-ein verlorener Streifen Mondschein. Ich trat verwundert näher, zu sehen,
-was da so hell schimmerte in mondverhangener Nacht. Ich trat näher, und
-da regte sichs. Ich erstaunte: aber doch, ich erschrak nicht, denn etwas
-war in dieser Nacht in mir wunderlich dem Phantastischesten bereit,
-alles schon vorher gedacht und traumbewußt. Keine Begegnung wäre mir
-sonderbar gewesen und diese am wenigsten, denn wirklich: sie war es, die
-dort stand, sie, an die ich unbewußt gedacht, bei jeder Stufe, bei jedem
-Schritt in dem schlafenden Haus, und deren Wachheit meine aufgefunkelten
-Sinne durch Diele und Tür gespürt. Nur als einen Schimmer sah ich ihr
-Gesicht, und wie ein Dunst lag um sie das weiße Nachtgewand. Sie lehnte
-am Fenster, und wie sie dastand, ihr Wesen hinausgewandt in die
-Landschaft, von dem schimmernden Spiegel der Tiefe geheimnisvoll
-angezogen in ihr Schicksal, schien sie märchenhaft, Ophelia über dem
-Teiche.
-
-Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie
-erreicht haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich
-wußte nicht, ob sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn
-nichts Jähes war in ihrer Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand.
-Alles war ganz still um uns. An der Wand tickte eine kleine Uhr. Ganz
-still blieb es, und dann sagte sie plötzlich leise und unvermutet: »Ich
-fürchte mich so.«
-
-Zu wem sprach sie? Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie
-aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton,
-der heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich
-ihr Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich
-nicht verwundert, nicht verwirrt. Ich trat auf sie zu, sie zu beruhigen
-und faßte ihre Hand. Wie Zunder fühlte sie sich an, heiß und trocken,
-und der Griff der Finger zerbröckelte weich in meiner Umfassung. Lautlos
-ließ sie mir die Hand. Alles an ihr war schlaff, wehrlos, abgestorben.
-Und nur von den Lippen flüsterte es nochmals wie aus einer Ferne: »Ich
-fürchte mich so! Ich fürchte mich so.« Und dann in einem Seufzer
-hinsterbend wie aus einem Ersticken: »Ach, wie schwül es ist!« Das klang
-von ferne und war doch leise geflüstert wie ein Geheimnis zwischen uns
-beiden. Aber ich fühlte dennoch: sie sprach nicht zu mir.
-
-Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags
-vor dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie
-gab nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen
-ihre Schultern gegen mich. Nun hatte ich sie ganz nahe an mir, daß ich
-die Schwüle ihrer Haut atmen konnte und den feuchten Duft ihres Haares.
-Ich bewegte mich nicht, und sie blieb stumm. Seltsam war all dies, und
-meine Neugier begann zu funkeln. Allmählich wuchs meine Ungeduld. Ich
-rührte mit meinen Lippen an ihr Haar -- sie wehrte ihnen nicht. Dann
-nahm ich ihre Lippen. Sie waren trocken und heiß, und als ich sie küßte,
-taten sie sich plötzlich auf, um von den meinen zu trinken, aber nicht
-dürstend und leidenschaftlich, sondern mit dem stillen, schlaffen,
-begehrlichen Saugen eines Kindes. Eine Verschmachtende, so fühlte ich
-sie, und so wie ihre Lippen sog sich ihr schlanker, durch das dünne
-Gewand warm wogender Körper mir ganz so an, wie früher draußen die
-Nacht, ohne Kraft, aber voll einer stillen, trunkenen Gier. Und da, wie
-ich sie hielt -- meine Sinne funkelten noch grell durcheinander --
-spürte ich die warme feuchte Erde an mir, wie sie heute dalag, dürstend
-nach dem Schauer der Entspannung, die heiße, machtlose, glühende
-Landschaft. Ich küßte und küßte sie und empfand, als genieße ich die
-große, schwüle, harrende Welt in ihr, als wäre diese Wärme, die von
-ihren Wangen glühte, der Brodem der Felder, als atmete von ihren
-weichen, warmen Brüsten das schauernde Land.
-
-Doch da, wie meine wandernden Lippen zu ihren Lidern emporwollten, zu
-den Augen, deren schwarze Flammen ich so schauernd gefühlt, da ich mich
-hob, ihr Gesicht zu schauen und im Anschauen stärker zu genießen, sah
-ich überrascht, daß ihre Lider fest geschlossen waren. Eine griechische
-Maske aus Stein, augenlos, ohnmächtig, lag sie da, Ophelia nun, die
-tote, auf den Wassern treibend, bleich das fühllose Antlitz gehoben aus
-der dunklen Flut. Ich erschrak. Zum erstenmal fühlte ich Wirklichkeit in
-dem phantastischen Begeben. Schaudernd überfiel mich die Erkenntnis, daß
-ich da eine Unbewußte nahm, eine Trunkene, eine Kranke, eine
-Schlafwandlerin ihrer Sinne in den Armen hielt, die mir nur die Schwüle
-der Nacht hergetrieben wie ein roter, gefährlicher Mond, ein Wesen, das
-nicht wußte, was es tat, das mich vielleicht nicht wollte. Ich erschrak,
-und sie ward mir im Arme schwer. Leise wollte ich die Willenlose
-hingleiten lassen auf den Sessel, auf das Bett, um nicht aus einem
-Taumel Lust zu stehlen, nicht etwas zu nehmen, was sie vielleicht selbst
-nicht wollte, sondern nur jener Dämon in ihr, der Herr ihres Blutes war.
-Aber kaum fühlte sie, daß ich nachließ, begann sie leise zu stöhnen:
-»Laß mich nicht! Laß mich nicht!« flehte sie, und heißer sogen ihre
-Lippen, drängte ihr Körper sich an. Schmerzhaft war ihr Gesicht mit den
-verschlossenen Augen gespannt, und schauernd spürte ich, daß sie wach
-werden wollte und nicht konnte, daß ihre trunkenen Sinne aus dem
-Gefängnis dieser Umnachtung schrieen und wissend werden wollten. Aber
-gerade dies, daß unter dieser bleiernen Maske von Schlaf etwas rang, das
-aus seiner Bezauberung wollte, war gefährliche Lockung für mich, sie zu
-erwecken. Meine Nerven brannten vor Ungeduld, sie wach, sie sprechend,
-sie als wirkliches Wesen zu sehen, nicht bloß als Traumwandlerin, und um
-jeden Preis wollte ich aus ihrem dumpf genießenden Körper diese Wachheit
-zwingen. Ich riß sie an mich, ich schüttelte sie, ich klemmte die Zähne
-in ihre Lippen und meine Finger in ihre Arme, damit sie endlich die
-Augen aufschlüge und nun besonnen täte, was hier nur dumpf ein Trieb in
-ihr genoß. Aber sie bog sich nur und stöhnte unter der schmerzhaften
-Umklammerung. »Mehr! Mehr!« stammelte sie mit einer Inbrunst, mit einer
-sinnlosen Inbrunst, die mich erregte und selbst sinnlos machte. Ich
-spürte, daß das Wache bereits nahe in ihr war, daß es aufbrechen wollte
-unter den geschlossenen Lidern, denn sie zuckten schon unruhig. Näher
-faßte ich sie, tiefer grub ich mich in sie ein, und plötzlich fühlte
-ich, wie eine Träne die Wange hinabrollte, die ich salzig trank.
-Furchtbar wogte es, je mehr ich sie preßte, in ihrer Brust, sie stöhnte,
-ihre Glieder krampften sich, als wollten sie etwas Ungeheures sprengen,
-einen Reif, der sie mit Schlaf umschloß, und plötzlich -- wie ein Blitz
-war es durch die gewitternde Welt -- brach es in ihr entzwei. Mit
-einemmal ward sie wieder schweres, lastendes Gewicht in meinen Armen,
-ihre Lippen ließen mich, die Hände sanken, und wie ich sie zurücklehnte
-auf das Bett, blieb sie liegen gleich einer Toten. Ich erschrak.
-Unwillkürlich fühlte ich sie an und tastete ihre Arme und ihre Wangen.
-Sie waren ganz kalt, erfroren, steinern. Nur an den Schläfen oben tickte
-leise in zitternden Schlägen das Blut. Marmor, eine Statue, lag sie da,
-feucht die Wangen von Tränen, den Atem leise spielend um die gespannten
-Nüstern. Manchmal überrann sie noch leise ein Zucken, eine verebbende
-Welle des erregten Blutes, doch die Brust wogte immer leiser und leiser.
-Immer mehr schien sie Bild zu werden. Immer menschlicher und kindlicher,
-immer heller, entspannter wurden ihre Züge. Der Krampf war entflogen.
-Sie schlummerte. Sie schlief.
-
-Ich blieb sitzen am Bettrand, zitternd über sie gebeugt. Ein friedliches
-Kind lag sie da, die Augen geschlossen und den Mund leise lächelnd,
-belebt von innerem Traum. Ganz nahe beugte ich mich herab, daß ich jede
-Linie ihres Antlitzes einzeln sah und den Hauch ihres Atems an der Wange
-fühlte, und von je näher ich auf sie blickte, desto ferner ward sie mir
-und geheimnisvoller. Denn wo war sie jetzt mit ihren Sinnen, die da
-steinern lag, hergetrieben von der heißen Strömung einer schwülen Nacht,
-zu mir, dem Fremden, und nun wie tot gespült an den Strand? Wer war es,
-die hier an meinen Händen lag, wo kam sie her, wem gehörte sie zu? Ich
-wußte nichts von ihr und fühlte nur immer, daß nichts mich ihr verband.
-Ich blickte sie an, einsame Minuten, während nur die Uhr eilfertig von
-oben tickte, und suchte in ihrem sprachlosen Antlitz zu lesen, und doch
-ward nichts von ihr vertraut. Ich hatte Lust, sie aufzuwecken aus diesem
-fremden Schlaf hier in meiner Nähe, in meinem Zimmer, hart an meinem
-Leben, und hatte doch gleichzeitig Furcht vor dem Erwachen, vor dem
-ersten Blick ihrer wachen Sinne. So saß ich da, stumm, eine Stunde
-vielleicht oder zwei über den Schlaf dieses fremden Wesens gebeugt, und
-allmählich ward mirs, als sei es keine Frau mehr, kein Mensch, der hier
-abenteuerlich sich mir genaht, sondern die Nacht selbst, das Geheimnis
-der lechzenden, gequälten Natur, das sich mir aufgetan. Mir war, als
-läge hier unter meinen Händen die ganze heiße Welt mit ihren
-entschwülten Sinnen, als hätte sich die Erde aufgebäumt in ihrer Qual
-und sie als Boten gesandt aus dieser seltsamen, phantastischen Nacht.
-
-Etwas klirrte hinter mir. Ich fuhr auf wie ein Verbrecher. Nochmals
-klirrte das Fenster, als rüttelte eine riesige Faust daran. Ich sprang
-auf. Vor dem Fenster stand ein Fremdes: eine verwandelte Nacht, neu und
-gefährlich, schwarzfunkelnd und voll wilder Regsamkeit. Ein Sausen war
-dort, ein furchtbares Rauschen, und schon baute sichs auf zum schwarzen
-Turm des Himmels, schon warf sichs mir entgegen aus der Nacht, kalt,
-feucht und mit wildem Stoß: der Wind. Aus dem Dunkel sprang er, gewaltig
-und stark, seine Fäuste rissen an den Fenstern, hämmerten gegen das
-Haus. Wie ein furchtbarer Schlund war das Finstere aufgetan, Wolken
-fuhren heran und bauten schwarze Wände in rasender Eile empor, und etwas
-sauste gewalttätig zwischen Himmel und Welt. Weggerissen war die
-beharrliche Schwüle von dieser wilden Strömung, alles flutete, dehnte,
-regte sich, eine rasende Flucht war von einem Ende zum andern des
-Himmels, und die Bäume, die festgewurzelten in der Erde, stöhnten unter
-der unsichtbaren, sausenden, pfeifenden Peitsche des Sturmes. Und
-plötzlich riß dies weiß entzwei: ein Blitz, den Himmel spaltend bis zur
-Erde hinab. Und hinter ihm knatterte der Donner, als krachte das ganze
-Gewölk in die Tiefe. Hinter mir rührte sichs. Sie war aufgefahren. Der
-Blitz hatte den Schlaf von ihren Augen gerissen. Verwirrt starrte sie um
-sich. »Was ists,« sagte sie, »wo bin ich?« Und ganz anders war die
-Stimme als vordem. Angst bebte noch darin, aber der Ton klang jetzt
-klar, war scharf und rein wie die neugegorene Luft. Wieder riß ein Blitz
-den Rahmen der Landschaft auf: im Flug sah ich den erhellten Umriß der
-Tannen, geschüttelt vom Sturm, die Wolken, die wie rasende Tiere über
-den Himmel liefen, das Zimmer kalkweiß erhellt und weißer als alles ihr
-blasses Gesicht. Sie sprang empor. Ihre Bewegungen waren mit einemmal
-frei, wie ich sie nie an ihr gesehen. Sie starrte mich an in der
-Dunkelheit. Ich spürte ihren Blick schwärzer als die Nacht. »Wer sind
-Sie ... Wo bin ich?« stammelte sie und raffte erschreckt das
-aufgesprengte Gewand über der Brust zusammen. Ich trat näher, sie zu
-beruhigen, aber sie wich aus. »Was wollen Sie von mir?« schrie sie mit
-voller Kraft, da ich ihr nahe kam. Ich wollte ein Wort suchen, um sie zu
-beruhigen, sie anzusprechen, aber da merkte ich erst, daß ich ihren
-Namen nicht kannte. Wieder warf ein Blitz Licht über das Zimmer. Wie mit
-Phosphor bestrichen, blendeten kalkweiß die Wände, weiß stand sie vor
-mir, die Arme im Schrecken gegen mich gestemmt, und in ihrem nun wachen
-Blick war grenzenloser Haß. Vergebens wollte ich im Dunkel, das mit dem
-Donner auf uns niederfiel, sie fassen, beruhigen, ihr etwas erklären,
-aber sie riß sich los, stieß die Türe auf, die ein neuer Blitz ihr wies,
-und stürzte hinaus. Und mit der Tür, die zufiel, krachte der Donner
-nieder, als seien alle Himmel auf die Erde gefallen.
-
-Und dann rauschte es, Bäche stürzten von unendlicher Höhe wie
-Wasserfälle, und der Sturm schwenkte sie als nasse Taue prasselnd hin
-und her. Manchmal schnellte er Büschel eiskalten Wassers und süßer,
-gewürzter Luft zum Fensterrahmen herein, wo ich schauend stand, bis das
-Haar mir naß war und ich troff von den kalten Schauern. Aber ich war
-selig, das reine Element zu fühlen, mir war, als löste nun auch meine
-Schwüle sich in den Blitzen los, und ich hätte schreien mögen vor Lust.
-Alles vergaß ich in dem ekstatischen Gefühl, wieder atmen zu können und
-frisch zu sein, und ich sog diese Kühle in mich wie die Erde, wie das
-Land: ich fühlte den seligen Schauer des Durchrütteltseins wie die
-Bäume, die sich zischend schwangen unter der nassen Rute des Regens.
-Dämonisch schön war der wollüstige Kampf des Himmels mit der Erde, eine
-gigantische Brautnacht, deren Lust ich mitfühlend genoß. Mit Blitzen
-griff der Himmel herab, mit Donner stürzte er auf die Erbebende nieder,
-und es war in diesem stöhnenden Dunkel ein rasendes Ineinandersinken von
-Höhe und Tiefe, wie von Geschlecht zu Geschlecht. Die Bäume stöhnten vor
-Wollust, und mit immer glühenderen Blitzen flocht sich die Ferne
-zusammen, man sah die heißen Adern des Himmels offen stehen, sie
-sprühten sich aus und mengten sich mit den nassen Rinnsalen der Wege.
-Alles brach auseinander und stürzte zusammen, Nacht und Welt -- ein
-wunderbarer neuer Atem, in den sich der Duft der Felder vermengte mit
-dem feurigen Odem des Himmels, drang kühl in mich ein. Drei Wochen
-zurückgehaltener Glut rasten sich in diesem Kampf aus, und auch in mir
-fühlte ich die Entspannung. Es war mir, als rauschte der Regen in meine
-Poren hinein, als durchsause reinigend der Wind meine Brust, und ich
-fühlte mich und mein Erleben nicht mehr einzeln und beseelt, ich war nur
-Welt, Orkan, Schauer, Wesen und Nacht im Überschwang der Natur. Und
-dann, als alles mählich stiller war, die Blitze bloß blau und
-ungefährlich den Horizont umschweiften, der Donner nur mehr väterlich
-mahnend grollte und das Rauschen des Regens rhythmisch ward im
-ermattenden Wind, da kam auch mich ein Leiserwerden und Müdigkeit an.
-Wie Musik fühlte ich meine schwingenden Nerven erklingen, und sanfte
-Gelöstheit sank in meine Glieder. Oh, schlafen jetzt mit der Natur und
-dann aufwachen mit ihr! Ich warf die Kleider ab und mich ins Bett. Noch
-waren weiche, fremde Formen darin. Ich spürte sie dumpf, das seltsame
-Abenteuer wollte sich noch einmal besinnen, aber ich verstand es nicht
-mehr. Der Regen draußen rauschte und rauschte und wusch mir meine
-Gedanken weg. Ich fühlte alles nur mehr als Traum. Immer wollte ich noch
-etwas zurückdenken von dem, was mir geschehen war, aber der Regen
-rauschte und rauschte, eine wunderbare Wiege war die sanfte, klingende
-Nacht, und ich sank in sie hinein, einschlummernd in ihrem Schlummer.
-
-Am nächsten Morgen, als ich ans Fenster trat, sah ich eine verwandelte
-Welt. Klar, mit festen Umrissen, heiter lag das Land in sicherem,
-sonnigem Glanz, und hoch über ihm, ein leuchtender Spiegel dieser
-Stille, wölbte der Horizont sich blau und fern. Klar waren die Grenzen
-gezogen, unendlich fern stand der Himmel, der gestern sich tief hinab in
-die Felder gewühlt und sie fruchtbar gemacht. Jetzt aber war er fern,
-weltenweit und ohne Zusammenhang, nirgends rührte er sie mehr an, die
-duftende, atmende, gestillte Erde, sein Weib. Ein blauer Abgrund
-schimmerte kühl zwischen ihm und der Tiefe, wunschlos blickten sie
-einander an und fremd, der Himmel und die Landschaft.
-
-Ich ging hinab in den Saal. Die Menschen waren schon beisammen. Anders
-war auch ihr Wesen als in diesen entsetzlichen Wochen der Schwüle. Alles
-regte und bewegte sich. Ihr Lachen klang hell, ihre Stimmen melodisch,
-metallen, die Dumpfheit war entflogen, die sie behinderte, das schwüle
-Band gesunken, das sie umflocht. Ich setzte mich zwischen sie, ganz ohne
-Feindlichkeit, und irgendeine Neugier suchte nun auch die Andere, deren
-Bild mir der Schlaf fast entwunden. Und wirklich, zwischen Vater und
-Mutter am Nebentisch saß sie dort, die ich suchte. Sie war heiter, ihre
-Schultern leicht, und ich hörte sie lachen, klingend und unbesorgt.
-Neugierig umfaßte ich sie mit dem Blick. Sie bemerkte mich nicht. Sie
-erzählte irgend etwas, das sie froh machte, und zwischen die Worte
-perlte ein kindliches Lachen hinein. Endlich sah sie gelegentlich auch
-zu mir hinüber, und bei dem flüchtigen Anstreifen stockte unwillkürlich
-ihr Lachen. Sie sah mich schärfer an. Etwas schien sie zu befremden, die
-Brauen schoben sich hoch, streng und gespannt umfragte mich ihr Auge,
-und allmählich bekam ihr Gesicht einen angestrengten, gequälten Zug, als
-ob sie sich durchaus auf etwas besinnen wollte und es nicht vermöchte.
-Ich blieb erwartungsvoll mit ihr Blick in Blick, ob nicht ein Zeichen
-der Erregung oder der Beschämung mich grüßen würde, aber schon sah sie
-wieder weg. Nach einer Minute kam ihr Blick noch einmal, um sich zu
-vergewissern, zurück. Noch einmal prüfte er mein Gesicht. Eine Sekunde
-nur, eine lange gespannte Sekunde, fühlte ich seine harte, stechende,
-metallene Sonde tief in mich dringen, doch dann ließ ihr Auge mich
-beruhigt los, und an der unbefangenen Helle ihres Blickes, der leichten,
-fast frohen Wendung ihres Kopfes spürte ich, daß sie wach nichts mehr
-von mir wußte, daß unsere Gemeinschaft versunken war mit der magischen
-Dunkelheit. Fremd und weit waren wir wieder einander wie Himmel und
-Erde. Sie sprach zu ihren Eltern, wiegte unbesorgt die schlanken,
-jungfräulichen Schultern, und heiter glänzten im Lächeln die Zähne unter
-den schmalen Lippen, von denen ich doch noch vor Stunden den Durst und
-die Schwüle einer ganzen Welt getrunken.
-
-
-
-
- Phantastische Nacht
-
-
-Die nachfolgenden Aufzeichnungen fanden sich als versiegeltes Paket im
-Schreibtisch des Barons Friedrich Michael von R..., nachdem er im Herbst
-1914 als österreichischer Reserveoberleutnant bei einem Dragonerregiment
-in der Schlacht bei Rawaruska gefallen war. Da die Familie nach der
-Titelüberschrift und bloß flüchtigem Einblick in diesen Blättern nur
-eine literarische Arbeit ihres Verwandten vermutete, übergaben sie mir
-die Aufzeichnungen zur Prüfung und stellten mir ihre Veröffentlichung
-anheim. Ich persönlich halte diese Blätter nun durchaus nicht für eine
-erfundene Erzählung, sondern für ein wirkliches, in allen Einzelheiten
-tatsächliches Erlebnis des Gefallenen und veröffentliche unter
-Unterdrückung des Namens seine seelische Selbstenthüllung ohne jede
-Änderung und Beifügung.
-
- * * * * *
-
-Heute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte das
-Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, um die
-ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal geordnet zu
-überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich einen
-unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer
-darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbarkeit
-der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte
-künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen
-Dingen, und abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im
-Theresianum habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich weiß
-zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare Technik gibt,
-um die Aufeinanderfolge von äußern Dingen und ihre gleichzeitige innere
-Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob ich es vermag, dem Sinn immer
-das rechte Wort, dem Wort den rechten Sinn zu geben und so jene Balance
-zu gewinnen, die ich von je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt
-spürte. Aber ich schreibe diese Zeilen ja nur für mich, und sie sind
-keineswegs bestimmt, etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag,
-andern verständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgendeinem
-Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerzhaft
-quellender Gärung bewegt, in einem gewissen Sinne endlich einmal fertig
-zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und von allen Seiten zu
-umfassen.
-
-Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, eben aus
-jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht verständlich
-machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von einer so zufälligen
-Angelegenheit dermaßen erschüttert und umgewühlt worden zu sein. Denn
-das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Erlebnis. Aber wie ich dies
-Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für
-einen Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht
-zu wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit
-sich an das einfachste Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein
-»kleines« nenne, so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinn, im
-Gegensatz zu den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze
-Völker und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im
-zeitlichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum umspannt
-als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies -- im allgemeinen Sinn
-also kleine, unbedeutsame und unwichtige -- Erlebnis so ungeheuer viel,
-daß ich heute -- vier Monate nach jener phantastischen Nacht -- noch
-davon glühe und alle meine geistigen Kräfte anspannen muß, um es in
-meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich wiederhole ich mir alle
-seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen der Drehpunkt meiner
-ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue und rede, ist unbewußt von
-ihm bestimmt, meine Gedanken beschäftigen sich einzig damit, sein
-plötzliches Geschehen immer und immer wieder zu wiederholen und durch
-dieses Wiederholen mir als Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch
-mit einemmal, was ich vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte,
-bewußt noch nicht ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt
-hinschreibe, um es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu
-haben, es noch einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig
-zu erfassen. Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich
-wollte damit fertig werden, indem ich es niederschreibe, im Gegenteil,
-ich will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich
-warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu können. Oh,
-ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes schwülen Nachmittags,
-jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich brauche kein Merkzeichen,
-keine Meilensteine, um in der Erinnerung den Weg jener Stunden Schritt
-für Schritt zurückzugehen: wie ein Traumwandler finde ich jederzeit
-mitten im Tage, mitten in der Nacht in seine Sphäre zurück, und jede
-Einzelheit sehe ich darin mit jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz
-kennt und nicht das weiche Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das
-Papier die Umrisse jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft
-ergrünten Landschaft hinzeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz
-lind das weiche staubige Qualmen der Kastanienblüten; wenn ich also noch
-einmal diese Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie
-zu verlieren, sondern aus Freude, sie wiederzufinden. Und wenn ich jetzt
-in der genauen Aufeinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht
-darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen,
-denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine
-Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich, und ich
-muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein farbiger
-Rausch, ineinanderstürzen. Noch immer erlebe ich mit leidenschaftlicher
-Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, da ich mir
-mittags einen Fiaker nahm ...
-
-Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder werde
-ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines einzelnen
-Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhange etwas
-erzählen soll, merke ich erst, wie schwer es ist, jenes Gleitende, das
-doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zu fassen. Eben
-habe ich »ich« hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 1913 mir
-mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon eine
-Undeutlichkeit, denn jenes »Ich« von damals, von jenem 7. Juni, bin ich
-längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem vergangen sind,
-obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen »Ich« wohne und an seinem
-Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand schreibe. Von
-diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch jenes Erlebnis ganz
-abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd und kühl, und kann
-ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen Kameraden, einen Freund,
-von dem ich vieles und Wesentliches weiß, der ich aber doch selbst
-durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über ihn sprechen, ihn tadeln oder
-verurteilen, ohne überhaupt zu empfinden, daß er mir einst zugehört hat.
-
-Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in Wenigem äußerlich
-und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die man
-besonders bei uns in Wien die »gute Gesellschaft« ohne besonderen Stolz,
-sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. Ich ging in
-das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh gestorben und
-hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen hinterlassen, das
-sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den Gedanken an Erwerb
-und Karriere gänzlich mir zu erübrigen. So wurde mir unvermutet eine
-Entscheidung abgenommen, die mich damals sehr beunruhigte. Ich hatte
-nämlich gerade meine Universitätsstudien vollendet und stand vor der
-Wahl meines zukünftigen Berufes, der wahrscheinlich dank unserer
-Familienbeziehungen und meiner schon früh vortretenden Neigung zu einer
-ruhig ansteigenden und kontemplativen Existenz auf den Staatsdienst
-gefallen wäre, als dies elterliche Vermögen an mich als einzigen Erben
-fiel und mir eine plötzliche arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte,
-selbst im Rahmen weitgespannter und sogar luxuriöser Wünsche. Ehrgeiz
-hatte mich nie bedrängt, so beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar
-Jahre zuzusehen und zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde,
-mir selbst einen Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem
-Zuschauen und Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte,
-erreichte ich alles im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und
-wollüstige Stadt Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das
-nichtstuerische Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu
-künstlerischen Vollendung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich
-die Absicht einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle
-Befriedigung eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu
-noch ehrgeizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des
-Spiels, der Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und
-Ausflüge, und bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit
-wissender Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte
-seltene Gläser, weniger aus einer inneren Leidenschaft als aus der
-Freude, innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und
-Kenntnis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besonderen
-Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildern in der Art des
-Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen zu
-erstehen voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen Spannung
-war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit Geschmack, fehlte
-selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer Maler. Bei Frauen
-mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte ich mit dem geheimen
-sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere Unbeschäftigtkeit deutet,
-mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare Stunden des Erlebens
-aufgehäuft, und hier allmählich vom bloßen Genießer mich zum wissenden
-Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel erlebt, was mir angenehm den
-Tag füllte und meine Existenz mich als eine reiche empfinden ließ, und
-immer mehr begann ich diese laue, wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig
-belebten und doch nie erschütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue
-Wünsche schon, denn ganz geringe Dinge vermochten sich schon in der
-windstillen Luft meiner Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine
-gutgewählte Krawatte konnte mich fast schon froh machen, ein schönes
-Buch, ein Automobilausflug oder eine Stunde mit einer Frau mich restlos
-beglücken. Ganz besonders wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß
-sie in keiner Weise, ganz wie ein tadellos korrekter englischer Anzug,
-in keiner Weise der Gesellschaft auffiel. Ich glaube, man empfand mich
-als eine angenehme Erscheinung, ich war beliebt und gerne gesehen, und
-die meisten, die mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen.
-
-Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals, den ich
-mir zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie jene anderen als
-einen Glücklichen empfand; denn nun, wo ich aus jenem Erlebnis für jedes
-Gefühl einen viel volleren und erfüllteren Sinn fordere, scheint mir
-jede rückerinnernde Wertung fast unmöglich. Doch vermag ich mit
-Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener Zeit keineswegs als
-unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine Wünsche unerfüllt und
-meine Anforderungen an das Leben unerwidert. Aber gerade dies, daß ich
-mich daran gewöhnt hatte, alles Geforderte vom Schicksal zu empfangen
-und darüber hinaus nichts mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte
-allmählich einen gewissen Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im
-Leben selbst. Was sich damals unbewußt in manchen Augenblicken der
-Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich
-Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker,
-unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und
-vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine
-allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem
-Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß ich
-immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in mein
-Gefühl gekommen war, daß ich -- vielleicht ist es am besten so
-ausgedrückt -- an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur
-leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen
-erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater
-und in der Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen
-öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden
-waren und sie dann unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch
-liegen ließ, daß ich zwar mechanisch weiter meine Liebhabereien
-sammelte, Gläser und Antiken kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen und
-mich eines seltenen und langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb
-sonderlich zu freuen.
-
-Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise
-Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten
-Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer --
-auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem
-sich lebhaft angelockt fühlte -- in Wien geblieben, als ich plötzlich
-aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei
-Jahren eine intime Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig
-meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten
-Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen Mann kennengelernt, der ihr
-viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn im Herbst heiraten, und
-zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende sein. Sie denke ohne Reue, ja
-mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte Zeit zurück, der Gedanke an
-mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste ihres vergangenen
-Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen Entschluß
-verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte
-Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht
-zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle
-keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit
-gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch
-bei einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn
-sie sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als
-Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts
-Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!« Ich las diesen Brief,
-zuerst überrascht von der Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert,
-noch ein zweites Mal und nun mit einer gewissen Beschämung, die sich
-bewußt werdend rasch zu einem inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts
-von allen den starken und doch natürlichen Empfindungen, die meine
-Geliebte als selbstverständlich voraussetzte, hatte sich auch nur
-andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer
-Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an
-eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte
-des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht
-selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines
-Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen
-aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und
-nichts rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie
-zurückzuerobern, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem,
-was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem
-wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir
-zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir
-fortgeschritten war -- ich glitt eben durch wie auf fließendem,
-spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu sein, und ich
-wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichenhaftes war, noch
-nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Verwesung, aber doch schon
-rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit, die Minute also, die
-dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch äußerlich sichtbaren
-Verfall vorangeht. Seit jener Episode begann ich mich und diese
-merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu beobachten wie ein
-Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf ein Freund von mir starb und
-ich hinter seinem Sarge ging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht
-eine Trauer in mir rühre, irgendein Gefühl sich in dem Bewußtsein
-spanne, dieser mir seit Kindheitstagen nahe Mensch sei nun für immer
-verloren. Aber es regte sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas
-Gläsernes vor, durch das die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen
-zu sein, und so sehr ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen
-auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu
-Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre
-zurück. Menschen verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es
-kaum anders wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben,
-zwischen mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich
-mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte.
-
-Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf mir diese Erkenntnis doch
-keine rechte Beunruhigung, denn ich sagte es ja schon, daß ich auch
-Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum
-Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, daß dieser
-seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, wie etwa die
-körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in der intimen
-Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft durch eine
-künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch spontane
-Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation daran, zu
-verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteilslos und abgestorben wußte.
-Äußerlich lebte ich mein altes behagliches, hemmungsloses Leben weiter,
-ohne seine Richtung zu ändern; Wochen, Monate glitten leicht vorüber und
-füllten sich langsam dunkel zu Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel
-einen grauen Streif an meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend
-langsam hinüber wollte in eine andere Welt. Aber was andere Jugend
-nannten, war in mir längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht
-sonderlich weh, denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug.
-Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.
-
-Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr
-gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und
-Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen
-und gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. Und ganz gewöhnlich, ohne
-jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen, begann auch jener
-einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich war damals am
-7. Juni 1913 später aufgestanden, aus dem noch von der Kindheit, von den
-Schuljahren her unbewußt nachklingenden Sonntagsgefühl, hatte mein Bad
-genommen, die Zeitung gelesen und in Büchern geblättert, war dann,
-verlockt von dem warmen sommerlichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer
-drang, spazierengegangen, hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso
-überquert, zwischen Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen
-mit irgendeinem von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei
-Freunden zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder
-Vereinbarung ausgewichen, denn ich liebte es insbesondere, am Sonntag
-ein paar unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall
-meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgendeiner spontanen
-Entschließung gehörten. Als ich dann, von meinen Freunden kommend, die
-Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der besonnten
-Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmücktheit. Die
-Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in die
-Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf und vor
-allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume mitten aus dem
-Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast täglich hier vorüberging,
-wurde ich dieses sonntäglichen Menschengewühls plötzlich wie eines
-Wunders gewahr, und unwillkürlich bekam ich Sehnsucht nach viel Grün,
-nach Helligkeit und Buntheit. Ich erinnerte mich mit ein wenig Neugier
-des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die schweren
-Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen
-durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten
-eleganten Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. Gewohnt, auch dem
-flüchtigsten meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten
-Fiaker an, der mir in den Weg kam, und bedeutete ihm auf seine Frage den
-Prater als Ziel. »Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?« antwortete er mit
-devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, daß heute
-ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, wo die ganze gute
-Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam, dachte ich mir,
-während ich in den Wagen stieg, wie wäre es noch vor ein paar Jahren
-möglich gewesen, daß ich einen solchen Tag versäumt oder vergessen
-hätte! Wieder spürte ich, so wie ein Kranker bei einer Bewegung seine
-Wunde, an dieser Vergeßlichkeit die ganze Starre der Gleichgültigkeit,
-der ich verfallen war.
-
-Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das Rennen
-mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle Auffahrt der
-Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten mit knatternden
-Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis her. Der Kutscher wandte
-sich am Bock und fragte, ob er scharf traben solle; aber ich hieß ihn,
-die Pferde ruhig gehen zu lassen, denn mir lag nichts an einem
-Zuspätkommen. Ich hatte zu viel Rennen gesehen und zu oft die Menschen
-bei ihnen, als daß mir ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, und
-es entsprach besser meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des
-Wagens die blaue Luft wie Meer vom Bord eines Schiffes lindrauschend zu
-fühlen und ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume
-anzusehen, die manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar
-Blütenflocken zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und
-wirbelte, ehe er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig,
-sich so wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen,
-ohne jede Anstrengung beschwingt und fortgetragen sich zu empfinden:
-eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der
-Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter wiegen
-zu lassen von dem weichen, frühsommerlichen Tag. Aber es war schon zu
-spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. Ein dumpfes Brausen schlug mir
-entgegen. Wie ein Meer scholl es dumpf und hohl hinter den aufgestuften
-Tribünen, ohne daß ich die bewegte Menge sah, von der dieses geballte
-Geräusch ausging, und unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn
-man von der niederen Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade
-emporsteigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und
-ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift über die weite
-grauschäumige Fläche mit ihren donnernden Wellen. Ein Rennen mußte
-gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem Rasen, auf dem jetzt wohl
-die Pferde hinflitzten, stand ein farbiger dröhnender, wie von einem
-inneren Sturm hin und her geschüttelter Qualm, die Menge der Zuschauer
-und Spieler. Ich konnte die Bahn nicht sehen, spürte aber im Reflex der
-gesteigerten Erregung jede sportliche Phase. Die Reiter mußten längst
-gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die
-Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die
-geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten,
-Schreie los und aufgeregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte
-ich die Biegung, an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen
-Rasenoval angelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer
-zusammengefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das
-ganze Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus
-diesem einen ausgespannten Hals grölte und gurgelte mit tausenden
-zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und diese
-Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum bis zum
-gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie
-waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und
-funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern
-pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese
-unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir stand auf einem Sessel
-ein Mann, elegant gekleidet, mit einem sonst wohl guten Gesicht, jetzt
-aber tobte er, von einem unsichtbaren Dämon beteufelt, er fuchtelte mit
-dem Stock in die leere Luft hinein, als peitschte er etwas vorwärts,
-sein ganzer Körper machte -- unsagbar lächerlich für einen Zuschauer --
-die Bewegung des Raschreitens leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln
-wippte er mit den Fersen unablässig auf und nieder über dem Sessel, die
-rechte Hand jagte den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die linke
-knüllte krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen
-Zettel flatterten herum, wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser
-graudurchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve
-ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einem Male ballte
-sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die immer wieder
-einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und diese Schreie
-schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit.
-
-Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen im
-donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich in jener
-Minute empfand.
-
-Das Lächerliche vorerst all dieser fratzenhaften Gebärden, eine
-ironische Verachtung für das Pöbelhafte des Ausbruches, aber doch noch
-etwas anderes, das ich mir ungern eingestand -- irgendeinen leisen Neid
-nach solcher Erregung, solcher Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben,
-das in diesem Fanatismus war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich
-dermaßen zu erregen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein
-Körper so brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen
-würde? Keine Summe konnte ich mir denken, deren Besitz mich so anfeuern
-könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts gab es, was
-aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurigkeit entfachen
-könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde mein Herz, eine
-Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern, wie das in den
-tausend, zehntausend Menschen rings um mich für eine Handvoll Geld. Aber
-jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu einem einzigen,
-immer schriller werdenden Schrei von tausenden Stimmen gellte jetzt wie
-eine hochgespannte Saite ein bestimmter Name empor aus dem Tumult, um
-dann schrill mit einem Male zu zerreißen. Die Musik begann zu spielen,
-plötzlich zerbrach die Menge. Eine Runde war zu Ende, ein Kampf
-entschieden, die Spannung löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff
-nachschwingende Bewegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel
-Leidenschaft, fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende,
-sprechende Menschen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der
-mänadischen Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für
-Sekunden diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen
-hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die
-zusammentraten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich
-grüßten, fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und
-betrachteten. Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen
-Toiletten, die Männer warfen begehrliche Blicke, jene mondäne Neugier,
-die der Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu
-entfalten, man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und
-Eleganz. Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen
-nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst
-der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war.
-
-Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete wohlig
--- war es doch die Atmosphäre meiner Existenz -- den Duft von Parfüm und
-Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander umschwebte, und noch
-freudiger die leise Brise, die von drüben aus den Praterauen, aus dem
-sommerlich durchwärmten Walde manchmal ihre Welle zwischen die Menschen
-warf und den weißen Musselin der Frauen wie wollüstig-spielend
-betastete. Ein paar Bekannte wollten mich ansprechen, Diane, die schöne
-Schauspielerin, nickte einladend aus einer Loge herüber, aber ich ging
-keinem zu. Es interessierte mich nicht, mit einem dieser mondänen
-Menschen heute zu sprechen, es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich
-selbst zu sehen, nur das Schauspiel wollte ich umfassen, die
-knisternd-sinnliche Erregung, die durch die aufgesteigerte Stunde ging
-(denn der anderen Erregtheit ist gerade dem Teilnahmslosen das
-angenehmste Schauspiel). Ein paar schöne Frauen gingen vorbei, ich sah
-ihnen frech, aber ohne innerliches Begehren auf die Brüste, die unter
-der dünnen Gaze bei jedem Schritt bebten und lächelte innerlich über
-ihre halb peinliche, halb wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so
-sinnlich abgeschätzt und frech entkleidet fühlten. In Wirklichkeit
-reizte mich keine, es machte mir nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen
-so zu tun, das Spiel mit dem Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir
-Freude, die Lust, sie körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im
-Auge zu fühlen; denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein
-eigentlichster erotischer Genuß, in anderen Wärme und Unruhe zu erregen,
-statt mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die
-Gegenwart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen,
-nicht eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So
-ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie leicht
-wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen ohne zu
-fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des Spiels.
-
-Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen kamen
-vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre Gesten. Ein
-Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Ringsum begann in den
-Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger schüttelten und stießen
-sich die Vorübergehenden durcheinander; offenbar sollte ein neues Rennen
-wieder anheben. Ich kümmerte mich nicht darum, saß weich und irgendwie
-versunken unter dem Kringel meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt
-gegen den Himmel hob, wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im
-Frühlingsblau verging. In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes
-einzige Erlebnis, das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz
-genau den Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die
-Uhr gesehen: die Zeiger kreuzten sich, und ich sah ihnen mit jener
-unbeschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten.
-Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni 1913.
-Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße Zifferblatt,
-ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen Betrachtung, als
-ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut lachen hörte, mit jenem
-scharfen, erregten Lachen, wie ich es bei Frauen liebe, jenem Lachen,
-das ganz warm und aufgeschreckt aus dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit
-vorspringt. Unwillkürlich bog es mir den Kopf zurück, schon wollte ich
-die Frau anschauen, deren laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose
-Träumerei schlug wie ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen,
-schlammigen Teich -- da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am
-geistigen Spiel, am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment,
-wie sie mich oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende
-noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust, meine
-Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein
-Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze
-lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen.
-
-Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war wieder
-Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit leichtem
-ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale breit
-ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser Rede nun die
-Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst üppig
-auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen breiten,
-sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen, eine ganz
-schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zitternden Nüstern.
-Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheitspflästerchen, in die
-Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie sich beim Lachen leicht an
-den Schenkel schlug. Sie sprach weiter und weiter. Und jedes ihrer Worte
-fügte meiner blitzschnell gebildeten Phantasievorstellung ein neues
-Detail hinzu: eine schmale mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid
-mit einer schief gesteckten Brillantspange, einen hellen Hut mit einem
-weißen Reiher. Immer deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich
-diese fremde Frau, die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf
-einer belichteten Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht
-umwenden, dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein
-leises Rieseln von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich
-schloß beide Augen, gewiß, daß, wenn ich die Lider auftäte und mich ihr
-zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußeren sich decken würde.
-
-In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die Augen auf
--- und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben geraten, alles war
-anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu meinem Phantasiebild.
-Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid, war nicht schlank,
-sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der vollen Wange tupfte
-sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die Haare leuchteten
-rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen Hut. Keines meiner
-Merkmale stimmte zu ihrem Bilde; aber diese Frau war schön,
-herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekränkt im törichten Ehrgeiz
-meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit anzuerkennen wehrte.
-Fast feindlich sah ich zu ihr empor; aber auch der Widerstand in mir
-spürte den starken sinnlichen Reiz, der von dieser Frau ausging, das
-Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen und gleichzeitig weichen
-Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder laut, ihre festen weißen
-Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir sagen, daß dieses heiße
-sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres Wesens wohl im Einklang stand;
-alles an ihr war so vehement und herausfordernd, der gewölbte Busen, das
-im Lachen vorgestoßene Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase,
-die Hand, die den Schirm fest gegen den Boden stemmt. Hier war das
-weibliche Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein
-fleischgewordenes Wollustfanal. Neben ihr stand ein eleganter, etwas
-fanierter Offizier und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm
-zu, lächelte, lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn
-gleichzeitig glitt ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin,
-gleichsam allen zu: sie sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem,
-der vorüberging und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen
-ringsum ein. Ihr Blick war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die
-Tribünen entlang, um dann plötzlich, freudigen Erkennens, einen Gruß zu
-erwidern, bald streifte er -- während sie dem Offizier immer lächelnd
-und eitel zuhörte -- nach rechts, bald nach links. Nur mich, der ich,
-von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er noch
-nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf -- sie sah mich nicht.
-Ich drängte mich näher -- nun blickte sie wieder zu den Tribünen hinauf.
-Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete den Hut gegen ihren
-Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie blickte mir erstaunt
-entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre Augen, schmeichlerisch bog
-sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber dann dankte sie nur kurz und nahm
-den Sessel, ohne sich zu setzen. Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen
-entblößten Arm stützte sie weich an die Lehne und nützte die leichte
-Biegung ihres Körpers, um seine Formen sichtbarer zu zeigen.
-
-Der Ärger über meine falsche Psychologie war längst vergessen, mich
-reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an die Wand
-der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren konnte,
-stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen die ihren. Sie
-merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungsplatze zu, aber doch
-so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige schien, wehrte mir nicht,
-antwortete mir gelegentlich und doch unverpflichtend. Unablässig gingen
-ihre Augen im Kreise, alles rührten sie an, nichts hielten sie fest --
-war ich es allein, dem sie begegnend ein schwarzes Lächeln zustrahlten
-oder gab sie es an jeden? Das war nicht zu unterscheiden, und eben diese
-Ungewißheit irritierte mich. In den Intervallen, wo wie ein Blinkfeuer
-ihr Blick mich anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der
-gleichen stahlglänzenden Pupille parierte sie auch ohne jede Wahl jeden
-anderen Blick, der ihr zuflog, ganz nur aus koketter Freude am Spiel,
-vor allem aber, ohne dabei für eine Sekunde scheinbar interessiert das
-Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war in
-diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie oder
-ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich trat ich
-einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich übergegangen. Ich
-sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie fachmännisch von oben
-bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die Kleider auf und spürte sie
-nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne irgendwie beleidigt zu sein,
-lächelte mit den Mundwinkeln zu dem plaudernden Offizier, aber ich
-merkte, daß dies wissende Lächeln meine Absicht quittierte. Und wie ich
-jetzt auf ihren Fuß sah, der klein und zart unter dem weißen Kleide
-vorlugte, streifte sie mit dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab.
-Dann, im nächsten Augenblick hob sie wie zufällig den Fuß und stellte
-ihn auf die erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das
-durchbrochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig
-schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder
-maliziös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos wie
-ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegenheit
-haßvoll bewundern; denn während sie mir mit falscher Heimlichkeit das
-Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in das
-Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in einem
-und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich haßte
-gerade an anderen diese Art kalter und boshaft berechnender
-Sinnlichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so
-blutschänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt,
-vielleicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und
-griff sie brutal an mit den Blicken. »Ich will dich, du schönes Tier,«
-sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine
-Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte mit leiser Verächtlichkeit,
-den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den entblößten
-Fuß. Aber im nächsten Augenblick wanderte die schwarze Pupille wieder
-funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich, daß sie ebenso
-kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir beide kühl mit einer
-fremden Hitze spielten, die selber wieder nur gemaltes Feuer war, aber
-doch schön anzusehen und heiter zu spielen inmitten eines dumpfen Tags.
-
-Plötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde Glanz
-glomm aus, eine kleine ärgerliche Falte krümmte sich um den eben noch
-lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner,
-dicker Herr, den die Kleider faltig umplusterten, steuerte eilig auf sie
-zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschentuch
-abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief auf den
-Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze sehen
-(unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut abnehme, dicke
-Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir widerlich). In der
-beringten Hand hielt er ein ganzes Bündel Ticketts. Er prustete förmlich
-vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau zu beachten, in lautem
-Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte sofort einen Fanatiker des
-Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler besserer Kategorie, für den das
-Spiel die einzige Ekstase war, das erlauchte Surrogat des Sublimen.
-Seine Frau mußte ihm offenbar jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sie
-war sichtlich geniert von seiner Gegenwart und gestört in ihrer
-elementaren Sicherheit), denn er richtete sich, anscheinend auf ihr
-Geheiß, den Hut zurecht, lachte sie dann jovial an und klopfte ihr mit
-gutmütiger Zärtlichkeit auf die Schulter. Wütend zog sie die Brauen
-hoch, abgestoßen von der ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart
-des Offiziers und vielleicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er
-schien sich zu entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte
-zu dem Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm
-aber dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß
-sie sich seiner Intimität vor uns schämte und genoß ihre Erniedrigung
-mit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie
-sich wieder gefaßt, und während sie sich weich an seinen Arm drückte,
-glitt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er: »Siehst du, der
-hat mich, und nicht du.« Ich war wütend und degoutiert zugleich.
-Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um ihr zu
-zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich nicht mehr
-interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb.
-
-Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einemmal
-war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt, floß
-wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vorn zur Barriere.
-Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit nötig, nicht mitgerissen zu werden,
-denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe bleiben, vielleicht bot
-sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden Blick, einem Griff,
-irgendeiner spontanen Frechheit, die ich jetzt noch nicht wußte, und so
-stieß ich mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In
-diesem Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um
-einen guten Platz an der Tribüne zu ergattern, und so stießen wir beide,
-jeder von einem andern Ungestüm geschleudert, mit so viel Heftigkeit
-gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die Ticketts, die
-daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten und wie rote,
-blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden staubten. Einen
-Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich mich entschuldigen,
-aber irgendein böser Wille verschloß mir die Lippen, im Gegenteil: ich
-sah ihn kühl mit einer leisen, frechen und beleidigenden Provokation an.
-Sein Blick flackerte eine Sekunde lang unsicher auf von rot
-aufsteigender, aber ängstlich sich drückender Wut hochgeschnellt, brach
-aber feige zusammen vor dem meinen. Mit einer unvergeßlichen, fast
-rührenden Ängstlichkeit sah er mir eine Sekunde in die Augen, dann bog
-er sich weg, schien sich plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und
-bückte sich, um sie und den Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem
-Zorn, rot im Gesicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm
-gelassen hatte, mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am
-liebsten geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant
-stehen, sah lächelnd ohne zu helfen zu, wie der überdicke Gemahl sich
-keuchend bückte und vor meinen Füßen herumkroch, um seine Ticketts
-aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie die Federn
-einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob sich den roten
-Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder Beugung. Unwillkürlich
-kam mir, wie ich ihn so keuchen sah, ein unanständiger und
-unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in ehelichem Alleinsein mit
-seiner Gattin vor, und übermütig geworden an dieser Vorstellung,
-lächelte ich geradeaus in ihrem kaum mehr beherrschten Zorn. Sie stand
-da, jetzt wieder blaß und ungeduldig und kaum mehr sich beherrschen
-könnend, -- endlich hatte ich doch ein wahres, ein wirkliches Gefühl ihr
-entrissen: Haß, unbändigen Zorn! Ich hätte mir diese boshafte Szene am
-liebsten ins Unendliche verlängert; mit kalter Wollust sah ich zu, wie
-er sich quälte, um Stück für Stück seiner Ticketts zusammenzuklauben.
-Mir saß irgendein schnurriger Teufel in der Kehle, der immer kicherte
-und ein Lachen herauskollern wollte -- am liebsten hätte ich ihn
-herausgelacht oder diese weiche krabbelnde Fleischmasse ein wenig mit
-dem Stock gekitzelt: ich konnte mich eigentlich nicht erinnern, jemals
-so von Bosheit besessen gewesen zu sein, wie in diesem funkelnden
-Triumph der Erniedrigung über diese frechspielende Frau.
-
-Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts
-zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fortgeflogen
-und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich keuchend herum,
-suchte mit seinen kurzsichtigen Augen -- der Zwicker saß ihm ganz vorne
-auf der schweißbenetzten Nase --, und diese Sekunde benützte meine
-spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Verlängerung seiner lächerlichen
-Anstrengung: ich schob, einem schuljungenhaften Übermut willenlos
-gehorchend, den Fuß rasch vor und setzte die Sohle auf das Tickett, so
-daß er es bei bester Bemühung nicht finden konnte, so lange mirs
-beliebte, ihn suchen zu lassen. Und er suchte und suchte unentwegt,
-überzählte dazwischen verschnaufend immer wieder die farbigen
-Pappendeckelzettel: es war sichtlich, daß einer -- meiner! -- ihm noch
-fehlte, und schon wollte er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder
-mit der Suche anheben, als seine Frau, die mit einem verbissenen
-Ausdruck meinen höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige
-Ungeduld nicht mehr zügeln konnte. »Lajos!« rief sie ihm plötzlich
-herrisch zu, und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört,
-blickte noch einmal suchend auf die Erde -- mir war es, als kitzelte
-mich das verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen
-Lachreiz kaum verbergen -- dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu,
-die ihn mit einer gewissen ostentativen Eile von mir weg in das immer
-stärker aufschäumende Getümmel zog.
-
-Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den beiden zu folgen. Die
-Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen Spannung hatte
-sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war von mir geglitten
-und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit der plötzlich
-vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbstzufriedenheit
-über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die Menschen dicht
-zusammen, schon begann Erregung zu wogen und, eine einzige, schmutzige,
-schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, aber ich sah gar nicht
-hin, es langweilte mich schon. Und ich dachte daran, hinüber in die
-Kriau zu gehen oder heimzufahren. Aber kaum daß ich jetzt unwillkürlich
-den Fuß zum Schritt vorwärts tat, bemerkte ich das blaue Tickett, das
-vergessen am Boden lag. Ich nahm es auf und hielt es spielend zwischen
-den Fingern, ungewiß, was ich damit anfangen sollte. Vage kam mir der
-Gedanke, es »Lajos« zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen
-könnte, mit seiner Frau bekannt zu werden; aber ich merkte, daß sie mich
-gar nicht mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von
-diesem Abenteuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit
-ausgekühlt war. Mehr als dies kämpfende, verlangende Hin und Her der
-Blicke verlangte ich von Lajos Gattin nicht -- der Dickling war mir doch
-zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen -- den Frisson der
-Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neugier,
-wohlige Entspannung.
-
-Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemächlich
-nieder, zündete mir eine Zigarette an. Vor mir brandete die Leidenschaft
-wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen reizten mich
-nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an die Meraner
-Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und in den sprühenden
-Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies wie hier: auch dort ein
-mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht wärmte und nicht kühlte,
-auch dort ein sinnloses Tönen in eine schweigend-blaue Landschaft
-hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft des Spiels beim Crescendo
-angelangt, wieder flog der Schaum von Schirmen, Hüten, Schreien,
-Taschentüchern über die schwarze Brandung der Menschen hin, wieder
-quirlten die Stimmen zusammen, wieder zuckte ein Schrei -- nun aber
-andersfarbig -- aus dem Riesenmaul der Menge. Ich hörte einen Namen,
-tausendfach, zehntausendfach, jauchzend, gell, ekstatisch, verzweifelt
-geschrien: »Cressy! Cressy! Cressy!« Und wieder brach er, eine gespannte
-Saite, plötzlich ab (wie doch Wiederholung selbst die Leidenschaft
-eintönig macht!). Die Musik begann zu spielen, die Menge löste sich.
-Tafeln wurden emporgezogen mit den Nummern der Sieger. Unbewußt blickte
-ich hin. An erster Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch sah ich auf
-das blaue Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch
-hier die Sieben.
-
-Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, der gute
-Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den dicken Gatten
-sogar noch um Geld gebracht: mit einem Male war meine übermütige Laune
-wieder da, nun interessierte es mich zu wissen, um wieviel ihn meine
-eifersüchtige Intervention geprellt. Ich sah mir den blauen Pappendeckel
-zum erstenmal genauer an: es war ein Zwanzigkronen-Tickett, und Lajos
-hatte auf »Sieg« gesetzt. Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag
-sein. Ohne weiter nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend,
-ließ ich mich von der eilenden Menge in die Richtung zu den Kassen
-hindrängen. Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das
-Tickett vor, und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu
-denen ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun
-Zwanzigkronenscheine auf die Marmorplatte.
-
-In dieser Sekunde, wo mir das Geld, wirkliches Geld, blaue Scheine
-hingelegt wurden, stockte mir das Lachen in der Kehle. Ich hatte sofort
-ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich die Hände zurück, um das
-fremde Geld nicht zu berühren. Am liebsten hätte ich die blauen Scheine
-auf der Platte liegen lassen; aber hinter mir drängten schon die Leute,
-ungeduldig, ihren Gewinn ausbezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts
-übrig, als, peinlich berührt, mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine
-zu nehmen: wie blaue Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich
-unbewußt von mir wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie
-genommen, nicht zu mir selbst. Sofort übersah ich das Fatale der
-Situation. Wider meinen Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was
-einem anständigen Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht
-hätte unterlaufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren
-Namen dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern
-listig weggelocktes, war gestohlenes Geld.
-
-Um mich surrten und schwirrten die Stimmen, Leute drängten und stießen
-von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit der
-weggespreizten Hand. Was sollte ich tun? An das Natürlichste dachte ich
-zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich entschuldigen und ihm
-das Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht an, und am wenigsten vor
-den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch Reserveleutnant, und ein
-solches Eingeständnis hätte mich sofort meine Charge gekostet; denn
-selbst wenn ich das Tickett gefunden hätte, war schon das Einkassieren
-des Geldes eine unfaire Handlungsweise. Ich dachte auch daran, meinem in
-den Fingern zuckenden Instinkt nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und
-fortzuwerfen, aber auch dies war inmitten des Menschengewühls zu leicht
-kontrollierbar und dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur
-einen Augenblick das fremde Geld bei mir behalten oder gar in die
-Brieftasche stecken, um es später irgend jemandem zu schenken: das mir
-seit Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte
-sich vor jeder auch nur flüchtigen Berührung mit diesen Zetteln. Weg,
-nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg, nur
-irgendwohin, weg! Unwillkürlich sah ich mich um, und wie ich ratlos im
-Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte
-Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen zu
-drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in den Händen. Und der
-Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den boshaften Zufall,
-der es mir gegeben, wiederum hinein in den gefräßigen Schlund, der jetzt
-die neuen Einsätze, Silber und Scheine, gleich gierig hinunterschluckte
--- ja, das war das Richtige, die wahre Befreiung.
-
-Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die
-Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon stand der
-erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein Pferd zu
-nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich in das Reden
-rings um mich. »Setzen Sie Ravachol?« fragte einer. »Natürlich
-Ravachol,« antwortete ihm sein Begleiter. »Glauben Sie, daß Teddy nicht
-auch Chancen hat?« »Teddy? keine Spur. Er hat im Maidenrennen total
-versagt. Er war ein Bluff.«
-
-Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy war
-schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß ich, ihn
-zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst gehörten Namen
-Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts zurück. Mit einem Male
-hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckelstücke zwischen den Fingern
-statt des einen. Es war noch immer ein peinliches Gefühl; aber immerhin,
-es brannte nicht mehr so aufreizend, so erniedrigend wie das knitterige
-bare Geld.
-
-Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das Geld
-weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die Angelegenheit
-wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich setzte mich lässig
-in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch
-gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich nicht lange, ich stand auf,
-ging herum, setzte mich wieder hin. Merkwürdig: es war vorbei mit der
-wohligen Träumerei. Irgendeine Nervosität stak mir knisternd in den
-Gliedern. Zuerst meinte ich, es sei das Unbehagen, unter den vielen
-vorbeistreifenden Leuten Lajos und seiner Frau begegnen zu können; aber
-wie konnten sie ahnen, daß jene neuen Ticketts die ihren waren? Auch die
-Unruhe der Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie
-genau, ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drängen begannen, ja ich
-ertappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu blicken,
-die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es --
-Ungeduld, ein springendes, inneres Fieber der Erwartung, der Start möge
-schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein.
-
-Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an, kaufte
-mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in einem fremden
-Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen, bis ich endlich
-Teddy herausfand, den Namen seines Jockeis, den Besitzer des Stalles und
-die Farben rotweiß. Aber warum interessierte mich das so? Ärgerlich
-zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, stand auf, setzte mich wieder
-hin. Mir war ganz plötzlich heiß geworden, ich mußte mir mit dem
-Taschentuch über die feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich.
-Noch immer wollte der Start nicht beginnen.
-
-Endlich klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in dieser
-Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln gleich einem
-Wecker erschreckt von irgendeinem Schlaf aufriß. Ich sprang vom Sessel
-so heftig weg, daß er umfiel, und eilte -- nein, ich lief -- gierig nach
-vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger gepreßt, mitten in die
-Menge hinein und wie von einer rasenden Angst verzehrt, zu spät zu
-kommen, irgend etwas ganz Wichtiges zu versäumen. Ich erreichte noch,
-indem ich Leute brutal beiseite stieß, die vordere Barriere, riß
-rücksichtslos einen Sessel, den eben eine Dame nehmen wollte, an mich.
-Meine ganze Taktlosigkeit und Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem
-erstaunten Blick -- es war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren
-hochgezogen zornigen Brauen ich begegnete --, aber aus Scham und Trotz
-sah ich an ihr kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen.
-
-Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt ein kleines
-Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten von den kleinen
-Jockeis, die wie bunte Polichinelle aussahen. Sofort suchte ich den
-meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war ungeübt, und mir
-flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Blick, daß ich unter den
-Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden vermochte. In diesem
-Augenblick klang die Glocke zum zweiten Male, und wie sieben bunte
-Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde in den grünen Gang hinein. Es
-mußte wunderbar sein, dies ruhig und nur ästhetisch zu betrachten, wie
-die schmalen Tiere galoppierend ausholten und, kaum den Boden
-anstreifend, über den Rasen hinfederten; aber ich spürte von all dem
-nichts, ich machte nur verzweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei
-zu erkennen, und fluchte mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu
-haben. So sehr ich mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf
-bunte Insekten, in einen fliegenden Knäuel verwischt; nur die Form sah
-ich allmählich jetzt sich verändern, wie das leichte Rudel sich jetzt an
-der Biegung keilförmig verlängerte, eine Spitze vortrieb, indes
-rückwärts einige des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen
-wurde scharf: drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten
-Pferde klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob
-sich das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich
-streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese
-nachahmende, federnde, leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre
-Geschwindigkeit steigern und mitreißen.
-
-Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten schon an der
-Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren jetzt wie grelle
-Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand einer, die Hände
-frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf vordrängte, schrie er
-fußstampfend mit einer widerlich gellen und triumphierenden Stimme:
-»Ravachol! Ravachol!« Ich sah, daß wirklich der Jockei dieses Pferdes
-blau schimmerte, und eine Wut überfiel mich, daß es nicht mein Pferd
-war, das siegte. Immer unerträglicher wurde mir das gelle Gebrüll
-»Ravachol! Ravachol!« von dem Widerling neben mir; ich tobte vor kalter
-Wut, am liebsten hätte ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze
-Loch seines schreienden Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich
-fieberte, jeden Augenblick, fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses
-begehen. Aber da hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten.
-Vielleicht war das Teddy, vielleicht, vielleicht -- und diese Hoffnung
-befeuerte mich von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der
-sich jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die
-Kruppe des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er
-mußte, er mußte! Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch
-einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe!
-Jetzt, nur eine Spanne noch. Warum Ravachol? Ravachol? Nein, nicht
-Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy! Teddy!
-
-Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was -- was war das? Wer schrie
-da so? Wer tobte da »Teddy! Teddy!«? Ich selbst schrie ja das. Und
-mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich wollte mich halten,
-mich beherrschen, inmitten meines Fiebers quälte mich eine plötzliche
-Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht wegreißen, denn dort klebten die
-beiden Pferde knapp aneinander, und es mußte wirklich Teddy sein, der an
-Ravachol, dem verfluchten, aus brennender Inbrunst von mir gehaßten
-Ravachol hing, denn rings um mich gellten jetzt andere lauter und
-vielstimmiger in grellem Diskant: »Teddy! Teddy!«, und der Schrei riß
-mich, den für eine wache Sekunde Aufgetauchten, wieder in die
-Leidenschaft. Er sollte, er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt
-schob sich hinter dem fliegenden Pferde des andern ein Kopf vor, eine
-Spanne nur, und jetzt schon zwei, jetzt, jetzt sah man schon den Hals --
-in diesem Augenblick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei
-des Jubels, der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Für eine Sekunde
-füllte der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann
-stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik.
-
-Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. Ich
-mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich vor
-begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt,
-durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch
-meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir
-vorzutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd
-jetzt gewonnen habe, und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu
-sehen. Aber ich glaubte es mir selbst nicht, und schon spürte ich ein
-grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch irgendwohin,
-und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den Sieg sehen, ihn
-spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde Scheine in den
-Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf. Eine ganz fremde böse
-Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine Scham wehrte mehr, ihr
-nachzugeben. Und kaum daß ich mich erhob, so eilte, so lief ich schon
-bis hin zur Kasse, ganz brüsk, mit gespreizten Ellenbogen stieß ich mich
-zwischen die Wartenden am Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur
-um das Geld, das Geld leibhaftig zu sehn. »Flegel!« murrte hinter mir
-einer der Weggedrängten; ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn
-zu fordern, ich bebte ja vor unbegreiflicher, krankhafter Ungeduld.
-Endlich war die Reihe an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues
-Bündel Banknoten. Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren
-sechshundertundvierzig Kronen.
-
-Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt weiter
-spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine Rennzeitung?
-Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, eine neue zu
-erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Erschrecken, wie
-plötzlich alles rings auseinanderflutete, dem Ausgang zu, daß die Kassen
-sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das Spiel war zu Ende. Es war
-das letzte Rennen gewesen. Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann
-sprang ein Zorn in mir auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich
-konnte mich nicht damit abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich
-spannten und bebten, das Blut so heiß wie seit Jahren nicht mehr in mir
-rollte, alles zu Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem
-Wunsch die Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum
-gewesen, denn immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte
-grün der zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen.
-Allmählich empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so
-nahm ich den Hut -- den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der
-Erregung stehengelassen -- und ging dem Ausgang zu. Ein Diener mit
-servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die Nummer
-meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den Platz, und
-schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete dem Kutscher,
-langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade jetzt, wo die Erregung
-wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine lüsterne Neigung, mir noch
-einmal die ganze Szene in Gedanken zu erneuern.
-
-In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor; unwillkürlich blickte
-ich hin, um sofort wieder ganz bewußt wegzusehen. Es war die Frau mit
-ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht bemerkt. Aber sofort
-überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, als sei ich ertappt. Und am
-liebsten hätte ich dem Kutscher zugerufen, auf die Pferde einzuschlagen,
-nur um rasch aus ihrer Nähe zu kommen.
-
-Weich glitt auf den Gummirädern der Fiaker dahin zwischen den vielen
-andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von Frauen an den
-grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. Die Luft war weich
-und süß, schon wehte von erster Abendkühle manchmal ein leiser Duft
-durch den Staub herüber. Aber das frühere wohlig-träumerische Gefühl kam
-nicht wieder: die Begegnung mit dem Geprellten hatte mich peinlich
-aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal
-in meine überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern
-die ganze Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein
-Gentleman, ein Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier,
-hochgeachtet, hatte ohne Not gefundenes Geld an mich genommen, in die
-Brieftasche gesteckt, ja dies sogar mit einer gierigen Freude, einer
-Lust getan, die jede Entschuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor
-einer Stunde noch ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte
-gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu
-erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen
-leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: »Dieb!
-Dieb! Dieb! Dieb!« Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt
-geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß
-ich, daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines
-Gefühls, jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir
-ja mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein
-Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese
-absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines Empfindens
-bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein
-Psychologe das logisch zu schildern vermöchte. Ich kann nur die
-Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten Aufleuchten
-nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«. Dann kam ein ganz
-merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein Augenblick, wo nichts
-geschah, wo ich nur -- ach, wie schwer ist es, dies auszudrücken -- wo
-ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich angerufen, hatte
-mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte antworten. Ich
-horchte also, und es geschah -- nichts. Der Peitschenschlag dieses
-Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken
-und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham,
-weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich
-dann gewissermaßen noch näher über mich selbst -- denn ich spürte zu
-wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte -- und
-horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf
-den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser
-Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum nichts. Nichts
-antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon
-ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen
-aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich -- in einem grellen
-Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz
-angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre -- erkannte ich,
-daß ich mich nur schämen _wollte_, aber nicht schämte, ja, daß ich in
-jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser
-törichten Tat.
-
-Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst
-erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu
-ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht
-Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte -- das war
-Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen
-spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten
-zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl
-nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter
-der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene
-heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der
-Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht
-waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls,
-glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen,
-der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich
-lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine
-Tür war aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan
-in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies
-Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und
-langsam -- während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die
-bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte -- stieg ich, Stufe um
-Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in
-diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen
-Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um
-mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen
-Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des
-Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den
-verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte
-mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser
-gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu
-haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich
-verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen
-Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten
-gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal
-der Gentlemen -- daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in
-verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie
-in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu
-leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen vor mir selbst: nun aber
-war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das reiche, das
-unsäglich gewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich
-ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum
-erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche
--- wie soll ich es anders nennen -- das Wahre, das Unverstellte des
-Lebens in mir keimen, ich fühlte -- fast schäme ich mich, solch ein Wort
-hinzuschreiben -- wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder
-_blühte_, wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich
-im Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von
-Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im
-klaren Licht eines Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden
-müßiger Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und
-trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.
-
-Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief -- offenbar
-hatte ich seinen ersten Gruß übersehen -- meinen Namen. Unwirsch fuhr
-ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des
-sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals
-erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es
-war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt.
-Mit einemmal durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich
-grüßt, hat jetzt zum erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen,
-sobald er dein Vergehen kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte
-dich aus diesem Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen
-Existenz, und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt
-hinter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern
-Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen
-getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst am
-Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt sie den
-Herzschlag an -- dann verwandelte auch dieser Gedanke sich wieder in
-heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt
-selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte.
-Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem
-ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr
-mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit
-verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch
-schon ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus
-eurer kalten knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos
-funktionierendes, in der großen Maschine, die kalt in ihren Kolben
-abrollt und eitel um sich selber kreist -- ich bin in eine Tiefe
-gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin lebendiger gewesen in dieser
-einen Stunde als in den gläsernen Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch
-gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer
-Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures
-bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den
-Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr
-wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem
-Geheimnis!
-
-Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes
-ich, ein elegant angezogener Gentleman, mit kühlem Gesicht grüßend und
-dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! Denn während meine Larve,
-der äußere, der frühere Mensch, noch Gesichter fühlte und erkannte,
-rauschte innen in mir eine so taumelnde Musik, daß ich mich
-niederdrücken mußte, um nicht etwas herauszuschreien von diesem tosenden
-Tumult. Ich war so voll von Gefühl, daß mich dieser innere Schwall
-physisch quälte, daß ich wie ein Erstickender die Hand gewaltsam an die
-Brust pressen mußte, unter der das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz,
-Lust, Erschrecken, Entsetzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln
-und abgerissen, alles schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte,
-daß ich atmete und fühlte. Und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl,
-das ich seit Jahren nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich
-mich selbst auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so
-ekstatisch als lebendig empfunden als in der Schwebe dieser Stunde.
-
-Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die
-Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause
-fahren solle. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über die Allee
-hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, wie weit die
-Trunkenheit über die Stunden sich ausgegossen hatte. Es war dunkel
-geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der Bäume, die Kastanien
-begannen ihren abendlichen Duft durch die Kühle zu atmen. Und hinter den
-Wipfeln silberte schon ein verschleierter Blick von Mond. Es war genug,
-es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach Hause, nur nicht in meine
-gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher. Als ich die Brieftasche zog
-und die Banknoten zählend zwischen die Finger nahm, liefs wie ein leiser
-elektrischer Schlag mir vom Gelenk in die Fingerspitzen: irgend etwas in
-mir mußte noch wach sein also vom alten Menschen, der sich schämte. Noch
-zuckte das absterbende Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte
-schon wieder meine Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus
-meiner Freude. Der Kutscher bedankte sich so überschwenglich, daß ich
-lächeln mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr
-fort. Ich sah ihm nach, wie man vom Schiff noch einmal auf einen Strand
-zurückblickt, an dem man glücklich gewesen.
-
-Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in der
-murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa sieben Uhr
-sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten, wo ich sonst
-immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen pflegte und in
-dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt hatte. Aber kaum daß
-ich die Gitterklinke des vornehmen Gartenrestaurantes berührte, überfiel
-mich eine Hemmung: nein, ich wollte noch nicht in meine Welt zurück,
-nicht mir in lässigem Gespräch diese wunderbare Gärung, die mich
-geheimnisvoll erfüllte, wegschwemmen lassen, nicht mich loslösen von der
-funkelnden Magie des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet
-fühlte.
-
-Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik, und unwillkürlich ging
-ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand es als Wollust,
-dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hingetriebensein inmitten
-einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen phantastischen Reiz. Mein
-Blut gärte auf in diesem dicken quirlenden Brei heißer menschlicher
-Masse: aufgespannt war ich mit einemmal, angereizt und gesteigert wach
-in allen Sinnen von diesem beizend qualmigen Duft von Menschenatem,
-Staub, Schweiß und Tabak. Denn all dies, was mich vordem, ja selbst
-gestern noch, als ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen, was der
-soignierte Gentleman in mir ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das
-zog meinen neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im
-Animalischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir
-selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen,
-Strolchen, fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz
-unverständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein,
-das Schieben und Pressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm, und
-mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde mich
-Willenlosen schwemmte. Immer näher gellten und schmetterten vom
-Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik, in einer
-fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte Polkas und
-rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge aus den Buden,
-zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt sah ich schon mit
-irrsinnigen Lichtern die Karusselle meiner Kindheit zwischen den Bäumen
-kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen und ließ den ganzen
-Tumult in mich einbranden, mir Augen und Ohren vollschwemmen: diese
-Kaskaden von Lärm, das Infernalische dieses Durcheinander tat mir wohl,
-denn in diesem Wirbel war etwas, das mir den innern Schwall betäubte.
-Ich sah zu, wie mit geblähten Kleidern die Dienstmädchen sich auf den
-Hutschen mit kollernden Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht
-gellten, in den Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend
-schwere Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern
-Stimmen und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions
-schreiend hinwegruderten, und wie alles dies sich quirlend mengte mit
-dem tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die
-trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und von der
-eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber wach geworden
-war, spürte ich auf einmal das Leben der andern, ich spürte die Brunst
-der Millionenstadt, wie sie sich heiß und aufgestaut in die paar Stunden
-des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte an der eigenen Fülle zu einem
-dumpfen, tierischen, aber irgendwie gesunden und triebhaften Genuß. Und
-allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausgesetzten
-Berührung mit ihren heißen leidenschaftlich drängenden Körpern ihre
-warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften sich,
-aufgebeizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne spielten
-taumelig mit dem Getöse und empfanden jene verwirrte Betäubung, die mit
-jeder starken Wollust unweigerlich gemengt ist. Zum erstenmal seit
-Jahren, vielleicht überhaupt in meinem Leben, spürte ich die Masse,
-spürte ich Menschen als eine Macht, von der Lust in mein eigenes,
-abgeschiedenes Wesen überging: irgendein Damm war zerrissen, und von
-meinen Adern gings hinüber in diese Welt, strömte es rhythmisch zurück,
-und eine ganz neue Gier überkam mich, noch jene letzte Kruste zwischen
-mir und ihnen abzuschmelzen, ein leidenschaftliches Verlangen nach
-Paarung mit dieser heißen, fremden, drängenden Menschheit. Mit der Lust
-des Mannes sehnte ich mich in den quellenden Schoß dieses heißen
-Riesenkörpers hinein, mit der Lust des Weibes war ich aufgetan jeder
-Berührung, jedem Ruf, jeder Lockung, jeder Umfassung -- und nun wußte
-ichs, Liebe war in mir und Bedürfnis nach Liebe wie nur in den
-zwielichthaften Knabentagen. Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige,
-irgendwie verbunden sein mit dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden
-Leidenschaft der andern, nur einströmen, sich ergießen in ihren
-Adergang; ganz klein, ganz namenlos werden im Getümmel, eine Infusorie
-bloß sein im Schmutz der Welt, ein lustzitterndes, funkelndes Wesen im
-Tümpel mit den Myriaden -- aber nur hinein in die Fülle, hinab in den
-Kreisel, mich abschießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit
-ins Unbekannte, in irgendeinen Himmel der Gemeinsamkeit.
-
-Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste alles
-zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussells, das feine
-Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer aufsprühte, die
-chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder einzelne Laut
-in mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen
-vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen
-Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles
-gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. Ich kann meinen
-komplizierten Zustand unmöglich mit Worten ausdrücken, am ehesten
-gelingt es noch vielleicht mit einem Vergleiche: wenn ich sage, ich war
-überfüllt mit Geräusch, Lärm, Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die
-mit allen Rädern rasend rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der
-ihr im nächsten Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. In den
-Fingerspitzen zuckte, in den Schläfen pochte, in der Kehle preßte, an
-den Schläfen würgte das angehitzte Blut -- von einer jahrelangen Lauheit
-des Gefühls war ich mit einemmal in ein Fieber gestürzt, das mich
-verbrannte. Ich fühlte, daß ich mich jetzt auftun müßte, aus mir heraus
-mit einem Wort, mit einem Blick, mich mitteilen, mich ausströmen, mich
-weggeben, mich hingeben, mich gemein machen, mich lösen, -- irgendwie
-retten aus dieser harten Kruste von Schweigen, die mich absonderte von
-dem warmen, flutenden, lebendigen Element. Seit Stunden hatte ich nicht
-gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick fragend und
-teilnehmend gegen den meinen gespürt, und nun staute, unter dem Sturz
-der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das Schweigen. Niemals,
-niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, nach einem
-Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten von Tausenden und
-Zehntausenden wogte, rings angespült war von Wärme und Worten, und doch
-abgeschnürt von dem kreisenden Adergang dieser Fülle. Ich war wie einer,
-der auf dem Meere verdurstet. Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem
-Blick mehrend, wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich
-anstreifend band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend
-zusammenliefen. Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen
-im Vorübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten Wort
-schon unterfaßten, wie alles sich fand und zusammentat: ein Gruß beim
-Karussell, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes schmolz in
-ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach ein paar Minuten,
-aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, war das, wonach alle
-meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, gewandt im gesellschaftlichen
-Gespräch, beliebter Causeur und sicher in den Formen, ich verging vor
-Angst, ich schämte mich, irgendeines dieser breithüftigen Dienstmädchen
-anzureden, aus Furcht, sie möchte mich verlachen, ja ich schlug die
-Augen nieder, wenn jemand mich zufällig anschaute, und verging doch
-innen vor Begierde nach dem Wort. Was ich wollte von den Menschen, war
-mir ja selbst nicht klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein
-und an meinem Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder
-Blick strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein
-Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick
-war grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er
-auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie
-lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufahren, und sog nur
-Lust aus dem Schreien und Lachen der andern. Ich stieß mich gewaltsam
-heran an ihn und fragte -- aber warum zitterte meine Stimme so dabei und
-war ganz grell überschlagen? --: »Möchten Sie nicht auch einmal
-mitfahren?« Er starrte auf, erschrak -- warum? warum? -- wurde blutrot
-und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. Nicht einmal ein barfüßiges Kind
-wollte eine Freude von mir: es mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar
-Fremdes an mir sein, daß ich nirgends mich einmengen konnte, sondern
-abgelöst in der dicken Masse schwamm wie ein Tropfen Öl auf dem bewegten
-Wasser.
-
-Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. Die
-Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle war verrostet
-vom aufgewühlten Qualm. Ich sah mich um: rechts und links zwischen den
-strömenden Menschengassen standen kleine Inseln von Grün,
-Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten Holzbänken, auf
-denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier und der sonntäglichen
-Virginia. Der Anblick lockte mich: hier saßen Fremde beisammen,
-verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig Ruhe im wüsten Fieber.
-Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine
-Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau,
-zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe
-im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen
-Blicke taten mir wohl. Ich grüßte höflich, rührte an einen Sessel und
-fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. Sofort stockte ihr Lachen, einen
-Augenblick schwiegen sie (als wartete jeder, daß der andere seine
-Zustimmung gebe), dann sagte die Frau, gleichsam betroffen: »Bitte!
-Bitte!« Ich setzte mich hin und hatte gleich das Gefühl, daß ich mit
-meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune zerdrückte, denn sofort lag um
-den Tisch herum ein ungemütliches Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die
-Augen von dem rotkarierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig
-verstreut zu sehen war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle
-befremdet beobachteten, und sofort fiel mir -- zu spät! -- ein, daß ich
-zu elegant war für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, dem
-Pariser Zylinder und der Perle in meiner taubengrauen Krawatte, daß
-meine Eleganz, das Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht
-von Feindlichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der
-fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote
-Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte,
-festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch
-wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es war eine Erlösung,
-als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich
-hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu
-über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne
-Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den
-Eindringling in ihre dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt
-ihrer Klasse, daß ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu
-meiner Welt gehörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die
-einfältige Freude am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagsitzen mich
-hertrieb, sondern irgendein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie
-mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk mißtraut
-hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewühl meiner Eleganz,
-meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit ausbogen. Und doch
-fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, einfaches, herzliches, ein
-wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu ihnen, so würde der Vater oder
-die Mutter mir antworten, die Töchter geschmeichelt zulächeln, ich
-könnte mit dem Jungen hinüber in eine Bude schießen gehen und kindlichen
-Spaß mit ihm treiben. In fünf, in zehn Minuten würde ich erlöst sein von
-mir, eingehüllt in die arglose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern
-gewährter und sogar geschmeichelter Vertraulichkeit -- aber dies
-einfache Wort, diesen ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht,
-eine falsche, törichte, aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle,
-und ich saß mit gesenktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser
-einfachen Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen
-Gegenwart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und in
-diesem hingebohrten Hinsitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen
-Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen und
-Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war, einzig
-beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der Eleganz; und
-ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene Sprache zu ihnen,
-jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines Ausgestoßenseins bedurfte, von
-innen vermauert war.
-
-So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt, immer
-wieder die roten Karrees am Tischtuch abzählend, bis endlich der Kellner
-vorbeikam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum angetrunkenen
-Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freundlich und erstaunt:
-ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum daß ich ihnen den
-Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder überkommen, der warme
-Kreis des Gesprächs sich schließen würde, sobald ich, der Fremdkörper,
-ausgestoßen war.
-
-Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und verzweifelter,
-in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war inzwischen lockerer
-geworden unter den Bäumen, die schwarz in den Himmel überfluteten, es
-drängte und quirlte nicht mehr so dicht und strömend in den Lichtkreis
-der Karussells, sondern schwirrte nur schattenhaft mehr am äußersten
-Rand des Platzes. Auch der brausende, tiefe, gleichsam lustatmende Ton
-der Menge zerstückte sich in viele kleine Geräusche, die immer gleich
-hingeschmettert wurden, wenn jetzt die Musik irgendwo gewaltig und
-rabiat einsetzte, als wollte sie die Fliehenden noch einmal heranreißen.
-Eine andere Art Gesichter tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren
-Ballons und Papierkoriandolis waren schon nach Hause gegangen, auch die
-breithinrollenden sonntäglichen Familien hatten sich verzogen. Nun sah
-man schon Betrunkene johlen, verlotterte Burschen mit lungerndem und
-doch suchendem Gang sich aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der
-einen Stunde, in der ich festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen,
-diese seltsame Welt mehr ins Gemeine hinabgeglitten. Aber gerade jene
-phosphoreszierende Atmosphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel
-mir irgendwie besser als die bürgerlich-sonntägliche von vordem. Der in
-mir aufgereizte Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier;
-in dem vortreibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser
-Ausgestoßenen der Gesellschaft, empfand ich mich irgendwie gespiegelt:
-auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach einem
-flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie, diese
-zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene, freie Art ihres
-Streifens; denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend gepreßt,
-ungeduldig, den Druck des Schweigens, die Qual meiner Einsamkeit aus mir
-zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines Anrufs, eines Worts.
-Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom Reflex der
-kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von meiner
-Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen
-anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich
-herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir ab. Niemand wollte mich,
-niemand erlöste mich.
-
-Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären zu
-wollen, daß ich, ein kultivierter eleganter Mann der Gesellschaft,
-reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, eine
-ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden,
-rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig, vierzig,
-hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer mit
-denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an mir
-vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen
-Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von der
-Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde, aber
-in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls, eine so
-stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst vielleicht
-nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod; mein ganzes, leer
-vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und staute sich bis
-hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von meinem sinnlosen Wahn,
-zu bleiben, zu verharren, bis irgendein Wort, ein Blick eines Menschen
-mich erlöse, so sehr genoß ich diese Qual. Ich büßte etwas in diesem
-Stehen an dem Pfahl, nicht jenen Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das
-Laue, das Leere meines früheren Lebens: und ich hatte mir geschworen,
-nicht früher zu gehen, bis mir ein Zeichen gegeben war, das Schicksal
-mich freigegeben.
-
-Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht sich
-heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht und immer
-stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor, schluckte den
-lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war die helle Insel, auf
-der ich stand, und schon sah ich zitternd auf die Uhr. Eine
-Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holzpferde stillestehn,
-die roten und grünen Glühlampen auf ihren einfältigen Stirnen abknipsen,
-das geblähte Orchestrion aufhören zu stampfen. Dann würde ich ganz im
-Dunkel sein, ganz allein hier in der leise rauschenden Nacht, ganz
-ausgestoßen, ganz verlassen. Immer unruhiger blickte ich über den
-dämmernden Platz, über den nur ganz selten mehr ein heimkehrendes
-Pärchen eilig strich oder ein paar Burschen betrunken hintaumelten: quer
-drüben aber in den Schatten zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und
-aufreizend. Manchmal pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer
-vorüberkamen. Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel,
-so zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der Wind
-abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich schob sichs
-um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den Lichtkegel des
-erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze zurückzutauchen,
-sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutzmannes im Reflex der
-Laterne schimmerte. Aber kaum daß er weiterging auf seiner Runde, waren
-die gespenstigen Schatten wieder da, und jetzt konnte ich sie schon
-deutlich im Umriß sehen, so nahe wagten sie sich ans Licht, der letzte
-Abhub jener nächtigen Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich
-der flüssige Menschenstrom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und
-ausgestoßensten, die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer
-Matratze schlafen und nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten,
-geschändeten, magern Körper jedem für ein kleines Silberstück hier
-irgendwo im Dunkel auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von
-Hunger oder irgendeinem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und
-gejagt zugleich. Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu
-dem erhellten Platz nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen
-Nachzügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder
-zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee und den
-trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohnehin bald
-auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis. Der Abhub war dies, die
-letzte Jauche von der hochgequollenen Sinnlichkeit der sonntäglichen
-Masse -- mit einem grenzenlosen Grauen sah ich nun aus dem Dunkel diese
-hungrigen Gestalten geistern. Aber auch in diesem Grauen war noch eine
-magische Lust, denn selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich
-Vergessenes und dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe, sumpfige
-Welt, die ich vor Jahren längst durchschritten und die nun
-phosphoreszierend mir wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese
-phantastische Nacht mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich
-Verschlossenen plötzlich auffaltete, daß das Dunkelste meiner
-Vergangenheit, das Geheimste meines Triebes in mir nun offen lag!
-Dumpfes Gefühl stieg auf verschütteter Knabenjahre, wo scheuer Blick
-neugierig angezogen und doch feig verstört an solchen Gestalten
-gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo man zum erstenmal auf knarrender,
-feuchter Treppe einer hinaufgefolgt war in ihr Bett -- und plötzlich,
-als ob Blitz einen Nachthimmel zerteilt hätte, sah ich scharf jede
-Einzelheit jener vergessenen Stunde, den flachen Öldruck über dem Bett,
-das Amulett, das sie auf dem Halse trug, ich spürte jede Fiber von
-damals, die ungewisse Schwüle, den Ekel und den ersten Knabenstolz. All
-das wogte mir mit einem Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne
-Maß strömte plötzlich in mich ein, und -- wie soll ich das sagen können,
-dies Unendliche! -- ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so
-brennendem Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum
-des Lebens waren, und mein von dem Verbrechen einmal angereizter
-Instinkt spürte von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen
-in dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische
-Offenstehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust.
-Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen Geld
-brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich Wesen,
-Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von andern Wesen,
-vielleicht auch von mir, etwas wollte, von mir, der nur wartete, sich
-wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden Willigkeit nach Menschen.
-Und mit einmal verstand ich, was Männer zu solchen Wesen treibt,
-verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes ist, ein schwellender
-Kitzel ist, sondern meist bloß die Angst vor der Einsamkeit, vor der
-entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt und die
-mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich erinnerte mich,
-wann ich zum letztenmal dies dumpf empfunden: in England war es gewesen,
-in Manchester, einer jener stählernen Städte, die in einem lichtlosen
-Himmel von Lärm brausen wie eine Untergrundbahn und die doch
-gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit haben, der durch die Poren bis
-ins Blut dringt. Drei Wochen hatte ich dort bei Verwandten gelebt,
-abends immer allein irrend durch Bars und Klubs und immer wieder in die
-glitzernde Musikhall, nur um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da
-eines Abends hatte ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich
-kaum verstand, aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von
-einem fremden Mund, ein warmer Körper war da, irdisch nahe und weich.
-Plötzlich schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere
-lärmende Raum von Einsamkeit, irgendein Wesen, das man nicht kannte, das
-nur dastand und wartete auf jeden, der kam, löste einen auf, ließ allen
-Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter
-Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das für
-die Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu
-ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich
-festzuklammern an ihn, mag er auch überschmutzt sein von vielen Griffen,
-starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, gerade dies
-hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsamkeit, aus der ich
-taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an einer letzten Ecke
-immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in sich aufzufangen, jede
-Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, jede Hitze zu kühlen für
-ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das
-sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer
-menschlichen Gegenwart.
-
-Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es
-war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das
-Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand
-kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon
-scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des
-Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach
-dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen.
-Nur ich, ich allein, stand noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und
-sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden
-Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den
-undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte
-eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz
-nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes,
-rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten
-Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das
-Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft
-und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem
-schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben
-mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein
-einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem
-stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich
-nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um
-mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese
-gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort,
-einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu
-rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art
-wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer -- während die Melodie des
-Karussells schon müde wegtaumelte -- die nahe Gegenwart, diesen Willen,
-der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz
-dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel
-der Welt mich überfluten zu fühlen.
-
-Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem
-letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch,
-wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu
-langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich
-erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen
-lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir
-entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter,
-prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende.
-
-Und plötzlich -- ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh
-aufspringenden Gischt schildern? -- plötzlich -- es kam so jäh, so heiß,
-so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre -- plötzlich
-brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler,
-gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet,
-wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure
-Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch
-einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr
-nachzugehen war ich nicht zu stolz -- mein Stolz war zerstampft,
-zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen --, aber zu schwach, zu
-ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem
-Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit
-meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster
-gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und
-immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung -- ich
-stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten
-Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub
-Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick
-rückwenden zu mir.
-
-Und -- sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück.
-Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten
-Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie
-wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte
-und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite
-des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in
-mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.
-
-Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den
-dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme.
-Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte
-wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht
-bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen,
-hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie
-den Schritt. Nun stand ich neben ihr.
-
-Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte
-sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der
-Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte
-sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse
-deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht war: »Gehn wir dort
-hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.«
-
-Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung
-betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit
-einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille hatte
-keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, wenn man an
-einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit einen steilen
-Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst sich irgendwie
-wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt und man, statt zu
-bremsen, sich mit einer taumelnden und doch bewußten Schwäche willenlos
-an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht mehr zurück und wollte vielleicht
-gar nicht mehr, und jetzt, wie sie vertraulich sich an mich drückte,
-faßte ich unwillkürlich ihren Arm. Es war ein ganz magerer Arm, nicht
-der Arm einer Frau, sondern wie der eines zurückgebliebenen skrofulösen
-Kindes, und kaum daß ich ihn durch das dünne Mäntelchen fühlte, überkam
-mich mitten in dem gespannten Empfinden ein ganz weiches, flutendes
-Mitleid mit diesem erbärmlichen, zertretenen Stück Leben, das diese
-Nacht gegen mich gespült. Und unwillkürlich liebkosten meine Finger
-diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich
-noch nie eine Frau berührt.
-
-Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines
-Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest
-zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, obwohl man kaum mehr
-einen Umriß bemerken konnte, daß sie ganz vorsichtig an meinem Arm sich
-umwandte und einige Schritte später noch ein zweitesmal. Und seltsam:
-während ich gleichsam in einer Betäubung in das schmutzige Abenteuer
-hinabglitt, waren doch meine Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit
-einer Hellsichtigkeit, der nichts entging, die jede Regung wissend bis
-in sich hineinriß, merkte ich, daß rückwärts am Saum des überquerten
-Pfades schattenhaft uns etwas nachglitt, und mir war es, als hörte ich
-einen schleichenden Schritt. Und plötzlich -- wie ein Blitz eine
-Landschaft prasselnd weiß überspringt -- ahnte, wußte ich alles: daß ich
-hier in eine Falle gelockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure
-hinter uns lauerten und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle
-zog, wo ich ihre Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit,
-wie sie nur die zusammengepreßten Sekunden zwischen Tod und Leben haben,
-sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit zu
-entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die
-elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein Pfiff
-konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle
-Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.
-
-Aber seltsam -- diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht, sondern
-hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augenblick, im klaren
-Licht eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz
-erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich
-unnötig in eine Gefahr ging, aber wie ein feiner Wahnsinn rieselte mir
-das Vorgefühl durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht
-Tödliches voraus, ich zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein
-Verbrechen, in ein gemeines, schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber
-gerade für die nie gekannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich
-betäubend überströmte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier.
-Etwas -- war es Scham, die Furcht zu zeigen, oder eine Schwäche? --
-stieß mich vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens
-hinabzusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu
-verspielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte
-sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen meinen
-Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem Verstand
-klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das Gehölz am
-Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich mehr abstieß als
-lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur für ihre Spießgesellen
-herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die Schwerkraft des
-Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer auf dem Rennplatze
-an mich gehangen, riß mich weiter und weiter hinab. Und ich spürte nur
-mehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes in neue Tiefen
-hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod.
-
-Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick unsicher
-herum. Dann sah sie mich wartend an: »Na -- und was schenkst du mir?«
-
-Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich nicht.
-Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich verschwenden zu
-dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete alles Silber und ein
-paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane Hand. Und nun geschah
-etwas so Wunderbares, daß mir heute noch das Blut warm wird, wenn ich
-daran denke: entweder war diese arme Person überrascht von der Höhe der
-Summe -- sie war sonst nur kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen
-Dienst --, oder in der Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast
-beglückten Gebens mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn
-sie trat zurück, und durch das dicke, übelriechende Dunkel spürte ich,
-wie ihr Blick mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand
-endlich das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand
-suchte mich, zum erstenmal _lebte_ ich für irgend jemanden dieser Welt.
-Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen
-verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und die,
-ohne den Käufer auch nur anzusehen, sich an mich gedrängt, nun die Augen
-aufschlug zu den meinen, daß sie nach dem Menschen in mir fragte, das
-steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die hellsichtig war und
-taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und
-schon drängte dieses fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in
-geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend
-etwas unbewußt Dankbares, einen weibhaften Willen zur Annäherung darin
-zu spüren. Ich faßte leise ihren Arm an, den magern rachitischen
-Kinderarm, empfand ihren kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich
-über all das hinaus ihr ganzes Leben: die geliehene schmierige
-Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens bis mittags schlief
-zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie
-würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die
-gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal,
-wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen
-Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer
-Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie
-verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen
-überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine
-Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm.
-Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte.
-
-In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich
-sprang zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da
-haben mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.«
-
-Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte
-ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich
-umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet.
-Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine
-zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das
-ordinäre Lachen. »So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben.
-Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich
-stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich empfand keine
-Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in
-der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der
-Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend
-entgegengetrieben.
-
-Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber.
-Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete
-Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren
-ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar
-erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst.
-»Aha, er sagt nix,« rief schließlich drohend der eine. Und der andere
-trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie müssen mit aufs
-Kommissariat.«
-
-Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die
-Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts,« sagte er.
-
-Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren wollte: das
-Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation betäubte mich.
-Mein Gehirn blieb ganz wach; ich wußte, daß die Burschen die Polizei
-mehr fürchten mußten als ich, daß ich mich loskaufen konnte mit ein paar
-Kronen, -- aber ich wollte ganz die Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich
-genoß die grausige Erniedrigung der Situation in einer Art wissender
-Ohnmacht. Ohne Hast, ganz mechanisch ging ich in die Richtung, in die
-sie mich gestoßen hatten.
-
-Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zuging,
-schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann fingen sie
-wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. »Laß ihn laufen,«
-sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl); aber der andere
-erwiderte, scheinbar streng: »Nein, das geht nicht. Wenn das ein armer
-Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird er eingelocht.
-Aber so ein feiner Herr -- da muß a Straf sein.« Und ich hörte jedes
-Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte, ich möchte beginnen, mit
-ihnen zu verhandeln; der Verbrecher in mir verstand den Verbrecher in
-ihnen, verstand, daß sie mich quälen wollten mit Angst und ich sie
-quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es war ein stummer Kampf zwischen uns
-beiden, und -- o wie reich war diese Nacht! -- ich fühlte inmitten
-tödlicher Gefahr, hier mitten im stinkenden Dickicht der Praterwiese,
-zwischen Strolchen und einer Dirne, zum zweitenmal seit zwölf Stunden
-den rasenden Zauber des Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um
-meine ganze bürgerliche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich
-diesem ungeheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen
-gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden Nerven
-hin.
-
-»Aha, dort ist schon der Wachmann,« sagte hinter mir die eine Stimme,
-»da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr, eine Wochen wird
-er schon sitzen.« Es sollte böse klingen und drohend, aber ich hörte die
-stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich dem Lichtschein zu, wo
-tatsächlich die Pickelhaube eines Schutzmannes glänzte. Zwanzig Schritte
-noch, dann mußte ich vor ihm stehen. Hinter mir hatten die Burschen
-aufgehört zu reden; ich merkte, wie sie langsamer gingen; im nächsten
-Augenblick mußten sie, ich wußte es, feig zurücktauchen in das Dunkel,
-in ihre Welt, erbittert über den mißlungenen Streich, und ihren Zorn
-vielleicht an der Armseligen auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum,
-zum zweitenmal, hatte ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden,
-unbekannten Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von
-drüben der bleiche Kreis der Laternen, und als ich mich jetzt umwandte,
-sah ich zum erstenmal in die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung
-war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie blieben
-stehen in einer gedrückten, enttäuschten Art, bereit, ins Dunkel
-zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war _ich_ es, den sie
-fürchteten.
-
-In diesem Augenblick überkam mich plötzlich -- und es war, als ob die
-innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte und heiß
-das Gefühl in mein Blut überliefe -- ein so unendliches, ein
-_brüderliches_ Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten sie denn
-begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten Burschen, von
-mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen, ein paar elende
-Kronen. Sie hätten mich würgen können dort im Dunkel, mich berauben,
-mich töten, und hatten es nicht getan, hatten nur in einer ungeübten,
-ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken um dieser kleinen
-Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche lagen. Wie konnte ich es
-da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der Verbrecher aus
-Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in mein
-unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst,
-mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte
-mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das
-Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen
-sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.
-
-Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen
-Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen
-gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht
-werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch
-keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«
-
-Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen
-Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich
-weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der
-eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend:
-»Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht.«
-
-Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie
-falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich
-wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich
-ihnen Geld bieten würde.
-
-Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in
-mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß,
-was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch
-länger quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang
-mich rasch, ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser
-beiden endlich erlösen mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu
-spielen, bat sie um Mitleid, sie möchten schweigen, mich nicht
-unglücklich machen. Ich merkte, wie sie verlegen wurden, diese armen
-Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher
-zwischen uns stand.
-
-Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nachdem sie so lange
-lechzten. »Ich ... ich gebe Ihnen ... hundert Kronen.«
-
-Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie nicht mehr
-erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. Endlich faßte sich
-der eine, der Pockennarbige mit dem unruhigen Blick. Zweimal setzte er
-an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. Dann sagte er -- und ich spürte,
-wie er sich schämte dabei: »Zweihundert Kronen.«
-
-»Aber hörts auf,« mengte sich jetzt plötzlich das Mädchen ein. »Ihr
-könnts froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja gar nix
-getan, kaum daß er mich angerührt hat. Das ist wirklich zu stark.«
-
-Wirklich erbittert schrie sie's ihnen entgegen. Und mir klang das Herz.
-Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus dem Gemeinen
-stieg Güte, irgendein dunkles Begehren nach Gerechtigkeit aus einer
-Erpressung. Wie das wohl tat, wie das Antwort gab auf den Aufschwall in
-mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen mit den Menschen, nicht sie
-quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: genug! genug!
-
-»Gut, also zweihundert Kronen.«
-
-Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz langsam,
-ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff hätten sie mir
-sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen
-scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes
-Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des
-Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. Ich blätterte die
-beiden Noten aus dem gestohlenen Pack und reichte sie dem einen hin.
-
-»Danke schön,« sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg.
-Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes
-Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham -- oh, alles fühlte ich ja
-in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! -- bedrückte mich. Ich
-wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der ich
-seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie er.
-Seine Demütigung quälte mich, und ich wollte sie ihm wegnehmen. So
-wehrte ich seinem Dank.
-
-»Ich habe Ihnen zu danken,« sagte ich und wunderte mich selbst, wieviel
-wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. »Wenn Sie mich
-angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich erschießen
-müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser so. Ich gehe
-jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die andere Seite.
-Gute Nacht.«
-
-Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine »Gute Nacht,«
-dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel geblieben. Ganz
-warm klang es, ganz herzlich wie ein wirklicher Wunsch. An ihren Stimmen
-fühlte ich, sie hatten mich irgendwo tief im Dunkel ihres Wesens lieb,
-sie würden diese sonderbare Sekunde nie vergessen. Im Zuchthaus oder im
-Spital würde sie ihnen vielleicht wieder einmal einfallen: etwas von mir
-lebte fort in ihnen, ich hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens
-Lust erfüllte mich wie noch nie ein Gefühl.
-
-Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles
-Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie
-gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt
-hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich
-wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die Bäume,
-sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von oben
-nieder, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend von
-irgendwoher, und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte mir mit
-einem Male, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen, und Freude des
-Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. O wie leicht ist
-es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh zu werden aus der
-Freude: man braucht sich nur aufzutun, und schon fließt von Mensch zu
-Menschen der lebendige Strom, stürzt vom Hohen zum Niedern, schäumt von
-der Tiefe wieder ins Unendliche empor.
-
-Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich eine Hökerin,
-müde, gebückt über ihren kleinen Kram. Bäckereien hatte sie,
-überschimmelt von Staub, und ein paar Früchte, seit Morgen saß sie wohl
-so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdigkeit knickte sie ein.
-Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte ich, wenn ich mich freue?
-Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot und legte ihr einen Schein hin.
-Sie wollte eilfertig wechseln, aber schon ging ich weiter und sah nur,
-wie sie erschrak vor Glück, wie die zerknitterte Gestalt sich plötzlich
-straffte und nur der im Staunen erstarrte Mund mir tausend Wünsche
-nachsprudelte. Das Brot zwischen den Fingern trat ich zu dem Pferde, das
-müde an der Deichsel hing, aber nun wandte es sich her und schnaubte mir
-freundlich zu. Auch in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa
-Nüster streichelte und ihm das Brot hinreichte. Und kaum daß ichs getan,
-begehrte ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren,
-wie man mit ein paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst
-auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren keine
-Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben wollten, die
-dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken Bündeln an vielen
-Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das schlechte Geschäft des
-langen heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. »Geben Sie mir die Ballons.«
-»Zehn Heller das Stück,« sagte er mißtrauisch, denn was wollte dieser
-elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen Ballons? »Geben
-Sie mir alle,« sagte ich und gab ihm einen Zehnkronenschein. Er torkelte
-auf, sah mich wie geblendet an, dann gab er mir zitternd die Schnur, die
-das ganze Bündel hielt. Straff fühlte ich es an dem Finger ziehn: sie
-wollten weg, wollten frei sein, wollten hinauf in den Himmel hinein. So
-geht, fliegt, wohin ihr begehrt, seid frei! Ich ließ die Schnüre los,
-und wie viele bunte Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten
-liefen die Leute her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten,
-die Kutscher knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig
-rufend mit den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Bäume hin
-zu den Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte
-seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.
-
-Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut,
-Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der
-Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre
-der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein.
-Und ich nahm sie, die gestohlenen des Lajos und die eigenen -- denn
-nichts empfand ich mehr davon als Unterschied oder Schuld -- zwischen
-die Finger, bereit, sie jedem hinzustreuen, der eine wollte. Ich ging
-hinüber zu einem Straßenkehrer, der verdrossen die verlassene
-Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach irgendeiner Gasse
-fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm einen
-Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er ihn
-endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm
-nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür,« und ging weiter. Immer sah
-ich nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da
-niemand kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich
-einen Schein, zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene
-Luke einer Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von
-Staunen, Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf
-ich sie einzeln und zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen
-einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei
-der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer
-Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf
-ihrem Weg entdecken würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in
-dieser Nacht mich selber entdeckt.
-
-Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die
-Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgendein Taumel
-in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter
-weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen
-können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die
-Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des
-Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden
-meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge
-wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr
-Leben und das meine ganz das gleiche waren, eben das große, das
-gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte Leben, das nur die Liebe
-begreift, nur der Hingegebene umfaßt.
-
-Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich,
-selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu
-meinen Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über
-mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die
-Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in
-sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm,
-was diese Nacht so schön gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch
-werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, fühllose, weltabgelöste
-Gentleman von gestern und einst, lieber hinabstürzen in alle Tiefen des
-Verbrechens und des Grauens, aber doch in die Wirklichkeit des Lebens!
-Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete ich mich, der Schlaf
-möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße, das Glühende, das
-Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit
-seinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und
-unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.
-
-Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und
-nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun
-vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt,
-ich blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit
-von damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen
-verlor, ins Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen
-Abgrund den Taumel der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des
-ganzen Lebens berauscht gemengt empfand, -- diese fliegende Hitze, sie
-freilich ist dahin, aber ich spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes
-Blut mit jedem Atemzuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des
-Lebens. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen
-Sinnen, anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich
-wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich
-weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für
-mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein
-Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seitdem verbiete ich mir
-nichts mehr, weil ich die Normen und Formen meiner Gesellschaft als
-wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor andern noch vor mir selbst.
-Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben plötzlich einen kalten,
-blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne Grauen gar nicht
-auszusprechen. Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der Macht, die
-ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt,
-frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein,
-was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es
-nicht und will es nicht wissen. _Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft
-lebt, der sein Schicksal als ein Geheimnis lebt._
-
-Nie aber habe ich -- dessen bin ich gewiß -- das Leben inbrünstiger
-geliebt, und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige,
-das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgendeine seiner Formen und
-Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe ich
-unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen vor einer
-Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes mich
-begeistern. Ich achte mit einemmal auf alles, nichts ist mir
-gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf
-Vergnügungen und Auktionen durchblätterte) täglich hundert Dinge, die
-mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich auf.
-Und das merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen auch
-außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein Diener, den
-ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft
-mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen
-Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens
-erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares.
-Und diese Verwandlung scheint -- obzwar ich, um mich nicht zu verraten,
-mein Leben innerhalb der Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze
--- allmählich transparent zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal
-herzlich mit mir, zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde
-auf der Straße zu. Und Freunde sagen mir wie zu einem, der eine
-Krankheit überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fänden
-mich verjüngt.
-
-Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben
-beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint,
-alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich
-verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme
-lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich
-hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn -- er ist
-der erste, der mich beglückt, der erste, der mir das Blut gewärmt und
-mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner Erweckung
-hier aufzeichne, so tue ich es doch nur für mich allein, der all dies
-tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen vermögen. Gesprochen
-habe ich zu keinem Freunde davon; sie ahnten nie, wie abgestorben ich
-schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie blühend ich nun bin. Und sollte
-mitten in dies mein lebendiges Leben der Tod fahren und diese Zeilen je
-in eines andern Hände fallen, so schreckt und quält mich diese
-Möglichkeit durchaus nicht. Denn wem die Magie einer solchen Stunde nie
-bewußt geworden, wird ebensowenig verstehen, als ich es selbst vor einem
-halben Jahre hätte verstehen können, daß ein paar dermaßen flüchtige und
-scheinbar kaum verbundene Episoden eines einzigen Abends ein schon
-verloschenes Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich
-mich nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene
-weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich
-nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann
-nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in
-sich begriffen, der begreift alle Menschen.
-
-
-
-
- Brief einer Unbekannten
-
-
-Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem
-erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am
-Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog,
-erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste,
-besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und
-nicht weh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seiten der Zeitung
-und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung. Der Diener meldete
-aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telephonanrufe
-und überbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lässig sah er
-den Einlauf an, riß ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender
-interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzüge trug und zu
-umfangreich schien, schob er zunächst beiseite. Inzwischen war der Tee
-aufgetragen worden, bequem lehnte er sich in den Fauteuil,
-durchblätterte noch einmal die Zeitung und einige Drucksachen; dann
-zündete er sich eine Zigarre an und griff nun nach dem zurückgelegten
-Briefe.
-
-Es waren etwa zwei Dutzend hastig beschriebene Seiten in fremder,
-unruhiger Frauenschrift, ein Manuskript eher als ein Brief.
-Unwillkürlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein
-Begleitschreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Umschlag war leer
-und trug so wenig wie die Blätter selbst eine Absenderadresse oder eine
-Unterschrift. Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur
-Hand. »_Dir, der Du mich nie gekannt_«, stand oben als Anruf, als
-Überschrift. Verwundert hielt er inne: galt das ihm, galt das einem
-erträumten Menschen? Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zu
-lesen:
-
- * * * * *
-
-»Mein Kind ist gestern gestorben -- drei Tage und drei Nächte habe ich
-mit dem Tode um dies kleine, zarte Leben gerungen, vierzig Stunden bin
-ich, während die Grippe seinen armen, heißen Leib im Fieber schüttelte,
-an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seine glühende Stirn getan,
-ich habe seine unruhigen, kleinen Hände gehalten Tag und Nacht. Am
-dritten Abend bin ich zusammengebrochen. Meine Augen konnten nicht mehr,
-sie fielen zu, ohne daß ich es wußte. Drei Stunden oder vier war ich auf
-dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun
-liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz
-so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen,
-dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und
-vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht
-hinzusehen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die
-Kerzen, huschen Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund,
-und es ist dann so, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen,
-er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme
-etwas Kindlich-Zärtliches zu mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot,
-ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nicht noch
-einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist
-gestern gestorben -- jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur
-Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder
-mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und
-den ich immer geliebt.
-
-Ich habe die fünfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf
-dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem
-toten Kinde, ohne mir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ich
-sprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir
-alles warst und alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu
-Dir sprechen, vielleicht verstehst Du mich nicht -- mein Kopf ist ja
-ganz dumpf, es zuckt und hämmert mir an den Schläfen, meine Glieder tun
-so weh. Ich glaube, ich habe Fieber, vielleicht auch schon die Grippe,
-die jetzt von Tür zu Tür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge
-ich mit meinem Kinde und müßte nichts tun wider mich. Manchmal wirds mir
-ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal
-zu Ende schreiben -- aber ich will alle Kraft zusammentun, um einmal,
-nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Du mein Geliebter, der Du mich
-nie erkannt.
-
-Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmal alles sagen; mein
-ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du
-nie gewußt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin,
-wenn Du mir nicht mehr Antwort geben mußt, wenn das, was mir die Glieder
-jetzt so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ich
-weiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen,
-wie ich immer schwieg. Hältst Du ihn aber in Händen, so weißt Du, daß
-hier eine Tote Dir ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine war von
-ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde. Fürchte Dich nicht vor
-meinen Worten; eine Tote will nichts mehr, sie will nicht Liebe und
-nicht Mitleid und nicht Tröstung. Nur dies eine will ich von Dir, daß Du
-mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflüchtender Schmerz Dir verrät.
-Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich Dich: man lügt nicht in der
-Sterbestunde eines einzigen Kindes.
-
-Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben, das wahrhaft erst
-begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war bloß etwas Trübes
-und Verworrenes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte, irgendein
-Keller von verstaubten, spinnverwebten, dumpfen Dingen und Menschen, von
-denen mein Herz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre
-und wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst, in demselben Hause, wo
-Du diesen Brief, meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ich
-wohnte auf demselben Gange, gerade der Tür Deiner Wohnung gegenüber. Du
-erinnerst Dich gewiß nicht mehr an uns, an die ärmliche
-Rechnungsratswitwe (sie ging immer in Trauer) und das halbwüchsige,
-magere Kind -- wir waren ja ganz still, gleichsam hinabgetaucht in
-unsere kleinbürgerliche Dürftigkeit -- Du hast vielleicht nie unseren
-Namen gehört, denn wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, und
-niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch schon so lange her,
-fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weißt es gewiß nicht mehr, mein
-Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich leidenschaftlich an jede
-Einzelheit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich
-zum erstenmal von Dir hörte, Dich zum erstenmal sah, und wie sollte ichs
-auch nicht, denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde, Geliebter,
-daß ich Dir alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die
-eine Viertelstunde von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang
-Dich zu lieben nicht müde geworden bin.
-
-Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tür häßliche, böse,
-streitsüchtige Leute. Arm wie sie waren, haßten sie am meisten die
-nachbarliche Armut, die unsere, weil sie nichts gemein haben wollte mit
-ihrer herabgekommenen, proletarischen Roheit. Der Mann war ein
-Trunkenbold und schlug seine Frau; oft wachten wir auf in der Nacht vom
-Getöse fallender Stühle und zerklirrter Teller, einmal lief sie, blutig
-geschlagen, mit zerfetzten Haaren auf die Treppe, und hinter ihr grölte
-der Betrunkene, bis die Leute aus den Türen kamen und ihn mit der
-Polizei bedrohten. Meine Mutter hatte von Anfang an jeden Verkehr mit
-ihnen vermieden und verbot mir, zu den Kindern zu sprechen, die sich
-dafür bei jeder Gelegenheit an mir rächten. Wenn sie mich auf der Straße
-trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mir her und schlugen mich
-einmal so mit harten Schneeballen, daß mir das Blut von der Stirne lief.
-Das ganze Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt diese Menschen, und
-als plötzlich einmal etwas geschehen war -- ich glaube, der Mann wurde
-wegen eines Diebstahls eingesperrt -- und sie mit ihrem Kram ausziehen
-mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der Vermietungszettel
-am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch den Hausmeister
-verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner, ruhiger
-Herr, habe die Wohnung genommen. Damals hörte ich zum erstenmal Deinen
-Namen.
-
-Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher, Zimmerputzer,
-Tapezierer, die Wohnung nach ihren schmierigen Vorbesitzern reinzufegen,
-es wurde gehämmert, geklopft, geputzt und gekratzt, aber die Mutter war
-nur zufrieden damit, sie sagte, jetzt werde endlich die unsaubere
-Wirtschaft drüben ein Ende haben. Dich selbst bekam ich, auch während
-der Übersiedlung, noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeiten überwachte
-Dein Diener, dieser kleine, ernste, grauhaarige Herrschaftsdiener, der
-alles mit einer leisen, sachlichen Art von oben herab dirigierte. Er
-imponierte uns allen sehr, erstens weil in unserem Vorstadthaus ein
-Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen
-so ungemein höflich war, ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine
-Stufe zu stellen und in kameradschaftliche Gespräche einzulassen. Meine
-Mutter grüßte er vom ersten Tage an respektvoll als eine Dame, sogar zu
-mir Fratzen war er immer zutraulich und ernst. Wenn er Deinen Namen
-nannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehrfurcht, mit einem
-besonderen Respekt -- man sah gleich, daß er Dir weit über das Maß des
-gewohnten Dienens anhing. Und wie habe ich ihn dafür geliebt, den guten
-alten Johann, obwohl ich ihn beneidete, daß er immer um Dich sein durfte
-und Dir dienen.
-
-Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen, fast
-lächerlichen Dinge, damit Du verstehst, wie Du von Anfang an schon eine
-solche Macht gewinnen konntest über das scheue, verschüchterte Kind, das
-ich war. Noch ehe Du selbst in mein Leben getreten, war schon ein Nimbus
-um Dich, eine Sphäre von Reichtum, Sonderbarkeit und Geheimnis -- wir
-alle in dem kleinen Vorstadthaus (Menschen, die ein enges Leben haben,
-sind ja immer neugierig auf alles Neue vor ihren Türen) warteten schon
-ungeduldig auf Deinen Einzug. Und diese Neugier nach Dir, wie steigerte
-sie sich erst bei mir, als ich eines Nachmittags von der Schule nach
-Hause kam und der Möbelwagen vor dem Hause stand. Das meiste, die
-schweren Stücke, hatten die Träger schon hinaufbefördert, nun trug man
-einzeln kleinere Sachen hinauf; ich blieb an der Tür stehen, um alles
-bestaunen zu können, denn alle Deine Dinge waren so seltsam anders, wie
-ich sie nie gesehen; es gab da indische Götzen, italienische Skulpturen,
-ganz grelle, große Bilder, und dann zum Schluß kamen Bücher, so viele
-und so schöne, wie ich es nie für möglich gehalten. An der Tür wurden
-sie alle aufgeschichtet, dort übernahm sie der Diener und schlug mit
-Stock und Wedel sorgfältig den Staub aus jedem einzelnen. Ich schlich
-neugierig um den immer wachsenden Stoß herum, der Diener wies mich nicht
-weg, aber er ermutigte mich auch nicht; so wagte ich keines anzurühren,
-obwohl ich das weiche Leder von manchen gern befühlt hätte. Nur die
-Titel sah ich scheu von der Seite an: es waren französische, englische
-darunter und manche in Sprachen, die ich nicht verstand. Ich glaube, ich
-hätte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein.
-
-Den ganzen Abend dann mußte ich an Dich denken; noch ehe ich Dich
-kannte. Ich besaß selbst nur ein Dutzend billige, in zerschlissene Pappe
-gebundene Bücher, die ich über alles liebte und immer wieder las. Und
-nun bedrängte mich dies, wie der Mensch sein müßte, der all diese vielen
-herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen
-wußte, der so reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überirdischer
-Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieser vielen Bücher. Ich suchte
-Dich mir im Bilde vorzustellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille
-und einem weißen langen Barte, ähnlich wie unser Geographieprofessor,
-nur viel gütiger, schöner und milder -- ich weiß nicht, warum ich damals
-schon gewiß war, Du müßtest schön sein, wo ich noch an Dich wie einen
-alten Mann dachte. Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen,
-habe ich das erstemal von Dir geträumt.
-
-Am nächsten Tage zogst Du ein, aber trotz allen Spähens konnte ich Dich
-nicht zu Gesicht bekommen -- das steigerte nur meine Neugier. Endlich,
-am dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschütternd war die Überraschung
-für mich, daß Du so anders warst, so ganz ohne Beziehung zu dem
-kindlichen Gottvaterbilde. Einen bebrillten gütigen Greis hatte ich mir
-geträumt, und da kamst Du -- Du, ganz so, wie Du noch heute bist, Du
-Unwandelbarer, an dem die Jahre lässig abgleiten! Du trugst eine
-hellbraune, entzückende Sportdreß und liefst in Deiner unvergleichlich
-leichten knabenhaften Art die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf
-einmal nehmend. Den Hut trugst Du in der Hand, so sah ich mit einem gar
-nicht zu schildernden Erstaunen Dein helles, lebendiges Gesicht mit dem
-jungen Haar: wirklich, ich erschrak vor Erstaunen, wie jung, wie hübsch,
-wie federnd-schlank und elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: in
-dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich das, was ich und alle
-anderen an Dir als so einzig mit einer Art Überraschung immer wieder
-empfinden: daß Du irgendein zwiefacher Mensch bist, ein heißer,
-leichtlebiger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebener Junge, und
-gleichzeitig in Deiner Kunst ein unerbittlich ernster, pflichtbewußter,
-unendlich belesener und gebildeter Mann. Unbewußt empfand ich, was dann
-jeder bei Dir spürte, daß Du ein Doppelleben führst, ein Leben mit einer
-hellen, der Welt offen zugekehrten Fläche, und einer ganz dunkeln, die
-Du nur allein kennst -- diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner
-Existenz, sie fühlte ich, die Dreizehnjährige, magisch angezogen, mit
-meinem ersten Blick.
-
-Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wunder, was für eine
-verlockende Rätselhaftigkeit Du für mich, das Kind, sein mußtest! Einen
-Menschen, vor dem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb, weil er
-berühmt war in jener anderen großen Welt, plötzlich als einen jungen,
-eleganten, knabenhaft heiteren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu
-entdecken! Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an in unserem
-Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als
-Du, daß ich mit dem ganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden
-Beharrlichkeit einer Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben, um Deine
-Existenz herumging. Ich beobachtete Dich, ich beobachtete Deine
-Gewohnheiten, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das
-vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn
-die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens drückte sich in der
-Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge Menschen, Kameraden
-von Dir, mit denen Du lachtest und übermütig warst, abgerissene
-Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren, einmal der
-Direktor der Oper, der große Dirigent, den ich ehrfürchtig nur am Pulte
-von fern gesehen, dann wieder kleine Mädel, die noch in die
-Handelsschule gingen und verlegen in die Tür hineinhuschten, überhaupt
-viel, sehr viel Frauen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch
-nicht, als ich eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame ganz
-verschleiert von Dir weggehen sah -- ich war ja erst dreizehn Jahre alt,
-und die leidenschaftliche Neugier, mit der ich Dich umspähte und
-belauerte, wußte im Kinde noch nicht, daß sie schon Liebe war.
-
-Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann
-ich ganz und für immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer
-Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem
-Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit
-Deiner ungeduldigen, elastischen Art, die mich noch heute an Dir immer
-hinreißt, vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlich zwang es
-mich, Dir die Tür aufzumachen, und so trat ich Dir in den Weg, daß wir
-fast zusammengerieten. Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen,
-einhüllenden Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächeltest mir -- ja,
-ich kann es nicht anders sagen, als: zärtlich zu und sagtest mit einer
-ganz leisen und fast vertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Fräulein.«
-
-Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen
-weichen, zärtlichen Blick gespürt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja
-später, habe es bald erfahren, daß Du diesen umfangenden, an Dich
-ziehenden, diesen umhüllenden und doch zugleich entkleidenden Blick,
-diesen Blick des gebornen Verführers, jeder Frau hingibst, die an Dich
-streift, jedem Ladenmädchen, das Dir verkauft, jedem Stubenmädchen, das
-Dir die Tür öffnet, daß dieser Blick bei Dir gar nicht bewußt ist als
-Wille und Neigung, sondern daß Deine Zärtlichkeit zu Frauen ganz
-unbewußt Deinen Blick weich und warm werden läßt, wenn er sich ihnen
-zuwendet. Aber ich, das dreizehnjährige Kind, ahnte das nicht: ich war
-wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur
-mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir, der
-Halbwüchsigen, erwacht und war diese Frau Dir für immer verfallen.
-
-»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich
-antworten. Es war mir unmöglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser
-einen, dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein Geheimnis
-geworden. »Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt,« stammelte ich
-dann ungeschickt heraus. »Aber warum bist Du denn so rot geworden, wie
-er Dich angeschaut hat,« spottete die Freundin mit der ganzen Bosheit
-eines neugierigen Kindes. Und eben weil ich fühlte, daß sie an mein
-Geheimnis spottend rühre, fuhr mir das Blut noch heißer in die Wangen.
-Ich wurde grob aus Verlegenheit. »Blöde Gans,« sagte ich wild: am
-liebsten hätte ich sie erdrosselt. Aber sie lachte nur noch lauter und
-höhnischer, bis ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augen schossen vor
-ohnmächtigem Zorn. Ich ließ sie stehen und lief hinauf.
-
-Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ich weiß, Frauen haben Dir,
-dem Verwöhnten, oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat
-Dich so sklavisch, so hündisch, so hingebungsvoll geliebt als dieses
-Wesen, das ich war und das ich für Dich immer geblieben bin, denn nichts
-auf Erden gleicht der unbemerkten Liebe eines Kindes aus dem Dunkel,
-weil sie so hoffnungslos, so dienend, so unterwürfig, so lauernd und
-leidenschaftlich ist, wie niemals die begehrende und unbewußt doch
-fordernde Liebe einer erwachsenen Frau. Nur einsame Kinder können ganz
-ihre Leidenschaft zusammenhalten: die anderen zerschwätzen ihr Gefühl in
-Geselligkeit, schleifen es ab in Vertraulichkeiten, sie haben von Liebe
-viel gehört und gelesen und wissen, daß sie ein gemeinsames Schicksal
-ist. Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen damit, wie
-Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um
-mich anzuvertrauen, war von keinem belehrt und gewarnt, war unerfahren
-und ahnungslos: ich stürzte hinein in mein Schicksal wie in einen
-Abgrund. Alles, was in mir wuchs und aufbrach, wußte nur Dich, den Traum
-von Dir, als Vertrauten: mein Vater war längst gestorben, die
-Mutter mir fremd in ihrer ewig unheiteren Bedrücktheit und
-Pensionistenängstlichkeit, die halbverdorbenen Schulmädchen stießen mich
-ab, weil sie so leichtfertig mit dem spielten, was mir letzte
-Leidenschaft war -- so warf ich alles, was sich sonst zersplittert und
-verteilt, warf ich mein ganzes zusammengepreßtes und immer wieder
-ungeduldig aufquellendes Wesen Dir entgegen. Du warst mir -- wie soll
-ich es Dir sagen? jeder einzelne Vergleich ist zu gering, -- Du warst
-eben alles, mein ganzes Leben. Alles existierte nur insofern, als es
-Bezug hatte auf Dich, alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es
-mit Dir verbunden war. Du verwandeltest mein ganzes Leben. Bisher
-gleichgültig und mittelmäßig in der Schule, wurde ich plötzlich die
-Erste, ich las tausend Bücher bis tief in die Nacht, weil ich wußte, daß
-Du die Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter,
-plötzlich mit fast störrischer Beharrlichkeit Klavier zu üben, weil ich
-glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern, nur
-um gefällig und proper vor Dir auszusehen, und daß ich an meiner alten
-Schulschürze (sie war ein zugeschnittenes Hauskleid meiner Mutter) links
-einen eingesetzten viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich. Ich
-fürchtete, Du könntest ihn bemerken und mich verachten; darum drückte
-ich immer die Schultasche darauf, wenn ich die Treppen hinauflief,
-zitternd vor Angst, Du würdest ihn sehen. Aber wie töricht war das: Du
-hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.
-
-Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten
-und Dich belauern. An unserer Tür war ein kleines messingenes Guckloch,
-durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen
-konnte. Dieses Guckloch -- nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute,
-noch heute schäme ich mich jener Stunden nicht! -- war mein Auge in die
-Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor dem Argwohn der
-Mutter, saß ich in jenen Monaten und Jahren, ein Buch in der Hand, ganze
-Nachmittage auf der Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend, wenn
-Deine Gegenwart sie berührte. Ich war immer um Dich, immer in Spannung
-und Bewegung; aber Du konntest es so wenig fühlen wie die Spannung der
-Uhrfeder, die Du in der Tasche trägst und die geduldig im Dunkel Deine
-Stunden zählt und mißt, Deine Wege mit unhörbarem Herzpochen begleitet
-und auf die nur einmal in Millionen tickender Sekunden Dein hastiger
-Blick fällt. Ich wußte alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten,
-jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzüge, ich kannte und unterschied
-bald Deine einzelnen Bekannten und teilte sie in solche, die mir lieb
-und solche, die mir widrig waren: von meinem dreizehnten bis zu meinem
-sechzehnten Jahre habe ich jede Stunde in Dir gelebt. Ach, was für
-Torheiten habe ich begangen! Ich küßte die Türklinke, die Deine Hand
-berührt hatte, ich stahl einen Zigarrenstummel, den Du vor dem Eintreten
-weggeworfen hattest, und er war mir heilig, weil Deine Lippen daran
-gerührt. Hundertmal lief ich abends unter irgendeinem Vorwand hinab auf
-die Gasse, um zu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht brenne und so
-Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissender zu fühlen. Und in den
-Wochen, wo Du verreist warst -- mir stockte immer das Herz vor Angst,
-wenn ich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinabtragen sah --, in
-diesen Wochen war mein Leben tot und ohne Sinn. Mürrisch, gelangweilt,
-böse ging ich herum und mußte nur immer achtgeben, daß die Mutter an
-meinen verweinten Augen nicht meine Verzweiflung merke.
-
-Ich weiß, das sind alles groteske Überschwänge, kindische Torheiten, die
-ich Dir da erzähle. Ich sollte mich ihrer schämen, aber ich schäme mich
-nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als
-in diesen kindlichen Exzessen. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir
-erzählen, wie ich damals mit Dir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht
-kanntest, denn begegnete ich Dir auf der Treppe und gab es kein
-Ausweichen, so lief ich, aus Furcht vor Deinem brennenden Blick, mit
-gesenktem Kopf an Dir vorbei wie einer, der ins Wasser stürzt, nur daß
-mich das Feuer nicht versenge. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir von
-jenen Dir längst entschwundenen Jahren erzählen, den ganzen Kalender
-Deines Lebens aufrollen; aber ich will Dich nicht langweilen, will Dich
-nicht quälen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir
-noch anvertrauen, und ich bitte Dich, nicht zu spotten, weil es ein so
-Geringes ist, denn mir, dem Kinde, war es eine Unendlichkeit. An einem
-Sonntag muß es gewesen sein, Du warst verreist, und Dein Diener
-schleppte die schweren Teppiche, die er geklopft hatte, durch die offene
-Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von
-Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte.
-Er war erstaunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich -- vermöchte
-ich Dirs doch nur zu sagen, mit welcher ehrfürchtigen, ja frommen
-Verehrung! -- Deine Wohnung von innen, Deine Welt, den Schreibtisch, an
-dem Du zu sitzen pflegtest und auf dem in einer blauen Kristallvase ein
-paar Blumen standen, Deine Schränke, Deine Bilder, Deine Bücher. Nur ein
-flüchtiger, diebischer Blick war es in Dein Leben, denn Johann, der
-Getreue, hätte mir gewiß genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit
-diesem einen Blick die ganze Atmosphäre ein und hatte Nahrung für meine
-unendlichen Träume von Dir im Wachen und Schlaf.
-
-Dies, diese rasche Minute, sie war die glücklichste meiner Kindheit. Sie
-wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu
-ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Sie wollte ich
-Dir erzählen und jene andere noch, die fürchterlichste Stunde, die jener
-leider so nachbarlich war. Ich hatte -- ich sagte es Dir ja schon -- um
-Deinetwillen an alles vergessen, ich hatte auf meine Mutter nicht acht
-und kümmerte mich um niemanden. Ich merkte nicht, daß ein älterer Herr,
-ein Kaufmann aus Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt verschwägert
-war, öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er
-führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an
-Dich denken, auf Dich lauern, was ja meine höchste, meine einzige
-Seligkeit war. Eines Tages nun rief mich die Mutter mit einer gewissen
-Umständlichkeit in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich
-wurde blaß und hörte mein Herz plötzlich hämmern: sollte sie etwas
-geahnt, etwas erraten haben? Mein erster Gedanke warst Du, das
-Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst
-verlegen, sie küßte mich (was sie sonst nie tat) zärtlich ein- und
-zweimal, zog mich auf das Sofa zu sich und begann dann zögernd und
-verschämt zu erzählen, ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen
-Heiratsantrag gemacht, und sie sei, hauptsächlich um meinetwillen,
-entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur
-ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aber wir bleiben
-doch hier?« konnte ich gerade noch stammeln. »Nein, wir ziehen nach
-Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.« Mehr hörte ich nicht.
-Mir ward schwarz vor den Augen. Später wußte ich, daß ich in Ohnmacht
-gefallen war; ich sei, hörte ich die Mutter dem Stiefvater leise
-erzählen, der hinter der Tür gewartet hatte, plötzlich mit
-aufgespreizten Händen zurückgefahren und dann hingestürzt wie ein
-Klumpen Blei. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich, ein
-machtloses Kind, wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich
-Dir nicht schildern: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die
-Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten,
-so schien meine Gegenwehr bloß Starrsinn, Bosheit und Trotz. Niemand
-sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden,
-da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann
-nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder
-verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und
-einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und
-hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten
-Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch
-eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.
-
-An diesem letzten Tage fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, daß
-ich nicht leben konnte ohne Deine Nähe. Ich wußte keine andere Rettung
-als Dich. Wie ich mirs dachte und ob ich überhaupt klar in diesen
-Stunden der Verzweiflung zu denken vermochte, das werde ich nie sagen
-können, aber plötzlich -- die Mutter war fort -- stand ich auf im
-Schulkleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ich ging nicht:
-es stieß mich mit steifen Beinen, mit zitternden Gelenken magnetisch
-fort zu Deiner Tür. Ich sagte Dir schon, ich wußte nicht deutlich, was
-ich wollte: Dir zu Füßen fallen und Dich bitten, mich zu behalten als
-Magd, als Sklavin, und ich fürchte, Du wirst lächeln über diesen
-unschuldigen Fanatismus einer Fünfzehnjährigen, aber, -- Geliebter, Du
-würdest nicht mehr lächeln, wüßtest Du, wie ich damals draußen im
-eiskalten Gange stand, starr vor Angst und doch vorwärts gestoßen von
-einer unfaßbaren Macht, und wie ich den Arm, den zitternden, mir
-gewissermaßen vom Leib losriß, daß er sich hob und -- es war ein Kampf
-durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden -- den Finger auf den Knopf
-der Türklinke drückte. Noch heute gellts mir im Ohr, dies schrille
-Klingelzeichen, und dann die Stille danach, wo mir das Herz stillstand,
-wo mein ganzes Blut anhielt und nur lauschte, ob Du kämest.
-
-Aber Du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem
-Nachmittage und Johann auf Besorgung; so tappte ich, den toten Ton der
-Klingel im dröhnenden Ohr, in unsere zerstörte, ausgeräumte Wohnung
-zurück und warf mich erschöpft auf einen Plaid, müde von den vier
-Schritten, als ob ich stundenlang durch tiefen Schnee gegangen sei. Aber
-unter dieser Erschöpfung glühte noch unverlöscht die Entschlossenheit,
-Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Es war, ich
-schwöre es Dir, kein sinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend,
-eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehen wollte ich Dich,
-einmal noch sehen, mich anklammern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze
-lange, entsetzliche Nacht, habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet.
-Kaum daß die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war,
-schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause
-kämest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige
-Januarnacht. Ich war müde, meine Glieder schmerzten mich, und es war
-kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den
-kalten Boden, über den der Zug von der Tür hinstrich. Nur in meinem
-dünnen Kleide lag ich auf dem schmerzenden kalten Boden, denn ich nahm
-keine Decke; ich wollte es nicht warm haben, aus Furcht, einzuschlafen
-und Deinen Schritt zu überhören. Es tat weh, meine Füße preßte ich im
-Krampfe zusammen, meine Arme zitterten: ich mußte immer wieder
-aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete,
-wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal.
-
-Endlich -- es muß schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein -- hörte
-ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf.
-Wie abgesprungen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leise
-machte ich die Tür auf, um Dir entgegenzustürzen, Dir zu Füßen zu fallen
-... Ach, ich weiß ja nicht, was ich törichtes Kind damals getan hätte.
-Die Schritte kamen näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitternd hielt ich
-die Klinke. Warst Du es, der da kam?
-
-Ja, Du warst es, Geliebter -- aber Du warst nicht allein. Ich hörte ein
-leises, kitzliches Lachen, irgendein streifendes seidenes Kleid und
-leise Deine Stimme -- Du kamst mit einer Frau nach Hause ...
-
-Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht. Am nächsten
-Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck; ich hatte keine
-Kraft mehr, mich zu wehren.
-
- * * * * *
-
-Mein Kind ist gestern nacht gestorben -- nun werde ich wieder allein
-sein, wenn ich wirklich weiterleben muß. Morgen werden sie kommen,
-fremde, schwarze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden
-es hineinlegen, mein armes, mein einziges Kind. Vielleicht kommen auch
-Freunde und bringen Kränze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Sie
-werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen, Worte, Worte; aber
-was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muß dann doch wieder allein
-sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den
-Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen unendlichen zwei
-Jahren in Innsbruck, jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem
-achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßene zwischen meiner
-Familie lebte. Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war
-gut zu mir, meine Mutter schien, wie um ein unbewußtes Unrecht zu
-sühnen, allen meinen Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um
-mich, aber ich stieß sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz zurück.
-Ich wollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir, ich
-grub mich selbst in eine finstere Welt von Selbstqual und Einsamkeit.
-Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an, ich
-weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen oder Ausflüge in
-heiterer Gesellschaft mitzumachen. Kaum daß ich je die Gasse betrat:
-würdest Du es glauben, Geliebter, daß ich von dieser kleinen Stadt, in
-der ich zwei Jahre gelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und
-ich wollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbehrung, die ich mir
-zu der Deines Anblicks noch auferlegte. Und dann: ich wollte mich nicht
-ablenken lassen von meiner Leidenschaft, nur in Dir zu leben. Ich saß
-allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu
-denken, immer wieder, immer wieder die hundert kleinen Erinnerungen an
-Dich, jede Begegnung, jedes Warten, mir zu erneuern, mir diese kleinen
-Episoden vorzuspielen wie im Theater. Und darum, weil ich jede der
-Sekunden von einst mir unzähligemale wiederholte, ist auch meine ganze
-Kindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben, daß ich jede Minute
-jener vergangenen Jahre so heiß und springend fühle, als wäre sie
-gestern durch mein Blut gefahren.
-
-Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaufte mir alle Deine Bücher;
-wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst
-Du es glauben, daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so
-oft habe ich sie gelesen? Würde mich einer nachts aus dem Schlaf
-aufwecken und eine losgerissene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich
-könnte sie heute noch, heute noch nach dreizehn Jahren, weitersprechen
-wie im Traum: so war jedes Wort von Dir mir Evangelium und Gebet. Die
-ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich: ich las in den
-Wiener Zeitungen die Konzerte, die Premieren nach nur mit dem Gedanken,
-welche Dich davon interessieren möchte, und wenn es Abend wurde,
-begleitete ich Dich von ferne: jetzt tritt er in den Saal, jetzt setzt
-er sich nieder. Tausendmal träumte ich das, weil ich Dich ein einziges
-Mal in einem Konzert gesehen.
-
-Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegen sich selbst
-wütenden, diesen so tragischen hoffnungslosen Fanatismus eines
-verlassenen Kindes, wozu es einem erzählen, der es nie geahnt, der es
-nie gewußt? Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde
-siebzehn, wurde achtzehn Jahre -- die jungen Leute begannen sich auf der
-Straße nach mir umzublicken, doch sie erbitterten mich nur. Denn Liebe
-oder auch nur ein Spiel mit Liebe im Gedanken an jemanden andern als an
-Dich, das war mir so unerfindlich, so unausdenklich fremd, ja die
-Versuchung schon wäre mir als ein Verbrechen erschienen. Meine
-Leidenschaft zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie anders ward mit meinem
-Körper, mit meinen wacheren Sinnen, glühender, körperlicher,
-frauenhafter. Und was das Kind in seinem dumpfen unbelehrten Willen, das
-Kind, das damals die Klingel Deiner Türe zog, nicht ahnen konnte, das
-war jetzt mein einziger Gedanke: mich Dir zu schenken, mich Dir
-hinzugeben.
-
-Die Menschen um mich vermeinten mich scheu, nannten mich schüchtern (ich
-hatte mein Geheimnis verbissen hinter den Zähnen). Aber in mir wuchs ein
-eiserner Wille. Mein ganzes Denken und Trachten war in eine Richtung
-gespannt: zurück nach Wien, zurück zu Dir. Und ich erzwang meinen
-Willen, so unsinnig, so unbegreiflich er den andern scheinen mochte.
-Mein Stiefvater war vermögend, er betrachtete mich als sein eigenes
-Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein
-Geld selbst verdienen und erreichte es endlich, daß ich in Wien zu einem
-Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam.
-
-Muß ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen
-Herbstabend -- endlich! endlich! -- in Wien ankam? Ich ließ die Koffer
-an der Bahn, stürzte mich in eine Straßenbahn -- wie langsam schien sie
-mir zu fahren, jede Haltestelle erbitterte mich -- und lief vor das
-Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Nun erst
-lebte die Stadt, die mich so fremd, so sinnlos umbraust hatte, nun erst
-lebte ich wieder, da ich Dich nahe ahnte, Dich, meinen ewigen Traum. Ich
-ahnte ja nicht, daß ich in Wirklichkeit Deinem Bewußtsein ebenso ferne
-war hinter Tälern, Bergen und Flüssen als nun, da nur die dünne
-leuchtende Glasscheibe Deines Fensters zwischen Dir war und meinem
-aufstrahlenden Blick. Ich sah nur empor und empor: da war Licht, da war
-das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von
-dieser Stunde geträumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen,
-weichen, verhangenen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
-Dann suchte ich erst mein Heim.
-
-Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich
-Dienst im Geschäft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb,
-denn diese Unruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhaft fühlen. Und
-geradeswegs, sobald die eisernen Rollbalken hinter mir niederdröhnten,
-lief ich zu dem geliebten Ziel. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir
-begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick
-Dein Gesicht umfassen dürfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschahs
-dann endlich, daß ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem
-Augenblick, wo ichs nicht vermutete: während ich eben hinauf zu Deinen
-Fenstern spähte, kamst Du quer über die Straße. Und plötzlich war ich
-wieder das Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blut mir in
-die Wangen schoß; unwillkürlich, wider meinen innersten Drang, der sich
-sehnte, Deine Augen zu fühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell
-wie gehetzt an Dir vorbei. Nachher schämte ich mich dieser
-schulmädelhaften scheuen Flucht, denn jetzt war mein Wille mir doch
-klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir
-erkannt sein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren, wollte von
-Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein.
-
-Aber Du bemerktest mich lange nicht, obzwar ich jeden Abend, auch bei
-Schneegestöber und in dem scharfen, schneidenden Wiener Wind in Deiner
-Gasse stand. Oft wartete ich stundenlang vergebens, oft gingst Du dann
-endlich vom Hause in Begleitung von Bekannten fort, zweimal sah ich Dich
-auch mit Frauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein, empfand das
-Neue, Andere meines Gefühls zu Dir an dem plötzlichen Herzzucken, das
-mir quer die Seele zerriß, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Arm
-mit Dir hingehen sah. Ich war nicht überrascht, ich kannte ja diese
-Deine ewigen Besucherinnen aus meinen Kindertagen schon, aber jetzt tat
-es mit einmal irgendwie körperlich weh, etwas spannte sich in mir,
-gleichzeitig feindlich und mitverlangend gegen diese offensichtliche,
-diese fleischliche Vertrautheit mit einer anderen. Einen Tag blieb ich,
-kindlich stolz wie ich war und vielleicht jetzt noch geblieben bin, von
-Deinem Hause weg: aber wie entsetzlich war dieser leere Abend des
-Trotzes und der Auflehnung. Am nächsten Abend stand ich schon wieder
-demütig vor Deinem Hause wartend, wartend, wie ich mein ganzes Schicksal
-lang vor Deinem verschlossenen Leben gestanden bin.
-
-Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich. Ich hatte Dich schon von
-ferne kommen sehen und straffte meinen Willen zusammen, Dir nicht
-auszuweichen. Der Zufall wollte, daß durch einen abzuladenden Wagen die
-Straße verengert war und Du ganz an mir vorbei mußtest. Unwillkürlich
-streifte mich Dein zerstreuter Blick, um sofort, kaum daß er der
-Aufmerksamkeit des meinen begegnete -- wie erschrak die Erinnerung in
-mir! -- jener Dein Frauenblick, jener zärtliche, hüllende und
-gleichzeitig enthüllende, jener umfangende und schon fassende Blick zu
-werden, der mich, das Kind, zum erstenmal zur Frau, zur Liebenden
-erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hielt dieser Blick so den meinen, der
-sich nicht wegreißen konnte und wollte, -- dann warst Du an mir vorbei.
-Mir schlug das Herz: unwillkürlich mußte ich meinen Schritt
-verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zu bezwingenden Neugier mich
-umwandte, sah ich, daß Du stehengeblieben warst und mir nachsahst. Und
-an der Art, wie Du neugierig interessiert mich beobachtetest, wußte ich
-sofort: Du erkanntest mich nicht.
-
-Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hast Du mich erkannt.
-Wie soll ich Dir, Geliebter, die Enttäuschung jener Sekunde schildern --
-damals war es ja das erstemal, daß ichs erlitt, dies Schicksal, von Dir
-nicht erkannt zu sein, das ich ein Leben durchlebt habe, und mit dem ich
-sterbe; unerkannt, immer noch unerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir
-schildern, diese Enttäuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in
-Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir
-unsere erste Wiederbegegnung in Wien auszudenken, da hatte ich die
-wildesten Möglichkeiten neben den seligsten, je nach dem Zustand meiner
-Laune, ausgeträumt. Alles war, wenn ich so sagen darf, durchgeträumt;
-ich hatte mir in finstern Momenten vorgestellt, Du würdest mich
-zurückstoßen, würdest mich verachten, weil ich zu gering, zu häßlich, zu
-aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Mißgunst, Deiner Kälte,
-Deiner Gleichgültigkeit, sie alle hatte ich durchgewandelt in
-leidenschaftlichen Visionen -- aber dies, dies eine hatte ich in keiner
-finstern Regung des Gemüts, nicht im äußersten Bewußtsein meiner
-Minderwertigkeit in Betracht zu ziehen gewagt, dies Entsetzlichste: daß
-Du überhaupt von meiner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute verstehe
-ich es ja -- ach, Du hast michs verstehen gelehrt! -- daß das Gesicht
-eines Mädchens, einer Frau etwas ungemein Wandelhaftes sein muß für
-einen Mann, weil es meist nur Spiegel ist, bald einer Leidenschaft, bald
-einer Kindlichkeit, bald eines Müdeseins, und so leicht verfließt wie
-ein Bildnis im Spiegel, daß also ein Mann leichter das Antlitz einer
-Frau verlieren kann, weil das Alter darin durchwandelt mit Schatten und
-Licht, weil die Kleidung es von einemmal zum andern anders rahmt. Die
-Resignierten, sie sind ja erst die wahren Wissenden. Aber ich, das
-Mädchen von damals, ich konnte Deine Vergeßlichkeit noch nicht fassen,
-denn irgendwie war aus meiner maßlosen, unaufhörlichen Beschäftigung mit
-Dir der Wahn in mich gefahren, auch Du müßtest meiner oft gedenken und
-auf mich warten; wie hätte ich auch nur atmen können mit der Gewißheit,
-ich sei Dir nichts, nie rühre ein Erinnern an mich Dich leise an! Und
-dies Erwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daß nichts in Dir mich
-mehr kannte, kein Spinnfaden Erinnerung von Deinem Leben hinreiche zu
-meinem, das war ein erster Sturz hinab in die Wirklichkeit, eine erste
-Ahnung meines Schicksals.
-
-Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage später Dein Blick mit
-einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da
-erkanntest Du mich wiederum nicht als die, die Dich geliebt und die Du
-erweckt, sondern bloß als das hübsche achtzehnjährige Mädchen, das Dir
-vor zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich
-freundlich überrascht an, ein leichtes Lächeln umspielte Deinen Mund.
-Wieder gingst Du an mir vorbei und wieder den Schritt sofort
-verlangsamend: ich zitterte, ich jauchzte, ich betete, Du würdest mich
-ansprechen. Ich fühlte, daß ich zum erstenmal für Dich lebendig war:
-auch ich verlangsamte den Schritt, ich wich Dir nicht aus. Und plötzlich
-spürte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wußte, nun würde
-ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet hören. Wie
-eine Lähmung war die Erwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleiben
-zu müssen, so hämmerte mir das Herz -- da tratest Du an meine Seite. Du
-sprachst mich an mit Deiner leichten heitern Art, als wären wir lange
-befreundet -- ach, Du ahntest mich ja nicht, nie hast Du etwas von
-meinem Leben geahnt! -- so zauberhaft unbefangen sprachst Du mich an,
-daß ich Dir sogar zu antworten vermochte. Wir gingen zusammen die ganze
-Gasse entlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsam speisen wollten.
-Ich sagte ja. Was hätte ich Dir gewagt zu verneinen?
-
-Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant -- weißt Du noch, wo
-es war? Ach nein, Du unterscheidest es gewiß nicht mehr von andern
-solchen Abenden, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten, ein
-Abenteuer in einer ewig fortgeknüpften Kette. Was sollte Dich auch an
-mich erinnern: ich sprach ja wenig, weil es mir so unendlich beglückend
-war, Dich nahe zu haben, Dich zu mir sprechen zu hören. Keinen
-Augenblick davon wollte ich durch eine Frage, durch ein törichtes Wort
-vergeuden. Nie werde ich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen, wie
-voll Du meine leidenschaftliche Ehrfurcht erfülltest, wie zart, wie
-leicht, wie taktvoll Du warst, ganz ohne Zudringlichkeit, ganz ohne jene
-eiligen karessanten Zärtlichkeiten, und vom ersten Augenblick von einer
-so sicheren freundschaftlichen Vertrautheit, daß Du mich auch gewonnen
-hättest, wäre ich nicht schon längst mit meinem ganzen Willen und Wesen
-Dein gewesen. Ach, Du weißt ja nicht, ein wie Ungeheures Du erfülltest,
-indem Du mir fünf Jahre kindischer Erwartung nicht enttäuschtest!
-
-Es wurde spät, wir brachen auf. An der Tür des Restaurants fragtest Du
-mich, ob ich eilig wäre oder noch Zeit hätte. Wie hätte ichs
-verschweigen können, daß ich Dir bereit sei! Ich sagte, ich hätte noch
-Zeit. Dann fragtest Du, ein leises Zögern rasch überspringend, ob ich
-nicht noch ein wenig zu Dir kommen wollte, um zu plaudern. »Gerne,«
-sagte ich ganz aus der Selbstverständlichkeit meines Fühlens heraus und
-merkte sofort, daß Du von der Raschheit meiner Zusage irgendwie peinlich
-oder freudig berührt warst, jedenfalls aber sichtlich überrascht. Heute
-verstehe ich ja dies Dein Erstaunen; ich weiß, es ist bei Frauen üblich,
-auch wenn das Verlangen nach Hingabe in einer brennend ist, diese
-Bereitschaft zu verleugnen, ein Erschrecken vorzutäuschen oder eine
-Entrüstung, die durch eindringliche Bitte, durch Lügen, Schwüre und
-Versprechen erst beschwichtigt sein will. Ich weiß, daß vielleicht nur
-die Professionellen der Liebe, die Dirnen, eine solche Einladung mit
-einer so vollen freudigen Zustimmung beantworten, oder ganz naive, ganz
-halbwüchsige Kinder. In mir aber war es -- und wie konntest Du das ahnen
--- nur der wortgewordene Wille, die geballt vorbrechende Sehnsucht von
-tausend einzelnen Tagen. Jedenfalls aber: Du warst frappiert, ich begann
-Dich zu interessieren. Ich spürte, daß Du, während wir gingen, von der
-Seite her während des Gespräches mich irgendwie erstaunt mustertest.
-Dein Gefühl, Dein in allem Menschlichen so magisch sicheres Gefühl
-witterte hier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis in diesem
-hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugierige in Dir war wach, und ich
-merkte aus der umkreisenden, spürenden Art der Fragen, wie Du nach dem
-Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ich wollte lieber
-töricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten.
-
-Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, daß Du
-es nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe für mich waren,
-welcher Taumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quälendes, fast
-tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaum ohne Tränen daran denken, und
-ich habe keine mehr. Aber fühl es nur aus, daß jeder Gegenstand dort
-gleichsam durchdrungen war von meiner Leidenschaft, jeder ein Symbol
-meiner Kindheit, meiner Sehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male
-auf Dich gewartet, die Treppe, von der ich immer Deinen Schritt erhorcht
-und wo ich Dich zum erstenmal gesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die
-Seele gespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem ich einmal
-gekniet, das Knacken des Schlüssels, bei dem ich immer aufgesprungen von
-meiner Lauer. Die ganze Kindheit, meine ganze Leidenschaft, da nistete
-sie ja in diesen paar Metern Raum, hier war mein ganzes Leben, und jetzt
-fiel es nieder auf mich wie ein Sturm, da alles, alles sich erfüllte und
-ich mit Dir ging, ich mit Dir, in Deinem, in unserem Hause. Bedenke --
-es klingt ja banal, aber ich weiß es nicht anders zu sagen --, daß bis
-zu Deiner Tür alles Wirklichkeit, dumpfe tägliche Welt ein Leben lang
-gewesen war, und dort das Zauberreich des Kindes begann, Aladins Reich,
-bedenke, daß ich tausendmal mit brennenden Augen auf diese Tür gestarrt,
-die ich jetzt taumelnd durchschritt, und Du wirst ahnen -- aber nur
-ahnen, niemals ganz wissen, mein Geliebter! -- was diese stürzende
-Minute von meinem Leben wegtrug.
-
-Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast es nicht geahnt, daß
-vordem noch nie ein Mann mich berührt, noch keiner meinen Körper gefühlt
-oder gesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Geliebter, denn ich
-bot Dir ja keinen Widerstand, ich unterdrückte jedes Zögern der Scham,
-nur damit Du nicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erraten könntest,
-das Dich gewiß erschreckt hätte --, denn Du liebst ja nur das Leichte,
-das Spielende, das Gewichtlose, Du hast Angst, in ein Schicksal
-einzugreifen. Verschwenden willst Du Dich, Du, an alle, an die Welt, und
-willst kein Opfer. Wenn ich Dir jetzt sage, Geliebter, daß ich mich
-jungfräulich Dir gab, so flehe ich Dich an: mißversteh mich nicht! Ich
-klage Dich ja nicht an, Du hast mich nicht gelockt, nicht belogen, nicht
-verführt -- ich, ich selbst drängte zu Dir, warf mich an Deine Brust,
-warf mich in mein Schicksal. Nie, nie werde ich Dich anklagen, nein, nur
-immer Dir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust, wie schwebend
-von Seligkeit war für mich diese Nacht. Wenn ich die Augen auftat im
-Dunkeln und Dich fühlte an meiner Seite, wunderte ich mich, daß nicht
-die Sterne über mir waren, so sehr fühlte ich Himmel -- nein, ich habe
-niemals bereut, mein Geliebter, niemals um dieser Stunde willen. Ich
-weiß noch: als Du schliefst, als ich Deinen Atem hörte, Deinen Körper
-fühlte und mich selbst Dir so nah, da habe ich im Dunkeln geweint vor
-Glück.
-
-Am Morgen drängte ich frühzeitig schon fort. Ich mußte in das Geschäft
-und wollte auch gehen, ehe der Diener käme: er sollte mich nicht sehen.
-Als ich angezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in den Arm, sahst mich
-lange an; war es ein Erinnern, dunkel und fern, das in Dir wogte, oder
-schien ich Dir nur schön, beglückt, wie ich war? Dann küßtest Du mich
-auf den Mund. Ich machte mich leise los und wollte gehen. Da fragtest
-Du: »Willst Du nicht ein paar Blumen mitnehmen?« Ich sagte ja. Du nahmst
-vier weiße Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreibtisch (ach, ich
-kannte sie von jenem einzigen diebischen Kindheitsblick) und gabst sie
-mir. Tagelang habe ich sie noch geküßt.
-
-Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ich kam, und wieder war
-es wunderbar. Noch eine dritte Nacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest
-Du, Du müßtest verreisen, -- oh, wie haßte ich diese Reisen von meiner
-Kindheit her! -- und versprachst mir, mich sofort nach Deiner Rückkehr
-zu verständigen. Ich gab Dir eine _Poste restante_-Adresse -- meinen
-Namen wollte ich Dir nicht sagen. Ich hütete mein Geheimnis. Wieder
-gabst Du mir ein paar Rosen zum Abschied -- zum Abschied.
-
-Jeden Tag während zweier Monate fragte ich ... aber nein, wozu diese
-Höllenqual der Erwartung, der Verzweiflung Dir schildern. Ich klage Dich
-nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist, heiß und vergeßlich,
-hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wie Du immer gewesen
-und wie Du jetzt noch bist. Du warst längst zurück, ich sah es an Deinen
-erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Keine Zeile habe
-ich von Dir in meinen letzten Stunden, keine Zeile von Dir, dem ich mein
-Leben gegeben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine
-Verzweifelte. Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir
-geschrieben ... keine Zeile ...
-
- * * * * *
-
-Mein Kind ist gestern gestorben -- es war auch Dein Kind. Es war auch
-Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei Nächte, ich schwöre es
-Dir, und man lügt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich
-schwöre es Dir, denn kein Mann hat mich berührt von jenen Stunden, da
-ich mich Dir hingegeben, bis zu jenen andern, da es aus meinem Leib
-gerungen wurde. Ich war mir heilig durch Deine Berührung: wie hätte ich
-es vermocht, mich zu teilen an Dich, der mir alles gewesen, und an
-andere, die an meinem Leben nur leise anstreiften? Es war unser Kind,
-Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen,
-verschwenderischen, fast unbewußten Zärtlichkeit, unser Kind, unser
-Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun -- vielleicht erschreckt,
-vielleicht bloß erstaunt --, Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich
-dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von
-ihm spreche, da es hier im Dunkel schlafend, für immer schlafend, liegt,
-schon bereit fortzugehen und nie mehr wiederzukehren, nie mehr! Doch wie
-hätte ich es Dir sagen können? Nie hättest Du mir, der Fremden, der
-allzu Bereitwilligen dreier Nächte, die sich ohne Widerstand, ja
-begehrend, Dir aufgetan, nie hättest Du ihr, der Namenlosen einer
-flüchtigen Begegnung, geglaubt, daß sie Dir die Treue hielt, Dir, dem
-Untreuen, -- nie ohne Mißtrauen dies Kind als das Deine erkannt! Nie
-hättest Du, selbst wenn mein Wort Dir Wahrscheinlichkeit geboten, den
-heimlichen Verdacht abtun können, ich versuchte, Dir, dem Begüterten,
-das Kind fremder Stunde unterzuschieben. Du hättest mich beargwohnt, ein
-Schatten wäre geblieben, ein fliegender, scheuer Schatten von Mißtrauen
-zwischen Dir und mir. Das wollte ich nicht. Und dann, ich kenne Dich;
-ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst, ich weiß, es wäre
-Dir, der Du das Sorglose, das Leichte, das Spielende liebst in der
-Liebe, peinlich gewesen, plötzlich Vater, plötzlich verantwortlich zu
-sein für ein Schicksal. Du hättest Dich, Du, der Du nur in Freiheit
-atmen kannst, Dich irgendwie verbunden gefühlt mit mir. Du hättest mich
--- ja, ich weiß es, daß Du es getan hättest, wider Deinen eigenen wachen
-Willen --, Du hättest mich gehaßt für dieses Verbundensein. Vielleicht
-nur stundenlang, vielleicht nur flüchtige Minuten lang wäre ich Dir
-lästig gewesen, wäre ich Dir verhaßt worden -- ich aber wollte in meinem
-Stolze, Du solltest an mich ein Leben lang ohne Sorge denken. Lieber
-wollte ich alles auf mich nehmen, als Dir eine Last werden, und einzig
-die sein unter allen Deinen Frauen, an die Du immer mit Liebe, mit
-Dankbarkeit denkst. Aber freilich, Du hast nie an mich gedacht, Du hast
-mich vergessen.
-
-Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an.
-Verzeih mirs, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder
-fließt, verzeih mirs -- mein Kind, unser Kind liegt ja da tot unter den
-flackernden Kerzen; ich habe zu Gott die Fäuste geballt und ihn Mörder
-genannt, meine Sinne sind trüb und verwirrt. Verzeih mir die Klage,
-verzeihe sie mir! Ich weiß ja, daß Du gut bist und hilfreich im tiefsten
-Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet.
-Aber Deine Güte ist so sonderbar, sie ist eine, die offen liegt für
-jeden, daß er nehmen kann soviel seine Hände fassen, sie ist groß,
-unendlich groß Deine Güte, aber sie ist -- verzeih mir -- sie ist träge.
-Sie will gemahnt, will genommen sein. Du hilfst, wenn man Dich ruft,
-Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schwäche und nicht aus Freudigkeit.
-Du hast -- laß es Dir offen sagen -- den Menschen in Notdurft und Qual
-nicht lieber, als den Bruder im Glück. Und Menschen, die so sind wie Du,
-selbst die Gütigsten unter ihnen, sie bittet man schwer. Einmal, ich war
-noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der Tür, wie Du einem
-Bettler, der bei Dir geklingelt hatte, etwas gabst. Du gabst ihm rasch
-und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer
-gewissen Angst und Hast hin, er möchte nur bald wieder fortgehen, es
-war, als hättest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige,
-scheue, vor der Dankbarkeit flüchtende Art des Helfens habe ich nie
-vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Gewiß, ich
-weiß, Du hättest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewißheit,
-es sei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geld gegeben, reichlich
-Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir
-wegzuschieben; ja, ich glaube, Du hättest mich sogar beredet, das Kind
-vorzeitig abzutun. Und dies fürchtete ich vor allem -- denn was hätte
-ich nicht getan, so Du es begehrtest, wie hätte ich Dir etwas zu
-verweigern vermocht! Aber dieses Kind war alles für mich, war es doch
-von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Glückliche, der
-Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du für immer -- so
-meinte ich -- mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe, verbunden in
-meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich,
-Dein Leben wachsen spüren in meinen Adern, Dich nähren, Dich tränken,
-Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst
-Du, Geliebter, darum war ich so selig, als ich wußte, daß ich ein Kind
-von Dir hatte, darum verschwieg ich Dirs: denn nun konntest Du mir nicht
-mehr entfliehen.
-
-Freilich, Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie
-voraus fühlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll von Grauen
-und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit der Menschen. Ich hatte es nicht
-leicht. In das Geschäft konnte ich während der letzten Monate nicht mehr
-gehen, damit es den Verwandten nicht auffällig werde und sie nicht nach
-Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten -- so
-fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchen Schmuck, den ich hatte,
-die Zeit bis zur Niederkunft. Eine Woche vorher wurden mir aus einem
-Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so mußte
-ich in die Gebärklinik. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen
-und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub
-des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Es war zum
-Sterben dort: fremd, fremd, fremd war alles, fremd wir einander, die wir
-da lagen, einsam und voll Haß eine auf die andere, nur vom Elend, von
-der gleichen Qual in diesen dumpfen, von Chloroform und Blut, von Schrei
-und Stöhnen vollgepreßten Saal gestoßen. Was die Armut an Erniedrigung,
-an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort
-gelitten an dem Beisammensein mit Dirnen und mit Kranken, die aus der
-Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der
-jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen das Bettuch
-aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an
-der Habsucht der Wärterinnen -- oh, dort wird die Scham eines Menschen
-gekreuzigt mit Blicken und gegeißelt mit Worten. Die Tafel mit Deinem
-Namen, das allein bist dort noch Du, denn was im Bette liegt, ist bloß
-ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der
-Schau und des Studierens -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die
-ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was
-es heißt, allein, wehrlos, gleichsam am Versuchstisch, ein Kind zu
-gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke
-ich plötzlich wider meinen bewußten Willen an jenen vollgepfropften,
-dünstenden, von Seufzer, Gelächter und blutigem Schrei erfüllten Saal,
-in dem ich gelitten habe, an dieses Schlachthaus der Scham.
-
-Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal
-rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich
-geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal
-mußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuer ich es erkaufte,
-dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich
-hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln,
-in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot
-ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich mußte sie mir von der Seele
-schreien, dieses eine, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an,
-nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual. Nicht Dich klage
-ich an, ich schwöre es Dir, und nie habe ich mich im Zorn erhoben gegen
-Dich. Selbst in der Stunde, da mein Leib sich krümmte in den Wehen, da
-mein Körper vor Scham brannte unter den tastenden Blicken der Studenten,
-selbst in der Sekunde, da der Schmerz mir die Seele zerriß, habe ich
-Dich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jene Nächte bereut, nie
-meine Liebe zu Dir gescholten, immer habe ich Dich geliebt, immer die
-Stunde gesegnet, da Du mir begegnet bist. Und müßte ich noch einmal
-durch die Hölle jener Stunden und wüßte vordem, was mich erwartet, ich
-täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!
-
- * * * * *
-
-Unser Kind ist gestern gestorben -- Du hast es nie gekannt. Niemals,
-auch in der flüchtigen Begegnung des Zufalles hat dies blühende, kleine
-Wesen, Dein Wesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestreift. Ich hielt
-mich lange verborgen vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine
-Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich
-liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an
-meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen
-zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen,
-der an mir vorbeilebte, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich
-nähren mußte, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet
-vor meiner Unruhe nach Dir, meinem Verhängnis, gerettet durch dies Dein
-anderes Du, das aber wahrhaft mein war -- selten nur mehr, ganz selten
-drängte mein Gefühl sich demütig heran an Dein Haus. Nur eines tat ich:
-zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genau
-dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten
-Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich
-gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du
-einst solche Rosen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Antwort
-nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre
-die Erinnerung aufblühen zu lassen an jene Stunde -- das war mir genug.
-
-Du hast es nie gekannt, unser armes Kind -- heute klage ich mich an, daß
-ich es Dir verbarg, denn Du hättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt,
-den armen Knaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise die Lider
-aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen -- Deinen Augen! -- ein
-helles, frohes Licht warf über mich, über die ganze Welt. Ach, er war so
-heiter, so lieb: die ganze Leichtigkeit Deines Wesens war in ihm
-kindlich wiederholt, Deine rasche, bewegte Phantasie in ihm erneuert:
-stundenlang konnte er verliebt mit Dingen spielen, so wie Du mit dem
-Leben spielst, und dann wieder ernst mit hochgezogenen Brauen vor seinen
-Büchern sitzen. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm
-jene Zwiefältigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu
-entfalten, und je ähnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er
-hat gut gelernt, er plauderte Französisch wie eine kleine Elster, seine
-Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie hübsch war er dabei, wie
-elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem weißen Matrosenjäckchen.
-Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am
-Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und
-streichelten sein langes blondes Haar, auf dem Semmering, wenn er im
-Schlitten fuhr, wandten sich bewundernd die Leute nach ihm um. Er war so
-hübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des
-Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein
-Page aus dem achtzehnten Jahrhundert -- nun hat er nichts als sein
-Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und
-eingefalteten Händen.
-
-Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen
-konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle, dies heitere Leben der
-oberen Welt zu vergönnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir;
-ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht,
-Geliebter -- ich habe mich verkauft. Ich wurde nicht gerade das, was man
-ein Mädchen von der Straße nennt, eine Dirne, aber ich habe mich
-verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich
-sie, dann suchten sie mich, denn ich war -- hast Du es je bemerkt? --
-sehr schön. Jeder, dem ich mich gab, gewann mich lieb, alle haben mir
-gedankt, alle an mir gehangen, alle mich geliebt -- nur Du nicht, nur Du
-nicht, mein Geliebter!
-
-Verachtest Du mich nun, weil ich Dir es verriet, daß ich mich verkauft
-habe? Nein, ich weiß, Du verachtest mich nicht, ich weiß, Du verstehst
-alles und wirst auch verstehen, daß ich es nur für Dich getan, für Dein
-anderes Ich, für Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der
-Gebärklinik an das Entsetzliche der Armut gerührt, ich wußte, daß in
-dieser Welt der Arme immer der Getretene, der Erniedrigte, das Opfer
-ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, daß Dein Kind, Dein helles,
-schönes Kind da tief unten aufwachsen sollte im Abhub, im Dumpfen, im
-Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein
-zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins kennen, sein weißer
-Leib nicht die dumpfige, verkrümmte Wäsche der Armut -- Dein Kind sollte
-alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte
-wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sphäre des Lebens.
-
-Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein
-Opfer für mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war
-mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib
-gehörte, so fühlte ich es als gleichgültig, was sonst mit meinem Körper
-geschah. Die Liebkosungen der Männer, selbst ihre innerste Leidenschaft,
-sie rührten mich im Tiefsten nicht an, obzwar ich manche von ihnen sehr
-achten mußte und mein Mitleid mit ihrer unerwiderten Liebe in Erinnerung
-eigenen Schicksals mich oft erschütterte. Alle waren sie gut zu mir, die
-ich kannte, alle haben sie mich verwöhnt, alle achteten sie mich. Da war
-vor allem einer, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich
-die Füße wundstand an den Türen, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes,
-Deines Kindes, im Theresianum durchzudrücken -- der liebte mich wie eine
-Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten --
-ich könnte heute Gräfin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloß in
-Tirol, könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtlichen Vater
-gehabt, der es vergötterte, und ich einen stillen, vornehmen, gütigen
-Mann an meiner Seite -- ich habe es nicht getan, so sehr, sooft er auch
-drängte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung. Vielleicht war
-es eine Torheit, denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen,
-und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber -- warum soll ich Dir es
-nicht gestehen -- ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein
-in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewußten meines Wesens lebte
-noch immer der alte Kindertraum, Du würdest vielleicht noch einmal mich
-zu Dir rufen, sei es nur für eine Stunde lang. Und für diese eine
-mögliche Stunde habe ich alles weggestoßen, nur um Dir frei zu sein für
-Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der
-Kindheit denn anders, als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!
-
-Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. Aber Du weißt sie nicht, Du
-ahnst sie nicht, mein Geliebter! Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt
--- nie, nie, nie hast Du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher oft
-begegnet, in den Theatern, in den Konzerten, im Prater, auf der Straße
--- jedesmal zuckte mir das Herz, aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja
-äußerlich eine ganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Frau
-geworden, schön wie sie sagten, in kostbare Kleider gehüllt, umringt von
-Verehrern: wie konntest Du in mir jenes schüchterne Mädchen im
-dämmerigen Licht Deines Schlafraumes vermuten! Manchmal grüßte Dich
-einer der Herren, mit denen ich ging, Du danktest und sahst auf zu mir:
-aber Dein Blick war höfliche Fremdheit, anerkennend, aber nie erkennend,
-fremd, entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch, ward mir
-dieses Nichterkennen, an das ich fast schon gewohnt war, zu brennender
-Qual: ich saß in einer Loge der Oper mit einem Freunde und Du in der
-Nachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouvertüre, ich konnte Dein
-Antlitz nicht mehr sehen, nur Deinen Atem fühlte ich so nah neben mir,
-wie damals in jener Nacht, und auf der samtenen Brüstung der Abteilung
-unserer Logen lag Deine Hand aufgestützt, Deine feine, zarte Hand. Und
-unendlich überkam mich das Verlangen, mich niederzubeugen und diese
-fremde, diese so geliebte Hand demütig zu küssen, deren zärtliche
-Umfassung ich einst gefühlt. Um mich wogte aufwühlend die Musik, immer
-leidenschaftlicher wurde das Verlangen, ich mußte mich ankrampfen, mich
-gewaltsam aufreißen, so gewaltsam zog es meine Lippen hin zu Deiner
-geliebten Hand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund, mit mir
-fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dich so fremd und so nah neben
-mir zu haben im Dunkel.
-
-Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztes Mal in mein
-verschüttetes Leben. Fast genau vor einem Jahr ist es gewesen, am Tage
-nach Deinem Geburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich
-gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest.
-Ganz frühmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die weißen Rosen
-gekauft, die ich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung an eine
-Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittags fuhr ich mit dem Buben
-aus, führte ihn zu Demel in die Konditorei und abends ins Theater, ich
-wollte, auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zu wissen,
-irgendwie als einen mystischen Feiertag von Jugend her empfinden. Am
-nächsten Tage war ich dann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen,
-reichen Brünner Fabrikanten, mit dem ich schon seit zwei Jahren
-zusammenlebte, der mich vergötterte, verwöhnte und mich ebenso heiraten
-wollte wie die andern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlos
-verweigerte wie den andern, obwohl er mich und das Kind mit Geschenken
-überschüttete und selbst liebenswert war in seiner ein wenig dumpfen,
-knechtischen Güte. Wir gingen zusammen in ein Konzert, trafen dort
-heitere Gesellschaft, soupierten in einem Ringstraßenrestaurant, und
-dort, mitten im Lachen und Schwätzen, machte ich den Vorschlag, noch in
-ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir waren diese Art Lokale mit
-ihrer systematischen und alkoholischen Heiterkeit wie jede »Drahrerei«
-sonst immer widerlich, und ich wehrte mich sonst immer gegen derlei
-Vorschläge, diesmal aber -- es war wie eine unergründliche magische
-Macht in mir, die mich plötzlich unbewußt den Vorschlag mitten in die
-freudig zustimmende Erregung der andern werfen ließ -- hatte ich
-plötzlich ein unerklärliches Verlangen, als ob dort irgend etwas
-Besonderes mich erwarte. Gewohnt, mir gefällig zu sein, standen alle
-rasch auf, wir gingen hinüber, tranken Champagner, und in mich kam mit
-einemmal eine ganz rasende, ja fast schmerzhafte Lustigkeit, wie ich sie
-nie gekannt. Ich trank und trank, sang die kitschigen Lieder mit und
-hatte fast den Zwang, zu tanzen oder zu jubeln. Aber plötzlich -- mir
-war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glühendheißes sich mir jäh aufs
-Herz gelegt -- riß es mich auf: am Nachbartisch saßest Du mit einigen
-Freunden und sahst mich an mit einem bewundernden und begehrenden Blick,
-mit jenem Blicke, der mir immer den ganzen Leib von innen aufwühlte. Zum
-erstenmal seit zehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzen
-unbewußt-leidenschaftlichen Macht Deines Wesens. Ich zitterte. Fast wäre
-mir das erhobene Glas aus den Händen gefallen. Glücklicherweise merkten
-die Tischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlor sich in dem Dröhnen
-von Gelächter und Musik.
-
-Immer brennender wurde Dein Blick und tauchte mich ganz in Feuer. Ich
-wußte nicht: hattest Du mich endlich, endlich erkannt, oder begehrtest
-Du mich neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flog mir in die
-Wangen, zerstreut antwortete ich den Tischgenossen: Du mußtest es
-merken, wie verwirrt ich war von Deinem Blick. Unmerklich für die
-übrigen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes ein Zeichen, ich
-möchte für einen Augenblick hinauskommen in den Vorraum. Dann zahltest
-Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus,
-nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, daß Du draußen auf
-mich warten würdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich
-konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut
-beherrschen. Zufälligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein
-Negerpaar mit knatternden Absätzen und schrillen Schreien einen
-absonderlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde
-nützte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, daß ich gleich
-zurückkäme, und ging Dir nach.
-
-Draußen im Vorraum vor der Garderobe standest Du, mich erwartend: Dein
-Blick ward hell, als ich kam. Lächelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah
-sofort, Du erkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind von einst
-und nicht das Mädchen, noch einmal griffest Du nach mir als einem Neuen,
-einem Unbekannten. »Haben Sie auch für mich einmal eine Stunde,«
-fragtest Du vertraulich -- ich fühlte an der Sicherheit Deiner Art, Du
-nahmst mich für eine dieser Frauen, für die Käufliche eines Abends.
-»Ja,« sagte ich, dasselbe zitternde und doch selbstverständliche
-einwilligende Ja, das Dir das Mädchen vor mehr als einem Jahrzehnt auf
-der dämmernden Straße gesagt. »Und wann könnten wir uns sehen?« fragtest
-Du. »Wann immer Sie wollen,« antwortete ich -- vor Dir hatte ich keine
-Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mit derselben
-mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich gleichfalls
-die Raschheit meines Einverständnisses erstaunt hatte. »Könnten Sie
-jetzt?« fragtest Du, ein wenig zögernd. »Ja,« sagte ich, »gehen wir.«
-
-Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.
-
-Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere
-gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne
-umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde mit
-Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe
-ich keine Sekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über das Abendkleid
-und ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den Mantel zu
-kümmern, ohne mich um den guten, zärtlichen Menschen zu kümmern, von dem
-ich seit Jahren lebte und den ich vor seinen Freunden zum lächerlichsten
-Narren erniedrigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegläuft
-auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh, ich war mir ganz der
-Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Schändlichkeit, die ich gegen einen
-ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daß ich
-lächerlich handelte und mit meinem Wahn einen gütigen Menschen für immer
-tödlich kränkte, fühlte, daß ich mein Leben mitten entzweiriß -- aber
-was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder
-einmal Deine Lippen zu fühlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu
-hören. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles
-vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem
-Sterbebette, so käme mir plötzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu
-gehen.
-
-Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich hörte wieder
-Deine Stimme, ich fühlte Deine zärtliche Nähe und war genau so betäubt,
-so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn
-Jahren, zum erstenmal wieder die Treppe empor -- nein, nein, ich kann
-Dirs nicht schildern, wie ich alles immer doppelt fühlte in jenen
-Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer
-nur Dich. In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und
-mehr Bücher, da und dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte mich
-vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin -- mit
-meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als
-Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch
-nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und
-Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, daß Du die Blumen hegtest:
-so war doch ein Hauch meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.
-
-Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze
-herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht.
-Selig erlitt ich Deine wissenden Zärtlichkeiten und sah, daß Deine
-Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer
-Käuflichen, daß Du Dich ganz gibst an Dein Begehren mit der unbedachten
-verschwenderischen Fülle Deines Wesens. Du warst so zärtlich und lind zu
-mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich --
-achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Genießen der
-Frau; wieder fühlte ich, taumelig vom alten Glück, diese einzige
-Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der
-sinnlichen, die schon das Kind Dir hörig gemacht. Nie habe ich bei einem
-Manne in der Zärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt, ein
-solches Ausbrechen und Entgegenleuchten des tiefsten Wesens -- freilich
-um dann hinzulöschen in eine unendliche, fast unmenschliche
-Vergeßlichkeit. Aber auch ich vergaß mich selbst: wer war ich nun im
-Dunkel neben Dir? War ichs, das brennende Kind von einst, war ichs, die
-Mutter Deines Kindes, war ichs, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so
-erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser
-leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie möchte kein Ende nehmen.
-
-Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Du ludest mich ein, noch mit
-Dir zu frühstücken. Wir tranken zusammen den Tee, den eine unsichtbar
-dienende Hand diskret in dem Speisezimmer bereitgestellt hatte, und
-plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen
-Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten
-Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht
-nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur
-das Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die im Rauch des
-Vergessens spurlos sich löst. Du erzähltest, daß Du jetzt weit weg
-reisen wolltest, nach Nordafrika für zwei oder drei Monate; ich zitterte
-mitten in meinem Glück, denn schon hämmerte es mir in den Ohren: vorbei,
-vorbei und vergessen! Am liebsten wäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt
-und hätte geschrien: »Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst,
-endlich, endlich nach so vielen Jahren!« Aber ich war ja so scheu, so
-feige, so sklavisch, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: »Wie
-schade.« Du sahst mich lächelnd an: »Ist es Dir wirklich leid?«
-
-Da faßte es mich wie eine plötzliche Wildheit. Ich stand auf, sah Dich
-an, lange und fest. Dann sagte ich: »Der Mann, den ich liebte, ist auch
-immer weggereist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges.
-»Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!« zitterte, drängte alles in mir.
-Aber Du lächeltest mir entgegen und sagtest tröstend: »Man kommt ja
-wieder zurück.« »Ja,« antwortete ich, »man kommt zurück, aber dann hat
-man vergessen.«
-
-Es muß etwas Absonderliches, etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen
-sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du standest auf und sahst mich
-an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern:
-»Was gut ist, vergißt sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen,«
-sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als
-wollte er dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich
-eindringen fühlte, suchend, spürend, mein ganzes Wesen an sich saugend,
-da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er
-wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in
-dem Gedanken.
-
-Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war
-ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst -- sonst
-hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tatest. Du
-hattest mich geküßt, noch einmal leidenschaftlich geküßt. Ich mußte mein
-Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich
-vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel -- und ich glaubte
-hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen -- da sah ich, wie Du in
-diskreter Art ein paar größere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie
-habe ichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu
-schlagen in dieser Sekunde -- mich, die ich Dich liebte von Kindheit an,
-die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne
-aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr -- bezahlt, bezahlt hattest Du
-mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen, ich mußte noch erniedrigt
-sein.
-
-Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es
-tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch,
-neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es mich
-mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu
-erinnern. »Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?«
-»Gern,« sagtest Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir vielleicht
-von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?« sagte ich.
-»Vielleicht,« sagtest Du, »ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben und
-ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.« Ich sah Dich an.
-»Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!«
-
-Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkenne mich, erkenne mich
-endlich!« schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und
-unwissend. Du küßtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
-
-Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, daß mir Tränen in die Augen
-schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer -- so hastig war
-ich hinausgeeilt -- stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen.
-Scheu und eilfertig sprang er zur Seite, riß die Haustür auf, um mich
-hinauszulassen, und da -- in dieser einen, hörst Du? in dieser einen
-Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten
-Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick. In dieser einen
-Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich
-erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien
-können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riß ich
-nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und
-steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf -- in dieser
-Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen
-Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig
--- nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie
-erkannt!
-
- * * * * *
-
-Mein Kind ist gestorben, unser Kind -- jetzt habe ich niemanden mehr in
-der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich
-niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser,
-der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht
-und mich läßt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten,
-Dich, den Flüchtigen, in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht
-ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich
-vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als
-jemals, nichts habe ich, nichts von Dir -- kein Kind mehr, kein Wort,
-keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde
-vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne
-sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir
-gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir
-nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, daß
-ich Dich weiter bedränge -- verzeih mir, ich mußte mir einmal die Seele
-ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt.
-Nur dies eine Mal mußte ich sprechen zu Dir -- dann gehe ich wieder
-stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber
-Du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe -- nur wenn ich tot
-bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr
-geliebt als alle, und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich
-gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich
-dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum erstenmal, ich werde
-Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein
-Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen,
-niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod.
-Ich will Dich nicht rufen in meine letzte Stunde, ich gehe fort, ohne
-daß Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du
-fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, daß ich sterbe, so könnte
-ich nicht sterben.
-
-Ich kann nicht mehr weiter schreiben ... mir ist so dumpf im Kopfe ...
-die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber ... ich glaube, ich werde mich
-gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist
-mir einmal das Schicksal gütig, und ich muß es nicht mehr sehen, wie sie
-das Kind wegtragen ... Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl,
-Geliebter, leb wohl, ich danke Dir ... Es war gut, wie es war, trotz
-alledem ... ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl:
-ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr
-ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last. Ich werde
-Dir nicht fehlen -- das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem
-schönen, hellen Leben ... ich tue Dir nichts mit meinem Tod ... das
-tröstet mich, Du Geliebter.
-
-Aber wer ... wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem
-Geburtstag? Ach, die Vase wird leer sein, der kleine Atem, der kleine
-Hauch von meinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte, auch er wird
-verwehen! Geliebter, höre, ich bitte Dich ... es ist meine erste und
-letzte Bitte an Dich ... tu mirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag -- es
-ist ja ein Tag, wo man an sich denkt -- nimm da Rosen und tu sie in die
-Vase. Tu's, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe
-lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott
-mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich
-und will nur in Dir noch weiterleben ... ach, nur einen Tag im Jahr,
-ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt ... Ich bitte Dich, tu
-es, Geliebter ... es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte ...
-ich danke Dir ... ich liebe Dich, ich liebe Dich ... lebe wohl ...
-
- * * * * *
-
-Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach.
-Verworren tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an
-ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich
-und verworren, so wie ein Stein flimmert und formlos zittert am Grunde
-fließenden Wassers. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein
-Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht.
-Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief
-geträumt, aber doch nur geträumt.
-
-Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie
-war leer, zum erstenmal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak
-zusammen: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen,
-und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er
-spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in
-seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und
-leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.
-
-
-
-
- Die Mondscheingasse
-
-
-Das Schiff hatte, durch Sturm verzögert, erst spät abends in der kleinen
-französischen Hafenstadt landen können, der Nachtzug nach Deutschland
-war versäumt. So blieb ein unerwarteter Tag an fremdem Ort, ein Abend
-ohne andere Lockung als die einer melancholischen Damenmusik in einem
-vorstädtischen Vergnügungslokal oder eines eintönigen Gespräches mit den
-ganz zufälligen Reisegenossen. Unerträglich schien mir die Luft in dem
-kleinen Speiseraum des Hotels, fettig von Öl, dumpf von Rauch, und ich
-fühlte doppelt ihre trübe Unreinlichkeit, weil noch der reine Atem des
-Meeres mir salzig-kühl auf den Lippen lag. So ging ich hinaus, aufs
-Geratewohl die helle breite Straße entlang zu einem Platz, wo eine
-Bürgergardenkapelle spielte, und wieder weiter inmitten der lässig
-fortflutenden Woge der Spaziergänger. Anfangs tat es mir gut, dieses
-willenlose Geschaukeltsein in der Strömung gleichgültiger und
-provinziell geputzter Menschen, aber bald ertrug ich es doch nicht mehr,
-dieses Anwogen von fremden Leuten und ihr abgerissenes Gelächter, diese
-Augen, die mich angriffen, erstaunt, fremd oder grinsend, diese
-Berührungen, die mich unmerklich weiterschoben, dies aus tausend kleinen
-Quellen brechende Licht und unaufhörliche Scharren von Schritten. Die
-Seefahrt war bewegt gewesen, und noch gärte in meinem Blut ein taumliges
-und sanfttrunkenes Gefühl: noch immer spürte ich Gleiten und Wiegen
-unter meinen Füßen, die Erde schien wie atmend sich zu bewegen und die
-Straße bis auf in den Himmel zu schwingen. Schwindlig ward mir mit einem
-Male von diesem lauten Gewirr, und um mich zu retten, bog ich, ohne nach
-ihrem Namen zu blicken, in eine Seitenstraße ein und von da wieder in
-eine kleinere, in der dies sinnlose Lärmen allmählich verebbte, und ging
-nun ziellos weiter ins Gewirr dieser wie Adern sich verästelnden Gassen,
-die immer dunkler wurden, je mehr ich mich vom Hauptplatz entfernte. Die
-großen elektrischen Bogenlampen, diese Monde der breiten Boulevards,
-flammten hier nicht mehr, und über die spärliche Beleuchtung hin begann
-man endlich wieder die Sterne zu sehen und einen schwarzen verhängten
-Himmel.
-
-Ich mußte nahe dem Hafen sein, im Matrosenviertel, das fühlte ich an dem
-faulen Fischgeruch, an diesem süßlichen Duft von Tang und Fäulnis, wie
-ihn auch die von der Brandung ans Land gerissenen Algen haben, an diesem
-eigentümlichen Dunst verdorbener Gerüche und ungelüfteter Stuben, der
-sich dumpfig in diese Winkel legt, bis einmal der große Sturm kommt und
-ihnen Atem bringt. Das ungewisse Dunkel tat mir wohl und diese
-unerwartete Einsamkeit, ich verlangsamte meinen Schritt, betrachtete nun
-Gasse um Gasse, eine immer anders wie ihre Nachbarin, hier eine
-friedfertige, dort eine buhlerische, alle aber dunkel und mit einem
-gedämpften Geräusch von Musik und Stimmen, das aus dem Unsichtbaren, aus
-der Brust ihrer Gewölbe so geheimnisvoll aufquoll, daß kaum die
-unterirdische Quelle zu erraten war. Denn alle waren sie verschlossen
-und blinzelten nur mit einem roten oder gelben Licht.
-
-Ich liebe diese Gassen in fremden Städten, diesen schmutzigen Markt
-aller Leidenschaften, diese heimliche Anhäufung aller Verführungen für
-die Matrosen, die von einsamen Nächten auf fremden und gefährlichen
-Meeren hier für eine Nacht einkehren, ihre vielen und sinnlichen Träume
-in einer Stunde zu erfüllen. Sie müssen sich verstecken irgendwo in
-einer Niederung der großen Stadt, diese kleinen Seitengassen, weil sie
-so frech und aufdringlich sagen, was die hellen Häuser mit blanken
-Scheiben und vornehmen Menschen in hundert Masken verbergen. Musik
-klingt und lockt hier aus kleinen Stuben, Kinematographen verheißen mit
-grellen Plakaten ungeahnte Prächte, kleine viereckige Lichter ducken
-sich unter die Tore und zwinkern mit vertraulichem Gruß eine sehr
-deutliche Einladung zu, zwischen dem aufgetanen Spalt einer Tür
-schimmert nacktes Fleisch unter vergoldetem Flitter. Aus den Cafés
-grölen die Stimmen der Berauschten und poltert der Zank der Spieler. Die
-Matrosen grinsen, wenn sie hier einander begegnen, ihre stumpfen Blicke
-werden grell von vieler Verheißung, denn hier ist alles, Weiber und
-Spiel, Trunk und Schau, das Abenteuer, das schmutzige und das große. All
-dies aber ist scheu und doch verräterisch gedämpft hinter den
-heuchlerisch gesenkten Fensterläden, alles nur innen, und diese
-scheinbare Verschlossenheit reizt durch die doppelte Verführung von
-Verborgenheit und Zugänglichkeit. Diese Straßen sind gleich in Hamburg
-und Colombo und Havanna, gleich da und dort wie auch die großen Avenuen
-des Luxus, denn das Oben und Unten des Lebens hat die gleiche Form.
-Letzte phantastische Reste einer sinnlich ungeregelten Welt, wo die
-Triebe noch brutal und ungezügelt sich entladen, ein finsterer Wald von
-Leidenschaften und Dickicht und voll triebhaften Getiers sind diese
-unbürgerlichen Straßen, erregend durch das, was sie verraten, und
-verlockend durch das, was sie verbergen. Man kann von ihnen träumen.
-
-Und so war auch diese, in der ich mich mit einem Male gefangen fühlte.
-Aufs Geratewohl war ich ein paar Kürassieren nachgegangen, die mit ihrem
-nachschleifenden Säbel über das holprige Pflaster klirrten. Aus einer
-Bar riefen Weiber sie an, sie lachten und schrien ihnen grobe Scherze
-zu, einer klopfte an das Fenster, dann fluchte eine Stimme irgendwo, sie
-gingen weiter, das Gelächter wurde ferner, und bald hörte ich sie nicht
-mehr. Stumm war wieder die Gasse, ein paar Fenster blinkten unklar in
-einem Nebelglanz von mattem Mond. Ich stand und sog atmend diese Stille
-ein, die mir seltsam schien, weil hinter ihr etwas surrte von Geheimnis,
-Wollust und Gefahr. Deutlich spürte ich, daß dieses Schweigen eine Lüge
-war und unter dem trüben Dunst dieser Gasse etwas glimmerte von der
-Fäulnis der Welt. Aber ich stand, blieb und lauschte ins Leere. Ich
-fühlte die Stadt nicht mehr und die Gasse, nicht ihren Namen und nicht
-den meinen, empfand nur, daß ich hier fremd war, wunderbar losgelöst in
-einem Unbekannten stand, daß keine Absicht in mir war, keine Botschaft
-und keine Beziehung und ich doch all dies dunkle Leben um mich so voll
-fühlte wie das Blut unter der eigenen Haut. Dies Gefühl nur empfand ich,
-daß nichts für mich geschah und doch alles mir zugehörte, dieses
-seligste Gefühl des durch Anteilslosigkeit tiefsten und wahrsten
-Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens gehört und
-mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. Da plötzlich,
-horchend wie ich in der einsamen Gasse stand, gleichsam erwartungsvoll
-auf irgend etwas, das geschehen müßte, etwas, das mich fortschöbe aus
-diesem mondsüchtigen Gefühl des Lauschens ins Leere, hörte ich gedämpft
-durch Ferne oder eine Wand, sehr trübe von irgendwo ein deutsches Lied
-singen, jenen ganz einfältigen Reigen aus dem »Freischütz«: »Schöner,
-grüner Jungfernkranz«. Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber
-doch eine deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem
-fremden Winkel der Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne.
-Es war von irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs,
-seit Wochen das erste heimatliche Wort. Wer, fragte ich mich, spricht
-hier meine Sprache, wen treibt eine Erinnerung von innen, in
-verwinkelt-verwilderter Gasse dies arme Lied sich wieder aus dem Herzen
-zu heben? Ich tastete der Stimme nach, ein Haus nach dem andern von all
-denen, die halbschlafend hier standen, mit geschlossenen Fensterläden,
-hinter denen es aber verräterisch blinzelte von Licht und manchmal von
-einer winkenden Hand. Außen klebten grelle Überschriften, schreiende
-Plakate, und Ale, Whisky, Bier verhieß hier eine versteckte Bar, aber
-alles war verschlossen, abweisend und doch wieder einladend. Und
-dazwischen -- ein paar Schritte tönten von fern -- immer wieder die
-Stimme, die jetzt den Refrain heller trillerte und immer näher war:
-schon erkannte ich das Haus. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich
-gegen die innere Tür, die mit weißen Gardinen dicht verhangen war. Da
-aber, als ich mich entschlossen hinbeugte, ward etwas im Schatten des
-Flurs jäh lebendig, eine Gestalt, die offenbar eng an die Scheibe
-gepreßt dort gelauert hatte, zuckte erschrocken auf, ein Gesicht,
-begossen vom Rot der überhängenden Laterne und doch blaß im Entsetzen,
-ein Mann starrte mich mit aufgerissenen Augen an, murmelte etwas wie
-eine Entschuldigung und verschwand im Zwielicht der Gasse. Seltsam war
-dieser Gruß. Ich sah ihm nach. Etwas schien sich noch im entschwindenden
-Schatten der Gasse von ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die
-Stimme noch immer, heller sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich
-klinkte auf und trat rasch ein.
-
-Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges
-herab. Und erschrocken spürte ich eine Leere vor mir, eine Feindlichkeit
-des Schweigens, gleichsam als ob ich was zertrümmert hätte. Mählich erst
-fand mein Blick sich in der Stube zurecht, die fast leer war, ein Schank
-und ein Tisch, das ganze offenbar nur Vorgemach zu andern Zimmern
-rückwärts, die mit halbaufgelehnten Türen, gedämpftem Lampenschein und
-bereiten Betten ihre eigentliche Bestimmung rasch verrieten. Vorn am
-Tisch lehnte auf den Ellbogen gestützt ein Mädchen, geschminkt und müd,
-rückwärts am Schank die Wirtin, beleibt und schmutziggrau mit einem
-andern nicht unhübschen Mädel. Mein Gruß fiel hart in den Raum, ganz
-spät kam ein gelangweiltes Echo zurück. Mir wars unbehaglich, so ins
-Leere getreten zu sein; in ein so gespanntes ödes Schweigen, und gern
-wäre ich sofort wieder gegangen, doch fand meine Verlegenheit keinen
-Vorwand, und so setzte ich mich resigniert an den vorderen Tisch. Das
-Mädel, jetzt sich seiner Pflicht besinnend, fragte mich, was ich zu
-trinken wünschte, und an ihrem harten Französisch erkannte ich sofort
-die Deutsche. Ich bestellte ein Bier, sie ging und kam wieder mit jenem
-schlaffen Gang, der noch mehr Gleichgültigkeit verriet als das Seichte
-ihrer Augen, die schlaff unter den Lidern glommen wie verlöschende
-Lichter. Ganz mechanisch stellte sie nach dem Brauch jener Stuben neben
-das meine ein zweites Glas für sich. Ihr Blick ging, wie sie mir
-zutrank, leer an mir vorbei: so konnte ich sie betrachten. Ihr Gesicht
-war eigentlich noch schön und ebenmäßig in den Zügen, aber wie durch
-eine innere Ermattung maskenhaft und gemein geworden, alles fiel schlaff
-nieder, die Lider waren schwer, locker das Haar; die Wangen, fleckig von
-schlechter Schminke und verschwemmt, begannen schon nachzugeben und
-warfen sich mit breiter Falte bis an den Mund. Auch das Kleid war ganz
-lässig umgehängt, ausgebrannt die Stimme, rauh von Rauch und Bier. In
-allem spürte ich einen Menschen, der müde ist und nur aus Gewohnheit,
-gleichsam fühllos weiterlebt. Mit Befangenheit und Grauen warf ich eine
-Frage hin. Sie antwortete, ohne mich anzusehen, gleichgültig und stumpf
-mit kaum bewegten Lippen. Unwillkommen spürte ich mich. Rückwärts gähnte
-die Wirtin, das andere Mädel saß in einer Ecke und sah her, gleichsam
-wartend, bis ich sie riefe. Gern wäre ich gegangen, aber alles an mir
-war schwer, ich saß in dieser satten, schwelenden Luft, dumpf torkelnd
-wie die Matrosen, gefesselt von Neugier und Grauen; denn diese
-Gleichgültigkeit war irgendwie aufreizend.
-
-Da plötzlich fuhr ich auf, erschreckt von einem grellen Gelächter neben
-mir. Und gleichzeitig schwankte die Flamme: am Luftzug spürte ich, daß
-jemand die Tür hinter meinem Rücken geöffnet haben mußte. »Kommst du
-schon wieder?« höhnte grell und auf deutsch die Stimme neben mir.
-»Kriechst du schon wieder ums Haus, du Knauser du? Na, komm nur herein,
-ich tu dir nichts.«
-
-Ich fuhr herum, zuerst ihr zu, die so grell diesen Gruß schrie, als
-bräche ihr Feuer aus dem Leib, und dann zur Tür. Und noch ehe sie ganz
-aufgetan war, erkannte ich die schlotternde Gestalt, erkannte den
-demütigen Blick dieses Menschen, der vorhin an der Tür gleichsam geklebt
-hatte. Er hielt den Hut verschüchtert in der Hand wie ein Bettler und
-zitterte unter dem grellen Gruß, unter dem Lachen, das wie ein Krampf
-ihre schwere Gestalt mit einem Male zu schüttern schien und von
-rückwärts, vom Schanktisch, mit raschem Geflüster der Wirtin begleitet
-wurde.
-
-»Dort setz dich hin, zur Françoise,« herrschte sie den Armen an, als er
-jetzt mit einem feigen, schlurfenden Schritt näher trat. »Du siehst, ich
-habe einen Herrn.«
-
-Deutsch schrie sie ihm das zu. Die Wirtin und das Mädel lachten laut,
-obwohl sie nichts verstehen konnten, aber sie schienen den Gast schon zu
-kennen.
-
-»Gib ihm Champagner, Françoise, den teuern, eine Flasche,« schrie sie
-lachend hinüber, und wieder höhnisch zu ihm: »Ists dir zu teuer, so
-bleib draußen, du elender Knicker. Möchtest mich wohl umsonst anstarren,
-ich weiß, du möchtest alles umsonst.«
-
-Die lange Gestalt schmolz gleichsam zusammen unter diesem bösen Lachen,
-der Buckel schob sich schief empor, es war, als wollte das Gesicht sich
-hündisch verkriechen, und seine Hand zitterte, als er nach der Flasche
-griff, und verschüttete den Wein im Eingießen. Sein Blick, der immer
-aufwollte zu ihrem Gesicht, konnte nicht weg vom Boden und tastete dort
-im Kreise den Kacheln nach. Und jetzt sah ich erst deutlich unter der
-Lampe dies ausgemergelte Gesicht, zermürbt und fahl, die Haare feucht
-und dünn auf beinernem Schädel, die Gelenke lose und wie zerbrochen,
-eine Jämmerlichkeit ohne Kraft und doch nicht ohne Bösartigkeit. Schief,
-verschoben war alles in ihm und geduckt, und der Blick, den er jetzt
-einmal hob und gleich wieder erschreckt zurückwarf, gekreuzt von einem
-bösen Licht.
-
-»Kümmern Sie sich nicht um ihn,« herrschte mich das Mädel auf
-französisch an und faßte derb meinen Arm, als wollte sie mich
-herumreißen. »Das ist eine alte Sache zwischen mir und ihm, ist nicht
-von heute.« Und wieder mit blanken Zähnen, wie zum Bisse bereit, laut zu
-ihm hinüber: »Horch nur her, du alter Luchs. Möchtest hören, was ich
-rede. Daß ich eher ins Meer gehe als mit dir, habe ich gesagt.«
-
-Wieder lachten die Wirtin und das andere Mädel, breit und blöde. Es
-schien ein gewohnter Spaß für sie, ein alltäglicher Scherz. Aber mir
-wars unheimlich, jetzt zu sehen, wie sich dies andere Mädel plötzlich in
-falscher Zärtlichkeit an ihn drängte und ihn mit Schmeicheleien abgriff,
-vor denen er erschauerte ohne den Mut, sie abzuwehren, und ich erschrak,
-wenn sein Blick im Auftaumeln mich traf, ängstlich verlegen und
-kriecherisch. Und mir graute vor dem Weib neben mir, das plötzlich aus
-ihrer Schlaffheit aufgewacht war und so voll Bosheit funkelte, daß ihre
-Hände zitterten. Ich warf Geld auf den Tisch und wollte fort, aber sie
-nahm es nicht.
-
-»Geniert er dich, dann werfe ich ihn hinaus, den Hund. Der muß parieren.
-Nimm noch ein Glas mit mir. Komm!«
-
-Sie drängte sich heran mit einer jähen, fanatischen Art von
-Zärtlichkeit, von der ich sofort wußte, daß sie nur gespielt war, um
-jenen anderen zu quälen. Bei jeder dieser Bewegungen sah sie rasch
-schief hinüber, und es war mir widerwärtig zu sehen, wie bei jeder ihrer
-Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte er Brandstahl an
-seinen Gliedern. Ohne auf sie zu achten, starrte ich einzig ihn an und
-schauerte, wie etwas jetzt in ihm wuchs von Wut, Zorn, Neid und Gier,
-und sich doch gleich niederduckte, wandte sie nur den Kopf. Ganz nahe
-drängte sie sich nun zu mir, ich spürte ihren Körper, der zitterte von
-der bösen Lust dieses Spiels, und mir graute vor ihrem grellen Gesicht,
-das nach schlechtem Puder roch, vor dem Dunst ihres mürben Fleisches.
-Sie von meinem Gesicht abzuwehren, griff ich nach einer Zigarre, und
-während mein Blick noch den Tisch nach einem Streichholz absuchte,
-herrschte sie ihn schon an: »Bring Feuer her!«
-
-Ich erschrak mehr noch als er vor dieser gemeinen Zumutung, mich zu
-bedienen, und mühte mich rasch, mir selbst eines zu finden. Aber schon
-von ihrem Worte wie mit einer Peitsche aufgeknallt, kam er mit seinen
-schiefen Schritten torkelnd herüber und legte rasch, als könnte er sich
-mit einer Berührung des Tisches verbrennen, sein Feuerzeug auf den
-Tisch. Eine Sekunde kreuzte ich seinen Blick: unendliche Scham lag darin
-und eine knirschende Erbitterung. Und dieser geknechtete Blick traf den
-Mann, den Bruder, in mir. Ich fühlte die Erniedrigung durch das Weib und
-schämte mich mit ihm.
-
-»Ich danke Ihnen sehr,« sagte ich auf deutsch -- sie zuckte auf -- »Sie
-hätten sich nicht bemühen müssen.« Dann bot ich ihm die Hand. Ein
-Zögern, ein langes, dann spürte ich feuchte, knochige Finger und
-plötzlich krampfartig einen jähen Druck des Dankes. Eine Sekunde
-leuchteten seine Augen in die meinen, dann duckten sie sich wieder unter
-die schlaffen Lider. Aus Trotz wollte ich ihn bitten, bei uns Platz zu
-nehmen, und die einladende Geste mußte wohl schon in meine Hand
-geglitten sein, denn sie herrschte ihn eilig an: »Setz dich wieder hin
-und störe hier nicht.«
-
-Da packte mich plötzlich der Ekel vor ihrer ätzenden Stimme und vor
-dieser Quälerei. Was sollte mir diese verräucherte Spelunke, diese
-widrige Dirne, dieser Schwachsinnige, dieser Qualm von Bier und Rauch
-und schlechtem Parfüm? Mich dürstete nach Luft. Ich schob ihr das Geld
-hin, stand auf und rückte energisch ab, als sie mir schmeichelnd näher
-kam. Es ekelte mich, mitzuspielen bei dieser Erniedrigung eines
-Menschen, und deutlich ließ ich durch die Entschlossenheit meiner Abwehr
-spüren, wie wenig sie mich sinnlich verlocken konnte. Jetzt zuckte ihr
-Blut bös, eine Falte kroch ihr gemein um den Mund, aber sie hütete sich
-doch, das Wort auszusprechen, und wandte sich mit einem Ruck
-unverstellten Hasses gegen ihn, der aber, des Ärgsten gewärtig, eilig
-und wie gejagt von ihrer Drohung in die Tasche griff und mit zitternden
-Fingern eine Geldbörse herauszog. Er hatte Angst, jetzt allein mit ihr
-zu bleiben, das war sichtlich, und in der Hast konnte er die Knoten der
-Börse nicht gut lösen -- eine Börse war es, gestrickt und mit Glasperlen
-besetzt, wie die Bauern sie tragen und die kleinen Leute. Mühelos war es
-zu merken, daß er ungewohnt war, Geld rasch auszugeben, sehr im
-Gegensatz zu den Matrosen, die es mit einem Handschwung aus den
-klimpernden Taschen hervorholen und auf den Tisch werfen; er mußte
-offenbar gewohnt sein, sorglich zu zählen und die Münzen zwischen den
-Fingern zu wägen. »Wie er zittert um seine lieben süßen Pfennige! Gehts
-zu langsam? Wart!« höhnte sie und trat einen Schritt näher. Er schrak
-zurück, und sie, als sie sein Erschrecken sah, sagte, die Schultern
-hochziehend und mit einem unbeschreiblichen Ekel im Blick: »Ich nehm dir
-nichts, ich spei auf dein Geld. Weiß ja, sie sind gezählt, deine guten
-Pfennigchen, darf keines zuviel in die Welt. Aber erst« -- und sie
-tippte ihm plötzlich gegen die Brust -- »die Papierchen, die du da
-eingenäht hast, daß sie dir keiner stiehlt!«
-
-Und wirklich, wie ein Herzkranker im Krampf sich plötzlich an die Brust
-greift, so faßte fahl und zitternd seine Hand an eine bestimmte Stelle
-des Rockes, unwillkürlich tasteten seine Finger dort an das heimliche
-Nest und fielen dann beruhigt zurück. »Geizhals!« spie sie aus. Aber da
-flog plötzlich eine Glut in das Gesicht des Gemarterten, er warf die
-Geldbörse mit einem Ruck dem andern Mädel zu, die erst aufschrie im
-Schreck, dann hell lachte, und stürmte vorbei an ihr, zur Tür hinaus wie
-aus einem Brand.
-
-Einen Augenblick stand sie noch aufgerichtet, hell funkelnd in ihrer
-bösen Wut. Dann fielen die Lider wieder schlaff herab, Mattigkeit bog
-den Körper aus der Spannung. Alt und müde schien sie in einer Minute zu
-werden. Etwas Unsicheres und Verlorenes dämpfte den Blick, der mich
-jetzt traf. Wie eine Trunkene, die aufwacht, dumpf mit dem Gefühl einer
-Schande stand sie da. »Draußen wird er jammern um sein Geld, vielleicht
-zur Polizei laufen, wir hätten ihn bestohlen. Und morgen ist er wieder
-da. Aber mich soll er doch nicht haben. Alle, nur gerade er nicht!«
-
-Sie trat zum Schank, warf Geldstücke hin und stürzte mit einem Schwung
-ein Glas Branntwein hinunter. Das böse Licht glimmerte wieder in ihren
-Augen, aber trüb wie unter Tränen von Wut und Scham. Ekel faßte mich vor
-ihr und zerriß mein Mitleid: »Guten Abend,« sagte ich und ging. »_Bon
-soir_,« antwortete die Wirtin. Sie sah sich nicht um und lachte bloß,
-grell und höhnisch.
-
-Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine
-einzige schwüle Dunkelheit mit verwölktem, unendlich fernem Glanz von
-Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das Gefühl des
-Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der Mannigfaltigkeit der
-Geschicke, und ich spürte wieder -- ein Gefühl, das mich selig machen
-kann bis zu Tränen --, daß immer hinter jeder Fensterscheibe Schicksal
-wartet, jede Tür sich in Erlebnis auftut, allgegenwärtig das
-Mannigfaltige dieser Welt ist und selbst der schmutzigste Winkel noch so
-wimmelnd von schon gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen
-Glanz der Käfer. Fern war das Widerliche der Begegnung und das gespannte
-Gefühl wohltuend gelöst in eine süße Müdigkeit, die sich sehnte, all
-dies Gelebte in schöneren Traum zu verwandeln. Unwillkürlich blickte ich
-suchend um mich, den Weg nach Hause durch diese Wirrnis verwinkelter
-Gäßchen zu finden. Da schob sich -- unhörbar mußte er nahegetreten sein
--- ein Schatten an mich heran.
-
-»Verzeihen Sie,« -- ich erkannte sogleich die demütige Stimme -- »aber
-ich glaube, Sie finden sich hier nicht zurecht. Darf ich ... darf ich
-Ihnen den Weg weisen? Der Herr wohnt ...?«
-
-Ich nannte mein Hotel.
-
-»Ich begleite Sie ... Wenn Sie erlauben,« fügte er sogleich demütig
-hinzu.
-
-Das Grauen faßte mich wieder. Dieser schleichende, gespenstische Schritt
-an meiner Seite, unhörbar fast und doch hart an mir, das Dunkel der
-Matrosengasse und die Erinnerung des Erlebten wich allmählich einem
-traumhaft wirren Gefühl ohne Wertung und Widerstand. Ich spürte die
-Demut seiner Augen, ohne sie zu sehen, und merkte das Zucken seiner
-Lippen, ich wußte, daß er mit mir reden wollte, tat aber nichts dafür
-und nichts dagegen aus der Taumligkeit meines Empfindens, in dem die
-Neugier des Herzens mit einer körperlichen Benommenheit sich wogend
-mengte. Er räusperte sich mehrmals, ich merkte den erstickten Ansatz zum
-Wort, aber irgendeine Grausamkeit, die von diesem Weib geheimnisvoll auf
-mich übergegangen war, freute sich dieses Ringens der Scham und
-seelischen Not: ich half ihm nicht, sondern ließ dieses Schweigen
-schwarz und schwer zwischen uns. Und unsere Schritte klangen, der seine
-leise schlurfend und alt, der meine mit Absicht stark und rauh, dieser
-schmutzigen Welt zu entrinnen, wirr zusammen. Immer stärker spürte ich
-die Spannung zwischen uns: schrill, voll inneren Schreis war dieses
-Schweigen und schon wie eine übermäßig gespannte Saite, bis er es
-endlich -- und wie entsetzlich zagend zuerst -- durchriß mit einem Wort.
-
-»Sie haben ... Sie haben ... mein Herr ... da drinnen eine merkwürdige
-Szene gesehen ... verzeihen Sie ... verzeihen Sie, wenn ich noch einmal
-davon rede ... aber sie mußte Ihnen merkwürdig sein ... und ich sehr
-lächerlich ... diese Frau ... es ist nämlich ...«
-
-Er stockte wieder. Etwas würgte ihm dick die Kehle. Dann wurde seine
-Stimme ganz klein, und er flüsterte hastig: »Diese Frau ... es ist
-nämlich meine Frau.« Ich mußte aufgefahren sein im Erstaunen, denn er
-sprach hastig weiter, als wollte er sich entschuldigen: »Das heißt ...
-es war meine Frau ... vor fünf, vor vier Jahren ... in Geratzheim drüben
-in Hessen, wo ich zu Hause bin ... Ich will nicht, Herr, daß Sie
-schlecht von ihr denken ... es ist vielleicht meine Schuld, daß sie so
-ist. Sie war nicht immer so ... Ich ... ich habe sie gequält ... Ich
-habe sie genommen, obwohl sie sehr arm war, nicht einmal die Leinwand
-hatte sie, nichts, gar nichts ... und ich bin reich ... das heißt,
-vermögend ... nicht reich ... oder ich war es wenigstens damals ... und,
-wissen Sie, mein Herr ... ich war vielleicht -- sie hat recht -- sparsam
-... aber früher war ich es, mein Herr, vor dem Unglück, und ich
-verfluche es ... aber mein Vater war so und die Mutter, alle waren so
-... und ich habe hart gearbeitet um jeden Pfennig ... und sie war
-leicht, sie hatte gern schöne Sachen ... und war doch arm, und ich habe
-es ihr immer wieder vorgehalten ... Ich hätte es nicht tun sollen, ich
-weiß es jetzt, mein Herr, denn sie ist stolz, sehr stolz ... Sie dürfen
-nicht glauben, daß sie so ist, wie sie sich gibt ... das ist Lüge, und
-sie tut sich selber weh ... nur ... nur um mir wehe zu tun, um mich zu
-quälen ... und ... weil ... weil sie sich schämt ... Vielleicht ist sie
-auch schlecht geworden, aber ich ... ich glaube es nicht ... denn, mein
-Herr, sie war sehr gut, sehr gut ...«
-
-Er wischte sich die Augen und blieb stehen in seiner übermächtigen
-Erregung. Unwillkürlich blickte ich ihn an, und er schien mir mit einem
-Male nicht mehr lächerlich, und selbst diese merkwürdige servile Anrede,
-»mein Herr«, die in Deutschland nur niedern Ständen zu eigen ist, spürte
-ich nicht mehr. Sein Antlitz war ganz von der inneren Bemühung zum Wort
-durchbildet, und der Blick starrte, wie er schwer jetzt wieder vorwärts
-taumelte, starr auf das Pflaster, als läse er dort im schwankenden
-Lichte mühsam ab, was sich dem Krampf seiner Kehle so quälend entriß.
-
-»Ja, mein Herr,« stieß er jetzt tiefatmend heraus, und mit einer ganz
-andern, dunklen Stimme, die irgendwie aus einer weicheren Welt seines
-Innern kam: »Sie war sehr gut ... auch zu mir, sie war sehr dankbar, daß
-ich sie aus ihrem Elend erlöst hatte ... und ich wußte es auch, daß sie
-dankbar war ... aber ... ich ... wollte es hören ... immer wieder ...
-immer wieder ... es tat mir gut, diesen Dank zu hören ... mein Herr, es
-war so, so unendlich gut, zu spüren, zu spüren, daß man besser ist ...
-wenn ... wenn man doch weiß, daß man der Schlechtere ist ... ich hätte
-all mein Geld dafür gegeben, es immer wieder zu hören ... und sie war
-sehr stolz und wollte es immer weniger, als sie merkte, daß ich ihn
-forderte, diesen Dank ... Darum ... nur darum, mein Herr, ließ ich sie
-immer bitten ... nie gab ich freiwillig ... es tat mir wohl, daß sie um
-jedes Kleid, um jedes Band kommen mußte und betteln ... drei Jahre habe
-ich sie so gequält, immer mehr ... aber, mein Herr, es war nur, weil ich
-sie liebte ... Ich hatte ihren Stolz gern, und doch wollte ich ihn immer
-knechten, ich Wahnsinniger, und wenn sie etwas begehrte, so war ich böse
-... aber, mein Herr, ich war es gar nicht ... ich war selig jeder
-Gelegenheit, sie demütigen zu können, denn ... denn ich wußte gar nicht,
-wie ich sie liebte ...«
-
-Wieder stockte er. Ganz torkelnd ging er. Offenbar hatte er mich
-vergessen. Mechanisch sprach er, wie aus dem Schlaf, mit immer lauterer
-Stimme.
-
-»Das ... das habe ich erst gewußt, wie ich damals ... an jenem
-verfluchten Tag ... ich hatte ihr Geld verweigert für ihre Mutter, ganz,
-ganz wenig ... das heißt, ich hatte es schon bereitgelegt, aber ich
-wollte, daß sie noch einmal käme ... noch einmal mich bitten ... ja, was
-sagte ich? ... ja, damals habe ich es gewußt, als ich abends nach Hause
-kam und sie fort war und nur ein Zettel auf dem Tisch ... >Behalte dein
-verfluchtes Geld, ich will nichts mehr von dir< ... das stand darauf,
-sonst nichts ... Herr, ich bin drei Tage, drei Nächte gewesen wie ein
-Rasender. Den Fluß habe ich absuchen lassen und den Wald, Hunderte habe
-ich der Polizei gegeben ... zu allen Nachbarn bin ich gelaufen, aber sie
-haben nur gelacht und gehöhnt ... Nichts, nichts war zu finden ...
-Endlich hat mir einer Nachricht gesagt vom andern Dorf ... er habe sie
-gesehen ... in der Bahn mit einem Soldaten ... sie sei nach Berlin
-gefahren ... am selben Tage bin ich ihr nachgereist ... ich habe meinen
-Verdienst gelassen ... Tausende habe ich verloren ... man hat mich
-bestohlen, meine Knechte, mein Verwalter, alle, alle ... aber, ich
-schwöre es Ihnen, mein Herr, es war mir gleichgültig ... Ich bin in
-Berlin geblieben, eine Woche hat es gedauert, bis ich sie auffand in
-diesem Wirbel von Menschen ... und bin zu ihr gegangen ...« Er atmete
-schwer.
-
-»Mein Herr, ich schwöre es Ihnen ... kein hartes Wort habe ich ihr
-gesagt ... ich habe geweint ... auf den Knien bin ich gelegen ... ich
-habe ihr Geld geboten ... mein ganzes Vermögen, sie sollte es verwalten,
-denn damals wußte ich es schon ... ich kann nicht leben ohne sie. Ich
-liebe jedes Haar an ihr ... ihren Mund ... ihren Leib, alles, alles ...
-und ich bin es ja, ich, der sie hinabgestoßen hat, ich allein ... Sie
-war blaß wie der Tod, als ich hereinkam, plötzlich ... ich hatte ihre
-Wirtin bestochen, eine Kupplerin, ein schlechtes, gemeines Weib ... wie
-der Kalk war sie an der Wand ... Sie hörte mich an. Herr, ich glaube,
-sie war ... ja, sie war beinahe froh, mich zu sehen ... aber als ich vom
-Gelde sprach ... und ich habe es doch nur getan, ich schwöre es Ihnen,
-um ihr zu zeigen, daß ich nicht mehr daran denke ... da hat sie
-ausgespien ... und dann ... weil ich noch immer nicht gehen wollte ...
-da hat sie ihren Liebhaber gerufen, und sie haben mich verlacht ...
-Aber, mein Herr, ich bin immer wiedergekommen, Tag für Tag. Die
-Hausleute haben mir alles erzählt, ich wußte, daß der Lump sie verlassen
-hatte und sie in Not war, und da ging ich noch einmal hin ... noch
-einmal, Herr, aber sie fuhr mich an und zerriß einen Schein, den ich
-heimlich auf den Tisch gelegt hatte, und als ich doch wiederkam, war sie
-fort ... Was habe ich nicht getan, mein Herr, sie wieder auszuforschen!
-Ein Jahr, ich schwöre es Ihnen, habe ich nicht gelebt, nur immer
-gespürt, habe Agenturen besoldet, bis ichs endlich erfuhr, daß sie
-drüben sei in Argentinien ... in ... in einem schlechten Hause ...« Er
-zögerte einen Augenblick. Wie ein Röcheln war das letzte Wort. Und
-dunkler wurde seine Stimme.
-
-»Ich erschrak sehr ... zuerst ... aber dann besann ich mich, daß ich,
-nur ich es sei, der sie da hinabgestoßen hatte ... und ich dachte, wie
-sehr sie leiden müsse, die Arme ... denn stolz ist sie vor allem ... Ich
-ging zu meinem Anwalt, der schrieb an den Konsul und sandte Geld ...
-ohne daß sie erfuhr, wer es gab ... nur daß sie zurückkäme. Man
-telegraphierte mir, daß alles gelungen sei ... ich wußte das Schiff ...
-und in Amsterdam wartete ich ... drei Tage zu früh war ich gekommen, so
-brannte ich vor Ungeduld ... Endlich kam es, ich war selig, wie nur der
-Rauch vom Dampfer am Horizont war, und ich glaubte es nicht erwarten zu
-können, bis er heranfuhr und anlegte, so langsam, langsam, und dann die
-Passagiere über den Steg kamen und endlich, endlich sie ... Ich erkannte
-sie nicht gleich ... sie war anders ... geschminkt ... und schon so ...
-so, wie Sie es gesehen haben ... und wie sie mich warten sah ... wurde
-sie fahl ... Zwei Matrosen mußten sie halten, sonst wäre sie vom Steg
-gefallen ... Sobald sie am Land war, trat ich an ihre Seite ... ich
-sagte nichts ... meine Kehle war zu ... Auch sie sprach nichts ... und
-sah mich nicht an ... Der Träger trug das Gepäck voran, wir gingen und
-gingen ... Da plötzlich blieb sie stehen und sagte ... Herr, wie sie es
-sagte ... so schmerzend weh tat es mir, so traurig klang es ... >Willst
-du mich noch immer zu deiner Frau, jetzt auch noch?< ... Ich faßte sie
-bei der Hand ... Sie zitterte, aber sie sagte nichts. Doch ich fühlte,
-daß nun alles wieder gut war ... Herr, wie selig ich war! Ich tanzte wie
-ein Kind um sie, als ich sie im Zimmer hatte, ich fiel ihr zu Füßen ...
-törichte Dinge muß ich gesagt haben ... denn sie lächelte unter Tränen
-und liebkoste mich ... ganz zaghaft natürlich nur ... aber Herr ... wie
-es mir wohltat ... mein Herz zerfloß. Ich lief treppauf, treppab,
-bestellte ein Diner im Hotel ... unser Vermählungsmahl ... ich half ihr,
-sich anzuziehen ... und wir gingen hinab, wir aßen und tranken und waren
-fröhlich ... Oh, so heiter war sie, ein Kind, so warm und gut, und sie
-sprach von Hause ... und wie wir alles nun wieder besorgen wollten ...
-Da ...« Seine Stimme wurde plötzlich rauh, und er machte mit der Hand
-eine Geste, als ob er jemanden zerbrechen wollte. »Da ... da war ein
-Kellner ... ein schlechter, gemeiner Mensch ... der glaubte, ich sei
-trunken, weil ich toll war und tanzte und mich überkollerte beim Lachen
-... während ich doch nur so glücklich war ... oh, so glücklich, und da
-... als ich bezahlte, gab er mir zwanzig Francs zu wenig zurück ... Ich
-fuhr ihn an und verlangte den Rest ... er war verlegen und legte das
-Goldstück hin ... Da ... da begann sie auf einmal grell zu lachen ...
-Ich starrte sie an, aber es war ein anderes Gesicht ... höhnisch, hart
-und böse mit einem Male ... >Wie genau du noch immer bist ... selbst an
-unserem Vermählungstag!< sagte sie ganz kalt, so scharf, so ...
-mitleidig. Ich erschrak und verfluchte meine Peinlichkeit ... ich gab
-mir Mühe, wieder zu lachen ... aber ihre Heiterkeit war fort ... war tot
-... Sie verlangte ein eigenes Zimmer ... was hätte ich ihr nicht gewährt
-... und ich lag allein die Nacht und sann nur nach, was ihr kaufen am
-nächsten Morgen ... sie beschenken ... ihr zeigen, daß ich nicht geizig
-sei ... nie mehr gegen sie. Und am Morgen ging ich aus, ein Armband
-kaufte ich, ganz früh, und wie ich in ihr Zimmer trat ... da war ... da
-war es leer ... ganz wie damals. Und ich wußte, auf dem Tisch würde ein
-Zettel liegen ... ich lief fort und betete zu Gott, es möge nicht wahr
-sein ... aber ... aber ... er lag doch dort ... Und darauf stand ...«
-
-Er zögerte. Unwillkürlich war ich stehen geblieben und sah ihn an. Er
-duckte den Kopf. Dann flüsterte er heiser:
-
-»Es stand darauf ... >Laß mich in Frieden. Du bist mir widerlich --<«
-
-Wir waren beim Hafen angelangt, und plötzlich rauschte in das Schweigen
-der grollende Atem der nahen Brandung. Mit blinkenden Augen, wie große
-schwarze Tiere lagen die Schiffe da, nah und ferne, und von irgendwo kam
-Gesang. Nichts war deutlich und doch vieles zu fühlen, ein ungeheurer
-Schlaf und der schwere Traum einer starken Stadt. Neben mir spürte ich
-den Schatten dieses Menschen, er zuckte gespenstisch vor meinen Füßen,
-floß bald auseinander, bald kroch er zusammen im wandelnden Licht der
-trüben Laternen. Ich vermochte nichts zu sagen, nicht Trost und hatte
-keine Frage, spürte aber sein Schweigen an mir kleben, lastend und
-dumpf. Da faßte er mich plötzlich zitternd am Arm.
-
-»Aber ich gehe nicht fort von hier ohne sie ... Nach Monaten habe ich
-sie wiedergefunden ... Sie martert mich, aber ich will nicht müde werden
-... Ich beschwöre Sie, mein Herr, reden Sie mit ihr ... Ich muß sie
-haben, sagen Sie es ihr ... mich hört sie nicht ... Ich kann nicht mehr
-so leben ... Ich kann es nicht mehr sehen, wie Männer zu ihr gehen ...
-und draußen warten vor dem Haus, bis sie wieder herunterkommen ...
-lachend und trunken ... Die ganze Gasse kennt mich schon ... sie lachen,
-wenn sie mich warten sehen ... wahnsinnig werde ich davon ... und doch
-jeden Abend stehe ich wieder dort ... Mein Herr, ich beschwöre Sie ...
-sprechen Sie mit ihr ... ich kenne Sie ja nicht, aber tun Sie es um
-Gottes Barmherzigkeit ... sprechen Sie mit ihr ...«
-
-Unwillkürlich wollte ich meinen Arm befreien. Mir graute. Aber er, wie
-ers spürte, daß ich mich gegen sein Unglück wehrte, fiel plötzlich
-mitten auf der Straße in die Knie und faßte meine Füße.
-
-»Ich beschwöre Sie, mein Herr ... Sie müssen mit ihr sprechen ... Sie
-müssen ... sonst ... sonst geschieht etwas Furchtbares ... Ich habe mein
-ganzes Geld verbraucht, sie zu suchen, und ich lasse sie nicht hier ...
-nicht lebendig ... Ich habe mir ein Messer gekauft ... Ich habe ein
-Messer, mein Herr ... Ich lasse sie hier nicht mehr ... nicht lebendig
-... ich ertrage es nicht ... Sprechen Sie mit ihr, mein Herr ...«
-
-Er wälzte sich wie rasend vor mir. In diesem Augenblick kamen zwei
-Polizisten die Straße her. Ich riß ihn mit Gewalt auf. Einen Augenblick
-starrte er mich entgeistert an. Dann sagte er mit ganz fremder,
-trockener Stimme:
-
-»Die Gasse dort biegen Sie ein. Dann sind Sie bei Ihrem Hotel.« Einmal
-noch starrte er mich an mit Augen, in denen die Pupillen zerschmolzen
-schienen in ein grauenhaft Weißes und Leeres. Dann verschwand er.
-
-Ich wickelte mich in meinen Mantel. Mich fröstelte. Nur Müdigkeit spürte
-ich, eine wirre Trunkenheit, gefühllos und schwarz, einen wandelnden,
-purpurnen Schlaf. Ich wollte etwas denken und all das besinnen, aber
-immer hob sich diese schwarze Welle von Müdigkeit aus mir und riß mich
-mit. Ich tastete ins Hotel, fiel hin ins Bett und schlief dumpf wie ein
-Tier.
-
-Am nächsten Morgen wußte ich nicht mehr, was davon Traum oder Erlebnis
-war, und irgend etwas in mir wehrte sich dagegen, es zu wissen. Spät war
-ich erwacht, fremd in fremder Stadt, und ging eine Kirche zu besehen, in
-der antike Mosaiken von großem Ruhme sein sollten. Aber meine Augen
-starrten sie leer an, immer deutlicher stieg die Begegnung der
-vergangenen Nacht auf, und ohne Widerstand triebs mich weg, ich suchte
-die Gasse und das Haus. Aber diese seltsamen Gassen leben nur des
-Nachts, am Tage tragen sie graue, kalte Masken, unter denen nur der
-Vertraute sie erkennt. Ich fand sie nicht, so sehr ich suchte. Müde und
-enttäuscht kam ich heim, verfolgt von den Bildern des Wahns oder der
-Erinnerung.
-
-Um neun Uhr abends ging mein Zug. Mit Bedauern ließ ich die Stadt. Ein
-Träger hob mein Gepäck und trug es vor mir her dem Bahnhof zu. Da
-plötzlich, an einer Kreuzung, riß michs herum: ich erkannte die
-Quergasse, die zu jenem Hause führte, hieß den Träger warten und ging --
-während er zuerst erstaunt und dann frechvertraulich lachte -- noch
-einen Blick zu tun in diese Gasse des Abenteuers.
-
-Dunkel lag sie da, dunkel wie damals, und im matten Mond sah ich die
-Türscheibe jenes Hauses glänzen. Noch einmal wollte ich näher treten, da
-raschelte eine Gestalt aus dem Dunkel. Schauernd erkannte ich ihn, der
-dort auf der Schwelle hockte und mir winkte, ich möge näher kommen. Doch
-ein Grauen faßte mich, ich flüchtete rasch fort, aus der feigen Angst,
-hier verstrickt zu werden und meinen Zug zu versäumen.
-
-Aber dann, an der Ecke, ehe ich mich wandte, sah ich noch einmal zurück.
-Als mein Blick ihn traf, gab er sich einen Ruck, raffte sich auf und
-sprang gegen die Tür. Metall blitzte in seiner Hand, da er sie jetzt
-eilig aufriß: ich konnte aus der Ferne nicht unterscheiden, ob es Geld
-war oder das Messer, das im Mondlicht zwischen seinen Fingern
-verräterisch glitzerte ...
-
-
-
-
- Inhalt
-
-
- Der Amokläufer 9
- Die Frau und die Landschaft 87
- Phantastische Nacht 121
- Brief einer Unbekannten 209
- Die Mondscheingasse 269
-
-
-
-
-
-
- INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG
-
- --------
-
- Dichtungen von Stefan Zweig
-
- Die frühen Kränze. Gedichte. Dritte Auflage.
-
- Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland. 12. bis
- 15. Tausend.
-
- Brennendes Geheimnis. Novelle. (Insel-Bücherei Nr. 122.)
- 36. bis 45. Tausend.
-
- Das Haus am Meer. Schauspiel in zwei Teilen.
-
- Tersites. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen. Zweite Auflage.
-
- Der verwandelte Komödiant. Ein Spiel aus dem deutschen
- Rokoko. Zweite Auflage.
-
- Jeremias. Eine dramatische Dichtung in neun Bildern. 19.
- bis 23. Tausend.
-
- Legende eines Lebens. Ein Kammerspiel in drei Aufzügen.
-
- Der Zwang. Novelle (in 470 Ex. mit Holzschnitten von Frans
- Masereel).
-
- Die Augen des ewigen Bruders. Novelle. (Insel-Bücherei Nr.
- 349.) 10. Tausend.
-
- Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski. 9. bis 12. Tausend.
-
- Die gesammelten Gedichte (in Vorbereitung).
-
- --------
-
- Von Stefan Zweig wurden übertragen:
-
- Emile Verhaeren: Rubens. Mit 95 Vollbildern. 26. bis 30.
- Tausend.
-
- Emile Verhaeren: Rembrandt. Mit 80 Vollbildern. 36. bis 40.
- Tausend.
-
- Emile Verhaeren: Hymnen an das Leben. (Insel-Bücherei Nr.
- 5.) 41. bis 50. Tausend.
-
- --------
-
- Von Stefan Zweig wurden eingeleitet:
-
- Charles Dickens: Ausgewählte Romane. -- Dostojewski: Sämtliche
- Romane und Novellen. -- Arthur Rimbaud: Leben und Dichtung.
- -- Alexandre Mercereau: Worte vor dem Leben. -- Marceline
- Desbordes-Valmore: Das Lebensbild einer Dichterin. -- Paul
- Verlaine: Gesammelte Werke.
-
-
- Druck vom Bibliographischen
- Institut in Leipzig
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
-Korrekturen, zum Teil unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben
-(vorher/nachher):
-
- [S. 86]:
- ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit dem Träger ...
- ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern ...
-
- [S. 160]:
- ... von mir gehaßtem Ravachol hing, denn rings um mich ...
- ... von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings um mich ...
-
- [S. 165]:
- ... ein Mensch mit bösem und warmen Gelüst. Eine Tür ...
- ... ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Tür ...
-
- [S. 171]:
- ... inmitten einer weichwogenden Menschenmenge hatte einen ...
- ... inmitten einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen ...
-
- [S. 177]:
- ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meiner Derbydreß, ...
- ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, ...
-
- [S. 249]:
- ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihren ...
- ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem ...
-
- [S. 280]:
- ... Gesten mir zu es in ihm zu zucken begann, als spürte ...
- ... Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***
-
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-so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
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-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
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-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
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-Most people start at our Web site which has the main PG search
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-
diff --git a/57850-h/57850-h.htm b/57850-h/57850-h.htm
index 95c2356..1a75eb0 100644
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<body>
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
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-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Amok
- Novellen einer Leidenschaft
-
-Author: Stefan Zweig
-
-Release Date: September 5, 2018 [EBook #57850]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This
-transcription was produced from images generously made
-available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State
-Library.
-
-
-
-
-
-
-</pre>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 57850 ***</div>
<div class="frontmatter">
<div class="centerpic logo">
@@ -10445,382 +10407,7 @@ Korrekturen, zum Teil unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben (vorher/nachher):
</ul>
</div>
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***
-
-***** This file should be named 57850-h.htm or 57850-h.zip *****
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-Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
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+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 57850 ***</div>
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